Ernst Jünger und die Bundesrepublik: Ästhetik - Politik - Zeitgeschichte 9783110237849, 9783110237832

Even today Ernst Jünger (1895‑1998) still continues to provoke debate. However, the source of this provocation is mainly

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Ernst Jünger und die Bundesrepublik: Ästhetik - Politik - Zeitgeschichte
 9783110237849, 9783110237832

Table of contents :
Einleitung. Diskrete Diagnosen. Ein Plädoyer für neue Fragestellungen
1. ÄSTHETIK
Jüngers Spätwerk
Der Sand in den Uhren. Ernst Jüngers Poetik der fünfziger Jahre zwischen Naturgewalt und Zeitgenossenschaft
Figurenspiel und Verdichtung. Jüngers Konzeption von Autorschaft und die Gläsernen Bienen
Esoterische Kommunikation. Initiation und Autorschaft in Ernst Jüngers Besuch auf Godenholm (1952) und Rückblick auf Godenholm (1970)
Das Poetische heißt Sammeln. Ernst Jünger im Spiegel der enzyklopädischen Literatur (Kempowski, Littell, Kluge, Müller)
2. POLITIK
Die Entpolitisierung des Politischen. Ernst Jüngers Essayistik der 1950er Jahre
Vom nationalen zum planetarischen Denken. Brüche, Wandlungen und Kontinuitäten bei Ernst Jünger
Entwicklungen und Stationen im Streit um Jünger
„Die verborgenen Mechanismen der Macht“ in Ernst Jüngers Erzählung Die Zwille
3. ZEITGESCHICHTE
Platonische Freund-/Feindbestimmungen. Max Bense, Ernst Jünger und Gottfried Benn. Zur Vorgeschichte einer westdeutschen Wertungskonstellation
„In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher.“ Zur rhetorischen Struktur der Kulturkritik ErnstJüngers
„Der reinste Ausdruck unserer Lage.“ Der Kessel als literarischer Chronotopos und existenzphilosophische Metapher bei Theodor Plievier und Ernst Jünger
Technische Innovation und literarische Imagination. Ernst Jüngers narrative Technikvisionen in Heliopolis, Eumeswil und Gläserne Bienen
Poetik des Interims. Ernst Jünger und die Bundesrepublik
Personenregister
Werkverzeichnis Ernst Jüngers

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Ernst Jünger und die Bundesrepublik

Ernst Jünger und die Bundesrepublik Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte

Herausgegeben von Matthias Schöning Ingo Stöckmann

De Gruyter

Gefördert mit Mitteln des im Rahmen des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration.

ISBN 978-3-11-023783-2 e-ISBN 978-978-3-11-023784-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Ernst Jünger und die Bundesrepublik : Ästhetik, Politik, Zeitgeschichte / edited by Matthias Schöning, Ingo Stöckmann. p. cm. Includes bibliographical references and indexes. ISBN 978-3-11-023783-2 (alk. paper) 1. Jünger, Ernst, 1895-1998--Criticism and interpretation. I. Schöning, Matthias, 1969- II. Stöckmann, Ingo, 1968PT2619.U43Z6183 2011 838‘.91209--dc23 2011029876

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandabbildungen: oben: Werner Heisenberg und Ernst Jünger (Bayerische Staatsbibliothek München/Fotoarchiv Timpe); unten: Ernst Jünger, François Mitterand, Helmut Kohl. 1984 Verdun (© Présidence de la République Française, Service Photographique DLA Marbach) Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhalt Einleitung Matthias Schöning / Ingo Stöckmann Diskrete Diagnosen. Ein Plädoyer für neue Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . 3

1. ÄSTHETIK Ingo Stöckmann Jüngers Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Alexander Honold Der Sand in den Uhren. Ernst Jüngers Poetik der fünfziger Jahre zwischen Naturgewalt und Zeitgenossenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Jens Wörner Figurenspiel und Verdichtung. Jüngers Konzeption von Autorschaft und die Gläsernen Bienen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gregor Streim Esoterische Kommunikation. Initiation und Autorschaft in Ernst Jüngers Besuch auf Godenholm (1952) und Rückblick auf Godenholm (1970). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Gunther Martens Das Poetische heißt Sammeln. Ernst Jünger im Spiegel der enzyklopädischen Literatur (Kempowski, Littell, Kluge, Müller) . . . . . 137

2. POLITIK Daniel Morat Die Entpolitisierung des Politischen. Ernst Jüngers Essayistik der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Thomas Pekar Vom nationalen zum planetarischen Denken. Brüche, Wandlungen und Kontinuitäten bei Ernst Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

VI

Inhalt

Lothar Bluhm Entwicklungen und Stationen im Streit um Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Danièle Beltran-Vidal „Die verborgenen Mechanismen der Macht“ in Ernst Jüngers Erzählung Die Zwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

3. ZEITGESCHICHTE Ulrich Fröschle Platonische Freund-/Feindbestimmungen. Max Bense, Ernst Jünger und Gottfried Benn. Zur Vorgeschichte einer westdeutschen Wertungskonstellation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Heiko Christians „In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher.“ Zur rhetorischen Struktur der Kulturkritik Ernst Jüngers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Norman Ächtler „Der reinste Ausdruck unserer Lage.“ Der Kessel als literarischer Chronotopos und existenzphilosophische Metapher bei Theodor Plievier und Ernst Jünger.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Bernd Stiegler Technische Innovation und literarische Imagination. Ernst Jüngers narrative Technikvisionen in Heliopolis, Eumeswil und Gläserne Bienen. . . . . . 295 Matthias Schöning Poetik des Interims. Ernst Jünger und die Bundesrepublik. . . . . . . . . . . . . . 309 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Werkverzeichnis Ernst Jüngers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

EINLEITUNG

Einleitung

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Matthias Schöning / Ingo Stöckmann

Diskrete Diagnosen Ein Plädoyer für neue Fragestellungen 1. Die in den letzten Jahren stark belebte Forschung zu Ernst Jünger hat klare Konturen. Während das Frühwerk aus der Zeit der Weimarer Republik als sehr gut untersucht angesehen werden kann und die anschließende Phase bis zu den Pariser Tagebüchern der Jahre 1941 bis 1945 immerhin noch gut erforscht ist, liegt der zweite Lebensabschnitt Jüngers, der seine Schriften vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis fast zum Todesjahr 1998 umfasst, in vielerlei Hinsicht noch im Dunkeln. Auch die jüngst erschienenen Monographien von Helmuth Kiesel, Daniel Morat oder Heimo Schwilk ändern daran angesichts ihres Fokus auf die erste Jahrhunderthälfte nur wenig und unterstreichen vielmehr, dass der Jünger der Interpreten nach wie vor der bekannte und umstrittene Krieger-Autor ist.1 Die Gründe für diese Asymmetrie sind vielfältig. Forschungsgeschichtlich ist die ungebrochene Konzentration auf Jüngers Frühwerk das – möglicherweise kaum mehr bewusste – Erbe von Karl-Heinz Bohrers initialer Studie Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk aus dem Jahr 1978, die Jüngers Frühwerk erstmals umfassend aus den literatur- und geistesgeschichtlichen Filiationen des europäischen Symbolismus heraus verstanden und für die Wahrnehmungs- und Bewusstseinsgeschichte der kriegerischen Moderne entdeckt hatte.2 Die Leistungen und Grenzen Bohrers sind inzwischen hinreichend bekannt: Einerseits hat Bohrer Jüngers Werk einer primär ‚ideologischen‘ Betrachtung und ihren ‚kritischen‘ Folgereflexen entrissen, andererseits aber einer Trennung unterworfen, die einen ‚ästhetisch-literarischen‘ gegen einen ‚politisch-ethischen‘ Jünger ausspielte – mit der Konsequenz, dass sich das literarische Frühwerk, anders als das vermeintlich stärker ethisch ausgerichtete ‚Spätwerk‘ (seit Auf 1

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Vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007; Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920– 1960. Göttingen 2007; Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. München, Zürich 2007. Gleiches gilt auch für den Sammelband von Natalia Żarska, Gerald Diesener u. Wojciech Kunicki (Hg.): Ernst Jünger – eine Bilanz. Leipzig 2010. Vgl. Bohrer, Karl-Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München, Wien 1978.

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Matthias Schöning / Ingo Stöckmann

den Marmorklippen, 1939), dauerhaft in den literaturwissenschaftlichen Kommentaren verankerte. Dabei hätte schon der Blick auf die engen textuellen Verflechtungen zwischen der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1929) und der zeitgleich erscheinenden politischen Publizistik3 den Blick dafür schärfen können, dass Literatur und Politik, Ästhetik und Ethik zwei Seiten ein und derselben Textstrategie sind, die gerade nicht voneinander abgetrennt werden können.4 Das gilt insbesondere für die Formierungsphase von Jüngers Schreiben zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik, die Ästhetik und Politik in hohem Maße verschränkt und dadurch zeitgeschichtlich signifikant wird. Insofern handelt es sich hier, bei wechselnden semantischen Programmierungen und im Detail variierenden Schreibweisen, um eine der großen Kontinuitäten in Jüngers Schreiben über die vermeintlichen Werkzäsuren von 1945 oder 1949 hinweg. Gleichwohl wird man im Anschluss an Bohrer und andere einräumen müssen, dass Jüngers Frühwerk mitsamt seinem „Erfahrungshunger“5 für das, was man eine Aisthesis der Moderne nennen könnte, ein erhebliches Gewicht besitzt. Was einen Autor wie Walter Benjamin geradezu zur kanonischen Stimme in der Wahrnehmungstheorie der Moderne hat werden lassen – der Chock-Charakter des modernen Bewusstseins, die Diskontinuitäten seiner Erfahrungsgehalte –, all das lässt sich auch beim frühen Jünger finden. Literaturgeschichtlich bestimmt dieser Gesichtspunkt ganz wesentlich seine Kontur: nicht die Vordergründigkeiten seiner Diagnostik, die das Zeitgeschehen mal begleiten, mal prognostisch überschießen, auch nicht die (Selbst-)Mythisierungen, die schon die Stahlgewitter in vergleichsweise konventionellen Narrativen und Subjektpositionen fundieren, sondern Jüngers immer erneut gestaltete Überzeugung, dass die Moderne primär von ihren veränderten Wahrnehmungsgehalten begriffen werden muss. Von Seiten der mediengeschichtlichen Forschung ist dieses modernistische Jünger-Bild mindestens in zweierlei Hinsicht bestätigt worden; zu denken wäre an Jüngers forcierte Technikvisionen, aber auch an seine photographische Ästhetik, die in ihrer Tendenz zur ornamentalen Abstraktion zu den avancierten ästhetischen Entwicklungen der Zeit gehört.6 Und wenn es im Deutschland 3 4

5 6

Jetzt gesammelt in Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. Vgl. Stöckmann, Ingo: „Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und ‚Das abenteuerliche Herz‘ (Erste Fassung)“. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der klassischen Moderne. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 189–220. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a.M. 2003, S. 819. Vgl. nur Werneburg, Brigitte: „Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medientheorie in der Weimarer Republik“. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segebrecht. München 1995, S. 39–57; Jacob, Joachim: „Ornament und Raum: Worringer, Jünger, Kracauer“. In: Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur

Einleitung

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der 1920er und 1930er Jahre einen ‚echten‘, d. h. konzeptuellen Avantgardismus gegeben hat, dann wird man Jüngers wenig geliebte Phantasie des Arbeiters und die mit ihm korrespondierenden anthropologischen Spekulationen der Jahre 1930 bis 1934 neben den Entwürfen von Benn, Benjamin und Brecht unbedingt dazu rechnen müssen. Das alles mag erklären, warum Jüngers Frühwerk in der Forschung so ungebrochen präsent ist. Es erklärt im Umkehrschluss freilich nicht, warum die Forschung mit dem Werk nach 1945 so zögerlich umgeht, jedenfalls im Vergleich. Dabei ist es selbst schon eine bedenkenswerte und über den engeren Fachkontext der Literaturwissenschaft hinausgreifende Frage, wie die Ursachen für diese Unwucht im Rezeptionsverhalten beschaffen sind. Selbstverständlich ließe sich darauf verweisen, dass Jüngers Werk nach 1945 an Unmittelbarkeit und Brisanz verliert, weil sich Jünger aus der Tagesaktualität zurückzieht und eine ‚solitäre‘ Existenz in Ravensburg, Wilflingen und anderswo kultiviert, die ausgerechnet in der Gründungsphase der Bundesrepublik an ihre Ränder und in ihre Provinzen emigriert, um von hier aus zu immer größer dimensionierten, Erd- und Göttergeschichte umgreifenden Diagnosen zu finden. So konstituiert sich der Autor als Solitär, und doch ist diese idiosynkratische Selbststilisierung als Erklärung für das Ungleichgewicht der Werkphasen vor und nach 1945 denkbar ungeeignet, weil sie lediglich die Selbstinszenierung des Autors reproduziert, anstatt sie analytisch zu unterbrechen. Vielleicht aber hängt, um eine zweite Vermutung anzustellen, die geringe Prominenz des späteren Werks mit etwas zusammen, was man ein ‚Authentizitäts- oder Originalitätsdefizit‘ nennen könnte. Tatsächlich bringt Jünger, anders als in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, nach 1945 nur noch auffallend zuverlässig zu Papier, was ohnehin zeitgeistig jeweils gerade ‚angesagt‘ ist. In der Konsequenz lässt das Jüngers Zeitferne, sein Außenseitertum, das von der einschlägigen Festschrift-Publizistik übrigens bedenkenlos reproduziert wurde, recht halbseiden erscheinen – zumindest bei einem Autor, der nach 1945 macht- und totalitätssensibel wird und den symbolischen Rückzug in den ‚Wald‘ antritt (Der Waldgang, 1951), in den Sechzigerjahren, d. h. im Zeichen des Kalten Krieges, den Kosmopolitismus eines ‚Weltstaates‘ (Der Weltstaat, 1960) beschört und in den Siebzigerjahren sein ökologisches Bewusstsein entdeckt bzw. mit New Age sympathisiert (Annäherungen, 1970).7 Allenfalls als abgesunkene hegelianische Geste wäre das zu vermerken: als Deutungsgeste eines Autors, der ein in den zeitlichen Phänomenen

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– Literatur – Film. Hg. v. Sigrid Lange. Bielefeld 2001, S. 135–158; Öhlschläger, Claudia: „Um/ Ordnungen des Ornamentalen in der Moderne: Flugbilder bei Gertrude Stein, Lászlò MoholyNagy und Ernst Jünger“. In: Inszenierungen in Schrift und Bild. Hg. v. Gerhard Neumann u. Claudia Öhlschläger. Bielefeld 2004, S. 147–180. Vgl. Hörisch, Jochen: „Wer generiert Generationen: Literatur oder Medien?“. In: Mediengenerationen. Hg. v. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M. 1997, S. 7–15, hier S. 9.

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‚bereits Vorhandenes‘ nur noch ‚erkennt‘ und zum Bewusstsein seiner selbst bringt. – Oder aber, auch dies wäre immerhin denkbar, erklärt sich die Vernachlässigung des Œuvres nach 1945 aus der wachsenden Geringschätzung eines Stils, der, ehemals viel bewundert, immer altmeisterlicher, immer altherrenhafter, immer selbstgewisser wird und der – vor allem in den späten Tagebüchern Siebzig verweht oder dem letzten Essay Die Schere (1990) – auch gedanklich nicht mehr von letzter Disziplin zeugt? Der Befund ist eindeutig: Für Jüngers Werk nach 1945 – ob hier von einem Spätwerk gesprochen werden kann, wie es vielfach unreflektiert geschieht, markiert bereits ein Problem von theoretischem Gewicht – fehlen verlässliche Deutungsschemata. Nicht, um ein punktuelles Versäumnis in den Blick zu rücken, sondern um ein systematisches Problem sichtbar zu machen, lohnt ein exemplarischer Blick in Helmuth Kiesels ebenso kenntnisreiche wie ausgewogene Jünger-Studie des Jahres 2007: Auf mehr als 500 Seiten Kommentar zum Werk bis 1945 folgen kaum 150 Seiten, die Jüngers Werk nach 1945 gewidmet sind.8 Andere Publikationen bestätigen das Bild.9 Wo liegen die systematischen Ursachen für diese Zurückhaltung? Allgemein gesprochen: Sie liegen in der traditionsreichen Privilegierung primär inhaltlicher Fragestellungen, die zugleich gewichtige methodologische Konsequenzen nach sich gezogen haben. Tatsächlich stand und steht die Jünger-Deutung bis heute im Schlagschatten der nach 1945 begreiflicherweise virulent werdenden Frage, ob sich Jünger ‚gewandelt‘ habe. Allerdings: Jüngers ‚Wandlung‘ ist das Produkt seiner bundesrepublikanischen Interpreten, nicht ein Problem seiner Texte. Das Spektrum der entsprechenden Deutungsmuster und Antworten ist vertraut. Man kann dann wahlweise den Wandel Jüngers vom Militaristen zum Abendländer, vom Krieger zum Reisenden, vom Bellizisten zum Belletristen betonen oder seine Wandlungsfähigkeit mit – wie dies phasenweise geschehen ist – sozialisations- und psychohistorischen Kategorien dezidiert bestreiten.10 Entscheidend an diesen Deutungsmustern ist weniger die in ihnen zum Ausdruck gelangende Position als vielmehr die methodologische Vorentscheidung, die sie implizit treffen. Genau besehen nämlich werden hier Fragen nach der ideellen Entwicklung eines Autors gestellt und als Kontinuität zwischen Text und empirischem Autorbewusstsein entfaltet, über dessen Realisierung in Texten aller8 9 10

Vgl. Kiesel: Jünger, S. 534–670. Vgl. nur Schwilk: Jünger, S. 429–548; Noack, Paul: Ernst Jünger. Eine Biographie. Berlin 1998, S. 207–322. Vgl. aus der literaturwissenschaftlichen (nicht feuilletonistischen) Diskussion: Prümm, Karl: „Vom Nationalisten zum Abendländer. Zur politischen Entwicklung Ernst Jüngers“. In: Basis 6 (1976), S. 7–29, hier S. 28; Arnold, Heinz Ludwig: „Wandlung und Wiederkehr“. In: Wandlung und Wiederkehr. Festschrift zum 70. Geburtstag Ernst Jüngers. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Aachen 1965, S. 7–22, hier S. 17, sowie kritisch Kaempfer, Wolfgang: Ernst Jünger. Stuttgart 1981, S. 7, und Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992, S. 404.

Einleitung

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dings methodisch nur spekuliert werden kann. In gewisser Weise wird die Jünger-Forschung nach 1945 von einer methodologischen Verwechslung begleitet, die die Dimension einer inhaltlichen Stellungnahme bzw. die ‚Meinung‘ eines empirischen Autorsubjekts primär setzt und dann an Texten beglaubigt, so als markierten propositionale Stellungnahme, Autorposition und Text methodologisch gleichsinnige Ebenen. Unschärfen dieser Art prägen noch jüngste Zugriffe auf Jünger, wenn sie ihren Einsatz darin sehen, den „Blick auf den intentionalen und propositionalen Gehalt der Texte“11 zu eröffnen. Nichts anderes hat die Jünger-Philologie seit ihren Anfängen – Ausnahmen für einen Moment bei Seite gelassen – getan. Die Schwäche einer derart an Gehalten interessierten Perspektive besteht nicht nur darin, dass die Literaturwissenschaft Fragestellungen reproduziert, die ihren Ort in ganz anderen Arenen – im Feuilleton oder im zeitgeschichtlichen Räsonnement etwa – besitzen, sondern dass sie ihre Kommentare in aller Regel an einem Punkt abbricht, der erst den Beginn, nicht aber schon den Abschluss der Analyse bezeichnet. Selbstverständlich lassen sich Jüngers Texte propositional lesen, und selbstverständlich lassen sich aus ihnen inhaltliche Stellungnahmen extrapolieren, die ihrerseits einem Autorsubjekt zugerechnet werden können, aber wie die textuellen Verfahren beschaffen sind, die diese Propositionen realisieren und erzeugen, bedarf einer gesonderten methodologischen Reflexion und ist mit propositionalen Mitteln allein nicht zu bewältigen. Auf das Ausgangsproblem gewendet: Wer ‚Wandel‘ beschreiben (oder bestreiten) möchte, wird erst dort zu tragfähigen Ergebnissen gelangen, wo er Kontinuitäten oder Diskontinuitäten in der generativen Fundierung von Textaussagen, d. h. auf der Ebene ästhetisch-literarischer Verfahren markiert. In dieser Hinsicht laboriert die Jünger-Philologie bis heute an einem analytischen Defizit. Geringer wiegt ein zweiter, aber komplementärer Gesichtspunkt. Überblickt man die Forschung zu Jüngers Werk nach 1945, so fällt auf, dass sie wichtige Impulse aus einem zeitdiagnostischen Kontext heraus empfangen hat, an dessen Artikulation Jünger in seiner viel berufenen Eigenschaft als ‚Diagnostiker‘ selbst mitgearbeitet hat. Posthistoire und Postmoderne haben, bei allen Unterschieden im semantischen Gehalt, seit den Sechzigerjahren einen ‚Zeitgeist‘ umrissen, der der Jünger-Philologie wichtige Stichworte geliefert hat und der es ermöglichte, Jüngers Schreiben kurzerhand mit den entsprechenden Kategorien in Einklang zu bringen.12 In gewisser Weise 11 12

Hagestedt, Lutz: „Wer sich selbst kommentiert. Vorwort des Herausgebers“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin 2004, S. VII-XII, hier S. VII. Vgl. etwa Niethammer, Lutz: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989, S. 82–104; Kamper, Dietmar: „Weltstaat im Kopf, Wildnis im Herzen. Ernst Jüngers Anmerkungen zum ‚Post-Histoire‘“. In: Text und Kritik 105/106 (1990): „Ernst Jünger“, S. 82–88; Koslowski, Peter: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991; Bergsdorf, Wolfgang: „Über den abnehmenden Utopiebedarf der Postmoderne“. In: Magie der Heiterkeit.

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Matthias Schöning / Ingo Stöckmann

mussten dazu nur die orientierenden Semantiken ausgetauscht werden: von der Geschichte zum Mythos, von der historischen Zeit zum Erd-Raum, von den Ermächtigungen der Moderne zur Ermüdung der Nachgeschichte. Selbstverständlich sind solche Schlagwortbildungen nicht unzutreffend, wie Jüngers Zeitmauer-Essay von 1959 oder der spätere Eumeswil-Roman von 1977 belegen. Überhaupt ist Jüngers diagnostische Aussageweise den zeitgeschichtlichen Spekulationen um Posthistoire und Postmoderne schon strukturell affin: hier wie dort verschränken sich Diagnose und Prognose in einem gemeinsamen Diskurs. Gleichwohl könnte aus der gewachsenen Distanz, die unsere Gegenwart mit dem Posthistoire der frühen 1960er und der Postmoderne der 1980er Jahre verbindet, deutlich geworden sein, dass Kategorien dieser Art nicht ein grundsätzliches Ende der Moderne markierten, sondern lediglich deren Folgelasten und Konsequenzen reflektierten. Posthistoire wie Postmoderne sind Problemsemantiken, die aus der Erfahrungsund Strukturimmanenz der modernen Industriegesellschaften erwachsen sind und insofern gerade nicht aus ihren Rahmenbedingungen herausführen.13 Schon dies versetzt sie aus der heutigen Perspektive in den Stand historischer Kategorien; mehr noch: in den Stand von Kategorien, die, weil sie längst in die historische Objektsprache Eingang gefunden haben, ungeeignet sind, eine aktuelle Deutung des Jüngerschen Werks nach 1945 anzuleiten. Wollte man das übersehen, geriete man in einen Zirkel, der den postmodernen Diskurs und das Jüngersche Werk nur wechselseitig aneinander beglaubigt. Die genannten Ursachen – sollten sie zutreffen – machen die nachgerade strukturelle Befangenheit deutlich, in der sich die Forschung befindet. Weil sie entweder nach der Wandlung eines empirischen Autorsubjekts fragt und sich in den Dissens der denkbaren Meinungen verstrickt oder das diagnostische Vokabular der Jüngerschen Texte zu deren Beschreibung verwendet, um sich damit in einen methodologisch heiklen Zirkel aus Objektund Beobachtungssprache zu begeben, findet sie zu keinen neuen Fragestellungen, und weil sie zu keinen neuen Fragestellungen findet, bleibt die rund 50 Jahre währende Werkphase nach 1945 vergleichsweise im Dunkeln, erhellenden Schlaglichtern zum Trotz. Insofern ist es das Ziel des vorliegenden Bandes, Beschreibungsinstrumentarien für eine Werkkonstellation zu

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Ernst Jünger zum Hundertsten. Hg. v. Günter Figal u. Heimo Schwilk. Stuttgart 1995, S. 59–71; Renner, Rolf Günter: „Modernität und Postmodernität im erzählenden Spätwerk Ernst Jüngers“. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg. München 1995, S. 249–268; Kron, Jürgen: Seismographie der Moderne. Modernität und Postmodernität in Ernst Jüngers Schriften von ‚In Stahlgewittern‘ bis ‚Eumeswil‘. Frankfurt a.M. 1998. Für die ‚Posthistoire‘-Diagnose mit aller Deutlichkeit: Gehlen, Arnold: „Über kulturelle Kristallisation“. In: Ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied a.Rh. 1963, S. 311–328. Vgl. zur Unterscheidung von ‚Posthistoire‘ und ‚Postmoderne‘ Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Band 2: Von Nietzsche bis zur Gegenwart. Opladen 1993, S. 89f.

Einleitung

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erproben, für die nach wie vor keine verlässlichen Interpretationsmuster bereitstehen. Das könnte, wenn auch nur selektiv und exemplarisch, eine signifikante Lücke in der älteren wie jüngeren Forschung zu Jüngers Werk nach 1945 schließen helfen.

2. Man kann über Ernst Jünger, erst recht über den ‚Zeugen‘ einer politischen Geschichte, die von der Weimarer Republik über das NS-Regime bis in die spannungsreichen Gründungen zweier deutscher Republiken (einer ‚alten‘ Bonner und einer ‚neuen‘ Berliner) reicht, nicht sprechen, ohne die intellektuelle Verhandlung und Konstruktion dieses Autors in den Blick zu nehmen. Rezeptionsgeschichtliche Studien haben sich diesem Gesichtspunkt schon früh gewidmet, und sie haben durch die immer neuen Debatten um Jünger, deren Geschichte 1946 beginnt und die bis weit in die 1990er Jahre kontinuiert, fortwährend neue Nahrung erhalten.14 Tatsächlich hat Jünger nach 1945 zunehmend eine doppelte Identität gewonnen. Während Jünger zur Zeit der alten Bundesrepublik einerseits mit Preisen und durch den Besuch zahlreicher prominenter Autoren und Politiker von Jorge Luis Borges über Heiner Müller bis Helmut Kohl, Roman Herzog und François Mitterand geehrt wird, reißen andererseits die Verdächtigungen nicht ab, Jünger sei, so HansUlrich Wehler noch vor wenigen Jahren, „der große Verderber in der deutschen Geistesgeschichte“.15 Man muss sich zu beidem – weder zu der geradezu staatsmännischen Attitüde, in die die BRD-Öffentlichkeit ihren Jünger seit Mitte der 1980er Jahre gekleidet hat, noch zu Überzeugungen vom Zuschnitt Wehlers – nicht in ein apologetisches oder kritisches Verhältnis setzen. Entscheidend ist vielmehr, wie man das inzwischen kaum mehr zu überschauende Debattenmaterial zu verstehen hat und welchen analytischen Wert man ihm zugestehen möchte. Zu vermuten ist, dass es in seiner Gesamtheit jenes symbolische Material ausmacht, in dem mehr und anderes verhandelt wird, als der Autor und sein Werk. Offenkundig werden die Debatten um Jünger – erinnert sei nur an die Erregungen um die Goethe-Preis-Verleihung im Jahr 198216 – von einem Diskurs durchwandert, der weniger etwas über Jünger, als vielmehr über die kollektiven bzw. kulturellen Bedürfnisse derjeni14

15 16

Vgl. Dietka, Norbert: Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik (1945– 1985). Frankfurt a.M. u. a. 1987; Dornheim, Liane: Vergleichende Rezeptionsgeschichte. Das literarische Frühwerk Ernst Jüngers in Deutschland, England und Frankreich. Frankfurt a.M. u. a. 1987; Schieb, Roswitha: „Die Rezeption Ernst Jüngers nach 1945“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 348–361. Wehler, Hans-Ulrich: Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. München 2003, S. 18. Vgl. Hagestedt, Lutz: „Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982)“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 167–179.

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gen aussagt, die in ihm sprechen. Wenn es zutrifft, dass die Identität von Gesellschaften und die Zugehörigkeit von Individuen nicht auf realen oder vorkulturellen Substraten der Übereinstimmung, sondern auf kulturellen Prozeduren beruhen, und wenn es zutrifft, dass gerade die junge Bundesrepublik einen eminenten Bedarf an symbolischer Gründung besaß, dann liegt der Gedanke nahe, dass die Auseinandersetzungen um Jünger seit den Fünfzigerjahren auch dazu gedient haben, die intellektuelle Identität der Bundesrepublik symbolisch auszuhandeln und die Integration in sie zu bewerkstelligen. Fraglos war und ist die öffentliche Debatte um Jünger ein Schauplatz, auf dem die Intellektuellen auch über das handeln und gehandelt haben, was in der so überaus vergangenheitssensiblen Gesellschaft der Bundesrepublik sagbar und zulässig ist, was und wie in ihr erinnert werden soll, wie und an wen Fragen der Schuld adressiert werden können, welche Rolle der Intellektuelle in ihr spielt und – wollte man es alteuropäisch formulieren – welche ‚Verantwortung‘ er in ihr hat. Darin ist die kontroverse öffentliche Thematisierung Jüngers nicht nur ein überaus langlebiger Teil der intellectual history der Bundesrepublik, sondern – verschiebt man die Perspektive von den Akteuren und den verräterisch gleichförmigen Debatten auf die Ebene ihrer diskursiven Verfahren – auch ein Symbolbildungsort für die Prozesse sozialer Integration. Vereinfacht gesagt: Lange Zeit haben Äußerungen über Jünger die kulturelle Funktion besessen, der realen Vergesellschaftung in der Bundesrepublik eine diskursive oder ‚meinungsförmige‘ an die Seite zu stellen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob zwischen dem vermerkten Primat der Inhaltsanalyse und diesem Vergesellschaftungsprozess eine mehr als nur zufällige Koinzidenz besteht. Mit der Rekonstruktion der einschlägigen Kontroversen ist jedenfalls noch kein Aufschluss darüber gewonnen, wie Ernst Jüngers Verhältnis, genauer: das seiner Texte, zur Bundesrepublik überhaupt beschaffen ist. Jünger auf sein gern gepflegtes Außenseitertum festzulegen, ist ebenso schlicht wie methodologisch unhaltbar, wie es überhaupt geboten scheint, das ganze Lexikon seiner Selbstbilder – den (kosmischen) Seher, den Zeitdeuter, den Platoniker, den Zeitenthobenen; Bilder, die recht umstandslos auch in die Sprache seiner Biographen und Anhänger Eingang gefunden haben17 – beiseite zu rücken. Man muss, um zu Thesen über Jüngers Verhältnis zur Bundesrepublik zu gelangen, einen anderen Weg wählen. Er besteht darin, Wirkungslinien, Verbindungen, Korrespondenzen und Beziehungen dort aufzusuchen, wo sie nicht auf den ersten Blick gegeben sind. Bekanntlich gehört es zu den Vorzügen von im weitesten Sinne diskursgeschichtlichen Zugriffen, struktu17

Vgl. Koslowski: Mythos, S. 11; Meyer, Martin: Ernst Jünger. München 1993, S. 231 u. ö.; Boehm, Gottfried: „Fundamentale Optik“. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Hg. v. Günter Figal und Heimo Schwilk. Stuttgart 1995, S. 9–24, hier S. 21.

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rierte Zusammenhänge über längere Zeitstrecken und zunächst unabhängig vom Ort ihrer Produktion identifizieren zu können, ohne dass genetische Kategorien wie Einfluss, Nachwirkung oder Rezeption bemüht werden müssen. Statt Einfluss oder Nachwirkung geht es um strukturierte bzw. regulierte Relationen, d. h. um Kohärenzen zwischen kulturellen Narrativen, Mythisierungen, Aussageformen oder Praktiken, die nicht offen zu Tage liegen, sondern erst auf dem Weg der Analyse sichtbar werden und sich dann als strukturell identisch oder mindestens verwandt erweisen. Für Jünger bedeutet das in einer vorläufigen Formulierung: Gerade die vordergründige Distanz von Jüngers Texten zum Diskurs der Bundesrepublik markiert die Form der Bezugnahme seiner Texte, weil es zwischen beidem strukturierte bzw. formale Affinitäten gibt. Das ist nicht als Neueinkleidung des bekannten Außenseiter-Bildes zu verstehen. Die analytische Schwäche dieser oder anderer ‚solitärer‘ Semantiken besteht gerade darin, dass sie zwar Jüngers Distanz zum Diskurs der Bundesrepublik bestätigen, nicht aber die vermittelten Formen und strukturierten Relationen erfassen, die zwischen beiden Größen bestehen. Distanz, Abständigkeit, Negation sind in einer noch aufzuklärenden Weise gerade die Artikulationsformen, in denen Jüngers Texte den Kontakt zum Diskurs der Bundesrepublik herstellen. Die Behauptung bedarf schon deswegen einer Begründung, weil sie in mehrfacher Hinsicht kontraintuitiv ist. Kontraintuitiv ist sie zunächst, weil sich Jüngers Texthandeln nach 1945 durchgreifend verändert hat. Jüngers Schreiben steht in den Zwanziger- und Dreißigerjahren noch in einem unmittelbaren zeitdiagnostischen Zusammenhang. Seine Texte besitzen einen ‚interventionistischen‘ Zug, weil sie sich als Tathandlungen, Ermächtigungen und Eingriffe verstehen. Die ganze Indolenz des Schmerz-Essays lebt von der Traumatisierungsbereitschaft seines Lesers, der mobilisiert und schmerzunempfindlich geworden, autoritär den Schritt aus den Befangenheiten der Zeit wagen soll, und schon die erste Fassung des Abenteuerlichen Herzens exponiert eine esoterische Kommunikationssituation, die durch die Übergabe opaker Zeichen der Sammlung der nationalen Gemeinschaft zuarbeitet und insofern die Textgrenzen fortwährend überschießt. Von diesem Texthandlungsmuster sind Jüngers Texte nach 1945 weit entfernt. Ihre referentielle Gestik wird uneindeutiger und diskreter, ihre heißlaufende Affektmotorik erlischt, ihr Tatcharakter weicht einer betrachtenden Ferne, die Jünger – ein weiteres Stichwort für seine Verehrer – gerne ‚desinvoltura‘ genannt hat. Und wenn man partout auf den Autor selbst Bezug nehmen möchte, wird man den Unterschied zu seinem Frühwerk darin sehen müssen, dass er selbst, als Person, nicht mehr in das Zeitgeschehen der Bundesrepublik involviert ist. Provokant ist an Jünger nach 1945 allenfalls noch die Nonchalance, mit der die großen Zäsuren der Zeitgeschichte – der RAFTerror oder die Vereinigung von 1989 – als Immer-Gleiches, als bloße Wie-

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derholung und schon Gesehenes behandelt oder mit schlichter Indifferenz quittiert werden.18 Dass Jüngers Texte gerade im Modus der Distanznahme zeitgeschichtliche Zusammenhänge aufschließen sollen, ist noch in einer weiteren Hinsicht kontraintuitiv. Wenn es zutrifft, dass sich die junge Bundesrepublik über einer doppelten Gründungslegende – hier die ‚Stunde Null‘, dort die gesellschaftskritische Rede von der ‚Restauration‘ – errichtet hat, dann ist unübersehbar, dass Jünger zu dieser Legendenbildung keine Beiträge geleistet hat – nicht, weil Jüngers Texte nach 1945 schlagartig mythenabstinent oder mythenkritisch geworden wären, sondern weil seine Texte offenbar andere, vor allem auch strukturell und narrativ anders formierte Mythen produzieren. Jedenfalls wird man weder die ‚Stunde Null‘ noch den Restaurationsdiskurs unmittelbar in Jüngers Texten nach 1945 finden können; zu beiden setzen sich Jüngers Texte offenkundig nur dadurch in ein Verhältnis, dass sie andere Narrative erfinden. Das ist selbst schon bemerkenswert. Für den oberflächlichen Blick mag noch verständlich erscheinen, dass Jüngers Werk nach 1945 nicht an dem Impuls des Restaurationsdiskurses partizipieren wollte, die Bundesrepublik habe unter der Hand jene gesellschaftlichen Verhältnisse am Leben erhalten, die den Nationalsozialismus und dessen großen Zivilisationsbruch ermöglicht hatten.19 Bemerkenswert dagegen ist, dass Jüngers Texte von den salvierenden Möglichkeiten der ‚Stunde Null‘ keinen Gebrauch gemacht haben; ganz im Gegenteil: 1964 publiziert Jünger seine Adnoten zum Arbeiter und macht damit deutlich, dass die westliche Moderne von ganz anderen Narrativen, Narrativen zumal, die in der Kontinuität totalisierender und ‚sozialtechnologischer‘ Gesellschaftsmodelle stehen, her verstanden werden muss. Die Gleichgültigkeit gegenüber der ‚Stunde Null‘ ist in einer doppelten Hinsicht aufschlussreich: Zum einen verzichtet Jünger darauf, dem Vorwurf zu begegnen, die rechtsintellektuellen Zirkel, ihrer Herkunft nach aus den Abbrucharbeiten der Weimarer Republik stammend, seien auch noch nach 1945 unvermindert aktiv; immerhin ist das ein gewichtiger Teil des Restaurationsvorwurfs gewesen, zumal er sich in der Vorstellung einer unterirdischen, gewissermaßen camouflierten Fortdauer der rechten Gegenaufklärung bis in die 1990er Jahre erhalten hat.20 Zum anderen haben Jüngers 18

19

Vgl. exemplarisch Schöning, Matthias: „Der Anarch und die Anarchisten. Ernst Jüngers Eumeswil: Eine metapolitische Typologie der Staatsfeinde aus dem Jahr ’77“. In: Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Hg. v. Norman Ächtler u. Carsten Gansel. Heidelberg 2010, S. 21–49. Vgl. zu diesem auf Walter Dirks, Eugen Kogon und Hans Werner Richter zurückreichenden Diskursmuster der frühen 1950er Jahre Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 249ff., und Kiesel, Helmuth: „Die Restauration des Restaurationsbegriffs im Intellektuellendiskurs der frühen Bundesrepublik“. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Hg. v. Carsten Dutt. Heidelberg 2003, S. 173–193.

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Texte ein Identifikations- oder Moderationspotenzial verweigert, das ihnen nach 1945 vermutlich schon deswegen leicht zugewachsen wäre, weil ihr Autor für die am Krieg beteiligten Generationen ein wichtiger imaginärer Ansprechpartner gewesen wäre. Jüngers eigene Biographie – hier ist der empirische Autor tatsächlich ein gewichtiger symbolischer Faktor – markiert eine erfahrungsgeschichtliche Position, die sich von den Erfahrungszusammenhängen der ‚jungen‘ und jüngeren Generationen, die nach 1945 in die Bundesrepublik eintraten, einerseits unterschied, andererseits aber als Position eines ‚Betroffenen‘ und Zeugen zweier Weltkriege Ansprechbarkeit garantierte. Jünger gehörte zwar weder der Generation derjenigen an, die als unmittelbare Trägerschicht des Nationalsozialismus gelten muss, noch derjenigen, die als Angehörige des Jungvolks und der Hitlerjugend vollständig im Dritten Reich sozialisiert war. Dennoch hätte Jünger potenziell für die aufbrechenden Fragestellungen der älteren und jüngeren Generation adressierbar sein können: Während diejenigen, die das Jahr 1933 noch gar nicht bewusst erlebten, im Wesentlichen am Jahr 1945 orientiert waren und primär in Kategorien des Neuanfangs denken konnten oder mussten, verschob sich für diejenigen, die ihre politische Sozialisation vor dem Dritten Reich empfangen hatten, die entscheidende Zäsur auf das Jahr 1933 und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie das Geschehene überhaupt möglich gewesen war.21 Für beide Fragestellungen wäre Jünger symbolisch ansprechbar gewesen, und so muss Jüngers generelle Distanz zu diesen Zäsuren (nicht zu historischen Zäsuren an sich) auch als Verweigerung verstanden werden, als intellektueller Interaktionspartner für die am Krieg beteiligten Generationen zu fungieren – zumindest soweit man die ‚Stunde Null‘ als kollektive Freigabe der entsprechenden Rechenschaftsdiskurse betrachtet. Allenfalls als Vertreter eines ‚dritten Weges‘, der frühzeitig aus den sich abzeichnenden Polarisierungen der Weltpolitik herausführen wollte, ist Jünger – in Anspruch zu nehmen. Dass seine diesbezüglichen Überlegungen – man denke an die Friedensschrift oder an den Weltstaat-Essay – in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in das Zwielicht der Unglaubwürdigkeit gerieten und einmal mehr an Jüngers ‚Wandlung‘ zweifeln ließen, gehört zu den unfreiwilligen Ironien dieses ‚dritten Weges‘. Will man also etwas Belastbares, wenn auch vorerst unweigerlich Thesenhaftes, über Jüngers Verhältnis zur Bundesrepublik formulieren, wird man, wie angedeutet, die spezifische Modalität der Bezugnahme in den Blick rücken müssen. Jünger steht nicht nur aufgrund seiner Distanz zu den Stiftungslegenden der Bundesrepublik mit leitenden Elementen ihrer diskur20 21

Vgl. Seferens, Horst: „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998. Vgl. zur ‚Stunde Null‘ und den „Schlüsselerlebnissen“ der Generationen van Laak, Dirk: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993, S. 13ff.

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siven Realität in Konflikt. Auch sein Weg in die literarische Moderne ist – trotz seiner Herkunft aus dem europäischen Symbolismus/Ästhetizismus – ein spezifischer. Während Tagebuch und Essay Jüngers Schreiben von Beginn an und über die vermeintliche Zäsur von 1945 hinweg bis in sein Spätwerk hinein begleiten, erscheinen erst ab 1949 jene Erzählungen und Romane, mit denen Jünger Anschluss an die große Tradition der literarischen Moderne eines Robert Musil, Alfred Döblin, Thomas Mann oder James Joyce sucht – allerdings verspätet. Jüngers Ungleichzeitigkeit ist damit eine systematische: Weder befinden sich seine Texte, deren diagnostischer Einsatz in den Vordergründigkeiten ihrer Semantik nach 1945 ja unvermindert ist, im Einklang mit den bundesrepublikanischen Bedürfnissen nach gründungsmächtigen ‚historiographischen‘ Zäsuren, noch entspricht er dem literarischen ‚Normaldiskurs‘ der Bundesrepublik eines Heinrich Böll, Günter Grass, Wolfgang Koeppen oder Dieter Wellershoff, die sich mit ihren Erzählwelten in der Realität der Bundesrepublik einrichten und sie in einer literarischen Nahperspektive verankern. Jüngers Erzählen dagegen ‚flüchtet‘ in fiktive politische Szenarien (Heliopolis), utopische und doch seltsam instabile Zukunftsgesellschaften (Eumeswil) oder irritierend unwirkliche Raum-Zeit-Konstellationen (Gläserne Bienen, Besuch auf Godenholm), die – anders als der offizielle Diskurs der Bundesrepublik – mit archetypischen und weit dimensionierten Zeitrhythmen operieren. Welche Funktion Jüngers, im Kontext der BRD-Literatur wohl singuläre, gleichwohl beharrlich ausgestellte (Gläserne Bienen, Eumeswil, Aladins Problem, Eine gefährliche Begegnung), Affinität zum Deutungsmuster der Dekadenz – auch dies ein unzeitgemäßes literarisches Erbe – besitzt, ist systematisch noch unerforscht. Das alles könnte die Vermutung nähren, dass Jüngers Schreiben nach 1949, zumindest in einem gewichtigen Strang, Gegenerzählungen, Kontramythologien, Kryptonarrative entwirft, die die offiziellen Erzählungen der in diesem Jahr gegründeten Bundesrepublik hintertreiben. Wenn Jüngers Texte immer wieder in die Mythologie großer Zeitrhythmen, neu anbrechender Erdphasen oder titanischer Zeitalter ausgreifen, dann berufen seine Texte nach 1945 nicht nur ein ‚anderes‘, geradezu klandestines mythologisches Material. Sie stellen sich mit ihren wiederholt ausgespielten Zeit-Figuren der Wiederholung, der Zyklik, der ‚großen‘ Wiederkehr oder der metahistorischen Betrachtung auch einer legitimatorischen Zeitkonstruktion entgegen, die emphatisch die Nicht-Wiederholung, das Nie-Wieder betont. Darin sind Jüngers Gegenmythen denkbar weit von den historiographischen Konstruktionen des bundesrepublikanischen Neubeginns entfernt. Sollte diese Formlogik negativer Vermittlung, die noch darin zum Ausdruck kommt, dass Jüngers Texte ihre ‚Gegenmythen‘ selbstverständlich mit mythischen Mitteln entwerfen, zutreffen, wären all die unversöhnlichen und gleichförmigen affektiven Reaktionen, die Jüngers Schreiben nach 1945 und

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in der Tendenz bis an sein Lebensende begleiten, anders zu deuten als bisher. Sie hätten dann weniger mit der fortwährenden Erinnerung an eine soldatische Existenz oder einen ‚Totengräber‘ der Weimarer Republik zu tun als vielmehr mit dem undurchschauten, analytisch jedenfalls noch nicht hinreichend dingfest gemachten Nicht-Verhältnis der Jüngerschen Texte zu konstitutiven Elementen des BRD-Diskurses. So würde Jüngers Provokation nicht darin bestehen, was er gesagt und geschrieben hat, sondern was seine Texte unterlassen haben.

3. Es wäre freilich unzulässig eindimensional, Jüngers Werk nach 1945 ausschließlich auf sein Nicht-Verhältnis zu zentralen Diskursmustern der Bundesrepublik festzulegen und in diesem Nicht-Verhältnis nach Art einer unausgesprochenen bzw. nur analytisch zu explizierenden Dialektik eine Gegenerzählung zu erblicken. Fraglos ist das eine der Modalitäten bzw. Artikulationsformen, mit denen Jüngers Texte ihre referentiellen und narrativen Bezüge nach 1945 organisieren. Es liegt auf der Hand, dass Jüngers Texte auch andere Formen der Bezugnahme kennen, wobei der Aspekt der Form entscheidend ist. Tatsächlich nämlich wird man zu einem Verständnis des Jüngerschen Werks nach 1945 nur gelangen, wenn die seit diesem Zeitpunkt veränderten Formen seiner literarisch-ästhetischen Artikulation in den Blick genommen werden. Fragen dieser Art gehören üblicherweise in das Feld von Poetik und Ästhetik. Genau hier aber stellen sich Schwierigkeiten ein, weil Jüngers Texte nach 1945 insgesamt heterogener verfahren als zuvor und weniger einem einheitlichen Impuls folgen, als es für das Frühwerk gilt. Dessen Signatur besteht, Umorientierungen in der Ideenbewegung ungeachtet, darin, den Abstraktionen und Traumatisierungen der technischen Kriegsmoderne einen Ausdruck abzuringen, mehr noch: die immanente Logik dieser Moderne, ihre fortwährenden soziotechnologischen Selbstüberbietungen, vorauszuahnen und im eigenen Diskurs, der in den Dreißigerjahren nur konsequent in der faschistischen Planungsutopie des Arbeiters endet, auszutragen. Es ist nicht nur so, dass Jüngers Werk nach 1945 ein derart homogener, wenn auch geschichtsdiagnostisch fortwährend prolongierter und phasenweise auch erzwungener Grundimpuls fehlt. Vor allem gehört es zur vergleichsweise einheitlichen Signatur des Frühwerks, dieses geschichtsphilosophische Deutungsprojekt an Genregrenzen vorbei zu entfalten. Gattungsdifferenzen sind für Jüngers Frühwerk – noch – keine starken Zäsuren; vielmehr sind sie Elemente eines Metadiskurses, um den sich herum die Schreibweisen von Tagebuch, Novelle und Essay wie variante Artikulationen anlagern. Zäsuren gehen primär vom Diskurs selbst aus – etwa in der

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Art, wie Jünger das Kriegserlebnis als Deutungsparadigma in die Nachkriegszeit fortschreibt oder aus der Obsoletheit seiner zunächst subjektivistischen Deutungsperspektive die totalisierenden Konsequenzen des Arbeiters zieht –, nicht aber von den ‚Gesetzen‘ der Form, die ihm durch Gattungsgrenzen zuwachsen würden. Dass sich Jünger in der Phase seiner nationalrevolutionären Publizistik zwischen etwa 1925 und 1930 ganz aus dem im engeren Sinne literarischen Gattungsspektrum zurückzieht bzw., wie im bereits erwähnten Fall des Abenteuerlichen Herzens, publizistische, essayistische und narrative Diskurspraktiken miteinander verschmelzen lässt, belegt diesen Gesichtspunkt von einer anderen Seite her. Unter diesem Aspekt liegt die entscheidende Zäsur in der Jüngerschen Text- und Werkdiachronie im Jahr 1934 (und nicht eigentlich im Jahr 1945; auch in dieser Hinsicht erweist es sich als ‚mythische‘ Zäsur), weil hier der Ideenkomplex des Frühwerks mitsamt seiner im Arbeiter mündenden avantgardistischen Programmierung endet. Zugleich gewinnen ab 1934 Gattungsspezifika, Spezifika der Schreibweise und der Artikulationsform, an Gewicht. Wie in einem Brennglas lässt sich die Zäsur 1934 in der Sammelpublikation Blätter und Steine beobachten, die einerseits nochmals Jüngers faschistische Anthropologie aufnimmt (Über den Schmerz), andererseits aber eine spekulative, zeit- und realitätsabgewandte Diskursatmosphäre exponiert (Lob der Vokale), wie sie – vordergründig – für das weitere Werk charakteristisch ist.22 Tatsächlich aber besteht die auffälligste Zäsur gegenüber dem Frühwerk in der eminenten Bedeutung, die das Erzählen für Jünger nach 1934 und in der Folge nach 1945 gewinnt (bedenkt man ihre ungewöhnlichen Publikationsumstände, ist noch die frühe Erzählung Sturm eigentlich ein Produkt des Spätwerks). Gleichwohl steht eine Erklärung für diesen poetologisch signifikanten Kurswechsel aus. Streng genommen, lässt sich an dieser Stelle zunächst gar keine Zäsur markieren, weil Jünger zuvor nicht im selben Maße erzählt hat. Es fehlt, anders als im Falle des Tagebuchs oder des Essays, ein diachroner Vergleichsgesichtspunkt, der die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität mit einer Rekonstruktion von Veränderungen im Erzählverfahren beantworten könnte. Offenkundig stellt sich Jüngers Schreiben nach 1945 ein neuartiger Problemzusammenhang, der nur mehr mit narrativen Mitteln gestaltet werden kann und der an die Spezifik narrativer Verfahren verwiesen ist. Die entscheidende Zäsur gegenüber Jüngers Frühwerk besteht in einer veränderten, jedenfalls als verändert wahrgenommenen Zeit, die – anders als in der Weimarer Republik – keine radikale, sondern eine von Latenz und Vorläufigkeit geprägte Zeit ist. All die eschatologischen, kairologischen, manichäischen, mit dem dezisionistischen Pathos der Tat und des Eingriffs aufgeladenen 22

Vgl. Jünger, Ernst: Blätter und Steine. Hamburg 1934.

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Zeitfiguren treten erkennbar zurück, ebenso wie die entsprechenden Texthandlungen und aktivistischen Rollenmuster, mit denen sich der Autor Jünger auf den publizistischen Kampfplatz der Weimarer Zeit begeben hatte.23 Darin korrespondiert Jüngers Erzählwerk nach 1945 überaus passgenau mit einem Diskurs, der die Bundesrepublik seit ihrer verfassungsförmigen Gründung im Mai 1949 in einer gewissermaßen anhaltenden Vorläufigkeit, in einer interimistischen Logik verankert. Bekanntlich hält dieser provisorische status quo der Bundesrepublik bis zum Ende der 1980er Jahre an, um dann auch in die historiographische Metasprache Eingang zu finden.24 Insofern stellt Jüngers Entscheidung zugunsten des Erzählens – noch vor jedem konkreten Erzähltext – selbst bereits ein diagnostisches Moment dar, weil hier eine der interimistischen Identität der Bundesrepublik strukturell entsprechende Textform gewählt wird. Diagnostisch ist Jüngers Erzählen daher nicht – wie bisher – im Sinne einer Stellungnahme oder einer manifest greifbaren Deutung, sondern als poetologische Leistung von Fiktionalität, die künftig Sinnmodalitäten realisiert, die sich auf vermittelte Weise affin zum verfassungspolitischen und kulturellen Provisorium der Bundesrepublik verhalten. Diese Sinnmodalitäten sind solche der Unbestimmtheit, der Ambiguisierung, des Aufschubs, der Digression und der ‚polyphonen‘ Perspektivierung – Sinnmechanismen, die die großen Romane wie Heliopolis oder Eumeswil ebenso prägen, wie die kürzeren, zum Teil novellistisch angelegten Texte der 1950er bis 1980er Jahre.25 Dieser zeitgeschichtlich motivierte Neueinsatz in Jüngers Schreibweisen wird noch deutlicher, wenn man Jüngers Essayistik zum Vergleichsmaßstab heranzieht. Hier wird man nicht übersehen können, dass Jüngers Schreiben auf einer überaus stabilen Tiefenstruktur beruht, die sich – bei wechselnden konzeptuellen Begründungen – von der frühen Publizistik bis in die späte Essayistik durchhält. Fast alles, was Jünger an Diagnosen ersonnen hat, verdankt sich derselben generativen Struktur: Auf einer imaginären Oberfläche bloßer Erscheinungen, die im ‚Blick‘ des Autors den Status von bedeutenden Zeichen gewinnen, ordnen die Texte Phänomene an, die aufgrund ihrer Heterogenität zunächst disparat bleiben, in einem zweiten Schritt aber tiefensemantisch integriert werden. Was auf der Oberfläche der Zeiterscheinungen als Syntagma zusammenhangloser Zeichen auftritt, erweist sich in 23

24 25

Vgl. zur Auftrittsgestik von Jüngers „kriegerischer Autorschaft“ in den Zwanzigerjahren Martus, Steffen: „Der Krieg der Poesie. Ernst Jüngers ‚Manie der Bearbeitungen und Fassungen‘ im Kontext der ‚totalen Mobilmachung‘“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 212–234, hier S. 224ff. Vgl. Görtemaker: Geschichte, S. 66 und Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990. München 2006. Vgl. zum Gesamtzusammenhang den Beitrag von Matthias Schöning in diesem Band. Für einen ähnlichen textanalytischen Befund vgl. jüngst Hohendahl, Peter Uwe: „Der unsichtbare Autor: Erzählstruktur und Sinngehalt in Ernst Jüngers Roman ‚Eumeswil‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 2, S. 310–336.

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der ‚Tiefe‘ als deren verschwiegene, aber zum Ausdruck drängende Bedeutungsuniversale, und erst hier, in der ‚Text-Tiefe‘, konstituiert sich der Autor. In dieser Hinsicht ist Jüngers Textpoetik auffallend invariant. Das ist ein für die Frage nach der Spezifik von Jüngers Schreiben nach 1945 eigentümlicher und geradezu belastender Befund, zumal er weitreichende Konsequenzen für die Möglichkeit besitzt, im Falle Jüngers begründet, also in einem poetologischen Sinne, von einem Spätwerk (nicht von einem Alterswerk) sprechen zu können.26 Wenn es eine entsprechende Variationsqualität überhaupt geben kann, dann betrifft sie allein die semantischen Substrate – Arbeiter, Friede, Waldgang, Zeitmauer, Weltstaat und Titanenzeitalter –, die Jünger seinem Textmodell zuführt. Werkbiographisch gesehen hat das beschriebene Textmodell die Neigung, sich trotz wechselnder Zeitdiagnosen identisch zu reproduzieren, und es kann dies, weil es seinem transsemantischen Status nach selbst nicht bedeutend ist, sondern nur Aufnahmebedingungen für Bedeutung schafft. Weil Jüngers Textmodell in seinem Formalismus von Oberfläche und Tiefe eigentümlich leer bliebe, ist es fortwährend auf die Zufuhr von semantischen Substraten angewiesen. Seine eminente Leistung besteht darin, dass es die Werkzeit Jüngers, sein nicht enden wollendes oder könnendes Schreiben, verbraucht, in dem es für immer andere Propositionen, Prognosen und ‚Lagebeurteilungen‘ aufnahmebereit ist. Das alles führt – um die Skizze von Jüngers Textpoetik vorläufig abzurunden – zur Frage nach Jüngers ‚Autorschaft‘. Allerdings lebt der Begriff aus einer Sphäre hoher Bedeutsamkeit, die die Analyse eher verstellt, als dass sie ihr zuträglich ist. Es ist der Jünger-Forschung jedenfalls noch zu wenig eine Selbstverständlichkeit, dass Jüngers ‚Autorschaft‘ nur zu den geringsten Teilen mit den gängigen Rollenbildern des Sehers, Platonikers und Zeitdeuters identisch ist. Das ist vielmehr abgesunkene Semantik. Wenn es einen Grund gibt, Jüngers Schreiben nach 1945 in den Blick zu nehmen und versuchsweise mit neuen Fragestellungen und Deutungsansätzen zu erfassen, dann ist es auch der, dass Jüngers ‚Autorschaft‘ nach 1945 primär das Produkt von Verfahren der Textredaktion ist. Semantisch-inhaltlich, etwa nach dem Muster eines poeta vates, ist Jüngers ‚Autorschaft‘ nicht angemessen zu erfassen. Schon für das beschriebene essayistische Textmodell gilt ja, dass ihm der Autor nicht vorausliegt, sondern ein Äquivalent seiner tiefensemantischen Verfahren ist. Man muss hier, in einem diskursanalytischen Sinn, das Verhältnis von Erzeugendem und Erzeugtem verkehren: Alles ist hier ein ferner Reflex jener Figur, die es als prosopopeia gestattet, die Stimme des Autors zu setzen, wo keine Person, sondern ein Text am Werk ist, der den Autor allererst hervorbringt. Deutlicher noch betrifft das den Leser Jünger. Jünger ist nach 1945 ein Leser-Autor, ein Autor, der im Durchgang 26

Vgl. den Beitrag von Ingo Stöckmann in diesem Band.

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durch das ein Leben lang Erlesene anstreicht, exzerpiert, ‚herauszieht‘ und in Fundstellensammlungen einschreibt, um das Gefundene in eigene Texte eingehen zu lassen. Darin ist Jüngers ‚Autorschaft‘ nach 1945 in zunehmendem Maße mit Verfahren von Rhetorik und Topik verwandt: als eine Tätigkeit des buchstäblichen Auf-Lesens, Exzerpierens und Sammelns von Fundstellen, von ‚Örtern‘, die der Autor wie ein Redaktor organisiert. Autorschaft ist hier kaum mehr als das Zur-Verfügung-Halten aufgefundener und verwalteter literarischer Wahrnehmungsschemata:27 kein Sehertum, sondern etwas, das zwischen den Praktiken der Textredaktion und – nicht zuletzt – der Philologie angesiedelt ist, bedenkt man zumal, dass Jüngers zwei Werkausgaben – die erste in den Jahren 1960 bis 1965, die zweite in den Jahren 1978 bis 1983 – nach 1945 entstehen. Hier erzeugt sich der Autor Jünger, darin eine wohl durchaus gesuchte Parallele zu Goethe, aus einem Philologenfleiß, der Jüngers bekannte Fassungsmanie mit begründet und ihn schließlich, mit Abschluss der zweiten Werkausgabe im Jahr 1983 und an der Seite seiner zweiten Frau – immerhin eine promovierte Philologin –, in den Rang der Klassizität eintreten lässt. ‚Autor‘ ist Jünger – die späten Tagebücher geben davon näherungsweise einen Eindruck – vor allem insofern, als er seinem Werk nach 1945 auf dem Weg unausgesetzter Textrevisionen eine ultimative, eben klassische Gestalt geben möchte.

4. Doch ist dieser Autor auch ein politischer Autor? Oder anders, methodologisch präziser gefragt: In welchem Maße rechtfertigen es seine Schriften nach 1945, ihnen im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Text-Kontext-Relation die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich ihrer politischen Kultur als relevanten Kontext – und nicht nur beliebigen Lebensumstand – zuzuschreiben? An diesen Fragen kommt keine Studie zu Ernst Jünger vorbei, sei sie dem Autor und seiner tatsächlich reichhaltigen Biographie gewidmet oder primär seinen Texten, ob vor oder nach 1945 verfasst. Dafür hat es schon zu viele Arbeiten von Gewicht gegeben, die Jüngers Bedeutung zunächst in seiner politischen und zeitgeschichtlichen Gestalt sehen.28 Anzunehmen, es könne eine wissenschaftliche ‚Stunde Null‘ geben, die eine voraussetzungslose Analyse ermöglicht, mag ein alter wissenschaftstheoretischer Traum sein, ist aber genausowenig stichhaltig wie die historiographische Konstruktion eines gesellschaftlichen Nullpunkts. Gleichwohl kann es sich lohnen, die tradierten Fragen nicht noch einmal in gleicher Weise zu stellen, sondern als eine Schicht des Diskurses selbst in die Analyse miteinzubeziehen und dadurch zu 27 28

Vgl. die Beiträge von Heiko Christians und Jens Wörner in diesem Band. Vgl. z. B. Schwarz, Hans-Peter: Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers. Freiburg 1962.

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transformieren. Wie bereits deutlich geworden sein sollte, gilt es hier vorsichtiger zu sein als es Germanistik und Öffentlichkeit im Umgang mit Jünger vielfach waren. Es ist analytisch schwierig zu entscheiden, in welchem Maße die mangelnde Synchronizität zwischen Ernst Jüngers Texten und dem Gründungsdiskurs der BRD eine Stellungnahme der realen Autorperson anzeigt, dem auf ‚Klassizität‘ programmierten Autorschaftskonzept geschuldet ist oder als von einem Autoreffekt geleitete Zuschreibung verstanden werden muss. Ähnliches gilt für die zunehmende gattungspoetische Signifikanz der Jüngerschen Werke bzw. deren symptomatologische Auslegung unter Rekurs auf die freilich eminenten historischen Zäsuren. Hier fragt es sich, inwieweit die positivistische Feststellung einer zeitlichen Koinzidenz zwischen dem 1939 beginnenden Schreiben von Erzählliteratur (Auf den Marmorklippen) auf der einen Seite und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, der den terroristischen Charakter des NS-Regimes endgültig entschleiern wird, auf der anderen, der interpretatorischen Strukturierung eines Textkorpus und daran anschließenden Auslegung der einzelnen Werke dienlich sein kann. Bevor die genannten Befunde umstandslos zur Vorlage hermeneutischer Auslegung werden, ist zu klären, welche Diskurs-Voraussetzungen sie zuallererst erzeugen. Namhaft gemacht werden können im Bereich einer politisch kontextualisierenden Literaturwissenschaft zunächst alle Formen von ‚Widerspiegelungstheorien‘, die Erzählliteratur darauf verpflichten, Wirklichkeit in ihrer (vermeintlichen) ‚Tendenz‘ darzustellen. So sehr marxistische Positionen, wie sie im Bereich der Literaturtheorie in elaborierter Form etwa Georg Lukács vertreten hat, ins Hintertreffen geraten sein mögen, so sehr ist doch davon auszugehen, dass die nicht allein dort, aber im Marxschen Fahrwasser besonders stark vertretene These der literarischen Repräsentation von Wirklichkeit durch verallgemeinernde Typenbildung29 zum entideologisierten literaturtheoretischen Gemeingut gehört, das immer dann aktualisiert wird, wenn Autorwissen oder Paratexte die Kontextualisierbarkeit eines literarischen Textes signalisieren. Verbindet sich die Annahme literarischer Widerspiegelungsfähigkeiten mit einem Autoreffekt, d. h. der Extrapolation werkübergreifender Intentionen, die als Modus einer biographischen und daher weitgehend homogenen Generativität begriffen werden, dann wird – in metakritischer Perspektive, also gleichsam im Modus einer Beobachtung dritter Ordnung – als tatsächliche Quelle der Aussage die Rezeptionshaltung kenntlich, die den Text im Rahmen ihrer Bedingungen zum Sprechen bringt. Im Falle Jüngers heißt das, dass von manifesten Intentionen in der einen werkbiographischen Phase auf latente Intentionen in der nächsten geschlossen wird, so dass aus dem gesamten unter seinem 29

Vgl. z. B. Lukács, Georg: Schriften zur Literatursoziologie. Frankfurt a.M. 1985, und hier insbes. das Vorwort zu „Balzac und der französische Realismus“, S. 241–253.

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Autornamen versammelten Textkorpus ein Symptom der Geschichte rechter ‚Ideologiebildung‘ wird,30 zu der der Autor in den Zwanzigerjahren, d. h. in seinen Anfängen, unbestreitbar beigetragen hat.31 Der Nachteil solcher, im Falle Jüngers vielfach gepflegter Ideologiekritik ist nicht, dass sie seinen Texten einen ideologischen Gehalt zuschreibt, dessen genaue Position im politischen Feld dann mit viel interpretativem Aufwand analysiert werden kann und auch in der Tat analysiert worden ist.32 Die explizit so genannte oder implizit praktizierte „Ideologiekritik“33 war insofern wissenschaftsgeschichtlich durchaus nicht unproduktiv, als sie zu einer differenzierten Typologie von Positionen im unübersichtlichen Feld rechtsgerichteter Weltanschaungen beigetragen hat. Ihre Grenze im Bereich der Literaturwissenschaften ist methodologisch bedingt und besteht darin, dass ihre Beobachtungsweise die am Objekt diagnostizierte Ideologizität selbst erzeugt, indem sie das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Text von vornherein asymmetrisch konzeptualisiert: Der Text wird in seiner Aussagedimension an einer vorausgesetzten Realität gemessen, bevor deren Fiktionalität zum Zuge kommen kann. Dass die Politik der Texte nicht zuletzt in den Verfahren ausgetragen wird, die zuallererst eine fiktive Welt erzeugen und deren Referentialität und/oder Eigenweltlichkeit organisieren, kommt nicht in den Blick. Um – wie angesichts der Frage nach dem politischen Charakter des Jüngerschen Werkes nach 1945 unvermeidbar – das Verhältnis zwischen Jüngers Texten und dem politischen Gebilde BRD als eines eminenten Kontextes nicht nur negativ, sondern positiv zu bestimmen, ohne bereits den Referenten der Bezugnahme vorauszusetzen, kann demnach nur von den Texten selbst ausgegangen werden. Am Ausgangspunkt einer methodisch kontrollierten Text-Kontext-Relation ist zunächst zu analysieren, wie sowohl die Bezugnahme als auch die Adressierung des Werkes textuell organisiert werden. Dabei ist bereits auf den ersten Blick festzustellen, dass der Befund für die verschiedenen Vertreter kontexualisierender Ansätze34 alles andere als niederschmetternd ist. Im Gegenteil: Jüngers Texte treiben ein 30

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Das ist – bei aller analytischen Genauigkeit im Einzelnen – in hohem Maße bei Seferens: Jünger, der Fall, für den sich der Autor in der Mitte der Zwanzigerjahre gleichsam ‚zu erkennen‘ gegeben hat, so dass alle Texte nach 1945 als vom kontextuell bedingten Gebot der Camouflage regiert erscheinen (müssen). Vgl. auch Hohendahl: Autor, S. 330ff. Vgl. Jünger: Publizistik. Vgl. z. B. Sieferle, Rolf Peter: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. Frankfurt a.M. 1995, S. 132ff.; Schöning, Matthias: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933. Göttingen 2009, S. 128ff. Zu ihrer Konzeptualisierung vgl. Eagleton, Terry: Ideologie. Eine Einführung. 2. Aufl. Stuttgart 1993. Vgl. dazu im Überblick Tilmann Köppe u. Simone Winko: „Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2: Theorien und Methoden, hg. v. Thomas Anz. Stuttgart 2007, S. 285–372, hier S. 336ff.

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aufwendiges Spiel sowohl der Relationierung von Autor und Leser35 als auch von erzählter Welt und historischer Wirklichkeit. Zu diesen auch als Strategie interpretierbaren Textoperationen gesellt sich die Frage, ob Jüngers Texte aus der Ferne – ‚der Ferne‘ im wahrsten Sinne des Wortes – nicht sogar vom zeitgenössischen Diskurs der ‚Widerspiegelung‘ mitgeschrieben werden, insofern sie mindestens zwei seiner wichtigsten Merkmale teilen, nämlich Referentialisierung durch Typisierung sowie philosophisch angeleitete Prognostik. Die Ansiedelung der erzählten Welten von Heliopolis und Eumeswil in imaginären, zeitlich weit entfernten Räumen dient so gesehen ebensowenig der Verbergung wie der Revision einer politischen Position, sondern setzt sich innerparadigmatisch ins Verhältnis zur Literatur der Zeit.36 Jüngers Erzählwelten zwischen 1949 und 1977 teilen nicht nur Topoi der jeweilig zeitgenössischen Literatur und ihrer Erzählwelten,37 sondern auch die Regeln von deren Erzeugung. Angesichts des die Schreibweisen der Nachkriegsliteratur dominierenden Diskurses der ‚Widerspiegelung‘ beziehen Jüngers Texte keineswegs eine in allen Aspekten exterritoriale Position. Das mag in plakativer Weise für die dargestellte Welt der Staatsromane gelten, die stärker an die zugespitzten Konflikte der Weimarer Republik erinnern als an die Bundesrepublik. Hinsichtlich ihres referentiellen Anspruchs und dessen modus operandi jedoch beziehen Jüngers Texte die gleichsam generationskonforme Position eines entweder phantastischen, historischen oder satirischen ‚Realismus mit Tendenz‘ wie ihn Thomas Manns Doktor Faustus oder sogar noch Wolfgang Koeppens Das Treibhaus verkörpern, dem die jüngere Generation das entgegensetzt, was bald „neuer Realismus“ heißen wird.38 Das Dargestellte erhebt keinen Anspruch auf Schilderung der Wirklichkeit in ihrer Faktizität, aber es ist in der pragmatischen Ambition, für die Leser die Entwicklungsrichtung oder den verborgenen Kern des Realen zu entdecken, auf diese bezogen. Wie Jüngers Essay Der Waldgang, so betreiben auch die erzählten Welten eine gesellschaftsinterne Exterritorialität im Modus einer referentiellen oder referentialisierungsoffenen Fiktionalität, deren fiktive raum-zeitliche Entferntheit eine Imagination entfesselt, die das Reale in verdichteter, vom Akzidentiellen entschlackter Form vor Augen stellt. Setzt man also nicht einfach voraus, dass literarische Texte ‚immer schon‘ auf die Gesellschaft bezogen sind, sondern erkennt darin eine tragende Schicht des Diskurses der alten Bundesrepublik, um dann fragen zu können, ob und in welchem Maße die Darstellungsleistung der Texte eine 35 36 37 38

Vgl. dazu den Beitrag von Gregor Streim in diesem Band. Vgl. dazu den Beitrag von Ulrich Froeschle in diesem Band. Vgl. für die ersten Jahre der westdeutschen Literatur nach 1945 den Beitrag von Norman Ächtler in diesem Band. Vgl. Schnell, Ralf: Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb. Stuttgart 1986, S. 209.

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entsprechende Referentialisierung bewirkt, dann kann für Jünger festgehalten werden, dass seine Arbeiten tatsächlich referentiell gerichtete Diegesen erzeugen und insofern am Diskurs der Bundesrepublik in hohem Maße partizipieren. Politisch ist der Autor Jünger nach 1945 daher zunächst im basalen Sinne einer Bezogenheit seiner Texte auf die Gesellschaft seiner Zeit. Sie weisen insofern einen hinreichenden Politisierungsgrad auf, um ihnen als Kontext die BRD und ihre politische Kultur unter Rückgriff auf eine textimmanente Begründung zuschreiben zu können, verhalten sich in diesem Kontext dann aber nicht unmittelbar politisch im Sinne einer zwar ästhetisch generierten, aber programmatisch klar identifizierbaren Position, wie Mitte der Zwanzigerjahre. Zu den erörterten Schwierigkeiten, im Wissen um seine frühen Schriften den Politisierungsgrad und die politische Position des Werkes nach 1945 richtig einzuschätzen, dürfte freilich beigetragen haben, dass Ernst Jünger seinerseits wohl annahm, dass Kontinuität eine essentielle Voraussetzung von Autorschaft sei. Jünger hat in dieser Hinsicht – man vergleiche nur seine unter dem Titel der ‚Fassungspoetik‘ zwar aufwendig inszenierte,39 in der Umsetzung aber wenig transparente Praxis der Textrevision40 – eine Werk-Politik betrieben, die unter politischen Auspizien leicht missverstanden werden konnte. Und in Anbetracht der Parallelität zwischen seiner eigenen Weigerung und der seines in ideologiekritischer Wahrnehmung ähnlich belasteten und prinzipiell verwandt erscheinenden Briefpartners Martin Heidegger,41 zum Verhältnis zum Nationalsozialismus Stellung zu beziehen,42 erscheint Jüngers Werkpolitik nicht nur als Leugnung und Schuldabwehr. Zusammen mit dem dauerhaft ausbleibenden Bekenntnis zur Demokratie und der Weigerung, den Fragebogen zur Entnazifizierung auszufüllen, scheint seine 1946 privat verbreitete und 1962 von Karl Otto Paetel in seiner rororo-Bildmonographie wiedergegebene Erklärung, seine „Autorschaft sei als Ganzes zu nehmen“, denn er gehöre nicht zu denen, „die heute nicht mehr an das erinnert werden woll[t]en, was sie gestern gewesen“ seien,43 eine Richtung vorzugeben, die von Kritikern unschwer in eine politische links/rechts-Positionierung übersetzt werden konnte, der wiederum die Alternative von Neubeginn und Revisionismus polemisch entsprach. Wenngleich klar sein dürfte, dass Jünger die Einordnung gemäß der politischen 39 40

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Vgl. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 233ff. Vgl. Knebel, Hermann: „‚Fassungen‘: Zu Überlieferungsgeschichte und Werkgenese von Ernst Jüngers In Stahlgewittern“. In: Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770–1930). Hg. v. Harro Segeberg. Tübingen 1991, S. 379– 408. Als zeitgenössisches Beispiel für eine typische Zusammenstellung vgl. Krockow, Christian Graf von: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger. Stuttgart 1958. Farías, Victor: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1989, S. 370ff. Paetel, Karl Otto: Ernst Jünger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1962, S. 105.

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Algebra der Bundesrepublik aus eher prinzipiellen, „metapolitischen“ Gründen44 abgelehnt hat, so bleibt doch ungewiss, inwieweit bei Verweigerungen dieser Art zugleich auf einen politischen Mehrwert im Hinblick auf jene Zirkel und Kreise spekuliert wurde, die sich gerade im Zeichen des (ostentativen) Schweigens konstituieren wollten.45 Auch in diesem Punkt der Werkpoetik und Werkpolitik wird es nach 1945 zunehmend schwierig, primäre von sekundären Motivationen zu unterscheiden bzw. festzustellen, welche Absichten Jünger überhaupt hatte.46 Ob zum Beispiel die letzte Fassung seines Erstlingswerks In Stahlgewittern (1920), das bereits zwischen 1924 und 1934 mehrere Revisionen ereilt hatte, bei der abermaligen Durchsicht für die erste Ausgabe seiner Werke (1960– 65) unter vornehmlich ästhetischen oder politischen Auspizien oder in einer Gemengelage aus beiden einander verstärkenden Gründen noch einmal modifiziert wurde, lässt sich schlechterdings nicht entscheiden. Immerhin ist zu konstatieren, dass Jünger mit seiner Werkausgabe viele seiner frühen Schriften in unterschiedlich stark revidierter Form für das zeitgenössische Publikum überhaupt erst wieder zur Verfügung stellte. So bleibt insgesamt festzuhalten, dass Jünger viele Punkte, die seinen öffentlichen ‚Streitwert‘ mit bedingt haben, offen gelassen und insofern, willentlich oder unbewusst, dazu beigetragen hat, dass Werk und Person in hohem Maße von Zuschreibungen verfolgt wurden. Unklar bleibt nur wiederum, ob dabei von Autorseite eine Strategie der kalkulierten Publizitätssteigerung verfolgt wurde oder nicht.47 Im Ergebnis behält das Verhältnis Jüngers und seiner Texte zur BRD auch dann etwas Schillerndes, wenn man mit Zuschreibungen haushält, um textanalytischen und philologischen Fragen den Vorzug zu geben.

5. Unvermeidbar bleibt im Umkehrschluss die metasprachliche, nur beobachterseits initiierbare Interpretation des Verhältnisses zwischen Ernst Jünger und der Bundesrepublik, wie sie für zeitgeschichtliche Perspektiven selbstver44 45

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Vgl. den Beitrag von Daniel Morat in diesem Band. Vgl. zum Oxymoron des Gesprächs im Schweigen van Laak: Sicherheit, S. 126ff., sowie zu Kreisen und Netzwerken außer dem genannten Band jetzt auch Erhard Schütz u. Peter U. Hohendahl (Hg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatisismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Essen 2009. Unbestreitbar ist allerdings, dass Jünger sich in keinem Fall politisch so exponieren wollte, wie er es zur Zeit der Weimarer Republik getan hatte und wie es sein zeitweiliger Privatsekretär Armin Mohler von ihm forderte. Erst spät, z. B. in der Ansprache anlässlich seines hundertsten Geburtstags, finden sich im Umgang mit den Kritikern und Gegnern nicht nur Äußerungen der Gelassenheit, sondern des Dankes für die erwiesene Resonanz. Vgl. Jünger, Ernst: Siebzig verweht V. Stuttgart 1997, S. 169.

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ständlich ist. Obwohl der Autor erst 1998 im hohen Alter von fast 103 Jahren verstorben ist, befindet sich sein Werk auf der Schwelle zwischen kommunikativem Gedächtnis und professioneller Historisierung.48 Die Gegenwart der Vergangenheit, die der Teilnehmer zweier Weltkriege bei Gedenkfeiern an der Seite des französischen Präsidenten Mitterand und des deutschen Bundeskanzlers Hemut Kohl in Verdun 1984 repräsentiert, ist selber zu einem Teil der europäischen Geschichte geworden. Das Zeitalter der Weltkriege ist aus dem geschichtlichen Stadium der durch Zeugen verkörperten Vergangenheitspräsenz herausgetreten.49 Insofern liegt es weniger an Jünger als an den kulturellen Bedingungen, dass er sich heute nicht mehr im gleichen Maße als symbolischer Anlass zum Streit über den Umgang mit der deutschen Geschichte eignet wie in den Achtziger- und noch in den Neunzigerjahren.50 Doch auch wenn Jünger nicht mehr unmittelbar zu den Gegenständen einer ‚Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart‘51 gehört, ist der Prozess der memorialen Transformation keineswegs abgeschlossen. Auch die wissenschaftliche Historisierung als eigene Form der hypoleptischen Selbstinterpretation der Gegenwart trägt den Topos der Strittigkeit und Fragwürdigkeit des Autors zunächst weiter, wird aber dank der veränderten „Partizipationsstruktur“52 selber sukzessiv fragwürdig und eröffnet die Chance, die historische Semantik des analysierten Diskurses langsam zu distanzieren. Richtet man in dieser Absicht noch einmal den Blick auf das politische Feld, so tritt als starker Faktor der zeitgeschichtlichen Resonanz das Links/ Rechts-Dispositiv der bundesrepublikanischen Jünger-Rezeption hervor. Die Unterscheidung zwischen linken und rechten Positionen ist derart tief in der politischen Kultur der Bundesrepublik verankert, und der Autor scheint derart klar zu einem der beiden Pole zu tendieren, dass es forciert wirken muss, daran ‚herumzudeuteln‘. Gleichwohl stellt sich ohne jeden Aplomb die Frage, ob Beobachter und Akteure, die in den Debatten um Jünger daran erinnerten, dass der Autor in seinen Anfängen eine radikal rechte Position eingenommen habe, nicht die eigentümliche Strukturierung des politischen Feldes der Weimarer Republik ignorieren, um stattdessen die bipolare Organisation des politischen Diskurses der Bundesrepublik in die Vergangenheit zurückzuprojizieren. Während die polare Alternative von linken und rechten Positionen, wie sie für die Bundesrepublik typisch ist, den Bin48 49

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Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 48ff. Vgl. – diesbezüglich Besorgnis artikulierend – Friedländer, Saul: „Martin Broszat und die Historisierung des Nationalsozialismus“. In: Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus. Hg. v. Klaus-Ditmar Henke u. Claudio Natoli. Frankfurt a.M., New York 1991, S. 155–171. Vgl. den Beitrag von Lothar Bluhm in diesem Band. Im Sinne von Hockerts, Hans Günter: „Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder“. In: Historische Zeitschrift 113 (1993), S. 98–127. Assmann: Gedächtnis, S. 53.

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nenraum eines gefestigten demokratischen Politikfeldes strukturiert, das von einem zunehmend fraglosen Verfassungskonsens getragen wird, ist für die Weimarer Republik die Unterscheidung zwischen radikalen, republikfeindlichen und moderaten, republiktreuen Positionen grundlegend. Gegenüber dieser fundamentalen Alternative erscheint die Differenz zwischen links und rechts geradezu als Zweitcodierung einer höchst instabilen politischen Kultur, in der man sich zuvörderst durch Anerkennung oder Ablehnung der institutionalisierten Spielregeln positioniert. Zumal unter Intellektuellen – man denke nur an die Konstellationen Benjamin und Schmitt, Brecht und Jünger, Lukács und Heidegger – sind die Berührungsängste zwischen radikalen Denkern, die die politischen Institutionen, egal ob von links oder rechts, in Frage stellen, erheblich geringer als die Sorge beider Seiten, sich mit den moderaten Kräften einzulassen, die im Verdacht stehen, dem schicksalhaften Moment der Epoche auszuweichen.53 Nimmt man diesen grundlegenden Unterschied in der Konstitution zweier inzwischen weitgehend historischer politischer Kulturen ernst, dann erscheint jede mögliche Positionierung Jüngers innerhalb der politischen Skala der alten Bundesrepublik in einem anderen Licht. Unter Voraussetzung der Möglichkeit, dass die von den Akteuren zweifellos gefühlte Grundsätzlichkeit der Debatten, die die Republik unter Besatzungsstatut bis 1989 begleiten, über die objektive Stablität des Regierungssystems hinwegtäuscht, erscheint die Frage nach Jüngers politischer Position letztlich zweitrangig. Vorrangig wäre die Frage – wenn es denn überhaupt fraglich wäre –, ob Jünger seine Fundamentalopposition aus der Weimarer Zeit erneuert oder seine Inklusion in Gesellschaft und Literaturbetrieb vorantreibt. Die Antwort dürfte in jeder Hinsicht leicht fallen, ob man sich die von Jünger angenommenen Preise und Auszeichnungen anschaut, seine Publikationstätigkeit hinsichtlich des symbolischen Kapitals der Verlage prüft oder die Entwicklung seiner in die Zwanzigerjahre zurückreichenden Briefwechsel mit Carl Schmitt oder Friedrich Hielscher untersucht. Wo auch immer man hinschaut, muss man heute zu dem Ergebnis kommen, dass sowohl die öffentliche Autorperson Jünger und der private Gesprächs- und Briefpartner als auch sein Werk den grundlegenden Wandel der Gesellschaft stillschweigend mitvollziehen. Die Reserve gegenüber dem neuen Staat, die an vielen Stellen aufblitzt, muss eher dem Generationenstil einer Alterskohorte zugerechnet werden, deren Sozialisation im Zeichen heroischer Politikkonzepte, die das Selbstopfer des Einzelnen zugunsten von Nation, Staat oder Kollektiv verlangen können, vom langsamen Aufkommen einer sozialliberalen 53

Aus der inzwischen zahlreichen Literatur, die sich der vermeintlich gegenstrebigen Konstellationen annimmt, vgl. Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1989; Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München 2001; Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994.

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Konsensgesellschaft mit starkem Konsumentenindividualismus nach amerikanischem Vorbild anhaltend befremdet wurde. Autor und Werk sind in diachroner, zeitgeschichtlicher Hinsicht mit Blick auf den Umbruch 1945 und hinsichtlich des Nachlebens generationeller Dispositionen insofern viel signifikanter, als es Jüngers Schriften nach 1945 in synchroner, politischer Hinsicht jemals werden konnten. Mit dem performativ vollzogenen ‚Friedensvertrag‘ zwischen dem ehemals radikalen Intellektuellen und der normalistischen Gesellschaft, den so viele Handlungsfelder dokumentieren, werden die scharf geschnittenen Alternativbildungen seiner Romane und Erzählungen zu Reprisen eines „Protonormalismus“54 an die Adresse der Generationsgenossen. Insofern sind nicht nur die spätesten fiktionalen Erzähltexte Die Zwille und Eine gefährliche Begegnung, sondern auch die Zukunftsromane Heliopolis und Eumeswil im Kern historische Romane, die die Strukturprinzipien vergangener Sozialregimes mikrologisch in Szene setzen.55 Im Unterschied zu jenen, mit denen Jünger 1973 und 1985 weitgehend ungeteiltes Echo findet, erzeugen sie jedoch eine zwiespältige Resonanz, weil sie im engen Verbund mit den Essays Der Waldgang (1951), Der Gordische Knoten (1953), An der Zeitmauer (1959) und Der Weltstaat (1960) den Anspruch fortwährend erneuern, die Sprache der Zeit anhand ihrer Einzelworte bis in ihre Tiefenstruktur hinein lesen zu können. Vor allem Ambitionen dieser Art wecken den alten Argwohn, dass sich hinter der Fassade kosmisch dimensionierter Ausblicke ‚ewig Gestriges‘ verberge, und lassen die jüngere Publizistik murren, die alte Generation habe ihren Kredit auf Welterklärungen doch längst verspielt. Gleichwohl offenbart Jüngers Neigung zur Prognostik keineswegs eine „Wahrnehmungsschwäche gegenüber der Gegenwart“,56 sondern beschreibt vielmehr die Modalität der Selbstbefriedung des westlichen Teils des gespaltenen Deutschlands, zumal seiner Generation, das den technischen Fortschritt und die Konsumversprechen der Fünfzigerjahre in einem sozialtechnologischen Politikverständnis amalgamiert, das nicht besonders demokratisch sein mag, aber mit den politischen Zuständen der Zeit konform geht und insofern systemstabilisierend wirkt.57 Nicht zuletzt die Form des Ausblicks selbst und die innerdiegetische Instrumentierung der dargestellten Zukunftswelten mit neuen Techniken, weniger die politischen Szenarien, 54 55 56 57

Zur an dieser Stelle verwendeten Normalismus-Theorie vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. Aufl. Opladen 1999. Vgl. am Beispiel von Die Zwille den Beitrag von Danièle Beltran-Vidal in diesem Band. Vgl. Ritter, Henning: Notizhefte. Berlin 2010, S. 19. Vgl. am Beispiel eines anderen Vertreters der radikalen Weimarer Rechtsintelligenz – Hans Freyer – Muller, Jerry Z.: The other God that failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton 1987, und Kruse, Volker: Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer. Frankfurt a.M. 1994, S. 141ff.

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partizipieren in hohem Maße am sozialen Imaginären der frühen Bundesrepublik. Raumgleiter und gläserne Bienen, Luminare und Phonophore, Televisor und Blinkstift tragen bei aller Altertümlichkeit der Bezeichnungen und trotz der machttechnischen Nutzung der Geräte zur Überwachung und Ortung58 einen zeitgeschichtlichen Index mit sich. Indem sie in Aussehen und Funktion die Symbolisation der sozialen Ordnung und ihrer Hierarchie übernehmen, fungieren sie nicht anders als die technischen Statussymbole in der realen Zivilgesellschaft der Bundesrepublik, die sich von der Semiotik der Uniformen, Rangabzeichen und Orden wohl oder übel hat verabschieden müssen. Man muss vielleicht nicht so weit gehen, in den technischen Handgeräten aus Jüngers Texten das Versprechen einer postindustriellen Kommunikationsgesellschaft zu sehen, die sich von der Arbeit befreit hat und der Archivierung und Musealisierung widmet. Gleichwohl bleibt es aufschlussreich, dass es an Orten wie Heliopolis und Eumeswil von Historikern und Archivaren wimmelt, während eine Sphäre der Produktion nicht thematisiert wird. Anders jedenfalls als in den negativen Utopien von Aldous Huxley und George Orwell, dessen 1984 ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, verbinden sich Jüngers Beobachtungen zur Technik nicht allein mit Herrschaft und Überwachung. Ihre zeitgeschichtliche Signifikanz besteht eher darin, dass sie am Diskurs einer Entpolitisierung durch Technik mitschreiben, insofern sie im Geiste von Jüngers erstem Großessay Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932) eine Nivellierung zwar nicht sozialer Ränge, aber weltanschaulicher Haltungen und politischer Meinungen diagnostizieren. Für die zahlreichen zivilen Reisen, die im diaristischen Teil seines Werkes an die Stelle der militärischen Raumerkundungen des damaligen Stoßtruppführers und Pariser Besatzungsoffiziers getreten sind, gilt etwas Ähnliches. Der ausschweifende Tourismus der Autorperson interagiert nicht nur mit der Provinzialität seiner neuen Heimat im oberschwäbischen Wilflingen. Seine Reisetexte tragen ebenso wie die essayistisch und narrativ vorgetragenen Zukunftsvisionen einerseits die realgeschichtliche Provinzialisierung Deutschlands mit und kompensieren sie andererseits durch die Provinzialisierung aller nationalen Fragen im Zeitalter des Weltstaats (1960). So bleibt in der Tiefe seines planetarischen Denkens noch einmal derselbe Impuls spürbar, der die Nachkriegsmentalität vieler deutscher Kriegsteilnehmer grundiert.59

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Vgl. den Beitrag von Bernd Stiegler in diesem Band. Zu den Brüchen und Kontinuitäten in Jüngers planetarischem Denken vgl. den Beitrag von Thomas Pekar in diesem Band.

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6. Jüngers Einbettung in die deutsche Nachkriegsgesellschaft soll über seine Distanz zur Bundesrepublik als politischem Gebilde und Forum einer neuesten Literatur nicht hinwegtäuschen, sie aber als qualifiziertes ‚Nicht-Verhältnis‘ genauer bestimmen. Jünger hat sich weder das teleologische Selbstverständnis der Bundesrepublik als Ende des deutschen Sonderwegs und „Ankunft im Westen“60 noch ihre politischen Grundrechenarten zueigen gemacht. Diese Weigerung hat ihn jedoch weniger ins reale Abseits der Gesellschaft befördert und etwa von Erwerbsquellen abgeschnitten, als vielmehr zum eminenten Fall einer negativen Vergemeinschaftung werden lassen, die denjenigen, über dessen Stigmatisierung sich die anderen symbolisch inkludieren, tatsächlich nicht weniger einschließt als jene. Die Figur des ‚Solitärs‘ bezeichnet genau diese dunkle, abseitige Autorität, wenn man nicht die in der Selbstbeschreibung gepflegte Semantik des ‚Alleinstehens‘ reproduziert, sondern deren kulturelle Funktion analysiert. Dabei korrespondiert der negativen Funktion als Gegenbild des leitenden Konsenses eine positive Ausstrahlung in den Augen all derer, die entweder einen subversiven Gestus pflegen wie die Frankfurter Sponti-Szene, aus der der ehemalige Außenminister Joschka Fischer überliefert hat, dass Jünger dort als Geheimtipp gegolten habe, oder derer, die ihrerseits tatsächlich abseits stehen und auf eine unbefangene Expertise hoffen, wie zum Beispiel Paul Celan, der sich 1951 brieflich an Ernst Jünger gewendet und damit bei Bekanntwerden 200561 noch einmal ein kleineres Rauschen im publizistischen Blätterwald verursacht hat.62 Der Solitär, auch der hellsichtigste, haust dank seiner Sonderstellung nicht gleich im blinden Fleck der sozialen Institution, die ihn auf der Liste der Verdächtigen führt. Sobald aber deren Maßstäbe an Allgemeingültigkeit verlieren, wie in Deutschland zum Beispiel nach dem Mauerfall 1989, wächst ihm ein neues Interesse zu – Alexander Kluge63 oder Heiner Müller64 haben es bewiesen –, das ganz einfach daher rührt, dass der vom vermeintlichen Konsens Dispensierte nicht zugleich mit diesem veraltet.65

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Vgl. Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Frankfurt a.M. 1999. Wimbauer, Tobias: „‚In Dankbarkeit und Verehrung‘. Hilfe kommt aus Wilflingen: Ein Brief von Paul Celan an Ernst Jünger wurde im Marbacher Literaturarchiv entdeckt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2005, S. 33. Vgl. den Beitrag von Alexander Honold in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Gunther Martens in diesem Band. Durchaus lesenswert in diesem Zusammenhang ist Müllers Antwort auf Walter Jens, der gegen eine Publikation von Jünger-Texten in der Zeitschrift der ostdeutschen Akademie der Künste, Sinn und Form, protestiert hatte. Müller, Heiner: „Erklärung. Zu dem neuen Streit um Ernst Jünger“. In: Frankfurter Rundschau Nr. 37, 13.02. 1993, S. 7. Vgl. auch Martus: Jünger, S. 177.

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Ganz in diesem Sinne macht es sich der vorliegende Band zur Aufgabe, nicht noch einmal Stimmen des Konsenses über Ernst Jünger zu archivieren, sondern neue Perspektiven herauszufordern, die sowohl seine Texte nach 1945 als auch den Diskurs der Bundesrepublik, der ihre Bedeutung mit erzeugt, genauer in den Blick nehmen. Für die Förderung der dem Band vorangegangenen Tagung, die unter dem Titel „Der Solitär und die Zeitgeschichte. Ernst Jünger und die Bundesrepublik“ am 2.–4. März 2010 an der Universität Konstanz stattgefunden hat, sowie für die Finanzierung der Druckkosten danken die Herausgeber dem Konstanzer Exzellenzcluster EXC 16 Kulturelle Grundlagen von Integration.

Literaturverzeichnis Arnold, Heinz Ludwig: „Wandlung und Wiederkehr“. In: Wandlung und Wiederkehr. Festschrift zum 70. Geburtstag Ernst Jüngers. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Aachen 1965, S. 7–22. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Bergsdorf, Wolfgang: „Über den abnehmenden Utopiebedarf der Postmoderne“. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Hg. v. Günter Figal und Heimo Schwilk. Stuttgart 1995, S. 59–71. Boehm, Gottfried: „Fundamentale Optik“. Ebd., S. 9–24. Bohrer, Karl-Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München, Wien 1978. Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1989. Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München 2001. Dietka, Norbert: Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik (1945– 1985). Frankfurt a.M. u. a. 1987. Dornheim, Liane: Vergleichende Rezeptionsgeschichte. Das literarische Frühwerk Ernst Jüngers in Deutschland, England und Frankreich. Frankfurt a.M. u. a. 1987. Eagleton, Terry: Ideologie. Eine Einführung. 2. Aufl. Stuttgart 1993. Farías, Victor: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1989. Friedländer, Saul: „Martin Broszat und die Historisierung des Nationalsozialismus“. In: Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus. Hg. v. Klaus-Ditmar Henke u. Claudio Natoli. Frankfurt a.M., New York 1991, S. 155–171. Gehlen, Arnold: „Über kulturelle Kristallisation“. In: Ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied a.Rh. 1963, S. 311–328. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999. Hagestedt, Lutz: „Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982)“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 167–179.

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Matthias Schöning / Ingo Stöckmann

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1. ÄSTHETIK

Jüngers Spätwerk

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Jüngers Spätwerk 1. 1983 erscheint Ernst Jüngers letzte Erzählung Aladins Problem. Erzählt wird von Friedrich Baroh, dem Nachkommen eines schlesischen Adelsgeschlechts, der in einer für Jüngers Helden typischen Mischung aus äußerem Opportunismus und innerem Widerstand den entbehrungsreichen Dienst in der polnischen Volksarmee quittiert, sich alsbald in den Westen absetzt, um, nach Studium und Heirat, in das Bestattungsunternehmen seines Onkels einzutreten. Was Baroh bis zu diesem Zeitpunkt nur geahnt hat, wird hier als Gesetz der späten Moderne vollends sichtbar: Selbst auf den Friedhöfen, den Orten der Dauer und des Friedens, herrscht die treibende Dynamik der „motorischen Welt“;1 kaum belegt, werden die Gräber – „in Rotation“2 – bereits wieder neu vergeben. So breitet sich über Baroh die Melancholie des Nihilisten, und so ersinnt der „durch Geburt und Neigung“3 am Geschichtlichen festhaltende Geist einen Gegenentwurf: den einer „Nekropole im Weltstil“,4 die unter dem Namen „Terrestra“ in globalem Maßstab operiert, um dem Menschen des Posthistoire einen Ort der Sammlung und Ruhe zu geben und um Kultus und Kultur wieder zusammenzubringen. „Auf dem Totendienst“, heißt es, „beruht die Kultur; sie schwindet mit dem Verfall der Gräber“5. Dennoch besitzt „Terrestra“ eine unheilvolle Kehrseite: Auch das globale Unternehmen ist Verdienst und materielle Bereicherung; „mich verdroß das Geschäft, das sich […] immer mächtiger entfaltete“.6 In dieser Situation erreicht Baroh die Stellenbewerbung eines Mannes namens Phares; allmählich erkennt er, dass der geheimnisvolle Bewerber im Besitz eines arkanen „Urtextes“ ist, der die Zerwürfnisse und „Spaltungen“7 der geschichtslosen Welt zu heilen in der Lage ist.

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Die Erzählung wird nach der bei Klett-Cotta verlegten Erstausgabe zitiert: Jünger, Ernst: Aladins Problem. Stuttgart 1983, S. 84. Ebd., S. 80. Ebd., S. 10. Ebd., S. 104. Ebd., S. 104f. Ebd., S. 105. Ebd., S. 118.

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Jüngers Erzählung ist in der Forschung einhellig als „klassisches Alterswerk“8 gewertet worden. Dafür spricht nicht nur die Leichtigkeit und Gelassenheit des Tonfalls. Ein Alterswerk ist der Text vor allem, weil er nur mehr eine Reprise des Jüngerschen Nachkriegsœuvres darstellt.9 Fast alles ist hier präsent, was Jünger an Diagnosen über das 20. Jahrhundert gebreitet hat: den Verlust des historischen Bewusstseins, den nihilistischen Schwund der metaphysischen Substanz, das stationäre Getriebe des Posthistoire, die heillose Verdichtung der staatlichen Macht und den stillen Widerstand des Anarchen. Darin ist die locker gefügte Erzählung, die „grundlos heiter – aufgeräumt“10 schließt, wie der Autor versichert, tatsächlich Summe und Abschluss. – Was aber, wenn dieser letzte Text eines von seinem eigenen Werk geradezu besessenen Autors nicht in der Zusammenschau seiner Diagnostik aufginge? Was, wenn man sich von den Vordergründigkeiten des diagnostischen Materials für einen Moment löste und den, wenn man so sagen kann, Textcharakter des Textes ernst nähme? So gesehen, erweist sich Aladins Problem als narrativ eingekleidete Spätwerk-Phantasie. Sie verweist auf die Frage, ob und wie sich im Falle Jüngers von einem Spätwerk sprechen lässt – und dies jenseits biologischer und biographischer Kategorien, d. h. in einem poetologischen Sinne. Eine solche poetologische Lesart liegt aus mehreren Gründen nahe. Zunächst kommt im Erscheinungsjahr der Erzählung auch Jüngers zweite, nunmehr auf 18 Bände angewachsene Werkausgabe zum Abschluss; ihr sind die für Jünger bezeichnenden Selbstredaktionen vorangegangen, die von Jüngers zweiter Frau Liselotte begleitet werden und die als Archivarin und promovierte Germanistin die Frage löst, wie überhaupt ein Werk entsteht.11 Sodann ist Aladins Problem ein unausgesetztes Selbstzitat. In gewisser Weise durchkreuzt sich der Erzählprozess selbst, weil er gegen sein Voranschreiten immer wieder Bezug auf früher Erarbeitetes nimmt; das gilt nicht nur für die erwähnte Diagnostik, die in zum Teil wörtlicher Entsprechung aus den Texten der 1950er bis -70er Jahre, vor allem aus dem Waldgang-Essay von 1951 und dem Zeitmauer-Essay von 1959, zitiert,12 sondern auch für die Phares-Figur, die ihr Vorbild im gleichnamigen Gesandten aus Jüngers Heliopolis-Roman hat. Nicht zuletzt sind die anatolischen Katakomben den 8

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Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie. München, Zürich 2007, S. 525. Vgl. auch Noack, Paul: Ernst Jünger. Eine Biographie. Berlin 1998, 293ff.; Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 644; Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 224. Vgl. Martus: Jünger, S. 224. Jünger: Aladins Problem, S. 121. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der beiden Werkausgaben Schwilk: Jünger, S. 478ff. und S. 522f. und Hahn, Barbara: „‚Von nun an wird die Welt aus Scherben zusammengesetzt‘. Ernst Jüngers Tagebücher ‚Siebzig verweht‘“. In: Literaturmagazin 35 (1995), S. 148–161, hier S. 149f. Vgl. nur Jünger: Aladins Problem, S. 44, S. 52, S. 68, S. 77, S. 115.

Jüngers Spätwerk

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auf Pagos gelegenen Grüften des früheren Romans nachgebildet; offenkundig auch ein später Niederschlag von Jüngers lebenslangem Interesse an Grabstätten und ihrer (unterstellten) kulturstiftenden Bedeutung.13 Wichtiger aber ist der konzeptuelle Kern der projektierten Nekropole. Genau besehen konstituiert sie sich ausschließlich aus Lektüren, Texten, Archiven und Bibliotheken, die im Text zu einem weit verzweigten, aber konzeptuell geschlossenen Intertext zusammengeführt werden; neben den Werken Dostojewskis,14 Turgenjews,15 Nietzsches16 und den für Jünger zentralen Erzählungen aus Tausend und Einer Nacht17 handelt es sich vor allem um entlegene, in Teilen zumal vergessene kulturhistorische Werke über Bestattungsbräuche, Grabarchitekturen und Gedenkrituale. Jüngers Autorschaft ist nach 1945 zunehmend eine Tätigkeit des literarischen Sammelns und buchstäblichen Auf-Lesens, eine scientia colligendi des Abseitigen und Esoterischen, die hier reiche Früchte, Früchte eines langen Lebens und Lesens, hervorgebracht hat. Genannt werden im Text Vitruvs De architectura, Giovanni Battista Piranesis Carceri (Kerker, 1750), Karl von Rottecks Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeiten (1812), Gustav Friedrich Klemms Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit (1843–1852), Friedrich Chr. Andreäs Todten-Gebräuche der verschiedenen Völker der Vor= und Jetztzeit (1846), Guillaume de Jerphanions Les églises rupestres de Cappadoce (Die Felsenkirchen Kappadokiens, 1925–1942) sowie die Jüdischen Sitten und Gebräuche

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Wie schon die frühen Reisetagebücher belegen, werden Grabstätten und Friedhöfe geradezu systematisch bereist. Vgl. den Bericht über die Gruft der „Cappucini“ bei Palermo, die Jünger im Frühsommer 1929 mehrfach besucht und als „gewaltigen Keller“ mit über „achttausend Skeletten“ und „Mumien“ erlebt. Jünger, Ernst: „Aus der goldenen Muschel“ (1944). In: Sämtliche Werke. Bd. 6. Tagebücher IV. Reisetagebücher. Stuttgart 1982, S. 89–107, hier S. 104. Einen expliziten Bezug zu Aladins Problem stellt Jünger im November 1982 her, als er die venezianische Toteninsel Campo Santo besucht: „Allein zum Campo Santo, der Toteninsel, in der Hoffnung auf Details, die ich vielleicht in ‚Aladins Problem‘ einfügen könnte […].“ Jünger, Ernst: Siebzig verweht III. Stuttgart 1993, S. 198. Schon in Heliopolis hatte Jünger eine Totenstadt dargestellt, die den Namen Campo Santo trägt. Vgl. Jünger, Ernst: „Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt“ (1949). In: Sämtliche Werke. Bd. 16. Erzählende Schriften II. Heliopolis. Stuttgart 1980, S. 174f. Vgl. zum gesamten Komplex Plard, Henri: „‚Zu euch, ihr Inseln …‘ Über die Nesophilie des reisenden Jünger“. In: Text und Kritik 105/106 (1990): „Ernst Jünger“, S. 98–118, hier S. 106f., Pekar, Thomas: Ernst Jünger und der Orient. Mythos – Lektüre – Reise. Würzburg 1999, S. 76ff., sowie Poncet, François: „Die humane Schicht. Zum Motiv der Totenstadt bei Ernst Jünger“. In: Les Carnets Ernst Jünger 4 (1999), S. 226–237. Vgl. Jünger: Aladins Problem, S. 32. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 32, S. 67, S. 75. Genannt werden darüber hinaus auch Tschechow (ebd., S. 30), Gogol (ebd., S. 31), der 88. Psalm (ebd., S. 33), Hume, Macchiavelli, Flavius Josephus und Ranke (ebd., S. 81). Zu Tausend und Einer Nacht vgl. ebd., S. 113ff. Vgl. zur Bedeutung von Tausend und Einer Nacht für Jünger Martus: Jünger, S. 226; Pekar: Orient, S. 45f., S. 94ff., S. 117ff.

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in zwei Bänden (1927, 1932) des niederländischen Rabbiners Philip de Vries.18 Für Baroh besitzen alle diese Texte nur eine Funktion. Sie befestigen die geplante „Nekropole“ als einen Ort der Präsenz und der Fülle. In ihr soll es keine Zerstreuungen, keine Zirkulationen, sondern nur Ruhe und Sammlung geben. Im Kern folgt Aladins Problem einer zweifachen Ökonomie: Einerseits, in der „motorischen Welt“, wirkt eine Ökonomie der „Rotation“19 und des dynamischen Verkehrs. „Bald“, so erinnert sich Baroh an eine Äußerung seines Freundes Kornfeld, „würde das Land nur noch aus Straßen und Tankstellen bestehen.“20 Andererseits, in der aus Texten geborenen Nekropole, wirkt eine Ökonomie der „ewigen Ruhestätte“, in der die „Grabsteine […] die Form eines aufgeschlagenen Buches“21 besitzen und damit für Sinnfülle und Präsenz stehen. Schon etymologisch ist die Katakombe im Übrigen mit einem textuellen Vorstellungsfeld verwandt: cata-tumba ist das, was, eingeschlagen in die Erde, anschwillt und sich anhäuft.22 Insofern ist Jüngers Nekropole nichts anderes als ein allegorischer Ort der An-Wesenheit, in der sich die Texte und Schriften final versammeln, um sich im ruhevollen Bei-Einandersein zum ‚Werk‘ zusammenschließen. 18

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Vgl. Jünger: Aladins Problem, S. 78, S. 78f., S. 90, S. 96. Der Text nennt darüber hinaus „die ‚Vertraulichen Briefe des Präsidenten de Brosses’“ (ebd., S. 75) und die „illustrierte[n] Werke [...] Lenôtres und des Fürsten Pückler“ (ebd., S. 79). Lenôtre (eigtl. André Le Nôtre) und Hermann von Pückler-Muskaus finden wegen ihrer Tätigkeit als Landschafts- und Gartenarchitekten Erwähnung; Le Nôtre war ab 1649 Gärtner der Tuilerienparks, ab 1662 für die Gestaltung der Versailler Gartenanlagen verantwortlich; Pückler gestaltete ab 1815 bzw. 1845 die in der Tradition des englischen Parks stehenden Landschaftsparks von Muskau und Branitz, die Pückler um ein modernes Blickachsen-Konzept erweiterte. Die erwähnten Texte besitzen insofern einen intertextuellen Bezug, als sich Friedrich Chr. Andreäs Todten-Gebräuche auf Karl von Rottecks Allgemeine Geschichte beziehen, der eine „Zusammenstellung“ der verschiedenen „Leichengebräuche“ angeregt hatte. Vgl. Rotteck, Karl von: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeiten. 1. Band. Braunschweig 151841, S. 248, und Andreä, Friedrich Chr.: Die Todten-Gebräuche der verschiedenen Völker der Vor= und Jetztzeit. Leipzig 1846, S. III. Jerphanions mehrteilige Les églises rupestres de Cappadoce (Bd. I, 1 Paris 1925; I, 2 Paris 1932; II, 1 Paris 1936; II, 2 Paris 1942) sind in der Forschung zur historischen Geographie Kappadokiens noch heute ein Standardwerk. Ähnliches gilt für das zweiteilige, 1927 bzw. 1932 erschienene Werk des Rabbiners Philip de Vries im Bereich der jüdischen Brauchtumsforschung. Gustav Friedrich Klemms 10bändige Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit (Leipzig 1843–1852) gehört in die Frühgeschichte der vergleichenden Ethnologie. Jünger: Aladins Problem, S. 80. Ebd., S. 76. Entsprechend hat sich Kornfeld aus seiner eigentlichen Profession, der Bildhauerei, zurückgezogen und auf die „Gestaltung harmonischer, der Arbeitswelt entzogener Landschaften“ verlegt. Sie sollen „dem reinen Behagen und der Meditation dienen, vielleicht auch“, wie Baroh vermutet, „kultische Bedeutung haben – am besten wäre beides vereint“ (ebd., S. 78). Ebd., S. 80. Vgl. Poncet: Schicht, S. 232f. In etymologischer Hinsicht liegen zwei weitere Vorstellungsfelder nahe: Zum einen die Tätigkeit des Autors (lat. augere: vermehren), zum anderen das Einritzen und Einprägen des Schreibvorgangs (gr. charaktér: Kennzeichen, Stempel, Gepräge; von gr. charássein: einritzen, einprägen), die dem Bildfeld des eingesenkten Grabhügels zumindest nahe steht.

Jüngers Spätwerk

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2. Über Spätwerke zu sprechen, fällt ebenso leicht wie schwer. Leicht, weil der Begriff des Spätwerks die Verständigung über Kunst und Literatur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wesentlich mitträgt; schwer, weil es ihm auffällig an einer theoretischen Kontur mangelt. In der Hauptsache wird dies mit den im weitesten Sinne ‚poststrukturalistischen‘ Bestreitungen von Autorund Werkkategorien zusammenhängen, die die Literaturwissenschaft seit den 1960er Jahren erlebt hat und die jede Reflexion über Werkbegriffe in das Zwielicht des Anachronismus tauchen; zu denken wäre an Umberto Ecos Opera aperta, an die Intertextualitätstheorien im Gefolge Julia Kristevas, an Roland Barthes’ Maxime ‚vom Werk zum Text‘, an Derridas logozentrische Kritik des ‚Buchs‘ als Suggestion einer bei sich seienden Sinnimmanenz und an Foucaults Analyse des Werks als diskursiver Ordnungsfunktion.23 In gewisser Weise ist das désœuvrement, von dem Maurice Blanchot gesprochen hatte, um die Möglichkeit der Entstellung des Werks zu kennzeichnen, seit langem auch auf seinen Diskurs übergetreten: als ‚Entwerkung‘ des Werks wie als Infragestellung seiner wissenschaftlichen Beschreibung.24 Nun können Vertreter des Poststrukturalismus selbstverständlich weiter auf dieser Unmöglichkeit des Werks beharren. Allerdings zeichnet sich zwischen den starren Oppositionen – hier das Werk als Sinneinheit, dort seine Auflösung in einen ‚proliferierenden‘ Text – seit längerem ein dritter, funktionsgeschichtlicher Weg ab. Er besteht darin, das Werk nicht als vorausgesetzte Identität, sondern als Identitätseffekt zu behandeln, d. h. seine fortwährende Dekonstruktion in die Konstruktivität seiner diskursiven Erzeugung zu verwandeln. ‚Werk‘ hieße dann immer, die in es selbst eingebauten Prozeduren seiner textuellen und poetologischen Hervorbringung in den Blick zu rücken und damit für eine Analyse seiner historisch unterschiedlichen Produktionsprozesse freizugeben. Von Seiten der Schreibprozessfor23

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Zur Geschichte von Werkbegriff und Werkkritik vgl. die Zusammenschau bei Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert (mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George). Berlin, New York 2007, S. 31ff., sowie den sehr systematischen Überblick von Spoerhase, Carlos: „Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen“. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 11 (2007), S. 276–344, der am Werkbegriff die Dimensionen von „Überlieferung“, „Opus“ und „Œuvre“ unterscheidet. Vgl. ebd., S. 286. Einschlägig, wenngleich unterschiedlichen Theorievorgaben verpflichtet, auch Oelmüller, Willi (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie 3: Das Kunstwerk. Paderborn u. a. 1983; Müller, Harro: „Einige Notizen zu Diskurstheorie und Werkbegriff“. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt a.M. 1988, S. 235–243, sowie Stierle, Karlheinz: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff. München 1996. Für den aktuellen Definitionsstand der literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerke vgl. Thomé, Horst: „Art. Werk“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Band III: P-Z. Berlin, New York 2003, S. 832–834. Vgl. Blanchot, Maurice: „La solitude essentielle“. In: Ders.: L’espace littéraire. Paris 1955. S. 11– 32, hier S. 16.

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schung etwa werden Überlegungen dieser Art seit einiger Zeit innerhalb eines breiten Ensembles von editorischen, archivarischen, juristischen, ökonomischen und institutionellen Entscheidungen verfolgt, die – wie etwa das Beispiel Goethe zeigt – selbst einen poetologischen Charakter besitzen, weil sie u. a. Rezeptionsprozesse und Techniken der Überlieferung bzw. des kulturellen Erbes lenken.25 Vor diesem Hintergrund ist eine entscheidende Differenzierung erforderlich: Spätwerke sind keine Alterswerke. Die Unterscheidung ist deswegen notwendig, um den Spätwerk-Begriff aus den biologisch-biographischen Konnotationen zu befreien, die sich mit ihm reflexhaft einstellen. Die Literatur zum Thema neigt dazu, biographische und ästhetische Sachverhalte zu vermengen und den Begriff vollständig an das Lebensalter der Autoren bzw. Künstler zu binden. Spätwerke sind dann diejenigen Werke, die in der letzten Schaffensperiode eines Autors, d. h. in Abhängigkeit vom Alter des Autors, entstehen. Seltener wird ein Spätwerk als epochengeschichtliche Konstellation im Sinne einer Spätzeit verstanden, etwa als Schreiben in einer Epoche, die im Ganzen als End- oder Spätzeit begriffen wird. Für die Jünger-Forschung sind diese Ungenauigkeiten – jedenfalls überwiegend – bezeichnend: Selbstverständlich ist dort vom Spätwerk, von späten Schriften oder später Autorschaft die Rede26 – in aller Regel beginnt sie mit den ab 1982 erscheinenden Tagebüchern Siebzig verweht27 –, und doch ist diese Spätzeitlichkeit zumeist auf etwas bezogen, was Jünger-Biographik und -Forschung gerne ein ‚Jahrhundertleben‘ nennen. Im Zentrum des Jüngerschen Spätwerks steht ein Autor, der ein überlebenslanges Leben führt und gewissermaßen nicht sterben kann. Jünger selbst hat diese Alterserfahrung, die biographische und ästhetische Konstellationen in eins setzt, befördert und insofern eine Selbst-Rezeption im Zeichen des Alterswerks betrieben; so immer dort, wo der Autor über den Spätstil und seine Aussparungen reflektiert,28 wo er das „Uralter“ als „letztes“ seiner zahllosen „Abenteuer“29 begrüßt oder die Situation desjenigen beschwört, der – Jüngers zentrales Le25

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Vgl. Stingelin, Martin: „‚Schreiben’. Einleitung“. In: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. v. Martin Stingelin. München 2004, S. 7–21, hier S. 14f., sowie für das Beispiel Goethe Willer, Stefan: „Die Schreibszene des Nachlasses bei Goethe und Musil“. In: „Schreiben heißt: sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren. Hg. v. Davide Giuriato, Martin Stingelin u. Sandro Zanetti. München 2008, S. 67–82. Vgl. nur Schwilk: Jünger, S. 525 bzw. S. 532 („Alterswerk“); Kiesel: Ernst Jünger, S. 627 („späte Schriften“) bzw. S. 634 („Spätwerk“); Meyer, Martin: Ernst Jünger. München 1993, S. 569 („Späte Autorschaft“); Noack: Ernst Jünger, S. 293 et passim („Spätwerke“). Vgl. Pekar, Thomas: „Ein lebenslänglicher Schreibprozess. Zur Literarizität von Ernst Jüngers Tagebuch ‚Siebzig verweht‘ (I bis V)“. In: Les Carnets Ernst Jünger 3 (1998), S. 155–166; Hahn: Welt, S. 151ff. Vgl. passenderweise zur Maxime verknappt Jünger, Ernst: Siebzig verweht V. Stuttgart 1997, S. 63: „Gewinn durch Reduktion“. Ebd., S. 94f . Das Wort „Uralter“ will Jünger von Carl Schmitt übernommen haben. Vgl. auch ebd., S. 116.

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bens- und Schreibmotiv seit dem Ersten Weltkrieg – immerfort den Tod der anderen registriert und darum allein die Trauerarbeit leisten muss.30 Spätestens hier ist der Solitär ein Vereinsamter geworden; einer, der fast nur noch für sich und mit sich selbst spricht. Natürlich ist all das Ergebnis einer gewollten Stilisierung, die aus dem Geist konventionalisierter AlterswerkTopoi erfunden ist31 und die den Leser mit jeder Aufzeichnung wissen lässt: Hier spricht ein großer alter Mann, der, hindurchgegangen und geläutert durch die zahllosen Anfeindungen der Zeit, nur mehr die Distanz kennt (Jünger nennt dies gerne ‚desinvoltura‘) und sich Klassizität durch Reduktion verschafft: „Ich könnte mir jetzt leisten, meinen Stil zu festigen – durch Streichung von Floskeln wie ‚ungefähr‘ und ‚etwas‘.“32 Und auch dort, wo sich der Autor (zum wievielten Male?) über die eigenen Schriften beugt, um an ihnen die Schlacken ihrer Entstehungszeit zu tilgen, zielt diese allerletzte Selbstbegegnung auf Reduktion, auf Essentialität, auf die Klassizität des Bleibenden: Spätwerk als Schreibprogramm, als Stil der Unterlassung.33 Gleichwohl ist der Begriff des Spätwerks an einem anderen Ort zu suchen als in den biographisch-biologischen Konstellationen von Alterswerken und ihren Stileigentümlichkeiten. Tatsächlich ist das Spätwerk vielmehr als poetologische Kategorie anzusetzen, d. h. mit Schreibverfahren in einen Zusammenhang zu bringen, die ein Spätwerk als ästhetische Struktur realisieren. Spätwerke sind Werke, oder besser: Textformationen, die den Zeitbezug des ‚Späten‘ insofern in sich aufgenommen haben, als sie einen ästhetisch gestalteten Abstand zu allem Vorherigen erkennen lassen bzw. im Rückbezug einen textuell ausgestellten Zeitbezug markieren und ästhetisch produktiv werden lassen. Spätwerke müssen, weil in ihnen zeitliche Abständigkeit ästhetisch gestaltet ist, in einem eminenten Sinn als Darstellungsprobleme sichtbar sein. Die Vorzüge dieses Spätwerk-Verständnisses liegen auf der Hand: Es gestattet nicht nur, seine Phänomenalität auf die Ebene der Schreibweisen zu bewegen, die es textuell realisieren; es bietet auch die Möglichkeit, nicht in jedem Fall ein Spätwerk ansetzen zu müssen, wo Autoren 30

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Vgl. etwa Jünger: Siebzig verweht III (1993), S. 65, S. 222 („die Heimgänge von Freunden mehren sich“), S. 575, S. 578 und die entsprechenden Variationen in Jünger: Siebzig verweht V (1997), S. 27 und S. 171. Vgl. zu diesem ‚Kulturwissen‘ um Alterswerke (Abstraktion, Konzentration, Reduktion, Verknappung, Auslassung, Vergeistigung etc.) Eggebrecht, Harald: „Letzte Ausfahrt oder: Sind wir spätwerkfähig? Vom wachsenden Elend des Immergleichen“. In: Die Macht des Alters. Strategien der Meisterschaft. Hg. v. Bazon Brock im Auftrag der Stiftung Kunst und Kultur e.V. Köln, S. 91– 93, hier S. 91. Zu einer Aufklärung über den Spätwerk-Begriff würde es gehören, die kulturelle Genese dieser Topoi zu rekonstruieren. Jünger: Siebzig verweht V (1997), S. 136. Vgl. ebd., S. 189: „das Akzidentielle gestrichen, um das Prinzipielle rein zur Darstellung zu bringen“. Reichen Einblick in die späten Revisionsarbeiten gewährt Jünger bspw. in Jünger: Siebzig verweht III (1993), S. 68, S. 183, S. 209f., S. 241, S. 306, S. 309 und Siebzig verweht V (1997), S. 124f. und S. 189.

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ein hohes Alter erreicht haben: biologisches Alter und textuelle Darstellungsweise können, müssen aber nicht konvergieren.34 Zu denken wäre, um einige signifikante Konstellationen zu nennen, etwa an Goethes Vorstellung des „sich-selbst-historisch“-Werdens, die gewisse Teile einer lebenslangen Arbeit am Faust trägt und die nach 1817 das große Projekt der Morphologie beendet, um es in den Zustand seiner historischen Verwaltung und Archivierung zu überführen.35 Zu denken wäre aber auch an die ‚gespenstische‘ Wiederkehr bereits durchgespielter Schreibweisen und literarischer Erfahrungen, wie sie an den Spätwerken Wilhelm Raabes, Conrad Ferdinand Meyers und Adalbert Stifters entziffert wurden.36 Und nicht zuletzt wäre – um ein wenig kanonisiertes, gleichwohl signifikantes Beispiel zu nennen – an das Erzählwerk Eduard von Keyserlings zu denken, das ab 1903 in fortwährenden Variationen nur eines Genres – der Schlossgeschichte – das realistische Erzählen im Ganzen aufgreift und als Darstellungsweise zu Ende bringt. – Die Frage aber bleibt selbstverständlich, wie das Jüngersche Werk, zumal das nach 1945, im Kontext einer derartigen Spätwerk-Poetik zu werten ist. Die Antwort ist eine doppelte; eine doppelte zumal in dem Sinne, dass die Antworten, die zu geben sind, vordergründig unvereinbar scheinen, sich bei genauerem Zusehen aber komplementär zueinander verhalten.

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Die Formulierungen bilden einen nicht weiter ausgearbeiteten Versuch, den Begriff des Spätwerks aus seinen biologischen bzw. epochengeschichtlichen Konstellationen zu lösen und im beschriebenen Sinn als Darstellungsproblem zu fassen. Maßstäblich hierfür ist noch immer der Impuls von Adorno, Theodor W.: „Spätstil Beethovens“ (1937). In: Ders.: Musikalische Schriften IV: Moments Musicaux, Impromptus. Gesammelte Schriften, Bd. 17. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1982, S. 13–17 sowie Ders. und Hans Mayer: „Über Spätstil in Musik und Literatur. Ein Rundfunkgespräch“ (1966). In: Frankfurter Adorno-Blätter 7 (2001), S. 135–145. Einen an Adorno anschließenden Versuch zum Spätwerk realistischer Autoren hat Simon, Ralf: „Gespenster des Realismus. Moderne-Konstellationen in den Spätwerken von Raabe, Stifter und C.F. Meyer“. In: Konzepte der Moderne. Hg. v. Gerhart von Graevenitz. Stuttgart, Weimar 1999, S. 203–233 unternommen. Eine literaturtheoretische Neufundierung des Spätwerk-Begriffs verspricht ein Projektexposé von Zanetti, Sandro: Erinnerungsarbeiten – Neueinsätze – Werkinszenierungen. Entwürfe und Fallstudien zu einer Theorie literarischer Spätwerke. http:// www.schreibszenen.net/zanetti-open/skizze-spaetwerke.pdf (Stand: 28.12.2010), das in ungleich elaborierterer Form den hier angestellten Überlegungen – angesichts des offenkundigen Desiderats nicht zufällig – nahe steht. Der insgesamt unbefriedigenden Situation entspricht es, dass eine Begriffsgeschichte des Spätwerks noch immer fehlt. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. In: Goethes Werke. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen v. Erich Trunz. Bd. VIII: Romane und Novellen. 3. Bd. Hamburg 1950, S. 465 sowie dazu Zanetti, Sandro: „Sich selbst historisch werden: Goethe – ‚Faust‘“. In: „Schreiben heißt: sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren, Hg. v. Davide Giuriato, Martin Stingelin u. Sandro Zanetti. München 2008, S. 85–113, hier S. 86f. Vgl. Simon: Gespenster.

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3. Die erste Antwort auf die Frage nach Jüngers Spätwerk lautet: Jüngers Werk kennt kein Spätwerk. Das ist nicht so zu verstehen, als gäbe es bei Jünger keine entsprechende Alterserfahrung oder als fehle es an Stilgesten, die man gemeinhin mit einem Spätwerk assoziiert. Vor allem die späten Tagebücher unter dem Titel Siebzig verweht machen deutlich: der, der hier schreibt, ist nicht mehr derselbe. Der Lebenskampf ist der Heiterkeit, der drängende Sprachpuls gelassener Lakonik gewichen, und was es an Erscheinungen zu registrieren gibt, beruhigt der Tagebuchschreiber in Bildern milder Vergänglichkeit: „Seifenblasen. Höchst vergänglich, doch wunderbar. Sehr dicht am Nichts. Indikatoren für feinste Luftwirbel.“37 Oder: „Jahresanfang. Immer noch milde. Winterjasmin spritzt.“38 Das ist der späte Grundton der Aussparung, aber Jünger kennt diese Stilgesten von Beginn seines Schreibens an. Die ausgeprägte Apodiktik, die Jünger früh Bewunderung eingetragen hat, ist kein Beleg für den Eintritt seines Werks in ein Spätwerk. Tatsächlich hat Jüngers Werk kein Spätwerk realisiert hat, weil das gesamte Werk auf einer überaus stabilen und transsemantisch angelegten Tiefenstruktur beruht, die sich – bei wechselnden konzeptuellen Begründungen – von der frühen Publizistik bis in die späten Tagebücher durchhält und insbesondere Jüngers Essayistik zum Schauplatz einer Semiotik macht, die gerne als ‚Sehertum‘ oder ‚Platonismus‘ missverstanden wird. Fast alles, was Jünger an Diagnosen ersonnen hat, verdankt sich derselben generativen Struktur: Auf einer imaginären Oberfläche bloßer Erscheinungen, die im ‚Blick‘ des Autors den Status von bedeutenden Zeichen gewinnen, ordnen die Texte Phänomene an, die aufgrund ihrer Heterogenität zunächst disparat bleiben, in einem zweiten Schritt aber tiefensemantisch integriert werden. Was auf der Oberfläche der Zeiterscheinungen als Syntagma zusammenhangloser Zeichen auftritt, erweist sich in der ‚Tiefe‘ als deren verschwiegene, aber zum Ausdruck drängende Bedeutungsuniversale.39 Autorschaft ist hier kaum mehr, als das Zur-Verfügung-Halten eines Wahrnehmungsschemas und seiner generativen Prozeduren bzw. einer ‚Partitur‘, die durch ihre immer erneute ‚Aufführung‘ allererst das Werk konstituiert. Beides – Autor und Werk – sind lediglich Effekte, Produkte dieses Schemas. Man kann die Kontinuität dieses Schemas an einer Textkonstellation nachweisen, die immerhin drei Jahrzehnte des Jüngerschen Werks umspannt. „Der Plan des Buches“, heißt es 1932 im Vorwort zum Arbeiter, „besteht darin, die Gestalt des Arbeiters sichtbar zu machen […]. – Augen

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Jünger: Siebzig verweht V (1997), S. 73. Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV. Stuttgart 1995, S. 253 Vgl. Ketelsen, Uwe K.: „Ernst Jüngers ‚Der Arbeiter‘. Ein faschistisches Modernitätskonzept“. In: Ders.: Literatur und ‚Drittes Reich‘. Schernfeld 1992, S. 258–285.

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vorausgesetzt, denen die volle und unbefangene Sehkraft gegeben ist“.40 Was diese „Sehkraft“ sichtbar macht – Stählung, Disziplin, Schmerzunempfindlichkeit, Ordnung – ist schon im Arbeiter das Produkt disparater, gleichwohl bedeutungshomogener Zeichen, und so gibt es in dieser Semiotik nichts, was nicht als signifikantes Zeichengewebe erscheinen könnte: „Das Klappern der Webstühle von Manchester, das Rasseln der Maschinengewehre von Langemarck“ – dies alles, so Jünger, „sind Zeichen, Worte und Sätze einer Prosa, die von uns gedeutet und beherrscht werden will“.41 – 1960, drei Jahrzehnte später, heißt es im Weltstaat-Essay: Das Bild der heutigen Welt […] gibt ein Beispiel für die Schärfe, mit der das Auge eines guten Beobachters das Gefüge sich anschiebender Tatsachen zu durchdringen vermag. […] Dafür, daß unsere alte Erde wieder einmal ihr Kleid verändern will […], gibt es mannigfache Anzeichen. […] Wenn wir den […] einheitlichen Charakter einer solchen Regung auf den Staat beziehen, so […] [ist] [d]er […] Weltstaat […] eine der Formen […], in denen diese Einheit begriffen werden kann. Sie war und ist immer vorhanden, tief unter der Mannigfaltigkeit der Wesen und ihrer Bildungen.42

So ist auch im Weltstaat jede Zeiterscheinung mehr als Erscheinung, nämlich ein auf eine innere „Einheit“ verweisendes „Zeichen“ – gleichgültig, ob es sich um die wachsende Vieldeutigkeit der Wörter43, den „Experimentalcharakter der heutigen Politik“44, um das „sprunghafte Anwachsen der Erdbevölkerung“45, die „Einebnung der Rassen“46 oder um die „Angleichung der Geschlechter“47 handelt. Verantwortlich für diese Kontinuität ist ein generatives Schema, für das – bei wechselnden Begründungszusammenhängen – mindestens vier Komponenten konstitutiv sind: Erstens ein Visualismus, der, in den 1920er Jahren zunächst durch Vitalismus und Gestaltdiskurs (Hans Driesch, Leopold Ziegler) inspiriert, dann epochenmorphologisch (Oswald Spengler) bzw. ‚stereoskopisch‘ reformuliert und in die losen Reflexionen der späten Tagebücher fortwirkend, die aufgefundenen Universalien nicht einfach findet, sondern in der Gestaltschau konstruktiv ‚setzt‘ bzw. erzeugt; zweitens die Spaltung der Erscheinungen bzw. der epochalen Tendenzen in eine Topologie von Oberfläche und Tiefe, die semantisch integriert, was an der zeichenhaften Oberfläche disparat bleibt; drittens die Konstitution des Autors im Text, insofern als er es ist, der die ästhetische Integration des Zeichenmate40 41 42 43 44 45 46 47

Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ (1932). In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 9–317, hier S. 13. Ebd., S. 141. Jünger, Ernst: „Der Weltstaat. Organismus und Organisation“ (1960). In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 481–526, hier S. 491 und S. 495f. Vgl. ebd., S. 483. Ebd., S. 501. Ebd., S. 509. Ebd. Ebd.

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rials leistet; und viertens eine eigentümliche Immobilisierung der flüchtigen und bewegten (Zeit-)Oberfläche zugunsten der ‚ruhenden‘ Tiefenuniversalie.48 Wenn es eine Transformationsqualität als Prüfstein für die Frage nach einer Spätwerk-Poetik in Jüngers Werk gibt, dann betrifft sie allein die semantischen Substrate – Arbeiter, Friede, Waldgang, Zeitmauer, Weltstaat und Titanenzeitalter –, die Jünger seinem Textmodell zuführt. Jüngers Schreiben hat sich, zumindest auf der Ebene der bedeutungsgenerierenden Verfahren, nicht verändert; es gibt in ihm keine Zäsuren oder Absetzbewegungen, die es gestatteten, von einem Spätwerk im angedeuteten Sinn zu sprechen. Werkbiographisch gesehen hat das beschriebene Textmodell viel eher die Neigung, sich trotz wechselnder Zeitdiagnosen identisch zu reproduzieren, und es kann dies, weil es seinem transsemantischen Status nach selbst nicht bedeutend ist, sondern nur Aufnahmebedingungen für Bedeutung schafft. Weil Jüngers Textmodell in seinem Formalismus von Oberfläche und Tiefe eigentümlich leer bliebe, ist es fortwährend auf die Zufuhr von semantischen Substraten angewiesen. Vor allem aber betreibt es – im Gegenzug zur prätendierten Bedeutsamkeit seiner Diagnostik – eine diskrete Bedeutungstilgung. Weil sich die Folge der semantischen Substrate – vom Arbeiter bis zum Weltstaat und darüber hinaus – derselben Struktur ihrer Erzeugung verdankt, verhalten sie sich unweigerlich ähnlich zueinander; fast immer handelt es sich ja um Entwürfe von Totalität und fast immer sind sie Effekte einer tiefensemantischen Bedeutungsstiftung. In der Diachronie der Jüngerschen Essayistik zwischen den 1920er und -90er Jahren hat man es mit einer Serie von Substitutionen zu tun, in der die unterschiedlichen Deutungsmuster aufeinander folgen, und doch handelt es sich um unvollständige Substitutionen, weil das Substituierte seiner strukturellen Abkunft wie seiner semantischen Qualität nach nur schwach unterschieden ist bzw. keine distinkte Stellung zu einander einnimmt. Als strukturell gleich-ursprüngliche Phantasmen von Totalität bzw. planetarischer Verähnlichung sind Arbeiter- und Weltstaat auf verräterische Weise verwandt. Man kann diese Unmöglichkeit des Jüngerschen Spätwerks auch von einer mikrotextuellen Seite her angehen. Sie betrifft die Gleichförmigkeit der Jüngerschen Periodenbildung und ihre auffallend ‚offene‘ Aussagestruktur. 48

Vgl. für die 1920er Jahre Christians, Heiko: „Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), H.1, S. 84–110, hier S. 85, sowie für das Fortwirken des Modells bis in die 1960er Jahre Stöckmann, Ingo: „Der Intellektuelle als Kosmopolit. Ernst Jüngers Weltbürgertum“. In: Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa. Hg. v. Matthias Schöning und Stefan Seidendorf. Heidelberg 2006, S. 134–149. Das gerne bemühte Bild vom ‚Seher‘ bzw. ‚Platoniker‘ Jünger leidet daran, dass es auf die textuellen Prozeduren, die diesen ‚Platonismus‘ fundieren, nicht durchgreift und daher vor-analytisch bleibt. Vgl. nur Koslowski, Peter: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991, S. 11; Meyer: Ernst Jünger, S. 231 et passim; Boehm, Gotfried: „Fundamentale Optik“. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Hg. v. Günter Figal und Heimo Schwilk. Stuttgart 1995, S. 9–24, hier S. 21.

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In Jüngers letztem Essay, der 1990 erschienenen Schere, heißt es: „Erst durch Akzeptanz […], durch Einlassung, werden die Weichen gestellt. Dem ging eine Zumutung voraus: ein Andrang oder Anklopfen aus dem Möglichen […].“49 Signifikant ist nicht der ‚propositionale‘ Gehalt der Aussage. So weit er sich reformulieren lässt, handelt es sich um die (auf Jüngers Gesamtwerk besehen wiederholte) Ahnung einer epochalen Transformation, in der eine Art Berührung mit der Transzendenz stattfindet. Wichtiger ist die ‚kadenzierende‘ Periode, die jedem Jünger-Leser überaus vertraut ist und die grundsätzlich zweiteilig strukturiert ist:50 Einem konstativen Satz nach dem Muster ‚Etwas ist / etwas wird‘ folgt ein Satz mit im weitesten Sinne kausaler Funktion, der ein logisch aber vorausliegendes Geschehen – ‚Dem gehen […] voraus‘ – in die Position eines Vor-Zeichens versetzt. Zur ‚seherischen‘ Suggestivität dieser Struktur gehört es, dass sie einer intransitiven Logik folgt, d. h. ohne ein grammatisches Korrelat auskommt und den Eindruck vermittelt, sie konstatiere lediglich Entwicklungen, die sich selbst bewegen. 1951, vier Jahrzehnte vor der Schere, heißt es im Waldgang-Essay: „Es ist uns […] nicht gegeben, in der Imagination zu weilen, obwohl sie den Aktionen die Grundkraft gibt. Dem Machtkampf geht Bilderabgleichung und Bildersturz voraus“.51 Periodische Fügungen dieser Art sind nicht primär von Bedeutung, weil sie den wohlbekannten Jüngerschen ‚Ton‘ tragen. Signifikant sind sie, weil sie sich in ihrer Rekurrenz wie ein Passepartout über Jüngers Gesamtwerk breiten und insbesondere im Falle der Essayistik – auf Einzeltextebene besehen – eine Art Mikrorhythmik, auf das essayistische Gesamtwerk bezogen eine großrhythmische Struktur ausbilden. Ähnliches wäre für Jüngers Erzählwerk zu konstatieren, in dem Erzählen, Reflexion und Maxime fortwährend alternieren.52 Auch dieses Verfahren ist seiner semantischen Füllung gegenüber primär; „Rhythmus und Melos“, konstatiert Jünger 1984 in Autor und Autorschaft, „können so bezaubern, daß ihr Inhalt zurücktritt“.53 Mögli49 50 51 52

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Jünger, Ernst: „Die Schere“ (1990). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 435–605, hier S. 551. Vgl. zur traditionellen Periodenlehre Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von: Griechische Verskunst. Berlin 31975, S. 47. Jünger, Ernst: „Der Waldgang“ (1951). In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374, hier S. 314. Besonders ausgeprägt wohl in Eumeswil, wo Maxime und Sentenz das Erzählen immer wieder aussetzen, so dass der Text geradezu von zwei alternierenden Text-‚Zuständen‘ her begriffen werden kann. Vgl. nur Jünger, Ernst: „Eumeswil“ (1977). In: Sämtliche Werke. Bd. 17. Erzählende Schriften III. Eumeswil. Stuttgart 1980, S. 46 („Je schneller einer sich bewegen kann, desto sorgfältiger ist er zu beobachten“), und ebd., S. 70 („die Narrheit vererbt sich, wir setzen nur eine neue Kappe auf“). Wie der (in der Rhetorik eng geknüpfte) Zusammenhang von Periode und Sentenz bei Jünger beschaffen ist, wäre zu prüfen. Vgl. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch/Deutsch. Hg. und übersetzt v. Theodor Nüßlein. München, Zürich 1994, S. IV, S. 19, S. 27. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (1984). Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 58.

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cherweise kennt Jünger auch deswegen kein Spätwerk, weil es sich letztlich um einen unaufhörlichen Text handelt, der seinen großrhythmischen Puls über Einzeltexte und Werkphasen hinweg bewahrt – was auch bedeutet, dass Textanfänge lediglich Einschwingungszonen für diese Großrhythmik darstellen.54 Auch Jüngers Neigung, seine zeitdiagnostischen Aussagen so zu ambiguisieren, dass sie vordergründig eine aktive Gestaltung der Zeitverhältnisse nahe legen, sich faktisch aber nur einem numinos ‚eintretenden‘ Geschehen überlassen, gehört zu den großen Kontinuitäten seines Werks. „Maßnahmen dieser Art“, heißt es 1934, „wirken natürlich auf den menschlichen Bestand, oder besser gesagt, sie sind Andeutungen, daß dieser Bestand sich zu verändern beginnt.“55 1960 heißt es im Weltstaat: „Sie [die Weltstaaten, I.S.] sind bereits von Bahnungen und Anlagen durchsetzt, die über die Isolierung hinweg und durch sie hindurch gehen. Wer das erkannt hat, gewinnt inmitten der Bewegung einen Standort, von dem aus sich beurteilen läßt, welche politischen Mittel, Formen, Verfassungen ihrem Schub konform sind […], und welche nicht“.56 Jüngers gesamte Diagnostik lebt von dieser Oszillation zwischen einer aktivisch-eingreifenden und einer passivisch-empfangenden Aussagegrammatik: Auch in dieser Hinsicht sind sich einzelne Werkphasen ähnlicher, als es ihre vordergründig unvereinbaren semantischen Distinktionen suggerieren.57

4. Die zweite Antwort, die auf die Frage nach Jüngers Spätwerk zu geben wäre, lautet: Jüngers Werk ist von Beginn an ein Spätwerk. Tatsächlich nämlich gibt es in Jüngers Werk eine durchgehende Reflexion auf etwas, was ihm imaginär vorausliegt und was es fortwährend wieder einholen möchte: einen anfänglichen, noch ungeschiedenen Sinn, von dessen Verlust Jüngers gesamtes Schreiben seinen Ausgang nimmt und in dessen vergeblicher Wiedererlan54

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Die Suggestivität von Rhythmus und Kadenz ist schon 1955 von Hans Egon Holthusen vermerkt worden: „Die Sprache dieses Autors, die Schlüssigkeit seines herrisch verknappten Stils, die apodiktische Führung seiner klaren, festen Sätze, die fast immer mit einer streng rhythmisierten Kadenz und einer schwer betonten Silbe, oft mit einem Einsilber, schließen, hat etwas unbedingt Zwingendes […].“ Holthusen, Hans Egon: „Ernst Jünger und das deutsche Verhängnis“ (1955). In: Ders.: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur. München 1964, S. 101–107, hier S. 107. Jünger, Ernst: „Über den Schmerz“ (1934). In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 143–191, hier S. 164. Jünger: Der Weltstaat, S. 499. Es handelt sich an dieser Stelle selbstverständlich um Generalisierungen, die einzelne werkgeschichtliche Zäsuren übersehen müssen. Allerdings geht es hier allein um die (auffallend stabilen) formativen Strukturen, mit denen Jüngers Werk Bedeutungen erzeugt und artikuliert, nicht um die Zäsuren seiner Semantik selbst. Vgl. zur Frage von Kontinuität und Diskontinuität in Jüngers Schreiben die Einleitung der Herausgeber in diesem Band.

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gung Jüngers Werk eine fortwährende Verfehlung darstellt. Darin besitzt Jüngers Werk eine Art traumatische Abkunft, weil es diese anfängliche Präsenz unaufhörlich wiedereinzuholen sucht und doch nur fern halten kann. „Je mehr man daran teilnimmt“, heißt es 1982, „desto weiter entfernt man sich vom Sinn“.58 „[…] das Heil“, mutmaßt Jünger 1984 in Autor und Autorschaft über „den Charakter von Endwerken“, liegt „nicht im Gelingen, sondern im Bemühen. […] Endlich kommt es nicht mehr darauf an, ein neues Werk zu schaffen, sondern auf letzte Annäherung.“59 Bezeichnenderweise ist das wenige, was Jüngers Texte an expliziter poetologischer Reflexion preisgeben, auf diese Dialektik von Fülle und Entzug, von Präsenz und Schwund bezogen. 1961 hat Jünger einen erratischen Text publiziert, der – zunächst unter dem französischen Titel Sertissages, 1963 in einem deutschsprachigen Erstdruck mit dem Titel Fassungen erschienen – nicht nur das eigene Werk, sondern das gesamte Geschehen der Dichtung als Geschehen einer ‚Annäherung‘ fasst. Schon die ersten Worte des abendländischen Mythos sind Fülle und Leere, Anwesenheit und Entzug zugleich; kaum geoffenbart, ist das Wort – „Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein, o gewaltiger Zeus Du!“60 – verstrickt in den Wunsch, seines Sinns habhaft zu werden. Bereits am Anfang, steht eine Heimsuchung des Sinns durch seine Interpretationen und ‚Fassungen‘, die ihn umstellen und doch nur näherungsweise wiedergewinnen. „Es ist möglich“, so Jünger, daß alle recht haben. Wahrscheinlicher ist, daß alle im Unrecht sind. Sie vergleichen die Fassungen. […] Unermüdlich versucht der Geist die Eins und das Eine zu fassen, und unermüdlich verwirft er die Fassungen. […] er dient, indem er die Bilder errichtet, und er dient, indem er sie stürzt.61

Jüngers Texte bilden immer andere Konfigurationen der Bezüglichkeit von Fülle und Verlust, und entsprechend muss man Jüngers poetologische Konzepte – neben die „Fassung“ treten Begriffe wie „Annäherung“, „Weißung“ oder das „Ungesonderte“ – als Begriffsgesten verstehen, die allesamt darauf zielen, das eigene Schreiben in einem doppelten Sinne zu einem sekundären und nachträglichen zu machen. Sekundär ist Jüngers Werk zunächst in einem ontologischen Sinn: Gegenüber der primären Sinnfülle ist der eigene Text nur ein schwacher Reflex, eine defiziente ‚Aussparung‘, die gerade in den Lücken und Brüchen der Textur signifikant ist: „Das Wort“, so hatte Jünger 1965 spekuliert, „kann das schweigende Sein, dem es entstammt, nie wirklich erfassen. […] Daher auch die Sorge, daß es nicht genüge – Fassungen umkreisen das Unfaßbare und können es nur aussparen“.62 Jüngers bekannte 58 59 60 61 62

Jünger: Siebzig verweht III (1993), S. 119. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 116 und S. 160. Jünger, Ernst: „Fassungen. Zur Offenbarung Johannis“ (1963). In: Sämtliche Werke. Bd. 13. Essays VII. Fassungen II. Stuttgart 1981, S. 33–47, hier S. 35. Ebd., S. 35 und S. 42. Zit. nach Böhme, Ulrich: Fassungen bei Ernst Jünger. Meisenheim am Glan 1972, S. 6.

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Fassungsmanie63 geht daher auch nicht in einer redaktionellen Intention auf. Vielmehr zielt sie auf eine Pluralisierung von Annäherungsmöglichkeiten, die immerfort revidiert werden, weil sie nur vorläufigen Charakter besitzen und daher noch ihre Materialisierung in Schrift und Text in Mitleidenschaft ziehen. Sie sind, darin ist Jünger ein ferner Erbe der Goethezeit, bloße materiale Veräußerlichungen einer ersten, aber sich entziehenden Innerlichkeit: „Wir müssen von der vollkommenen Vergänglichkeit des Werkes ausgehen. ‚Bleiben‘ kann nur der innere Vorgang; er ist mit der Schöpfung verbunden und unvergänglich in ihr“.64 Sekundär ist Jüngers Werk aber auch hinsichtlich seines immanenten Zeitbezugs. Im Blick auf die Unerreichbarkeit jenes, wie es 1984 in Autor und Autorschaft heißt, „ursprünglichen Reichtums“65 ist Jüngers Werk ein ewiges Spätwerk, weil es nicht nur aus einer unhintergehbaren Nachträglichkeit zu denken ist, sondern weil es sich selbst als äußersten, letzten Punkt dieser Ursprungsverfehlung wähnt. Wenn alle Dichtung nur ‚Fassung‘ ist, ist Jüngers Werk ihr letzter, entferntester, ‚spätester‘ Punkt. Wie in zwei gegenläufigen Zeitbewegungen vollzieht jeder weitere Text, jede weitere ‚Fassung’, nach der einen Seite hin eine ‚Annäherung‘ an diesen Ursprung, und doch entfernen sich diese ‚Annäherungen‘ nach der anderen Seite immer weiter von ihrer imaginären Herkunft. In diesem sich fortwährend von seiner anfänglichen Fülle distanzierenden Werkgeschehen ist der Ursprung nur mehr ein Relikt bzw. eine textuell bewerkstelligte Erinnerung. Darin ist Jüngers Werk eine unausgesetzte Anamnesis.66 Jünger hat diese Doppelbewegung von Annäherung und Entfernung noch der inneren Struktur seinen beiden Werkausgaben anvertraut. Beide Ausgaben schließen mit eigens verfassten Nachworten; die erste, auf zehn 63

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Vgl. ebd., S. 3, und für den besonders aufschlussreichen Fall der insgesamt sieben StahlgewitterFassungen (1920, 1922, 1924, 1934, 1935, 1961, 1978) Kunicki, Wojciech: Projektionen des Geschichtlichen. Ernst Jüngers Arbeit an den Fassungen von „In Stahlgewittern“. Frankfurt a.M. u. a. 1993. Zu diesem redaktionellen Fassungsbegriff und seinen bezüglich der Stahlgewitter konträren Deutungen (‚Finalitätsthese‘ vs. ‚Opportunitätsthese’) vgl. Martus: Jünger, S. 20f., sowie den „generischen“ Ansatz von Knebel, Hermann: „‚Fassungen’: Zu Überlieferungsgeschichte und Werkgenese von Ernst Jüngers ‚Stahlgewittern’“. In: Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770–1930). Hg. v. Harro Segeberg. Tübingen 1991, S. 379–408, hier S. 380. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 68. Dem entspricht eine Aufwertung der ursprünglichen Schriftbewegung gegenüber dem gedruckten und redigierten Werk: „Soeben setzten wir den Schlußpunkt hinter den letzten Band der Zweiten Gesamtausgabe […]. Bei aller Erleichterung frage ich mich, wozu dieses Feilen und Streben nach Perfektion dienen mag. […] Letzthin muß man sich mit dem Unvollkommenen abfinden. Es ist vergänglich, doch der Augenblick zählt. Ihn holt keine Unendlichkeit wieder ein. Wenn die Feder glühte, ist mehr geschehen, als daß sie das Papier schwärzte.“ Jünger: Siebzig verweht III (1993), S. 306f. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 167. Vgl. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 187 („Das Leben ist auf ein Wiederfinden ausgerichtet – das weist auf einen Verlust hin, der in der Zeit nur flüchtig […] gemildert werden kann“) und die wichtige Beobachtung von Boehm: Optik, S. 9 und S. 14.

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Bände bemessene aus den Jahren 1960 bis 1965, mit einem umfänglichen Text unter dem Titel Auf eigenen Spuren; die zweite, zwischen 1978 und 1983 erschienene, mit einer kurzen Nachbemerkung unter dem Titel Post festum.67 Darin sind die Werkausgaben und ihre Nachworte einerseits als das zu nehmen, was sie in der Intention des Autors und seiner zweiten Frau Liselotte, der früheren Mitarbeiterin des Schiller-Nationalmuseums, (auch) sind: Dokumente des Eintritts eines Klassikers der Moderne in seine Klassizität, d. h. in den Rang eines Autors, der sein Werk als Ganzes überschaut, zur Anordnung bringt und ihm eine definitive Gestalt gibt; schon in den 1930er und -40er Jahren hat Jünger sein Werk „als Ganzes“ und als „geschlossenes Opus“ betrachtet wissen wollen.68 In diesem Sinne ist Jüngers Werk keine ‚Annäherung‘ und keine ‚Fassung‘, sondern Stillstellung der Einzelwerke in einer Konfiguration, die ihre Überlieferung bestimmt, und hier rückt Jünger Goethes Vorstellung des „sich selbst historisch werdens“ auffallend nahe, weil sich Jünger auf das Erarbeitete zurückwendet und es (letztmalig) revidiert, um ihm damit eine auch posthum verbindliche, nachgerade ‚skulpturale‘ Gestalt zu geben. Es ist keine Beliebigkeit, dass Jünger 1995, im Jahr seines 100. Geburtstags, seinen Vorlass zur Übernahme in die Literaturbestände des Schiller-Nationalmuseums bestimmt hat; auch dies eine Geste, aus der die Sorge um die eigene Nach-Geschichte zu Lebzeiten spricht. Auf der anderen Seite ist die Werkgestalt der beiden Werkausgaben eine bloße editorische Konvention. Werke bleiben, wie das Nachwort zur zweiten Werkausgabe erneut formuliert, immer nur „Anklänge“69, Namen des Wunsches nach anfänglicher Fülle und ihrer Unterlassung zugleich. „Verlokkend“, so vermerkt Jünger 1965 über den Abschluss der ersten Werkausgabe, war […] die Aussicht, einen vorläufigen Abschluß zu gewinnen, auch wenn Zufriedenheit nicht erreicht würde. Jedes letzte Wort ist ein vorletztes, ist nicht mehr als ein Anklopfen in der Hoffnung, daß sich einmal die Tür öffne. Es bleibt […] beim Entwurf, bei der Annäherung, bei der Einkreisung des Absoluten durch mehr oder minder gelungene Gleichnisse.70 67

68

69 70

Vgl. Jünger, Ernst: „Auf eigenen Spuren. Anlässlich der ersten Gesamtausgabe“ (1965). In: Sämtliche Werke. Bd. 18. Erzählende Schriften IV. Die Zwille. Stuttgart 1983, S. 465–479; „Post festum. Danksagung bei der Feier meines 80. Geburtstags zugleich Nachwort zur zweiten Gesamtausgabe“ (1983). In: Ebd., S. 481–491. Vgl. die entsprechenden Selbstaussagen bei Schwilk: Jünger, S. 443 und Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Hg. v. Heimo Schwilk. Stuttgart 1988, S. 148. Auch die Orientierung an einer wiederholt zitierten Maxime Pascals – „Jeder Autor hat einen Sinn, in welchem alle entgegensetzten Stellen sich vertragen, oder er hat überhaupt gar keinen Sinn“ (Jünger, Ernst: „Vorwort zu ‚Blätter und Steine‘“ (1934). In: Sämtliche Werke. Bd. 14. Essays VIII. Ad Hoc. Stuttgart 1978, S. 159–164, hier S. 164) – ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Jünger: Post festum, S. 485. Jünger: Auf eigenen Spuren, S. 477.

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Jüngers zwei Werkausgaben folgen damit einer inneren einer Bezüglichkeit, die jedes Einzelwerk, das in den Werkausgaben zur Anordnung gekommen ist, dazu zwingt, im Licht der Nachworte gelesen zu werden. So werden die Werkausgaben von einem imaginären Pendelschlag bewegt, der das Einzelwerk unaufhörlich an die Fassungspoetik der Nachworte heranführt und es ebenso unaufhörlich wieder an seinen Ort im Werkzusammenhang und damit in sich selbst zurückgleiten lässt. Im Licht der Nachworte erscheint jedes Einzelwerk als bloße ‚Annäherung‘ und ‚Fassung‘, wie das Gesamtwerk die Einheit dieser Annäherungsintention repräsentiert, ohne dass das Geschehen dieser Annäherung je an ein Ende gelangen würde. Dass Jünger im August 1984 die Möglichkeit einer „dritten Gesamtausgabe“71 erwogen hat, ist nur folgerichtig: Auch sie wäre bloße ‚Fassung‘, bloße ‚Annäherung‘ gewesen. Unter den genannten Begriffsgesten ist schließlich die ‚Weißung‘ von besonderem Interesse. An ihr wird im Gegensatz zur ‚Annäherung‘ oder zur ‚Fassung‘ eine nachgerade supplementäre Energie sichtbar. „Was kehrt“, hatte Jünger 1978 mit Anspielung auf den Vielsinn der Annäherungen gefragt, wieder bei solchem Übergang? […] Es kehrt überhaupt nichts Sicht- und Nennbares wieder – […] – denn es kehrt wieder das Nichts. Das heißt also: nicht Bilder und Konzeptionen, sondern das leere Konzept, die absolute Unbefangenheit. Für einen Augenblick öffnet sich lautlos die Tür. Nun erscheint alles möglich […]. Die großen Säuberungen tragen dazu bei, die Weißungen.72

Offenkundig ist die Weißung eine zweiteilige Bewegung. Zum einen ist sie als Tilgung, als Abtragung der Zeichen und des Sinns zu verstehen; insofern schafft sie eine Potenzialität für erneute Präsenz, die sich in die geschaffene Leere einträgt. Darin besitzt die Weißung freilich keine eigene Substanz, sie ist – ähnlich wie die ‚Annäherung‘ oder die ‚Fassung‘ – eine reine Funktion, d. h. Stellvertretung und Tätigkeit des Verweisens auf eine (noch) nicht-anwesende Präsenz.73 Zum anderen aber besitzt sie die Neigung, sich an die Stelle dessen zu setzen, was sie stellvertretend und vorläufig bezeichnet. Wenn sich, wie Jünger nahe legt, für „einen Augenblick […] lautlos die Tür [öffnet]“, vollzieht die Weißung mehr als eine bloße Repräsentation. Nicht nur schafft sie ‚Leere‘ für eine neue, wieder zu gewinnende Präsenz, und nicht nur verweist sie stellvertretend auf sie, letztlich setzt sie sich selbst an ihre Stelle und verwandelt das Repräsentierende in die repräsentierte Präsenz. Spätwerk ist Jüngers Werk auch deswegen, weil es davon träumt, doch noch einmal, in ei71 72 73

Jünger: Siebzig verweht IV (1995), S. 409. Jünger, Ernst: „Annäherungen. Drogen und Rausch“ (1970). In: Sämtliche Werke. Bd. 11. Essays V. Annäherungen. Stuttgart 1978, S. 322f. Vgl. die ähnlich gelagerte Beobachtung bei Pickerodt, Gerhart: „Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 339–347, hier S. 340.

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nem letzten, flüchtigen Akt – von „letzter Annäherung“74 ist in Autor und Autorschaft ausdrücklich die Rede – jener „ursprüngliche Reichtum“75 sein zu können, von dessen Abwesenheit es ansonsten zeugt. „Ein Zipfel des Gewandes“, so Jünger, „bleibt in unserer Hand.“76

5. Das Gesagte zielt nicht darauf, Jüngers Werk zu einem Schauplatz dekonstruktivistischer Textfiguren und damit zu einem Drama unablässiger Selbsthintertreibungen zu erklären. Wenn überhaupt, wäre die Frage zu stellen, ob Jüngers Spätwerk-Poetologie nicht Sinn- und Schrifterfahrungen artikuliert, die auch für die Dekonstruktion konstitutiv sind, so dass einmal mehr deren tief verankerte Literarizität sichtbar werden würde. Mehr als diese mögliche Affinität aber soll hier nicht behauptet werden.77 Wichtiger ist es, das Verhältnis der beiden Werkkonzeptionen in den Blick zu nehmen, zumal sie zwei gegenläufige Antworten auf die Frage nach Jüngers Spätwerk gegeben haben. Man muss zur Klärung dieses vordergründig widersprüchlichen Verhältnisses allerdings einen letzten Abstraktionsschritt vollziehen und beide Werkkonzepte auf die Sinnkonfigurationen hin lesen, die sich in ihnen verbergen. Dann könnte deutlich werden, dass Jüngers Werk eigentlich nur zwei sinnhafte Grundkonfigurationen kennt, die auf das Engste mit der ästhetischen Moderne zusammenhängen und die sich insofern komplementär zueinander verhalten. Die eine der beiden Konfigurationen – gemeint ist die zuletzt beschriebene – erweist sich bei genauerem Hinsehen als Reproduktion jenes sentimentalischen Grundnarrativs, das die Moderne von Beginn an begleitet. Diese Moderne berichtet unablässig von Verlust und Beschädigung, von Entzug und Mangel – in Jüngers Begriffen – von „Schwund“78 und „Minderung“79 eines ehemals „Ungesonderten“.80 Was am Anfang ungeschiedener Reichtum und Bedeutungsfülle war, hat die Moderne – „Erbteil des verlorenen Gartens“,81 wie es in den Fassungen heißt – beschädigt. „Vollkommenes“, so lautet die entsprechende Maxime in den „Nachträgen“ zu Autor und Autorschaft, „kann

74 75 76 77 78 79 80 81

Jünger: Autor und Autorschaft, S. 160. Ebd., S. 167. Jünger: Fassungen. Zur Offenbarung Johannis, S. 39. Vgl. demgegenüber die sehr weit dimensionierten – von Heidegger über Bataille und Lacan bis zur Dekonstruktion reichenden – Verbindungslinien bei Martus: Jünger, S. 236f. Jünger, Ernst: „Typus, Name, Gestalt“ (1963). In: Sämtliche Werke. Bd. 13. Essays VII. Fassungen II. Stuttgart 1981, S. 83–173, hier S. 111, S. 125, S. 135f., S. 156. Ebd., S. 140. Ebd., S. 91, S. 98, S. 109, S. 119. Jünger: Fassungen. Zur Offenbarung Johannis, S. 43.

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innerhalb der Zeit nicht erreicht werden“.82 Jüngers poetologische Gesten der ‚Annäherung‘, der ‚Weißung‘ und der ‚Fassung‘ sind nichts anderes, als die in die Sprache des Numinosen gekleideten Begriffe für diese Elegie des Verlusts.83 – Was die zweite elementare Sinnkonfiguration anbelangt, so hat man es auch hier mit einer Figur des Entzugs zu tun, allerdings in einer anderen Weise. Wenn es zutrifft, dass Jüngers diagnostisches Material gegenüber den Prozeduren, die dieses Material erzeugen, sekundär ist, und wenn es zutrifft, dass die Gleichförmigkeit dieser produzierenden ‚Grammatik‘ aus disparaten Zeichen und bedeutender Tiefe das diagnostische Material strukturell verähnlicht, dann ist auch hier nur eine sinnhafte Grundkonfiguration erfüllt: die einer diskreten Durchkreuzung von Bedeutungen durch das Maß ihrer Verähnlichung. Man mag auch das dekonstruktiv nennen; entscheidend ist es, dass sich die vordergründig so konzeptstarken Diagnosen und ‚Lagebeurteilungen‘ von der Totalen Mobilmachung der späten 1920er Jahre bis zur Ahnung des Titanen-Zeitalters in den 1990er Jahren84 allesamt ähneln – was auch bedeutet, die so beliebte Frage nach Jüngers ‚Wandlung‘ methodisch einmal anders (möglicherweise: überhaupt erst einmal methodisch) zu stellen.85 In der Diachronie der Einzelwerke betreibt Jüngers Werk jedenfalls subkutan eine fortwährende Verschiebung seiner Bedeutungen in eine paradigmatische Latenz: Weil sich seine Bedeutungen irgendwie ähneln, sind sie nicht eigentlich bedeutungsstark. Möglicherweise ist darum nicht weniges von dem, was das Jüngersche Werk in der nunmehr 60jährigen intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik an Erregungen und Erbitterun82

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84

85

Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft. Nachträge“ (1999). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 267–420, hier S. 271.Vgl. auch ebd., S. 317: „Wir kommen über die erste Teilung physisch, geistig, moralisch nicht hinweg. Der Verlust ist nicht wieder gut zu machen; die Erbsünde gibt nur eine der Erklärungen.“ Das Deutungsmuster erklärt auch Jüngers ab 1960 wachsendes ökologisches bzw. technikkritisches Bewusstsein. Vor allem die beiden Sardinienreisen Mitte der 1950er Jahre werden als (letztlich scheiternde) Suche nach naturhaften Residuen inszeniert, deren vitale Fülle und Vielfalt noch nicht vom ‚großen Prozess‘ aufgezehrt worden sind. Vgl. Jünger, Ernst: „Am Sarazenenturm“ (1954). In: Sämtliche Werke. Bd. 6. Tagebücher IV. Reisetagebücher. Stuttgart 1982, S. 219–323 und Jünger, Ernst: „Serpentara“ (1955). In: Ebd., S. 363–385. Vgl. zu dieser letzten Jüngerschen ‚Lageburteilung‘ Jünger, Ernst: „Gestaltwandel. Eine Prognose auf das 21. Jahrhundert“ (1993). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 607–621. Insofern als die Frage stärker als bisher von der Verfahrensdimension der Texte her reflektiert werden müsste. Sie reicht entschieden weiter, als die in diesem Zusammenhang übliche Exegese von Jüngers Anschauungen und Überzeugungen. Vgl. für die weitgehend bekannten Positionen in diesem Deutungsstreit Prümm, Karl: „Vom Nationalisten zum Abendländer. Zur politischen Entwicklung Ernst Jüngers“. In: Basis 6 (1976), S. 7–29, hier S. 28; Arnold, Heinz Ludwig: „Wandlung und Wiederkehr“. In: Wandlung und Wiederkehr. Festschrift zum 70. Geburtstag Ernst Jüngers. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Aachen 1965. S. 7–22, hier S. 17, sowie kritisch Kaempfer, Wolfgang: Ernst Jünger. Stuttgart 1981, S. 7, und, mit weit reichenden Folgerungen die unterirdische Selbstverständigung der deutschen Rechten betreffend, Seferens, Horst: „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 10.

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gen, an Apologie und Kritik erzeugt hat, ein diskretes Missverständnis. Jünger selbst hat davon freilich nur profitiert. Zuletzt aber wäre die Frage zu stellen, ob Jüngers ‚Fassungs‘-Poetik nicht noch in einer anderen Hinsicht dem Zauber seiner Privatsprache bzw. der Individualmythologie eines mythologiebewussten Autors entrissen werden kann. Schon in ihrem sentimentalischen Grundgestus ist sie mehr und anderes, als ein privatsprachliches Phänomen. Was sie darüber hinaus sein könnte, wird sichtbar, wenn man sie versuchsweise als Beitrag zu einer ‚Theorie‘ des Spätwerks liest. Spätwerke, so hatte Adorno, einer Ästhetik des Ausdrucks verpflichtet, argumentiert, sind die Werke, aus denen sich die Subjektivität zurückgezogen hat, um sie als unbewältigte, ungestaltete, von keinem Ausdruck mehr durchdrungene Formgebilde zurückzulassen. An ihnen wird sichtbar, was die Subjektivität nicht mehr leisten kann: die Durcharbeitung aller Gestaltmomente zur Form. Darin sind Spätwerke – „Denkmale eines Gewesenen“86 – Dokumente nicht stattgehabter Durcharbeitung, Zeugen eines Verlassenseins von einer formalen Arbeit, die, wo sie ausbleibt, „ausdruckslos den Schein der Kunst“87 abwirft. Auch Jüngers späte ‚Fassungs‘-Poetik zielt auf eine Unterlassung, allerdings nicht auf eine der Durcharbeitung. Anders als bei Adorno wird zwischen der Durcharbeitung des Werks und ihrem Ausbleiben nicht die Schwelle zum Spätwerk überschritten, sondern das Spätwerk ist der Zusammenhang von Durcharbeitung und Entzug: Weil jeder Text nur die Annäherung an den Reichtum einer uranfänglichen Fülle vollzieht, ist jede Formwerdung nichts, was das Ziel dieser Durcharbeitung – die anfängliche Präsenz – in das Werk holte, sondern was es gerade fortwährend verfehlt. Darin sind Jüngers Werkkonstellationen nicht mit Adornos spröde gewordenen Hohlformen oder den ruhenden Krypten realistischer Spätwerke88 identisch. Im Gegenteil: Jüngers Spätwerk-Poetik der ‚Fassungen‘ ist der Name für das unablässige Umkreisen desselben, leer gewordenen Zentrums. Wäre der Begriff Jüngers Sprache nicht vollkommen fremd, ließe sich von der Autopoiesis der Texte, der Selbstfortsetzung eines Werkgeschehens sprechen, das in seiner Selbstverfehlung gerade seine Reproduktivität verantwortet. Auf eigenwillige Weise ist Jüngers Spätwerk die Zukunft eines unaufhörlichen und gerade darin produktiven Entzugs.

86 87 88

Adorno: Spätstil, S. 15. Ebd. Vgl. nochmals Simon: Gespenster, S. 205.

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Der Sand in den Uhren

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Der Sand in den Uhren Ernst Jüngers Poetik der fünfziger Jahre zwischen Naturgewalt und Zeitgenossenschaft 1. Ein Leben und Werk im Widerstreit Die Beschäftigung mit dem Werk Ernst Jüngers und seiner Stellung im geistigen Gefüge des 20. Jahrhunderts stößt immer wieder auf zwiespältige Befunde, auf Doppeldeutiges und Zweigestaltiges. Formelhaft und schematisch lassen sich bipolare Größen einander gegenüberstellen. Der Solitär und seine Sozietät. Das heroische Individuum und die Funktionalität der modernen Masse. Die Taten und Meinungen des Kriegsliteraten und die phantastischen Entwürfe des surrealen Ästheten. Das explosive Ereignis und die lange Dauer der Gestaltung. Oder einfach: Leben und Werk. In Jüngers Selbstverständnis als Autor und in der Geschichte seines Werkes sind diese antipodischen Elemente, wie insbesondere die Polarität von Gewalt und Gestalt, kaum voneinander zu trennen. „Es gibt eine innere Revolution der schöpferischen Kraft, einen Vulkanismus, der sich auf Völker und Reiche überträgt.“1 So Ernst Jünger in seinen späten Reflexionen über das eigene Werk, dessen poetische Grundlagen und zeitgeschichtliche Widerstände und über literarische Autorschaft im Allgemeinen. In den Selbstkommentierungen Jüngers, die sein Leben und Werk begleiten und in gewissen Schüben an Intensität und Frequenz zunehmen, so um 1930, dann wieder verstärkt in den fünfziger Jahren und erneut anfangs der achtziger Jahre, hat sich das ergiebige Material von Schwellenzeiten und Übergangsphasen aufgestaut, die für eine rekonstruierende Analyse der Poetik Jüngers auf komplexe und wechselseitige Abhängigkeiten von Text und Person schließen lassen. So zeigt sich schon in Jüngers zeitphilosophischen Studien der fünfziger Jahre eine doppelte Optik, die einerseits den Gestus der schroffen Abkehr vom zivilisatorischen Gehäuse überhaupt und die Drohgebärde apokalyptischer Untergangsszenarien bemüht, und doch andererseits damit durchaus teilhat an der Diskursgeschichte und literarischen Motivwelt der eigenen 1

Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (1984). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 49.

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Gegenwart. Wenn von Zeit und Geschichte die Rede ist, prominent im Sanduhrbuch und in dem Essay An der Zeitmauer, so arbeiten die Zahnräder gegeneinander gekehrt. Dergestalt treffen die gegensinnigen Tendenzen einer rückwärtsschreitenden Naturalisierung und eines progredierenden Zukunftsrausches in Jüngers Standortbestimmungen nicht nur konfliktiv aufeinander, sie wirken in gewisser Weise geradezu Hand in Hand. Jüngers vielfache, in immer neuen Anläufen vorgenommene Beschwörung kosmischer respektive tellurischer Elementarzeitlichkeit insistiert darauf, in genau diesem metahistorischen Lichte auch die eigene Werkstatt zu zeigen, als eine hephaistische Schmiede urtümlicher Schöpfungsgewalt, die nur zufällig Zeitund Raumgestalt des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts angenommen hat. Und doch ist Jünger bei alledem gerade kein Solitär, sondern in poetologischer wie intertextueller Hinsicht ein kommunizierendes Gefäß der Vibrationen von Mitwelt und Zeitgenossenschaft. Im Wesentlichen werden sich meine Überlegungen auf die Auswertung zweier Arbeiten Jüngers der fünfziger Jahre stützen, primär auf das Sanduhrbuch und ergänzend auf den großen, zweiteiligen Essay An der Zeitmauer. Ein Seitenblick auf die in kurzen Einzelnotaten festgehaltenen Reflexionen Ernst Jüngers zu Autor und Autorschaft aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren erlaubt es, die Linien der aus den früheren Standortbestimmungen gewonnenen Befunde weiterzuziehen und in ihrer Tragweite einzuschätzen. Der Ernst Jünger der fünfziger Jahre hat, wie jener der dreißiger oder der siebziger Jahre auch, eine Reihe von expliziten wie impliziten Stichwortgebern, Wegbegleitern und Antipoden, deren Positionen und Themen zu Jüngers eigenem Diskurs als kontrapunktisch mitlaufende Gegenstimmen mitzudenken sind. Hier jedenfalls soll der Versuch unternommen werden, eine solche kontrapunktische Mehrstimmigkeit für einen begrenzten Text- und Zeitraum herzustellen. Im Spannungsverhältnis von entgrenzender Gewalt und künstlerischer Gestalt, wie es Jüngers Arbeiten der fünfziger Jahre in ausgeprägter Weise in sich austragen, kommt, wie nicht anders zu erwarten, die verschobene und verdrängte Erschütterung des menschlichen Wertgefüges durch die Kriegsjahre und den Naziterror zur Wirkung. Mit gewisser Verzögerung folgen auf explizit politische Stellungnahmen, wie sie Jünger frühzeitig etwa mit dem Essay Der Friede leistet, die Nachbeben im Geschichtsbild und in der dichterischen Praxis. Weil aber die literarische Position Jüngers selber Akteur und nicht Medium der Zeitläufte zu sein glaubt, ist ihr ein völlig anderer Umgang mit dieser Hypothek eigen, als er in den Zeugnissen anderer Autoren der Zeit zutage tritt, sofern sie der ungeheuren Last der Mordtaten überhaupt Raum und Stimme geben. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre steht die deutsche Literatur in etwa gleich weit von den Zäsuren des Kriegsendes und der 68er-Bewegung entfernt. Der Geschäftsgang eines sich konsolidierenden westdeutschen Li-

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teraturbetriebs weist für diese Dekade eine beachtliche Fülle an folgenreichen Neuerscheinungen auf, und es etablieren sich Namen und Positionen, die für drei bis fünf Jahrzehnte bestimmend bleiben. Ansonsten aber sind, anders als etwa auf den gärenden Schauplätzen des Unbehagens in der DDR oder in Ungarn, im restaurativen Klima der bundesdeutschen Nachkriegsordnung und seiner Wirtschaftswunder-Selbstzufriedenheit kaum besondere Vorkommnisse zu verzeichnen. Adenauers vielzitierte Wahlparole „Keine Experimente“ aus dem Bundestagswahlkampf von 1957 dürfte den Nerv der öffentlichen Meinung ganz gut getroffen haben.2 Auf den Schreibtischen mancher Autoren allerdings finden weiterhin Erkundungen in die traumatischen Erinnerungsreste statt, oder Vorstöße in Zonen neuer Maßlosigkeit. Die Frage ist: Wie nahe, wie fern stehen Jüngers tiefengeschichtliche und mythopoetische Essays der fünfziger Jahre dem Geist oder vielmehr der öffentlichen Meinung dieser Zeit? Auch hier wird man von einer doppelten Optik seiner Autorschaft auszugehen haben, die sowohl eng an die Zeitläufte sich anschließt und dennoch zugleich deren schroffste Antithese zu bilden versucht.

2. An der Zeitmauer – und was dahinter bleibt „Was ist ein Verbrechen, ein Soldat, ein Angriffskrieg?“3 Jünger wirft diese Frage in dem Essay An der Zeitmauer auf, ohne dass klar wäre, worauf genau sie sich bezieht. Da es im Kontext dieser Passage um die Tradition und Aktualität mythischer Geschichtsdeutung geht, wirkt die gleichsam ungeschützte Konkretheit gerade dieser Begriffe prima vista einigermaßen überraschend. Im Fortgang macht Jünger dann definitorische Kautelen geltend, die das Fanal der syntagmatischen Verbindung von Krieg und Verbrechen nachträglich wieder dämpfen. Die Ansichten über die Bedeutung dieser Begriffe seien „babylonisch geteilt“, befindet Jünger, „nicht nur weil die Wörter porös, weil sie vieldeutig geworden“ seien. Und weiter: „In der Benennung künftiger Dinge liegt eine große Verantwortung. […] Die Namen sind nicht nur Begriffe für Bekanntes; sie haben beschwörende Kraft.“4 Erstaunlich, dass Jünger an dieser Stelle den Blick partout auf die Zukunft, und nur auf sie, zu richten scheint. Dass an den genannten Wörtern ihre sehr ernsten Bedeutungen nicht mehr verlässlich anzuhaften scheinen, könnte man damit erklären, dass auf deutschem Boden und für deutsche Sprecher die Sprache der Nazidiktatur (die lingua tertii imperii, wie Victor Klemperer sie genannt hat) sie 2 3 4

Bei den Wahlen zum Bundestag erlangte die CDU 1957 mit 50,2 % der Stimmen und 55 % der Mandate den bis heute höchsten Wahlsieg einer Partei in der Geschichte der Bundesrepublik. Jünger, Ernst: „An der Zeitmauer“ (1959). In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 397–645, hier S. 472. Ebd.

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durch entstellenden propagandistischen Gebrauch in ihr Gegenteil pervertiert hatte. Jüngers Nennung dieser Schlüsselbegriffe ist eine gezielte Provokation, die nach dem Prinzip der Impfung oder des Reizschutzes funktioniert; er traut sich, die schwersten Geschütze der alliierten Besatzungsmächte aufzufahren, und wendet ihre faktographische Bedeutung ins Ungewisse. Diese Denkfigur soll unterstreichen, was sich als eine Grundannahme des Essays An der Zeitmauer in verschiedensten Varianten durch die ansonsten recht heterogenen Anwendungsfelder der Überlegungen Jüngers wie Astronomie, Geschichtsphilosophie, Zukunft des Humanismus, Verhältnis von Gesellschaft und Technik hindurchzieht: die Annahme nämlich, es könnten „mythische Mächte in der Geschichtswelt nicht entbehrt werden“.5 Die „mythische Bildwelt ist gegenwärtig“, proklamiert Jünger, „und daher führen ihre Nichtachtung, ihre Verbannung zu wachsender Anstauung und endlich zu Dammbrüchen“.6 Die Götterferne und Verbannung mythischer Mächte ist demnach, sofern sich den Überlegungen Jüngers überhaupt eine durchgängige Argumentationslinie zuschreiben lässt, eines der wesentlichen Defizite der modernen, säkularen Gesellschaften und Staatsgebilde. Verdrängung des Mythos hat Anstauung seiner geleugneten Macht und letztlich deren ungezügelte Entladung zur Folge, so der unterstellte Mechanismus. Die Krisis der Wortbedeutungen, exemplifiziert an den Bezeichnungen Verbrechen, Soldat und Angriffskrieg, wird nicht ausdrücklich in diesen Zusammenhang eingebettet; doch gesellt Jünger den zeitgeschichtlich extrem kontaminierten Begriffen einen weiteren hinzu, der genau diese Vermittlungsfunktion zu haben scheint, denjenigen des Blutopfers. „Blut wurde als höchste Spende angesehen.“7 Der Autor verweist an dieser Stelle nicht auf die griechische Antike, sondern auf Hebräer 9,22: „Und es wird fast alles mit Blut gereinigt.“ Doch zur Erfassung solcher Zusammenhänge“, so Jünger weiter, „fehlen uns die Voraussetzungen. Zuweilen hat es den Anschein, als ob gerade der Untäter eine unheimliche Witterung für das sakralfähige Opfer besäße.“8 Im wissenden Bunde mit den Mächten der Schöpfung und Vernichtung zu sein, ist nicht so sehr dem Krieger möglich als vielmehr dem Mythenerzähler und Geschichtsbildner, der über die historiographische Konkretion und den einsinnigen Pfeil der sukzessiven Ereignischronik hinaus- oder vielleicht auch nur hinwegzublicken vermag. Dominant ist an vielen Stellen ein Gestus der Überbietung, der stets noch weiter ins Urgeschichtliche zurückstrebt und alle historischen Konkretionen als unzulängliche Veranschaulichungen abweist. „Das Geschehen trägt einen elementarischen, titanisch-tel5 6 7 8

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

470. 471. 472. 473.

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lurischen Zug […]. Dem entspricht die maßlose, prometheische Kühnheit der Mittel und Methoden, der Vulkanismus, das Feuer.“9 Die in dem mehrere hundert Seiten umfassenden Essay vielfach angerufene Macht des Feuers und der vulkanischen Eruptionen ist ein in Jüngers Werk weit zurückreichender Topos, der bereits in den Kriegsschriften der zwanziger und frühen dreißiger Jahre seine Auftritte hat, damals für die omnihistorische Elementarmacht des Krieges bürgend. An der bestechend einfachen Choreographie von Feuer und Bewegung beeindruckt die leichthändige Transposition von einem singulären historischen Kriegsgeschehen in eine überzeitliche Sphäre elementarer Mächte. Der in Jüngers Optik verallgemeinerte Antagonismus von Feuer und Bewegung erinnert an Hesiods kosmogonische Mythenerzählung vom Anfang der Welt und der aus dem Kampf der Urgewalten entspringenden Zeitlichkeit. Denn ebenso wie die Teilungen und Paarungen der Götter-Dynastie bei Hesiod bilden das Feuer und seine Hegung für Jünger einen Grundgegensatz, der selber nicht zur Geschichte gehört, sondern diese generiert, gewissermaßen als die in gewisser Schwankungsbreite liegende Ergebniskurve eines Zusammenspiels feindlicher Urgewalten. Heraklits Prinzip: polemos pater panthea, der Krieg als Vater aller Dinge, ist eine bei Jünger keineswegs auf die politisch-geschichtliche Ebene zu verkürzende ‚Erfahrung‘, sondern eine aus Empirie gar nicht ableitbare kosmogonische Erkenntnisformel, die auf das Werden und Fortwirken der Welt im Ganzen zielt. Wie lassen sich geschichtliche Erfahrungslage und transgeschichtliche Elementardynamik in Einklang bringen? Gewaltsame Umgestaltungen wie die in den Weltkriegen erfahrenen sind für Jünger geschichtliche Zonen erhöhten Interesses, da sie von den Wirkungsmächten der kosmogonischen Dimensionen künden. An der Schwelle des Jahresbeginns von 1957, dem Jahr also der allgemeinen Angst vor Experimenten, nimmt Jünger die Beschäftigung mit astrologischer Prognostik und mit den spekulativen Lehren von den natürlichen Zyklen der Zeitalter auf. Den Anlass für seherische Spekulationen bietet ihm das Auftreten des skandinavischen Seidenschwanzes. Dass man den bunten, auffälligen Vogel des hohen Nordens im besagten Winter „bei uns“, also in gemäßigten Breiten, „in Schwärmen“ beobachten konnte, gilt dem oberschwäbischen Beobachter als ein Wink des Himmels. „Wenn etwas Fremdes auftaucht und gar zahlreich, so kann das kein bloßer Zufall sein.“10 Scheinbar umstandslos knüpft Jünger an antike Haltungen und Wissensformen an, hier an das visionäre Sensorium der Mantik und der Vogelschau. Aktualitätsbezug schimmert aus ältesten Gewändern: Eine „überraschende Erfindung“, ein „wissenschaftlich-technisches No-

9 10

Ebd., S. 474. Ebd., S. 399.

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vum“11 kann für Jünger ähnlich epochale Signifikanz haben wie solche Himmelszeichen. Neue Eingriffstechniken in den menschlichen Körper wie die Bluttransfusion und die künstliche Befruchtung gelten ihm weniger als Indiz für den humanmedizinischen Fortschritt, denn als die Selbstoffenbarung von Naturgeheimnissen. Und zugleich als eine „Proteusarbeit“, deren „Tabubrüche“ Grauen auslösen;12 die alarmierten zeitgenössischen Diskussionen um „Transfusionen, Transplantationen, Transformationen“13 – Jünger nennt die Reizbegriffe in spürbarer Provokationslust – kann und muss man sich aus heutiger Sicht zu seinen damaligen Ausführungen als kontrastierenden Resonanzraum hinzudenken. Zu jener Zeit bündelte die von Günther Anders auf den Begriff gebrachte „Antiquiertheit des Menschen“ weitverbreitete Technikängste und verband sie mit einer linkshumanistischen Kritik am industriellen Utilitarismus. Der Metahistoriker Jünger verfolgt die Phänomene, so jedenfalls die im Text beanspruchte Attitüde, aus größerem Abstand und mit entsprechender Gelassenheit. Im Voranschreiten der wissenschaftlich-technischen Domestikation des Lebens sieht Jünger vergleichbare Kräfte am Werk wie in den Kriegen und Eruptionen von Naturgewalt. Sie sind Zeichen, weil in ihnen ein Fatum waltet. Zwischen der oberflächlichen Ordnung mechanischer Kausalitäten und sozial zutage liegenden Zwecken und den tiefenwirksamen Kräften und Gesetzmäßigkeiten mythischer Provenienz gilt es Verbindungen und Zusammenhänge aufzuweisen. Kriege und Revolutionen, Naturkatastrophen und Schöpfungs-Epiphanien sind die Zeitfenster vom geschichtlich-oberflächlichen in den elementaren kosmischen Raum, welcher die Tiefen der Erde und die Weiten des Himmels gleichermaßen umgreift. Die teils aleatorisch bunten Beispiele und Exkurse des Zeitmauer-Essays kommen überein darin, dass sie Material für solche Aufschlüsse zu bieten versprechen. Für den Autor als das Organ zwiegesichtiger Wirklichkeiten ergibt sich aus diesem Befund die Aufgabe, in seine Produktivität gerade jene Kräfte einzubeziehen, die er als die eigentlich wirksamen, Natur und Geschichte verklammernden erkennt. Nicht ablenken lassen dagegen darf sich der Autor von den gesellschaftlichen Anreizen und den Erwartungen des kulturellen Betriebs, da diese kurzsichtigen perspektivischen Verzerrungen unterliegen, was den Blick auf das Wesentliche krass verstellt. Gleichwohl würde es schwerfallen, dieses Wesentliche aus Jüngers Zeitmauer-Essay auf den Begriff zu bringen und als Botschaft zu fixieren. Denn es liegen, Jüngers Theoremen zufolge, die entscheidenden, der Natur und den Elementen entstammenden Triebkräfte des menschlichen Handelns hinter der Zeitmauer verborgen und hinter den Grenzen dessen, was kulturell oder gar rational in 11 12 13

Ebd., S. 595. Ebd., S. 593f. Ebd., S. 594.

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greifbare Gestalt zu bringen ist. Doch ist damit das Unbehagen an dieser Schrift noch nicht zur Gänze beschrieben. An etlichen Stellen sind Jüngers Ausführungen wiederum so grell und konkret, dass sie den Verdacht stimulieren, der beschworene Bereich des Numinosen fungiere schlechterdings als ein Deckbegriff für die Traumata der jüngstvergangenen Geschichte. Und wo könnte der gewitzte Stratege die geheimen Kassiber besser verstekken als an der Textoberfläche, in einer Wortreihe wie aus der Assoziationswerkstatt der écriture automatique: Soldat, Verbrechen, Angriffskrieg, Blutopfer?

3. Die Natur des Schreibens Die vielen Anläufe, Überarbeitungen und Neufassungen, die Jünger seinen literarischen und essayistischen Arbeiten über Jahre und Jahrzehnte hinweg angedeihen lässt, unterwandern den kontinuierlichen Werdegang des sorgfältig gestalteten Gesamtwerks mit der Gegenkraft einer permanenten Umwälzung des je schon Erreichten. Steffen Martus spricht in Bezug auf Jüngers Neigung zur unablässigen Fort- und Umschrift früherer Texte von einer „Poetik der ‚Fassungen‘“14 und vergleicht hierin Jüngers Schreibverfahren mit einem Strategem des entregelten, in möglichst kleine und bewegliche Stellungen verstreuten Kampfverhaltens im Kriege. Die Autorenrolle kennt – wie die des Krieges – fingierende Finten, überraschende Rochaden, Ausfälle an unvermuteter Stelle und stillschweigenden Rückzug zu gelegener Stunde. Ihre wichtigsten Tugenden sind Anarchie, Austerität und Autarkie: „Der gute Autor hat, wie der gute Feldherr, immer noch etwas in Reserve; er gibt sich nicht völlig aus, läßt sich nicht gänzlich ein mit der Zeit und ihren Mächten, nimmt auch nicht jeden Vorteil wahr und jede Belohnung an.“15 Überhaupt, so postuliert Jünger in seinen späten Notaten über Sprache und Stil, sei „das Selbstgespräch des Dichters“ nicht „auf Mitteilung gerichtet – man dürfte eher sagen, daß diese Absicht vor allem die Dichtung schwächt“.16 In den hunderte von Seiten umfassenden Bemerkungen zur Literatur und zur Haltung des Schriftstellers, die Jünger unter dem Titel Autor und Autorschaft sammelte, sind die Linien einer einzelgängerischen Dichterexistenz deutlich ausgezogen. Das „ideelle Zentrum“ der Notate, so wiederum Martus, lässt sich „an einer gegenpolitischen, gegensozialen und gegenökonomischen Bestimmung von Autorschaft festmachen“.17

14 15 16 17

Steffen Martus: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 235. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (1981). In: Sämtliche Werke. Bd. 13. Essays VII. Fassungen II. Stuttgart 1981, S. 389–519, hier S. 401. Ebd., S. 386. Martus: Jünger, S. 234.

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Jüngers Ausblendung der poetischen Mitteilungsfunktion, oder genauer: seine Ablehnung des kommunikativen Umfeldes der Literatur, ist ein Ausdruck fundamentaler Dissidenz. Viele Züge des zeitgenössischen Literaturbetriebs und seiner berufsständischen und gewerblichen Zielsetzungen treffen auf Jüngers scharfe Missbilligung. Obwohl selbst ein Polemiker von naturphilosophischer Provenienz, steht Jünger den sich in den fünfziger und sechziger Jahren merklich verstärkenden Tendenzen einer sozialen Politisierung der Literatur denkbar fern. Erst recht der gewerkschaftlichen Pointierung von Autoren-Interessen: genüsslich mokiert sich Jünger über eine Zeitungsmeldung, wonach „deutsche Schriftsteller den Status des ‚Arbeitnehmers‘“ anstrebten.18 Eine Erwartung, die Jünger weit von sich weist. Sein Grundsatz, dass geistige Leistung gratis und um der Ehre willen erbracht werde, ignoriert die Abhängigkeit des produktiven Gewerbes von ökonomischem Kapital und leugnet die Bedeutung des symbolischen Kapitals in der Bemessung literarischer Qualitäts- und Statusfragen. Von den späten Zeugnissen zur eigenen Autorschaft aus ist ein kurzer Blick zurück auf die frühen Sprachbetrachtungen Jüngers zu werfen, in welchen poetische Spielerei und anthropologische Wesensschau recht ungezügelt ihren experimentellen Hypothesen nachgehen. 1934 erschien in Blätter und Steine Jüngers Lob der Vokale, gut zehn Jahre später (aber was für Jahre!) legt Jünger eine kleine Studie über Sprache und Körperbau vor, eine auf Fortsetzung angelegte Arbeit zur „Sprachsymbolik“, die er im Jahr des Kriegsendes aufgenommen hatte. In der Beschäftigung mit dem sprachlichen und literarischen Wert der Vokale trifft Jünger eine weitreichende, wenngleich nur assoziativ kommentierte Unterscheidung zwischen Wortsprache und Lautsprache. Bei dieser Dualität scheint, wie später im Zeitmauer-Essay, der doppelte Boden geschichtlicher und mythisch-elementarer Wirkungsmächte eine Rolle zu spielen. Der Wortsprache zugehörig ist das Geflecht kulturell elaborierter verbalsymbolischer Verkehrsformen, während die Lautsprache ein naturales Residuum nichtarbiträrer expressiver Zeichen darstellt. Auf der kreatürlichen Lautsprache jederzeit fußend, betätigt sich die Wortsprache als oberste und stets fragile Schicht kommunikativer Hervorbringungen. Stärkste Triebkraft der kreatürlichen Lautsprache sind die Formen der Schmerzempfindung und der Drang, sie auszudrücken. Jeder bedeutende Schmerz […] drückt sich nicht mehr durch Worte, sondern durch Laute aus. Die Stätten der Geburt und des Todes sind von solchen Lauten erfüllt. Vielleicht haben wir sie in ihrer vollen Stärke zum ersten Male wieder im Kriege vernommen – auf den nächtlichen, von den Rufen der Verwundeten erfüllten Schlachtfeldern, auf den großen Verbandsplätzen und in der Erstarrung des jähen Todesschreies, dessen Bedeutung niemand verkennt.19 18 19

Jünger: „Autor und Autorschaft“ (1981), S. 399. Jünger, Ernst: „Lob der Vokale“. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 11–46, hier S. 22.

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Mit der extremen Gewaltwirkung auf Körper und Geist wird die Kriegsverwundung zum Katalysator des menschlichen Ausdruckswillens, der dann letztlich doch den Menschen anthropologisch als eine auf Ausdruck und Mitteilung angelegte und angewiesene Kreatur zu bestimmen nötigt. Doch sind diese Regungen tiefer und darum wahrer als jenes intentionale Wirkenwollen, das Jünger bei den Literaten später so vehement ablehnt. Gerade der Mangel an elaborierter Artikulation gibt den hervorgebrachten Lauten ihre Herzenstiefe und ihre universelle Verständlichkeit. Das Herz empfindet diese Laute anders als Worte; es wird gleichsam durch Wärme und Kälte unmittelbar berührt. Die Menschen werden sich hier sehr ähnlich; durch den großen Schmerz wird die Eigenart dessen, der ihn empfindet, zerstört. Ebenso werden die Besonderheiten der Stimme zerstört. Die Konsonanten werden verbrannt; die Laute des höchsten Schmerzes sind rein vokalischer Natur.20

Während bei schwindender Formungskraft der Artikulationsorgane oder bei abnehmendem Hörvermögen die sprachlichen Kommunikate zunächst deshalb an Verständlichkeit einbüßen, weil ihre distinktive Konsonantenstruktur nicht mehr voll ausgebildet zur Verfügung steht, kommt dem Bereich der Vokale ein resistenteres Eigenleben zu. Sie tönen weiter, auch wenn sie nicht mehr bezeichnen; sie gelten als tiefere Schicht der Sprachgestalt und zugleich als ihr lebendigster, gegenwärtigster Inhalt. An den Konsonanten haftet der propositionale Sprachgehalt, sie bürgen für das unverwechselbare Stimmprofil eines individuellen Sprechers. Mit dem Verlust distinkter Botschaften büßt die Lautgebung auch ihre persönliche Spezifik ein, in den elementaren „Ah“ und „Oh“, „Au“ und „Ei“-Interjektionen rücken nicht nur die Sprecher zu großer Klangähnlichkeit zusammen, sondern auch die Sprachen, die in ihrer Vielfalt an distinkter Kenntlichkeit verlieren. Die Dualität von Lautsprache und Wortsprache bildet sich demnach in der Heterogenität von vokalischen und konsonantischen Bestandteilen der Wortsprache nochmals ab. In der umgekehrten Richtung gesehen führen die Vokale als distinkte Bedeutungsträger der wortsprachlichen Zeichenketten gleichsam eine doppelte Existenz. Einerseits gehören sie zu den Konstituenten arbiträrer Zeichengebung auf der Ebene elaborierter verbaler Codes und Kommunikate, andererseits aber dringt in ihnen eine naturhafte Lautgebung unterhalb der konventionell etablierten Zeichenfunktion durch; sie sind also zugleich mimetische Zeichen einer Stimmungslage, einer Naturfarbe, eines akustisch-musikalischen Tones und seiner Schwingungen. Zwischen dem Laut und seiner kreatürlichen Bedeutung bestehen enge Bande. Wie der Krieg, so bietet auch die Kunst durch ihre Sprachhandhabung vielversprechende Fenster der Gelegenheit, um aus der Wortsprache der Gesellschaft hindurchzusteigen in die Lautsprache der Natur. „Bei allen wesentlichen Begegnungen zwischen Menschen horchen wir durch die Wort20

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bedeutung auf die reine Lautbedeutung hindurch.“21 Ihre höchste künstlerische Formgebung findet die Lautsprache im Gesang, gleichsam am gegenteiligen Ende stehen die urtümlichen Spiele des Kinderlallens und der Lautpoesie. In beiden Extremen wird die Bedeutung des konsonantischen Sinngefüges sehr weitgehend zurückgedrängt. So hat schon Homer das Singen der Sirenen vor Odysseus in Szene gesetzt, als einen Reigen der Vokale in ihrer von der Schriftlast konsonantischer Gefäße ungetrübten Sinnenpracht.22 Traumatische Störungen, infantile Sprachdefizite und musikalische Sprachästhetik kommen in dieser Hinsicht auf den nämlichen Effekt heraus. Wie erwähnt, sieht Jünger die Wiederkehr der Lautsprache auch im Zusammenhang mit Krieg und Gewalt. Der Zerstörung des Artikulationsganges und dem Verbrennen des Konsonantengerüsts glaubt er den Rang einer poetischen Tat abgewinnen zu können. Den grundsätzlichen Ausführungen Jüngers zum Verhältnis von Wortund Lautsprache schließen sich spekulative Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung einzelner deutscher Selbstlaute an. Fast feierlich hält er den Umstand fest, dass in deutschen U-Wörtern „der Sinn des Abgeschlossenen und Verborgenen enthalten ist“. So in „Urne, Grube, Gruft, Grund, Sund, Mulde, Muschel, Truhe, Krug, Turm, Burg“,23 und etliche weitere Beispiele folgen. Nehmen wir die Reihe nicht als eine Stichhaltigkeit beanspruchende linguistische Paradigmen-Bildung, sondern mehr wie ein Blumengebinde, von ordnender Hand geschickt arrangiert. Jünger erzeugt einen Evidenz-Effekt, indem er seine vermeintlichen Stichproben systematisch übersemantisiert. Metonymisch bilden die Anfangsglieder der Kette eine Reihe von Todesorten, metaphorisch erzeugen sie die Vorstellung des geschlossenen Behältnisses. Das U ist der Laut der Gräber, des hohen saturnischen Alters und des Sturmwindes, der sich nächtlich erhebt. Durch den saturnischen Charakter des U wird man häufig in Dichtungen stark angesprochen; so birgt ihn in der bekannten Ballade „Die Uhr“ das regelmäßig wiederholte sie schlug, das das Gedicht wie der dumpfe Schlag einer Stundenuhr durchdröhnt.24

Im suggestiven Balladenzauber, an den Jüngers Beispiel erinnert, hat die Vortragssituation eine immense, den Klang der Sprache nochmals verstärkende Bedeutung. Wie schaurig tönt doch der Urlaut der Uhr, den fremde Sprachen nicht kennen noch verstehen. Die Ausführungen Jüngers stellen in ihrer Ausrichtung auf ästhetische Evidenz selbst einen latent poetischen Beitrag dar; die Spannung, welche darin zum Austrag kommt, liegt in der Rivalität von arbiträrer und motivier21 22 23 24

Ebd., S. 23. Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik. Band 1, Teil 1. Hellas. Aphrodite. München 2006, bes. S. 50ff. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45.

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ter Zeichenauffassung. In der Rolle des Sprachgeschichtlers und Morphologen müsste Jünger sich auf die konventionelle Ausdrucksseite der Zeichen beschränken, als Dichter hört er die Worte in der Lautsprache ihren Sinn sagen. Am besten aufgehoben ist dieser Sinn dort, wo auch die konventionelle Bedeutung eines Wortes sich weigert, eine substantiierte Referenz anzugeben. „Unter allen Sprachen besitzt vielleicht die unsere in dem Wörtchen und das bedeutendste Bindewort. Überhaupt regen solche kurzen Wörter, deren Geschichte sich völlig im Dunkel verliert, besonders zum Hören an.“25

4. Der Sand in den Uhren Es ist Ausdruck einer werkästhetischen Intention des Autors, dass der erste Band der Fassungen in direkter Nachbarschaft zu den sprachästhetischen Betrachtungen Jüngers auch das sogenannte Sanduhrbuch von 1954 enthält. Wie im drei Jahre später begonnenen Essay An der Zeitmauer dürften auch hier eher okkasionelle Motive den Anlass geboten haben. Am Beginn stand eine persönliche Vorliebe für die seit alter Zeit nach einfachstem mechanischen Prinzip funktionierenden Stundengläser, in welchen ein kleines Häufchen feinen Sandes von der je oberen Kanüle in die untere rieselt und dabei bis zur vollständigen Entleerung stets eine verlässlich gleichlange Zeitspanne benötigt. Die Leidenschaft des Sammelns, sei es von tatsächlichen, meist durchaus formschönen Exemplaren dieser Gerätschaften zur Zeitmessung, die man sich dekorativ zwischen die Bücher ins Regal stellen kann, oder auch nur von virtuell präsenten Beispielen, von kunst- und kulturgeschichtlich relevanten oder skurrilen Erscheinungsformen der Sanduhr, diese Sammelleidenschaft bewegt sich bei ihrer Betätigung grundsätzlich im Spannungsfeld von type und token, von Typus und Exemplar. Die systematische Ausarbeitung des Themas, wie sie Jünger im Sanduhrbuch unternimmt, zielt nicht auf ein theoretisches Modell. Zusammengehalten wird die Abhandlung von der Schlichtheit ihres Gegenstands und seiner Wiedererkennbarkeit in den verschiedensten Gestalten. Alle Sanduhren sind wie eine Sanduhr, und jede kann gleichermaßen als Veranschaulichung dienen. Das Prinzip der Sanduhr zeichnet sie als tellurische Uhr aus, in deren innerem Bewegungsablauf die Schwerkraft allein das Regiment führt. Die geschlossene Konstruktion der beiden Halbgläser und ihres schmalen Durchgangs hält störende, den Ablauf verzerrende Außeneinflüsse fern und schafft eine klare, bipolare Ordnung von oben und unten. Am Mittelgelenk drehbar, sind die beiden Halbgläser in Form und Fassungsvermögen einander vollkommen gleich, so dass die Sanduhr nach erfolgtem Durchlauf um 25

Ebd.

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180 Grad geschwenkt werden und nahtlos für eine weitere Spanne der Zeitmessung genutzt werden kann. Stärker als andere Apparaturen der Zeitmessung ist die Sanduhr mit dem Gedanken der Vergänglichkeit verbunden. In Dürers Hieronymus im Gehäus von 1514 ist das Arrangement, das den schreibenden Gelehrten und die Hinfälligkeit der Zeit zu einem gemeinsamen Auftritt verbindet, in sinnbildlicher Prägnanz ausgeführt. Dürers Bild „zeigt den Heiligen in seiner Zelle bei einer Niederschrift. Bücher, Leuchter, Gefäße, Blätter voller Notizen, ein Totenkopf, ein Kruzifixus bilden die Einrichtung. Unter der Bank steht ein Paar Gartenschuhe; die Sonne fällt durch die verbleiten Scheiben ein.“26 Die Dürer-Ekphrasis ist eine verkappte poetologische Miniatur. So nur kann geschrieben werden, in der Einsiedelei, die den Todes- und Kreuzes-Zeichen ins Auge blickt. Dem Pathos mildernd beigesellt ist das Paar Gartenschuhe; es kündet von der mönchisch-vegetabilen Subsistenzwirtschaft eines Eremiten, der auf eine frugale Landwirtschaft zurückgreifen kann, die auch Notzeiten überdauert. Häufig ist Dürers Hieronymus als geistige Haltung evoziert worden, etwa von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, als der Autor im Ersten Weltkrieg seinen Gedankendienst mit der Waffe am heimischen Schreibtisch verrichtete. Und in der zweiten deutschen Nachkriegszeit bot es sich für die Literaten unter den inkriminierten Repräsentanten des besiegten Hitlerreiches an, den Habitus verkannter und verbannter Eremiten anzunehmen. So lässt sich die halb auferlegte, halb selbstgewählte Rückzugsposition von Autoren wie Carl Schmitt, zunächst auch von Martin Heidegger und von Jünger selbst (gravierender Unterschiede der drei Fälle ungeachtet) nach dem insgeheimen Muster des Hieronymus im Gehäus beschreiben. Anleitend zur Kasteiung des kontemplativen Schreibens ist das Requisit der Sanduhr. Sie erscheint auch in einem zweiten proto-emblematisch verdichteten Bildarrangement Dürers aus demselben Jahr, auf dem berühmten Kupferstich der Melencolia. Auf beiden Stichen Dürers zeigt die Sanduhr, so Jüngers Beobachtung, „die halbe Zeit an“, was vielleicht bedeute, „daß der Maler den Heiligen und den Engel mitten in ihrer Tätigkeit erblickt“.27 „Halbzeit“: noch so ein Stichwort der fünfziger Jahre. Numerisch ist die Mitte des Säkulums erreicht, in der kollektiven Mentalität der Deutschen ist das Bewusstsein einer tiefen Epochenzäsur und eines auf enge, pragmatische Ziele gerichteten Neuanfangs vorherrschend. Den ersten, umfangreichsten Band seiner Anselm-Kristlein-Romane (1960 erscheinend) setzt Martin Walser unter das vage programmatische Leitwort der „Halbzeit“. Spätestens schon seit Dantes be26 27

Jünger, Ernst: „Das Sanduhrbuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 101–250, hier S. 104. Ebd.

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Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514), Kupferstich.

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rühmter Eröffnungspassage der Divina Commedia ist die Situation in der Mitte des Lebensweges der topische Ausdruck einer Phase herausragender Empfänglichkeit und Gefährdung. Die Sanduhr selber ist um eine besonders schmale Mittelstelle herum figuriert; und diese „Wespentaille“, so Jünger, ist ihr mechanisch fragilster Punkt.28 Sonst ist es bekanntlich auf alten Bildern oftmals der Tod, welcher die Lebenden mitten in reger Tätigkeit begriffen antrifft und mit sich nimmt. Den ins Studium versunkenen Denkern und Schreibenden mit der Sanduhr ist ein anderes Verhältnis zu Zeit und Endlichkeit eigen; sie geben dem Rieseln des unversieglichen Stromes je schon symbolischen Raum in ihrer geschlossenen Arbeitssituation. In der Zeit Dürers scheint die Sanduhr ein häufiges Utensil darzustellen, dem als Bildelement eine bedeutsame symbolisierende Kraft zukommt. Man kennt das Prinzip des Stundenglases gut genug, um auf den Bildern zu sehen, was dort gar nicht gezeigt werden kann, nämlich das dünne Rieseln der feinen Quarzkörnchen. Die Sanduhr, in der eine unablässige Bewegung stattfindet, die durch das transparente Behältnis offensichtlich geschieht, ist auf den Tafeln und Stichen der Frühen Neuzeit ein probates zeichenhaftes Hilfsmittel, um die ikonisch nur schwer darzustellende Zeitqualität des Augenblicks und seiner Vergänglichkeit ins Bild zu bringen. Auf Dürers Stichen wird das Allegorische zum Bildereignis als die den Dingen zugesprochene Fähigkeit, auf ein Jenseits des Sichtbaren zu verweisen. Diesseits- und Jenseitshälfte sind in der Sanduhr und ihrer „Montur“ aneinander gebunden; der Sand tut nichts anderes, als von einer Sphäre in die andere hinüberzugehen, permanent. Die Sanduhr ist ein Gebilde aus Ding und Zeit, und als solches dem Prinzip allegorischer Vergegenwärtigung eng verbunden. Das Bild als Wirkungsraum der Allegorie wird in der Frühen Neuzeit gerade dort als ästhetisches Verfahren thematisch, wo es sich gegenständlich auf die Signaturen der Vergänglichkeit richtet, sei es auf Uhren, auf figürliche Todeszeichen oder auf organische Merkmale des Wachstums und Verfalls. Mit weiter ausholenden Recherchen situiert Jünger die Sanduhr sowohl in der Geschichte der Zeitmesstechniken und in der Entwicklung einer emblematischen Bildersprache des Fortgangs der Zeit. Als tellurische Einrichtung ist sie wie die Wasseruhren ein stoffliches Instrument, dem Walten der Schwerkraft unterworfen und kann nur beschränkte, einsinnig ablaufende Zeitquanten verkörpern. Gegenmodell solcher tellurischer Zeitmesser sind die am kosmischen Kreislauf ausgerichteten Vorrichtungen, der Gnomon29 und die seinem Prinzip strukturverwandte Sonnenuhr. Die Schattenwurf-Linien eines in den Boden gesteckten Zeigestabs wandern mit der Sonne im Halbkreis und können diesen Zirkel unerschöpflich jeden Tag aufs neue beschreiben. Die 28 29

Ebd., S. 184. Ebd., S. 115.

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Albrecht Dürer: Melencolia I (1514), Kupferstich.

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Reisesanduhr des Erasmus von Rotterdam, Historisches Museum Basel (Inv.-Nr. 1877.35.1.2), Fotografie: Peter Portner.

Zeitauffassung von Wasseruhren, Sanduhren und Öluhren hingegen gründet auf einem Vektor, einem gerichteten Fortgang oder Ablauf: „es sind fließende, rinnende, gleitende Bewegungen und ihrem Sinn nach geradlinig. Sie sind daher, um gemessen zu werden, nicht des Zifferblattes bedürftig, sondern des Maßstabs.“30 Im Hintergrund der Betrachtung sind auch bei diesem Thema literarästhetische und poetologische Überlegungen wirksam, denn die Arbeit am Lebenswerk setzt den fliehenden Zeitfluss ebenso voraus wie die stetige Bemühung, diesem durch das Schreiben eine gestalthafte Dauer entgegenzustellen. Im Bild der Sanduhr durchkreuzen sich beide Richtungen, denn mit ihrem Prinzip ist sowohl ein transitorischer Impetus des Schreibens wie ein akkumulierendes Verständnis von Lebenszeit vereinbar, wie Jüngers Sanduhr-Meditation ausführt. Der weiße Sand rann lautlos aus einer Mensur in die andere. Er höhlte sich trichterförmig in der oberen und wölbte sich zum Kegel in der unteren. Man konnte diesen Berg, der aus verlorenen Augenblicken sich häufte, als tröstliches Zeichen dafür nehmen, daß die Zeit wohl ent-, nicht aber verschwindet. Sie reichert sich in der Tiefe an.31

Die geschichtlichen Helden in Jüngers Sanduhrbuch sind Chronisten einer Übergangszeit, Männer wie Erasmus von Rotterdam oder Tycho Brahe. Beide sind Beobachter sowohl wie Protagonisten einer fortschreitenden Säkularisierung und Rationalisierung; Zeitgenossen der Sanduhr-Epoche, die weit genug ins wissenschaftlich-technische Zeitalter hineinragen, um dessen Entwicklungstendenzen erahnen zu können, und die an dem Früheren in kluger 30 31

Ebd., S. 133. Ebd., S. 103.

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Gewohnheit festhalten, ohne es mit Vehemenz zu verteidigen. Als Beispiele kostbarer Stundengläser nennt Jünger zunächst jene Sanduhr, „die Holbein in Basel für den englischen König Heinrich VIII. entwarf“, ein „Zeitglas, in Viertelstunden unterteilt und durch Türflügel zu schließen“.32 Sodann aber das Stundenglas des Erasmus, im Verzeichnis der Amerbachschen Sammlung zu Basel 1662 aufgeführt als „Erasmi bleyern Sand-Ührlein von Ebenholz in einem Futter“. „Es handelt sich um ein Zeitglas in geschnitztem Gehäuse mit einer einfachen Blechbüchse, in der es verwahrt werden kann.“33 Gefertigt, um damit auf Reisen zu gehen, diente es einem Manne, dessen Wirkungsstätten in halb Europa verstreut waren, und der als Betrachter des Zeitenwandels doch auf einem Punkte archimedischer Gelassenheit ruhte. Jünger preist Erasmus dafür, „einen neuen Geist, eine neue Freiheit in die Welt der Studien und der Bücher“ gebracht zu haben, „ohne daß er dabei die alten Brücken abbrach“.34 Tycho Brahe wiederum war der letzte bedeutende Astronom, dessen Sternwarte „ohne Fernrohre“35 arbeitete. Brahe investierte seinerzeit höchsten Aufwand in die Verfeinerung und Vergrößerung der klassischen Instrumente sphärischer Himmelsbeobachtung,36 doch er vollzog nicht den Schritt seines Assistenten Kepler zur mathematischen Dynamisierung der Planetenbahnen mithilfe des Ellipsen-Modells. „Tychos großer Mauerquadrant“37 und die damit zu betreibende Astronomie verharren in der geozentrischen Sphärenharmonie, wie sie schon die Konstruktion solcher Instrumente unterstellte. Dass der Däne zwar über ein höchst fortgeschrittenes Uhrwerk, eine Räderuhr mit „Sekundenzifferblatt“, verfügte, und gleichwohl mit Quecksilber-Gefäßen zur Zeitmessung experimentierte, führt Jünger auf einen grundlegenden Zwiespalt dieser Figur und ihrer Zeit zurück. „Das Tychonische System zählt zu den Orten, an denen zwei Welten sich berühren und überschneiden“.38 Die kostbaren Geräte in dem Instrumentarium des Astronomen, „all diese Armillen, Koluren, Kreise, Globen und Quadranten“, sie könnten, so das Urteil Jüngers, „auch ptolemäische oder arabische Werke zieren“ und „bringen nichts Neues in die astronomische Ausrüstung“.39 „Daß Tychos System nicht haltbar war“, kann Jünger getrost konzedieren. „Keine konservative Position war haltbar seitdem.“40 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Ebd. Ebd., S. 243. Grinder-Hansen, Poul (Hg.): Tycho Brahes Verden. Danmark i Europa 1550–1600. Kopenhagen 2006. Ebd. Jünger: Das Sanduhrbuch, S. 204. Ebd., S. 205. Ebd., S. 207.

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Dies erst recht macht aus der Sicht Jüngers den dänischen Astronomen zu einer Figur des Widerstands im passiven Sinne, einem Helden der abgelaufenen Zeit.

5. Der Sand aus den Urnen Jüngers Sanduhrbuch bringt neben der Faszination des Sammlers für seine Objekte auch ein besonderes Interesse an jenen Übergangszeiten zum Ausdruck, in welchen die natürliche Motivierung der Zeitzeichen durch die Kunst von mechanischen Räderwerken abgelöst und die Naturbeobachtung mit unbewaffnetem Auge durch diejenige mit optischen Apparaten ergänzt wurde. Jüngers Wertschätzung gilt in der Geschichte den Protagonisten des Verharrens, die aber zugleich schon vom Sog des Neuen ergriffen sind. Die Schreibhaltung eines Hieronymus im Gehäus ist ihm, nach dem katastrophischen Einschnitt des Krieges, ein naheliegendes Modell für die Kultivierung einer zurückgezogenen Autorschaft. Die Zeit und ihre Schläge hinterlassen in der Abkehrhaltung allenfalls einen Negativabdruck. Im Sanduhrbuch meldet sich, inmitten der weit zurückgreifenden kultur- und technikgeschichtlichen Betrachtungen, eine stoffliche Besonderheit, die von der neueren deutschen Zeitgeschichte zeugt. „Der deutsche Uhrsand wurde seit langem aus Dresden bezogen, und daher werden auch heute noch Sanduhren vorwiegend in der sogenannten Ostzone erzeugt. Der Dresdner Sand zeichnet sich dadurch aus, daß er auch in der feinsten Mahlung rundkörnig bleibt.“41 War die Sanduhr, abgekoppelt von der Entwicklung präziser mechanischer Chronographen, in Jüngers Betrachtung vorwiegend als emblematisches Bildzeichen frühneuzeitlicher und barocker Darstellungen des Zusammentreffens von Zeitlauf und Gelehrtentum gewürdigt worden, so dringt nun der feine Dresdner Quarzsand aus dem Elbsandsteingebirge als eine Realchiffre in die Darlegungen des Sandbuches ein. „Im Westen gibt es keine Art von Sandstein“, hat Jünger sich sagen lassen, „der in der feinsten Körnung nicht kantig ist“.42 Die Herstellung von Sanduhren leidet unter der deutschen Teilung. Östlicher Sand ist, aus oberschwäbischer Perspektive, in den fünfziger Jahren außer Reichweite. Grund genug, die naturale Seite des Sandes näher in Betracht zu ziehen. Ist der Sand nicht ein typisches Vorkommnis der urgeschichtlichen Kontaktzone von Land und Meer? Das weiche, feinkörnige Material, in das die Kinderspiele gebettet sind, hat es nicht zugleich eine Fremdheit, die aus großer Raum- und Zeitferne herankommt? Wo liegen die Ressourcen dieses Stoffes, wie ist seine elementare Zusammensetzung,

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Ebd., S. 215. Ebd.

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was verrät der Sand in seiner Konsistenz über die von ihm durchlaufene geologische Tiefengeschichte? Die Belegstellen zum Motiv der Sanduhr aus Dichtung und Kunst, die Jünger in seiner kleinen Blütenlese heranzieht, schweigen sich zu diesem naturgeschichtlichen Aspekt des Sandes und seiner Beschaffenheit aus – obwohl gerade diese stofflichen Qualitäten im Hinblick auf die kosmische Einbettung geschichtlicher Phänomene, die Jünger in seinen Essays immer wieder hervorhebt, von besonderer Bedeutung sind. Der Sand als Produkt und Zeuge geologischer Vorgänge von langer Dauer gerät erst dann in den Blick, wenn die allegorisierende Bedeutungsgebung der durch das Stundenglas verrinnenden Zeit zurückgestellt oder sogar ganz vermieden wird. Ein dieses Bedeutungsgewand abstreifender poetischer Umgang mit der Stofflichkeit von Gesteinen und Erde findet sich, nur wenige Jahre vor Jüngers Sanduhrbuch angelegt und dann in weitere Formen lyrischer Bildsprache entfaltet, in den Gedichten Paul Celans. An der Lautpoetik der Vokale hatte Jünger demonstriert: Was man zu hören glaubt und folglich zu verstehen meint, kommt mitunter den naturalen Ereignissen der Lautsprache näher als dem geregelten Sinn der Wortsprache. Dieses gilt auch für den fremden Sand in Jüngers Uhren. Wenn Paul Celan seine frühen Gedichte, die von den Jugendjahren in Czernowitz und der ersten Nachkriegszeit in Bukarest bis zu seinem künstlerischen Durchbruch in Wien 1947/48 reichen, unter dem Titel Der Sand aus den Urnen versammelte, so fungiert der Sand darin als eine derartige Realchiffre, in der das natürliche Sosein die übertragende Sinnstiftung überwiegt; oder genauer: der Sand als thematisches Motiv hat in diesen sehr dichtgedrängten Entwicklungsphasen der Ästhetik Celans noch die emblematische Dimension verrinnender Vergänglichkeit, und schon die geologische Beschaffenheit eines nicht mehr als sich selbst bezeugenden Naturstoffes. „KEINE SANDKUNST MEHR, kein Sandbuch, keine Meister“,43 heißt es später, in dem Band Atemwende, in einem Gedicht, das Celans „gesamtes dichterisches Werk bis zu diesem Zeitpunkt in Frage stellt“.44 Der geschichtliche und ästhetische Abstand, die kulturelle und politische Kluft zwischen Paul Celan und Ernst Jünger könnte größer kaum sein. Dem jungen, aus der Bukowina stammenden Dichter hatte der NS-Terror die Eltern gemordet und seiner Existenz als Jude das Lebensrecht bestritten – zu einer Zeit, als der Wehrmachtsoffizier Ernst Jünger dem Stab des Militärbefehlshabers im besetzten Paris angehörte. Um so bemerkenswerter folglich der 43 44

Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1983, S. 39. Goßens, Peter: „Das Frühwerk bis zu Der Sand aus den Urnen (1938–1950)“. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Peter Goßens, Markus May und Jürgen Lehmann. Stuttgart, Weimar 2008, S. 39–54, hier S. 44; vgl. Bevilacqua, Giuseppe: Auf der Suche nach dem Atemkristall. Celan-Studien. München 2004, S. 48–60.

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Umstand, dass sich Paul Celan, mittlerweile in Paris lebend, im Sommer 1951 brieflich und mit einem beigelegten Typoskript seines ersten Gedichtbandes ausgerechnet an Ernst Jünger wandte, in „Dankbarkeit und Verehrung“.45 Das Bekanntwerden dieses Schreibens, des einzigen, das direkt von Celan an Jünger gerichtet wurde, hat denn auch im Jahre 2005 für ein gewisses öffentliches Erstaunen und eine kurze, kontroverse Debatte gesorgt.46 Einen ausdrücklichen Hinweis auf den brieflichen Kontakt hatte im Jahr 2001 schon die Jünger-Werkeinführung von Steffen Martus gegeben, in der das Antwortschreiben von Jüngers damaligem Sekretär Armin Mohler an Celan erwähnt wird.47 Anlass und Ziel des Celan-Briefes, dem bereits ein ähnliches Schreiben seines Freundes Klaus Demus vorausging, war die an Jünger gerichtete Bitte, sich bei Celans Suche nach einem geeigneten Verlag für die Publikation der Gedichtsammlung womöglich unterstützend einzuschalten. Ungeachtet seiner Selbststilisierung als Solitär war Jünger zu dieser Zeit bereits wieder eine einflussreiche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und sogar des von ihm so skeptisch beargwöhnten Literaturbetriebs. Die im Anschluss an die Veröffentlichung von Celans Brief zunächst im Feuilleton geführte Debatte kreiste vornehmlich um die strittige Frage, wie ernsthaft oder im Gegenteil bloß taktisch der Annäherungsversuch von Celans Seite gemeint war. In den weiteren bislang vorgelegten Kommentaren zu dem Vorgang verlagerte sich das Interesse mehr darauf, ob Jünger auf dieses Ansinnen Celans positiv reagiert und wie er gegebenenfalls tatsächlich zur Vermittlung der Publikation beigetragen habe. Inzwischen hat sich, u. a. durch die Publikation und Kommentierung des Briefwechsels Celans mit Klaus und Nani Demus, die Lage insoweit geklärt, als deutlich wurde, dass der Brief Celans an Jünger mit Datum vom 11. Juni 1951 auf eine Initiative des Freundes Klaus Demus zurückging, und Demus im Mai jenen Jahres aus Wien ebenfalls schon an Jünger geschrieben hatte. Die Möglichkeit, Ernst Jünger zu kontaktieren, hatte sich konkretisiert, als Jünger für einige Zeit in Paris weilte, von dort jedoch im Mai 1951 nach Antibes weiterreiste. Celan plante sogar einen persönlichen Besuch bei Jünger in Südfrankreich, der allerdings nicht zustande kam.48 45

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Paul Celan an Ernst Jünger, 11. Juni 1951; zit. nach Wimbauer, Tobias: „‚In Dankbarkeit und Verehrung‘. Hilfe kommt aus Wilflingen: Ein Brief von Paul Celan an Ernst Jünger wurde im Marbacher Literaturarchiv entdeckt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2005, S. 33; vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 592. Die Debatte zusammenfassend und kritisch bezüglich der Entdeckerfreude einer vermeintlichen ‚Nähe‘ zwischen Celan und Jünger äußert sich Buck, Theo: Celan schreibt an Jünger. Zu einem Brief und den Reaktionen, die er auslöste. Aachen 2005. Martus: Jünger, S. 12. Vgl. Celan, Paul, Klaus und Nani Demus: Briefwechsel. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Gisèle Celan-Lestrange und Klaus und Nani Demus. Hg. und kommentiert von Joachim Seng. Frankfurt a.M. 2009, S. 60f. „Jünger ist nicht mehr in Paris, er fuhr vorgestern

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Nachdrücklich wird Celan von Demus gemahnt, sich „nicht enttäuschen [zu lassen] von Jünger“; wörtlich: „sei fest und verlange es von ihm“.49 Nachdem Celan von Jünger selbst am 19. Juni eine knappe handschriftliche Rückmeldung erhalten hatte, er werde sich mit Dr. Mohler beraten, was für die Veröffentlichung des Bandes getan werden könne, bekamen sowohl Celan als auch Demus von Jüngers Sekretär im August 1951 dann eine abschlägige Nachricht.50 Über Celans Gedichte hatte sich Jünger allerdings durchaus wohlwollend geäußert, und man kann in diesem positiven Urteil immerhin eine gewisse Affinität beider bestätigt finden.51 Die Publikation des Gedichtbandes erfolgte, nachdem Celan bei einer Lesung der Gruppe 47 im Mai 1952 in Niendorf an der Ostsee auf den Cheflektor der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, Willy A. Koch, großen Eindruck gemacht hatte, im Weihnachtsprogramm 1952 dieses Verlages, dann unter dem Bandtitel Mohn und Gedächtnis. Das Erscheinen des ersten Gedichtbandes Paul Celans in Deutschland war demnach nicht durch Ernst Jüngers Mithilfe zustande gekommen; wohl aber hatte Jünger von einem Teil der Gedichte, noch unter der früheren Wendung Der Sand aus den Urnen zusammengestellt, bereits mehr als ein Jahr zuvor schon Kenntnis erhalten. Mehrfach hatte Celan die Gedichte im Lauf der Jahre umgruppiert, in neuer Reihenfolge und zu anderen Zyklen angeordnet; auch die Zwischenüberschriften und zuletzt sogar jene des gesamten Bandes wechselten.52 Noch in Bukarest hatte Celan 1946 ein Konvolut mit Typoskriptblättern seiner Gedichte zusammengestellt, welches der Autor kurz vor der Übersendung an Max Rychner, den Feuilletonchef der Zürcher Tat, mit dem Obertitel Der Sand aus den Urnen versah. Noch nicht dabei war in jener Zusammenstellung das im Mai 1945 in Bukarest entstandene Gedicht Die Todesfuge. In seiner rumänischen Übersetzung war dieses Gedicht, als Todestango betitelt, im Mai 1947 gedruckt worden, die erste Gedichtpublikation Celans überhaupt, der mit dieser Veröffentlichung erstmals und dauerhaft den aus dem Anagramm seines rumänisch geschriebenen

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nach Antibes, wo er mehrere Wochen bleibt. Da er auf der Rückreise nicht mehr nach Paris kommt, müssen wir überlegen, ob es nicht ratsam wäre, ihn in Antibes zu besuchen.“ (Paul Celan an Nani Demus, Mai 1951; Briefwechsel, S. 60.) Klaus Demus aus Wien an Paul Celan, 18. Mai 1951; Briefwechsel, S. 61. „Von Dr. Mohler bekam ich – schon vor einem Monat – eine Abschrift des Absagebriefes an Dich. Du hast ihn doch bekommen? Es ist betrüblich, Paul.“ Klaus Demus an Paul Celan, 16. September 1951; Briefwechsel, S. 71. Im „Absagebrief“ von Mohler, mit Datum 7. 8. 1951 (Nachlass Paul Celan), ließ Jünger mitteilen, dass er sich nicht für Celan einsetzen könne (Kommentar des Herausgebers Joachim Seng in Celan u. Demus: Briefwechsel, S. 530). „Beide, der junge Celan wie Jünger, waren Dichter des ‚hohen‘ Tons. Für Celan mochte ein Schreiben an Jünger weniger problematisch sein als für einen Teil der späteren Celan-Forschung.“ (Kiesel: Jünger, S. 592f.) Vgl. Goßens: Frühwerk, S. 45ff., und Seng, Joachim: „Mohn und Gedächtnis“. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Peter Goßens, Markus May und Jürgen Lehmann. Stuttgart, Weimar 2008, S. 55ff.

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Namens Ancel gebildeten Autornamen Celan annahm. Im folgenden Jahr, 1948, wurde die Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen mit der inzwischen in diesen Band aufgenommenen Todesfuge in einem Wiener Verlag gedruckt, doch so sehr von Druckfehlern und unpassenden Illustrationen entstellt, dass Celan die gesamte Auflage bis auf wenige schon verkaufte Exemplare einstampfen ließ. Erst mit der Publikation von Mohn und Gedächtnis, die auf den Kontakt Celans mit Jünger folgte, lag die Gedichtsammlung Celans endlich in einer verlässlichen, längerfristig greifbaren Ausgabe vor, es war Celans erster Gedichtband in Deutschland. Der Band, so befindet die Historisch-kritische Ausgabe, kann „als Fortführung von Der Sand aus den Urnen gelten, als Abschluss des spätestens 1946 begonnenen Buchprojekts“.53 Von der früheren Wiener Publikation Der Sand aus den Urnen hatte Celan 26 Gedichte in das neue Buch übernommen, damit knapp die Hälfte der insgesamt 56 Gedichte des Bandes Mohn und Gedächtnis. Wie schon in der früheren Wiener Ausgabe folgt Celan weiterhin dem Prinzip, innerhalb der Sammlung Zyklen mit eigenen Zwischenüberschriften zu bilden. Schon die Bukarester Sammlung war in vier solcher Zyklen eingeteilt, ebenso der Wiener Band von 1948. Zwischen diesem und der Stuttgarter Publikation von 1952 liegt ein Pariser Typoskriptkonvolut mit dem Vermerk: Paul Celan / Der Sand aus den Urnen / Paris, Oktober 1950. Diese Zusammenstellung liegt in mehreren, leicht voneinander abweichenden Versionen vor (im Marbacher Nachlass Celans, im Wiener Nachlass von Hilde Spiel sowie im Brenner-Archiv Innsbruck) und entspricht in etwa dem Stand der Arbeit zu jener Zeit, als Celan bei Ernst Jünger vorstellig wurde. Von dem Wiener Band und seinen 48 Gedichten sind bis auf fünf alle in das Pariser Konvolut von 1950 übernommen, das um einen Zyklus von neuen Gedichten erweitert wird und erst vor der Drucklegung 1952 den neuen Gesamttitel Mohn und Gedächtnis erhält. Die divergenten Bewegungen, die der Gesamtband und seine einzelnen Zyklen, deren wechselnde Zusammenstellung und der hierbei gleichbleibende Kern in den sieben Jahren der Arbeit an dem Buch durchlaufen, machen Celans frühe Gedichte zu einem Schauplatz unablässiger Umschichtungen eines in sich durchaus beständigen Materials. Durch die Jahre hindurch schreibt sich die Spur der Verse fort und fort, doch ändern sie mehrfach ihre Erscheinungsweise: Treibsand, den die Zeit an wechselnde Formen und Gefäße anweht. Als das Buch in der Wiener Erstpublikation Der Sand aus den Urnen hieß (1948), war das gleichnamig betitelte Gedicht Bestandteil des zweiten Zyklus, der den Zwischentitel Mohn und Gedächtnis trug; anstelle dieses Zyklustitels hatte Celan in der zwei Jahre früher arrangierten Buka53

So die Herausgeber in: Celan, Paul: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Beda Allemann, hg. u. a. von Rolf Bücher, Axel Gellhaus. Bd. 2.-3.2. Frankfurt a.M. 1990ff., S. 12.

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rester Sammlung noch den Zyklustitel Der Sand aus den Urnen gesetzt, der zugleich Gesamttitel war (und vorerst auch blieb). 1948 also ist die Wendung Der Sand aus den Urnen weiterhin noch der Gesamttitel, während der Zyklus, in welchem das gleichnamige Gedicht Der Sand aus den Urnen zu finden ist, neu nach einem Halbvers aus dem Gedicht Corona bezeichnet wird, nämlich als Mohn und Gedächtnis. Erst mit der Stuttgarter Publikation tauschen dann Ober- und Zyklustitel erneut die Plätze. Nun heißt, wie 1946, einer der Zyklen Der Sand aus den Urnen, während der bisherige Zyklustitel nun zum Namen des gesamten Buches avanciert – Mohn und Gedächtnis. In diesen auf verwirrende Weise wechselnden Zuschreibungen und Zuordnungen könnte man eine schwankende, unentschlossene editorische Haltung Celans sehen, doch musste er in der verwickelten Druckgeschichte oft auf äußere Zwischenfälle und Schwierigkeiten reagieren. Durch diese jeweiligen Anpassungen der Sammlung und das mehrmalige Umdisponieren bei den Titeln gibt der Autor ein wichtiges Signal. Er verleiht den formelhaften Überschriften von Einzelzyklus und Gesamtband eine Tragweite, die zur Folge hat, dass beide nacheinander und parallel gewählten Titel, und am Ende selbst noch ihr mehrmaliger Positionstausch, mit zur Werkintention gehören. Steht die Formel „Mohn und Gedächtnis“ für die lebendigen, vegetativ stimulierten Kräfte poetischer Erinnerungsarbeit, so bleibt die Chiffre des Sandes, im Erwartungshorizont konventioneller poetischer Bildsprache betrachtet, eigentümlich stumm und gestaltlos. Die Wanderung des Sandes hat etwas zu tun mit dem innersten Thema dieser Gedichte, dem Wissen um massenhaften Mord und mit deutscher Gründlichkeit betriebene Auslöschung. Celans Sand aus den Urnen kehrt stets wieder, in veränderter Gestalt bleibt er sich gleich und sogar derselbe. Sand, Asche, Erde, Gestein: Die geologischen Sprachchiffren Celans zu entschlüsseln, heißt, den chemisch-stofflichen Spuren zu folgen, die in seiner Poetik am Werk sind und die sich auch in der Art des lyrischen Arbeitens mit dem Material der Sprache niederschlagen. In einer Studie zum Wortfeld des Grabens und zu den geologischen Motiven bei Celan hat Uta Werner die These durchgeführt, durch die damit befassten Gedichte manifestiere sich „Celans lyrisches Totengedenken“; der Dichter erinnere an „die Pflicht der Überlebenden, den Toten einen Ort, eine letzte Ruhestätte anzuweisen.“54 In den Vernichtungslagern war den Ermordeten auch das letzte menschliche Recht, die Würde des Grabes und der an den Bestattungsort sich knüpfenden Gedächtniszeichen, genommen worden. Für das Judentum ist das Verbrennen der Leichname ein Frevel sondergleichen und ein Verbrechen am Totengedenken. Bei der fabrikmäßigen Ermordung und Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen bedeutete die Verstümmelung 54

Werner, Uta: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik. München 1998, S. 9.

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der Leichname und ihre Zerstörung in den Verbrennungsöfen eine nochmalige Schändung der Opfer. Die Todesfuge spricht in deutlichen Bildern davon, wie in den Vernichtungslagern das Ritual des Begrabens sich buchstäblich in Rauch auflöst. „Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“.55 In dem Gedicht Wer gab die Runde aus?, im fünften Zyklus des Bandes Fadensonnen von 1968, meldet sich grob eine Reminiszenz der Vernichtung: „wir tranken / und grölten den Aschen-Shanty“.56 Die Asche ist, als der chemische Überrest des perfidesten Verbrechens, zugleich ein stoffliches Schlüsselzeichen für den Holocaust und seine geschichtliche Bedeutung schlechthin. Die Vernichtung der Millionen ermordeten Juden in dem Motiv der Asche metaphorisch aufzubewahren, bedeutet freilich, diese Asche in ihrer Realität ein weiteres Mal zu annihilieren. Das Gedächtnis wäre damit sozusagen platzsparend komprimiert, wie bei einer Feuerbestattung. Urne und Erdgrab liegen kulturpraxeologisch nicht auf gleicher Ebene, denn nach dem Feuer fasst die Urne einen bereits chemisch transformierten, metonymischen Überrest, der – paradox genug – als Gedächtniszeichen durch einen Vorgang der Auslöschung entstanden ist. In Celans Lyrik verliert der „Euphemismus“ der Asche-Metaphorik seinen übertragenden und verleugnenden Charakter, das Sprachmanöver der Bewältigung wird durchkreuzt.57 Celans Perspektive erfasst die „Asche von Auschwitz“ in ihrer stofflich-chemischen Qualität; sie ist Knochenasche, basisch phosphorsaurer Kalk, Kalziumkarbonat. „Obgleich für immer verloren, geht es dennoch darum, die reale Asche, buchstäblich von ihren Partikeln her, wieder aufzuspüren.“58 Celan ergreift Farben, Klänge und Stoffe in ihren sinnlichen Qualitäten und bringt sie in sprachverdichteten Versuchsanordnungen dazu, miteinander quasi-chemische Reaktionen einzugehen. Wie kann man aus Sprache etwas formen, was an das Bild ehemals lebendiger Menschen erinnert? Gerade davon handelt das Gedicht Der Sand aus den Urnen. DER SAND AUS DEN URNEN Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens. Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann. Er schlägt dir die Trommel aus Moos und bitterem Schamhaar, mit schwärender Zehe malt er im Sand deine Braue. Länger zeichnet er sie, als sie war, und das Rot deiner Lippe. Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz.59 55 56 57 58 59

Celan, Paul: „Todesfuge“. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1983, S. 63. Celan, Paul: „Wer gab die Runde aus?“ In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Allemann u. Reichert. Bd. 2. Frankfurt a.M., S. 224. Werner: Textgräber, S. 91. Ebd., S. 92. Celan, Paul: „Der Sand aus den Urnen“. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Allemann u. Reichert. Bd. 3. Frankfurt a.M., S. 46.

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Wie in einem Behältnis lagern in diesem Gedicht sprachliche Einzeldinge, ohne dass es wirklich gelingt, sie miteinander auf schlüssige Weise in Bezug zu setzen oder sie in eine konsekutive Aussagelinie zu bringen. Die Elementarfarben Grün, Blau und Rot treten prominent in Erscheinung, sodann eine Reihe von isoliert benannten oder gar abgetrennten Körperteilen, Braue, Lippe, Zehe, Herz und Haupt. Die Redesituation steht unter dem Vorzeichen des Vergessens, das mit den Bildern des organischen Schimmelbefalls oder Moosbewuchses sinnfällig wird. Ihm entgegen treten Versuche, dem abwesenden und trotzdem angesprochenen „Du“ Gestalt zu geben, sein entschwundenes Gesicht nachzumodellieren durch Bild- und Klangzeichen. Die Zehe als Malgriffel überzeichnet die Länge der Augenbraue, auch die rote Farbe der Lippe kann im Sand nicht zum Ausdruck kommen. Mit den Assonanzen „blaut“ und „Braue“ (ihr Ungesagtes ist der Zwischenterm, die ‚Braut‘) erschallt die Moostrommel des Gedichts naturgemäß nur dumpf, der sie schlägt, ist als Spielmann eine Instanz des Erinnerns und der vergegenwärtigenden künstlerischen Darbietung, die ihres wesentlichen Organs beraubt wurde. Das Festhalten einer bitteren, schamvollen Vergangenheit, in der sich nur angedeutete Liebeserfahrung und grauenhafter Mord auf unausgesprochen bleibende Weise verbinden, verläuft im Sande. Im Sand werden die Gedächtniszeichen rasch verwehen. Nur die Urne kann fassen, womit sie gefüllt wird; ist das Herz als Gefäß ihr organisches Gegenstück? Aber ‚nährt‘ oder ‚verzehrt‘ sich das Herz des „Du“ im letzten Halbvers, wenn es gespeist wird? Beide Lesarten sind möglich; auf den zweiten Blick zeigt sich noch eine andere Wendung ambig: „Länger zeichnet er sie, als sie war“ kann sich auf die optisch deformierte Einzelheit eines Porträts beziehen, aber auch auf den Zeitraum des langen Vergessens und Wiedererinnerns, der unabwendbar die Dauer des gelebten und erinnerten Lebens irgendwann übersteigen wird. Mit dem Sand als dem Grundmotiv der Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen ist die elementare Spannung von Sammlung und Zerstreuung angesprochen, von verwischten Gestalten und bewahrten Spuren. Was bleibt, durch die stoffliche Wandlung hindurch? Diese Frage richtet sich an den physischen Vorgang der Vernichtung ebenso wie an die ästhetische Symbolisierungsleistung der Lyrik. Das Gedicht betreibt und verweigert zugleich die poetische Transsubstantiation, es inszeniert in seinem performativen Scheitern die Bewahrung der Toten und Vernichteten im Gedächtnis eines enthaupteten Spielmanns. Ein Gedicht aus der Czernowitzer Zeit lautet Nähe der Gräber. Darin wird die Flüchtigkeit des fließenden Elements mit der Gegenkraft bleibender Trauerzeichen kontrastiert, durch jene Bäume und Pflanzen, die den Ort des Verbrechens markieren.

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NÄHE DER GRÄBER Kennt noch das Wasser des südlichen Bug, Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug? Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten, wie leise dein Herz deine Engel gelitten? Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden, den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten? Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab den Hügel hinan und den Hügel hinab? Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?60

Die erlittene Gewalt kann und darf nicht spurlos verschwunden sein; das Wasser des Flusses, die Espen und Weiden, sind klagende Zeugen. Für den Blick der Überlebenden aber erschließt sich die Trauerbedeutung dieser Naturzeichen nicht so leicht, wie die bangen, an die tote Mutter gerichteten Fragen erweisen. Mit der Rhythmik und Semantik dieser unerhört bleibenden Fragen lässt Celan den Angstdialog der Goetheschen Erlkönig-Ballade wieder aufleben. In Celans lyrischer Wortsprache ist die sinnliche Gewalt der Lautnatur nicht zu überhören; die naturhafte und kreatürliche Dimension bleibt hierbei nie bloßer Bildspender einer metaphorischen Motivarbeit. So hat auch die beklemmende Sogwirkung der Verse in der Todesfuge etwas mit der Klanglichkeit, mit der suggestiven Musikalität ihrer Sprache zu tun. Die Zwienatur von Wortbedeutung und Sprachmaterial wird in der Lyrik Celans zu einem akut sich vollziehenden Ereignis, doch fehlt ihr die Möglichkeit des Rückgriffs auf einen archaischen Mythenbestand, den Jünger immer wieder gerade dann bemüht, wenn seine skeptische Geschichtsferne mit dem Erfordernis und auch Bedürfnis literarischen Kommunizierens in Konflikt gerät. In der Chiffre des Sandes, die in Jüngers Sanduhrbuch nur wenige Jahre nach der Begegnung mit Celans Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen eine prominente Bedeutung gewinnt, kommt auch in Jüngers Poetik die Differenz zwischen einer sinnbildlich-metaphorischen und einer materialästhetischen Lesart zum Austrag. Vor dem Hintergrund der hier angedeuteten Celan-Lektüre wird man abschließend feststellen können, dass Jünger das Skandalon des blanken Sandes gleichsam wieder in die Geschichte metaphorisch-symbolischer Konnotationen zurückholt und der von Celan thematisierten Erschütterung des zivilisatorischen Gehäuses in seinem Text keinen Raum gibt. Im Lande der Täter wurde der Geschichtsbruch eben ganz anders registriert. Zum Beschluss seiner knappen, instruktiven Studie Über Sprache und Körperbau notierte Ernst Jünger, retrospektiv die erlittene Wucht eines geschichtlichen Tremendums beschwörend: 60

Celan, Paul: „Nähe der Gräber“. Ebd., S. 20.

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Die Arbeit wurde inmitten der Katastrophe des Jahres 1945 begonnen und zu Ende geführt – nicht etwa um Sinn und Augen von den Bildern des Elends und der Vernichtung abzulenken, die uns umringten, sondern weil nach einem Unfall, einem jähen Sturz die erste Sorge dem Körper gilt. Wir prüfen, ob wir unversehrt geblieben sind. So auch hier.61

Literaturverzeichnis Bevilacqua, Giuseppe: Auf der Suche nach dem Atemkristall. Celan-Studien. München 2004. Buck, Theo: Celan schreibt an Jünger. Zu einem Brief und den Reaktionen, die er auslöste. Aachen 2005. Celan, Paul: „Der Sand aus den Urnen“. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1983, S. 46. Celan, Paul: „Nähe der Gräber“. Ebd., S. 20. Celan, Paul: „Todesfuge“. Ebd., S. 63. Celan, Paul: „Wer gab die Runde aus?“ In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1983, S. 224. Celan, Paul: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Beda Allemann, hg. u. a. von Rolf Bücher, Axel Gellhaus. Bd. 2.-3.2. Frankfurt a.M. 1990ff. Celan, Paul, Klaus und Nani Demus: Briefwechsel. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Gisèle Celan-Lestrange und Klaus und Nani Demus. Hg. und kommentiert von Joachim Seng. Frankfurt a.M. 2009. Goßens, Peter: „Das Frühwerk bis zu Der Sand aus den Urnen (1938–1950)“. In: CelanHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Peter Goßens, Markus May und Jürgen Lehmann. Stuttgart, Weimar 2008, S. 39–54. Grinder-Hansen, Poul (Hg.): Tycho Brahes Verden. Danmark i Europa 1550–1600. Kopenhagen 2006. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (Fassung 1981). In: Sämtliche Werke. Bd. 13. Essays VII. Fassungen II. Stuttgart 1981, S. 389–519. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (revidierte Fassung 1984). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 9– 266. Jünger, Ernst: „Das Sanduhrbuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 101–250. Jünger, Ernst: „Lob der Vokale“. Ebd., S. 11–46. Jünger, Ernst: „Sprache und Körperbau“. Ebd., S. 47–99. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007. Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik. Band 1, Teil 1. Hellas. Aphrodite. München 2006. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001. 61

Jünger, Ernst: „Sprache und Körperbau“. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 47–99, hier S. 99.

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Alexander Honold

Seng, Joachim: „Mohn und Gedächtnis“. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Peter Goßens, Markus May und Jürgen Lehmann. Stuttgart, Weimar 2008 S. 55ff. Werner, Uta: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik. München 1998. Wimbauer, Tobias: „‚In Dankbarkeit und Verehrung‘. Hilfe kommt aus Wilflingen: Ein Brief von Paul Celan an Ernst Jünger wurde im Marbacher Literaturarchiv entdeckt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2005, S. 33.

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Figurenspiel und Verdichtung Jüngers Konzeption von Autorschaft und die Gläsernen Bienen Wer sich Ernst Jüngers Reflexion von Autorschaft zuwendet, steht bekanntlich einem schwer zu greifenden Phänomen gegenüber, das sich in verschiedenen Formen im Gesamtwerk niedergeschlagen hat. Frühe Kommentare und poetologische Figuren stehen in Vor- und Nachworten an den Leser oder finden sich, dem digressiven Charakter vieler Texte Jüngers gemäß, verstreut und ohne festen Ort, wenn vom Autor oder Dichter, von Literatur, dem Gedicht und vom Leser im Allgemeinen die Rede ist.1 Mit gleichem Recht sind zudem einschlägige Passagen und Szenen benannt worden, an denen eine selbstreflexive Auseinandersetzung des Autors mit der Programmatik seiner Texte, etwa zu Beginn der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens oder im Sizilischen Brief an den Mann im Mond, sinnfällig wird. Wieder andere Selbstbekundungen unterhalten eine metaphorische Nähe zum Sujet der Texte, so dass sich Jünger im Frühwerk vornehmlich als ‚Krieger der Poesie‘2 zu erkennen gibt, wenn sich ein martialisches Vokabular des Schreibens und der Krieg als Gegenstandsbereich in der Intention des Autors nach rhetorischer ‚Eindringlichkeit‘ aneinander steigern.3 Hier lässt es sich zeigen, dass Jünger gerade auf diesem Feld intensiver, auch biographisch gedeckter Erfahrung eine Reihe poetologischer Formeln gewinnt, die dann später im Gesamtwerk verteilt zu finden sind.4 Für das Spätwerk aber lassen sich zumindest zwei Phänomene anführen, die Jüngers Interesse an der Autorschaft noch einmal anders belegen und auf die sich der folgende Beitrag konzentrieren will. Zum einen ist Jünger in den Erzähltexten, und dies bereits ab 1939, offensichtlich daran gelegen, einigen literarischen Figuren die Züge von Autoren zu verleihen. Au1

2

3

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Das Vorwort des Essay-Bandes Blätter und Steine (1934) und das Nachwort der Erzählung Afrikanische Spiele (1936) sind Beispiele für eine nüchterne, zurückhaltende Adressierung des Lesers. Vgl. Martus, Steffen: „Der Krieg der Poesie. Ernst Jüngers ‚Manie der Bearbeitungen und Fassungen‘ im Kontext der ‚Totalen Mobilmachung‘“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 212–234. Für seine Texte, die den Leser bekanntlich lustvoll einer Gefahr aussetzen wollen, hat Jünger eine ganz eigene Form der captatio benevolentiae entwickelt; berühmtestes Beispiel ist der Essay Über den Schmerz (1934). Vgl. Martus: Krieg, S. 224ff.

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torfiguren treten vor allem, oft mit typischem Habitus, in den Marmorklippen (1939), in Heliopolis (1949) und – mit bisher nicht erschlossener Konsequenz – in den Gläsernen Bienen (1957) auf. Im Folgenden wird unter anderem argumentiert, dass gerade dieser Text ein ‚Figurenspiel‘5 beendet, das für Jünger als Reflexionsmedium von Autorschaft wichtig gewesen ist. Zum anderen avanciert der Autor bekanntlich erst im Spätwerk eigens zum Thema einer Sammlung. In Autor und Autorschaft hat Ernst Jünger seine „Adnoten“ und „Notizen, die im Laufe der Jahre anfielen“,6 fortlaufend verzeichnet und man darf bei diesem Autor sicher sein, dass den titelgebenden Schlagworten dadurch eine eigentümliche Aufmerksamkeit zu Teil wird. Hier wendet sich ein Autor nicht nur im Bewusstsein eines Lebenswerks rückblikkend dem „musischen Schaffen, seinen Voraussetzungen und Konsequenzen“7 in eigenen Texten zu, sondern entfaltet vielmehr ein allgemeines Sammelund Sagbarkeitsprinzip. Es ist die bereits bewährte Adnotentätigkeit, die Jünger einmal mehr aufnimmt, um eine möglichst große Zahl an Briefstellen, Lesefrüchten, Sentenzen und vor allem Tagebucheinträgen zusammenzustellen, die zwar in keiner begründeten Kohärenz stehen, ihre Zugehörigkeit zum Thema aber umso deutlicher erst im Blick des Autors rechtfertigen. Genau diese Faktur macht den Text zum wichtigen Belegmaterial für Jüngers Ästhetik im Spätwerk, die hier in Ansätzen erschlossen werden soll, sofern sie das Konzept von Autorschaft betrifft. Dabei steht, in Vermittlung mit den Erzähltexten, zuerst die Tendenz zur Figuration im Fokus, die Jüngers Rede vom Autor in Autor und Autorschaft oft auszeichnet. Daran anschließend lässt sich, nach einem Durchgang durch die Erzähltexte, Jüngers Verfahren der Verdichtung ausmachen, an dem das Verhältnis der Autorfigur zur ‚Fassungspoetik‘ erörtert werden kann.8 Nun zwingt Jüngers erinnernde Sammeltätigkeit, die auch die Tagebücher Siebzig verweht bestimmt,9 im Falle von Autor und Autorschaft zu verschärfter heuristischer Überlegung. Schon ein erster Blick in den Text lässt berechtigte Zweifel am Aussagegehalt dessen aufkommen, was Jünger dem 5

6

7 8 9

Wie später deutlich wird, verwende ich den Begriff für einen von Jünger geprägten experimentellen Sinn von Literatur, nicht aber in Bezug auf Jüngers 1971 veröffentlichten Text Sinn und Bedeutung. Ein Figurenspiel. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“. In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 11, und „Autor und Autorschaft. Nachträge“. Ebd., S. 267–420. Jünger hat die Aphorismensammlung bis zum Ende seines Lebens kontinuierlich vermehrt und ab 1980 wiederholt publiziert (Angaben zu den Erstdrukken ebd., S. 10, und S. 268). In ihrer umfangreichsten Fassung, ergänzt um mehr als ein Drittel an Nachträgen, erscheint sie 1999 posthum. Ebd. Die ‚Fassungspoetik‘ erläutert Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 233ff. Vgl. Pekar, Thomas: „Ein lebenslänglicher Schreibprozeß. Zur Literarizität von Ernst Jüngers Tagebüchern Siebzig verweht (I bis V)“. In: Les carnets. Revue Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger 3 (1998), S. 155–166.

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Leser in stets gerundetem Stil anzubieten hat. Für ein Spätwerk kann durchaus überraschen, wie voraussetzungslos sich der Autor im Selbstgespräch auf sein Thema einlässt: Autorschaft. Wie soll der Begriff gefasst werden? Ganz allgemein als Äußerung schöpferischer Kraft. Autor ist jeder, nur wissen die meisten nichts von ihrem Glück. Literarisch genommen, muß der Begriff den Dichter ein- und darf den Schriftsteller nicht ausschließen.10

Es scheint, als finde in der Vorläufigkeit und Unbestimmtheit der hier gefundenen ‚Antworten‘ der Text seine eigentliche Bestimmung. Gerade jene Aphorismen, in denen sich der Autor im Gestus der ‚Arbeit an der Sprache‘ um begriffliche Klarheit bemüht zeigt, vermitteln den Eindruck, als entziehe Jünger den Aussagen seine persönliche Zuschreibung. Sie machen daher deutlich, in welchem Maße der Autor den poetologischen Diskurs um Autor, Autorschaft, Literatur und Text nicht nur selbstreferentiell, sondern auch zur Selbstdistanzierung zu nutzen versteht. Doch bei solchen Begriffsklärungen bleibt Jünger freilich selten stehen. Zu gern überlässt er sich dem Spiel der anschaulichen, oft sogar ‚szenischen‘ Verbildlichung, die häufig als Inbegriff seines Stils bestimmt worden ist. Es gehört auch in Autor und Autorschaft zu Jüngers grundlegenden Schreibverfahren, eigene und fremde Textfragmente, Biographisches und Anekdotisches, in ein textuelles Terrain zu verwandeln, das dann wieder aufs Neue epistemologisch erst erschlossen und kartographiert werden muss. Aufschlussreich hierfür ist das Folgende: Woran also sich halten? Woran erkennt man und inwiefern genügt Literatur? Sie hat ihren eigenen Eros, ihren starken, doch schwer zu beschreibenden Zauber, den fast jeder erfahren hat. Ist die Sprache wirklich, wie Heidegger sie nannte, das „Haus des Seins“, so hat sie nicht nur Heimat, sondern heimatbildende Macht. Auch wer den Indischen Ozean nie durchquerte, fühlt sich mit Baudelaire dort zu Haus. Und wer die Inseln schon mit Augen gesehen hat, spürt doch, daß er sie jetzt erst von Grund auf kennt. Dorthin führte ihn das Gedicht.11

In diesem Verfahren einer veranschaulichenden und zugleich verhüllenden Textstrategie, die von Steffen Martus treffend als „Ästhetik des Beziehungssinns“12 beschrieben worden ist, kommt alles auf den Zusammenhang, die analogische Verknüpfung an. Die Rede von „Literatur“, „Sprache“ und „Gedicht“ erreicht hier kaum eine eigene semantische Qualität, da sie bereits einen integralen Bestandteil von Jüngers Werkästhetik bildet. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich daher zwangläufig auf die längst eingeübten Diagno10 11 12

Jünger: Autor und Autorschaft, S. 50. Ebd., S. 48. Martus: Jünger, S. 82. Vgl. auch Funk, Gerald u. Michael Pauen: „Symbole und Signaturen. Charakteristik und Geschichte des Ähnlichkeitsdenkens“. In: Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne. Hg. v. Gerald Funk, Gerd Mattenklott u. Michael Pauen. Frankfurt a.M. 2001, S. 7–34.

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sen, Denk- und Ordnungsfiguren, die sich aus früheren Beständen des Jüngerschen Werkes in der Wiederholung sortieren und neu formieren. Für den ‚Verwalter von Denkfiguren‘ (Martus), zu dem sich Jünger in diesen späten Texten längst selbst bestellt hat, geraten Fragen nach Autorschaft und Literatur nur noch zum Auslöser reflektierender Rückwendung. Es hat geradezu den Anschein, als ob der Autor im Selbstgespräch das Thema seiner Autorschaft dem eigenen Werk als Frage zur Prüfung vorlegte. Aus dem Gesagten ist somit klar: So umfänglich sich Jüngers Interesse an Autor und Autorschaft im Spätwerk bekunden mag – eine belastbare Selbstauskunft des Autors zu seinem Selbstverständnis, dem Schaffensprozess, zum Literaturbegriff oder zum Werk ist von einem synkretistischen Aussagenfeld so einfach nicht zu erwarten.13 Ernst Jünger hier auf die Spur zu kommen heißt vielmehr, die Logik der idiosynkratischen Verknüpfung zu bestimmen, mit denen er den Autor als Denkfigur in immer wieder neuen Diskursnetzen befestigt. Jüngers „Reflexions- und Rechenschaftsbuch“14 kann eben dazu eine Fülle an Kontexten ausweisen, in denen der Autor Autorschaft für denkbar hält. Eine werkgenealogische Perspektive bleibt bei diesem Vorgehen allerdings notwendig ungeklärt. Erschwerend kommt hinzu, dass Jünger in seiner ‚Manie der Fassungen‘ ja gerade daran gelegen ist, jede Entwicklungstendenz seines Werkes zu kaschieren.15 In diesem Zusammenhang hat Ingo Stöckmann am Begriff des Spätwerks gezeigt, wie konsequent Jünger das Diktum der „Zeitüberwindung“16 in den späten Texten und im Zuge seiner beiden Werkausgaben auch poetologisch umzusetzen versucht hat.17 Aus dieser Problemlage heraus ist es geboten, sich auf die bereits genannten Erzähltexte zurückzubesinnen, von denen immerhin gesagt werden kann, dass sie an einer anschaulichen Weiterentwicklung von Jüngers Autor als Denkfigur gegenüber den essayistischen Texten großen Anteil haben. Denn sie sind es, die der Forderung nach einer ‚literarischen Konkretisierung‘ entgegen kommen, die Jünger für die Klärung seiner Gedankengebäude selbst zuweilen einfordert: „Wörter wie ‚Umwelt‘ und ‚Menschenrechte‘ verwischen die Grenzen; sie müssen sich, zunächst in der Dichtung, konkret darstellen.“18 Und noch mehr: Jünger hat insbesondere 13

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Für eine Ausdeutung von Autor und Autorschaft als ‚Manifest‘ vgl. Kleinschmidt, Sebastian u. Ulrich Schacht: „Autorschaft“. In: Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht. Hg. v. Alexander Pschera. Berlin 2008, S. 184–220; zur Autorschaft als ‚dichterische Erfahrung‘ vgl. Figal, Günter: „Flugträume und höhere Trigonometrie. Ernst Jüngers Schreiben als Autorschaft“. In: Musik & Ästhetik 3 (1999), H. 11, S. 70–79. Figal, Günter: „Morphologie der Beschleunigung. Jünger und Goethe“. In: Verwandtschaften. Hg. v. Günter Figal u. Georg Knapp. Tübingen 2003, S. 11–20, hier S. 14. Die Motivation für diese beständigen Umschriften ist unterschiedlich bestimmt worden, etwa als Perfektionismus oder Opportunismus. Vgl. Martus: Jünger, S. 237. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 23. Vgl. den Beitrag von Ingo Stöckmann in diesem Band. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 101.

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in den Nachkriegsjahren seinen ‚erzählenden Schriften‘ erkennbar den Status von Experimenten beigemessen, die zwar keine Lösungen liefern sollen, dafür aber ein Problem – im Sinne der oben erläuterten Ähnlichkeitsästhetik – exakt zu ‚analysieren‘ vermögen, indem sie es figurativ umsetzen. Jünger unterstreicht diese Eigenschaft gern mit der Metapher vom ‚Figurenspiel‘: „Ein Problem gründlich durchzuspielen ist wichtiger, als diese oder jene Lösung anzubieten: das war eine gute Partie, wer auch immer sie gewann.“19 Da Jünger zudem davon spricht, dass man im Erzähltext „in den Personen [...] verschiedene[ ] Möglichkeiten facettieren kann“,20 dürfte sich gerade über die literarische Autorfigur ermessen lassen, inwiefern sie für ein Konzept von Autorschaft und Literatur einstehen kann, das auch für Jüngers Ästhetik insgesamt eine poetologische Belastbarkeit beanspruchen darf. Aus diesen Überlegungen, die Jüngers ästhetische Verfahren stets vor einer pauschalen Zurechnungsfähigkeit der Autorfigur – etwa als alter ego des empirischen Autors21 – bedenken, ergibt sich für das Folgende eine kombinatorische Vorgehensweise. Zuerst dürfte es gewinnbringend sein, in Autor und Autorschaft Jüngers Rede vom Autor auf ihre Logik und ihren weiten Aktionsradius hin zu befragen. Dabei fallen meist nur diejenigen Aussagen in den Blick, die den Autor in seinen erwünschten Charakterzügen entwerfen (1.). Anschließend soll sich an den Auftritten von Autorfiguren in Erzähltexten klären lassen, auf welche Weise sich deren Autorschaft in den Textwelten manifestiert und ob der Sinn der literarischen Autorschaft gedeckt ist (2.). Die Gläsernen Bienen verdienen, wie bereits angedeutet, in diesem Kontext erhöhte Aufmerksamkeit, nicht zuletzt auf Grund Jüngers Experimentierfreude (3.). Die an diesem Text plastisch zu machenden Befunde deuten schließlich auf eine Verschiebung von Jüngers Interesse an der Autorschaft hin, die den Blick auf Autor und Autorschaft und die dort zu greifende ‚Fassungspoetik‘ zurückwendet (4.). Wenn der Dichter für Jünger „die währende Ordnung [bestätigt], indem er aus dem Ungesonderten in die Gegenwart wirkt“ und von ihm „nicht […] neue Worte, sondern neue Fassungen verlangt“ werden,22 interessiert der Autor längst nicht mehr als Figur, 19

20 21

22

Ebd., S. 58. Ulrich Prill weist auf Jüngers Privatdruck Mantrana von 1959 hin, der eine „Einladung zum Spiel“ darstellt und Autor und Leser an einem gemeinsamen Text arbeiten lässt. Prill, Ulrich: „Mir ward alles Spiel“. Ernst Jünger als homo ludens. Würzburg 2002, S. 20. Jünger, Ernst u. Margret Boveri: Briefwechsel aus den Jahren 1946 bis 1973. Hg. v. Roland Berbig, Tobias Bock u. Walter Kühn. Berlin 2008, S. 55, vgl. auch das Vorwort. Seit Jüngers Roman Auf den Marmorklippen sind solche Rückschlüsse aus nachvollziehbaren Gründen zu erwägen. Jünger hat demgegenüber immer auf der ästhetischen Eigenständigkeit beharrt, wie in diesem späten Kommentar: „Eine Romanfigur wirkt um so natürlicher, je weniger man den Autor hinter ihr entdeckt. Andererseits darf ihre Sprache nicht plattweg kopiert werden. Es ist ihr also eine zweite Natur zu verleihen. Diese ist zugleich tiefer und allgemeiner – daher bewegt sich der Autor nicht nur in einer, sondern in vielen Personen glaubwürdig.“ (Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 370). Jünger: Autor und Autorschaft, S. 42, S. 112.

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sondern steht nur noch als Chiffre ein für das Textverfahren der Verdichtung, an dem sich für Jünger letzte Reflexionspotentiale von Autorschaft nachweisen lassen (5.).

1. Der Autor als Figur Seine Gestalt gewinnt der Autor, wie ihn Ernst Jünger in Autor und Autorschaft versteht, immer zuerst durch scharfe Abgrenzung von einer äußeren Umwelt. Bevor die Rede sein kann davon, was der Autor als Schaffender etwa hervorbringt, leistet er schon Widerstand und stemmt sich gegen den „Fortschritt der Verzifferung“ in einem ‚widrigen‘ Zeitalter.23 Mit großer Emphase spricht Jünger von einer alles Weitere bestimmenden Differenz zweier ‚Welten‘ und meint das in einem denkbar umfassenden Sinne. Denn nicht nur der Autor, sondern jeder Mensch stehe „am Scheidewege“ und habe sich zu entscheiden zwischen der „Welt der Spiele“ und ihrem Gegenstück, der Welt der „mechanischen, amusischen Technizität und ihrer Wertungen“.24 „Evident“ sei hier die Gefahr für den Autor, „im Getriebe der ökonomischen Welt zermalmt zu werden“, denn die Technik, so an anderer Stelle, „ist durchaus offensiv und gefräßig, ein Produkt rein auf den Zweck beschränkten Denkens am Gegenpol der musischen Welt, Feind des Gedichts und der Meditation.“25 Bereits an diesen markanten Sätzen lässt sich vorgreifend festhalten, welches Geneseprinzip den Aussagen zum Autor zu Grunde liegt. Die ihr wesenhaft zukommenden Charakteristika entfallen auf die Autorfigur erst in der Auseinandersetzung mit einer äußeren, bedrohlich einwirkenden Sphäre – und diese lässt sich zeitdiagnostisch flexibel ausgestalten. So erweist sich an der einfachen Opposition zwischen einer Umwelt und der sich dazu verhaltenden Figur einmal mehr Jüngers ‚dialektische Denkweise‘. Wichtiger aber ist, dass dieses für Jünger typische Ordnungsverfahren hier nicht nur eine Fülle an inhaltlich disparaten Aphorismen erzeugt, sondern die so (wiederholt) ‚aufgefundenen‘ Elemente und Schlagworte (‚Technik‘, ‚ökonomische Welt‘, ‚zweckrationales Denken‘ einerseits, ‚Gedicht‘, ‚Meditation‘, ‚Welt der Spiele‘, ‚musische Welt‘ andererseits) gleichzeitig in einen analogischen Verweisungszusammenhang bringt. Auf diese Weise ‚durchstreift‘ der Autor in Autor und Autorschaft buchstäblich all diejenigen Diskursfelder, auf denen Ernst Jünger sein Erscheinen für gegeben hält und er als Figur einen ‚Posten‘ beziehen soll. Der Autor bekommt seine paradigmatischen Rückzugsorte, Handlungsweisen und Sprechrollen zugewiesen; seine intellektuellen Fähigkeiten bilden ebenso Teil der Überlegungen wie 23 24 25

Ebd., S. 18. Ebd., S. 11, S. 18. Ebd., S. 11, S. 193.

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die Gefahren seiner Autorschaft. Jüngers dekretierender Ton und die ironisch sich bald selbst zurücknehmende Adressierung des Lesers26 legen es fast nahe, von einem ‚Handorakel der Autorschaft‘ zu sprechen, das in unübersichtlicher Lage Ratschläge erteilt. So kann hier noch einmal deutlich gemacht werden, in welchem Maße der Autor Ernst Jünger hinter diesem Textmodell27 zurücktreten und sich explizit einer „pädagogische[n] Wirkung“28 verweigern kann, die in Jüngers Verständnis wohl darin bestünde, dem Leser die eigene Biographie als exemplum einer ‚gelebten Autorschaft‘ lehrreich anzudienen. Drei besonders intensiv behandelte Diskursfelder, auf denen der Autor erscheint, sind im Folgenden auch mit Blick auf die anschließenden Textlektüren kurz zu eröffnen. In der Tat ist erstens an der Differenz der ‚Welten‘ schon offensichtlich, dass Jüngers Diagnosen zur ‚Frage nach der Technik‘, wie sie in den Nachkriegsjahren diskutiert wird, in Autor und Autorschaft eingehen und zu einem Bedrohungsszenario für den Autor oder ‚musischen Menschen‘ zusammentreten.29 Der Gefährlichkeit dieser ‚Lage‘ – oft erhält sie apokalyptische Züge – entsprechen die teils ins Übermenschliche verzeichneten Fähigkeiten des Autors, den Jünger bald in jedem Kontext zum poeta vates und zur „zentrale[n] Figur“ eines ‚geistigen Widerstands‘ stilisiert.30 Schließlich könne nur der Dichter, und diese Passage steht ein für viele, den „Untergang in seiner vollen Dimension ins Auge“ fassen, woraus sich die Aufgabe der „Überwindung der Todesfurcht“ ergebe.31 Nicht zuletzt ist es die Sammlung selbst, folgt man einer Notiz Jüngers aus dem letzte Kriegstagebuch Jahre der Okkupation, die gegen eine „Bedrohung, die am Ende unseres Jahrtausends ungeheuerlich geworden ist“,32 aufgeboten werden soll. „Es wäre ein lohnendes Unterfangen“, schreibt Jünger am 14. August 1945, wenn jemand, vielleicht in Form einer Zitatensammlung, einer historischen Übersicht der geistigen Abgrenzungen und Aktionen des musischen Menschen gegen den 26 27

28 29

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Autor und Autorschaft lässt anfangs die Absicht erkennen, die Initiation zur Autorschaft gegenüber einem neu ‚Berufenen‘ chronologisch erklären zu wollen. Vgl. zur Reaktualisierung des Handorakels von Gracián und zur Modernität der ‚kalten persona‘ Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994, S. 60ff. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 11. Zu Jüngers Technik-Verständnis vgl. Friedrich Strack (Hg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000. Die konservative Technikkritik der beiden Brüder Jünger und ihre Rückzugsstrategie untersucht detailliert Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 205ff. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 21. Es hat stellenweise den Anschein, als binde Jünger das dem Diskurs des Arbeiters vormals eingeschriebene Sehertum mit gleicher Intensität zurück an die Autorfigur. Vgl. Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München 2001, S. 75ff. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 140. Ebd., S. 135.

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Techniker sich widmete. […] Man wird dann Türme erblicken wie Leonardo und Goethe, Menschen, die ganz überzeugen, weil das Ganze an ihnen und durch sie überzeugt.33

Zweitens leistet der Autor Jüngers seinen eigentlichen Widerstand auf dem Felde des Politischen, wo er sich nicht weniger umsichtig zu bewegen hat. Waldgänger, Anarch und schließlich Autor – erfahrene Jünger-Leser sind über die solitäre ‚Lage‘ all dieser Figuren bereits bestens orientiert.34 Und so schreibt Jünger die Strategien des politischen Widerstands, wie sie im Waldgang von 1951 im Kampf gegen Massendemokratie, Komfort und Statistik formuliert sind, auch dem Autor ins Brevier. Das „Verhältnis zur Macht“ wird dann zu einer „Lebensfrage [auch] für den schaffenden Geist“;35 er sei „revolutionär, reaktionär oder indifferent“ – an seiner Abtrünnigkeit gegenüber „seiner Zeit“ werde er „erkannt und darum verfolgt, selbst wenn er sich mit den Sternen oder den Protozoen beschäftigte.“36 „Der Dichter ist der Waldgänger“, so Jünger im Waldgang, denn „Autorschaft ist nur ein Name für Unabhängigkeit.“37 Trotz all dieser Drangsale darf eine geheime Überlegenheit nicht fehlen: „Der Autor ist souverän. Die Politik kann in seine Biographie und in sein System passen – nie aber er in das ihrige.“38 „Biographie“ und „System“ deuten allerdings eine wichtige Akzentverschiebung an. Auf dem Feld des Politischen stattet Jünger den Autor mit weit individuelleren Zügen aus, als es die typologisch gebrauchte Differenz von ‚musischer Mensch‘ und ‚Techniker‘ erlaubte. Jeder Autor hat seine Aufgabe oder ‚Berufung‘; er bleibt stets an einen persönlichen „Eid“ gebunden und habe, wie Jünger sich ausdrückt, „[v]or jedem Dienst […] zu prüfen, ob er der Berufung entspricht.“39 Das begründet nicht nur die solitäre und asketische Lebensweise des Autors. Jünger wird zudem nicht müde zu betonen, dass der Autor keinen gesellschaftlichen ‚Stand‘ vertrete und sich ins Soziale nur noch zum „Studium der Charaktere und der comédie humaine“ begebe.40 Denn letztlich sind es überlegene Urteilskraft und eine scharfe Beobachtungsgabe, die jede Erfahrung als Ertrag verbucht und den Autor aus jeder prekären ‚Lage‘ souverän hervorgehen lassen: „Krieg, Handel und Piraterie, die Bohème, der Rausch und auch Schlimmeres – es gibt nichts, was [dem musischen Menschen, J.W.] nicht Zins abwürfe und Gewinn brächte.“41 Drittens muss sich die Souveränität des Autors auch auf dem Gebiet der Literatur behaupten, die gleichfalls als Konkurrenzfeld gedacht ist und für 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation. Stuttgart 1958, S. 127. Vgl. Martus: Jünger, S. 234. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 42. Ebd., S. 55f. Jünger, Ernst: Der Waldgang, Frankfurt a.M. 1951, S. 320, S. 307. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 49. Ebd., S. 63, S. 135. Ebd., S. 150. Ebd., S. 103.

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den Autor nur wie eine Verlängerung des politischen Feldes erscheint. Der Fortschritt der ‚Verzifferung‘ macht sich hier als „Verflachung der Sprache“42 bemerkbar und das zu meidende ‚Feindesland‘ bildet hier die literarische Öffentlichkeit. Dem Techniker entspricht der Kritiker, dem der „Eingriff in die Komposition“ eines Autors besonders „von großer Spannweite“43 unter allen Umständen verweigert werden muss. Noch einmal bekräftigt sich vielfach die herausragende Stellung des Autors durch eine Reihe von Inspirationsformeln: „Geist strömt durch den Dichter; der gibt die Form.“44 Hierbei ist allerdings bezeichnend, dass Genaueres über die Texte des Autors nicht zu erfahren ist. Das Werk erscheint nur als Grenzfigur, als autonome „Form“, die der Autor als sein ‚System‘ oder ‚Gesetz‘ zu verteidigen hat. Jünger dazu apodiktisch: „Der Autor hat sein Gesetz, er hat sein Ganzes; die Teile tragen sich durch den Zusammenhang. Wenn man jedem Leser, Betrachter, Beurteiler erlauben würde, einen Abstrich zu machen, fiele alles dahin.“45 Vorläufig ergeben sich aus dieser habituellen Bestandsaufnahme für die Figur des Autors zwei bemerkenswerte Schlussfolgerungen. Zum einen ist die Autorfigur in Autor und Autorschaft offensichtlich so angelegt, dass sie die Dimension literarischer Autorschaft bei Bedarf weit überschreitet und sich einem Begriff von Individualität sui generis annähert. Dies wird deutlich, wenn Jünger davon spricht, dass letztlich jeder Mensch ein Autor sei, denn es kommt ihm in diesem Zusammenhang nur noch auf ein konsistentes und autonomes Prinzip der Lebensführung an, das eine selbst gewählte Form bewahrt, deren inhaltliche Auskleidung allerdings frei bleibt. Jeder muss sich, wie der Autor, „eine Regel setzen – welche auch immer, doch seine eigene. Sie muß ‚ihm auf den Leib geschrieben‘ sein – in der Kleidung, der Nahrung, dem Mobiliar.“46 In diesem weit ausgreifenden Sinn umschreibt Jüngers Rede vom Autor wenig mehr als die conditio humana47 schlechthin – und im Angesicht der Katastrophe kann so der Diskurs zum Rechtfertigungsinstrument geraten, das rückblickend Opfer und Täter beliebig gleichstellt. So erörtert Jünger als „tröstliche[n] Gedanke[n]“ die bedenkliche Frage, ob „im Banne des Leviathans“ und in den „Gaskammern“ die eigene „Personalität“ im „eigenen Tod“ des Autors noch gewahrt bleibt.48 Wenn der Autor aber 42 43 44 45 46 47

48

Ebd., S. 135. Ebd., S. 121. Ebd., S. 31. Ebd., S. 44. Ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 50. In diesem Zusammenhang hat Christian Graf von Krockow argumentiert, dass der nivellierende Kampf gegen die Öffentlichkeit, den der Dezisionismus führt, den Vorgang der „Privatisierung durch den der Existentialisierung“ ersetzt. Krockow, Christian von: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart 1958, S. 88. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 139f.

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derart allgemein für Lebenskonzepte in und nach der Katastrophe einstehen soll, stellt sich zum anderen die Frage nach der literarischen Autorschaft im engeren Sinne von neuem. Und hier ist es bezeichnend, dass Autorschaft zwar die „Äußerung schöpferischer Kraft“49 bedeuten soll, aber der Hervorbringung von Artefakten – welcher Art auch immer – weder Originalität noch Innovation zugesprochen werden kann, da sie ohne Mitteilungsabsicht und ohne Resonanz erfolgt. Autor und Autorschaft behandelt, aus Sicht der Autorfigur gesprochen, weder eine semiotische, noch überhaupt die kommunikative Dimension von Kunst oder Literatur, so dass die poiētischen Anteile des traditionellen Autorbegriffs ohne authentische Objektivierung eines Subjekts bloße Behauptung bleiben müssen.50 Indem Jünger die Einsamkeit des Autors verabsolutiert und Autorschaft als Abgrenzung, Bewahrung geistiger Freiheit und kalkulierte Überlegenheit in allen Kontexten ausbuchstabiert, lassen sich Autorschaft einerseits und die Medialität von Text und Literatur andererseits nicht mehr zusammendenken. Anders formuliert: Jünger forciert über die Autorfigur die Abwehr der „mythenfeindliche[n] Kraft der Apparatur“51 und konzentriert deshalb alle Aufmerksamkeit allein auf die aisthēsis und die epistemologischen Qualitäten des Autors, für den es genügen mag, geistig überlegen zu ‚denken‘, ein (philosophisches) ‚System‘ zu pflegen. Es bleibt ungewiss, ob der Autor je einen eigenen Text oder ein Werk auch materiell hervorzubringen hat.52 Gleichzeitig, doch ohne Zusammenhang, betont Jünger in nahezu allen Aphorismen über das Kunstwerk, dass es „außerhalb der Zeit“53 stehe, seine Medialität aber dennoch, angelehnt an die Metapher einer Schrift der Natur, bewahrt habe, etwa so: „Die Texte sind lesbar wie die Schuppen versteinerter Fische im Wüstensand.“54 Bei dieser festgestellten Gleichzeitigkeit kann man es belassen, in der Frage eines Zusammenhangs aber ebenso auf die Erzähltexte überleiten, wo immerhin zu erwarten ist, dass die Autorfigur und ein ihr zugehöriges Werk thematisch werden.

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Ebd., S. 50. Jünger betont zwar das schöpferische „Vermögen“ des Autors, unterschlägt aber die „Urheberschaft“ als Relationsbegriff zum Kunstwerk. Vgl. Wetzel, Michael: „Autor/Künstler“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart 2000, S. 480–544, hier S. 481ff. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 108. Vgl. Wetzel: Autor/Künstler, S. 484f. Das Übergewicht der aisthēsis über die poiēsis führt im Zuge der historischen Avantgarden dazu, dass der Autor sich vom Schöpfer zum „Organisator ästhetischer Prozesse“ wandelt. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 29. Ebd., S. 85. An dieser Lesbarkeit hat man oft Jüngers Doppelidentität als Dichter und Naturforscher festgemacht. Vgl. Pekar, Thomas: Ernst Jünger und der Orient. Mythos – Lektüre – Reise. Würzburg 1999, S. 130ff.

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2. Mosaik, Modell, System – Jüngers Sammelwerke Zunächst finden sich frühe und zugleich pointierte Auftritte des Autors im Umfeld des Abenteuerlichen Herzens von 1929, wobei man oft aus einem Pascal-Zitat höchste Einsichten in Jüngers Selbstverständnis bezogen hat. In der Essay-Sammlung Blätter und Steine von 1934 beschließt das „schöne Wort von Pascal“ das „Vorwort an den Leser“, in welchem Jünger seine Texte sowohl erklärend als auch ahnungsvoll55 kommentiert: Der ‚Epigrammatische Anhang‘ endlich stellt […] eine Leihgabe dar; er enthält den Keim zu einem selbstständigen Zusammenhang. Inmitten einer Landschaft, die eine Fülle wechselnder und mannigfaltiger Erscheinungen belebt, fühlt man zuweilen das Bedürfnis, zu verfahren wie auf der Jagd, bei der man die Vögel im Fluge herunterschießt. Erst wenn man die Strecke betrachtet, entdeckt man die Gemeinsamkeit der Kennzeichen, die der Fauna dieser Landschaft innewohnt. Ich habe hier aus dieser Beute […] eine Centurie herausgesucht, und gedenke bei größerer Muße das zugrunde liegende Material zu einem Mosaik zu vereinigen. Es gilt für solche Randbemerkungen, und nicht nur für sie, das schöne Wort von Pascal: ‚Jeder Autor hat einen Sinn, in welchem alle entgegengesetzten Stellen sich vertragen, oder er hat überhaupt gar keinen Sinn.‘56

Viel zu selten ist der Kontext bedacht worden, auf den hier alles ankommt. Pascal garantiert für Jünger, man könnte sagen als subscriptio der Szene, „einen Sinn“, einen „selbstständigen Zusammenhang“ – und doch finden die ‚Jagdbeute‘ des Autors und das literarische Werk, das Pascal mit den „entgegengesetzten Stellen“ anspricht, nur in der minimalen Bedeutung einer kausalen Urheberschaft zueinander.57 Jünger gebraucht das Zitat in einem denkbar schwachen Sinne, denn der eigentliche Zusammenhang der Epigramme, so will es die von Jünger gern gebrauchte Allegorie einer sich dem Blick öffnenden Landschaft, ist die „Gemeinsamkeit der Kennzeichen“ eben dieses Terrains, das hier vom Autor nur begangen, dokumentarisch erfasst, und so zu seiner eigenen „Strecke“, seiner Erfahrungsgeschichte wird. Bemerkenswert ist daran zweierlei. Zunächst fehlt bereits hier die poiētische Dimension von Autorschaft, wenn das „zugrund liegende Material“ in einem Akt ‚geistiger Landnahme‘ für ein Werk nur aufgesammelt, statt produziert wird. Der Autor ist nur formbildende und ordnende Instanz; er verleiht 55

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Jünger betrachtet die Textsammlung Blätter und Steine bereits als „eine der Vorarbeiten für die Gesamtausgabe meiner Schriften […], die ich noch unter Dach und Fach zu bringen hoffe, ehe die Entwicklung der Dinge andersartige Ansprüche stellt.“ Jünger, Ernst: „An den Leser“. In: Ders.: Blätter und Steine. Hamburg 1934, S. 7–13, hier S. 7. Ebd., S. 13. Das Zitat findet sich im Abenteuerlichen Herz der 1. Fassung in anderem Zusammenhang, stützt aber die empirisch-kausale Lesart: „Es ist das Bestreben, durch das Gedachte hindurch die Schicht zu erreichen, die das Gehirn denken ließ – das Bestreben, die Gedanken transparent zu sehen.“ Jünger, Ernst: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 75.

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der epigrammatischen Sammlung seine auctoritas im ursprünglichen Sinne des Verleihens von (normativer) Ehrwürdigkeit, indem er die Elemente zu einem „Mosaik“ vereinigt.58 Doch sollte man zweitens gerade im Kontext der in den 1930er Jahren entstandenen Texte zur Kenntnis nehmen, wie deutlich hier das unfehlbare ‚auktoriale Sehen‘ zurückgenommen ist, das im Arbeiter von 1932 das heterogenste „Material“ einer ‚tiefensemantisch‘ verankerten Deutung, etwa der ‚Ankunft der Arbeiters‘, immer schon zuführt.59 Dort schreibt Jünger bezeichnenderweise zum ‚Tod des Individuums‘: „Ein informatorischer Gang durch irgendeines unserer Gesichtsfelder wird das Gesagte bestätigen und mit beliebigem Material versehen.“60 So punktuell diese Beobachtung an dieser Stelle bleiben muss: Von einer Umkehrung der Deutungsbewegung – bei aller Ähnlichkeit der optischen Aneignung – wird man sprechen können, wenn der zu begründete Zusammenhang von der ‚Gestalt‘ des Arbeiter weg in das Innere des individuellen Autors zurückverlegt ist, der über sein „Mosaik“ erst Aufschluss gewinnen will. Für die daraus entstehende ‚geistige Souveränität‘ ist es nicht unerheblich, dass die Autorfigur hier der ersten (epigrammatischen) Sammlung vorangeht, die Jünger zudem in einer Anthologie publiziert hat. Im 1939 erscheinenden Roman Auf den Marmorklippen wird das Sammeln bereits zum Inbegriff des ‚geistigen Widerstands‘ gegen die Bedrohung durch den Oberförster. Sowohl die beiden Hauptfiguren als auch Pater Lampros beschäftigen sich mit der Pflege und Vervollständigung eines Herbariums, das mit Hilfe des „großen Hortus Plantarus Mundi“ streng nach „Meister Linnaeus“ geordnet ist.61 Der Text suggeriert zwischen dieser Tätigkeit, die als Werkpflege des Autors Carl von Linné zu verstehen ist, und einer geheimen politischen Überlegenheit eine gewisse Nähe, da sich Pater Lampros nicht nur über Fundstellen von Pflanzen, sondern auch über die Fortschritte im gewaltsamen Widerstandskampf stets bestens informiert zeigt.62 Nun ist die Bedeutung der Taxonomie Linnés als ein für Jünger grundlegend wichtiges Ordnungssystem, das auch poetologisches Potential in sich trägt, im Zusammenhang mit der Entomologie hervorgehoben worden.63 In den Marmorklippen aber stehen für den Vorrang dieses Prinzips in einem Konflikt erstmals Figuren ein, die sich auf die Lebensregel der asketi58 59

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Vgl. Calboli Montefusca, L.: „Auctoritas A-B“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 1177–1185. Vgl. Stöckmann, Ingo: „Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Publizistik und das abenteuerliche Herz (Erste Fassung)“. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der klassischen Moderne 1900–1933. Hg. von Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 189–220, hier S. 195ff. Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 9–317, hier S. 112. Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen. Hamburg 1939, S. 17, S. 19. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. Martus: Jünger, S. 118ff.

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schen Abgrenzung berufen. Hinzu kommt, dass der Text bei der passiven ‚geistigen Überlegenheit‘ des Linnéschen Systems nicht stehenbleibt, sondern vorführt, wie sich durch seinen Gebrauch auch neue Formen von Autorschaft entwickeln. Der Erzähler und „Bruder Otho“ verwenden ihre Zeit in der „Rauten-Klause“ zunächst darauf, eine botanische Fachpublikation zu erstellen, für die das Herbarium als Belegmaterial nützlich ist. Man widmet sich der „Axen-Stellung“ von Blättern und ein Höhepunkt dieser wissenschaftlichen Beschäftigung ist erreicht, als sie im Garten von Pater Lampros in einem besonders symmetrischen Exemplar, in einem „Mysterium“, eine anschauliche Bestätigung findet.64 Doch damit nicht genug, denn die Figuren wenden ihr systematisches Interesse auch ins Poetische: Auch liebten wir, Gebilde zu erzeugen, die wir Modelle nannten – wir schrieben in leichten Metren drei, vier Sätze auf ein Zettelchen. In ihnen galt es, einen Splitter vom Mosaik der Welt zu fassen, so wie man Steine in Metalle faßt. Auch bei den Modellen waren wir von den Pflanzen ausgegangen und setzten immer wieder daran an. Auf diese Weise beschrieben wir die Dinge und die Verwandlungen, vom Sandkorn bis zur Marmor-Klippe und von der flüchtigen Sekunde bis zur Jahreszeit. Am Abend steckten wir uns diese Zettel zu, und wenn wir sie gelesen hatten, verbrannten wir sie im Kamin.65

Für die „Modelle“ wird mit den „Quisquilien des Wissens“66 gescherzt und das Linnésche System gleich zu einem Beschreibungsinstrument für den Kosmos ausfabuliert. Jeder Mensch, so der Erzähler dazu, fühle „den Trieb, die Schöpfung mit seinem schwachen Geist nachzubilden“67 und Pater Lampros vertritt gar die These, dass „der Menschengeist in jedem Alter die Schöpfung von neuem concepiere“.68 Obwohl diesen „Gebilden“ daher ein kreatives Moment nicht abzusprechen ist, verbleibt Autorschaft hier doch auf der Ebene einer „Theorie […] der Natur-Geschichte“.69 Trotz der „leichten Metren“, in denen sich literarische Ambitionen ankündigen mögen, ist ein beschreibendes Verhältnis zur Welt nicht aufgegeben und von einem Text etwa mit fiktionalem Potential kann nicht die Rede sein. Daraus ergibt sich für die Marmorklippen ein interessanter Befund. Obwohl etwa von der Kunst gesprochen wird, „die Zeit ab[zu]saugen“70 und die Figuren bereits „in Zei64

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Jünger: Auf den Marmorklippen, S. 71f. Vgl. zur Naturphilosophie: Arzt, Thomas: „Naturphilosophisches Denken in den Werken von C. G. Jung und Ernst Jünger“. In: Jung und Jünger. Gemeinsamkeiten und Gegensätzliches in den Werken von Carl Gustav Jung und Ernst Jünger. Hg. v. Thomas Arzt, K. A. Müller u. Maria Hippius. Würzburg 1999, S. 13–36; zur Naturbetrachtung als kontemplative Anschauung: Quarch, Christoph: „Die Natur als inneres Erlebnis“. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Hg. v. Günter Figal. Stuttgart 1995, S. 183–203. Jünger: Auf den Marmorklippen, S. 27. Ebd., S. 18. Ebd., S. 27. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70. Ebd., S. 25.

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ten [leben], in denen der Autor zur Einsamkeit verurteilt ist“,71 ist in der Textwelt kein Literatursystem denkbar, in dem beides aufeinander bezogen werden könnte. Das Programm der ‚Zeitlosigkeit‘ der Kunst und das Konzept von Autorschaft gründen sich derart ausschließlich auf das taxonomische System von Linné, dass sich die Frage nach der medialen und kommunikativen Dimension von Texten, und im weiteren Sinne von Literatur, erübrigt.72 Mit größerer Relevanz aber lässt sich dieselbe Frage wiederholen für Jüngers Roman Heliopolis (1949). Die Figur Ortner betritt die Bühne dezidiert als ein literarischer Autor, der nicht nur ein eigenes ‚Frühwerk‘73, sondern auch, in Jüngers Werk einzigartig, eine Romanpoetik vorzuweisen hat, die im Rahmen eines Künstler-Symposions diskutiert wird. Der Text schildert aus der Sicht des Kommandanten Lucius de Geer den Konflikt zweier Herrschaftsformen in der Stadt Heliopolis, die durch Landvogt und Prokonsul repräsentiert sind, und schließlich, als letzte Apotheose, die Abreise der Hauptfigur in den Weltraum nach einer zweifelhaft geglückten militärischen Operation. Die komplexe Erzählkonstruktion dieses Zukunftsromans kann hier nicht Thema sein; sie erzeugt aber eine Vielzahl von Figuren, die ihre politischen und im weitesten Sinne ‚weltanschaulichen‘ Ansichten in umfänglichen Monologen dem Protagonisten gegenüber illustrieren und so beratend und prüfend auf ihn einwirken. Ortner nimmt unter diesen Nebenfiguren, die oft Gärtnertätigkeit und klösterliche Askese verbinden, als „‚Homer von Heliopolis‘“74 eine Schlüsselrolle ein und gibt dem Roman bekanntlich mit einer Erzählung, die ebenfalls Gegenstand des Symposions ist, ein poetologisches Zentrum.75 Ortners Romanpoetik und das Symposion, eine Versammlung ‚musischer Menschen‘ im Atelier des Malers Halder, aber zeigen außerdem, dass Jünger erstmals daran interessiert ist, der gegenüber den Marmorklippen gesteigerten Bedeutung der Autorfigur eine theoretische Rechtfertigung auch für das Medium der Literatur zu geben. Hierbei ist zu beobachten, dass sich die auctoritas des Autors wieder auf seine Formen überträgt, die aber dann, nach ‚Mosaik‘ und ‚Modell‘, erstmals als eigenständige fiktionale Räume und Herrschaftsgebiete erscheinen: „Der Roman muss autark sein“, führt Ortner aus, so dass „auf ihm der Leser wie auf einer Insel landet und dort 71 72

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Ebd., S. 81. Das zeigt sich noch einmal deutlich am Motiv der Hauptfiguren, ihre Arbeiten drucken zu lassen. Es geht nicht um wissenschaftliche Reputation, sondern um Kontemplation, wenn „sich im Druck das Siegel des Abgeschlossenen und Unveränderlichen verbirgt, an dessen Anblick sich auch der Einsame ergötzt.“ Ebd., S. 81. Vgl. Jünger, Ernst: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt. Tübingen 1949, S. 109. Jünger: Heliopolis, S. 108. „Die Gärtner- und Autorenarbeit ergänzten sich in seinem Tagewerke; sie zogen sich wie Gegengewichte auf.“ Ebd., S. 419. Vgl. Draganović, Julia: Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung in Ernst Jüngers erzählerischem Werk. Würzburg 1998, S. 141ff.

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alles findet, dessen er bedarf. Es ist dies ein Zeichen der Freiheit des Autors, seiner Souveränität. Er führt den Leser als ein großer Herr auf sein Gebiet.“76 Ortner macht allerdings deutlich – und das ist für Jüngers Konzept vom Autor signifikant –, dass diese „Freiheit des Autors“ nicht als souveräne künstlerische Gestaltungsfreiheit zu denken ist. Die Formulierung vom Text als Raum evoziert zwar das Programm einer autonomen, zweckfreien Kunst und suggeriert die referentielle Geschlossenheit des ‚l’art pour l’art‘. Wie das folgende ‚Gleichnis‘ aber zeigt, liegt Jünger daran, die „Freiheit des Autors“ sofort epistemologisch zu überschreiben und damit zu beruhigen, um den Autor auf ein mimetisches Verhältnis zur Welt als Kosmos verpflichten zu können: Zwei Qualitäten bilden den Roman wie ein Gewebe, an dem zwei Fäden spinnen: die eine ruht im Autor und seiner Freiheit, die andere in der Welt und ihrer Notwendigkeit. Ich nenne die erste ‚das Autarke‘, während der Name für die zweite ‚das Universale‘ sei. In diesem Sinne ist der Kosmos Gottes Roman.77

Von dieser, im weitesten Sinne ‚mimetische Verpflichtung‘, die für Ortner jeder Autorschaft auferlegt ist, wird sich Jünger fortan nicht mehr lösen, sie aber facettenreich in zwei Richtungen ausformulieren. Zum einen überantwortet sich die Schaffenskraft des Autors gleich ganz einer transzendenten Sphäre, wie das der Maler Halder im Symposion zum Ausdruck bringt: „Der Weltgeist erteilt den schöpferischen Auftrag, doch hängt der Text vom Zeitgeist ab. Ein Meisterwerk entsteht, wenn Weltgeist und Zeitgeist zur absoluten Deckung kommen, das heißt, wenn Ewiges das Epochale ausfüllt wie dieser Wein das Glas.“78 Literarische Texte lehnen sich daher stets soweit an den Kosmos an, dass sich der „Leser […] zugleich innerhalb und außerhalb der Welt“79 befindet. Zum anderen beschreitet Jünger den umgekehrten Weg. Durch eine Art ‚Überrealismus‘ soll es dem Autor möglich sein, aus einer genauen Beschreibung der Welt und ihrer Gegenstände einen essentialistischen Grund oder Kern zurückzugewinnen, der den „schöpferischen Auftrag“ erkennen lässt und eine Beherrschung ermöglicht. Aus diesen Gründen ist Ortner seitens des Prokonsuls, in dessen Dienst auch die Hauptfigur Lucius de Geer steht, politischen Einflussnahmen ausgesetzt, denn: „Was der Prokonsul von ihm [Ortner] erhoffte, das war die geistige Durchdringung von Heliopolis, doch nicht in Form der realistischen Beschreibung nach Balzacs Art. 76 77

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Jünger: Heliopolis, S. 122. Ebd., S. 121. Hans Krah diskutiert die räumliche Organisation der Heliopolis-Welt treffend an einem Achsenmodell. Ortners Ausführungen würden hier die symbolische Bedeutung der Vertikale übersteigern. Vgl. Krah, Hans: „Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers Heliopolis (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 225–252, hier S. 228ff. Jünger: Heliopolis, S. 114. Ebd., S. 122.

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Er hielt ihn für fähig, ein vorbildliches Modell zu schaffen, das wie ein wirklicherer Kern in dem historischen Objekt enthalten war, und der es steuerte.“80 Wie auch immer man sich diesen ‚Überrealismus‘ vorzustellen hat:81 Die Zitate verdeutlichen, dass die ‚geistige Souveränität‘ des Autors hier stets auf eine zweite, ihm übergeordnete Autorschaft zurückzubeziehen ist. Und so souverän sich der Autor etwa gegenüber seiner Umwelt geben mag – er bringt stets eine Form hervor, in der sich (auch) die ‚geistige Macht‘ eines anderen, hier eines Schöpfers, auffinden lässt. Abschließend zeigt dies nochmals eine von Jüngers ‚landschaftlich‘ entfalteten Allegorien, die nicht zufällig den Garten als Schauplatz wählt, um diese doppelte und paradoxe Inanspruchnahme von Autorschaft zu illustrieren: Biographien. Der Text ist zunächst allen zugänglich wie ein fürstlicher Garten, der weit geöffnet ist. Freilich sind darin Bäume, Pflanzen und mythische Figuren, deren Namen nur dem Gebildeten bekannt sind, doch deren Formen auch den Einfachsten erfreuen. Sodann sind da Rondelle, Laubengänge, Galerien, mit denen ein kleiner Kreis Erinnerungen verknüpft an Festlichkeiten, deren Lichter erloschen und deren Harmonien verklungen sind. Und wiederum gibt es zwei oder drei, denen Andeutungen und Bilder der innersten Gemächer verständlich sind. Vielleicht hat auch der Autor zum eigensten Gedächtnis sich Runen eingeschnitten, denen auf wunderliche Weise im lebendigen Stoff Bedeutung zuwächst, die kein anderer kennt. Darin liegt Ironie und Vorbehalt des Eigentums, der jedoch den Wert für andere nicht mindert, sondern noch erhöht. Endlich gibt es in diesem Garten den Flor mantischer Sätze, die erst die Zeit entfaltet und mit Tatsachen belegt. Ihre Bedeutung war dem Autor selbst verborgen; sie weisen nach, daß er am Wurzelhalse war. Sie finden sich in jedem guten Buch, bezeugen sein Leben, geben ihm Dauer in der Zeit.82

Wie in einer Quintessenz verbinden sich in diesem ‚Textraum‘ die bisher erörterten Befunde und zeigen eindrücklich, welchen Gewinn an Komplexität 80

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Ebd., S. 109. Wie die Anlehnung an Kants Antinomie von ‚Freiheit und Notwendigkeit‘ bei Ortner anzeigt, diskutiert Jünger im Symposion von Heliopolis literarische Programme (Idealismus/Realismus, Naturalismus) ohne die Voraussetzung eines literarischen Systems. Es geht nicht um literarische Bezugnahmen auf eine empirische Welt, sondern um Epistemologien, die, wie das Modell für den Prokonsul, handlungswirksam werden und in ihren Folgen im Roman thematisiert sind. Naturalismus und Nihilismus etwa sind identisch. Vgl. auch Hohendahl, Peter Uwe: „Erzwungene Synthese. Ernst Jüngers Roman Heliopolis als poetisch-theologisches Projekt“. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl u. Erhard H. Schütz. Essen 2009, S. 35–53, hier S. 37f. Martus: Jünger, S. 209 sieht Anspielungen auf Schlegels ‚Universalpoesie‘. Jünger: Jahre der Okkupation, S. 75. Das letzte der Kriegstagebücher umfasst die Zeit vom 11. April 1945 bis zum 2. Dezember 1948 und wird erst zehn Jahre nach Abschluss veröffentlicht. In der Einleitung benennt Jünger sowohl die Bedrohungslage als auch Rückzugsorte: „Wenn der äußere Druck wächst und die schlimmen Botschaften sich häufen, wenn die Wahrnehmung des Unheils sich in den Nächten zum Albdruck verstärkt, sucht und findet der Geist seine Zuflucht nicht nur im Vergangenen, in dem, was die Väter an Gedachtem und Geformtem hinterließen, sondern auch in der Einsamkeit der Wälder, in den Frucht- und Blumengärten, den Bibliotheken, den Traumwelten.“ Ebd., S. 8.

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diese Art der anschaulichen Reflexion von Autorschaft mit sich bringt.83 Während sich in der Architektur des Gartens die souveräne ‚Komposition‘ des Autors dokumentiert, erweitert sich dieser Raum doch zugleich zum Medium der Lektüre, aus der dem Leser in den „mantische[n] Sätzen“ neue Zeichen höherer Autorschaft buchstäblich ‚erwachsen‘. Gleichzeitig wird damit der Leser für Jünger zu einem Autor zweiter Ordnung, der die in der Landschaft des ‚Textraums‘ aufgefundenen Elemente wieder zu seinem ‚Mosaik‘ oder ‚System‘ mit neuer Autorität anordnen kann. Denkt man dieses Modell etwa im Sinne der literarischen Autorschaft zu Ende, ist der Verfasser eines Romans ebenso Autor wie sein Leser, der sich die ihm zusagenden Stellen reflektierend notiert und zu einem neuen Ensemble vereinigt. Damit ist klar, dass es Jünger dabei nicht eigentlich um die Mitteilungsabsicht des Autors, um einen hermeneutisch zu rekonstruierenden Sinn oder eine Autorintention geht. Sobald der Text sich zur Landschaft öffnet, wie er bei Jünger seit Blätter und Steine öfters als Insel oder Garten allegorisch vorgestellt wird, mag er zwar die Funktion einer Begegnungsstätte zwischen Autor und Leser gewinnen. Gleichzeitig aber steht er offen für eine nicht abschließbare Kaskade von Relektüren, wenn die Deutungshoheit – freilich rhetorisch verbrämt in der Hochschätzung des Autors – auf den jeweils nächsten Leser als Autor zweiter Ordnung übergeht. Unter diesen Voraussetzungen lohnt es sich, zu den Gläsernen Bienen überzugehen, wo Jünger die Begegnung zweier Autoren noch einmal zum Zentrum eines Textes gemacht hat.

3. ‚Geistige Macht‘ in den Gläsernen Bienen Die Gläsernen Bienen von 1957, in einer zweiten Fassung 1960 um einen Epilog ergänzt,84 haben bisher vor allem im Rahmen des Technikdiskurses Beachtung gefunden, der in den Nachkriegsjahrzehnten (auch) bei den Brüdern Friedrich Georg und Ernst Jünger präsent ist.85 Der Text steht deutlich in 83

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Gegenüber Margret Boveri, die in den ersten Nachkriegsjahren zum engeren Jünger-Kreis gehört hat, beschreibt Jünger seine Arbeit am Roman Heliopolis wie folgt: „[A]ugenblicklich [ergehe] ich mich täglich in der Landschaft eines umfangreichen Romans […], den ich vor Jahresfrist begann. Es scheint mir überhaupt, daß ich mich erst jetzt in meine Autorschaft einlebe. Vielleicht muß man heute eine lange Reihe von Experimenten machen.“ Ernst Jünger an Margret Boveri, Brief vom 27. Januar 1948. In: Jünger u. Boveri: Briefwechsel, S. 68f. Über die Unterschiede der Fassungen informiert Böhme, Ulrich: Fassungen bei Ernst Jünger. Meisenheim am Glan 1972, S. 93ff. In zweiter Auflage erreichen die Gläsernen Bienen eine beachtliche Auflage von 40.000 Exemplaren. Vgl. Segeberg, Harro: „Ernst Jüngers Gläserne Bienen als Frage nach der Technik“. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Hg. v. Friedrich Strack. Würzburg 2000, S. 211–224; Mottel, Helmut: „Technische Paradiese – Zur poetologischen Funktion der Metaphorisierung technischer Perfektion im Werk Ernst Jüngers“. In: Ebd., S. 225–242; Martus: Jünger, S. 220ff.; Bühler, Benjamin: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger. Würzburg 2004, S. 267ff.; Meyer, Martin: Ernst Jünger. München

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der Nachfolge von Heliopolis und hat somit Teil an einer von Jünger dort aufgeworfenen Frage, ob „[i]m Verhältnis zur Technik […] eine dritte, vom Fortschritt unabhängige Haltung“ in einer Synthese von „romantischen“ (oder vortechnischen) und utopischen Formen möglich sei.86 Ein solches Frageinteresse wird schon an der Figurenzeichnung der beiden Protagonisten manifest, wenn der ausgediente und jetzt erzählende Rittmeister Richard sich mit seinen „fossilen Urteile[n]“ um eine Stelle bei dem rätselhaften Erfinder und Industriellen Giacomo Zapparoni bewirbt, der in seinen technischen Erfindungen die Natur an Logik und Schönheit zu übertreffen sucht.87 Zu seinen Produkten gehören nicht nur perfekte Androiden, die in Filmen die Schauspielkunst ‚revolutionieren‘, sondern auch die titelgebenden gläsernen Bienen, die dem Rittmeister anlässlich eines Einstellungstests in einem Garten vorgeführt werden und ihre natürlichen Vorbilder an Effizienz weit übertreffen. Die anfängliche Faszination des Erzählers schlägt allerdings um in Ablehnung. An des Rittmeisters Reflexionen über den „kosmischen Plan“88 der Natur und an der Einsicht in die Gefährlichkeit ihrer technischen Überschreitung im Atomzeitalter scheint der Text in Bezug auf die Frage nach der Technik immerhin deutlich zu machen, dass, wie es heißt, „[m]enschliche Vollkommenheit und technische Perfektion […] nicht zu vereinbaren“ sind und am „Technischen viel Illusion“ sei.89 Eine Rezension von Henri Plard hat freilich schon früh auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass Jünger hier die Begegnung zweier Figuren betont, welche „geistig die Klingen [kreuzen]“.90 Mit nirgends sonst bei Jünger erreichter Konsequenz umfasst das Erzählprogramm nicht nur die Biographien der ausführlich beschriebenen Charaktere; es motiviert sogar den digressiven Stil des Textes und den „äußerst selbstreflexiven Ich-Erzähler[ ]“,91 der sich selbst und das Publikum, dem die Geschichte in der Logik des Textes vorgetragen wird, auf das Treffen mit Zapparoni vorbereitet. Die rituelle Form der Prüfung weist Gläserne Bienen bereits als Gedankenexperiment aus, in dessen Zentrum das Problem der ‚geistigen Macht‘ vermutet werden muss,92 das zum Inbegriff des Autorkonzepts von Jünger ge-

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1993, S. 450ff.; Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2009, S. 614ff.; Schröter, Olaf: ‚Es ist am Technischen viel Illusion‘. Die Technik im Werk Ernst Jüngers. Berlin 1993. Jünger: Jahre der Okkupation, S. 263; vgl. die dort notierte ‚Disposition‘ zu Heliopolis. Jünger, Ernst: Gläserne Bienen. Stuttgart 1957, S. 25, vgl. S. 38. Ebd., S. 121. Vgl. Koslowski, Peter: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991, S. 122ff. Vgl. Plard, Henri: „Ernst Jüngers Antwort auf die Krise der Gegenwart“. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 13 (1958), S. 1141–1147, S. 1279–1286, hier S. 1145. Segeberg: Gläserne Bienen, S. 222 spricht ebenfalls vom „singuläre[n] Zeugnis einer Textkonstruktion“, ebd., S. 223. Das zeigen im Übrigen auch Nebenfiguren wie General Fillmor, aus dessen Biographie nicht zufällig der erste Teil der Prüfung durch Zapparoni entnommen ist.

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hört. Nach den paradigmatischen Qualitäten der Autorfigur hat man denn im Text auch nicht lange zu suchen: Der Industrielle Zapparoni verbindet die souveräne, ökonomische und politische Abgrenzung seiner ‚Werke‘ mit privater Askese in einem Refektorium, das ihm als Residenz dient und dem ein Garten angegliedert ist.93 Auf Grund seines künstlerischen Engagements für den Film wird er als „Erzähler“ bezeichnet, der mit seinen Illusionen den „Raum verwandeln“ könne und „Romane [schafft], die man nicht nur lesen, hören und sehen konnte, sondern in die man eintrat, wie man in einen Garten tritt.“94 Seiner perfektionistischen Attitüde folgend reizt es Zapparoni auch in der Kunst, das „menschliche Maß zu erweitern“.95 Die künstlichen Schauspieler sind mit „überwirklicher Genauigkeit“ hergestellt und versetzen das fast willenlose Publikum in „chronische Begeisterung“.96 Eine gänzlich gegenteilige Wirkung bringt dagegen der Rittmeister als Autor seines Vortrags hervor, wenn er „der Langeweile eine neue Ausdehnung verleiht.“97 Obwohl diese Autorschaft erst im Epilog der zweiten Fassung deutlich sichtbar wird, präsentiert sich der Rittmeister auch während seines Vortrags als historisch interessierter Zeitzeuge, der nicht nur „einen guten Platz bei den Ereignissen gehabt“98 hat, sondern seine Lage sogar zu deuten und mit einer selbst erdachten Theorie (‚Vor Actium‘)99 zu belegen versucht. Richtet man nun die Aufmerksamkeit auf die Begegnung dieser zwei Autoren – freilich ist Jüngers Verständnis hierbei mitzubedenken –, trägt das der auffallenden Komplexität der Figuren Rechnung, an der Jünger hier viel gelegen ist und die sich über den Technikdiskurs nicht erschließt. Wie der Rittmeister selbst eingesteht, führt ihn nicht (nur) die Stellensuche, sondern die Neugier auf höhere metaphysische Einsichten zu Zapparoni; er er-

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Zapparonis Werke haben Züge eines totalitären Staates, der Polizeiakten über die Mitarbeiter führen lässt. Das Prinzip der Abgrenzung ist über den „geschlossenen Wirtschaftskreislauf“ (Jünger: Gläserne Bienen, S. 128) umgesetzt, das den Erfolg der Produkte Zapparonis ausmacht. In der Öffentlichkeit ist Zapparoni durch einen Schauspieler vertreten. Ebd., S. 38. Ebd., S. 167. Ebd., S. 169, S. 39. Die kollektive Autorschaft in den Zapparoni-Werken wird vom Rittmeister problematisiert (vgl. ebd., S. 15) und führt in der Episode der abgeschnittenen Ohren bekanntlich zu einem versöhnlichen Ende der Geschichte. Die ‚geistige Macht‘ des Autors aber ist davon nicht betroffen. Jünger, Ernst: Gläserne Bienen [2. Fassung]. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 421–559, hier S. 556. Ebd., S. 557. Jünger: Gläserne Bienen, S. 73. Symbolisch ist der Rittmeister damit mit dem poeta vates assoziiert, vgl. Mottel, Helmut: „‚Vor Actium‘. Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur nach 1918“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 289–319.

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hofft sich „ein Wort über unsere Welt und ihren Sinn aus dem Munde eines ihrer Auguren“:100 Uns alle beschäftigt ja brennend der Gedanke, ob es nicht doch noch eine Hoffnung gibt. Ein großer Physiker ist immer zugleich Metaphysiker. Er hat eine höhere Vorstellung von seinem Wissen, von seiner Aufgabe. Ich hätte gern einen Blick in die Lagekarte getan. Das wäre mir sogar wertvoller gewesen als die Erfüllung des Anliegens, mit dem ich gekommen war.101

Zu einem zwanglosen Gespräch auf Augenhöhe kann es mit dem Industriellen aber nicht kommen, der sich in seinen Privatgemächern als Kunstsammler und homme des lettres geriert und seine ‚geistige Macht‘ in der Prüfung des Rittmeisters veranschaulicht.102 Hier gehört es zur Grundkonstellation des Textes, dass alle wesentlichen Intentionen des „Heilige[n], der die Erde bedroht“,103 völlig ungeklärt bleiben – darunter seine ‚Berufung‘, aber auch die Funktion der Stelle, die für den Rittmeister vorgesehen ist.104 Stattdessen führt Jünger Zapparonis Autorschaft auf dem Felde der Technik vor Augen, die der Rittmeister, selbst ein ausgedienter Techniker, zu lesen versteht. Es geht in den Gläsernen Bienen daher nicht, wie es Autor und Autorschaft zunächst erwarten lassen würde, um eine direkte Frontstellung des ‚musischen Menschen‘ gegen die Technik, sondern vielmehr um die experimentelle Frage, ob sich Technik und Autorschaft in einer Synthese ergänzen können. Folgerichtig ist der zweite Teil der Prüfung einmal mehr als ‚Lektüreszene‘ angelegt, in die Jünger die Allegorie vom ‚Textraum‘ als Garten gleichsam überschrieben hat. Die Lektüre eines anderen Autors hat Jünger in Autor und Autorschaft einmal wie folgt beschrieben: „Mein Urteil soll sich nicht darauf gründen, daß ein Autor anders denkt als ich – sondern darauf, ob er überhaupt denkt, und vielleicht sogar besser als ich. Ich muß ihn in sein System rücken. Dieses allerdings kann ich ablehnen. Wiederum schließt das die Hochachtung nicht aus.“105 Genau in diesem Sinne betritt der Rittmeister den Garten als Zeichenraum und zeigt sich von den gläsernen Bienen zunächst fasziniert – sie 100 101 102

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Jünger: Gläserne Bienen, S. 89. Ebd., S. 88. Die Janusköpfigkeit Zapparonis setzt sich bis in die Schauplätze hinein fort, da die Zeit in der Bibliothek und im Garten unterschiedlich schnell verläuft (vgl. ebd., S. 105f.). An der Einrichtung lobt der Rittmeister einen „untrügliche[n] Geschmack“ und vermerkt eine besondere „Harmonie […], die nur ein inneres Bedürfnis, nur die Gediegenheit des sich Behausenden erzeugt.“ (ebd., S. 48f.). Ebd., S. 78. Der Erzähler spekuliert über Zapparonis höheren ‚Auftrag‘: „Sah er im Automatenwesen ein großes Experiment, eine Prüfung, die zu bestehen, eine Frage, die zu beantworten war? Ich hielt ihn theoretischer, ja theologischer Betrachtung für fähig […]“ (ebd., S. 89). Seine epistemologischen Qualitäten, und das ist charakteristisch, sind in einem Schopenhauerschen Sinne transzendent: „Sein Auge hatte vorweltliche Einschlüsse. Erkannte es den zeitlosen Einschluß in einer neuen Weltminute, im Trug der Maja mit seiner unendlichen Fülle von Bildern, die wie die Wassertropfen eines Springbrunnens in das Becken zurückfallen?“ (ebd., S. 88). Jünger: Autor und Autorschaft, S. 127.

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sind ein „Schauspiel“ der Technik, das der Erzähler als (s)eine „Anerkennung unter Eingeweihten“ würdigt, denn hier triumphiere „Geist von unserem Geist“.106 Bewundert wird an den „Systemen“ der Bienen die „in hoher Ordnung konzentrierte Macht“ des Autors, denn hier sei „ein neuer Gedanke nicht nur in seinen Konsequenzen begriffen, sondern zugleich auf breiter Fläche und in den Einzelheiten ausgeführt“.107 In dieser Figur des Giacomo Zapparoni hat Jünger wohl die mächtigste seiner Autorfiguren vorgestellt, obwohl es, wie bereits angedeutet, nicht bei der anfänglichen Faszination des Rittmeisters bleibt. Tatsächlich endet das ‚Figurenspiel‘ der Autoren in einer doppelten Kritik, die sowohl die Autorschaft Zapparonis als auch die des Rittmeisters diskreditiert, aber erst in ihrer wechselseitigen Bezogenheit und in Verkehrung für Jüngers Konzept vom Autor sinnvoll erscheint. Für Zapparoni sind die Gründe bekanntlich im „Unterschied der schöpferischen Autorität“108 zu suchen und erklären sich, in der Logik der Geschichte gesprochen, aus der generellen ‚nihilistischen‘ Zurückweisung der ‚Automatenwelt‘. Gleichwohl wird Zapparoni eine höchste (wenn auch defiziente, weil imitatorische) ‚schöpferische Autorität‘ zugestanden, deren Rang sich in der Bezeichnung als Weltbaumeister oder ‚Demiurg‘ noch einmal rechtfertigt.109 Der Rittmeister hingegen gilt als Erzähler und Leser von Zapparonis Erfindungen bereits als Autor zweiter Ordnung, wird aber aus dem Epilog heraus von einem Autor dritter Ordnung nochmals ‚geprüft‘. Hier meldet sich ein Zuhörer aus dem „Historischen Seminar“,110 in dem der Vortrag jetzt offenbar gehalten wurde, und verwirft neben der Automatenwelt auch das Ansinnen des Rittmeisters, die Geschichte deuten und als moralisches Lehrstück präsentieren zu wollen: „Wir wissen nicht und dürfen nicht wissen“, so der Text apodiktisch, „was Geschichte in der Substanz, im Absoluten ist, jenseits der Zeit.“111 Nach dieser Absage, und darin scheint der Text seine (vorläufig) letzte Aussage zu finden, wird der Autor auf die Lektüre der Natur verpflichtet, und dies nicht zuletzt unter Berufung auf die Form: Jede Eintragsfliege, jede Herzmuschelschale ist durchgeformter, ist dauerhafter als das große Babylon. Hier sprach der Schöpfer unmittelbar. Jedes große Gemälde, je106 107 108 109

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Jünger: Gläserne Bienen, S. 115. Ebd., S. 119, S. 127. Benjamin Bühler hat die Anwesenheit eines kybernetischen Steuerungswissens in diesem Kontext schlüssig aufgezeigt. Vgl. Bühler: Lebende Körper, S. 267ff. Jünger: Gläserne Bienen, S. 119. Vgl. Ebd., S. 113. Jüngers Rede vom Demiurg ist in den Gläsernen Bienen pejorativ gemeint, bezeugt aber eine generelle Skepsis auch gegenüber der Schöpfung: „Für die Gnostiker war der Demiurg eine Art von Schattengott; er schuf Vergängliches innerhalb der als böse betrachteten Materie. Das sei dahingestellt, doch beschleicht auch den Heutigen das Gefühl, daß an der Schöpfung etwas nicht stimmen kann. Die Kulte geben verschiedene Erklärungen dafür.“ (Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 368). Jünger: Gläserne Bienen [2. Fassung], S. 559. Ebd., S. 558f.

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des gelungene Gedicht ist in sich ausgewogener, perfekter als der verworrene Teppich, zu dem sich das Geschehen eines Jahrhunderts zusammenwebt. Sollen die Väter und ihre Taten wirklich groß erscheinen, so muß die Kunst, muß der Gesang sich ihrer bemächtigen.112

An diesem Ende des ‚Figurenspiels‘ sind gleich mehrere Aspekte hervorzuheben. Zunächst ist erstmals auch die Vermittlungsebene eines Textes in Anspruch genommen, was sich für Jünger in späteren Texten als geschicktes Verfahren bewährt, jeden Autor über die Deutungshoheit des Lesers in Distanz zu setzen oder gar zum Verschwinden zu bringen.113 In diesem Fall werden Zapparoni und dem Rittmeister ihr jeweiliges Beobachtungsregister entzogen, da reine Technik, Politik und Geschichte gegenüber der Zeitlosigkeit der Natur und der wahren ‚Kunst des Gedichts‘ nicht genügen. Für den Autor bekräftigt das die Regeln der Abgrenzung, da sich auf den hier zurückgewiesenen ‚Feldern‘ das Engagement der Autorschaft nicht lohnt. An den Bemerkungen zur Form aber lässt sich ablesen, dass Jünger über ‚Mosaik‘, ‚Modell‘ und ‚System‘ zunehmend an einer ‚geistigen Macht‘ interessiert ist, die sich zu einer perfekten Form zu steigern, oder wie Jünger oft sagt, sich zu ‚verdichten‘ versteht. Das restituiert in gewissem Sinne Zapparonis Perfektionismus, wirft aber ebenso ein letztes Licht auf den Rittmeister. Als Autor ist er in dieser Perspektive nicht wegen seiner im Text benannten ‚defaitistischen Neigungen‘ diskreditiert, sondern weil es ihm nicht gelingt, die eigenen Charakterzüge und den ‚verworrenen Teppich‘ der Geschichte „auf eine knappe Formel“114 zu bringen, da das erst ein Stabschef für ihn leisten muss.115 Ohne eigene Orientierung schließt sich der Erzähler „obskuren Vaterfiguren“116 an, und das mag abschließend seine Sympathien für Zapparoni erklären: „Es ist schön, wenn einer kommt und zu uns sagt: ‚Wir wollen die Partie spielen – ich werde sie ausrichten‘, und wenn wir es ihm zutrauen. […] Es ist 112 113

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Ebd., S. 558. Die Verlagerung der Vermittlungsebene in die Zeitlosigkeit und das Verschwinden von Figuren ist im Rahmen einer ‚postmodernen Ästhetik‘ diskutiert worden, vgl. Renner, Rolf Günter: „Modernität und Postmodernität im erzählenden Spätwerk Jüngers“. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg. München 1995, S. 249–268. Jüngst wurde gezeigt, wie in Eumeswil vier Zeitebenen ineinander verstrickt sind, so dass der „ästhetische Gehalt und die Aussage des Romans“ nur noch an der Unterscheidung von Autor und Figur ablesbar wird, vgl. Hohendahl, Peter Uwe: „Der unsichtbare Autor. Erzählstruktur und Sinngehalt in Ernst Jüngers Roman Eumeswil“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 2, S. 310–336, hier S. 326ff. Jünger: Gläserne Bienen, S. 74; Jüngers Rede von der „Formel“ ist ambivalent. Der Rittmeister erkennt darin ein Merkmal der ‚Verzifferung‘ und die „rücksichtslose Anwendung des Verstandes“ (ebd., S. 87). Noch der Selbstmörder Lorenz, der sein Leben in einer der vielen Episoden des Textes „lächelnd“ mit einem Sprung aus dem Fenster beschließt, hat dem Rittmeister voraus, dass er es in einer letzten Widmung, die bezeichnender Weise nicht mitgeteilt wird, auf eine Sentenz bringt (vgl. ebd., 59ff.). Jünger: Autor und Autorschaft, S. 261. Vgl. dort den Aphorismus zu „Alexandria“, der die aus Gläserne Bienen folgenden Konsequenzen für den Autor ausführt.

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schön, wenn einer, und wäre es auch ein Böser, noch in die Rolle des Vaters eintreten kann.“117

4. Verdichtung von Text und Welt Über einen abschließenden Sinn des Epilogs, der über den Text in Jüngers authentischem Ton das letzte Wort spricht, lässt sich trefflich spekulieren. Im Kontext von Jüngers Wende zum posthistoire, die im Großessay An der Zeitmauer (1959), aber auch an einigen nachfolgenden Texten der 1960er Jahre manifest wird, ist immerhin nachvollziehbar, dass Jünger die ‚Automatenwelt‘ nachträglich um ihre raumzeitliche Verankerung bringt, um zu größeren, planetarischen Diagnosen anzuheben. Das ‚Figurenspiel‘ scheint dabei als Reflexionsmedium von Autorschaft erschöpft zu sein, denn Gläserne Bienen kündigt bereits an, dass sich Jünger zunehmend nur noch für die Formbildungskräfte, nicht aber für die Figur des Autors interessiert, die abzutreten hat. Dazu findet sich in den Grenzgängen von 1965, die wie die Subtilen Jagden (1967) Jüngers naturwissenschaftlichen Interessen gewidmet sind, eine bemerkenswerte Notiz, welche die bisher über den Autor stets mitgedachte biographische Individualität, die ja als Ausgangspunkt des ‚Mosaiks‘ gedacht war, von seiner schöpferischen Leistung zu entkoppeln sucht: „Der Dichter, der Weise, der Priester, die, jeder auf seine Art, das Bild ergänzen wollen, müssen den individuellen Stand verlassen – das ist der Zoll für jede Schöpfung, für jede Zeugung, jede Autorschaft. Daher lebt auch das Kunstwerk länger als sein Modell.“118 Wichtiger als die Ausdeutung dieser Bemerkung ist die Verschiebung des Interesses: Im Zentrum steht nicht mehr die Figur des Autors, ihr Habitus und das Prinzip der Abgrenzung wie in den untersuchten Erzähltexten, sondern zunehmend die Frage, wie sich die Zeitlosigkeit von Kunstwerken über die Autorschaft erklären kann. Jünger konzentriert sich, und das zeigen zunehmend die spätesten Aphorismen in den Nachträgen zu Autor und Autorschaft, nur noch auf die ‚mantischen Sätze‘ oder das ‚kosmische Gespräch‘ der Bienen – beides Zeichen der Autorschaft eines Schöpfers, der in die Transzendenz entrückt ist. An der Reihe Pater Lampros, Ortner und vor allem Zapparoni, den als ‚Demiurg‘ bereits Züge eines (defizienten) Schöpfers auszeichnen, zeigte sich schon im ‚Figurenspiel‘ eine Universalisierung der ‚geistigen Macht‘ des Autors erster Ordnung, dessen Formen ein zweiter Autor und Leser erkennen soll. Im Prinzip funktionalisiert Jünger die von Kant ererbte epistemologische Leitunterscheidung von ‚Wesen und Erscheinung‘ oder ‚Freiheit und Notwendigkeit‘, die im Waldgang 117 118

Jünger: Gläserne Bienen, S. 180. Der letzte Satz des Zitats erscheint nur in der zweiten Fassung (Jünger: Gläserne Bienen [2. Fassung], S. 554). Jünger, Ernst: „Grenzgänge“. In: Sämtliche Werke. Bd. 13. Essays VII. Fassungen II. Stuttgart 1981, S. 175–192, hier S. 179.

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und in der Friedensschrift diagnostisch eingesetzt und in der Poetik Ortners die Weltzugewandtheit des Romans erklärt hatte, jetzt noch einmal gänzlich für das Phänomen der Autorschaft als ‚Fassungspoetik‘. Die Seite der Transzendenz beherrscht dabei die Vorstellung vom ‚Namenlosen‘ oder ‚Ungesonderten‘, die Jünger Schopenhauers Willenskonzeption entleiht.119 Der Übergang von der Transzendenz zur Immanenz kann jetzt (auch) als ‚Gespräch‘ von Autoren konzipiert werden, denn es liegt gerade in der Konsequenz dieser Vorstellung, dass der Richtungssinn wechseln soll. Folgerichtig behauptet Jünger, dass der Dichter „aus dem Ungesonderten in die Gegenwart“ wirke und von ihm „neue Fassungen“ zu verlangen sind, er aber gleichzeitig die „sichtbare Ordnung“120 dadurch bestätigt und an der Form ihren Ursprung abliest: „Ob etwas gelungen ist, scheint auf den ersten Blick leicht zu beurteilen. Es spricht an – selbst in wenigen Takten, Maximen, Einfällen. Schon das Bruchstück einer Seeigelschale verweist auf eine geniale Komposition.“121 Nun kann man Jüngers diskursive Ressourcen für diese metaphysische Verankerung von Autorschaft stets genauer bestimmen – doch es ist klar, dass damit nur ein geistesgeschichtliches Identifikationsbegehren des Autors ausgeschrieben wird, nicht aber die Prinzipien und Verfahren im engeren Sinne benannt werden, nach denen Jünger seine späten Texte organisiert.122 Der Begriff der Verdichtung123 kann hingegen abschließend aufzeigen, dass Jüngers Texte durchaus präzisere Reflexionspotentiale beherbergen, als es die Stilisierung zum poeta vates und Schöpfer aus dem ‚Ungesonderten‘ erwarten ließe. Zunächst ist noch einmal signifikant, dass Jünger über die verdichtete, komprimierte Form alle Ambitionen auf einen anspruchsvollen Literaturbegriff aufgibt, denn es wird zunehmend problematisch, überhaupt noch die zeitliche Ausdehnung von Kunstwerken plausibel zu machen. Hatte Ortners Romanpoetik und Jüngers Vorliebe für Inseln und Gärten noch (biographische) ‚Texträume‘ erzeugt, die der Leser begehen muss, haben in Autor und Autorschaft die „lang ausgesponnene[n] Handlungen“124 eines Romans keinen anderen Zweck, als auf eine momentane, plötzliche 119 120 121 122 123

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Die Philosophie Schopenhauers, auf den sich Jünger im Spätwerk oft beruft, ist in ihrer ästhetischen Umsetzung für das Gesamtwerk noch nicht systematisch erschlossen. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 42, S. 113. Ebd., S. 213. Vgl. Figal: Morphologie. Jüngers zu Sinnbildern neigender Stil wird gelegentlich als Verdichtung bestimmt, seltener ist die „Analogiebildung als ein Verknappungsverfahren“ beschrieben worden (Pekar: Orient, S. 74). Die Verdichtung spielt aber bereits selbst in den Erzähltexten eine Rolle, da zentrale Figuren und Gegenstände über sie charakterisiert sind. Die mächtigste Figur des Regenten Phares in Heliopolis besitzt beispielsweise die Fähigkeit, „kosmische Gluten“ zu verdichten (Jünger: Heliopolis, S. 41, vgl. S. 242, S. 337, S. 397). In den Marmorklippen zeichnet dies den Spiegel Nigromontans aus, durch den die ‚Rettung‘ des Herbariums ins Zeitlose gelingt (Jünger: Auf den Marmorklippen, S. 81). In dem hier entwickelten Kontext soll gezeigt werden, wie Jünger die Verdichtung im Spätwerk für sich poetologisch umsetzt. Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 287.

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Sinnentfaltung im Erlebnis der Lektüre hinzudrängen.125 An diesem punktuellen Akt der ‚Bestätigung‘ des Kosmos durch das Kunstwerk richtet sich so noch einmal ein Dezisionismus der literarischen Wertung auf, wenn das gelungene „Gedicht eines Unbekannten das Gesamtwerk eines Berühmten aufwiegen“ könne.126 Doch die Formbildungskräfte des Autors bleiben nicht auf die Literatur beschränkt. Sobald sie sich an der Natur und im gelungenen Gedicht gezeigt haben, Felder, auf die sich der Autor im solitären Rückzug zu beschränken hatte, wandern sie nach dieser Bestätigung auch wieder ein in das Beobachtungsregister für die Ereignisgeschichte. Am selben Material, an dem sich früher die Ankunft des ‚Arbeiters‘ zugleich ankündigt und bestätigt hatte, interessieren jetzt nur noch die Zeichen höherer Autorschaft: Manches Ereignis von großer Tragweite, etwa die Halsbandaffäre oder der Untergang der „Titanic“, erwecken den Eindruck, als ob eine Kombinationskraft am Werk wäre, die kein Tragöde, kein Romancier erreicht.127

Es ist jetzt ein an der literarischen Form geschulter Blick, der im kontingenten Geschehen wenigstens dort noch kosmische Autorschaft ausweist, wo die Ereignisse in ungewöhnlicher Dichte zusammentreten. Autorschaft steht, mit anderen Worten, überall dort als Chiffre ein, wo die Geschichte sich selbst, zu einem höheren Sinn verdichtet, dem Leser als Kunstwerk darbietet. Jünger teilt das in einer seiner typischen Sentenzen mit, in denen ein universales Beobachtungsspektrum auf die Gewissheit trifft, höchste Einsicht gewonnen zu haben: Das Glücksspiel, die Droge, das Verbrechen, das Gefecht, die Katastrophe haben als unerschöpfliche Themen gemeinsam, daß sie die Handlung komprimieren; die Summe von Jahren wird in Stunden zusammengedrängt. […] Ähnlich wie bei den großen Prozessen der Weltgeschichte […] scheint eine komponierende und illustrierende Kraft am Werke, um nicht zu sagen: am Kunstwerk zu sein.128

Unter solcher Kompressionskraft schmelzen Literatur und Geschichte gleich zu einem gemeinsamen ‚Werk‘ zusammen, das nicht nur eine ungeahnte Bedeutungsfülle in sich birgt, sondern zudem das Versprechen enthält, diesen Inhalt für den ‚Heimat‘ suchenden Leser jederzeit wieder freisetzen zu können. Gemessen an den eigenen Standards, hat Jünger die wohl glücklichste Formulierung schon in den Subtilen Jagden gefunden: „Die Welt wird dichter, 125

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Weitere Belegstellen aus den Subtilen Jagden lassen sich anfügen. Der Fund eines Käfers bedeutet als Lektüre-Erlebnis Wortlosigkeit, Einverständnis und Zeitlosigkeit zugleich. Hierbei leben die affektiven Potentiale der Plötzlichkeitsästhetik aus dem Frühwerk wieder auf, in Jüngers Worten: „Erschrecken, Atemholen, Heiterkeit“. Jünger, Ernst: Subtile Jagden. Stuttgart 1967, S. 303, vgl. S. 101. Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 282. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 127. Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 338f.

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wird Gedicht“.129 Damit ist allerdings deutlich, dass sich in der Verdichtung längst nur noch das eigene Schreibverfahren reflektiert, die Fremdbeobachtung in Selbstbeobachtung umgeschlagen ist. In dem Moment, in welchem Jünger seine epistemologische Überlegenheit an der größten Weltfülle zu demonstrieren glaubt, treten doch umso deutlicher die Kriterien der eigenen Beobachtung aus dem Gegenstand oder dem Gesichtsfeld hervor. Daher lassen sich in Autor und Autorschaft Jüngers Bemerkungen zur Kürze, zum Epigramm, zur Sentenz und zum Aphorismus, der „einen Sinn in möglichst wenig Worte zu pressen“130 sucht, mit den eigenen Lektürevorlieben und der Intention der Sammlung direkt auf eine Vergleichsebene bringen. Beispielsweise lobt der Autor an Hamann die „urteilende, Ideen bildende und verknüpfende Kraft“,131 an E. A. Poe eine „Sparsamkeit“, die „bei den ersten Takten“ ankündigt, „daß das Schauspiel bedrohlich werden wird“132 und hegt schließlich eine Sympathie für ‚unsystematische‘ Autoren, deren Texte sich „mit Genuß und Gewinn“ auf beliebiger Seite aufschlagen lassen, da ihre Weisheiten bereits gebündelt vorliegen.133 In dieser Weise werden bei Jünger Beobachtung und Textverfahren zu einer Einheit. Zuletzt hat diese selbstauferlegte Obligation zur Verdichtung zwei aufschlussreiche Konsequenzen für den Autor und die Zeitlosigkeit des Kunstwerks. Da dieses Verfahren seine Legitimation zum einen aus sich selbst bezieht, ist es durch die Umwelt nicht mehr zu irritieren, weiß sich also stets im Einklang mir ihr und erkennt sich, bei Bedarf und ganz ohne Abgrenzung, als spezifisch modern: In unserer Welt spielt das Momentane eine große Rolle – so in den Explosionen, Motoren, Spaltungen und Blitzlichtern. Die hohen Geschwindigkeiten fordern schnelle und präzise Reaktion. Andererseits wird die Meinung konform – sei es, daß sie in manchen Staaten unterdrückt wird oder daß sie in anderen unter dem Einfluß der Medien verflacht wie kaum je zuvor. Das schafft Voraussetzungen, die der knappen Formulierung günstig sind. Daher hat in der Literatur der Aphorismus einen besonderen Rang gewonnen, auch wenn sonst wenig gedeiht. […]134

Zum anderen ist gleichzeitig das Problem der Zeitlosigkeit von Kunstwerken aufgelöst. Bei genügend großer Verdichtungskraft treten die „Gedichte, Anekdoten und Figuren“ eines Autors, so Jünger, derart tief und beständig in das „Allgemeinbewußtsein“ ein, „daß sie den Autor vergessen lassen – ein archaischer Zug.“135 Denn schließlich gehen die Maximen dieses Autors als

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Jünger: Subtile Jagden, S. 35. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 154. Ebd., S. 117. Jünger: Der Waldgang, S. 43. Vgl. Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 287. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 154. Jünger: Autor und Autorschaft. Nachträge, S. 285.

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‚Kristalle‘ bereits selbst in die Naturgeschichte ein und bergen für denjenigen, der sie zu ‚schleifen‘ verstehen, stets neue und zugleich ewige Wahrheiten.136

5. Letzte Dichte Noch bis in die spätesten Texte hinein gibt es bei Jünger Passagen, die das eigene Verfahren auf einer Suche nach den letzten Dingen in eine ursprüngliche Einheit zurückführen will, aus der Text und Welt, Subjekt und Objekt hervorgegangen sind:137 Wo sich Zeitloses in Zeit verwandelt […] dürfte eine absolute Dichte zu vermuten sein. Zeiten, wie Götter und Titanen sie verwalten, so Helios, Saturn und Apoll, konnten sich noch nicht differenziert haben, auch nicht die Schicksalszeit, der selbst der allmächtige Zeus unterliegt. Was sind Milliarden von Jahren und Lichtjahren im Vergleich zu einer Dichte, die Zeit und Ziffern erst gebiert. Sie entzieht sich der Messung, und ebenso ist anzunehmen, daß auch der Bewegung, aus der Weg entsteht, eine unvorstellbare Dichte innewohnt. Wenn es heißt, der Weg sei wichtiger als das Ziel, so ist das die Erinnerung an einen Anfang, an dem sie identisch gewesen sind.138

Eine ironische Distanzierung vom eigenen Werk hat sich der Autor auch in späten Texten nicht erlaubt, was mit dazu beiträgt, dass Jünger zu keinem Zeitpunkt eine Autorenpoetik entwickelt hat. Dazu stehen die einmal aufgeschriebenen, im Werk niedergelegten Motive, Denkfiguren, Bilder und Erfahrungsgehalte offenbar in einem zu strengen Konkurrenzverhältnis zu den Verfahren, die sie beständig umschreiben, gegeneinander führen und weiterentwickeln. In der Fortfolge des Werkes lässt sich vielleicht nur eine jeweils aktuelle Semantik oder Zeigegestik bestimmen, die mit hoher rhetorischer Intensität Jüngers augenblickliches Umformungsinteresse verrät, bevor das Bildmaterial, an dem sich diese Umformungen zeigen, in einen stetig größeren, zuletzt nur noch ‚planetarisch‘ zu begreifenden Deutungshorizont zurücktreten. Wie sich gezeigt hat, wird man der Figur des Autors in den Erzähltexten aber immerhin soviel Stabilität zumessen können, dass an ihr eine 136

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Vgl. ebd., S. 382: „Verborgene Tiefe. Manche Kristalle sind so klar, daß man sie zu Brillenglas schleifen kann. Wenden wir sie nur ein wenig, so blitzen sie in allen Farben des Regenbogens auf. / Daher können wir aus einem Text, der seit Jahrhunderten gelesen wird, noch Wahrheiten herausholen, die selbst dem Autor nicht bekannt waren. Eine gute Maxime fußt auf einem Grunde, der jede Mode übersteht; Mode, einschließlich der Technik, ist alles, was der Mensch bildet, von sich gibt. Letzthin auch das Leben; wir sind Ablebende.“ Claude Gaudin hat diese Einheit bei Leibniz auffinden wollen und stellt als grundlegende Stilbewegung eine Oszillation von „expression-concentration“ und „concentration-expansion“ für Jünger fest. Vgl. Gaudin, Claude: „Jünger Leibnizien“. In: Revue de Littérature comparée 4 (1997), S. 449–462, hier S. 456f. Jünger, Ernst: „Die Schere“. In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 437–605, hier S. 602 (Aphorismus Nr. 278). – Ich danke den Herausgebern Matthias Schöning (Konstanz) und Ingo Stöckmann (Bonn) für Anregungen und Diskussion.

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zunehmende Sorge um das entstehende, zu pflegende und zu ordnende Werk und dessen Einheit, Bedeutung und Verteidigung erkennbar ist. Während autobiographisch zurechenbare Inhalte dabei nebensächlich bleiben und eine Identitätshypothese zwischen Figur und Autor unterlaufen wird, zeigt doch die Figuration selbst, dass Jünger darin zu Zeiten ein probates Mittel gefunden hat, am Habitus der Autorfigur, ihrem Standpunkt und ihrem Eintritt in ‚Bereiche‘ die symbolische Fortschreibung seines Werkes zu reflektieren. Die dabei zugleich mitberücksichtige Perspektive des Lesens und Sammelns hält diese Konzeption von Autorschaft in einer gewinnbringenden Flexibilität und garantiert nicht zuletzt Jüngers eingeforderte Welt- und Naturzugewandtheit. Das Interesse an beiden Perspektiven bleibt auch in Autor und Autorschaft virulent, lenkt aber über das Verfahren der Verdichtung und die ‚Fassungspoetik‘ in die Faktur besonders der späten Texte zurück. Es ist also letztlich das Werk selbst, das den Autor als Figur zum Verschwinden bringt, allerdings nur, um ihn als empirischen Autor wieder aufleben zu lassen.

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Figurenspiel und Verdichtung

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Esoterische Kommunikation Initiation und Autorschaft in Ernst Jüngers Besuch auf Godenholm (1952) und Rückblick auf Godenholm (1970) Die Erzählung Besuch auf Godenholm gehört zu den weniger bekannten Texten Jüngers.1 Der Autor selbst äußerte später rückblickend, er habe von vornherein gewusst, „[d]aß das schmale Bändchen [...] weder Eindruck machen noch Erfolg haben würde“.2 Das war allerdings keineswegs resignativ gemeint. Denn Jünger bezog sich mit dieser Bemerkung allein auf die publizistische Öffentlichkeit, die er nicht als die eigentliche Sphäre seiner Wirkung ansah und von der er das Wesen seiner Autorschaft streng abgrenzte. Davon wird später noch zu sprechen sein. Jedenfalls wurde die Erzählung 1952 kaum beachtet. Und auch die Literaturwissenschaft schenkte ihr lange Zeit keine Aufmerksamkeit. Das änderte sich erst in den neunziger Jahren, als man in ihr eine verschlüsselte Darstellung von Jüngers erstem LSD-Experiment zu entdecken meinte, wobei man sich auf eine Bemerkung in den Annäherungen (1970) stützte.3 Obwohl der Autor alle expliziten Hinweise getilgt habe, sei doch unverkennbar, so stellte man fest, dass „es sich bei der zentralen Szene auf Godenholm um eine [...] Drogen-Séance“ handle.4 Das LSD-Erlebnis sei ihr verborgenes „Signifikat“.5 Die Traumbilder in der Erzählung wurden dementsprechend als literarisch ambitionierte Beschreibung eines Drogenrausches gelesen und in eine sich von Baudelaire und der Romantik herleitende Tradition der literarischen Moderne gestellt. 1 2 3

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Die Erzählung wird nach der Fassung der bei Vittorio Klostermann verlegten Erstausgabe zitiert: Jünger, Ernst: Besuch auf Godenholm. Frankfurt a.M. 1952. Jünger, Ernst: „Annäherungen (1970)“. In: Sämtliche Werke. Bd. 11. Essays V. Annäherungen. Stuttgart 1978, S. 365. „Das Schauspiel des blauen Fadens verdanke ich dem Vormittag in Bottmingen; ich verwob es mit einem anderen Erlebnis, dem Besuch der keltischen Henneburg in einer Winternacht.“ (Jünger: Annäherungen, S. 365). Baron, Ulrich: „Jüngers Erzählung ‚Besuch auf Godenholm‘ (1952). ‚Annäherungen‘ an ‚Drogen und Rausch‘ (1970)“. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg. München 1995, S. 199–216, hier S. 208; vgl. auch Baron, Ulrich: „‚Qualitäten des Überganges‘. Der Rausch in Leben und Werk Ernst Jüngers“. In: Ernst Jünger. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1990 (Text + Kritik 105/106), S. 89–97. Tauss, Martin: „Der halluzinatorische Rausch als archaische Initiation. Zum hermetischen Drogenheroismus in Ernst Jüngers Erzählung ‚Besuch auf Godenholm‘ (1952)“. In: Wirkendes Wort 52 (2002), S. 441–457, hier S. 445.

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Diese Interpretation war sicherlich dazu geeignet, das Interesse für Jünger als modernen Prosaautor zu stärken. Allerdings wird die Erzählung durch sie auch auf problematische Weise aus ihrem historischen Kontext herausgelöst. Denn eine solche Lektüre ignoriert die enge, funktionale Verbindung zwischen zeitkritischer Essayistik und fiktionaler Prosa in Jüngers Werk aus der Nachkriegszeit. Und sie missversteht zugleich das in Besuch auf Godenholm angewandte Schreibverfahren, das keineswegs die Autonomie von Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen sprachlich umzusetzen versucht.6 Eher könnte man von einer Art Gedankenprosa sprechen. Für die zeitgenössischen Leser stand dies übrigens noch außer Frage. Das belegen die Rezensionen von Margret Boveri und Max Rychner, die beide den lehrhaften Charakter des Textes hervorhoben, auch wenn sie diesen ganz unterschiedlich bewerteten. Während Boveri aus der Erzählung in gleichsam ‚gläubiger‘ Haltung neue Einsichten in das Wesen und die Wandlungen des Nigromontan zu gewinnen versuchte,7 kritisierte der ‚Ungläubige‘ Rychner sie als literarisch verpackte Pädagogik, mit der Jünger den Leser in seine Privatmythologie einweihen wolle.8 Bei genauerer Betrachtung muss man diese zeitgenössische Rezeptionshaltung als durchaus angemessen beurteilen. So fehlt in der Erzählung nicht nur jeder Hinweis darauf, dass der darin beschriebene tranceartige Zustand durch die Einnahme von Drogen herbeigeführt wird. Viel wichtiger ist die vollkommene Intelligibilität der die Trance begleitenden „Bilderflut“.9 Diese Bilderflut bildet den dramaturgischen Höhe- und Wendepunkt der Erzählung. Bei ihrem Besuch auf Godenholm fallen die beiden Helden, Moltner und Einar, in eine Art Wachtraum. Unter der Anleitung des Hausherren, Schwarzenberg, öffnen sie ihr Bewusstsein den anströmenden Bildern und erfahren auf diese Weise eine grundlegende Regeneration. Und diese Regeneration wird nicht durch die Bewusstseinserweiterung an sich, durch ein intensives synästhetisches Erleben herbeige6

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Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Gerhart Pickerodt mit Blick auf die Beschreibung der Drogenerlebnisse in den Annäherungen: „So sehr auch einzelne Begriffe wie etwa ‚Bilderfluten‘ auf eine intensive Wahrnehmung bzw. Erzeugung von Bildern als Zielvorgabe eines Drogenrausches schließen lassen, so sind es letztlich doch nicht die Bilder und ihre opulente Intensität, auf die Jüngers Wahrnehmungsästhetik es abgesehen hat, sondern das, was hinter den Bildern ist.“ (Pickerodt, Gerhart: „Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 339–347, hier S. 341). Vgl. Boveri, Margret: „Die Wandlungen des Nigromontan“. In: Merkur 6 (1952), H. 8, S. 791– 794. Vgl. Rychner, Max: „Ernst Jüngers neues Buch ‚Fahrt nach Godenholm‘ – eine Heilsschrift?“ In: Ders.: Sphären der Bücherwelt. Aufsätze zur Literatur. Zürich 1952, S. 291–294. – Eine Kritik aus christlicher Sicht formulierte Gotthart Montesi, der Jünger vorwarf, sich endgültig „der Magie ergeben“ zu haben und in der Erzählung eine pantheistisch-mystische „Weltprophetie“ zu entwerfen (Montesi, Gotthart: „Machtersatz durch Magie“. In: Wort und Wahrheit 7 (1952), 2. Halbjahr, S. 800–803, hier S. 800f.). Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 6 u. ö.

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führt. Vielmehr kommt es für die beiden darauf an, die verschlüsselte Bedeutung der Bilder zu entziffern. Diese Bilder weisen eine symbolische Struktur auf. Sie sind zwar den Charakteren der Protagonisten angepasst, referieren jedoch nicht auf deren individuelle Psyche, sondern auf eine metaphysische Wahrheit. Man könnte sie daher auch als Traumbilder bezeichnen, bei denen es sich nach Jüngers Verständnis ja ebenfalls um bildliche Manifestationen eines verschütteten Wissens handelt.10 Jedenfalls lassen sich alle in Besuch auf Godenholm beschriebenen ‚Visionen‘ und ‚Urbilder‘ ohne größere Probleme dem Jüngerschen Symbol- und Mytheninventar zuordnen.11 Um einen ersten Eindruck von diesem Gestaltungsprinzip zu geben, sei hier eine mehr oder weniger willkürlich herausgegriffene Passage aus der mittleren Phase von Moltners Traum zitiert: Das Auge reichte in große Tiefen, wenngleich nicht auf den Grund. Ein stählerner Anker schwebte in langsamer Fahrt vorbei. Ein Tier, für das der Abscheu vergeblich nach Namen suchte war daran festgemacht. Ihm folgte ein Blauhai mit schiefriger Haut. Das Bildnis war erschreckend, vom reinen Willen zugeschnitten, der nackten, gespannten Gier. Rachen und Schnauze waren gewaltig, die Augen winzig, die Zähne vielfache Ränge von Pfeilspitzen. Die Fahrt war mächtig, lautlos, fast ohne Flossenschlag.12

Die Symbolik dieser Bildersprache ist unverkennbar. Während das stählerne Schiff jedem Jünger-Leser als Symbol des Fortschritts (der eisernen Zeit) und des zeitlichen Seins vertraut ist, kann man den das Schiff begleitenden Raubfisch als Zeichen für den Leviathan lesen.13 Auf ähnliche Weise lassen sich 10

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„Träume sind tief; [...] sie sprechen uns in Bildern an, die von Bedeutung geladen sind. Träume deuten, heißt: unter ihrem Bildwerk den geheimen Sinn aufspüren, der sowohl der Nacht wie dem Tage zugrunde liegt.“ (Ernst Jünger: „Das Abenteuerliche Herz (Erste Fassung)“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 148.) Den Traum betrachtet Jünger als Königsweg, um sich den ‚Urbildern‘ des Seins anzunähern. Für die Interpretation der Erzählung ist es dabei nicht relevant, ob der Autor selbst einen Unterschied zwischen Traumbildern und Symbolen bzw. Urbildern und Abbildern gemacht hat (vgl. dazu Kranz, Gisbert: Ernst Jüngers symbolische Weltschau. Düsseldorf 1968, S. 40– 43). Entscheidend ist, dass die Traumbilder in seinem Text eine symbolische Struktur aufweisen und vom Leser so entschlüsselt werden können. Vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 587; sowie Meyer, Martin: Ernst Jünger. München 1993, S. 521. Meyer konstatiert, dass der Text „die Gedankenarbeit nicht verleugnen“ könne: „Die Bildersprache von ‚Godenholm‘ ist eine Metaphorik aus zweiter Hand. Jünger spielt den Ideen ihre Masken zu.“ (S. 521) Ganz allgemein hat man an Jüngers Erzählungen immer wieder eine ausgeprägte Thesenhaftigkeit und eine große Nähe zur Essayistik des Autors festgestellt. Vgl. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 218. Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 69f. Vgl. auch die ganz ähnliche Metaphorik im Waldgang: „Was die historische Welt angeht, in der wir uns befinden, so gleicht sie einem schnell sich bewegenden Gefährt, das bald Komfort-, bald Schreckenszüge zeigt. Bald ist es „Titanic“ und bald Leviathan. Weil das Bewegte die Augen ködert, bleibt den meisten der Schiffsgäste verborgen, daß sie zugleich in einem anderen

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alle Traumbilder der Erzählung auf Begriffe und Konzepte aus Jüngers zeitkritischer Philosophie zurückführen.14 Und so kann auch der gesamte Traum Moltners allegorisch ausgelegt werden: als Darstellung einer Passage des Nullpunkts und der Regeneration durch die Berührung mit dem Ursprung. Denn nachdem Moltner den Kälteraum des Nihilismus durchschritten hat, tritt er in den lichten Raum des Seins ein – in die Gärten der Hesperiden bzw. die „Inseln außerhalb der Zeit“.15 Er blickt in den schöpferischen Urgrund des Daseins und erkennt befreit das „Unzerstörbare“16 hinter den Erscheinungen. Jüngers kurz zuvor erschienener Essay Der Waldgang (1951) kann vom Leser dabei als Prätext zum Verständnis der Erzählung herangezogen werden. Schließlich wird die Passage durch den Nullpunkt schon dort als eine Prüfungssituation beschrieben, in der der Mensch durch das Nichts nach sich selbst gefragt wird.17 Hier soll es nun aber nicht um eine Exegese von Jüngers Erzählung gehen und ebenso wenig um eine literaturkritische Wertung, die die mangelnde Autonomie der literarischen Fiktion bemängelt. So wie Max Rychner es tat, der sich am pädagogischen Zug der Erzählung stieß und die Konstruiertheit von Handlung und Figuren kritisierte. Was hier interessiert, ist diese Konstruktion selbst, die Art und Weise, in der Jünger das Verstehen lenkt und zugleich auch beschreibt. Im Folgenden wird daher eine neue Lektüre der Erzählung vorgeschlagen. Und zwar lautet der Vorschlag, den Text als narrative Inszenierung einer Kommunikationssituation zu lesen. Denn ganz offensichtlich zielt die Erzählung ja nicht nur auf die Entschlüsselung der zeitkritischen Aussage durch den Leser, sondern sie handelt auch vom Verrätseln und Entschlüsseln. Wenn Besuch auf Godenholm über eine gewisse Raffinesse verfügt – wie Gottfried Benn meinte –, dann ist diese sicher nicht in ihrer Bildlichkeit zu suchen. Man könnte sie allerdings an der hermeneutischen Metareflexivität des Textes festmachen. Die ergibt sich daraus, dass er den Leser in eine Beobachterposition versetzt, in der er den Figuren bei

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Reiche weilen, in dem vollkommene Ruhe herrscht.“ (Ernst Jünger: „Der Waldgang“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7, Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374, hier S. 314). Eine ähnliche Bildstruktur hat Ingo Stöckmann an den Träumen im Abenteuerlichen Herzen festgestellt: „Was immer Jünger an seinen wie absichtslos versammelten Bildern abliest – er reproduziert lediglich eine den Traumbildern vorausliegende und zugleich in sie hineinragende symbolisch-emblematische Struktur.“ (Stöckmann, Ingo: „Sammlung der Gemeinschaft. Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und Das abenteuerliche Herz (Erste Fassung)“. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 189–220, hier S. 199). Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 75. Ebd., S. 72. „Zwei Prüf- und Mahlsteinen wird keiner der Lebenden entrinnen: dem Zweifel und dem Schmerz. Sie sind die beiden großen Mittel der nihilistischen Reduktion. Man muß sie passiert haben. Darin liegt die Aufgabe, die Reifeprüfung für ein neues Zeitalter. Sie wird keinem erspart bleiben.“ (Jünger: Der Waldgang, S. 336).

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ihrer Interaktion mit Schwarzenberg zusieht und die besondere Form der Belehrung versteht, die ihnen auf Godenholm zuteil wird. Eine solche Beobachterhaltung wird bereits durch das typologische Handlungsschema der Erzählung evoziert. Denn wie unschwer zu erkennen ist, verwendet Besuch auf Godenholm das Muster der Initiationsgeschichte.18 Das fiel bereits Max Rychner auf.19 Und es wurde von Jünger in den Annäherungen indirekt bestätigt. In dem Kapitel „Rückblick auf Godenholm“ kommt er dort auf die Funktion des Drogengebrauchs in archaischen Gesellschaften zu sprechen und erklärt, dass dieser der Einübung des Sterbens diene: „Das ist der Sinn der Mutproben, die der Aufnahme in die Männerund Geheimbünde vorausgehen. Der Jüngling wird in die Geister- und Totenheere eingeführt und kehrt verwandelt zurück.“20 In diesem Zusammenhang verweist der Autor auf die ethnologischen Studien von Mircea Eliade und Heinrich Schurtz sowie auf Arnold van Genneps klassisches Werk Les rites de passage aus dem Jahr 1909. Wenn man diese Spur verfolgt, so wird schnell deutlich, wie eng Jünger seine Geschichte an die ethnologischen Beschreibungen von Initiationsriten angelehnt hat. Die Ethnologie konzipiert die Initiation ganz allgemein als Organisation eines Übergangs. Es handelt sich um eine festgelegte Folge von rituellen Handlungen, Prüfungen und Unterweisungen, die eine grundlegende Änderung des Status des Einzuweihenden zur Folge haben.21 Dabei kann es sich um die Änderung des sozialen Status handeln, etwa die Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen, oder um die Änderung des religiösen Status, den Übergang von der profanen in die sakrale Welt. In jedem Fall entspricht der Initiation eine „ontologische Veränderung der existentiellen Ordnung“: „Am Ende seiner Prüfungen“, schreibt Eliade, „erfreut sich der 18

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Die Besonderheit liegt dabei darin, dass der Text die Initiationsriten als Anspielungshorizont aufruft, aber keineswegs behauptet, dass es sich bei den erzählten Vorgängen tatsächlich um eine archaische Initiation handelt. Die Differenz bleibt für den Leser stets erkennbar, und das Verstehen des Textes vollzieht sich gerade in der Doppelung von eigenem Interpretieren der Bilder und dem Beobachten des Verstehens. Der Leser sieht dem Träumenden bei der Entschlüsselung zu. Eine solche Rezeption wird auch durch die Verschränkung von Erzähler- und Figurenperspektive unterstützt, bei der der Erzähler den Verstehensprozess der Figur immer wieder kommentiert. („Nur war es ein Irrtum Moltners zu glauben, daß diese Landschaft zur Vorbereitung geistiger Einstiege ungeeignet sei.“, S. 15.) Die Erzählerstimme ist dabei unverkennbar als Stimme der absoluten Wahrheit gestaltet und der Figurenperspektive übergeordnet. Erzählerisch wirkt Besuch auf Godenholm daher trotz der ambitionierten Analepsen und Tempovariationen eher konventionell. Vgl. Rychner: Buch, S. 220: „Was den beiden [Einar und Moltner, G.S.] bevorsteht, ist nichts geringeres als eine Initiation, eine Einweihung.“ Vgl. auch Baron: Qualitäten, S. 205, und Tauss: Rausch, S. 453f. Jünger: Annäherungen, S. 379. Vgl. Eliade, Mircea: Das Mysterium der Wiedergeburt. Versuch über einige Initiationstypen. Frankfurt a.M. 1997, S. 11; vgl. auch Gennep, Arnold van: Übergangsriten. Übers. von Klaus Schomburg u. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M., New York 1986, S. 14 u. ö.

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Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation. Er ist ein anderer geworden.“22 Er ist aus seinen bisherigen Beziehungen herausgelöst worden und hat „einen neuen Geist“ erhalten, heißt es bei Heinrich Schurtz.23 Dieser Definition nach erzählt Besuch auf Godenholm ohne Zweifel von einem rite de passage. Zwar fehlt der rituelle Charakter der Handlungen, doch ist der Vorgang eindeutig als Prüfung angelegt und resultiert in einer grundlegenden Verwandlung der Beteiligten. Darauf deutet bereits die makrostrukturelle Dreiteilung der novellistischen Erzählung hin, die in der Fassung der Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1952 noch stärker ausgeprägt ist als in der stark veränderten Fassung in der Ausgabe der Sämtlichen Werke.24 Der erste Teil schildert die Überfahrt einer kleinen Gruppe – Moltner, Einar, Ulma und der Bootsführer Gaspard – vom Festland zur Insel Godenholm, der Residenz Schwarzenbergs. Die Schilderung der Fahrt wird dabei immer wieder durch analeptische Digressionen unterbrochen, in denen einerseits die Insassen des Boots mit ihren unterschiedlichen Vorgeschichten und Erwartungen vorgestellt werden und der Leser andererseits bruchstückhafte Informationen über die geheimnisumwitterte Existenz Schwarzenbergs erhält. Dramaturgisch gesehen erfüllt dieser Teil die Funktion einer Exposition. Gleichzeitig beschreibt er aber auch einen Zustand, und zwar einen profanen Zustand der Unwissenheit. Dies gilt insbesondere für Moltner, auf den die Erzählung größtenteils fokalisiert ist. Moltner repräsentiert den Typus des modernen Wissenschaftlers, der das Ungenügen des rationalen Weltzugangs schmerzhaft empfindet und sich doch nicht von der nihilistischen Kritik zu befreien vermag. Der Zustand seiner seinsfernen Existenz spiegelt sich in seiner Naturwahrnehmung, im farblosen Grau in Grau von Meer und Wolken oder den bleichen Eingeweiden der toten Fische am Strand. Der zweite, mittlere Teil erzählt dann die eigentliche Prüfung. Moltner, Einar und Ulma betreten zuerst die Insel, dann Schwarzenbergs Haus und schließlich das Turmzimmer, in dem sie der Hausherr erwartet und zum Einstieg in die eigenen Tiefen anleitet. Der dritte, kürzeste Teil präsentiert die Figuren dann als Neugeborene und als Mitglieder einer neuen Gemeinschaft. Das betrifft die Szene des gemeinsamen Mahls auf Godenholm, die auf den Ritus der Kommunion anspielt,25 sowie die 22 23 24

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Eliade: Mysterium, S. 11. Schurtz, Heinrich: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. Berlin 1902, S. 102. In der Fassung der Erstausgabe folgt auf die Abschnitte, die von der Fahrt zur Insel und der Begegnung mit Schwarzenberg erzählen, ein Abschnitt, in dem Moltner und Einar ihre Begegnung mit dem Herrn der Insel nachträglich reflektieren und sich gemeinsam auf die Heimreise begeben. Die spätere, wesentlich kürzere Fassung endet dagegen mit der Verabschiedung der Gäste durch Schwarzenberg. Vgl. dazu van Gennep: Übergangsriten, S. 37.

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Schlussszene der ersten Fassung, in der Moltner und Einar auf ihrer Rückreise ein Hotel betreten und vom Portier intuitiv als Eingeweihte erkannt werden. Beide sind nun keine „heimatlosen Geister“ mehr; sie sind Wissende, vom „Anhauch der Unsterblichkeit“ berührt.26 Durch das Geschehen auf Godenholm sind sie für immer aus der Profanität ihres früheren Lebens herausgelöst und in eine dauernde Verbindung mit der Sakralwelt gebracht worden. Dieses dreigliedrige Handlungsschema weist die für Initiationsriten typische Abfolge von Tod, Verwandlung und Wiedergeburt bzw. von Trennung, Umwandlung und Angliederung auf.27 Die gleiche Sequenzierung lässt sich auch für den Verlauf von Moltners Traum feststellen: Moltner macht in der ersten Phase eine Todeserfahrung durch,28 erkennt in der zweiten Phase, dass alle Erscheinungen nur Verkleidungen des Unzerstörbaren sind, und tritt in der dritten Phase schließlich in die lichte Welt des Seins ein, die durch das Schloss symbolisiert ist. Auf der Ebene des Erzähldiskurses wird diese Handlung durch räumliche Übergänge und die sakrale Topographie Godenholms strukturiert. Wie in den archaischen Initiationsriten wird der Übergang von der profanen in die sakrale Welt von Jünger als raum-zeitliche Passage gestaltet, worauf bereits die zahlreichen Metaphern des Eintretens und Eintauchens hinweisen. Und auch er misst dabei Grenzen, Schwellen und Säumen besondere Bedeutung zu. Sie markieren den Bezirk des Heiligen. Das gilt bereits für die einsame nördliche Landschaft, die nicht nur räumlich von der modernen Zivilisation geschieden ist, sondern zugleich als Grenzregion zu einer geschichtslosen, mythischen Zeit stilisiert wird – erfüllt „von einer Freiheit, die an die Sagas“ erinnert.29 Und es gilt ebenso auf der Handlungsebene mit Blick auf die Überfahrt der Besucher vom Festland zur Insel, den Eintritt in Schwarzenbergs Haus und das Betreten des Turmzimmers. Schließlich wird auch Moltners Traum als ‚Einstieg‘, als eine Folge sich öffnender Türen und neuer Räume beschrieben, wobei die räumliche Transition in diesem Fall psychisch konnotiert ist. Man könnte noch zahlreiche weitere Anspielungen auf Initiationsriten in der Erzählung ausmachen: die mehrfache Verwendung des Maskenmotivs etwa. Oder die Stilisierung der Diener Schwarzenbergs zu andrängen26 27 28

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Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 102. Van Gennep unterscheidet drei Phasen der Passage: die rites de séparation (Trennungsriten), die rites de marge (Umwandlungsriten) und die rites d’agrégation (Angliederungsriten). Das ‚Überschreiten der Linie‘ wird von Jünger auch andernorts als Todeserfahrung bzw. Überwindung der Todesfurcht konzipiert; bspw. im Waldgang, wo es heißt: „Der Waldgang ist [...] in erster Linie Todesgang. Er führt hart an den Tod heran – ja, wenn es sein muß, durch ihn hindurch.“ (Jünger: Der Waldgang, S. 331). Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 45. In der späteren Fassung hat Jünger ‚Sagas‘ zu „Vorzeit“ emendiert (Jünger, Ernst: „Besuch auf Godenholm“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 363–420, hier S. 370).

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den Geistern. Oder die Parallelisierung der Einweihung mit der Verwandlung der Natur, mit einem kosmischen Übergang, der sich im Wetterumschwung und dem weltuntergangsartigen Gewitter andeutet. Bei all diesen mehr oder weniger offenkundigen Allusionen auf die rites de passage sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren, dass die von Jünger erzählte Geschichte in wesentlichen Punkten vom ethnologischen Modell abweicht. So fehlt der rituelle Rahmen der Initiation, die hier das moderne Design einer Traumreise oder Meditation erhält. Und damit steht auch der magisch-religiöse Charakter der Handlung in Frage. Denn anders als bei religiösen Initiationen ist die Theorie bzw. die Belehrung hier nicht notwendig mit einer bestimmten zeremoniellen Praxis verbunden.30 So gesehen erzählt Besuch auf Godenholm nicht von einer religiösen Einweihung, sondern von einer metaphysischen Erfahrung. Und die Erzählhandlung unterscheidet sich noch in einem weiteren, wesentlichen Punkt von der archaischen Initiation. Und zwar durch die Art der Wissensvermittlung. Bei den rituellen Einweihungen wird das Wissen den Neophyten durch den Hierophanten mitgeteilt, etwa in Form der Erzählung eines Mythos. Diese positive Wissensvermittlung fehlt in der Erzählung. Denn hier schweigt der Hierophant. Schwarzenberg verweigert Moltner die sehnlich erhoffte Aufklärung und er zwingt ihn und Einar durch sein Schweigen zum Einstieg in die Tiefen ihres Selbst. Die Initiation erhält dadurch einen esoterischen Charakter, wie er Eliade zufolge für Geheimbünde typisch ist.31 In ihrem Zentrum steht ein Geheimnis, das in den Bildern des Wahrtraums verschlüsselt ist. Auf diese Weise wird die Offenbarung an die Deutung gebunden: Sie ergibt sich erst aus der Entschlüsselung der Bildzeichen durch die Neophyten. Und deshalb handelt die Traumsequenz in Schwarzenbergs Haus auch vor allem vom Verstehen. Im Modus des Erzählerberichts oder der erlebten Rede wird immer wieder die Befremdung artikuliert, die die Träumenden angesichts der rätselhaften Bilder befällt; es werden Fragen an die Bilder formuliert; und am Ende steht die Beschreibung eines beglückenden Erkennens.32 Wie in folgender Passage aus der Endphase von Moltners Traum: Er ging durch ein Versehrendes schnell hindurch, als ob sich Erde in Metallglut und diese zu reinem Glanze sich verwandelte. Schmolz da hinweg, was sonst im Leben 30

31 32

Vgl. dazu van Gennep: Übergangsriten, S. 23. – Die Theorie ohne Praxis, so schreibt van Gennep, wird zur Metaphysik; die sich auf eine andere Theorie gründende Praxis wird hingegen Wissenschaft. Offensichtlich ging es Jünger gerade um die Überblendung von religiösem Ritus, metaphysischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Nicht zufällig handelt es sich sowohl bei Moltner und Einar als auch bei Schwarzenberg um Wissenschaftler bzw. Gelehrte, die nach einer neuen, metaphysischen Begründung ihrer Tätigkeit suchen. Vgl. Eliade: Mysterium, S. 131f. Zum Zusammenhang von Initiation und Geheimbund vgl. Schurtz: Altersklassen, S. 102f. Vgl. Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 72, S. 76 u. ö.

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störte – oder erhöhte das Getrennte sich in der Einheit des Mysteriums? Auf allen Bergen flammten jetzt die goldenen Schilde, vollendeten sich Harmonien in meisterlicher Sicherheit. Ja, er begriff, was hier gelehrt wurde. Es würde stets wiederkehren, daß das Eine aus dem Getrennten aufstieg und sich sichtbar mit Glanz bekleidete. Dieses Geheimnis war unaussprechlich, doch alle Mysterien deuteten es an und handelten von ihm, von ihm allein. Die Wege der Geschichte und ihre Listen, die so verschlungen schienen, führten auf diese Wahrheit zu.33

Gottfried Benn war, wenn man Jüngers Erinnerung an seinen Besuch in der Bozener Straße im „Rückblick auf Godenholm“ glauben darf, gerade von diesem Abschnitt der Erzählung besonders beeindruckt: Jünger schreibt: „Er legte das Buch zwischen uns auf das Sofa und sagte: ‚Was ist das? Was ist das – – – das ist der Penis! Das kann nur der Penis sein!‘“34 Die Äußerung wird von Jünger in seinem Bericht nicht weiter kommentiert. Man kann daher nur vermuten, dass er nicht allein durch die direkte Sprache Benns schockiert gewesen sein muss, sondern auch und vor allem durch die Profanität von dessen quasi psychoanalytischer Interpretation. Denn natürlich bedeutet das sich mit Glanz bekleidende Eine in der Jünger’schen Ikonographie nicht den Penis, sondern das zeitlose Sein.35 Erwähnenswert erschien Jünger aber wohl weniger Benns Interpretation selbst, als die Wirkung des Textes, die sich in diesem Deutungsversuch manifestierte. Denn Benn begriff die Bilder intuitiv als Rätsel, die es zu entschlüsseln gilt. Und er verhielt sich damit genau so wie andere Leser der Erzählung und wie Moltner in der Geschichte, dessen Prüfung gerade im Verstehen der Bilder liegt. Präziser müsste man allerdings sagen: Sie besteht darin, zu verstehen, dass die Bilder ein Geheimnis bergen. Denn genau betrachtet handelt die zitierte Passage von einem unbegrifflichen Begreifen. Moltner begreift, was gelehrt wird, aber das Geheimnis bleibt unaussprechlich. Die Offenbarung wird behauptet, ohne dass eine Lehre formuliert wird.36 Die paradox erscheinende Belehrung Moltners verweist auf eine grundsätzliche Ambivalenz in Jüngers ästhetischer Konzeption traumhafter Bilder. Einerseits werden diese von ihm als Rätsel verstanden, die Erschrecken 33 34 35

36

Ebd., S. 88f. (Hervorheben im Original). Jünger: Annäherungen, S. 371. Sicherheitshalber liefert Jünger die richtige, d. h. auktorial intendierte Deutung der Textstelle in seinem Bericht über die Begegnung mit Benn gleich mit: „Dann blätterte er [Benn, G.S.] in dem Bändchen und begann eine Passage zu lesen, die sich mit dem Ziel beschäftigte, das durch Annäherung erreicht, doch nicht überschritten werden kann. Für einen Augenblick wird die Erscheinung mit dem Sein identisch, die Woge mit dem Meer.“ (Jünger: Annäherungen, S. 371). Das belegen auch viele andere Textstellen der Erzählung. Einmal heißt es: „Er fühlte, daß er eines großen Bildes teilhaftig wurde, fühlte sich reich beschenkt.“ (Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 76.) Oder etwas später: „Ja, eine große Verwandlung war geglückt. Sie waren nun am unbewegten Ort des Rades – dort, wo die Sicheln sich vereinigen.“ (ebd. S. 89).

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auslösen, da sie aufgrund ihrer Unverständlichkeit die prinzipielle Zweideutigkeit der Wirklichkeit erahnen lassen bzw. auf eine durch die rationale Weltauffassung verstellte Seinssphäre hinweisen. Ihre eigentliche Wirkung läge so gesehen in der Schockerfahrung; es handelte sich um eine ‚Ästhetik des Schreckens‘. Andererseits gestaltet er die Traumbilder aber als symbolische Bilder, in denen Wahrheiten und Ideen emblematisch verschlüsselt sind. Ihre Wirkung erschöpft sich deshalb nicht in der Beunruhigung durch das Rätselhafte, sondern entfaltet sich mit der hermeneutischen Entzifferung des Bildes. So wie der Betrachter „ein Gewirr von Uhren oder Mühlen“ in einem Bild Alfred Kubins zuerst als beängstigend empfindet, dann aber als Ausdruck für die „eintönig rotierende Bewegung der Technik“ begreift.37 Der Eindruck der Zweideutigkeit wird bei Jünger auf diese Weise stets durch die Interpretation eingeholt und aufgehoben, weshalb seine Bildästhetik sich auch grundlegend von der der Surrealisten unterscheidet.38 Diese Koppelung von Erschrecken und Verstehen ist am Umgang der Protagonisten mit den Traumbildern in Besuch auf Godenholm durchgängig zu beobachten. Die entscheidende Pointe liegt dabei darin, dass Moltner sein vom Erzähler behauptetes Verstehen der Bilder für sich nicht verbalisiert. Nur so lässt sich der grundlegend andere, nicht-rationale Charakter der Belehrung glaubhaft machen – da ‚das Sein‘ ja nur erlebt, aber nicht verstanden werden kann. Die Besonderheit des hier vermittelten ‚Wissens‘ liegt darin, so legt die Erzählung nahe, dass es sich dem begrifflichen Zugriff entzieht und nur in immer neuen metaphorischen Annäherungen erfasst werden kann. So erweist sich die Einweihung letzten Endes als eine raunende Weiterverweisung. Die Bilder scheinen zwar auf ein verborgenes Signifikat zu referieren, lassen sich jedoch stets nur wieder in andere Bilder übersetzen. Dies entspricht ganz der esoterischen Wissenskonzeption, die Jünger im Waldgang entwirft. Demnach lassen sich alle religiösen und philosophischen Lehren als verschiedene Symbolisierungen eines verborgenen Wissens begreifen. Sie gingen alle von demselben ‚Geheimnis‘ aus, heißt es dort.39

37 38

39

Jünger, Ernst: „Die Staubdämonen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 14. Essays VIII. Ad hoc. Stuttgart 1998, S. 33–38, hier S. 34. Vgl. dazu Streim, Gregor: „Wunder und Verzauberung. Surrealismus im ‚Dritten Reich‘?“. In: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Friederike Reents. Berlin, New York 2009, S. 101–119, hier S. 109–111. „Immer und überall ist hier das Wissen, daß in der wechselvollen Landschaft Ursitze der Kraft verborgen sind und unter der flüchtigen Erscheinung Quellen des Überflusses, kosmischer Macht. Das Wissen bildet nicht nur das symbolisch-sakramentale Fundament der Kirchen, es spinnt sich nicht nur in Geheimlehren und Sekten fort, sondern es stellt auch den Kern der Philosopheme, wie überaus verschieden immer deren Begriffswelt sei. Im Grunde gehen sie auf das gleiche Geheimnis aus, das jedem offen liegt, den es einmal im Leben weihte [...]. Wer einmal das Sein berührte, überschritt die Säume, an denen Worte, Begriffe, Schulen, Konfessionen noch wichtig sind.“ (Jünger: Der Waldgang, S. 326f.; Hervorhebung im Original).

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Es ist offensichtlich, dass Jünger seine Erzählung, deren verrätselte Bilder ja auch an die Leser adressiert sind, selbst als eine sprachlich-bildliche Verschlüsselung esoterischen Wissens konzipiert und die Initiation auch als Modell für die Textlektüre begriffen hat. Ingo Stöckmann hat eine solche Strategie am Abenteuerlichen Herzen aufgezeigt und darauf hingewiesen, dass Jünger den Innenraum seiner Texte als ein „Reich“ zu gestalten versuchte, zu dem nur der Zugang erhält, der eine „initiatorische Schwelle“ überschreitet.40 Die Lektüre des verrätselten Textes erhält so eine gemeinschaftsstiftende Funktion, da die wenigen Leser fortan einen Fundus hermetischer Bilder miteinander teilen.41 Sie ermöglicht eine nicht-abstrakte Kommunikation unter Eingeweihten, die sich nicht mit Begriffen, sondern über Bilder und Symbole miteinander verständigen.42 Die Besonderheit der Erzählung Besuch auf Godenholm liegt darin, dass sie eine solche Kommunikation nicht nur zu initiieren versucht, sondern sie zugleich auch narrativ thematisiert bzw. in der Erzählhandlung in Szene setzt, wobei Schwarzenberg die Position des Autors und Moltner die Position des Lesers einnimmt. Die Initiationshandlung dient hier als Folie für eine politisch-kommunikative Metareflexion, in der Jünger seine eigene Rolle als Autor und seine Rezeptionsund Wirkungsstrategie mit Blick auf die veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit überprüft. Ihrer Struktur nach ähnelt die Interaktion zwischen den Protagonisten der Erzählung der verdeckten Kommunikation zwischen Vertretern des radikalen Konservatismus in der frühen Nachkriegszeit, deren Umgang Daniel Morat als „Kommunikationsstrategie der Verschwiegenheit“ bzw. als ‚esoterische Gesprächskommunikation‘ charakterisiert hat.43 Morat bezieht sich dabei auf die nicht-öffentlichen Kommunikationsformen – Gesprächszirkel, Rundbriefe und Privatdrucke – die der Kreis um Martin Heidegger, Carl Schmitt und die Brüder Jünger nach 1945 kultivierte. Und er weist darauf hin, dass diese Strategie nicht allein eine Reaktion auf eine feindselige Öffentlichkeit und auf Publikationsverbote war, sondern zugleich das elitäre Programm zu realisieren versuchte, demzufolge

40 41

42 43

Stöckmann: Sammlung, S. 195. Stöckmann spricht mit Blick auf das Abenteuerliche Herz von einer Strategie der ‚geheimen Sammlung‘. Der Text exponiere eine Verstehenssituation, bei der es „auf eine semantische Vereindeutigung seines Bildfundus kaum ankommt. Sein Sinn enthüllt sich weniger in einer wie immer manifest zu denkenden Bedeutung, als vielmehr in einer Bewegung, die die Grenzen des Textes fortwährend überschießt, indem sie seine hermetischen Bilder an eine Gemeinschaft der wenigen einzelnen adressiert, die sich über ihr dunkles Zeichenspiel im Geheimen verständigen sollen.“ (Stöckmann: Sammlung, S. 200). Vgl. Jünger: Das Abenteuerliche Herz (Erste Fassung), S. 74f. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 314.

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eine geistig-politische Erneuerung von kleinen Gruppen Eingeweihter ausgehen muss.44 Tatsächlich scheint Jüngers Erzählung eine solche Form der Zirkelbildung vorzuführen. Offensichtlich basiert die geistige Macht Schwarzenbergs gerade auf seiner zivilisationsfernen Zurückgezogenheit. Und offensichtlich zieht er gerade dadurch Gleichgesinnte an und bindet sie an sich. Esoterisch ist diese Kommunikation jedoch nicht nur durch ihre Abtrennung von der Öffentlichkeit. Sie ist es auch in Hinsicht auf den Umgang mit sprachlichen und bildlichen Zeichen. Wie gesehen, zeichnet sich die Interaktion der Protagonisten auf Godenholm gerade durch ihre Stummheit aus; dadurch, dass sie eben kein Gespräch ist. Die Initiation wird durch das Schweigen Schwarzenbergs herbeigeführt. Sein aktiver Anteil an der Einweihung beschränkt sich im Wesentlichen auf Gestik und Mimik und die insistierend wiederholte Frage „Sie wissen doch mehr?“, mit der er den Neophyten auffordert, sich dem Wissen unter allen Wörtern zu öffnen. Der Herr von Godenholm ist so gesehen kein Prophet und auch kein Priesterdichter, dessen Worte seinen Jüngern Offenbarung sind.45 Er verfügt zwar offenbar über den „magischen Schlüssel zur innersten Herzkammer aller anderen“, von dem Jünger im Abenteuerlichen Herzen spricht, macht von diesem aber nur sehr zurückhaltend Gebrauch.46 Man kann in dem Verzicht auf eine positive Belehrung eine Abwandlung der archaischen Initiation erkennen, die dieses Modell an die nihilismustheoretischen Prämissen der Jünger’schen Kulturkritik anpasst und mit der Annahme der unhintergehbaren Einsamkeit des Einzelnen in der Moderne kompatibel macht. Die Prüfung wird hier zu einer Selbstprüfung, in die der Mensch durch die Konfrontation mit dem Nichts gezwungen wird. „Der Mensch wird nach sich selbst gefragt. [...] Das Nichts will wissen, ob ihm der Mensch gewachsen ist, ob Elemente in ihm leben, die keine Zeit zerstört“, heißt es im Waldgang.47 Letzten Endes geht es also weniger um eine Belehrung als um eine Selbstbehauptung bzw. ein Standhalten: Der Mensch muss sich durch das Aushalten von Zweifel oder Schmerz (beides kennzeichnet Moltner) dem Nichts gewachsen zeigen. Nur so gelingt es ihm, seine Macht und Freiheit zu behaupten bzw. allererst zu gewinnen. Die Einsamkeit ist so gesehen sowohl Voraussetzung als auch Ziel der Prüfung – zumal in einer Zeit, in der „der Kultus der Gemeinschaft blüht“ und „gerade das Kollektive als das Unmenschliche auftritt“.48 Vor diesem Hinter44 45 46 47 48

Morat meint auch, dass Jünger dieses Modell der elitären Kleingruppe in Besuch auf Godenholm beschrieben habe. Vgl. ebd., S. 332. So fehlt auch die Auratisierung des geschriebenen und gesprochenen Wortes, wie sie etwa für die Selbststilisierung Stefan Georges als Poeta vates entscheidend war. Jünger: Das Abenteuerliche Herz (Erste Fassung), S. 75. Jünger: Der Waldgang, S. 336. Ebd., S. 337.

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grund erklärt sich der Bedeutungsverlust des Hierophanten, der in Besuch auf Godenholm mehr einem Therapeuten gleicht, da er mit seiner Frage nur einen Prozess der Selbstbefragung anstößt. Die Erzählung von Moltners Prüfung weist dabei strukturelle Analogien zur Selbstbefragung des Zarathustra in Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883) auf, die wiederum durch christlich-biblische Berufungsgeschichten präfiguriert ist. Im Kapitel „Die stillste Stunde“ wird Zarathustra im Traum durch die an ihn gerichtete Frage „Du weisst es Zarathustra?“ erschreckt.49 Auch in diesem Fall leitet die Frage keine Belehrung ein, sondern eine schmerzhafte Selbstprüfung, die den Charakter einer Entscheidungssituation hat. Dass Schwarzenberg die Rolle des Propheten oder Lehrers nicht übernimmt, ist der Grund für Moltners anfängliche Enttäuschung. Ihn hatte der Plan nach Godenholm gelockt, die „Lage in kleinen Gruppen zu erwägen“, so wie es in historischen Wendezeiten immer schon geschehen war, „in Wüsten, in Klöstern, in Einsiedeleien, in stoischen und gnostischen Gemeinden“, die sich „um Philosophen, Propheten und Wissende herum“ gebildet hatten.50 Diese Hoffnung auf Belehrung und Führung wird durch Schwarzenbergs Schweigen jedoch zunächst enttäuscht. Und auch nach dem Ende des Wach- und Wahrtraums, in dem Moltner in das Mysterium des Seins eingeweiht wird, bleiben diesem Schwarzenbergs Absichten und Gedanken weiter verborgen. Sie lassen sich nur erahnen: „Schwarzenberg hatte das Wesen eines Menschen, der abwartet. Besaß er ein Geheimwissen? Er hatte ohne Zweifel Einsicht in den Mythengrund, der in den Schicksalsstunden durchleuchtet, wenn der Stoff der Historie verschleißt.“51 Er hatte ihn spüren lassen, „daß er jenseits von Wort und Werken die Gabe unmittelbarer geistiger Macht besaß.“52 Man kann diese Variation der Initiationsgeschichte auch als eine Absage Jüngers an geheimbundartige Gruppenbildungen und an die Übernahme einer geistig-politischen Führerrolle interpretieren, die sich manche Anhänger von ihm in der Nachkriegszeit erhofften.53 Dem Modell des politischen Geheimbunds oder der mönchischen Gemeinschaft setzt die Erzählung das einer lockeren Verbindung der souveränen Einzelnen entgegen, einer „kleine[n]

49 50 51 52 53

Nietzsche, Friedrich: „Also sprach Zarathustra“. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 4. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988, S. 187. Jünger: Besuch auf Godenholm, S. 15. Ebd., S. 95f. Ebd., S. 96. Zugleich kann man in der Marginalisierung des Hierophanten auch eine Differenz zum nationalrevolutionären Initiationsmodell erkennen, wie es Ingo Stöckmann für die erste Fassung des Abenteuerlichen Herzens aus dem Jahr 1929 beschrieben hat. Zwar dienen verrätselte Symbole und Begriffe weiterhin der Verständigung unter Eingeweihten, doch inszeniert sich der Autor dabei nicht mehr in der „autoritären Gestalt des ‚Führertum[s]‘“ (Stöckmann: Sammlung, S. 200).

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[...] Elite“ von Waldgängern,54 die über Schlüsseltexte und Schlüsselfiguren miteinander in Kontakt kommen. Dieses Modell entspricht aber nicht nur Jüngers Abneigung gegenüber sektiererischen Tendenzen, sondern es korrespondiert auch mit seiner Konzeption von Autorschaft. Darauf soll zum Schluss eingegangen werden. Unter dem Aspekt der Kommunikation erscheint Besuch auf Godenholm in doppelter Hinsicht paradox. Zum einen, weil die Erzählung, wie gesehen, eine Verständigung durch Kommunikationsverweigerung entwirft. Die Wirkung Schwarzenbergs gründet vor allem in seiner Ausstrahlung, in seiner Präsenz. Paradox erscheint zum anderen aber auch, dass dieses Modell unmittelbarer Wirkung im Medium des gedruckten Buches vermittelt wird, das auf eine öffentliche Wirkung und auf ein lesendes Verstehen zielt. Genau diese Doppelung von Schweigen und Reden, von esoterischer Zurückgezogenheit und öffentlichem Handeln kennzeichnet jedoch Jüngers Autorschaftsinszenierung in der Nachkriegszeit.55 Wie vor allem aus seinen Briefäußerungen zu ersehen ist, hat Jünger selbst die esoterische und die öffentliche Kommunikation nicht als Gegensatz begriffen. So betrachtete er die Publikation seiner Werke als Teil, aber nicht als Kern seiner Autorschaft. Das belegt etwa seine abwiegelnde Antwort an Gerhard Nebel, der sich in der frühen Nachkriegszeit intensiv darum bemühte, Jünger neue Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen.56 Jünger schreibt: Ich beobachte, daß mit den Jahren mein Interesse an der Reproduktion geringer wird. Die Leserschaft ist ohne Zweifel wichtig, doch steht sie im zweiten Rang. Das Primäre ist, daß das Opus überhaupt gelingt. Von diesem Faktum nimmt die Leserschaft Notiz, sie wirkt sich auf ihren Optimismus aus. Es ist, als ob der Autor Gold in einer geheimen Kammer aufgehäuft hätte und es nun zeigt. Der Schatz indes besteht und wirkt, auch ohne daß er sichtbar wird.57

Und in seinen Aufzeichnungen über Autor und Autorschaft heißt es: „Autorschaft. Wie soll der Begriff gefaßt werden? Ganz allgemein als Äußerung schöpferischer Kraft.“58 Die eigentliche Wirkung gründet Jünger zufolge al54 55

56

57

58

Jünger: Der Waldgang, S. 344. Vgl. Hagestedt, Lutz: „Ambivalenz des Ruhms. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 167–179, hier S. 178. Nebel gehörte auch zu denjenigen, die Jünger in der Nachkriegszeit dazu drängten, eine Führerrolle zu übernehmen. Vgl. dazu Streim, Gregor: „Der Auftritt der Triarier. Radikalkonservative Zeitkritik im Zeichen Jüngers und Heideggers, am Beispiel von Gerhard Nebel und Egon Vietta“. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Hg. v. Erhard Schütz u. Peter Uwe Hohendahl. Essen 2009, S. 69–85. Brief Jüngers an Nebel vom 8. April 1948. In: Ernst Jünger, Gerhard Nebel: Briefe 1938–1974. Hg. v. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann. Stuttgart 2003, S. 193. – Zur Autorschaftskonzeption im Briefwerk Jüngers vgl. das instruktive Nachwort zu dem Briefwechsel, ebd. S. 932–944. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“. In: Sämtliche Werke. Bd. 19, Essays IX. Fassungen III. Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 50.

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so in der vor oder hinter den Wörtern liegenden Präsenz des Autors – von der die Leser allerdings doch auf irgendeine Weise Kenntnis erlangen müssen. Die einzelnen Publikationen erhalten dadurch die Funktion von Zeichen, die auf das Geheimnis der Autorschaft, auf eine im Verborgenen wirkende metaphysische Potenz verweisen. Jünger stilisierte sich in diesem Sinne selbst als „metaphysischer Arbeiter“.59 Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass seine gesamte Publikations- und PR-Strategie in der Nachkriegszeit darauf ausgerichtet war, diese Konzeption von Autorschaft durchzusetzen. Er versuchte, wie Lutz Hagestedt es einmal treffend formuliert hat, „in der Gesellschaft so zu handeln, als ob [er] nicht zu ihr gehört“.60 Einen esoterischen Charakter hat in Jüngers Vorstellung schließlich auch die Lektüre. Denn im Grunde kommt es nicht darauf an, ob der Leser den Text versteht, ob er ihm eine bestimmte Botschaft entnimmt. Die eigentliche Wirkung vollzieht sich auch hier durch die Berührung mit dem Sakralen. Dadurch, dass der Leser durch die Lektüre auf den Autor verwiesen wird. In dem Kapitel „Rückblick auf Godenholm“ in den Annäherungen hat Jünger dieses Modell der Beziehung von Autor und Leser am Beispiel seines eigenen Textes beschrieben, indem er den verstreuten, teils offenen, teils verdeckten Zeugnissen der Wirkung nachspürte, die Besuch auf Godenhom in den knapp zwanzig Jahren seit seinem Erscheinen hervorgerufen hatte – bis hin zum Plan des Komponisten André Almuro, den Text als Vorlage für eine Oper (Visite à Godenholm, 1971) zu verwenden.61 Als Paradebeispiel einer esoterischen Lektüre dient dabei der junge Holländer Guido, der Jünger in Wilflingen besuchte. Guido hatte Besuch auf Godenholm angeblich in einer Hütte in Mexiko gelesen, ohne Deutsch zu können, und war doch durch die Lektüre so getroffen worden, dass er den Kontakt zu dem Autor suchte. Jünger kommentiert dies folgendermaßen: „Was konnte ihm die Lektüre eines verschlüsselten Textes gesagt haben, der in einer ihm fremden Sprache geschrieben war? Jedenfalls hatte er instinktiv erfaßt, daß darin ein ihm vertrauter Einstieg geschildert worden war.“62 Der Autor schließt daran eine Spekulation darüber an, auf welchem Weg Guido zu dem Buch gelangt sein mochte, und äußert die Vermutung, dass es ihm aus dem Kreis um Wolfgang Frommel zugekommen sein könnte: „auch eine der Schlüsselfiguren, von denen wenig gesprochen wird, doch die man 59 60 61

62

Die Bemerkung findet sich in dem bereits zitierten Brief an Nebel: Jünger, Nebel: Briefe, S. 193. Vgl. Hagestedt: Ambivalenz, S. 178 (Hervorhebung im Original). Jünger betrachtet diese Reaktionen dabei zugleich als Seismograph, der ihm Veränderungen der geistigen Lage anzeigt. So kommentiert er etwa das Eintreffen des Briefes einer spanischen Leserin am 7. Februar 1970 mit den Worten: „Es ist ein Zufall, daß der Brief gerade heute, daß er ad hoc kommt, doch bestätigen mir ähnliche Zeichen, daß der Ankratz stärker zu werden beginnt.“ (Jünger: Annäherungen, S. 373). Ebd., S. 374.

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kennt“.63 Es ist nicht wichtig, ob diese Vermutung zutrifft. Bezeichnend ist, dass Jünger sie anstellt. Denn er imaginiert dabei genau die Form esoterischer Kommunikation, die er durch sein Schreiben zu initiieren hoffte: Die Lektüre verbindet auf untergründige Weise Gleichgesinnte mit dem Autor und untereinander, ohne auf die feste Form eines Bundes angewiesen zu sein oder diese anzustreben. Die Vernetzung bleibt punktuell und unverbindlich, und sie erscheint Jünger gerade deshalb als passend für eine Zeit, in der Autoritäten an Anerkennung verlieren und die Nonkonformisten zu Einzelgängern werden.64 Von einer solchen Vernetzung von Einzelgängern handelt Besuch auf Godenholm ebenso wie die Erinnerung „Rückblick auf Godenholm“. Das Resümee, das Jünger am Ende seines Rückblicks zieht, hätte daher auch von Schwarzenberg formuliert werden können: „,Godenholm‘ blieb also für mich nicht gänzlich Monolog. Es führte mir einige Grenzgänger zu, Typen, die kein Programm haben.“65

Literaturverzeichnis Baron, Ulrich: „Jüngers Erzählung ‚Besuch auf Godenholm‘ (1952). ‚Annäherungen‘ an ‚Drogen und Rausch‘ (1970)“. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg. München 1995, S. 199–216. Baron, Ulrich: „‚Qualitäten des Überganges‘. Der Rausch in Leben und Werk Ernst Jüngers“. In: Ernst Jünger. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1990 (Text + Kritik 105/106), S. 89–97. Boveri, Margret: „Die Wandlungen des Nigromontan“. In: Merkur 6 (1952), H. 8, S. 791–794. Eliade, Mircea: Das Mysterium der Wiedergeburt. Versuch über einige Initiationstypen. Frankfurt a.M. 1997. Gennep, Arnold van: Übergangsriten. Übers. v. Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M., New York 1986. Hagestedt, Lutz: „Ambivalenz des Ruhms. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 167–179. Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 31–176. Jünger, Ernst: „Annäherungen Drogen und Rausch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 11. Essays V. Annäherungen. Stuttgart 1978. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (1984). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Stuttgart 1999, S. 9–266. Jünger, Ernst: Besuch auf Godenholm. Frankfurt a.M. 1952. 63 64 65

Ebd. „Wahrscheinlich wird diese Form der Existenz sich ausbreiten. Die Gesellschaft wird in zunehmendem Maße nicht nur vater-, sondern elternlos.“ (ebd., S. 377). Ebd., S. 377.

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Jünger, Ernst: „Besuch auf Godenholm“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 363–420. Jünger, Ernst: „Der Waldgang“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374. Jünger, Ernst: „Die Staubdämonen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 14. Essays VIII. Ad hoc. Stuttgart 1998, S. 33–38. Jünger, Ernst und Gerhard Nebel: Briefe 1938–1974. Hg. v. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann. Stuttgart 2003. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007. Kranz, Gisbert: Ernst Jüngers symbolische Weltschau. Düsseldorf 1968. Martus, Steffen: Ernst Jünger (=Sammlung Metzler 333). Stuttgart, Weimar 2001. Meyer, Martin: Ernst Jünger. München 1993. Montesi, Gotthart: „Machtersatz durch Magie“. In: Wort und Wahrheit 7 (1952), 2. Halbjahr, S. 800–803. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007. Nietzsche, Friedrich: „Also sprach Zarathustra“. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 4. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988. Pickerodt, Gerhart: „Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 339–347. Rychner, Max: „Ernst Jüngers neues Buch ‚Fahrt nach Godenholm‘ – eine Heilsschrift?“ In: Ders.: Sphären der Bücherwelt. Aufsätze zur Literatur. Zürich 1952, S. 291– 294. Schurtz, Heinrich: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. Berlin 1902. Stöckmann, Ingo: „Sammlung der Gemeinschaft. Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und Das abenteuerliche Herz (Erste Fassung)“. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 189–220. Streim, Gregor: „Der Auftritt der Triarier. Radikalkonservative Zeitkritik im Zeichen Jüngers und Heideggers, am Beispiel von Gerhard Nebel und Egon Vietta“. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Hg. v. Erhard Schütz u. Peter Uwe Hohendahl. Essen 2009, S. 69– 85. Streim, Gregor: „Wunder und Verzauberung. Surrealismus im ‚Dritten Reich‘?“. In: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Friederike Reents. Berlin, New York 2009, S. 101–119. Tauss, Martin: „Der halluzinatorische Rausch als archaische Initiation. Zum hermetischen Drogenheroismus in Ernst Jüngers Erzählung ‚Besuch auf Godenholm‘ (1952)“. In: Wirkendes Wort 52 (2002), S. 441–457.

Das Poetische heißt Sammeln

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Das Poetische heißt Sammeln Ernst Jünger im Spiegel der enzyklopädischen Literatur (Kempowski, Littell, Kluge, Müller) Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit der Rezeption Ernst Jüngers in der neueren enzyklopädischen Literatur. Als enzyklopädisch werden hier literarische Texte betrachtet, die sich explizit als Textcollagen und Kompendien ausweisen. Aufgrund ihrer dokumentarischen Verfahrensweise nehmen die hier behandelten Autoren (Kempowski, Littell, Kluge, Müller) eine zeithistorische Kontextualisierung vor, die Jünger einen stärkeren Zeitbezug bescheinigt, als gemeinhin in der Rezeption üblich ist. Über den Umweg der Jünger-Rezeption in der enzyklopädischen Literatur kann das Konzept einer enzyklopädischen Kontiguität sichtbar gemacht werden, das mit Jüngers eigener Chronistentätigkeit verglichen werden soll und das es erlaubt, Jüngers stilistische und thematische Bedeutung für die Vertreter der dokumentarisch-enzyklopädischen Literatur (allen voran Alexander Kluge) zu beschreiben. Der an sich erstaunlichen Tatsache, dass der Autor der ‚Gepäckerleichterung‘ eine Theorie des Sammelns entwickelt, wurde bereits Aufmerksamkeit gewidmet.1 In diesem Artikel soll dieses Konzept des Sammelns anhand von Jüngers Darstellung der eigenen entomologischen Sammeltätigkeit nach 1945 beschrieben und als spezifische Form der Bezugnahme auf eine Zeitgeschichte langer Dauer untersucht werden. Im zweiten Teil wird deswegen Jüngers Schrift Subtile Jagden (1967) im Mittelpunkt stehen. Jüngers Interesse an Insekten ist vor allem als Rückzug aus der Politik und der Zeit gelesen worden; Jünger entwerfe „eine Theorie des Sammlers, Antiquars und Bibliophilen als Widerständler gegen die Zeit“2. Sowohl die Rezeption innerhalb der enzyklopädischen Dokumentarliteratur als auch die Bezugnahmen auf Jünger in der aktuellen Performance-Kunst (in concreto: bei den Insektenkünstlern Jan Fabre und Ilya Kabakov) erlauben es, in der Konzeption des Sammlers eine Form der zeitgeschichtlichen Bezugnahme zu entdecken. 1

2

Vgl. Sader, Jörg: „Im Bannkreis des Sammlers“. In: Ders.: Im Bauche des Leviathan. Tagebuch und Maskerade. Anmerkungen zu Ernst Jüngers Strahlungen (1939–1948). Würzburg 1996, S. 179–210; Großheim, Michael: „‚Die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts‘. Moderne Kultur zwischen Konservierungswille und Überlieferungsfeindschaft.“ In: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2000), H. 2, S. 221–252. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 117.

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1. Zeitlosigkeit und Dokumentation Noch immer herrscht die Auffassung vor, dass Jünger nach 1945 die Zeit und der zeitgeschichtliche Bezug vollends abhanden gekommen seien. In seiner Studie zum Partisanen in der Literatur liest Paul Michael Lützeler den Essay Der Waldgang als Wiederauflage des Landsturmedikts.3 Es sei erstaunlich, dass diese Schrift überhaupt zum Druck gelangen konnte, da sie sich dem perpetuierten Kampf in einem abstrakt-transhistorischen Raum verschreibe, ohne die konkreten historischen Opfer (z. B. die Juden) zu nennen. Hans Blumenberg formuliert den Vorwurf auf mehr philosophische Weise und vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Heidegger und Carl Schmitt. Indem er einzelne Formulierungen (Metaphern, Doppelsätze) herausgreift und moniert, hadert Blumenberg vor allem mit dem Image des Autors als klassischem, formvollendeten Stilisten, der auf dieser Grundlage die politische Orientierung verschwinden lässt.4 Von Frivolität5 und „Obsoleszenz“6, von „Manierismus“7 sogar ist die Rede. Jünger habe sich im „Universum seiner Aufzeichnungen einen Fundus an Zutaten thesauriert“8, Akzidenzen, die die eigentliche Substanz, nämlich Jüngers platonisches Apriori von der Unerreichbarkeit der Wirklichkeit, nur bedingt kaschieren. Diesem Pauschalbefund widerspricht jedoch die Tatsache, dass Jünger in der neueren, kreativ-literarischen Rezeption in erster Linie in der Dokumentarliteratur (Kempowski, Kluge, Littell) bzw. von den Chronisten der Alltagsgeschichte rezipiert und von ihnen mit einem stark historisch-diagnostischen Potenzial versehen wird. Es ist nicht die Absicht, hier die neuere Rezeptionsgeschichte umfassend zu dokumentieren. Vielmehr soll ein kurzer Streifzug durch die spezifisch enzyklopädische Verarbeitung in erster Linie den Blick für den gewandelten Begriff des Erzählens schärfen, der Jüngers Zeitlosigkeit als erweiterte Zeitlichkeit umdeutet.

2. Kempowski und Littell In Kempowskis Echolot (1993) und auch in späteren Texten sind zahlreiche Zitate aus Ernst Jüngers Tagebüchern vorhanden.9 Aus Kempowskis Noti3 4 5 6 7 8 9

Lützeler, Paul Michael: „Partisan und Terrorist“. In: Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München 2009, S. 44–47. Blumenberg, Hans: „Bilderschwäche und Bilderverbot“. In: Ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Hg. v. Alexander Schmitz u. Marcel Lepper. Frankfurt 2007, S. 123–125, hier S. 124. Blumenberg: Mann, S. 45. Ebd., S. 131. Ebd., S. 24. Zum Thesaurus-Charakter des Spätwerks vgl. auch den Beitrag von Heiko Christians in diesem Band. Kempowski, Walter: Das Echolot. Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch. (Januar und Februar 1943). München 1993. Bd. 1, S. 84, S. 215, S. 296, S. 380. Es handelt sich vor allem um Zitate aus den Kaukasischen Aufzeichnungen.

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zen kann man ableiten, dass Kempowski sehr großen Wert auf diese Zitate legt. „Den Jünger habe ich heute im Laufe des Tages größtenteils eingearbeitet. Die Jünger-Texte sind natürlich Kleinodien. Ein ganz großer Autor, der Autor.“10 Diese Wertschätzung klingt zum Teil selbstbeschwichtigend und hängt mit der Entscheidung zusammen, nunmehr auch veröffentlichte Quellen und namhafte Autoren, also nicht nur Feldpostbriefe unbekannter Autoren als Ausdruck einer Alltagsgeschichte einzubeziehen. Eine Notiz erhellt auch schlagartig die Distanz zu Ernst Jüngers eigener, neusachlicher Tagebuch-Ästhetik. Kempowski verordnet: „Karten und Übersichten wollen wir nicht. Wie heißt es? Wir lassen die Seele sprechen.“11 Ernst Jünger firmiert in den subjektiven Erinnerungen des Alltags vor allem als Hoffnungsträger der inneren Emigration: Jünger schaut über so weite Zeiträume hin, daß ihm der unsere unter ganz anderer Perspektive erscheint: Überall scheint wie Goldgrund der metaphysische Urgrund jeder Erscheinung. Es wird einem so weit, so frei, alles, vieles wird begreiflich. Störend ist nur der Fremdwort-Tick bei Jünger, obgleich ich bei Gott kein wütiger Purist bin: Sentenz, Opus, Autor, inkonvenierend ... 12

Kempowskis Sammelprojekte können als dokumentarische Alltagsgeschichte umschrieben werden; sein „kollektives Tagebuch“ hat eher die Tendenz, die Geschichte zu „privatisieren“. Dass Ernst Jünger in Jonathan Littells enzyklopädischem Roman Les Bienveillantes (2006) vorkommt, dürfte angesichts der breiten Leserschaft Jüngers in Frankreich wohl nicht überraschen. Littell präsentiert Jünger jedoch wenig originell als unnahbaren Kriegshelden und als Frauenschwarm. Er suggeriert, dass Jünger auch noch während des kaukasischen Aufenthaltes rücksichtslos Frauen erobert hat. […] du célèbre écrivain Ernst Jünger, avec qui elle poursuivait une conversation animée. Jünger, un peu fatigué mais encore pimpant, portait un uniforme de campagne de Hauptmann de la Wehrmacht; Weseloh [die Frau, die ihm begegnet ist] me présenta Jünger, visiblement enorgueillie de sa nouvelle connaissance : elle s'était retrouvée par hasard dans son compartiment à Krapotkine.13

Das Stereotyp vom „feinen Pinkel“ prägt weiterhin die Debatte. Das JüngerBild, das hier gemalt wird, trifft sich mit einem Vorwurf, den Jünger anlässlich seines Zerwürfnisses mit seinem langjährigen Übersetzer Henri Plard zu entkräften versucht hat: In einem Brief an Armin Mohler vom 29.06.1988 verwahrt Jünger sich gegen den Vorwurf, er sei „nur mit [s]einer Gala-Seite bei ihnen [=den Franzosen]“ aufgetreten und habe seine Schriften in „kleinen

10 11 12 13

Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum Echolot. München 2005, S. 287. Kempowski: Culpa, S. 189. Kempowski: Echolot, S. 136. Littell, Jonathan: Les Bienveillantes. Seuil 2006, S. 169.

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nationalistischen Zeitschriften“ verheimlicht.14 Weder in seiner biographischen Rolle als Autor der inneren Emigration, noch in der des ewig-gestrigen Kriegsheroen15 kommt Ernst Jünger bei Alexander Kluge zur Sprache: Hier ist auch das produktive Moment der Archivliteratur bei Kluge zu verorten.

3. Alexander Kluge und Heiner Müllers Rendezvous mit Jünger Dass der Eigenname Ernst Jünger in Alexander Kluges enzyklopädischem Erzähluniversum auftaucht, dürfte angesichts der Ausdehnung sowie der Intertextualität dieses Universums wohl nicht Wunder nehmen. Trotzdem hat sich der ‚Erzähler der Kritischen Theorie‘ erst recht spät, und zwar erst seit der Phase der intensiven Zusammenarbeit mit Heiner Müller, mit dem Phänomen Ernst Jünger auseinandergesetzt.16 In einem 1993 mit Alexander Kluge geführten Interview gesteht Müller, Ernst Jüngers Oeuvre vor dem Bertolt Brechts gelesen zu haben. Er schätze die Verbindung von Ästhetik und Fragen der Macht und verdanke Jünger eine „Injektion von Aristokratismus gegen diese Nivellierungstendenz in den ersten Jahren“ der DDR.17 Obwohl man hier immer mit einer gewissen Inszenierung zu rechnen hat, ist der transideologische und transhistorische Raum, der hier eröffnet wird, geradezu paradigmatisch für die Konstellation der Hybridität, die die enzyklopädische Literatur eröffnet und die ich hier aufrollen möchte. In den gemeinsamen Gesprächen findet vor allem der frühe Jünger (vor 1945) Beachtung. Was Heiner Müller als sein ‚Rendezvous mit dem Tod‘ umschreibt, ist aber nicht nur eine rein biographische Angelegenheit: Ein Zitat aus den Kriegstagebüchern Ernst Jüngers erfährt hier eine provokatorische politische Aktualisierung: fiel mir [=Heiner Müller] wieder ein in der Intensivstation. Der Satz heißt: Beim Vorgang wie dem der Somme-Schlacht war der Angriff so etwas wie eine Erholung, ein geselliger Akt. Das versteht man in der Intensivstation, diesen Satz, weil der ist völlig richtig. Und man kriegt auch ein Verständnis – was ich wirklich sehr skeptisch be-

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Zitiert nach: Sader, Jörg: „‚Ihren Briefen verdanke ich viel …‘ – Zur unveröffentlichen Korrespondenz Ernst Jüngers und Henri Plards.“ In: Ernst Jünger? Eine Bilanz. Hg. v. Natalia Zarska, Gerald Diesener u. Wojciech Kunicki. Leipzig 2010, S. 322–333, hier S. 331f. In Littells Roman wird Jünger auch vom Kriegsverbrecher Otto Ohlendorf zitiert: „Ce qui compte, affirmait-il en citant Jünger, qu'il lisait avidement, ce n'est pas ce pour quoi on se bat, mais comment on se bat.“ (Littell: Bienveillantes, S. 256). Heiner Müllers Verhältnis zu Jünger kann inzwischen als sehr gut dokumentiert gelten. Vgl. Weitin, Thomas: Notwendige Gewalt. Die Moderne Ernst Jüngers und Heiner Müllers. Freiburg 2003; Fiorentino, Francesco: „Ernst Jünger und Heiner Müller. Für eine nicht nur menschliche Kultur.“ In: Verwandtschaften. Hg. v. Günter Figal u. Georg Knapp. (Jünger-Studien, Band 2) Tübingen 2003, S. 186–219. Kluge, Alexander u. Heiner Müller: „Geist Macht Kastration“. In: Dies.: Ich schulde der Welt einen Toten. Hamburg 1995, S. 74. Aus einem Interview mit Sendedatum 8.3.1993.

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trachte, auch selbst – sogar für die Verachtung der Demokratie bei Leuten, die zum Beispiel aus der Somme-Schlacht kommen.18

Indem Heiner Müller sich hier stark biografisch mit einem Satz von Ernst Jünger identifiziert, bezieht er die eigene Krankheit auf die Weltgeschichte und formuliert ein wohl seltenes Lob für Jüngers Verachtung der Demokratie. Kluge nun suggeriert eine ästhetische und auch politische Kompatibilität zwischen Müller und Jünger. Es geht ihm darum, die Mythencollage Müllers, wenn nicht auf Jünger selbst, so doch auf die Terminologie und die Vorstellungswelt Ernst Jüngers zu beziehen: „Heiner Müller und ‚Die Gestalt des Arbeiters‘“19 ist eine Erzählung, die sich prominent auf den ersten Satz aus Jüngers Der Arbeiter bezieht. Die Geschichte erhält auch im MarxProjekt und in den Geschichten für Marx-Interessierte aus 2008 eine prominente Stelle. Die Formel einer „Einübung in den Basiliskenblick“ verwendet Kluge für die Beschäftigung mit der Geschichte im magisch-transhistorischen Sinne. Kluge hat mehrfach betont, dass Heiner Müller ihm eine größere Freiheit im Umgang mit dem historischen Material beigebracht hat. Es ist wichtig festzuhalten, dass Kluge, anders als Kempowski, Jünger nicht aufgrund von reellen Tagebuchzitaten und reellen biografischen Bezügen integriert. Dazu hätte es im Prinzip Anlass gegeben: Da Kluge seinen Luftangriff-Text im Verlauf der Zeit immer mehr zu einem transhistorischen lieu de mémoire ausgebaut hat und im Material dazu die unterschiedlichsten Perspektiven auf Halberstadt zu Worte kommen lässt, fällt es um so mehr auf, dass er Jüngers Besuch in Halberstadt nicht erwähnt. Jünger war während des zweiten Weltkrieges im Rahmen eines Truppentransports auf dem Exerzierplatz in Halberstadt.20 Obwohl Kluge seinen Geburtsort Halberstadt unterschiedlichen Konstellationen einverleibt (so auch, auf etwas skurrile Weise, den Kriegsereignissen in Stalingrad), hat Kluge diese Tagebuchfragmente nicht verwendet. Im Pariser Tagebuch wird außerdem ein Augenzeuge zitiert, der u. a. den Anblick der noch völlig unversehrten Stadt Halberstadt als unheimlich einstuft: Wenn man sich an den Aufenthalt in den zerstörten Städten gewöhnte und dann in noch erhaltenen wie Hildesheim, Goslar oder Halberstadt kommt, wird man von dem Gefühl ergriffen, inmitten musealer Welten oder zwischen Opernkulissen zu sein. Dieses Gefühl zeigt deutlicher als die Zerstörung selbst, wie sehr wir aus der alten Realität, aus unserem angeborenen Geschichtsbild herausgetreten sind.21 18 19 20 21

Müller, Heiner: „Mein Rendezvous mit dem Tod“. In: Ders.: Ich bin ein Landvermesser. Hamburg 1996, S. 20. Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Bd. I: Basisgeschichten. Frankfurt a.M. 2000, S. 56f. Jünger, Ernst: „Gärten und Straßen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 25–221, hier S. 75. Jünger, Ernst: „Zweites Pariser Tagebuch [17.01.1943]“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III. Strahlungen II. Stuttgart 1980, S. 9–294, hier S. 214f.

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Die intensive Zusammenarbeit mit Heiner Müller hat Kluges Sicht auf das Phänomen Ernst Jünger geändert. Trotz der eklatanten Unterschiede, die hier nicht geleugnet werden sollen, gibt es auch überraschende Berührungsflächen, die eine Jünger-Rezeption der besonderen Art bei Kluge sichtbar machen.

4. Unwahrscheinliche Verbindungen und unterirdische Gewässer In Die Lücke, die der Teufel lässt macht Kluge auf die überraschende, rein räumlich-geographische Nähe Jüngers zu Werner Scholem aufmerksam. Gershom Scholems Bruder war „Mitschüler Ernst Jüngers im Gildemeisterschen Institut in Hannover“22. Dass diese Nachbarschaft aufgedeckt wurde, geht auf einen erstaunlich höflichen Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershom Scholem aus 1975 zurück, den Jünger in Siebzig verweht II (1. Juni 1977) und in Siebzig verweht V (4. Juli 1995) erwähnt und den Kluge hier unter Bezugnahme auf Gershom Scholems Biografie (1994) verwertet.23 Kluges Interesse gilt hier vorrangig den „unwahrscheinlichen Verbindungen zwischen Gesellschaftsschichten“.24 Die biografische Kontiguität, die hier narrativ erzeugt wird, hat wohl die Absicht, Benjamins einziger Bezugnahme auf Ernst Jünger, der negativen Rezension zu „Krieg und Krieger“, ein positives Pendant zur Seite zu stellen. Diese Rezension kann man als das einzige Zeugnis eines öffentlichen „Dialogs“ zwischen Ernst Jünger und Vertretern der Kritischen Theorie und gleichzeitig als Zeugnis von dessen Unmöglichkeit betrachten. Mutatis mutandis erprobt Kluge hier die Kompatibilität Jüngers mit den Vertretern der Kritischen Theorie (allen voran Walter Benjamin). Obwohl reiner Zufall, weist Kluge solcher rein räumlichen Kontiguität eine Anziehungskraft im Sinne des Magischen und des körperlich Magnetischen zu: Kluge fasst die Kategorie der Verwandtschaft räumlich auf. Verwandtschaft ist eine „Kategorie der Zugehörigkeit, dem Ortssinn verwandt“.25 Kluge geht es deutlich darum, die ideologischen Grenzen ins Gleiten zu bringen. Aufgrund der textuellen Kontiguität könnte man den Eindruck gewinnen, dass Jünger stärker auf die Hitler-Gegner aus dem KPD-Lager, auf die Hammerstein-Affäre und die Verschwörer des 20. Juli bezogen wird, als eigentlich ein Biograf rechtfertigen würde.26 Kluge geht es aber nicht um philologische Akribie, sondern 22 23 24 25 26

Kluge, Alexander: Die Lücke, die der Teufel lässt. Frankfurt a.M. 2003, S. 991. Schöttker, Detlev: „‚Vielleicht kommen wir ohne Wunder nicht aus‘. Zum Briefwechsel Jünger – Scholem“. In: Sinn und Form 61 (2009), H. 3, S. 303–308. Kluge: Lücke, S. 25. Kluge: Lücke, S. 821. Dass hier faction, Aneignung und Transferleistung im Spiel ist, verdeutlicht Kluge, indem er Werner Scholem einen chinesischen Biographen zudichtet, dessen Biographie bereits über 5000 Seiten gediehen sei. Kluge, Alexander: „Lebendigkeit von 1931“. In: Ders.: Lücke. Bd. 1, S. 25.

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darum, mögliche Allianzen, Auswege in letzter Minute zu schildern, Möglichkeitskonstellationen, die in diesem hybriden Milieu von jüdischen Utopisten, ultralinken Oppositionsführern und altpreußisch-konservativen Offizieren hätten anklingen können. Dass Jüngers Werk ein gewisses transideologisches Potenzial besitzt, belegte natürlich auch schon die zeitgenössische Rezeption des Arbeiters. Aufgrund der intensiven Bezugnahme auf das Wortfeld des Arbeiters geriet Jünger in den Verdacht des „Nationalbolschewismus“. Jünger bemüht später auch selbst geschickt seine Biografie, um eine transideologische und transnationale Qualität beanspruchen zu können. So macht er 1979 in seiner Ansprache zu Verdun27 seinen insgesamt eher enttäuschenden Ausreißversuch als Fremdenlegionär geltend, um von daraus abzuleiten, er habe sowohl in der französischen als auch in der deutschen Uniform gedient. Diese Strategie hat dazu geführt, dass Jünger tatsächlich als Symbol für die deutsch-französische Versöhnung hofiert wurde. Dieses transideologische Potenzial steht auch im Vordergrund, wenn Kluge in den eher didaktischen Interviews mit dem Soziologen Oskar Negt der Oktoberrevolution und die verfehlte (linke) Arbeiterrevolution auf deutschem Boden diskutiert und dabei Ernst Jünger ins Spiel bringt: Es werden sogar „unterirdische Gewässer“ namhaft gemacht, „die den Sturm und Drang, die Romantiker und Ernst Jünger verbinden.“28 Auf diese Weise kann man Kluges Bemühen, sämtliche Erscheinungsweisen des Lebens als Formen der Arbeit zu beschreiben, mit Jüngers programmatischer Schrift Der Arbeiter verknüpfen: In einem Zeitalter des Arbeiters [kann] es nichts geben, was nicht als Arbeit begriffen wird. Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tage und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sonnensysteme bewegt.29

Kluges enzyklopädisches Ordnungsprinzip lässt sich gewissermaßen von Jüngers Analogie-Begriff anstecken und assoziiert Jünger, dem materiellen Wortlaut des Namens nach, mit Jugend und Jugendlichkeit. Ernst Jünger bemerkt in seinen Tagebüchern, daß der Wortbestandteil „Ju“ in Jugend, Juchhe, Jubel, Julian, Jul-Fest oder in der Bezeichnung des Flugzeugs Ju 52 ein Jauchzen oder einen Jubellaut der Ursprache wiedergebe. Die neue Gesellschaft nach 1923, sagt Jünger, habe einen Jugendkult hervorgebracht, eine unverhältnismäßig hohe Hoffnung auf die nachwachsende Generation gesetzt, sozusagen einen Vor-

27 28 29

Jünger, Ernst: „Ansprache zu Verdun“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 527–533, hier S. 532. Negt, Oskar u. Alexander Kluge: Der unterschätzte Mensch. Bd. 1. Frankfurt a.M. 2001, S. 265. Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 11–317, hier S. 74.

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schuß auf die Unsterblichkeit, einen Glauben, der die Zeit des Jahrhunderts durchziehe.30

Der exakte Wortlaut dieser Aussage kommt wohl in Jüngers Tagebüchern nicht vor. Gleichwohl gibt es bei Jünger Überlegungen zur Ursprache, konkret im Lob der Vokale, in dem über ähnliche Motivierungen nachgedacht wird. Von der bedrohlichen Qualität des „schrecklichsten aller Vokale“ U ist im Abenteuerlichen Herzen tatsächlich die Rede, allerdings in der Kombination von U und A, die „man bei Sturmangriffen hören konnte und neuerdings auch beim tausendstimmigen Aufschrei, bei dem der Zuhörerschaft wie einem großen Tier die Urlaute aus der Brust gerissen werden.“31 Dass es sich bei Kluges Rezeption um eine Aneignung handelt, wird ersichtlich, wenn es Kluge gelingt, anhand eines Tagebuch-Zitats32 Jüngers Kriegserlebnisse zur Unterhaltungsmusik in Beziehung zu setzen.33 Fraglich ist jedoch, ob Jünger hier eher im apotropäischen Sinne zitiert wird. Darüber hinaus beschäftigt Kluge der Habitus des kaltblütigen Zeitzeugen, der stoisch die Grausamkeiten eines wahnsinnigen Diktators erträgt. Der Text Heidegger auf der Krim34 kann in dieser Hinsicht wohl als Kluges eingehendste Auseinandersetzung mit Jünger betrachtet werden.

5. Der Ernstfall und die absence In diesem synkretistischen Text hat Kluge eine bemerkenswerte histoire croisée vorgelegt, die auf fiktionalisierte Weise die Philosophie Heideggers mit dem „Ernstfall“ konfrontiert, nämlich mit der Judenverfolgung auf der Krim. Die Krim war das Revier der Partisanen schlechthin; Historiker vermuten, dass die besonders hartnäckige Verfolgung der Juden auf der Halbinsel auf das Unvermögen zurückgeht, die Partisanen zu schlagen. Mehrfach wurde schon argumentiert, dass dieser Collage-Text sich, was die räumliche Situierung und die Haltung der Gelassenheit betrifft, ohne Jüngers Kaukasische Aufzeichnungen nicht denken lässt.35 Die Entstehungsgeschichte des Textes fällt in die Zeit der Debatte um die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“. In dieser Periode wurde Jüngers Ästhetik erneut kontrovers diskutiert. Hannes Heer, der im Auftrag 30 31 32 33 34 35

Kluge, Alexander: „Eine Bemerkung Ernst Jüngers“. In: Ders.: Lücke, S. 294. Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz. Este Fassung“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 89f. Jünger, Ernst: „Der Kampf als inneres Erlebnis“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 9–103, hier S. 24. Kluge, Alexander: „August 1914“. Kairos Film im Auftrag der DCTP, Sendung: RTL, 04.06.2000. Kluge: Chronik, Bd. I, S. 413–518. So Ogrzal, Timo: „Es geht um den Herantransport der Horizonte. Der Schauplatz Ostkrieg in Alexander Kluges Heidegger auf der Krim“. In: Bilder des Ostens in der deutschen Literatur. Hg. v. Daniel Eschkötter, Ulrich Wergin u. Karol Sauerland. Würzburg 2009, S. 247–274.

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des Hamburger Instituts für Sozialforschung für die Konzeption der Ausstellung verantwortlich war, warf Jünger vor, er hätte die Verbrechen anhand einer mehr dokumentarischen Schreibweise aufdecken oder sogar fotografieren sollen.36 Jünger hat immer wieder beteuert, die gezielte Inspektion von Hinrichtungen und Massenermordungen ohne Auftrag hätte ihn als Widersacher kenntlich gemacht.37 Lethen hat Jüngers ‚Desaster des Wahrnehmungsprogramms‘ sehr treffend beschrieben. Kluge kommentiert den Vorwurf, Jünger hätte einfach fotografieren oder dokumentarischer schreiben sollen, indem er die konkrete Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Offiziere vor Ort detailliert (u. a. am Beispiel des „Falles Groscurth“) ausleuchtet. Dass Jünger auch sprachlich zu einer neusachlichen Ästhetik angehalten wird, trifft den Kern dessen, was die enzyklopädische Rezeption Jüngers bei den hier behandelten Autoren zu erhellen vermag, ohne Jünger wirklich zu erreichen. Für die wandelbare Erzählerpersona Alexander Kluges besteht die Annäherung darin, in die Diskurse und in die dezisionistische Gesinnung der Konservativen Revolution, also eigentlich in den ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ zu schlüpfen. Der Begriff des „Ernstfalls“ hat als Kategorie der Geschichtsdeutung zwar eine lange Vorgeschichte, wird aber trotzdem zu den „Überhänge[n] der Konservation Revolution“38 gezählt. Die Erlebnisse, die der Kunstfigur mit dem Namen Heidegger zugedichtet werden (u. a. die Zeugenschaft von Exekutionen), speisen sich nicht nur aus Heidegger- und Jünger-Zitaten, sondern darüber hinaus aus den unterschiedlichsten Intertexten (aus Goethes Iphigenie und Lehrjahren und den Prozessakten der Einsatzgruppenprozesse). Um Heidegger die Zeugenschaft der Judenverfolgungen erleben zu lassen, konfrontiert Kluge ihn mit Otto Ohlendorf, der bereits von Saul Friedländer als typischer Vertreter der in die mechanische Massenermordung verstrickten intellektuellen Elite apostrophiert wurde. Sogar Joseph Beuys’ Flugzeugabsturz auf der Krim und die Rettung durch die Krimtataren, inzwischen als fable convenue entlarvt,39 und dessen Vorliebe für Rudolf Steiner werden heranzitiert. Auch das Thema der absence und das quasi Ovid’sche Bedürfnis nach Verjüngung, das auch Littell verwendet, tau-

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Heer, Hannes: „Das Schweigen des Hauptmanns Jünger“. In: Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzeptes. Hg. v. Moritz Baßler u. Ewout van der Knaap. Würzburg 2004, S. 97–120. Vgl. die Metapher des „Films“, den der Historiker ins Säurebad eintaucht (S. 114). Vgl. dazu Kiesel, Helmut: Ernst Jünger. Die Biografie. München 2007, S. 513, der die antiquierende Wortwahl auch als „bestürzenden und auf Dauer beklemmenden Sammelbegriff für atavistisch-moderne Bilder aus der Vernichtungszone“ betrachtet. Laak, Dirk van: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 2002, S. 227. Dirk van Laak weist den antiken Ursprung diverser Begriffe der politischen Theorie Carl Schmitts nach (S. 227). Vgl. Kluge, Alexander: „Beuys auf der Krim“. In: Ders.: Stroh im Eis. Wer sich traut, der reißt die Kälte vom Pferd. Berlin 2010, S. 61.

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chen hier auf.40 In Heidegger auf der Krim wird Ernst Jünger an zentraler Stelle mit dem Komplex der Jugendlichkeit assoziiert, der vorhin mit dessen Namen verbunden wurde: „Ernst Jünger nennt das gleiche Phänomen [nämlich die Reproduktion der Zellen] Jugendlichkeit. Eine begehrenswerte Täuschung.“41 Diese Anekdote knüpft jedoch eklektisch an Heiner Müllers Überlebenskampf an – noch einen biographischen Intertext. Inmitten der Erschießungen nimmt sich der Protagonist Auszeit, um im Hochgebirge in der „Quelle der Jugend“ zu baden. Im Folgenden soll aber vor allem das Erzählen nach geologischem Zeitmaß beleuchtet werden. Die Beschäftigung mit Heraklit gemahnt an die transhistorische Weltsicht, an die die Bezugnahme auf Zeitläufte „von großer Dauer“ in Jüngers Spätwerk erinnert.

6. Jüngers Erzählen nach geologischem Zeitmaß: Eine Geschichte der longue durée Bei Jünger weisen sowohl psychogenetische als auch sozial-politische Entwicklungen dieselbe Nachhaltigkeit und Langsamkeit wie die Formation von Steinen auf, so dass sich eine transhistorische Sicht entfaltet, die sich „an Götter und an Steine“42 zu wenden scheint. In den Begleittexten zu Gestein (1965) von A. Renger-Patzsch schreibt Jünger: „Wir kennen nicht die Äonen, während derer sich das Gestein gebildet, geschichtet und dann gefaltet hat.“43 Äonen erscheinen als das angemessene Zeitmaß, solches „zeitloses Ineinandersein“44 zu erfassen. Davon geht allerdings keine Beruhigung oder Ewigkeitsgarantie aus, denn, in einer Entgegnung auf ein Zitat aus Faust II („Es wird die Spur von deinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn.“) schreibt Jünger: „Was sind Äonen? Fußstapfen im Meer der Ewigkeit.“45 Der leicht antiquierte, pastorale Sprachgebrauch von den „Denkhütten“46 ist für Jünger die Voraussetzung dafür, „Theorien in Arabesken der Erkenntnis umwandeln“47 und von der „Großwetterlage“48 ausgehen zu können. 40 41 42 43

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Vgl. dazu vom Verf., „Alexander Kluge’s Heidegger auf der Krim as a tribute to Heiner Müller“ (unveröffentlichtes Ms., 30 S.). Kluge: Chronik, Bd. I, S. 492. Jünger, Ernst: „Lob der Vokale”. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 11–46, hier S. 22. Jünger, Ernst: „Steine“. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 305–328, hier S. 313. Das Buch erschien 1965 als Privatdruck. Vgl. dazu Schöning, Matthias u. Bernd Stiegler: „Nachwort“. In: Jünger, Ernst u. Albert Renger-Patzsch: Briefwechsel 1943– 1966 und weitere Dokumente. Hg v. dens. u. a. München 2010, S. 195–212, die zu Recht betonen, dass die Texte nicht einfach als Ekphrasis gelesen werden können (vgl. S. 211). Jünger, Ernst: „Grenzgänge [1965]“. In: Sämtliche Werke. Bd. 13. Essays VII. Fassungen II. Stuttgart 1981, S. 177–192, hier S. 177. Jünger, Ernst: „Siebzig verweht II“, In: Sämtliche Werke. Bd. 5. Tagebücher V. Strahlungen IV. Stuttgart 1982, S. 431 (Eintrag unter dem Datum 1.10.1978). Jünger, Ernst: „Die Schere”. In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Erster Supplement-Band. Stuttgart 1999, S. 437–605, hier S. 473.

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Das Wahrnehmungsprogramm wird in den Erzähltexten nach 1945 verstärkt auf die Beschreibung von Mensch und Natur übertragen. Sie geht in Nigromontanus’ Lehre von den Oberflächen ein: Als Beispiel nannte er gern den feinen Schmelz auf alten Gläsern, die Seifenblasen und den Regenbogenschiller, den Öl auf Pfützen spannt. Die Welt sei nirgends bunter als in den feinsten Häuten – das sei ein Zeichen dafür, daß ihr Reiditum im Unausgedehnten sich beheimate.49

An „Sternzeitalter[n]“50 orientiert sich die eindrucksvolle Beschreibung der Gletscherwelten „vor der silbernen Kette des Kaukasus“51, die den Auftakt zum Roman Heliopolis bildet. Noch im Streitgespräch zwischen dem Kulturgeschichtler Orelli und dem Techniker Thomas Becker klingt – anhand der Metapher der „photographischen Dokumentierung“ – die Diskussion zwischen einem abbildrealistischen und einem poetischen Verständnis von Literatur durch. „Es könnte nichts schaden, wenn man euch zur photographischen Dokumentierung eurer Berichte anhielte. Da wäre manches Wunder bald aufgeklärt.“ „Richtig, der Film erfaßt ja auch den Regenbogen nicht.“ 52

Der Vorsokratiker Heraklit ist in diesem Kontext der überdeterminierte Stichwortgeber. Jüngers Tagebücher aus der Periode 1939–1945 zitieren Heraklit vermehrt gegen Ende des Krieges, um eine gleichsam transhistorische Aussageposition beziehen zu können. Ernst Jünger teilt seine Faszination für Heraklit und für die Macht des „So-Sein[s]“, des „Nomos“,53 mit Carl Schmitt. Die Maximen und Sprüche des Heraklit, „das härteste Gestein“,54 dienen im Alterswerk zur Beschreibung der eigenen Biographie.55 Aus den Stoikern leitet Jünger seine apokalyptische Ekpyrosis-Vorstellung ab. In den Adnoten zum Arbeiter-Buch schreibt Jünger, dass zur Beschreibung der Arbeitswelt historische und ökonomische Maßstäbe nicht ausreichen. Die gnomische, maximenhafte Erzählform prägt folglich das narrative Werk der Nachkriegszeit. Blumenberg hält fest, dass es solche gnomischen Sätze sogar im Krimiroman Eine gefährliche Begegnung, und zwar an einer zen47 48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 485. Ebd., S. 579. Jünger, Ernst: „Heliopolis“. In: Sämtliche Werke. Bd. 16. Erzählende Schriften II. Heliopolis. Stuttgart 1980, S. 19. Jünger: Heliopolis, S. 25. Ebd., S. 22. Zitiert nach der Erstausgabe: Jünger, Ernst: Heliopolis. Tübingen 1949, S. 24. Leicht geändert in: Sämtliche Werke. Bd. 16. Erzählende Schriften II. Heliopolis. Stuttgart 1980, S. 29. Jünger, Ernst: „An der Zeitmauer“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 397–645, hier S. 469. Jünger, Ernst: „Siebzig verweht IV“. In: Sämtliche Werke. Bd. 21. Tagebücher VIII. Strahlungen VI. Dritter Supplement-Band. Stuttgart 2001, S. 337. Vgl. Jünger, Ernst: „Post festum. Danksagung bei der Feier meines 80. Geburtstages. Zugleich Nachwort zur zweiten Gesamtausgabe“. In: Sämtliche Werke. Bd. 18. Erzählende Schriften IV. Die Zwille. Stuttgart 1983, S. 481–491, hier S. 484.

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tralen Stelle der Handlung, geben kann: „Zeitloses zu gewähren ist der Sinn der Zeit.“56 Eumeswil verfügt als Prosatext kaum noch über das übliche Präteritum (oder das historische Präsens) als Erzähltempus und erinnert in seinem absoluten Präsens eher an einen Verhaltenskodex für Anarchen. Es bietet sich an, auch Jüngers Eumeswil als enzyklopädischen Text zu betrachten, in dem die unterschiedlichsten Epochen miteinander verquickt werden. Jüngers Vertrautheit mit den Vorläufern der enzyklopädischen Semiose, Athanasius Kircher und Lullus ist belegt. Allerdings führt Jüngers Mythographie (z. B. die Ekpyrosis-Vorstellung), wie auch das Luminar, „aus der Zeit hinaus“,57 während Kluge immer wieder telemetrische Angaben und die Feuerleute ins Auge fasst, die das Feuer zu löschen haben. Stöckmann rekurriert auf die Figur der rhetorischen Personifikation, prosopopeia, um Jüngers Argumentationsmodus beizukommen.58 Barthes zufolge ist die Maxime bei den von Jünger geschätzten Autoren (Rivarol, de la Rochefoucauld) die Ausdrucksform der autarken, aristokratischen Persönlichkeit schlechthin. Die Form bringt also an sich schon die Autarkie der emphatischen Autorschaft zum Ausdruck.59 Da das sammelnde Verfahren eher zur typologischen Figuration einlädt, stellt die enzyklopädische Literatur die Notwendigkeit zur Diskussion, überhaupt noch Charaktere zu entfalten.

7. Jünger, Heidegger und die Kritische Theorie: Kluges „erpresste Versöhnung“? Der abenteuerlichste Schritt von Kluges Dokufiktion besteht darin, dass Kluge, jenseits aller Polemik, palimpsestisch die Nähe zu diesem gnomisch-gnostischen Schreib- und Denkmodus sucht und vielleicht sogar eine Kompatibilität zwischen der Denktradition Heideggers (und Jüngers) und Adornos Konzepten einer ästhetischen Rationalität andeutet. Kluge bezieht diese kosmische Transmutation, diesen Verjüngungsdrang auf Phänomene der Wucherung und der autopoietischen Selbsterneuerung, auf die subkutane Kommunikation zwischen den Zellen, der Schwärme und Geschwülste, die eben nicht rational verlaufen, sondern auch eine quasi-magische „Fernwirkung“ tätigen. Jünger und Kluge treiben beide ein Denken nach geologischem Zeitmaß voran, wenngleich sich das verwendete Vokabular ganz anders ausnimmt. Das einschlägige Heraklit-Zitat lautet: „Die aus Äonen bestehende 56 57 58 59

Jünger, Ernst: „Eine gefährliche Begegnung“. In: Ebd., S. 373–450, hier S. 428. Dazu: Blumenberg: Mann, S. 127. Jünger, Ernst: „Eumeswil“. In: Sämtliche Werke. Bd. 17. Erzählende Schriften III. Eumeswil. Stuttgart 1980, S. 353. Stöckmann, Ingo: „‚Prosa, die von uns gedeutet und beherrscht werden will‘. Über Ernst Jüngers politische Essayistik“. In: The Germanic Review 75 (2000), H. 1, S. 3–19, hier S. 18. Barthes, Roland: „De la Rochefoucauld: Réflexions ou Senteces et maximes“. In: Ders.: Oeuvres complètes. Hg. von Éric Marty. Paris 1994. S. 1335.

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Weltzeit, ein Kind ist sie, ein spielendes, hin und her die Brettsteine setzend, eines solchen Kindes ist die Herrschaft des Seins.“60 In einem Interview hat Kluge zugegeben, dass er seiner Kunstfigur Positivismus-kritische Heidegger-Zitate in den Mund legt, die auch von Adorno hätten stammen können: „Raum und Zeit sind der Rahmenbau für das rechnende, beherrschende Ordnen der Welt, ›als Natur und Geschichte‹; diese … Durchmessung der Welt vollzieht der neuzeitliche Mensch in einer Weise, deren metaphysisches Kennzeichen die neuzeitliche Maschinentechnik ist. Metaphysisch unentschieden bleibt, ob und wie dieser Wille zur planetarischen Ordnung sich selbst eine Grenze setzt. […]“61

Diese unheimliche Verwandtschaft haben auch die eher Heidegger geneigten Interpreten wie Lacoue-Labarthe schon früher festgestellt. Kluges CollageText ist wohl eine seltene positive Bezugnahme auf Jüngers Nachkriegsmythographie, auf seine Perspektivik der langen Dauer, die erst in Äonen das rechte Maß für die Erfassung von historischen Vorgängen findet. In diesem Sinne funktioniert die mythische Ent-Zeitlichung nicht länger als Leugnung bzw. Verklärung von historischen Tatsachen, sondern als Anlass für eine kosmisch angehauchte Gedächtnistheorie, die sogar an Rudolf Steiners esoterische Weltgedächtnis-Konzeption anknüpft. Insbesondere die Kritik am Rationalismus greift Kluge auf, um den Vertretern der Kritischen Theorie gleichsam eine späte Revision ihrer Haltung zur Mythologie zu bescheinigen. Adorno hatte zwar die Astrologie als gefährliches Halbwissen scharf kritisiert. In Kluges Texten aber spielen Formen der Tele-Vision (der Weitsicht), der Telepathie und der Astrologie eine prominente Rolle. Voraussetzung für die Annäherung ist also auch eine geänderte Sichtweise auf die Kritische Theorie, der Kluge bescheinigt, sich in quasi später Revision um eine Rehabilitation der Topoi und Kampfbegriffe des Gegners bemüht zu haben. Kluge hebt Walter Benjamins „Prolegomena einer jeden rationalen Astrologie“62 hervor. Kluge nimmt über die enzyklopädische Sammlertätigkeit eine Sichtänderung vor, die es erlaubt, Jünger mit Benjamin zu vergleichen (z. B. die Äußerungen zu Fourier63). Benjamin ist im textuellen Umfeld der erwähnten Zitate überaus präsent, und zwar nicht als für kognitiv orientierte Aufklärung eintretender Theoretiker, sondern als mystisch-gnostisch veranlagter Denker der Konstellationen.64 Kluge narrati60 61 62 63 64

Kluge: Chronik, Bd I, S. 483. Ebd., S. 431. Im Original Heidegger, Martin: Hölderlins Hymne „Der Ister”. Hg. von Walter Biemel. Frankfurt a.M. 1984, S. 59. Kluge: Lücke, S. 888. Jünger: Eumeswil, S. 308. In der englischen Übersetzung erläutert Kluge Benjamins esoterische Grenzgängerschaft auf didaktische Weise: „Recent attacks which link his [Benjamin’s early development to esoterical theories in Germany] do not affect that [i.e. the fact that „Benjamin’s contribution is at the heart of Critical Theory“]; antidotes can generally only be extracted from poison.“ Kluge, Alexander: The Devil’s Blind Spot. Tales from the new century. New York 2002, S. 312.

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visiert auch das Gerücht, Adorno habe kurz vor seinem Tod an einer Theorie der Kälte gearbeitet, die Kälte nicht als Physiognomie der Entfremdung, sondern als Ursprungsmoment betrachtet. Auch Jünger betrachtete 1959 die Eiszeit als „die große Lehrmeisterin, die uns technisch und moralisch abgehärtet, „unseren Willen gestärkt, uns denken gelehrt“65 habe. Über den Umweg Heraklits und über Nietzsches Faszination für den Hyperboräer lassen sich – Negt und Kluge zufolge –gravierende Unterschiede zwischen Heideggers eher idealistischer Heraklit-Auslegung und der materialistischen Tradition von Lassalle und Nietzsche ausmachen:66 Skoteinos, der Modus des Dunklen, ist in diesem eher materialistischen, von Hegel abweichenden Sinne bei Adorno ein Modell für die Fragen, die auch Kluges bruchstückhafte, änigmatische Schreibweise aufwirft. Die Relevanz von Jüngers zeitlosem Erzählen nach geologischem Zeitmaß für Kluges eigenes Erzählverfahren kann im Folgenden an einem konkreten Beispiel illustriert werden.

8. Die Erzählzeit der Äonen In Chronik der Gefühle ist ein weiterer kurioser, wenngleich aufschlussreicher Text Ernst Jünger gewidmet. Der Text mit dem plakativen Titel Hitler als Mondgänger bringt das enzyklopädische cross-mapping am besten zum Ausdruck. „Ernst Jünger, der sich bekanntlich für Insektenforschung interessierte“, übernimmt dort Kluges eigene Rolle: Er stellt die Fragen in einem Interview mit dem „Ahnenforscher Charly Scheydt, früher Reichssicherheitshauptamt, heute Unternehmer in einem baden-württembergischen Tal“.67 Hinter dieser Figur könnte man eine Anspielung auf Jüngers Freundschaft mit Friedrich Hielscher, dem spirituell veranlagten Begründer des Ahnenerbe-Gedankens vermuten. Das englische Verkleinerungswort Charly als Kosename für einen Vertreter dieses Ministeriums lässt jedoch aufhorchen. Tatsächlich gibt es einen Karl Scheydt, der in Fassbinder-Filmen als Buddy auftritt, u. a. in Fassbinders Traum-Film Das Jahr mit den 13 Monden.68 Dass hier nicht nur das avantgardistische Autorenkino, sondern auch die Schwulenszene die ideologisch nicht sehr kompatible Ahnenforschung unterwandert, ist eine interessante Pointe. Das fingierte Interview läuft darauf hinaus, die thematische Gestalt (Hitler) als wechselhaften Mondmenschen zu interpretieren, schwankend zwischen Tatenlosigkeit und Tatendrang („Das ist das Heraklitische im Stummfilmgeist“69). Diese kleine Geschichte spielt bereits hier auf den heiklen Gedanken an, Heidegger hätte als Prinzenerzieher und Partisan 65 66 67 68 69

Jünger, Ernst: An der Zeitmauer. Stuttgart 1959, S.198. Der Passus fehlt in der Gesamtausgabe. Negt, Oskar u. Alexander Kluge: „Heraklit, der Dunkle“. In: „Suchbegriffe. TV-Gespräche“. In: Dies.: Mensch, S. 254–262, hier S. 257: „Das Wort Gegensatz kommt nicht vor.“ Kluge: Chronik, Bd. I, S. 39. Charly Scheydt erscheint auch in den Credits zu Kluges Film Die Patriotin. Kluge: Chronik, Bd. I, S. 43.

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die nationalsozialistische ‚Revolution‘ auf eine intellektuelle Basis stellen können.70 Die Erzählung betont aber ihre eigene Unwahrscheinlichkeit. „Man kann jeden Stein einzeln sammeln“; der historische Verlauf sei allerdings bröckelig und richtungslos wie eine Geröll-Lawine. Gewissermaßen selbstkritisch hält der Text allerdings fest, dass geologische Zeitläufte von 11 Millionen Jahren „keine Zeitmaßstäbe sind für Vorgänge zwischen 1934 und 1941“.71 Die Pointe von Kluges Sammel-Metaphorik besteht aber darin, das Vergebliche und das Verworfene gegen die Idee von geradliniger Evolution stark zu machen. Nicht von ungefähr stellt Kluge den Heiner Müller gewidmeten Text „Das Poetische heißt Sammeln“72 symbolisch ans Ende seiner Chronik der Gefühle. Nur wenn man dieses eklektisch sammelnde Verfahren reflektiert, kann man verstehen, welche Rolle Ernst Jünger in Kluges Palimpsest-Reigen erfüllt und welches Bild sich daraus ergibt. Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass Kluges Bezugnahmen auf Jünger, im Anbetracht ihrer Science Fiction-Akzente, weiterhin dystopisch-apotropäische Züge aufweisen. Die Anschlussfähigkeit der einzelnen Namen und Ideologie weist jedoch selber schon gnostisch-esoterische Züge auf. Gewiss ist Kluges concordia discors eine utopische Angelegenheit. Um die Frage beantworten zu können, ob es sich nicht doch eher um eine utopische, erpresste Versöhnung handelt, sollen im nächsten Abschnitt Jüngers eigene Sammeltätigkeit, ihre Nähe zu esoterischen Wissensformen und ihre Rückwirkung auf seine erzählerische Ästhetik näher besprochen werden.

9. Jüngers Subtile Jagden und die Verausgabung Die Absicht der nachfolgenden Überlegungen zu Jüngers Subtile Jagden ist es, die Ansicht zu korrigieren, dass Jünger nach 1945 verstärkt sein Interesse der Entomologie zuwendet, um den Blick vom historischen Welttreiben abzuwenden bzw. um weiterhin die Kategorien einer a priori kriegerischen Gesellschaftsbildes auf die soziale Realität der Bundesrepublik zu projizieren. Dass dies nicht der Fall ist, soll hier zum Schluss anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit Hans Blumenbergs Jünger-Lektüre dargelegt werden. Autoren wie Hemingway, die anhand des Motives der Jagd Männlichkeitskult, Vitalismus und Abenteuerlust pflegen, ernten deswegen selten Sympathiewerte. Dennoch gilt es hier, das Motiv der subtilen Jagd angemes-

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71 72

Kluge, Alexander u. Wolfgang Müller: „Sie brauchen den literarischen Gesang nicht, um Sinn zu vermitteln. […]“. In: Glossen 9 (2000). Online: http://www2.dickinson.edu/glossen/heft9/ klugeinterview.html (Stand: 01.01.2011). Kluge: Chronik, Bd. I, S. 42. Kluge: Chronik der Gefühle. Bd. II: Lebensläufe. Frankfurt a.M. 2000, S. 1006.

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sen zu erfassen, um von daraus auch Zeitbezüge in Jüngers Spätwerk zu entdecken. Betrachtet Jünger die Schlacht des ersten Weltkriegs in den 30er Jahren noch als eine „mit Blut gespeiste[ ] Turbine“,73 so steht er nach dem Zweiten Weltkrieg der Synergie von Mensch und Maschine wesentlich skeptischer gegenüber. Dass der späte Jünger von der Bejahung der Technik bzw. von der avantgardistischen Ästhetik der Neuen Sachlichkeit abrückt, belegt auch folgende Äußerung zu Gottfried Benn in An der Zeitmauer: Wir können daher auch Gottfried Benn nicht in der Meinung beistimmen, daß der terminus technicus sogar in das Gedicht gehört. Sie entspricht einer nicht zu haltenden Grenzlage, fast einer Kapitulation. Zu allen Zeiten ist der Rang eines Geistes am Eifer zu erkennen, mit dem er sich auf solche Worte einläßt.74

Es ist nicht sofort deutlich, worauf Jünger sich genau bezieht. Benns Prosatexte Gehirne und Unter der Großhirnrinde verweisen zwar wiederholt auf medizinische Erkenntnisse rund um das Gehirn – allerdings immer schon positivismusskeptisch und daher nie im Sinne einer terminologischen Applikation. Was Jünger 1959 vielleicht gemeint haben könnte, ist der Vortrag Probleme der Lyrik von 1951, der zwar nicht so sehr terminologielastig ist, aber bekanntermaßen technizistisch, geradezu technokratisch argumentiert – oder, mit einem bekannten Satz aus Benns Doppelleben: „Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein.“75 Vermutlich bezieht Ernst Jünger sich auf Benns im Vortrag entwickelte Ideen über den poetischen Assoziationsgehalt von Fremdworten und auch von wissenschaftlichen Termini. Gleichwohl kann man nicht unbedingt sagen, dass Benn – abgesehen von der Idee eines Montage- und Roboterstils (den weder Benn noch Jünger realisiert haben) – einer Poetik des Terminus technicus das Wort redete. Jünger allerdings wird noch in Gläserne Bienen den Übergang vom Pferd zum Panzer als epochalen Wandel der Mechanisierung verstehen.76 Wer bei Jünger eine stählerne Figuration von Cyborg-Phantasien erwartet, wird vom Oeuvre nach 1945 Lügen gestraft. Jünger charakterisiert den Habitus des Käfersammlers in Subtile Jagden als einen Habitus des neunzehnten Jahrhunderts. Die große Zeit für solche Neigungen war schon vorbei. Die eigentliche Naturkunde, das liebvolle Betrachten, Vergleichen, Ordnen und Beschreiben von Objekten, galt

73 74 75 76

Jünger, Ernst: „Die Totale Mobilmachung“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 119–142, hier S. 133. Jünger: An der Zeitmauer [Fassung SW], S. 413. Benn, Gottfried: „Doppelleben“. In: Sämtliche Werke. Bd. V. Prosa 3. Stuttgart 1991, 83–176, hier S. 168. Jünger, Ernst: „Besuch auf Godenholm“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 363–420, hier S. 442.

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kaum noch als Wissenschaft. Dem Behagen an der Anschauung war der Genuß an der exakten, gezielten und messenden Beobachtung gefolgt.77

Der beschaulichen, eigentümlich domestizierten Insektenwelt, die Jünger beschreibt, geht der mörderische, kollektivistische Impetus, den moderne Künstler in der Regel in den Vordergrund stellen, gänzlich ab. Das Insekt ist bei Jünger gerade nicht das exemplarische Massentier und weicht so von geläufigen Vorstellungen ab. Das Insekt verkörpert die gesamte Metaphorik der dunklen Kräfte, die im Menschen schlummern, sobald er sich organisiert, verteidigt, sobald er vereinnahmt und erobert. [Es ist] eine Ikone des individuellen und kollektiven Panzers; das Insekt eine Ikone der Drohung, leicht entstehen Träume über Gigantismus und Mutationen, das Insekt wird zu einer Metapher für Panzer, Soldat und Angriff, mit Fernwaffen ausgerüstete Kriegsmaschinen; Zermalmer, Lähmer, Einwickler und Zerstörer von Feinden; mikroskopisch kleine Titanen, die das 30fache ihres eigenen Gewichts stemmen; raffiniert ausgerüstete faschistoide Völker, hierarchisch und streng, perfekt ausgerüstet mit Spähtruppen, Angreifern, Arbeitern - eine Vision heranrückender Kolonnen, wodurch aus den unansehnlichen kleinen Leibern ein kollektiver Körper entsteht, der frisst und tötet, sich einen Weg bahnt, springt, fliegt und plündert, den Menschen bedroht, die Ernte verwüstet, Hunderte von Metern vom eigenen Standort entfernt Völkermord begeht […].78

Im Gegenzug dazu nimmt sich Jüngers Schrift Subtile Jagden als eher beschaulich-elegischer Abgesang auf das Insekten-Sammeln als Kunstwerk im Zeitalter ihrer positivistisch-biologischen Sezierbarkeit heraus. Jüngers Subtile Jagden (1967) erlaubt es keineswegs, im feinen Gliederspiel der Insekten und ihrer ‚Staatsformen‘ noch die perfekte, technokratische Mischung von Mensch und Maschine zu vermuten, die in der ersten Fassung des Arbeiter angedacht war. Walter Benjamin hat hellsichtig festgestellt, dass eine solche radikale Technologisierung des Sozialen bei Jünger und seinen Mitstreitern nie angedacht war. Der vergangene Krieg habe mit seinen Zerstörungen den Beweis dafür angetreten, „daß die soziale Wirklichkeit nicht reif war, die Technik sich zum Organ zu machen“79. Vielmehr wurde das Soziale weiterhin in den Diskursen eines bürgerlich-individualistischen Kodexes artikuliert. Mutatis mutandis gilt dasselbe für Jüngers entomologisches Interesse. Das Insekt ist kein Massentier, wohl im Gegenteil: Die individuelle Entdeckerfreude ermöglicht es, noch die „feinsten Maschen der Normung“80 außer Kraft zu 77 78 79

80

Jünger, Ernst: „Subtile Jagden“. In: Sämtliche Werke. Bd. 10. Essays IV. Subtile Jagden. Stuttgart 1980, S. 11 u. S. 22. Hertmans, Stefan: „Engel der Metamorphose“. In: Jan Fabre. Engel und Krieger. Strategien und Taktiken. Hg. v. Martin Köttering. Nordhorn 1995, S. 15–21, hier S. 18. Benjamin, Walter: „Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift ‚Krieg und Krieger‘. Herausgegeben von Ernst Jünger“. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1972, S. 238–250, hier S. 238. Jünger: Subtile Jagden, S. 265.

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setzen. Jünger setzt Menschen in letzter Instanz nicht mit Insekten gleich, denn sonst „würden wir leben wie die Termiten, deren Bauten eben doch nicht Staaten [sind], sondern große Nester, in denen die Lebensblindheit regiert“81. Auch in der ersten Fassung von Heliopolis wird kritisch festgehalten, dass der moderne Rationalismus „auf die Bildung von intelligenten Insektenstaaten abzielt.“82 Folglich schlägt Burstein vorschnell Jünger aufgrund seiner Sammlertätigkeit einer Gruppe von organizistischen Vorstellungen verhafteten Autoren wie Wyndham Lewis zu, zu denen man Jünger nach 1945 wohl schwerlich rechnen kann.83 Anders als bei Darwin befindet der Beobachter sich gegenüber dem Tier in der Position des individuell Schaffenden: „man lässt die Art vorläufig im Großgenus Cicindela und schafft für sie ein Subgenus“.84 Die Namensgebung besitzt eine magisch-rituelle Qualität: „Auch die Beschreibung gehört zur Jagd. Das Wild wurde mit einem Tabu belegt.“85 Das Tabu besteht darin, dass der Namensgeber verewigt und in eine verschlossene Gemeinschaft eingeweiht wird. Jüngers emphatischer Begriff von Autorschaft ist vor dem Hintergrund dieser Tätigkeit zu verstehen. Die Metaphern von Schrift und Lesen, die Jünger in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet, verweisen auf diesen Zusammenhang. Die „subtile Jagd“ vertritt eine von Verschmelzung und Anteilnahme geprägte, phänomenologische Welterfahrung, die eher an die Hermeneutik als an den Positivismus erinnert. An dieser Stelle wäre die Nähe zu Heideggers Konzeption vom „Lesen“ als bergender „Auslese“ zu untersuchen. Jünger geht es sogar darum, die Assoziation mit der Uniform und mit dem Kriegerischen zu entkräften. So hat der anthropomorphe Blick auf die Natur bekanntlich der „Mantis“ eine Haltung des Betens bescheinigt, während es sich aus der Sicht der Wissenschaft um eine Angriffshaltung handelt. Gleichwohl verteidigt Jünger in Siebzig verweht86 quasi wider besseres Wissen diese religiöse Konnotation. Die entomologischen Funde der Vorläufer werden wie „Reliquien“87 gehütet. Die Tätigkeit ist Handwerk und zugleich Kult, so wenn Jünger (Jean-Henri) „Fabres Arbeitstisch“ besucht. Auch wenn „in Sérignan […] die gehortete Substanz - das riesige Herbar, Sammlungen von Insekten, Pilzen, Fossilien“ verblaßt und „vergilbt“, ist sie ein Objekt von „Pietät“88 und „Totendienst“.89 Entomologen werden zu Priestern, Genossen ei81 82 83 84 85 86 87 88

Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 177–329, hier S. 285. Jünger, Ernst: Heliopolis [EA], S. 175f; der Passus fehlt in der Gesamtausgabe. Burstein, Jessica: „Waspish Segments: Lewis, Prosthesis, Fascism“. In: Modernism/Modernity 4 (1997), H. 2, S. 139–164. Jünger: Subtile Jagden, S. 143 (meine Hervorhebung, GM). Ebd., S. 29. Jünger: Siebzig verweht II, S. 306. Jünger: Subtile Jagden, S. 275. Ebd., S. 276.

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nes esoterischen Ordens, einer „Sekte“90 erklärt. Indem die Insekten als mit Hieroglyphen und Geheimschriften beschriftete Wesen dargestellt werden, gelten die ausschließlich männlichen Sammler als Schriftgelehrten. Das Studium der Insekten hat in meinem Leben viel Zeit verschlungen – dergleichen muß man aber als Turnierplatz sehen, auf dem man sich in feinsten Unterscheidungskünsten übt. Nach vierzig Jahren liest man auf den Flügeldecken Texte wie ein Chinese, der hunderttausend Ideogramme kennt.91

Als Desideratum künftiger Forschung müsste einmal erforscht werden, ob Jünger mit den im Pariser Institut de Sociologie entwickelten Ideen zur „luxure“ und zum Exzess vertraut war, die, übrigens wie bei Roger Caillois, nicht ohne Bezugnahme auf Jüngers Schriften entwickelt wurden und denen die Kritik an Darwin gemeinsam ist. Nicht das Phantasma absoluter Ordnung also, sondern, „das Wunder, das sich in der Regel verbirgt“,92 die Ausnahme wird gesucht. Die Insektenwelt offenbart das „Schauspiel einer besonderen Perversion“,93 das sogar in einem Biotop „der striktesten Observanz“ Exzesse und Auswüchse ermöglicht. Vom „überlegene[n] Prinzip des Spieles“94 ist in einem an Caillois erinnernden Sinne bei Jünger die Rede. „Man fragt sich angesichts eines so autarken Geschöpfes, warum denn die Natur sich noch den Luxus leistet, Männchen hervorzubringen“.95 Derjenige, der sich, wie Erio in Auf den Marmorklippen, auf den gefährlichen Umgang mit Tieren einlässt, verweigere sich dem instinktiven Selbsterhaltungstrieb: alongside the instinct of self-preservation, which in some way orients the creature toward life, there is generally speaking a sort of instinct of renunciation that orients it toward a mode of reduced existence, which in the end would no longer know either consciousness or feeling – the inertia of the élan vital, so to speak.96

Diese Beobachtung aus Caillois’ Theorie zur Mimikry, die auch eine Theorie des Spieles ist, lässt sich auf Jünger übertragen. Jünger hat zwar nie direkt die Konzepte der Verausgabung und der Verschwendung auf das eigene Leben und Schreiben angewendet. In einem (insgesamt eher peinlichen) Spiegel-Interview97 deutet er jedoch die Burgunder-Szene,98 ohne Bezugnahme auf die 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Ebd., S. 277. Jünger: Subtile Jagden, S. 161. Jünger, Ernst: „Kaukasische Auzeichnungen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 407–492, hier S. 487. Jünger: Subtile Jagden, S. 253. Ebd., S. 57. Ebd., S. 111. Ebd., S. 253. Caillois, Roger: „Mimicry and Legendary Psychasthenia“. In: The Edge of Surrealism. A Roger Caillois Reader. Hg. v. Claudine Frank. Durham 2003, S. 91–102, hier S. 100. Augstein, Rudolf, Hellmuth Karasek u. Harald Wieser: „Ein Bruderschaftstrinken mit dem Tod“. Der Spiegel (1982), H. 33, 16.08.1982. Jünger, Ernst: „Das zweite Pariser Tagebuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III. Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 9–294, hier S. 271.

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direkten historischen Umstände, vor der Folie einer solchen Verausgabung. Die Entscheidung, sich nicht in die Sicherheit des Luftschutzkellers zu begeben, sei das eigentliche Skandalon der Burgunderszene. Dass im vorigen Tagebucheintrag erwähnt wird, dass sich für Jünger inmitten der Erschießungen von Deserteuren die Gelegenheit ergeben hat, „sich zur subtilen Jagd zu beurlauben“,99 trägt zur moralisch problematischen Funktionalisierung einer an sich eher idiosynkratischen Tätigkeit bei. Für den Künstler selbst aber, wie für Wladimir Nabokov, handelt es sich um „ein faszinierendes Spiel, ein Vorwand für subtilste Kombinationen und Differenzierungen“.100 Über das skurrile Interesse am Insektenleben kommt Sozialkritik in das Nachkriegsoeuvre hinein: Die Diagnose des Tierartenschwunds ist in den Tagebüchern Siebzig Verweht ein basso continuo der Gesellschaftskritik.

10. Jünger-Rezeption in der Performance-Kunst: Fabre und Kabakov Die Insektenwelt, und insbesondere die der Käfer, besitzt einen quasi-ästhetizistischen, äußerst artifiziellen Glanz101 und verleiht der Wahrnehmung (nach dem Prinzip des „Augenkontakts“) eine hypnotisch-rauschhafte Qualität. Diese beiden Aspekte werden von der aktuellen Performance-Kunst aufgegriffen. Jüngers Metapher, die Insekten seien beschriftet und müssten dechiffriert werden, greift der aktuelle Avantgarde-Künstler Jan Fabre auf. Fabre ist nicht nur für seine, vom Urgroßvater Jean-Henri Fabre inspirierte Insekten-Kunst bekannt, sondern stückelt auch Insektenpanzer zu abjekten Körpern und Waffenrüstungen zusammen. Dass der Performance-Künstler Fabre mit Ernst Jünger selbst vertraut ist, illustriert die Performance Die Begegnung (Vstrecha, 1987): In diesem Video unterhält Fabre sich mit dem ebenfalls entomologisch interessierten russischen Künstler Ilya Kabakov. Dabei wird auch Ernst Jünger als „Mittel der Verständigung“ zitiert.102 Nicht Bilder der disziplinierten Organizität, sondern die Universalität der Insektensprache und geschärftes, quasi-ästhetisches Sensorium stehen im Vordergrund, wobei nicht das Tohuwabohu der verwendeten Sprachen, sondern die Körperspra99 100 101

102

Ebd. Jünger: Subtile Jagden, S. 274. Jünger, Ernst: „Auf den Marmorklippen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 247–352, hier S. 256: „der reine und makellose Goldschein, der sich am Kopfe nach Juwelenart zugleich ins Grüne wandte und an Leuchtkraft steigerte.“ Vgl. die Beschreibung im Ausstellungskatalog von Munder, Heike u. Felicity Lunn (Hg.): When Humour Becomes Painful. Zürich 2006, S. 175: „Die beiden Insekten ergehen sich zunächst gut gelaunt in allerlei soziopolitischen Diskussionen über Börsen- und ökologische Fragen. Dann beginnen sie in ihren beiden Muttersprachen (Flämisch bzw. Russisch) eine lebhafte Konversation, in der sie Conan Doyle, Ernst Jünger, William Whewell und auch Nietzsche zitieren und unentwegt nicken und lächeln, als ob sie sich bestens verstünden.“

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che für diese positive Sichtweise bürgen. Die Performance versieht das Tierverhalten zwar mit einer Ironie, die man bei Jünger vermisst, die aber in der Thematisierung und Verwendung von Blut und verwesendem Fleisch auch an die kultischen und ritualisierten Aspekte anknüpft, die bei Jünger Thema sind.

11. Schlussfolgerung Es konnte festgestellt werden, dass Jünger intensiv in der enzyklopädischen Dokumentarliteratur rezipiert wird. Der historischen Orientierung dieser Dokumentarliteratur entsprechend, steht bei Kempowski und Littell – mit unterschiedlicher Akzentsetzung – ausschließlich der Jünger der beiden Weltkriege im Vordergrund. Nur Kluge knüpft auch an den Spätstil und dessen Perspektive extrem langer Dauer an, verfremdet diesen aber in synkretistischer Manier. Auf diese Weise versucht Kluge, Jünger mit den Vertretern der Kritischen Theorie ins (utopische) Gespräch zu bringen und dabei auch dem kosmisch-esoterischen Duktus einen Platz zuzuweisen. Jüngers Bekenntnis zu einem quasi-phänomenologischen Verständnis von Sammeln als Affinität ermöglicht tatsächlich eine solche Annäherung, deren Unwahrscheinlichkeit Kluge jedoch nicht leugnet. Dies ist der sprunghaft wuchernden Kontiguität, die dem von Kluge gesammelten Material innewohnt, durchaus anzumerken. Es kommt aber darauf an, diese (manchmal auch erfundenen) Zitate als Knotenstellen und Verweise in einem geradezu wuchernden Rhizom von Beziehungen zu beschreiben.103

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Der Autor dankt Thorsten Ries und Hans Vandevoorde für ihre Hinweise.

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Das Poetische heißt Sammeln

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2. POLITIK

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Die Entpolitisierung des Politischen Ernst Jüngers Essayistik der 1950er Jahre War Ernst Jünger ein politischer Autor? Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Politikdefinition ab, die man ihr zugrunde legt. Geht man von Max Webers Definition aus, wonach Politik immer das „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“ bedeutet und politische Fragen immer Fragen der „Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen sind“,1 so lässt sich die Frage für die Zeit der Weimarer Republik mit Ja beantworten. Nicht nur enthielten Jüngers Kriegsbücher eindeutig nationalistische Botschaften. Vor allen Dingen seine rege Tätigkeit als politischer Publizist und Agitator der bündischen Rechten zielte unmittelbar auf die politische Aktion, auf den Umsturz der republikanischen Ordnung und die Errichtung einer „nationale[n] Diktatur“.2 Von diesem Aktivismus hat sich Jünger jedoch schon zu Beginn der 1930er Jahre schrittweise verabschiedet und sich während des ‚Dritten Reichs‘ vom Politischen weitgehend zurückgezogen. „Ich habe mir inzwischen die Dinge neu zurechtgelegt“, schrieb er im Februar 1937 an seinen Bruder Friedrich Georg, „und gedenke vor allem in politicis in den nächsten Jahren eine strengere Haltung einzunehmen, indem ich dergleichen in Bausch und Bogen hinter mir zurücklasse.“3 Ist Jünger diesem Vorsatz auch nach 1945 treu geblieben? Auf den ersten Blick hat es nicht unbedingt den Anschein. Mit seinen zeitkritischen Essays Der Waldgang von 1951, Der Gordische Knoten von 1953 und Der Weltstaat von 1960 sowie seiner Übersetzung und Bearbeitung der Maximen des französischen Konterrevolutionärs Antoine de Rivarol von 1956 wandte 1 2

3

Weber, Max: Gesammelte Politische Schriften. Hg. v. Johannes Winckelmann. 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 506. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001, S. 152. Die umfangreiche Literatur zu Jüngers nationalistischem Aktivismus kann hier nicht angeführt werden. Vgl. für einen Überblick die beiden neueren Darstellungen von Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 266–399; Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie. München, Zürich 2007, S. 283–362. Jünger, Ernst an Friedrich Georg Jünger, 14.02.1937, Nachlass Friedrich Georg Jünger, DLA Marbach. Vgl. zu Jüngers Wandel vom politischen Aktivismus zum musischen Attentismus Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007. Die folgenden Ausführungen gehen im Wesentlichen auf diese Arbeit zurück.

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sich Jünger auch in den 1950er Jahren politischen Gegenständen zu. Er tat das jedoch in einer Weise, die diesen politischen Gegenständen den Bezug zu Machtfragen im Sinne Webers entzog. Er behandelte politische Fragen aus einer metapolitischen Perspektive und trug so zu ihrer Entpolitisierung bei. Dies soll im Folgenden nicht nur an Jüngers Essays selbst gezeigt werden, sondern auch an seiner Auseinandersetzung mit den ehemaligen Weggefährten Carl Schmitt und Ernst Niekisch sowie mit seinem zeitweiligen Bewunderer Armin Mohler, die alle drei zu scharfen Kritikern von Jüngers Strategie der Entpolitisierung wurden.

1. Der Waldgang zwischen Aktion und Kontemplation Nach 1945 erschien Ernst Jünger gleichsam als politischer Autor im Wartestand. Zwar war er ein gebranntes Kind in Sachen politischer Agitation. Gleichzeitig hielt er sich aber dennoch für einen politischen Beobachter mit Weitblick, der seinen Zeitgenossen einiges zum Zustand der Welt mitzuteilen hatte. So schrieb er etwa im März 1948 an seinen Bruder, „daß es gut wäre, wenn ich mich zur Lage äußerte“, denn er fühle, „daß ich den jungen Deutschen den Star stechen könnte, mit dem sie behaftet sind“.4 Doch waren die Umstände dafür nicht günstig. Obwohl er sich nie einseitig vom Nationalsozialismus hat vereinnahmen lassen, war er in der Nachkriegszeit dennoch als Nationalist und Militarist der Vorkriegszeit politisch diskreditiert und sah sich einer ihm feindlichen Öffentlichkeit gegenüber, die er für abermals gleichgeschaltet hielt, diesmal nicht durch die Nationalsozialisten, sondern durch die Alliierten.5 Schon seine Denkschrift Der Friede, die er 1946 als „aussenpolitische Mitgift“6 für den militärischen Widerstand bezeichnete, war nicht in der von ihm erhofften Weise rezipiert worden.7 Im Dezember 1945 hatte er an seinen Bruder geschrieben, dass er darüber nachdenke, „dieser Arbeit ein Seitenstück zu geben durch einen innenpolitischen Rückblick auf die letzten zwölf Jahre, der in ein ‚Programm‘ ausmündet“, wozu er aber zunächst die „Auswirkung der Friedensschrift als praktische Grundlage“ bräuchte.8 Doch diese praktische Grundlage hat sie ihm in seinen Augen offenbar nicht so schnell gelegt. Jedenfalls ist der „Aufruf an das deutsche Volk“,9 an dem Jün4 5 6 7

8

Jünger, E. an F. G. Jünger, 28.03.1948, Nachlass F. G. Jünger, DLA Marbach. Vgl. zu Jüngers Lage nach 1945 neben Morat: Tat, S. 279–299, auch Neaman, Elliot Y.: A Dubious Past. Ernst Jünger and the Politics of Literature after Nazism. Berkeley u. a. 1999, S. 161–211. Jünger, Ernst u. Gerhard Nebel: Briefe 1938–1974. Hg. v. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann. Stuttgart 2003, S. 90. Vgl. zur komplizierten Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der Friedensschrift Tommissen, Piet: „Ernst Jüngers Friedensschrift. Versuch einer Rekonstruktion ihrer Geschichte und ihres Schicksals“. In: Anarch im Widerspruch. Neue Beiträge zu Werk und Leben der Gebrüder Jünger. Hg. v. Tobias Wimbauer. Schnellroda 2004, S. 243–292. Jünger, E. an F. G. Jünger, 05.12.1945, Nachlass F. G. Jünger, DLA Marbach.

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ger laut Gerhard Nebel 1948 arbeitete, nie erschienen. Man kann jedoch annehmen, dass Jüngers Überlegungen zur „Lage“, die er in den unmittelbaren Nachkriegsjahren anstellte, schließlich in den 1951 erschienenen Essay Der Waldgang eingegangen sind. Der Waldgang bündelte Jüngers Erfahrungen der „Jahre der Okkupation“10 zwischen 1945 und 1949. „Der Waldgang folgte auf die Ächtung“, wie Jünger schrieb, „durch ihn bekundete der Mann den Willen zur Behauptung aus eigener Kraft“.11 Ohne die Alliierten beim Namen zu nennen, sprach Jünger von den „fragenstellende[n] Mächte[n]“, deren „Fragebogen“ gegenüber man zu bedenken habe, „daß Schweigen auch eine Antwort ist“.12 Jünger kritisierte die „Theorie der Kollektivschuld“ und die Praxis, „den Besiegten rechtsförmlich zu verurteilen“, wodurch die Stoßrichtung gegen die Sieger des Zweiten Weltkriegs, das Verfahren der Entnazifizierung und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse deutlich wurde.13 Allerdings bestand seine Kritik am Verhalten der Alliierten nicht darin, es detailliert und konkret anzugreifen. Vielmehr setzte er die Herrschaft der Sieger mit der der Diktatoren gleich und skizzierte in allgemeinen Wendungen ein totalitäres Zeitalter, wodurch er zugleich die Unterschiede zwischen Faschismus, Sowjetkommunismus und westlicher Demokratie verwischte. Auf diese Weise war der Waldgang zugleich eine Reflexion auf die Situation des besiegten Nachkriegsdeutschlands und auf die Frage nach der „Freiheit des Einzelnen“14 in Zeiten der totalen politischen und organisatorischen Planung. Jünger bündelte diese Bedeutungen in dem via Carl Schmitt von Thomas Hobbes entlehnten Begriff des „Leviathans“,15 der nicht nur für die politische Diktatur stand, sondern allgemein für den modernen, seine Untertanen total erfassenden und regulierenden Staat. Gleichzeitig hielt er auch an seinem Anfang der 1930er Jahre formulierten Begriff vom „Zeitalter des Arbeiters“ für die Kennzeichnung der „statistisch überwachten und beherrschten Welt“ fest.16 Doch so, wie die Gestalt des Arbeiters die des „Un9 10 11 12 13

14 15 16

So Nebel in einem Brief an Armin Mohler vom 5. April 1948, zit. n. Jünger u. Nebel: Briefe, S. 937. So der Titel von Jüngers Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1945 bis 1948; vgl. Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation. Stuttgart 1958. Jünger, Ernst: Der Waldgang. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374, hier S. 318. Ebd., S. 284. Ebd., S. 351 u. S. 357. Jüngers Waldgang ist damit als Teil des von Gregor Streim beschriebenen Okkupationsdiskurses der Nachkriegszeit kenntlich; vgl. Streim, Gregor: „Unter der ‚Diktatur‘ des Fragebogens. Ernst von Salomons Bestseller Der Fragebogen (1951) und der Diskurs der ‚Okkupation‘“. In: Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938–1949 (Zuckmayer-Jahrbuch 7). Hg. v. Gunther Nickel. Göttingen 2004, S. 87–115. Jünger: Waldgang, S. 297. Ebd., S. 312. Ebd., S. 297 u. S. 295. Vgl. zu Jüngers Großessay Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt von 1932 Morat: Tat, S. 80–104.

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bekannten Soldaten“ nach dem Ersten Weltkrieg abgelöst habe, trete nun der „Waldgänger“ als dritte Gestalt auf, um „dem Automatismus sich zu widersetzen“ und „ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit“ zurückzugewinnen.17 Im Waldgang vollziehe sich „die Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem technischen Kollektiv und seiner Welt“, wobei der „Wald“ ganz allgemein für den „Ort der Freiheit“ stehe.18 Hieraus wird bereits deutlich, dass Jünger mit dem Waldgang versuchte, eine Gegengestalt zu der des Arbeiters zu entwerfen und so eine Symbolfigur für den Widerstand gegen die technokratische Arbeitswelt zu schaffen, die er selbst einst propagiert hatte und aus der er sich nun zurückziehen wollte. Ging es im Arbeiter darum, sich in die von der Statistik organisierten Kollektive einzuordnen, so war es das Anliegen des Waldgängers, „aus der Statistik herauszutreten“ und aus der „statistisch fassbaren Ordnung“ hinüberzuwechseln „in jene unsichtbare, die wir als den Waldgang ansprechen“.19 Auf diese Weise transformierte Jünger auch seinen heroischen Realismus der Zwischenkriegszeit, der für die Anpassung der Freiheit an die Notwendigkeit plädiert hatte, während Jünger nun den „Mangel an Freiheit“20 im Arbeitsstaat kritisierte. Damit hat Jünger seinen Heroismus nicht gänzlich aufgegeben, aber der Heroismus bestand nun nicht mehr in der Anpassung an die technischen Zwänge, sondern im Widerstand gegen sie. Im Begriff des „Widerstands“ kommt zugleich die im Waldgang letztlich unaufgelöste Spannung zwischen „Aktion“ und „Besinnung“ zum Ausdruck.21 Denn einerseits bezeichnete Jünger den Waldgänger als „Partisan“ und als „Mann der freien und unabhängigen Aktion“.22 An seinen Verleger Vittorio Klostermann schrieb Jünger 1951 sogar, dass der Waldgang so angelegt sei, dass er „unmittelbar in die Praxis übergehen kann“.23 Doch andererseits wird in dem Essay deutlich, dass der Partisan für Jünger nicht die 17 18 19 20 21

22 23

Jünger: Waldgang, S. 306. Ebd., S. 307 u. S. 312. Ebd., S. 298f. Ebd., S. 309. Ebd., S. 315. Eva Horn spricht in diesem Zusammenhang von Jüngers Wald als einer „Zone der politischen Latenz“ (Horn, Eva: „‚Verrat im 20. Jahrhundert‘. Zur Genealogie des Irregulären in der politischen Theorie der fünfziger und sechziger Jahre“. In: Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien. Hg. v. Cornelia-Epping Jäger, Torsten Hahn u. Erhard Schüttpelz. Köln 2004, S. 138–156, hier S. 141). Der Waldgänger könne als „Schläfer“ (ebd.) jederzeit politisch aktiviert werden. Mit Erhard Schütz ist aber zu ergänzen, dass Jünger diese Möglichkeit des Aktivierens „im Verlauf der weiteren Selbstentrückung offenbar entschwand“ (Schütz, Erhard: „Der Name für Unabhängigkeit. Die Strategien von Ernst Jüngers Waldgang im Kontext“. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Hg. v. Erhard Schütz u. Peter Uwe Hohendahl. Essen 2009, S. 55–67, hier S. 62). Jünger: Waldgang, S. 307 u. S. 344. Jünger, Ernst an Vittorio Klostermann, 11.08.1951, Nachlass Vittorio Klostermann, DLA Marbach.

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einzige und auch nicht die wichtigste Erscheinungsform der Gestalt des Waldgängers war. Wenn, wie er schrieb, das „tätige Prinzip“ sich „im Arbeiter entfaltet“,24 der Waldgänger aber die Gegengestalt zum Arbeiter war, dann konnte der Waldgänger nicht seinerseits eine Verkörperung des tätigen Prinzips sein. Während der Arbeiter die Gestalt der totalen Mobilmachung und damit der fortwährenden Dynamisierung und Bewegung war, waren dem Waldgänger die Ruhe und das Beständige zugeordnet. Der „Mensch der Zivilisation, der Mensch der Bewegung und der historischen Erscheinung“, so Jünger, werde in der Gestalt des Waldgängers „seinem ruhenden und überzeitlichen Wesen“ gegenübergestellt.25 Der Austritt aus der Arbeitswelt galt Jünger als Eintritt in den Bezirk des Überzeitlichen und Unverletzbaren: „Der Wald ist Heiligtum.“26 Folglich konnte der Waldgänger auch nicht in erster Linie politischer Aktivist sein. Vielmehr könne er nur Erfolg haben, so Jünger, „wenn ihm von den drei großen Mächten der Kunst, der Philosophie und der Theologie Hilfe geboten und Bahn im Ausweglosen gebrochen wird“.27 Die für Jünger wichtigste Verkörperung des Waldgängers war nicht der Guerillakrieger, sondern der „Autor“, „denn Autorschaft ist nur ein Name für Unabhängigkeit“.28 Aus der „Überlegenheit der musischen über die technische Welt“ folgerte Jünger: „der Dichter ist Waldgänger“.29 Folglich sollte der Widerstand im Wald – wie schon in den Marmorklippen – in erster Linie mit geistigen Mitteln geleistet werden.30 Für Jünger stellte das Zeitalter der totalen Mobilmachung zugleich ein Zeitalter der totalen Politisierung dar, wie er es im Arbeiter geschildert und begrüßt hatte. Der Waldgänger war auch in diesem Sinn der Gegentypus zum Arbeiter, da er sich gerade nicht total politisieren lassen wollte und die Freund-Feind-Unterscheidung unterlief, indem er sich der Sphäre des Politischen entzog und die Entscheidung über die von den „fragestellenden Mächten“ gestellte Alternative des „Entweder-Oder“ verweigerte.31 Jünger beschäftigen im Waldgang, wie er selbst schrieb, „andere als politische Ideen“.32 Der Widerstand gegen den Leviathan war für Jünger also auch ein Widerstand gegen den Zwang zur Politik. Gleichzeitig war er ein „Widerstand gegen die Zeit“, und zwar „nicht nur gegen diese“, wie Jünger präzisierte, „sondern jede Zeit überhaupt“.33 Der Waldgänger müsse sich den 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Jünger: Waldgang, S. 306. Ebd., S. 345. Ebd., S. 370. Ebd., S. 306. Ebd., S. 307. Ebd., S. 319f. Vgl. zu Jüngers Roman Auf den Marmorklippen von 1939 in diesem Zusammenhang Morat: Tat, S. 216–224. Jünger: Waldgang, S. 361. Ebd., S. 325. Ebd., S. 333.

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Zugang offen halten „zu Mächten, die den zeitlichen überlegen und niemals rein in Bewegung aufzulösen sind“.34 Der Waldgang als Übertritt ins Zeitlose bedeutete so für Jünger zugleich einen Austritt aus der Geschichte. Mit diesem Schritt ins Posthistoire war Ernst Jünger in der Nachkriegszeit nicht allein.35 Er stellte sich damit aber gegen zwei seiner ehemaligen Weggefährten, mit denen er sich nach 1945 über die Bewertung der Politik und des Politischen auseinandersetzte: Ernst Niekisch und Carl Schmitt. Mit Niekisch stritten beide Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger nach dem Zweiten Weltkrieg über die Haltung zur neuen Weltordnung.36 Während Niekisch für eine klare politische Parteinahme zugunsten des Ostens plädierte, verweigerten die Brüder Jünger eine politische Positionierung und zogen sich auf das zurück, was Friedrich Georg Jünger gegenüber Niekisch die „musischen Territorien“37 nannte. Den von den Brüdern Jünger in dieser Kontroverse konstruierten Gegensatz von musischem und politisch-aktivem Menschen aktualisierte Ernst Jünger auch im Waldgang, wobei der Waldgänger als musische Figur erschien. Deshalb konnte der Waldgang kaum Niekischs Gefallen finden. Tatsächlich formulierte dieser 1951 eine ausführliche Kritik daran, die er zwar nicht veröffentlichte, Jünger aber mit der Bemerkung schickte, sie setze sich „mit dem von Ihnen aufgeworfenen Problem als mit einem Problem auseinander, das ich auch als das meinige betrachte“.38 Für Niekisch war der Waldgänger ein „verkappter Nihilist“, der „sich an keinen Zustand“ binde und immer bereit sei, „einer Ordnung, die [ihm] lästig fällt, den Rücken zu kehren“.39 Er ziehe sich als Einzelner in die Einsamkeit zurück, in das „Abseits von aller Gesellschaft und Zivilisation“, der Waldgang erscheine so als „eine provokatorische Demonstration des Individuums gegen den Kollektivismus“.40 Wenn es aber überhaupt möglich

34 35 36

37 38 39 40

Ebd., S. 316. Vgl. Niethammer, Lutz: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989, S. 82–104. Der 1889 geborene Nationalrevolutionär Niekisch gehörte in den 1920er Jahren zur Gruppe der sogenannten Nationalbolschewisten und leitete die Zeitschrift Der Widerstand, an der beide Brüder Jünger zeitweilig mitarbeiteten. Während des ‚Dritten Reichs‘ war Niekisch der Kopf eines kleinen Widerstandskreises und wurde als solcher 1937 verhaftet und im Zuchthaus Brandenburg festgesetzt. Nach seiner Befreiung durch die Rote Armee im April 1945 votierte er politisch für die Sowjetunion und beteiligte sich in verschiedenen Funktionen am Aufbau der DDR, geriet jedoch auch hier bald politisch zwischen die Stühle und siedelte 1953 nach Westberlin über, wo er die letzten Jahre seines Lebens bis 1967 in politischer Isolation verbrachte. Vgl. zu seiner Biographie ausführlich Rätsch-Langejürgen, Birgit: Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken von Ernst Niekisch. Bonn 1997. Jünger, Friedrich Georg: „Inmitten dieser Welt der Zerstörung“. Briefwechsel mit Rudolf Schlichter, Ernst Niekisch und Gerhard Nebel. Hg. v. Ulrich Fröschle u. Volker Haase. Stuttgart 2001, S. 108. Niekisch, Ernst an Ernst Jünger, 18.12.1951, Nachlas Ernst Jünger, DLA Marbach. Niekisch, Ernst: Waldgang, unveröffentlichtes Manuskript, Nachlass E. Jünger, Sammlung des Coudres, DLA Marbach, S. 2f. Ebd.

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sei, „den Leviathan in Schranken zu halten, so kann das nicht vom Walde her und durch Partisanen geschehen“: Die ‚Waldgängerei‘ ist ein Rezept, das allen Individualisten, Anarchisten, Nihilisten, allen jenen Eigenbrötlern und Sektenheiligen, die von ihrem Elite- und Auserwähltheitsbewusstsein nicht lassen können, allen bürgerlichen Europäern, die aus dem trotzigen Protest gegen unabwendbare Notwendigkeiten ihr Selbstgefühl nähren, wohl eingeht; unter ihnen wird sie unvermeidlich in Mode kommen. Sie glauben, eine Tat zu vollbringen, wenn sie durch ihren Waldgang dem Leviathan ein Schnippchen schlagen; sie wähnen, ihm Eintrag zu tun, indem sie einfach nicht mitmachen. Ihr Waldgang ist Flucht aus der Geschichte; sie haben gegen den Leviathan noch lange keine Schlacht dadurch gewonnen, dass sie ihm den Rücken zeigen.41

In seinen Memoiren kritisierte Niekisch später noch einmal Jüngers „Abkehr von der politischen Realität“.42 In dieser Kritik war sich Niekisch mit Carl Schmitt einig (mit dem er ansonsten streng verfeindet war). Denn nach 1945 hatten nicht nur private Auseinandersetzungen über das Verhältnis zum Nationalsozialismus zur Entfremdung zwischen Jünger und Schmitt geführt.43 Auch Jüngers Entwicklung hin zu einem metapolitischen und posthistorischen Denken war Schmitt nicht geheuer. Zwar lobte Schmitt Jüngers Waldgang in einem Brief an Armin Mohler vom 12. November 1951 mit den Worten, hier zeige sich noch einmal „die Klaue des Löwen und zugleich die stellvertretende Bedeutung Jüngers für Deutschland“.44 Auch zitierte Schmitt den Waldgang in seiner etwas mehr als zehn Jahre später publizierten Theorie des Partisanen.45 In dieser war er jedoch nicht an Formen des passiven Rückzugs, sondern des irregulären Kampfes interessiert.46 Jüngers Quietismus konnte er nicht gutheißen.47

41 42 43

44 45 46

47

Ebd., S. 5. Niekisch, Ernst: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Bd. 2: Gegen den Strom 1945–1967. Köln 1974, S. 184. Vgl. zur problematischen ‚Männerfreundschaft‘ zwischen Schmitt und Jünger Morat: Tat, S. 407–415; aus der umfangreichen Literatur zu Carl Schmitt vgl. den neuen Überblick bei Mehring, Reinhard: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München 2009, zur Entfremdung von Jünger nach 1945 dort S. 465–470. Schmitt, Carl: Briefwechsel mit einem seiner Schüler. Hg. v. Armin Mohler. Berlin 1995, S. 109. Vgl. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. 5. Aufl. Berlin 2002, S. 25f. Vgl. Horn, Eva: „‚Waldgänger‘, Traitor, Partisan. Figures of Political Irregularity in West German Postwar Thought.“ In: The New Centennial Review 4 (2004), H. 3, S. 125–143; dazu auch Neaman: Past, S. 182–189. 1961 verfasste Carl Schmitt dann auch eines seiner notorischen Spottgedichte auf den Waldgang: „Die Knabenlehrerknaben traben / schon längst nicht mehr im Schützengraben; / ihr Kampfrevier ist jetzt der Wald, / in rein vergeistigter Gestalt.“ (Vgl. das vollständige Gedicht in Jünger, Ernst u. Carl Schmitt: Briefe 1930–1983. Hg. v. Helmuth Kiesel. Stuttgart 1999, S. 872f.; die „Knabenlehrerknaben“ bezogen sich wohl auf Jüngers Großvater, der Gymnasiallehrer war.)

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2. Jüngers Posthistoire Die Divergenzen zwischen Jünger und Schmitt lassen sich auch an Jüngers 1953 publiziertem Essay Der Gordische Knoten erkennen, der sogar eine direkte Antwort Schmitts gefunden hat. Der Gordische Knoten sollte ursprünglich „Ost und West“ betitelt werden und hatte auf den ersten Blick ebenso wie der Waldgang eine aktuell-politische Dimension, da er als Kommentar zum OstWest-Konflikt erscheinen konnte. Wie aus dem Text hervorgeht, war Jünger aber nicht an einer politischen Analyse des Kalten Kriegs interessiert. Der von Alexander dem Großen per Schwerthieb durchtrennte gordische Knoten diente Jünger vielmehr als „Sinnbild aller großen Begegnungen zwischen Europa und Asien“ und damit als Symbol für die „Schicksalsfrage“ der Begegnung von Orient und Okzident, die „sich stets von neuem stellt“, das heißt als Symbol einer gleichsam überhistorischen Dichotomie, die sich in der Geschichte in ständiger „Wiederkehr“ abbilde und aktualisiere.48 Das Zentrum dieser Dichotomie war für Jünger die Gegenüberstellung von „Freiheit und Schicksalszwang“, wobei er die Freiheit dem Westen und das Schicksal und die „Despotie“ dem Osten zuordnete.49 In dieser Zuordnung wurde Jüngers Option für das „Abendland“ deutlich erkennbar, zumal er die asiatischen Despoten mit rassistischen Stereotypen wie den „schlitzäugig Dunklen“ oder den „kleinen, lächelnden Gelben“ beschrieb, deren Macht auf dem „Blut von Massenmorden“ gründe.50 In diesem Sinn konnte Jünger auch Hitler als östlichen Despoten charakterisieren.51 Gleichzeitig diente ihm die Unterscheidung von östlichen und westlichen Kriegen dazu, die „Kriege an der Ost- und Westfront“ im Zweiten Weltkrieg, die er beide erlebte hatte, als „zwei grundverschiedene Feldzüge“ zu bezeichnen und den „Mordbrand“ und die „Strategie der verbrannten Erde“ an der Ostfront den „östlichen Macht- und Raumvorstellungen“ zuzuschreiben.52 Auf diese Weise konnte er in Vorwegnahme der späteren Thesen Ernst Noltes von der „asiatischen Tat“ den Antikommunismus der Adenauer-Republik mit einer entlastenden Deutung des nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion verbinden.53 Allerdings ging es Jünger nicht in erster Linie darum, den asiatischen Schicksalszwang moralisch zu verurteilen und die Überlegenheit der westlichen Freiheit zu behaupten. Vielmehr sprach er von „zwei Schichten des 48 49 50 51 52 53

Jünger, Ernst: „Der Gordische Knoten“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 375–479, hier S. 380 u. S. 474f. Ebd., S. 377. Ebd., S. 377f. Vgl. ebd., S. 432f. Ebd., S. 412, S. 453 u. S. 455. Vgl. Köhler, Kai: „Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 205–224.

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menschlichen Seins, die jeder in sich trägt“ und deren Balance in der immer neuen Begegnung von Morgen- und Abendland zu erhalten „eine ständige Aufgabe“ bleibe.54 Das „Hin und Her des Austausches“ bedeute eine „gegenseitige Befruchtung zwischen dem Geist des Westens und östlicher Substanz“.55 Damit hielt Jünger an seiner mythischen Weltsicht auf die überzeitlichen Prinzipien des Ostens und des Westens fest. Dieser zyklischen Geschichtsbetrachtung setzte Carl Schmitt 1955 in seinem Beitrag für die Festschrift zu Ernst Jüngers 60. Geburtstag eine lineare Geschichtsauffassung entgegen. In seinen „Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift ‚Der Gordische Knoten‘“ beschrieb Schmitt den heutigen „Weltgegensatz von Ost und West“ als Gegensatz von Land und Meer, der aus der maritimen Entwicklung Englands seit der frühen Neuzeit entstanden sei, die zugleich die industrielle Revolution als prägende Größe der gegenwärtigen Epoche hervorgebracht habe.56 Auch Schmitt verklausulierte damit die Blockkonfrontation des Kaltes Kriegs und nahm keine konkrete Stellung zu ihr. Der entscheidende Unterschied zu Jünger bestand aber darin, dass er Jüngers zyklischem Geschichtsbild einer „Wiederkehr des Ewigen in der Zeit“ eine „konkret-geschichtliche“ Sichtweise entgegenstellte, die er als „dialektisch“ bezeichnete.57 Mit Dialektik meinte Schmitt die „Aufeinanderfolge einer konkreten Frage und einer ebenso konkreten Antwort“, aus der die Geschichte bestehe und die zur Einmaligkeit jeder konkreten historischen Situation führe.58 Diese Dialektik unterscheide sich von Jüngers „Denken in Polaritäten“ darin, dass dieses auf einer „ewigen Wiederkehr“ der polaren Gegensätze beruhe, während die dialektische Sichtweise impliziere, dass „eine geschichtliche Situation erst dann begriffen ist, wenn wir sie als einmalige konkrete Antwort auf den Anruf einer ebenso einmaligen konkreten Situation begriffen haben“.59 Mit diesem Festschriftenbeitrag für Ernst Jünger wies Carl Schmitt nicht nur dezent auf einige Ungenauigkeiten in Ernst Jüngers weltgeschichtlichen 54 55 56

57 58 59

Jünger: Der Gordische Knoten, S. 389f., S. 470. Ebd., S. 472. Vgl. Schmitt, Carl: „Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift ‚Der Gordische Knoten‘“. In: Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag. Hg. v. Armin Mohler. Frankfurt a.M. 1955, S. 135–167. Schmitt griff für diese Argumentation auf seinen Essay Land und Meer von 1942 zurück, der 1954 in zweiter Auflage erschienen war. Ebd., S. 137 u. S. 147. Ebd., S. 147. Ebd., S. 146ff. Vgl. auch ebd., S. 151: „Mit dem Wort dialektisch ist hier der Gegensatz zu allen Polaritätsvorstellungen zum Ausdruck gebracht. Das Wort soll die Frage-Antwort-Struktur aller geschichtlichen Situationen und Ereignisse zum Ausdruck bringen.“ Schmitt bezog sich damit auf die von Arnold Toynbee beschriebene „Challenge-Response-Struktur der Kulturgeschichte“ (ebd., S. 152). Steffen Martus hat zudem auf die „heilsgeschichtliche Dimension“ von Schnitts „christlich-linearem“ Zeitmodell hingewiesen, das dem „mythisch-zyklischen“ von Jünger entgegenstehe; vgl. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 199.

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Betrachtungen hin. Er konstatierte auch die fundamentale Andersartigkeit ihres geschichtlichen bzw. ungeschichtlichen Denkens. Für Schmitt war zudem klar, dass sich nicht nur die Geschichte, sondern auch die Politik immer nur in konkreten Frage-Antwort-Situationen abspielen könne, während für Jünger der Ausstieg aus der Geschichte auch der Vermeidung der politischen Frage diente, wie schon am Waldgang deutlich wurde. Auch Der Gordische Knoten festigte daher Schmitts Überzeugung, dass Jüngers Wandlung vom Aktivismus zur Kontemplation auch eine Abkehr vom Politischen als solchem bedeutete. Darum war es das einer Besprechung von Heliopolis entnommene Stichwort, Jünger sei „privat“ geworden, das Schmitt Ende 1949 „erstarren“ ließ, wie er Jünger schrieb.60 Im Glossarium hatte Schmitt schon im August 1949 notiert, Jünger sei jetzt „Privatier, aber leider kein Privateer“.61 Während Jüngers Auseinandersetzungen mit Ernst Niekisch und Carl Schmitt Mitte der 1950er Jahre also tiefgreifende Divergenzen zu deren politischen Ideen offenbart hatten, setzte Jünger seine eigenen Überlegungen zur Nachgeschichtlichkeit in den kommenden Jahren fort und bündelte sie 1959 in seinem Großessay An der Zeitmauer. Im Juli 1959 kündigte Jünger Armin Mohler dieses Buch als „Fortsetzung von ‚Der Arbeiter‘“ an, in der es um die „Überwältigung der Weltrevolution durch Erdrevolution“ gehe.62 Mit dieser Formulierung zielte Jünger letztlich auf die Einordnung und Aufhebung der im Arbeiter geschilderten politischen Revolution in einen übergeordneten, metahistorischen Deutungsentwurf, nach dem mit der Herrschaft der Gestalt des Arbeiters nicht nur ein geschichtliches Zeitalter zu Ende gehe, sondern das Zeitalter der Geschichte als solcher. Jünger ging davon aus, dass „wir uns nicht in einer nur weltgeschichtlichen, sondern auch erdgeschichtlichen Veränderung befinden“ und „daß zugleich mit dem historischen Turnus eine Spanne abgelaufen ist, die seinen Maßstab übergreift“.63 Damit war auch die politische Stoßrichtung des Arbeiters entschärft, denn nach Jüngers Logik gehörte die Politik der Geschichte an, weshalb es beim Austritt aus der Geschichte auch keiner Politik mehr bedürfe. Neben den historischen sei der Mensch immer zugleich „in mythischen, urmenschlichen, zoologischen, geologischen und astronomischen Prozessen begriffen“.64 Diese unhistorischen Prozesse, die jenseits und unterhalb der Geschichte abliefen, würden nun wieder stärker ins Bewusstsein rücken und deutlich machen, dass die Historie an ein Ende gekommen sei, ja dass man 60 61 62 63 64

Jünger u. Schmitt: Briefe, S. 244. Schmitt, Carl: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951. Hg. v. Eberhard Freiherr von Medem. Berlin 1991, S. 266. Jünger, Ernst an Armin Mohler, 09.07.1959, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach. Jünger, Ernst: „An der Zeitmauer“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 397–645, hier S. 579 u. S. 461. Ebd., S. 403.

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von einer „Zerstörung der geschichtlichen Welt in ihrem herkömmlichen Sinne“ sprechen könne.65 Diese Vorstellung vom Ende der geschichtlichen Welt fiel zusammen mit Jüngers Idee des Weltstaates. Denn der „Weltstaat“ zeige das Ende der „historischen Staaten“ an, wie Jünger in An der Zeitmauer schrieb.66 In ihm sei die Gestalt des Arbeiters „zur Weltherrschaft gekommen“, wodurch deren Mittel „in ihrem energetischen Charakter eine Änderung“ erführen: „Sie können gehegt werden“.67 Die Weltherrschaft des Arbeiters erschien so nicht mehr als „Technokratie“, welche Jünger nun als die „grauenvollste Aussicht“ bezeichnete,68 sondern eben als Ende der historischen Zeit und als Zustand der Erdvergeistigung. Trotz dieser Distanzierung von der Technokratie ist Jüngers Vorstellung von einem Ende der geschichtlichen Zeit in dem Moment, in dem die durch die Gestalt des Arbeiters in Gang gesetzte technische Mobilisierung ihre größte Ausdehnung erfahren hat und damit gleichsam zum Stillstand gekommen ist, durchaus mit Arnold Gehlens Idee der posthistorischen „Kristallisation“ vergleichbar.69 Mit dem Weltstaat als neuer „Erd- und Globalordnung“ werde der „Weltplan“, wie Jünger in dem 1960 separat erschienen kurzen Essay zum Weltstaat schrieb, durch einen „Erdplan“ abgelöst, da „unsere alte Erde wieder einmal ihr Kleid verändern will“.70 War Staatenbildung für Jünger ein genuin politischer Prozess, der am Anfang der historischen Zeit lag, so führte die totale Ausbildung des Staates in einem Weltstaat zu deren Ende und damit auch zum Ende der Politik. Diesen Zustand sah Jünger trotz der vordergründigen politischen Dramatik des Kalten Krieges schon fast erreicht, denn die beiden weltpolitischen Blöcke bildeten lediglich „die beiden Hälften der Gußform zur Bildung des Weltstaates“.71

3. Armin Mohler und die Kritik am Gärtnerkonservatismus In dieser Argumentation lässt sich die für Jünger typische Aufhebung der politischen Gegensätze in der metapolitischen Betrachtung erkennen. Mit diesem intellektuellen Verfahren der Entpolitisierung des Politischen hatten nicht nur Ernst Niekisch und Carl Schmitt ihre Schwierigkeiten, sondern auch Armin Mohler. Der 1920 geborene Schweizer Mohler, der sich schon früh für die Fragen des „deutschen Geistes“, wie er sie verstand, interessiert hatte und 1949 als Sekretär zu Jünger gekommen war, hat immer wieder ver65 66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 404. Ebd., S. 637. Ebd., S. 537. Ebd., S. 528. Vgl. dazu Niethammer: Posthistoire, S. 163. Jünger, Ernst: Der Weltstaat. Organismus und Organisation. Stuttgart 1960, S. 33, S. 18 u. S. 28. Ebd., S. 24.

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sucht, Jünger für sein Projekt einer Wiederbelebung der intellektuellen Rechten zu vereinnahmen, und sich an dessen Nachkriegszurückhaltung in politischen Dingen gerieben. Eine der vielen daraus entstandenen Kontroversen fand 1954 statt. Mohler hatte von Jünger eine Stellungnahme zu aktuellen politischen Fragen verlangt, worauf Jünger antwortete, diese bezögen sich nur auf „Vordergrunds-Verteilungen“.72 Im Grunde gebe es „nur eine Macht, welche die großen Probleme der Zeit mit sich selbst abhandelt und zum Ziele bringen wird, und das ist die Gestalt des Arbeiters“, diese sei aber „natürlich keine politische Idee, sondern eine metaphysische“. Eine Ausrichtung an solchen „politisch-metaphysischen Gesichtspunkten“ sei aber „gründlicher als die durch politische Konstellationen, die vorüberziehen“. Politisch, so Jünger, könne „man heute mit gleichem Recht entgegengesetzte Aktionen befürworten“.73 Mohler antwortete mit einer Kritik an dieser „metapolitischen“ Haltung Jüngers. Er könne zwar verstehen, dass Jünger sich nicht mit politischem „Kleinkram“ beschäftigen wolle. Seine Äußerungen über den „Arbeiter“ seien aber immer schon „im absoluten Raum gesprochen“. Dazwischen gebe es noch eine Schicht, die Jünger zu leicht übergehe: Sie sagen ja: ‚Politisch kann man heute mit gleichem Recht entgegengesetzte Aktionen befürworten.‘ Das ist von der metapolitischen Sphäre aus gesehen richtig. Aber Sie leben in der Zeit, das Schicksal hat Sie in einen politischen Raum gestellt. Mir scheint, dass Sie es sich – aber nur in politicis! – in diesem Bereich etwas zu leicht machen. Sie argumentieren dann im politischen Bereich mit metapolitischen Schlüssen.74

Durch seine Schriften habe Jünger aber „auf die jetzt in die Politik eintretende Generation in Deutschland sehr stark gewirkt“: „Sie treiben keineswegs bloss Metaphysik, sondern Sie haben in jener mittleren konkreten politischen Zone unmittelbare Wirkungen – ob Ihnen das nun lieb ist oder nicht.“ Jünger müsse es sich daher gefallen lassen, „dass Ihr störrischer Ex-Secretarius Sie gerade auf dieser politischen Ebene zu stellen sucht, auf der Sie nicht angetroffen werden möchten“.75 „Was Sie von meinen politischen Schriften schreiben, ist richtig“, antwortete Jünger, „aber deren politische Wirkung ist ein Nebenprodukt.“76 Vielleicht, so Jünger weiter, „muß man das Politische 72 73

74

75

Jünger, E. an A. Mohler, 09.11.1954, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach. Ebd. Sechs Jahre später schrieb Jünger Mohler erneut, dass alle scheinbar entgegengesetzten politischen Bewegungen auf einer höheren Ebene der „Arbeitswelt“ dienten, und benutzte für dieses Argument das Bild eines Schachbretts. Jünger interessiere sich nicht für die Bewegung der Figuren auf dem Brett, sondern die Regeln und Begrenzungen des Bretts selbst, die nicht politischer Natur seien. Jünger suche grundsätzlich nach Standpunkten, die von der Politik unabhängig seien; vgl. Jünger, E. an A. Mohler, 17.12.1960, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach. Mohler, A. an E. Jünger, 28.11.1954, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach. „Er entweicht metaphysisch, wenn man ihn physisch stellen will“, hatte Paul Rilla schon 1946 geschrieben (Rilla, Paul: „Der Fall Ernst Jünger“. In: Die Weltbühne (N. F.) 3 (1946), S. 76–80, hier S. 78). Abgewandelt im Sinne eines „Er entweicht metapolitisch, wenn man ihn politisch stellen will“ kann man sich diesen Stoßseufzer auch von Armin Mohler vorstellen. Mohler, A. an E. Jünger, 28.11.1954, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach.

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überholen; man nimmt es auf wie eine Schützenlinie und geht über seine Ziele vor“. Jeder solle sich den Aufgaben widmen, für die er „mit den entsprechenden Organen ausgerüstet“ sei, und das seien in Jüngers Fall keine politischen: Sie haben auf die Dinge eine andere Sicht, und zwar notwendig, sind ebenfalls gut ausgerüstet für Ihre Aufgabe. [...] Es gibt nichts schlimmeres, als wenn man sich Dinge zumutet, die dem Wuchs nicht entsprechen, also etwa als Esel aufs Eis gehen will. Eben dieses politische Eis wurde mir immer wieder gezeigt. Ich war doch nicht Esel genug, um feste darauf zu gehen.77

Jünger nahm damit dieselbe Abgrenzung vor, die beide Brüder Jünger gegenüber Ernst Niekisch vollzogen, und definierte sich als unpolitischen Menschen, für den der zeitweilige politische Aktionismus eine Abirrung gewesen sei. Für Mohler war aber gerade der politische Jünger der Weimarer Republik das eigentliche Idol. Die Frage, inwieweit Jünger seine alten Schriften für die ab 1960 erscheinende erste Werkausgabe überarbeiten und politisch entschärfen dürfe, führte daher schließlich zum zeitweiligen Bruch zwischen Mohler und Jünger. In der Auseinandersetzung mit Mohlers Kritik betonte Jünger immer wieder, dass das Politische für ihn nur ein Durchgangsstadium gewesen sei. Die eigentliche Bedeutung seiner früheren Schriften liege jedoch jenseits des Politischen. Die spätere Bearbeitung habe diesen Kern nur herauspräpariert, indem sie ihn von den Zeitgebundenheiten befreit habe. So schrieb er 1962 über Mohlers Kritik: Der politische Teil meiner Arbeit hat mir nicht die besten Anhänger gebracht. Daß ich mich dem in verschiedenen Abschnitten unterzogen habe, halte ich auch heute noch für notwendig. Ich habe da aber anderes zu vertreten als flüchtige historische Situationen – so ist ein Begriff wie der der ‚Totalen Mobilmachung‘ für mich nicht historisch, sondern aktuell. Ebenso entspricht mein ‚Arbeiter‘ keiner vergangenen, sondern einer künftigen Wirklichkeit. Darauf muß ich achten, und zwar ohne Rücksicht auf die politischen Parteigänger aller Schattierungen.78

Mit dieser Äußerung löste Jünger seine früheren Schriften über die „Totale Mobilmachung“ und den „Arbeiter“ in ganz ähnlicher Weise wie in den oben besprochenen Essays der 1950er Jahre aus ihrer historischen Plazierung heraus und schrieb sie einer „künftigen Wirklichkeit“ zu. Damit entkleidete er sie der konkreten politischen Bedeutung, die sie am Ende der Weimarer Republik gehabt hatten, und verlagerte sie ganz in den metapolitischen Raum, wie Mohler ihm das vorgeworfen hatte. Dieser Vorwurf war Jünger allerdings gar nicht unwillkommen, denn er nutzte die Auseinandersetzung mit Mohler nun dazu, sich noch deutlicher von der Ebene des Politischen zu verabschieden. „Das Politische hat mich nur an den Säumen beschäftigt und mir nicht 76 77 78

Jünger, E. an A. Mohler, 03.12.1954, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach. Ebd. Jünger, Ernst an Müller-Hallwachs, 31.01.1962, Nachlass E. Jünger, Sammlung des Coudres, DLA Marbach.

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gerade die beste Klientel zugeführt“, wie er an Curt Hohoff schrieb. „Würden Mohlers Bemühungen dazu beitragen, daß ich diese Gesellschaft gründlich loswürde, so wäre immerhin ein Gutes dabei.“79 Umgekehrt hielt Mohler an seiner Bewunderung für die frühen Schriften Jüngers fest und ließ sich den martialischen Jünger nicht als Schirmherrn seines Projekts einer Wiederbelebung der radikalen Rechten nehmen. Gleichzeitig bekräftigte er aber seine Kritik am späten Jünger. Dies tat er im Dezember 1961 mit einem in Christ und Welt erschienenen Portrait, das gleichsam ein Resümee seiner Auseinandersetzung mit Jünger zog. Darin beschrieb er Jüngers geistige Entwicklung vom Arbeiter von 1932 bis zur 1959 erschienenen Zeitmauer als ein „Absinken der Aussagekraft“80. Worauf war dieses Absinken nach Mohlers Meinung zurückzuführen? Der frühe Jünger sei „unbestreitbar seiner Zeit weit voraus“ gewesen und habe gleichzeitig versucht, „unmittelbaren Einfluß auf seine Umwelt zu nehmen“. Auch sein späterer Rückzug in die „Einsamkeit“ habe noch als „Herausforderung“ gewirkt und seine stolze „Verachtung“ für die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die „‚Okkupationsdemokratie‘ nach 1945“ zum Ausdruck gebracht. Heute aber nähme der „Pour le mérite“-Träger Jünger Literaturpreise und das Bundesverdienstkreuz an, den „unkriegerischsten“ aller Orden. Sein spannungsreiches Verhältnis zur politischen Wirklichkeit habe er damit eingebüßt. Um diese Einbuße zu erklären, entwickelte Mohler den Begriff des „osmotischen Schriftstellertypus“. Jünger sei wegen seiner Kriegstaten als „Täterdichter“ bezeichnet und mit Hemingway oder Malraux verglichen worden. Dieser Ausdruck treffe aber nicht die ganze Wahrheit. Eigentlich sei Jünger ein „osmotischer“ Mensch, „der die Wirklichkeit um ihn herum nicht umzugestalten sucht, sondern auf sie reagiert“. Der Arbeiter und die anderen bedeutenden Schriften der Frühzeit seien in diesem Sinn unter dem „Diktat“ der Zeit geschrieben worden. Das „Elend“ des osmotischen Schriftstellertypus beginne aber dann, „wenn er sich aus dem Strom der Zeit, von dem er sich bis dahin tragen ließ, ans ruhige Ufer rettet“. Genau dies habe Jünger durch seinen Entschluss, „aus dem revolutionären Strom seines Jahrhunderts auszusteigen“, getan, wodurch er „beliebig“ geworden sei.81 Man muss nicht alle Annahmen Mohlers über das „Diktat“ der Zeit und den „revolutionären Strom des Jahrhunderts“ teilen, um in seiner Formulierung, Jünger habe sich nach 1945 „ans ruhige Ufer retten“ wollen, et79 80

81

Jünger, Ernst an Curt Hohoff, 10.01.1962, Nachlass E. Jünger, Sammlung des Coudres, DLA Marbach. Mohler, Armin: „Der Dichter Ernst Jünger“. In: Christ und Welt, 29. Dezember 1961. Der Arbeiter sei noch von Denkern wie Martin Heidegger und Gottfried Benn bewundert worden, die Zeitmauer nur noch von Hermann Hesse. Ebd.

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was Treffendes zu finden. In den Augen Mohlers, aber auch Carl Schmitts und Ernst Niekischs war Jünger durch diesen Sprung ins Ruhende unpolitisch und damit uninteressant und harmlos geworden. Auch diesem Urteil muss man sich nicht vollständig anschließen. Denn natürlich blieb Jünger auch nach 1945 an Politik interessiert und politisch wirksam. Wie an der Auseinandersetzung mit Ernst Niekisch, Carl Schmitt und Armin Mohler aber zu sehen war, grenzte er sich selbst explizit von der Sphäre des Politischen ab, die er als vordergründige Sphäre der Tagesaktualität und des unfruchtbaren Aktionismus charakterisierte. Dem setzte er das musische Prinzip als ein dem Ewigen und Schöpferischen verpflichtetes entgegen. Auf diese Weise vertrat Jünger nach 1945 klassisch konservative Positionen, denn schon der Konservatismus des 19. Jahrhunderts verstand sich als „Haltung des Unpolitischen“82 und setzte der Teleologie des Fortschrittsdenkens die Orientierung an ewiggültigen Werten entgegen. Diese Orientierung am Konservatismus des 19. Jahrhunderts offenbarte sich auch an Ernst Jüngers Beschäftigung mit dem Revolutionsgegner Antoine de Rivarol, dessen Maximen Jünger in einem 1956 erschienenen Buch übersetzte und mit einer längeren Einleitung versah. Im September 1955 schrieb Jünger an Mohler, dass ihn die Arbeit an der Rivarol-Einleitung „ganz in die aktuellen Probleme geführt“ habe, denn „ohne Zweifel ist die Frage: ‚Was ist heute den konservativen Kräften möglich‘ vielleicht unsere wichtigste“.83 Jünger ging es bei dieser Frage nicht zuletzt darum, die „Tradition“ vom „Hakenkreuz“ zu trennen, wie er schon 1946 an Gerhard Nebel geschrieben hatte,84 das heißt in diesem Fall den Nationalsozialismus nicht aus konservativen Traditionen, sondern aus der Nachgeschichte der Französischen Revolution abzuleiten. So schrieb er 1957 an Mohler: Die Kernfrage liegt vielmehr darin, daß Rivarol heute zu den Ecksteinen und Steinen des Anstoßes gehört und einen politischen Fakt darstellt. Ob Hitler von der französischen Revolution kommt oder nicht – das ist eine Frage ersten Ranges, die auszufechten sich lohnt. Für mich ist er der Napoleon des allgemeinen Wahlrechtes. Dieses Kuckucksei möchte die Demokratie den Konservativen in die Schuhe schieben. Das geht aber nicht.85

Vor allen Dingen aber war Jünger an einem Begriff des Konservatismus interessiert, der sich im oben genannten Sinn der Tagespolitik entzog und sich an transzendenten und überzeitlichen Größen orientierte. Wolle man dem Wort „konservativ“ einen Sinn geben, so Jünger im Rivarol, handele es sich darum,

82 83 84 85

Bussche, Raimund von dem: Konservativismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen. Heidelberg 1998, S. 18. Jünger, E. an A. Mohler, 26.09.1955, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach. Jünger u. Nebel: Briefe, S. 64. Jünger, E. an A. Mohler, 05.03.1957, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach.

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das zu finden oder auch wiederzufinden, was der gesunden Ordnung von jeher zugrundegelegen hat und auch zugrunde liegen wird. Das aber ist ein Außerzeitliches, zu dem weder Rück- noch Fortschritt führt. Die Bewegungen kreisen darum herum. Nur Mittel und Namen ändern sich. In diesem Sinne muß man der Definition von Albrecht Erich Günther zustimmen, der das Konservative nicht versteht als ‚ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt‘. Immer gelten aber kann nur ein der Zeit Entzogenes.86

Diese Definition Albrecht Erich Günthers stammt aus dem Jahr 1931,87 und in der Tat folgte auch der revolutionäre Konservatismus der Weimarer Republik einem „Denken aus dem Ursprung“,88 das sich gegen den reaktionären Traditionalismus stellte. In den 1920er und frühen 1930er Jahren diente dieses Ursprungsdenken allerdings der radikalen Verneinung des Bestehenden und seiner aktivistischen Beseitigung. Diese Zeit der Zertrümmerung war für Jünger nun vorbei, es stellte sich ihm jetzt die Frage, „wie im Zustande der tabula rasa neuer Humus zu bilden“ sei.89 Dieser neue Humus könne nicht durch „politische Anstrengungen“ erlangt werden, ja die „eigentlichen Probleme“ seien „nicht politisch“.90 Armin Mohler hat zwanzig Jahre später noch einmal den revolutionären Bruch beschworen, den der Konservatismus in den 1920er Jahren zu dem des 19. Jahrhunderts vollzogen habe, und beklagt, dass der Konservatismus „unter dem Druck des Zusammenbruchs von 1945“ versucht habe, „jenen Bruch wieder rückgängig zu machen“, woran er bis heute kranke.91 Ernst Jünger wollte diesen Bruch nicht einfach rückgängig machen, er wollte ihn aber gleichwohl hinter sich lassen und das konservative Denken in ein nachrevolutionäres und posthistorisches Stadium des Unpolitischen hinüberretten. Mohlers Kritik am „Gärtner-Konservatismus“92 der Nachkriegszeit traf daher auch seinen ehemaligen Mentor, den Waldgänger und Gartenfreund Jünger. In späteren Jahren haben Ernst Jünger und Armin Mohler ihren Streit beigelegt und etwa ab 1980 wieder freundschaftliche Briefe gewechselt. Horst Seferens nimmt diese Erneuerung der alten Freundschaft in seiner Studie über Ernst Jünger und die radikale Rechte in der Bundesrepublik vorschnell als Indiz dafür, dass die „zwischenzeitlich unterbrochene Verbindung zwischen der Sphäre praxisferner Reflexion und einem aktiven 86 87 88 89 90 91 92

Jünger, Ernst: „Rivarol”. In: Sämtliche Werke. Bd. 14. Essays VIII. Ad hoc. Stuttgart 1998, S. 210–329, hier S. 250. Vgl. Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauung. 2. Aufl. Darmstadt 1972, S. 115f. Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Frankfurt a.M. 1986, S. 255. Jünger: Rivarol, S. 251. Ebd., S. 254. Mohler, Armin: Tendenzwende für Fortgeschrittene. München 1978, S. 67. Mohler, Armin: „Konservativ 1962“. In: Der Monat 14 (1962), H. 163, S. 23–29, hier S. 24.

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Rechtsintellektualismus“ wiederhergestellt worden sei.93 Er belegt die Zugehörigkeit von Jüngers esoterischem Spätwerk zur „Gegenaufklärung“ ebenso schlüssig wie dessen fortgesetzte politische Bedeutung für die Formierung der Neuen Rechten, die von Jünger durch die „Entfaltung eines impliziten Diskurses“ transportiert worden sei.94 Gleichwohl unterschätzt Seferens die Differenzen, die zwischen dem neokonservativen Aktivismus von Mohler und anderen neurechten Vordenkern und dem politischen Eskapismus Ernst Jüngers nach 1945 bestanden.95 Dessen Rückzug von der Politik und die Formulierung eines postpolitischen Konservatismus waren nicht rein taktischer Natur, sondern entsprachen der Wendung seines Denkens, mit der er auf das Scheitern des eigenen politischen Aktivismus und die Erfahrung des Nationalsozialismus reagierte.

4. Schlussbemerkung Die Radikalisierung des Konservatismus in der Weimarer Republik ist als Prozess einer „Politisierung des Unpolitischen“ beschrieben worden.96 In Jüngers Textstrategien der 1950er Jahre lässt sich der umgekehrte Prozess einer Entpolitisierung des Politischen erkennen. Es wäre sicher zu vereinfachend, den Jünger der frühen Bundesrepublik als unpolitisch in dem Sinne zu bezeichnen, dass Politik für ihn keine Rolle gespielt hätte. Wie an den oben thematisierten Essays deutlich wurde, hat er sich durchaus mit politischen Fragen beschäftigt und damit auch politische Effekte erzielt. Er grenzte sich jedoch explizit von jeder tagespolitischen Parteinahme ab und nahm – so auch die Kritik Armin Mohlers – eine metapolitische Warte ein. Von dieser Warte aus behandelte er die im Kern politischen Themen etwa des Besatzungsregimes, der Souveränität Deutschlands oder des Ost-West-Konflikts nicht mehr im Hinblick auf Handlungsoptionen im Feld der Politik, sondern als Gegenstände der metapolitischen und posthistorischen Reflexion. In Anlehnung an den eingangs zitierten Max Weber lässt sich argumentieren, dass 93 94 95

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Seferens, Horst: Leute von übermorgen und von vorgestern. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 242. Ebd., S. 14. 1958 schrieb Mohler an Jünger: „Wenn mir später einmal die Aufgabe zufallen sollte, Ihre Biographie zu schreiben, so werden mir die verflossenen Jahre einige Mühe machen. Wie soll ich dann bloss die vielen inkonsequenten Dinge erklären – von Eranos über Heuss, zweitrangige Literaturpreise, Begegnung mit Buber bis zu Gesellschaftsreisen mit der Lufthansa? Nun ich werde mich dann wohl so aus der Affäre ziehen, dass ich das als ganz raffinierte Spurenverwischung hinstelle...“ (Mohler, A. an E. Jünger, 01.09.1958, Nachlass E. Jünger, DLA Marbach). Etwas Ähnliches unternimmt Seferens, der Jünger in beinahe verschwörungstheoretischer Manier eine virtuose „Technik literarischer Camouflage“ (Seferens: Leute, S. 380) attestiert, dabei aber den tatsächlichen Wandel in Jüngers Konservatismus und seinen Rückzug vom politischen Aktivismus unterbewertet. Vgl. Bussche: Konservatismus.

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Jünger mit seinen zeitkritischen Essays der 1950er Jahre keine „Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen“97 mehr verband. Aus Jüngers posthistorischen Überlegungen ließ sich kein politisches Programm formulieren (im Unterschied zum Nationalismus der 1920er Jahre). In diesem Sinn sind sie als un- oder genauer als überpolitisch zu charakterisieren. Mit dieser intellektuellen Bewegung einer Entpolitisierung des Politischen stand Jünger in der Nachkriegszeit nicht allein. Im Kontext der Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit lassen sich ähnliche Formen eines Ausweichens in metapolitische und metaphysische Argumentationen beobachten, die konkrete politische Schuldzuweisungen verhindern sollten.98 Auf lange Sicht bewegte sich der Mainstream des intellektuellen Konservatismus in der Bundesrepublik jedoch in eine andere Richtung. Ehemalige konservative Revolutionäre wie Hans Freyer, der Ernst Jünger in der Weimarer Republik an Radikalität kaum nachgestanden hatte, entwickelten eine Form des technokratischen Konservatismus, der sich auf den Boden der demokratischen Grundordnung stellte und von diesem aus nach politischer Einflussnahme strebte.99 Eine jüngere Generation von konservativen Denkern wie Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann trug schließlich zu einer Liberalisierung des bundesrepublikanischen Konservatismus bei und brach mit der konservativen Tradition des Unpolitischen.100 Ernst Jünger verharrte jedoch auch in späteren Jahren auf der esoterischen Position eines dem politischen Tagesgeschäft enthobenen „Anarchen“.101 In dieser metapolitischen Haltung liegt ein Gutteil der Distanz begründet, die den Solitär Jünger von der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte trennte.

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99

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Weber: Schriften, S. 506. Vgl. etwa Solchany, Jean: „Vom Antimodernismus zum Antitotalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945–1949“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 373–394. Vgl. Bielefeld, Ulrich: „‚Die Ausgangslage, von der aus nur noch nach vorn gedacht werden kann‘. Hans Freyer und die Bundesrepublik Deutschland“. In: Bürgertum nach 1945. Hg. v. Manfred Hettling u. Bernd Ulrich. Hamburg 2005, S. 164–184; zu Freyer allg. Muller, Jerry Z.: The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton 1987. Vgl. Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006. Vgl. zur Figur des „Anarchen“ Jüngers Roman Eumeswil von 1977 (Jünger, Ernst: „Eumeswil“. In: Sämtliche Werke. Bd. 17. Erzählende Schriften III. Eumeswil. Stuttgart 1980).

Die Entpolitisierung des Politischen

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Die Entpolitisierung des Politischen

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Thomas Pekar

Vom nationalen zum planetarischen Denken Brüche, Wandlungen und Kontinuitäten bei Ernst Jünger 1. Ernst Jüngers nationaler Standpunkt im Übergang zum globalen In seinen Anfängen in den 1920er Jahren ist Ernst Jünger ein glühender Nationalist gewesen: Der deutsche Staat wurde von ihm in seinen publizistischen Arbeiten1 als eine konkrete Utopie entworfen,2 wobei sich bereits hier schon eine gewisse Problematik darin ankündigte, dass Jünger zum Träger dieses Zukunftsstaates – in Fortsetzung des Frontsoldaten – den Arbeiter, den Industriearbeiter machte.3 Dieser Arbeiter musste allerdings, wie Jünger schon 1925 feststellte, nicht als eine nationale, sondern als „eine neue und europäische Erscheinung“4 begriffen werden. Es ist dann dieser ‚Arbeiter‘, der wenig später Jüngers Interesse weg vom Nationalen und hin zum Globalen führte.5 Sein 1932 publizierter Großessay Der Arbeiter markiert bereits den Übergang seines Denkens vom nationalen zum globalen Standpunkt.6 1

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Vgl. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001; besonders zu nennen wären die 1925/1926 geschriebenen Artikel, die Jünger „unter dem Titel Die Grundlagen des Nationalismus auch als Buch erscheinen“ lassen wollte (Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 283), wozu es aber nicht kam. Diese Artikel „wollten die Kriegserfahrung der Frontsoldaten für einen ‚neuen Nationalismus‘ fruchtbar machen und stellten diesen neuen und zugleich soldatischen Nationalismus gegen widerstrebende Tendenzen wie den Pazifismus und den Internationalismus [...].“ (Ebd.). Vgl. z. B.: „Ja, wir wollen das Deutsche, und wir wollen es mit Macht! Das Bild des Zukunftsstaates hat sich in diesen Jahren geklärt. Vierfach werden seine Wurzeln sein. Er wird national sein. Er wird sozial sein. Er wird wehrhaft sein. Er wird autoritativ gegliedert sein.“ (Jünger: Politische Publizistik, S. 218). „Der Industriearbeiter ist der erste und stärkste Faktor beim Aufmarsch des modernen Nationalismus [...].“ (Ebd., S. 162). Ebd.; Nationen werden als ‚Blutsgemeinschaften‘ begründet (vgl. z. B. ebd. S. 191; dem widerspricht aber die ‚Blutsgemeinschaften‘ überschreitende Arbeiterschaft). Vgl. dazu die ähnliche Bewertung bei Kiesel: „1930 fand Jünger mit der Totalen Mobilmachung zur größeren essayistischen Form und begann mit der Niederschrift des Arbeiters. Außerdem lockerte sich seine Fixierung auf die Nation und den Nationalismus zugunsten einer Haltung, die nicht mehr so sehr auf dem Wert nationaler Besonderheiten insistierte als vielmehr den Zug zu einer planetarischen Zivilisation wahrnahm und akzeptierte.“ (Kiesel: Ernst Jünger, S. 303; vgl. auch Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001, S. 41, der diesen Aspekt des ‚planetarischen Raums‘ in Hinsicht auf den Arbeiter ebenfalls betont). Eine Frage in diesem Zusammenhang wäre die, bis wann eigentlich Jünger dieser ‚glühende Nationalist‘ gewesen ist – und ein gutes Datum, um das

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Wurden diese Prozesse der globalen technischen Umgestaltung in Hinsicht auf eine total mobilgemachte Kriegs- und Arbeitswelt im Arbeiter noch von Jünger grimmig-heroisch begrüßt,7 so änderte sich seine Bewertung dieser Vorgänge spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Hochschätzung des ‚musischen Menschen‘ vollkommen.8 Diese Umwertung benennt, so meine Ausgangsthese, die dritte Stufe oder Variante seines Denkens, nach der nationalen und globalen Stufe also, nämlich den planetarischen Standpunkt, welcher sich im Laufe der Zeit bis zum Ende seines langen Lebens hin immer weiter ausdifferenzieren wird. Diese Ausformungen eines postglobalen,9 planetarischen Denkens bei Jünger im zeitgeschichtlichen Kontext ist Thema dieses Aufsatzes.

2. Weltstaat und Weltbürgerkrieg Das imperiale Konzept des Arbeiters, d. h. die staatliche Organisation eines Großraums, im Idealfall des Planeten, durch ein deutsches Imperium, den „Eintritt in den imperialen Raum“10 – diese Ideen ließ Jünger nach 1945 unter der Hand fallen,11 wobei er aber durchaus die Idee des ‚Weltstaats‘ beibe-

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Ende dieser Phase anzuzeigen, wäre 1933, das Datum, mit dem diese Publizistik im Jahre der nationalsozialistischen Machtergreifung endete. Vgl. ähnlich Koslowski, Peter: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991, S. 17: „Paradoxerweise schuf Jünger mit dem Arbeiter bereits in seiner nationalrevolutionären Ära ein Werk, das den Nationalismus hinter sich gelassen hatte.“ Oder: „Jünger [koppelt] die strategische Perspektive vom traditionellen Nationalismus [ab] und [wird] zum global player [...].“ (Seferens, Horst: „Leute von übermorgen und von vorgestern“: Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 115). Dies wurde im übrigen so auch von den Nationalsozialisten gesehen, denn ihr Hauptkritikpunkt an Jüngers Arbeiter war, dass er kein ‚rassisch-völkisches‘, sondern ein ‚internationales‘ Zeitalter verkünde (vgl. die Rezension des Arbeiters im Völkischen Beobachter 1932 von Thilo Trotha und dazu z. B. Kiesel: Ernst Jünger, S. 397). Später, z. B. in seiner Schrift Der Friede (1945), wird Jünger diese Sicht bestätigen, wenn er ‚den Arbeiter‘ dort den „einzigen“ nennt, „der schon in Kontinenten denken kann und dessen Begriffe und Symbole planetarisch verständlich sind.“ (Jünger, Ernst: „Der Friede“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 193–236, hier S. 222). „1930 bezeichnete Ernst Jünger diese ‚heroische Akzeptanz der Moderne‘ schließlich als ‚heroischen Realismus‘.“ (Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger. Göttingen 2007, S. 81). Er bildete als Identifikationsfigur Jüngers in den Arbeiten ab den 1950er Jahren den Gegenpol zum ‚Arbeiter‘; vgl. z. B.: „Wie findet sich der musische Mensch mit dem Arbeiter ab? Unvergleichbar schwerer als der Mann der Wissenschaft.“ (Jünger, Ernst: „Maxima – Minima“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 319–396, hier S. 324f.) Jünger selbst spricht in Hinsicht auf diese Umwertung von einem Verhältnis des Alten zum Neuen Testament (vgl. das Briefzitat in Morat: Tat, S. 22). Postglobal heißt nicht Posthistoire oder Post- bzw. Spätmoderne wie bei Koslowski (vgl. z. B. Koslowski: Mythos, S. 122). Jünger, Ernst: „Der Arbeiter“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 5–317, hier S. 310.

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hielt bzw. diese Idee präzisierte: nämlich als politische Organisationsform der technisch bestimmten globalen Welt, erzwungen von der Gestalt des ‚Arbeiters‘.12 Bereits in seiner schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs konzipierten Schrift Der Friede hatte Jünger dem Zweiten Weltkrieg in emphatischen Worten den ‚Sinn‘13 zugesprochen, dass er „die Kugel des Planeten mit glühenden Nähten“14 geschweißt habe,15 dass dieser Krieg also, so ähnlich wie Jünger schon den Ersten Weltkrieg als einen europäischen Bürgerkrieg begriffen hatte, dieser zweite Krieg nun ein „Weltbürgerkrieg“16 mit dem sich abzeichnenden Ergebnis eines ‚Weltstaates‘ gewesen sei. Diesem Weltstaat 11

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Angedeutet z. B. in einer Bemerkung wie dieser aus Über die Linie (1950): „Das alles deutet auf den Weltstaat hin. Es handelt sich nicht mehr um nationalstaatliche Fragen, auch nicht um Großraumabgrenzungen. Es geht um den Planeten überhaupt.“ (Jünger, Ernst: „Über die Linie“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1981, S. 237–280, hier S. 262). In dieser Hinsicht ist das 1963 geschriebene Vorwort Jüngers zur Publikation des Arbeiters in seinen Sämtlichen Werken aufschlussreich, wenn es dort heißt: „Daß hier nicht nur nationale, ökonomische, politische, geographische und ethnologische Größen, sondern Vorhuten einer neuen Erdmacht geahnt und abgetastet wurden, konnte inzwischen eingehender belegt werden.“ (Jünger: Der Arbeiter, S. 12). Von dieser ‚Erdmacht‘ ist im Arbeiter selbst allerdings überhaupt nicht die Rede! Konzise zusammengefasst sind diese Zusammenhänge in einer Interview-Äußerung Jüngers aus dem Jahre 1995: „Für mich [...] ist der Weltstaat der Punkt, zu dem die politische Organisation der Menschheit strebt. Auf politischer Ebene bedeutet er die Globalisierung, welche Technik und planetarische Ökonomie bereits eingeleitet haben. Der Weltstaat übernimmt die zentrale Macht, ohne die Nationalstaaten zu eliminieren. Die Technik als universales Phänomen treibt unerbittlich zur Globalisierung, bereitet den Weltstaat vor und hat ihn in gewissem Maße bereits verwirklicht. Der Weltstaat ist das politische Pendant dazu.“ (Gnoli, Antonio u. Franco Volpi mit Ernst Jünger: Die kommenden Titanen. Gespräche. Wien, Leipzig 2002, S. 70). Vgl. auch Jünger: Der Friede, S. 197: „Das gute Korn, das hier zerschroten wurde [d. h. die Kriegsopfer; Anm. Th.P.], darf nicht verloren gehen; es muß uns Brot gewähren für lange Zeit. Das wird nur sein, wenn wir den Sinn begreifen [...].“ Diese permanente Sinnsuche Jüngers nannte Wolf Jobst Siedler ein „deutsches Metaphysikverlangen“ (Siedler, Wolf Jobst: „Die Entzifferung der Zeichen“. In: Über Ernst Jünger. Hg. v. Hubert Arbogast. Stuttgart 1995, S. 165– 179; hier S. 170); Heidegger hingegen sprach kritisch-ironisch von Jüngers „Gezappel nach Sinn-gebung“ (Heidegger, Martin: Zu Ernst Jünger. Gesamtausgabe Bd. 90. Frankfurt a.M. 2004, S. 95); vgl. auch: „Wer nach Sinngebung zappelt, geht aus vom Sinnlosen und Sinnbedürftigen und überhaupt dieser Unterscheidung vom ‚Sinn‘ her.“ (Heidegger: Zu Ernst Jünger, S. 100) Heidegger kritisierte an Jünger grundsätzlich, dass dieser immer noch ‚Metaphysiker‘ sei: „Ernst Jüngers Blendung und Grenze (...) die Verblendung und das Ende der abendländischen Metaphysik“ (Ebd., S. 14). Jünger: Der Friede, S. 197. Ebd., S. 198. Vgl. auch ebd., S. 211: „Zum ersten Mal ist [im Zweiten Weltkrieg, Anm. Th.P.] die Erde, als Kugel, als Planet gesehen, Schlachtfeld geworden, und die Menschengeschichte drängt planetarischer Ordnung zu.“ Ebd., S. 198. Zur Funktion dieses Verständnisses des Zweiten Weltkriegs als eines „Weltbürgerkriegs“ im Zusammenhang mit (anderen) ‚radikalkonservativen‘ Positionen vgl. Goschler, Constantin: „Radikalkonservative Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik“. In: Solitäre und Netzwerker. Akteuere des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Hg. v. Erhard Schütz u. Peter U. Hohendahl. Essen 2009, S. 23–33, hier S. 27f.

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stand Jünger durchaus positiv gegenüber:17 Die 1945 gegründeten ‚Vereinten Nationen‘ waren ihm eine ‚Vorwegnahme‘ davon.18 Der ‚Weltstaat‘ mit einem einheitlichen „Weltstil“19 würde sich nach Überwindung der bipolaren ‚Teilung‘ der Welt in den sowjetisch beherrschten Osten und amerikanisch beherrschten Westen ergeben. Diese Überwindung des Ost-WestKonfliktes, des ‚Kalten Krieges‘, visierte Jünger bereits lange vor seinem tatsächlichen Ende an.20 Zeitgeschichtlich fügten sich diese Gedanken Jüngers auch in den Prozess der europäischen Integration ein, die in dieser Zeit mit der Gründung der EWG 1957 wesentliche Fortschritte machte,21 wobei Jünger die fortschreitende europäische Vereinigung als Vorbild und Motor einer globalen Integration begriff.22 Es ist aber von entscheidender Bedeutung, dass für Jünger der sich aus übernationalstaatlichen Organisationsformen entwickelnde Weltstaat keineswegs einen Schlusspunkt bildete. Der Weltstaat war für Jünger nur ein Übergangsphänomen, der zugunsten anderer menschlicher Lebensformen, die „vom Zwang der Organisation befreit“23 wären, überwunden werden sollte. 17

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Er hat ihm 1960 einen eigenen Essay mit eben diesem Titel Der Weltstaat gewidmet. Diese Positivität ergibt sich vor allem daraus, dass Jünger ‚regionale‘ Gebundenheit – Heimat und eigenen Traditionen – mit dem Konzept des Weltstaates, der als eine anonyme, traditionslose Größe angesehen werden könnte, verbinden will. Interessanterweise ist ihm für diese Verbindung ‚Japan‘ das Beispiel, wie er in einem Interview sagte: „Mir scheint, daß sich dort [in Japan, Anm. Th.P.] eine radikal verschiedene Beziehung zwischen Technik und Kultur, zwischen der Utopie des Fortschritts und der Tradition gebildet hat. Ich stelle mir den Japaner vor, der nach einem Arbeitstag nach Hause kommt und den Kimono anzieht. Das scheint mir für das Bedürfnis des Individuums emblematisch zu sein: sich in sich zurückzuziehen und das Band mit der eigenen Tradition wiederzufinden.“ (Gnoli u. Volpi: Titanen, S. 77). Vgl. ebd., S. 71; im Arbeiter hatte Jünger noch die „Vorstellung einer société des nations als einer übergeordneten Weltorganisation“ als eine veraltete, „dem Gesellschaftsbilde des 19. Jahrhunderts“ zugehörige Vorstellung zurückgewiesen; stattdessen hieß es damals: „Eine Einordnung und Unterordung der Planlandschaften ist vielmehr vorbehalten einem Staatsplan von imperialen Rang.“ (Jünger: Der Arbeiter, S. 295). Jünger: Maxima – Minima, S. 357. Weltweit überzeugten, so Jünger, „dieselben Leitworte [...] wie Friede, Freiheit, Demokratie; es ist ein und dieselbe Technik, die zur Perfektion getrieben wird.“ (Jünger, Ernst: „Der Weltstaat. Organismus und Organisation“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1981, S. 481–526, hier S. 492). Das offizielle Ende des ‚Kalten Krieges‘ kann auf die Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE Konferenz am 21.11.1990 in Paris (‚Pariser Charta‘) datiert werden. In Der Weltstaat sieht Jünger die USA und die UdSSR als die „beiden Hälften der Gußform zur Bildung des Weltstaates“ (Jünger: Der Weltstaat, S. 493) an. Die EWG wurde als eine Wirtschaftsgemeinschaft durch die Unterzeichnung der Römischen Verträge durch Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland gegründet. 1993 wurde die EWG in die heute existierende und erweiterte EU umbenannt. Europa wurde von Jünger „als die dritte Macht“ angesehen, als ‚einziger Faktor‘, „der die sich verschärfenden Gegensätze zwischen dem Osten und dem Westen [...] zu neutralisieren imstande“ sei, so Jünger in einem unveröffentlichten Brief an Niekisch, am 28.10.1946 (zit. nach Morat: Tat, S. 389). Jünger: Der Weltstaat, S. 526.

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Der Weltstaat wäre damit ‚nur‘ die Organisationsform, die der Globalisierung entspräche,24 nicht aber mehr dem planetarischen Denken.25

3. Entwicklung des planetarischen Denkens: Vom Arbeiter zu An der Zeitmauer Im Übergang von seiner Schrift Der Arbeiter zu seinem Essay An der Zeitmauer (1959)26 wechselte Jünger seine Perspektive vollkommen: Was dort ein von Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ bestimmtes anthropologisches Geschehen war27 – kristallklar hatte dies Heidegger so erkannt28 –, wurde hier nun zu 24

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In seinem letzten Stadium, in seiner ‚finalen Größe‘, würde der Staat aufhören, „im historischen Sinne Staat zu sein“; er näherte sich damit „anarchistischen Utopien“ (Jünger: Der Weltstaat, S. 525; vgl. auch Jünger, Ernst: „An der Zeitmauer“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 397–645, hier S. 618f). Und ebd., S. 637: „Wenn wir die planetarische Ordnung den Weltstaat nennen, so ist das ein Name ohne Inhalt, denn es ist vorauszusehen, daß er mit den historischen Staaten wenig gemein haben wird.“ Ich möchte das Wort ‚Planetarismus‘ vermeiden, da es von Heidegger gerade zu der durch Technik bestimmten Weise des, in seinen Worten, „neuzeitlichen Wesensaufenthalt des Menschen“ (Heidegger, Martin: Über den Anfang. Gesamtausgabe Bd. 70. Frankfurt a.M. 2005, S. 34) benutzt wird (also was hier eher ‚Globablisierung‘ genannt wird). Der ‚Planetarismus‘ lasse, nach Heidegger, nur zwei Möglichkeiten in Hinsicht auf den Planeten zu: „Entweder die Vernichtung oder die Verwüstung.“ (Ebd., S. 98) Heidegger setzt ‚Planetarismus‘ mit ‚Idiotismus‘ und ‚Amerikanismus‘ gleich (vgl. ebd., S. 34 u. S. 98). Dies schrieb Heidegger so 1941. 1955, in der Festschrift für Jünger (vgl. Mohler, Armin (Hg.): Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1955), die später Heidegger unter dem Titel Die Seinsfrage veröffentlichte (vgl. Heidegger, Martin: Zur Seinsfrage. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1959, S. 59), spricht er dann allerdings positiv vom ‚planetarischen Bauen‘. Beide Schriften sind im achten Band der Sämtlichen Werke Jüngers zu finden: Der Titel dort, Essays II. Der Arbeiter, täuscht eine Einheitlichkeit vor, die die tiefen Risse und Brüche, die zwischen den hier zusammengezwungenen drei Essays, nämlich dem Großessay Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), An der Zeitmauer (1959) und Maxima – Minima (1964) übertünchen soll. Die nicht-chronologische Anordnung dieser Essays mit der Zwischenstellung des zuletzt enstandenen Essays Maxima – Minima könnte als ein Vermittlungsversuch zwischen dem ersten und dem dritten Essay angesehen werden; vgl. dazu auch Morat: Tat, S. 511ff. Vgl. Heidegger: „Jüngers Buch ist wichtig, weil es das leistet, was alle ‚Nietzscheliteratur‘ nicht vermochte: eine Erfahrung des Seienden und dessen, was ‚ist‘, zu vermitteln im Lichte des Nietzscheschen Entwurfes des Seienden als Wille zur Macht; diese Erfahrung des Seienden ist Bestandsicherung des Menschen inmitten seiner.“ (Heidegger: Zu Ernst Jünger, S. 27). Die Gestalt des Arbeiters sei, so Heidegger, ein „Blick auf ein Menschentum, das neuzeitlich als Subjectum erfahren und gedacht wird.“ (Ebd., S. 43) Heidegger kritisierte dann genau dies: „Jünger übernimmt als selbstverständlich und erkennt darin nicht die geringste Spur einer Fragwürdigkeit, 1. daß überhaupt der Mensch die Mitte und das Maß der Besinnung ist und das Ziel (Anthropomorphie) 2. daß dieser Mensch als Subjekt (Subjekt-Objekt-Beziehung) begriffen wird 3. daß dieses Subjekt als Wesensbestand eine irgendwie festzustellende Tierheit hat [...]. Die Grundstellung: die unbedingte Anthropomorphie der absoluten Subjektivität des homo natura als homo faber militans.“ (Ebd., S. 44.) Dies nennt Heidegger dann zusammenfassend‚ einen „Höhepunkt der Verblendung“: „Ein Höhepunkt der Verblendung ist erreicht, sofern nicht gesehen wird, daß es sich um die Fortführung der bereits eingeleiteten Vollendung der bisherigen zwei Jahrtausende handelt –, nicht nur nicht um ‚Neues‘ – das ist unwesentlich –, sondern um die Er-

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einem erdgeschichtlichen, planetarisch-kosmischen Vergang umgewertet; nicht mehr der Mensch ist nun Agens, ist die antreibende Kraft, sondern die Erde selbst,29 die Erde als Planet, d. h. in ihrer kosmischen Konstellation.30 Jünger nahm damit Abschied von einem bzw. nicht zuletzt auch von seinem anthropozentrischen Weltbild zugunsten einer etwas diffusen Vorstellung, in der ‚komplexe Einheiten‘ (wechselnd als ‚Universum‘, ‚Kosmos‘, ‚Erde‘ bezeichnet) die Regie übernommen haben, die mit schwer zu fassender Eigen-Intelligenz begabt sein müssen, deren Komplexität allerdings für Menschen nicht leicht zu durchschauen ist.31

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mächtigung des äußersten Unwesens des Anfänglichen Wesentlichen.“ (Ebd., S. 45). Dieses Subjekt Jüngers ist das deutsche Volk bzw. die deutsche Nation (vgl.: „Subjekt kann auch ein Volk, eine ‚Nation‘ sein, das sich selbst und seine Lebensinteressen und seinen ‚Standard‘ als Ziel setzt. 80 Millionen Volk Lebensrecht (...).“ (Ebd., S. 67), nicht aber die deutsche bzw. – wie es ja damals hieß – ‚arische‘ Rasse. Dies unterscheidet Jünger von Heidegger, der hier durchaus in rassischen Kategorien denkt: „In der Typik und Technik einer planetarisch herrschenden Rasse wird die Subjektivität des Menschen absolut.“ (Ebd.) Jünger spricht in seinem Arbeiter durchaus den Deutschen eine führende Rolle bei der weltweiten Durchsetzung der ‚Gestalt des Arbeiters‘ zu, dies aber keineswegs aus rassischen, sondern vor allem aus historischen Gründen, insofern die Deutschen nämlich ‚schlechte Bürger‘ gewesen seien (vgl. Jünger: Der Arbeiter, S. 17). Jünger sieht einen Widerspruch zwischen dem imperialen Streben der Nazis nach Weltherrschaft und ihrer rassistischen Ideologie: Wer die Welt beherrschen will, so Jünger, dürfe nicht rassistisch denken: „Weltherrschafts- und Rassenpolitik zusammen zu betreiben, wie Hitler es wollte, gehört zu den Undingen.“ (Jünger, Ernst: Der Gordische Knoten. Frankfurt a.M. 1953, S. 139). Deutlich sagte Jünger, dass sich die Erde des Menschen bediene: „Die Erde hat aus ihrem Urgrund schon oftmals neue Gestalten hervorgebracht. Wenn sie sich dazu nun des Menschen als ihres klügsten Sohnes bedient, ist die Gefahr prometheischer Bildungen und ihres Schicksals groß.“ (Jünger: An der Zeitmauer, S. 643). Diese kosmische Dimension – der „Versuch, neue, etwa kosmische, Elemente in die Menschengeschichte einzubeziehen“ (Ebd., S. 404) – wird in der Zeitmauer durch die Beziehung auf die Astrologie eröffnet: „Die Astrologie verbindet nämlich drei große Vorzüge zur Betrachtung metahistorischer Zeiträume. Sie geht von der größten Spannweite, der Ausdehnung des Universums, aus. Sie hält sich an die größte und zugleich genaueste Uhr [...]: an den Zyklus der kosmischen Umläufe.“ (Ebd.) Hermann Hesse, der diese ‚erdgeschichtliche‘ Wendung Jüngers besonders hervorhob, nannte dies eine ,neue und überraschende Vision‘. Hesse schreibt 1960, anlässlich seiner Lektüre von Jüngers Buch: „Aber während wir andern, die Shiwagläubigen Hindu ebenso wie wir heutigen Künstler und Dichter, auch Geister wie Nietzsche und Spengler inbegriffen, den Weltzustand historisch und durchaus anthropozentrisch betrachten, sieht ihn Jünger – das ist das Neue und Überraschende an seiner großen Vision – nicht mehr geschichtlich, das heißt menschheitsgeschichtlich, sondern erdgeschichtlich.“ (Hesse, Hermann: „Nach der Lektüre des Buches An der Zeitmauer“. In: Über Ernst Jünger. Hg. v. Hubert Arbogast. Stuttgart 1995, S. 73–77; hier S. 74). Ob man dies mit dem Neologismus „Gaiadizee“ bezeichnen muss (Schulz, Nils B.: „Die Ameisen werden uns überleben. Zu Ernst Jüngers Tagebüchern Siebzig verweht I–V“. In: Scheidewege 39 (2009/2010), S. 125–135, hier S. 129), soll dahingestellt bleiben. Die Erde, so Jünger, begönne sich „in einer innerhalb der menschlichen Geschichte neuartigen Weise [...] zu regen und Einheit anzustreben [...]“ (Jünger: Der Weltstaat, S. 520). In einem Interview mit seinen beiden italienischen Übersetzern Antonio Gnoli und Franco Volpi antwortet Jünger 1995, also als Hundertjähriger, auf die Frage, was er vom ‚Fortschritt‘ halte, dieses: „Für mich ist das ein Anthropomorphismus [...]. Man muß Distanz halten und das

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Jüngers Verständnis ist weiter, dass diese planetarische Intelligenz weniger auf die von Menschen und durch ihre Technik verantwortete Katastrophen reagiert als dass sie sich vielmehr gerade in diesen und durch diese Katastrophen artikuliert. Damit werden diese menschlich verursachten Katastrophen entanthropomorphisiert und erhalten gleichzeitig eine ganz neue, nämlich positive, ‚erdgeschichtliche‘ Qualität.32 Ich will diese Umcodierung des menschlich-technisch Katastrophalen ins planetarisch Notwendige und vielleicht sogar Wünschenswerte am Beispiel einer komplexen Vorstellung bei Jünger zeigen, die sich ursprünglich mit dem Titelwort seiner Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg verbindet, die 1949 unter dem Titel Strahlungen erschienen.33 In den Sämtlichen Werken Jüngers haben auch seine Alterstagebücher Siebzig verweht zusätzlich noch diesen Titel Strahlungen erhalten.34

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Universum und seine Geschichte eher aus dem Blickwinkel des Prinzips der Erhaltung der Energie betrachten. Die Kraft des Kosmos bleibt stets gleich, es gibt weder Progression noch Regression, weder Beschleunigung noch Entschleunigung, nichts kann sie verändern. Was sich ändert, sind nur die Gestalten, die Formen, welche die Geschichte, oder besser die Erde unablässig aus ihren Tiefen erzeugt.“ (Gnoli u. Volpi: Titanen, S. 103). An anderer Stelle spricht Jünger allerdings davon, dass „der Planet [...] einer Beschleunigung“ unterworfen werde, „an die sich die Menschheit anpassen muß, indem sie sich selbst umformt.“ (Ebd., S. 113; vgl. auch S. 123, wo ebenfalls von einer ‚Beschleunigung‘ gesprochen wird). In diesem Zusammenhang bin ich auf Überlegungen des amerikanischen Komplexitätsforschers Stuart Kauffman gestoßen, der, ganz ähnlich wie Jünger, von der ‚Selbstorganisation von Materie‘ bzw. kreativen Vorgängen im Universum bzw. in der Natur überhaupt spricht. Eine seiner Kernaussagen lautet: „Das Lebendige bringt autonom handelnde Wesen hervor.“ (Kauffman, Stuart: „Das ist Futter, das ist Gift“. Interview mit Philip Bethge u. Johann Grolle. In: Der Spiegel Nr. 1/ 2010, S. 120–122, hier S. 121). Hier gibt es doch überraschende Anschlussmöglichkeiten der Gedanken Jüngers. Seferens sieht allerdings eine politische Dimension mit diesem ‚kosmischen‘ Weltbild Jüngers verbunden: Es liefere „die Legitimation für ein Gesellschaftsmodell [...], das auf organischer Hierarchisierung und autoritärer Herrschaft“ beruhe (Seferens: Leute, S. 11). Genauere Hinweise auf dieses „Gesellschaftsmodell“ kann Seferens aber nicht geben. Die erste Auflage (vgl. Jünger, Ernst: Strahlungen. Tübingen 1949) umfasst das Vorwort, die beiden Pariser Tagebücher (aus den Jahren 1941 bis 1944), die Kaukasischen Aufzeichnungen (1942 bis 1943) und die Kirchhorster Blätter (1944 bis 1945). Später erhalten die Tagebuchbände 2 bis 5 in den Sämtlichen Werken auch diesen Titel, was zu der Verkomplizierung führt, dass Jüngers Alterstagebücher Siebzig verweht I–V in den Sämtlichen Werken gleichzeitig unter dem Titel Strahlungen vereint sind (Strahlungen III entspricht Siebzig verweht I, Strahlungen IV entspricht Siebzig verweht II usw.).

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4. Durch die Katastrophen hindurch – am Beispiel von Strahlungen Obwohl Jünger in seinem 1949 geschriebenen Vorwort zu diesen Tagebüchern Katastrophen ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt35 – das Bild, welches er dafür gebraucht, ist der von Edgar Allan Poe zum literarischen Symbol erhobene ‚Malstrom‘36 – bezieht er anscheinend zunächst dieses titelgebende Wort „Strahlungen“ nicht auf Radioaktivität, also Strahlungsaktivität, denn in den vielfältigen Erläuterungen zu diesem Begriff ‚Strahlungen‘ in diesem Vorwort gibt es auf diesen katastrophalen Kontext der Radioaktivität, d. h. also auf die Atombombe, keinen Hinweis.37 Allerdings muss die bedrohliche Dimension dieses Begriffs von Anfang an mitgemeint sein, gibt es doch von Jünger in Tagebucheintragungen vom 10. und 12. August 1945, also wenige Tage nach Hiroshima und Nagasaki,38 Reflektionen zu diesen amerikanischen Atombombenabwürfen. Jünger schreibt zunächst: „Ein Untergang von einem Umfang, wie er bisher nur durch kosmische Katastrophen möglich schien.“39 Und dann etwas später heißt es, wobei hier das Stichwort ‚Strahlung‘ fällt:40 „Es scheint, daß man durch Strahlung Mauern umwerfen kann. Das überbietet die Trompeten von Jericho.“41 Später dann, ab Mitte der 1960er Jahre, erweiterte Jünger die Bedeutungen seines Titelwortes „Strahlungen“ um die bedrohliche Dimension. So

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Vgl. z. B.: „Hier [in seinen Tagebüchern, Th.P.] sind die Teile nun vereint, zum Bild der Katastrophe, die wie eine Woge anhebt, brandet und verebbt.“ (Jünger, Ernst: „Vorwort“. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 9–23, hier S. 14). „Das [Jüngers Tagebücher; Th.P.] sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer auftauchen.“ (Jünger: Vorwort, S. 13). Vgl. Edgar Allan Poe A Descent into the Maelström (1841). Vgl. dazu auch Pekar, Thomas: Ernst Jünger und der Orient. Mythos – Lektüre – Reise. Würzburg 1999, S. 42f. Unter „Strahlungen“ versteht Jünger hier ganz traditionell-literarisch u. a. den „Eindruck [...], den die Welt und ihre Objekte auf den Autor hervorrufen [...].“ (Jünger: Vorwort, S. 14) Und der Autor leite diese „Strahlungen“ durch das Medium seines Tagebuchs auf den Leser weiter. Damit ‚rekurriere‘ Jünger „auf die Vorstellung einer einheitlichen Struktur der physischen und geistigen Sphäre“ (Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin u. a. 2008, S. 141). Auf die vielfältigen semantischen Dimensionen von ‚Strahlung‘ (z. B. die biographische, dass Jünger 1895, im Jahre der Entdeckung der Röntgenstrahlung, geboren wurde) kann hier nicht eingegangen werden (vgl. dazu Pschera, Alexander (Hg.): Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht. Berlin 2008, S. 308–310 und Streim: Ende, S. 142f). Hiroshima 06.08. und Nagasaki 09.08.1945. Jünger, Ernst: „Die Hütte im Weinberg“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III. Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 403–659, hier S. 504. Auch die Gestaltung des Einbands der Erstausgabe von Strahlungen, die von Hans Ruß stammt, sieht übrigens recht atomar-bedrohlich aus; einsehbar unter http://www.nigromontanus.com/ ej1949a_strahlungen.php (Stand: 05.02.2010). Jünger: Die Hütte im Weinberg, S. 505. Die Verwendung des Singulars ‚Strahlung‘ könnte eine gewisse Differenz zu den titelgebenden „Strahlungen“ im Plural signalisieren.

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schreibt er 1965, auf den ersten Seiten von Siebzig verweht I, noch Folgendes (Jünger beginnt hier mit einem Zitat): „Strahlungen - - - ich hatte nicht daran gedacht - - - viele, viele - - - sind sie gefährlich? - - - Genossen, könnt ihr nichts tun? - - - versteht mich doch - - - entsetzliche Einsamkeit.“ Das Tonband registriert ein Knistern, dann sekundenlang ein Rauschen wie von großen Flügeln, dann nichts mehr. Es ist der 12. November 1962, 8.09 Uhr Turiner Zeit. Offenbar eine der Stimmen todgeweihter Kosmonauten aus der Umlaufbahn. Ihre Gespräche werden zuweilen von Amateuren erlauscht. Das geht über alle Schrecken, geht selbst über E.A. Poes Phantastik hinaus. Der Umfang des Abenteuers, seine Tiefe, auch seine Rückwirkung deuten sich noch kaum an. Wo die technischen Probleme kulminieren, ja gelöst scheinen, ist die Rechnung aufgegangen und Leere bleibt zurück. Der Tod wird sichtbar, der im Gestell verborgen war. Und was sagt die Gäa dazu? Das muß aus den Mythen zu erfahren sein.42

Wenn Jünger hier auch offensichtlich einer ‚Zeitungsente‘, also sozusagen einem ‚nihilistischen Gerücht‘43 aufsaß44 – solche Flüge gab es wohl nicht –, so ändert dies doch nichts an der grundsätzlichen Neubewertung des Begriffs ‚Strahlungen‘ bei Jünger, sei es, wie hier, als kosmische Höhen-Strahlung, sei es als etwa durch Atombomben freigesetzte Radioaktivität; radius (lat.) heißt ja wörtlich ‚Strahl‘.45

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Jünger, Ernst: „Siebzig verweht I“. In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Tagebücher IV. Strahlungen III. Stuttgart 1982, S. 5–609, hier S. 10. Vgl. Jünger: Über die Linie, S. 242. In diesem Text analysiert Jünger scharf Funktionsweisen des ‚nihilistischen Gerüchts‘ – „Für alle Mächte, die Schrecken verbreiten wollen, stellt das nihilistische Gerücht das stärkste Mittel der Propaganda dar. [...] Man möchte den Gegner glauben machen, daß man Weltuntergänge zu veranstalten sei.“ (Jünger: Über die Linie, S. 243). Allerdings war Jünger dann später augenscheinlich selbst bereit, an ein solches Gerücht zu glauben! In den nachgelassenen Materialien Jüngers im Literaturarchiv Marbach befindet sich ein Artikel der Illustrierten Quick, der ihm hier als Vorlage gedient hat und der über angebliche GeheimRaumflüge sowjetischer Kosmonauten, sogenannter ‚Phantom-Kosmonauten‘, aus den 1960er Jahren berichtet. Dieser Artikel bezieht sich auf die Aktivitäten des italienischen Brüderpaars Giovanni Battista Judica-Cordiglia und Achille Judica-Cordiglia in Turin (weshalb Jünger von ‚Turiner Zeit‘ spricht), die mit einer privaten Antennenanlage ab Ende der 1950er Jahre vor allem sowjetische Satelliten abhörten. Berühmt wurden die Brüder in den Jahren zwischen 1960 und 1964, da sie angaben, sogenannte sowjetische ‚Phantom-Kosmonauten‘ abgehört zu haben. Von denen soll es etwa sieben gegeben haben, die alle tödlich verunglückt seien. Die deutsche Sensationspresse, wie die genannte Zeitschrift Quick oder auch die Bild-Zeitung, die u. a. am 27.5.1963 einen Bericht unter dem Titel „Russische Astronauten im All verunglückt?“ publizierte, nahm dies auf; vgl. http://satellitenwelt.de/jc_turin. htm (Stand: 27.01.2010). Eine weitere Bedeutungskomponente wären Radiowellen: „Unterwegs im Radio Nachrichten. Dabei eine der jedem Autofahrer bekannten Störungen: der Ton fällt unter Brücken und Leitungen aus, oder er wird korrumpiert. Daß wir uns in einem Geflecht von Strahlungen bewegen, von dem wir nur einen Faden oder das wir überhaupt nicht wahrnehmen, wird uns erst durch ein solches Manko bewußt.“ (Jünger, Ernst: Siebzig verweht III. Stuttgart 1993, S. 7).

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Das Wort ‚Strahlungen‘ wird zum Signum eines ‚verschärften‘ Malstroms, eines heftiger gewordenen ‚nihilistischen Sogs‘,46 der letztendlich zur „Totalvernichtung“47 führt, der nicht mehr, wie noch 1945, mit einer ‚geistigen Erfassung‘48 allein beizukommen ist.

5. Gäa und die Mythen Was hier nun in den 1960er Jahren neu hinzutritt, ist eben diese Frage, der Appell, wenn man so will, an ‚Gäa‘, d. h. die Hoffnung auf eine mythische Botschaft von ihr, ist Gäa/Gaia/Γαια/Ge doch die (griechisch-)mythische Gestalt der Erde. ‚Strahlungen‘ wird zum Begriff für die Sichtbarmachung des Wesens der Technik als – Jünger sagt es mit Heidegger – ‚Gestell‘,49 die das Nichts (Leere/Tod) zeigt. Dies wäre als der absolute Nullpunkt anzusehen, als die tödliche Zone des absoluten Nihilismus,50 in der sich aber nun gerade, so Jüngers denkerische Kippfigur, die Positivität eröffnet. ‚Strahlungen‘ ist weiter der Begriff für die – wenn auch in diesen ersten Anfängen der Raumfahrt oft tödlich ausgehende – Berührung des Erdhaft-Technischen, des Titanischen,51 wie Jünger immer wieder sagt, mit dem Planetarisch-Kosmischen.52 In dieser doppelten Positivität, als Durchschreiten der Zone des Nihilimus und als Berührung mit dem Planetarisch-Kosmischen, wäre ‚Strahlun46

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Vgl. Jünger: Über die Linie, S. 253. Vgl. auch: „Der Malstrom, das ist der Trichter, der unwiderstehliche Sog, mit dem die Leere, das Nichts anzieht.“ (Jünger, Ernst: „Der Waldgang“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1981, S. 281–474, hier S. 307). Jünger erkennt in der Technik einen ‚Willen zur Totalvernichtung‘, „das heißt: zur Austilgung des Lebens überhaupt.“ (Jünger: Der Friede, S. 234) Über Hiroshima sagt Jünger: „Hier war nicht nur eine Stadt getroffen, sondern eine Welt.“ (Jünger, Ernst: „Siebzig verweht II. In: Sämtliche Werke. Bd. 5. Tagebücher V. Strahlungen IV. Stuttgart 1982, S. 471). „Die geistige Erfassung der Katastrophe ist fürchterlicher als die realen Schrecken der Feuerwelt.“ (Jünger: Vorwort, S. 13). Zur Bedeutung des ‚Gestells‘ und der Beziehung Heideggers zur Jünger in Hinsicht auf die Entstehung dieses Begriffs vgl. Stumpe, Martin: Geviert, Gestell, Geflecht. Die logische Struktur des Gedankens in Martin Heideggers späten Texten. Braunschweig 2002, S. 139–178; bes. S. 142; ‚Gestell‘ benennt vor allem die Eigenmächtigkeit des menschlichen Bestellens, die charakteristische Art des technischen Weltbezugs. Zum Mode- bzw. ‚Schlagwort‘ Nihilismus in der deutschen Nachkriegszeit der 1950er Jahre vgl. Morat: Tat, S. 441f. Als Nachkommen der Erdmutter Gaia und des ersten Himmelsgottes Uranos haben die Titanen eine solche Zwischenstellung inne. Bei der Raumfahrt, so Jünger, gewönne „die technische Bemühung planetarisch-kosmische Qualität“ (Jünger: Der Weltstaat, S. 492). Vgl. auch: „Daß etwa Raumfahrt in der Spanne praktisch wird, in der sich der Planet mit einer neuen, einheitlichen Garnitur und ihrer Formensprache ausstattet, gehört nicht nur zu den weltgeschichtlichen, sondern darüber hinaus zu den erdgeschichtlichen Überraschungen.“ (Jünger: An der Zeitmauer, S. 534).

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gen‘ als Signum einer neuen Epoche zu verstehen – und in der Tat schreibt Jünger später: „Die Ablösung der Eisenzeit durch die Strahlung [...].“53 Es ist hier eine Jüngersche Denkfigur zu finden, von Jünger selbst ‚stereoskopische Wahrnehmung‘54 genannt, die in der Jünger-Forschung schon von vielen beschrieben worden ist; eine eindringliche Kennzeichnung stammt von Hans Blumenberg, zu finden in seinen nachgelassenen Notizen zu Jünger, die unlängst unter dem ‚kosmischen‘ Titel Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger publiziert wurden; Blumenberg schreibt: „[...] Das Nichtige muß bis zur extremen Konsequenz des reinen Nichts forciert werden, um es schließlich über die Linie55 zu zwingen, auf der es in das Sein umschlägt.“56

6. Planetarische Mythen als Reflexionsebene zur Globalisierung Der Umschlag aus dem absoluten Nihilismus in die Positivität geschieht im Zitat durch den Hinweis auf die Mythen, auf den die Frage ‚Und was sagt die Gäa dazu?‘ hinleitet. Damit bewegt sich dieser Vorgang in einer Dimension, die – und so hat dies, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang, Helmuth Kiesel in seiner Jünger-Biographie gesagt57 – „den Rückgriff auf 53 54

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Jünger, Ernst: Siebzig verweht V. Stuttgart 1997, S. 100. Seferens sieht diese Wahrnehmungsweise sehr kritisch und spricht davon, dass Jünger „der technisch-nihilistischen Moderne ein ästhetisches Sinnkonstrukt“ überstülpe (Seferens: Leute, S. 22). Über die Linie – damit ist Jüngers Aufsatz aus dem Jahre 1950 für die Heidegger-Festschrift zu dessen 60. Geburtstag genannt (vgl. Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1950), in dem Jünger den Nihilismus zu überwinden sucht – bekanntlich nicht zu Heideggers Wohlgefallen (vgl. eine ausführliche Darstellung der Kritik Heideggers an Jünger in Koslowski: Mythos, S. 151ff. und Morat: Tat, S. 446ff.). Der Hauptkritikpunkt Heideggers war, dass Jünger im Raum diesseits und jenseits der Linie, die gleiche Sprache spräche. Blumenberg, Hans: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Hg. v. Alexander Schmitz u. Marcel Lepper. Frankfurt a.M. 2007, S. 27; Blumenberg nennt dieses Verfahren im übrigen ‚Gnosis‘ bzw. ‚Platonismus‘; Streim spricht davon, dass es Jünger als seine Aufgabe als ‚Autor‘ ansah, „die von der Nachricht ausgehenden [...] Strahlen [...] zu einem sinnvollen Muster“ anzuordnen bzw.: „Wird sie als Prozess der Materieumwandlung wahrgenommen, erhält die Zerstörung einen kosmologischen Sinn und wirkt zugleich wie eine Offenbarung, da sie einen Blick in die unzerstörte Grundstruktur des Lebens eröffnet.“ (Streim: Ende, S. 148). Sloterdijk nennt dies eine ‚zynische Kosmologie‘ (vgl. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Zweiter Band. Frankfurt a.M. 1983, S. 823). Kiesel nimmt aus einer Tagebuchaufzeichnung Jüngers aus dem Jahre 1980 anlässlich seiner Lektüre des Buches über Hitler von Sebastian Haffner (Anmerkungen zu Hitler, München 1978) folgende Bemerkung Jüngers auf: „Den anderen Hauptpunkt der Betrachtung [Haffners; Th. P.] bildet das crimen, von dem Haffner zu Recht sagt, daß Vergleichbares in der Geschichte nicht zu entdecken sei. Es wird dort auch nicht zu finden sein, weil wir aus der Geschichte hinaustreten. Die Perfektion der Mittel ist, wie auch beim Kriege, dafür nur ein Indiz, neu aber ist die Konfrontation der titantischen mit der göttlichen Welt.“ (Jünger: Siebzig verweht II, S. 577). Kiesel schließt hieran: „Und das heißt: Die Verbrechen des Nationalsozialismus und zumal der Judenmord haben Jünger zufolge eine Dimension, die den Rückgriff auf den Mythos

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den Mythos als Reflexion elementarer Ereignisse verlangt oder nahelegt [...].“58 Allerdings wäre dieser ‚Rückgriff auf den Mythos‘ ebensosehr oder sogar noch mehr als ein ‚Vorgriff‘ anzusehen, denn was die Gäa sagt bzw. sagen wird, ist nicht – noch nicht vielleicht – bekannt.59 Hier geht es nicht um den hinter uns liegenden ‚Mythos der Moderne‘, den ‚Arbeiter‘, auch nicht, wie ich im Unterschied zu Peter Koslowski sagen möchte, um kleinere Mythen oder Erzählungen der Posthistoire,60 sondern um wesentliche Mythen einer kommenden, planetarisch bestimmten Zeit.61 Jünger richtet eine von der Gäa bestimmte Redeweise (‚Mythos‘) als Reflexionsebene ein, um von dieser Ebene her die total technisch gewordene, globalisierte Welt, die ‚Strahlungswelt‘ gleichsam, beurteilen zu können; dies ist ein bemerkenswerter Vorgang, wie immer vage diese Ebene auch mit der doch fast ein wenig unfreiwillig komisch klingenden Frage, „Und was sagt die Gäa dazu?“, bezeichnet wird. Diese Frage der Gäa bedeutet nichts weniger als die Einrichtung eines anderen Paradigmas, nämlich des planetarischen Paradigmas.62 Problematisch dabei ist es natürlich, diese Stimme der Gäa zu artikulieren bzw. artikulieren zu lassen. Wer könnte aber diese Frage und diese Stim-

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als Reflexion elementarer Ereignisse verlangt oder nahelegt: Sie sind rational nicht erklärbar und entziehen sich aller historischen Vergleiche. Sie eröffnen ein neues Paradigma der Geschichte.“ (Kiesel: Ernst Jünger, S. 556). Diese zwar politisch-korrekte, nicht aber Jünger entsprechende Interpretation dieser Sätze rückt allerdings Nationalsozialismus und Holocaust in eine Dimension, in die sie bei Jünger keineswegs gehören, sind doch Nationalsozialismus und Holocaust bei ihm, wie bei Heidegger ja auch, ‚nur‘ Erscheinungen des umfassenden Prozesses des Aufstiegs des ‚Titans Technik‘. Wie Jünger selbst hier sagt, ist die ‚Perfektion der Mittel‘, d. h. die Perfektion des Völkermordes, also der Holocaust, „nur ein Indiz“. Kiesel: Ernst Jünger, S. 556. Wenn Jünger einmal so schreibt: „Mit dem Stein ist das Märchen, mit der Bronze der Mythos, mit dem Eisen die Geschichte verknüpft. Wird uns die Strahlung in eine vierte Epoche einführen?“ (Jünger, Ernst: Sgraffiti. Stuttgart 1960, S. 95; vgl. ganz ähnlich Jünger: Der Waldgang, S. 326: „Wenn wir das Märchen der Steinzeit, den Mythos der Bronzezeit und die Geschichte der Eisenzeit zuordnen, so werden wir überall auf diese Lehre [vom Walde, Th.P.] stoßen. Wir werden sie in unserer uranischen Epoche wiederfinden, die man als Strahlungszeit bezeichnen kann.“ So soll es nicht verwirren, dass man wohl bei Jünger den Mythos im engeren Sinn als das gleichsam ‚Leitmedium‘ der Bronzezeit und den Mythos im weiteren Sinn als stetige Kommunikationsform – „Mythos ist keine Vorgeschichte; er ist zeitlose Wirklichkeit, die sich in der Geschichte wiederholt“ (ebd., S. 315) – bzw. auch als noch neu zu findende Kommunikationsform, als ‚Mythos der Moderne‘, ja als ‚Mythos einer kommenden Zeit‘ unterscheiden muss. In diese Richtung gehen m.E. auch Jüngers Bemerkungen zu einer ‚neuen Theologie‘, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei ihm vermehrt auftauchen (vgl. Kiesel: Ernst Jünger, S. 569). Vgl. Koslowski: Mythos, passim. Vgl. auch: „Mit der Häutung der Gäa faßt Antaios dem Herakles gegenüber wieder Boden, und neue Zeichen steigen auf. Die Erde wandelt sich aus den Vaterländern zur Heimat zurück. Matriarchalische Zeichen gewinnen an Macht.“ (Jünger: Maxima – Minima, S. 333). Paradigma hier im Sinne einer grundlegenden Weltsicht.

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me der Gäa hören?63 Jüngers Antwort darauf war die, dass er, als Dichter, dazu befähigt sei, diese mythische Stimme der Gäa zu hören und zu artikulieren.64 Der Dichter habe diese Fähigkeit zur ‚Schau‘, die Jünger moderner ‚Prognose‘ nennt.65 Diese doch recht unsinnige und unzeitgemäße Selbststilisierung Jüngers als ‚sehenden, prognostizierenden Visionär‘66 möchte ich hier allerdings nicht weiter thematisieren, sondern will vielmehr die Positionierung des Planetarischen als Reflexionsebene des Globalen verdeutlichen: Grundsätzlich wird Globalisierung67 als ein Vorgang der „Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen“68 verstanden, der im 16. Jahrhundert in Europa begonnen und der sich dann weltweit in verschiedenen Phasen, letztlich als Ausbreitung von Technik und Wissenschaft, also als Moderne, weltweit verbreitet habe.69 63 64

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Jünger selbst stellt die Frage, wer denn „die Fähigkeit, zu wissen, was die Erde will“ (Jünger: An der Zeitmauer, S. 496), habe. Jünger sagt, dass bei der ‚Deklaration‘ der planetarischen Ordnung Dichter eine wesentliche Rolle spielen würden: „Immer muß Dichtung, müssen Dichter vorangehen.“ (Jünger: Der Weltstaat, S. 525). Ausgehend von „diagnostischen Beschreibungen der Zeit“ (Kiesel: Ernst Jünger, S. 598) sei der Dichter in der Lage, auch Prognosen der weiteren Entwicklung zu geben – dies völlig uneingedenk der Tatsache, dass Jünger ja mit seiner Hauptprognose aus dem Arbeiter, dass das Ende des bürgerlichen Zeitalters kurz bevorstehe, ja dass „die Ablösung der liberalen Demokratie“ (Jünger: Der Arbeiter, S. 275) schon gleichsam vollzogen sei, doch völlig falsch lag. Vgl. z. B. „Eine Dichtung ist langlebig im Maße, in welchem der Dichter transzendente Berührung erfuhr.“ (Jünger, Ernst: Die Schere. 2. Aufl. Stuttgart 1990, S. 88). Es würde zu weit führen, hier auch nur ansatzweise einen Überblick über die in den letzten Jahren überbordende Literatur zur ‚Globalisierung‘ geben zu wollen; eine gute Einführung über die Diskussionen bietet z. B. Bordat, Joseph: „Globalisierung. Versuch einer Annäherung“. In: Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart 7 (2006), H. 1; einsehbar auch als: http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2006–1/Bord_G.htm (Stand: 22.01.2010). Eine erfrischende Sicht auf dieses oft von Soziologen und Politologen recht dröge behandelte Thema gibt Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt a.M. 2005, dem ich hier bei meinem Verständnis von Globalisierung weitgehend folge. Osterhammel, Jürgen u. Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. München 2006, S. 10. Jünger hat, bei seiner grundsätzlichen Hochschätzung Asiens, hier übrigens die These, dass z. B. Länder wie Indien oder China „dieselben Voraussetzungen wie wir zur Entwicklung einer Technik, die der unseren nahegekommen wäre“ (Jünger: Siebzig verweht III, S. 362f.), gehabt habe, dass diese Länder dies aber sozusagen ‚freiwillig‘ abgelehnt hätten – „Das Auto wäre im China des Lao-Tse in keiner Weise [...] akzeptiert worden.“ (Jünger: Die Schere, S. 126.) Er wertet diese Ablehnung als „Kennzeichen höherer Kultur“. (Jünger: Siebzig verweht III, S. 363); ähnlich hatte Oswald Spengler gesagt: „Die chinesische Kultur hat fast alle abendländischen Erfindungen auch gemacht [...], aber der Chinese schmeichelt der Natur etwas ab, er vergewaltigt sie nicht.“ (Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 12. Aufl. München 1994, S. 1186, Anm. 2). Allerdings hätten dann diese Länder auch nicht dem technischen Sog standhalten können, ist doch ein nihilistisch-technischer ‚Weltstil‘ entstanden, den Jünger als ‚Schwund‘ wahrnimmt. Diesem ‚Schwund‘ entspricht die die Welt überziehende ‚Werkstättenlandschaft‘ zu der „die ganze Maschinen-, Verkehrs- und Kriegswelt mit ihren Destruktionen gehört“ (Jünger: Über die Linie, S. 261). Diese Prozesse

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7. Globalisierung und Jüngers Fernreisen Jüngers Reisen, besonders seine dann ab 1965, also ab dem Alter von 70 Jahren an, unternommenen Fernreisen vor allem nach Asien und Afrika,70 sind ihm Bestätigung dieser Globalisierung und lassen ihn weltweit immer wieder die ‚Gestalt des Arbeiters‘ und seine – also dann – Universalsprache der Technik auffinden. Über Japan schreibt Jünger beispielsweise einmal: „Was ich sah und zu sehen erwartet hatte, war eine der Modifikationen, in denen die Gestalt des Arbeiters sich realisiert.“71 Unsinniges Reisen also – hätte Heidegger recht, der Reisen grundsätzlich ablehnte?72 Ist in dieser Hinsicht, auch bei Jünger, nichts Neues zu finden? Hat er somit eine global-identifizierende73 Sicht, die ihn überall nur den ‚Arbeiter‘ sehen läßt, keine planetarisch-plurale Sicht auf andere und fremde Kulturen? Die Antwort darauf ist ‚Ja und Nein‘, was der stereoskopischen Wahrnehmung entspricht: Ja, was die destruktiv-nihilistischen Elemente, die fortschreitende „Verwüstung der Welt bis in die fernsten Winkel“,74 betrifft; nein, was die planetarischen Hoffnungszeichen betrifft, was also Kunde von der mythischen Rede der Gäa gibt.75

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der technischen Ausbreitung hatte Jünger übrigens im Arbeiter noch ‚steigern‘ und beschleunigen wollen: „Es gibt keinen Ausweg, kein Seitwärts und Rückwärts; es gilt vielmehr, die Wucht und die Geschwindigkeit der Prozesse zu steigern, in denen wir begriffen sind.“ (Jünger: Der Arbeiter, S. 207). Zur Auflistung der Jüngerschen Reisen vgl. Pekar: Ernst Jünger, S. 257–261. Jünger, Ernst: Lettern und Ideogramme. Olten 1970, S. 57 bzw. Jünger: Siebzig verweht I, S. 131. Vgl. Heideggers Bemerkungen im Zusammenhang mit Jüngers Asienreise: „Martin Heidegger, der anscheinend zur Zeit alte Chinesen liest, schreibt mir, daß man sich am besten in seinem Zimmer aufhalten, ja nicht einmal aus dem Fenster schauen soll. Das als persönliche Maxime, nicht im Hinblick auf unsere Reise gemeint. Er legt ein Gedicht von Laotse bei.“ (Jünger: Siebzig verweht I, S. 35). Die Vorstellung, dass es nur eine abendländische Technik gebe, die andere, z. B. Asiaten, nur ‚imitieren‘ können, geht auf Spengler zurück: Das faustische Symbol der Maschine gehöre allein dem Abendländer an: „Jeder Nichteuropäer“ versuche zwar „das Geheimnis dieser furchbaren Waffe zu ergründen“, aber lehne „sie innerlich“ (Spengler: Untergang, S. 1190, Anm. 1) ab (diese Stelle zitiert Jünger in: Die Schere, S. 141). Jünger stellt dies aber gerade in Frage: „Spenglers Einstufung der Russen und Japaner als Imitatoren wurde spätestens von der Mitte unseres Jahrhunderts an hinfällig. Eher ließe sich sagen: sie nahmen zunächst widerstrebend, dann leidenschaftlich die Technik als Weltsprache an und erstaunten durch originale Leistungen.“ (Ebd., S. 142). Jünger: Siebzig verweht I, S. 98. „Alles fügt sich unter Jüngers stereoskopischem Zugriff zum Totalzusammenhang, der trotz aller Bedrohung und Zerstörung den Sinn des Ganzen verbürgt und letztlich optimistische Zukunftsperspektive eröffnet.“ (Seferens: Leute, S. 214).

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8. Mythen/Zeichen eines zukünftigen postglobalen/planetarischen Zeitalters Ergänzend zur bisherigen Jünger-Forschung, die diese mythische Seite Jüngers weitgehend als eine abgeschlossene Sache der Vergangenheit ansieht,76 wäre es demgegenüber wichtig, auf die Redeweisen Jüngers zu achten, in denen sich ihm dieser, von ihm selbst so genannte, ‚große Übergang‘ in ein neues ‚geistiges Weltzeitalter‘, der, wie man vielleicht noch besser sagen kann, „Übergang in ein noch Unbenanntes“77 darstellt; dieses ‚Unbenannte‘ hat man im Übrigen in Teilen der Forschungsliteratur bis vor wenigen Jahren noch oft und gerne als ‚Post-Histoire‘ bzw. als ‚Postmoderne‘ bestimmt.78 Es sind dies bei Jünger aber keine fertig ausgedachten Mythen, die auf ein solches zukünftiges planetarisches – und eben nicht postmodernes – Zeitalter verweisen, sondern vorerst nur ‚Zeichen‘ – und zwar Zeichen des Übergangs, transitive Zeichen.79 Hier verschränkt sich das Denken des Planetarischen mit der Auflösung eines fast gnostischen Grunddualismus bei Jünger, nämlich dem von West und Ost, Okzident und Orient.80

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So fasst Koslowski zwar Jüngers ‚Arbeiter‘ als Mythos der Moderne auf, die bzw. der aber mit Eintritt der Postmoderne abgeschlossen sein soll; in Hinsicht auf Jüngers Spätwerk spricht er von den ‚kleinen Erzählungen der Spätmoderne‘ (vgl. z. B. Koslowski: Mythos, S. 121). Kamper, Dietmar: „Weltstaat im Kopf. Wildnis im Herzen. Ernst Jüngers Anmerkungen zum ‚Post-Histoire‘“. In: Text + Kritik (1990), H. 105/106, S. 82–88, hier S. 84. Vgl. z. B. Kamper: Weltstaat; Koslowski: Mythos und Morat: Tat, S. 518, obwohl Jünger selbst für diesen Begriff nur Spott übrig hatte: „Augenblicklich ist ‚Postmoderne‘ im Umlauf; das Wort meint einen Zustand, den es seit jeher gegeben hat. Er wird schon erreicht, wenn eine Frau einen neuen Hut aufsetzt.“ (Jünger: Die Schere, S. 126). Koslowski kommentiert diese Stelle so: „Jünger unterschätzt allerdings an dieser Stelle sowohl die Tiefendimension des Begriffs Postmoderne wie den Beitrag seines eigenen Spätwerks zur Theorie und zum Mythos der Epoche nach der Moderne.“ (Koslowski: Mythos, S. 166). Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, dass das gegenwärtig zu beobachtende doch relativ schnelle Verschwinden der Postmoderne nicht gerade für ihre ‚Tiefendimension‘ spricht und dass die Zuordnung Jüngers zur Postmoderne eine recht problematische Gesamtinterpretation darstellt, die von einer m.E. grundsätzlich falschen Identifikation des ‚erdgeschichtlichen‘ mit dem ‚posthistorischen‘ ausgeht; vgl.: „Das Sich-Regen des Urgrundes am Ende der Stahlgewitter der modernen Mobilmachung ist der Abschluß der Menschengeschichte, die damit in die Erdgeschichte und im Sinne der humanen Einteilungen der Geschichte in den nachgeschichtlichen Raum, in das ‚Posthistoire‘ eintritt.“ (Ebd., S. 101). So hält z. B. Jünger „das Anwachsen astrologischer Neigungen“ (Jünger: An der Zeitmauer, S. 449) bei den Menschen als Zeichen eines ‚Klimawechsels‘ (vgl. ebd., S. 450). Vgl. Pekar: Ernst Jünger, passim; Heidegger erwartete sich von dieser west-östlichen Begegnung viel: „Es bedarf auch hier keiner prophetischen Gaben und Gebärden, um daran zu denken, daß dem planetarischen Bauen Begegnungen bevorstehen, denen die Begegnenden heute auf keiner Seite gewachsen sind. Dies gilt für die europäische Sprache und für die ostasiatische in gleicher Weise, gilt vor alldem für den Bereich ihrer möglichen Zwiesprache. Keine von beiden vermag von sich aus diesen Bereich zu öffnen und zu stiften.“ (Heidegger: Zur Seinsfrage, S. 43).

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9. West-östliche Zeichen und ‚neue‘ Mythen Auf ein solches west-östliches, planetarisches Zeichen deutet das – in Schriften wie dem Chinesischen und Japanischen – verwendete Ideogramm, also Begriffszeichen, hin. Ein solches Zeichen vertritt nicht, wie in den westlichen Sprachen die Buchstaben, eine bestimmte Lautung, sondern einen Begriff.81 Im Unterschied zur Buchstabenschrift, die ein linear-diachrones Lesen erfordert, verlangt das aus dem Piktogramm (Bildzeichen) hervorgegangene Ideogramm, genau wie ein Bild, ein synchrones Erfassen, sozusagen, ein Erfassen einer Szene. Bereits lange bevor Jünger in Ostasien, wohin er 1965 erstmalig reiste, manifest mit diesen Schriftzeichen konfrontiert wurde, gibt es bei ihm immer wieder Reflexionen über Bildzeichen bzw. Ideogramme, deren semantische Unschärfen ihm gerade einen Zugewinn an mythischen Tiefendimensionen und damit von textuellen Generierungsmöglichkeiten bieten. Dies wird beispielsweise in seinem Essay Der Waldgang (1951)82 am Beispiel des Buchstaben W exemplifiziert, den Jünger dort in Bilderschrift verwandeln will. W z. B. irgendwo als Graffiti an eine Wand gesprayt, gewönne so – als eine womöglich politische Handlung – „unmittelbares Leben“, würde „hieroglypisch“ werden und böte nun, „statt zu erklären, Stoff für Erklärungen.“83 Und – eben – Lettern und Ideogramme, so betitelte Jünger einen Text, den er separat 1970 über seinen ersten Aufenthalt in Ostasien veröffentlichte.84 Es ist nämlich gerade die Kombination von westlicher Buchstabenschrift und östlichem Bildzeichen, die Jünger fasziniert. Er schreibt hier: Schon in Hongkong hatte mich die Macht der Schriftzeichen erstaunt. Dort [...] ist ihnen fast immer die Übersetzung in römischen Majuskeln zur Seite gestellt. Wenn der Blick eine solche Gruppierung umfaßt, wirkt sie wie eine Kombination von Blüte 81

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Ich vereinfache die Darstellung hier ein wenig. Eine Definition der chinesischen Schriftzeichen lautet: „piktographisch-ideographisch-rebusartige Logogramme“ (Müller-Yokota, Wolfram: „Die chinesische Schrift“. In: Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. Hg. v. Hartmut Günther u. Otto Ludwig. 1. HalbBd. Vol. 1. Berlin, New York 1994, S. 347–382, hier S. 348). Logogramm bzw. Logographie ist ‚Wortschrift‘. Die Elemente der Logographie sind die lexikalischen Bedeutungen von Wörtern (Lexemen), nicht Lautformen. Dieser Essay war Jüngers „erster im engeren Sinn politischer Text seit dem Arbeiter“. (Morat: Tat, S. 416). Jünger: Der Waldgang, S. 295. W „könnte dann etwa heißen: Wir, Wachsam, Waffen, Wölfe, Widerstand. Es könnte auch heißen: Waldgänger.“ (Jünger: Der Waldgang, S. 295). In An der Zeitmauer (1959) unterschied er zwischen dem ‚kursiven Lesen‘ der Buchstabenschrift und dem ‚synoptischen Erfassen‘ des Ideogramms (vgl. Jünger: An der Zeitmauer, S. 447); Jünger spricht hier auch von den ‚Ideogrammen‘ der Astrologie als von einem „Vorrat an festen Zeichen“, d. h. er sieht in ihr primär ein ‚Zeichensystem‘. Jünger: Lettern und Ideogramme (Oltener Liebhaberdruck Nr. 21). Gekürzt wurde dieser Text in Siebzig verweht I aufgenommen (weggelassen wurde z. B., dass Jünger Tokyo für die „größte und häßlichste Stadt der Welt“ (S. 17) hielt).

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und Zweigen: Blüten die Ideogramme, Zweige die Buchstaben. Das führt weit hinaus in Unterschiede der Anschauung und Begriffe – in Unterscheidungen, die unerschöpflich sind.85

Hier erstaunt Jüngers Umgang mit den chinesischen Zeichen: So faszinieren ihn diese Zeichen gerade in ihrer west-östlichen Fusion. Damit werden diese Zeichen durchaus aus dem asiatischen Kulturkontext herausgelöst und als Welt-Zeichen, planetarische Zeichen aufgenommen.86 Was sich allerdings dann in diesen möglicherweise planetarischen (Bilder-)Zeichen mitteilen lassen soll – darüber sagt Jünger nicht viel; es scheint eher so zu sein, dass diese Zeichen möglicherweise erst einen Raum für zukünftige Bedeutungsmöglichkeiten eröffnen; dieser Raum bleibt vorerst leer, muss leer bleiben, ist diese Leere doch Kennzeichen des ‚großen Übergangs‘.87 Deutungen dieser planetarischen Zeichen wären die zu findenden, zu erfindenden oder zu entdeckenden Mythen des 21. Jahrhunderts, planetarische Mythen also, die, nach all den spaltenden und destruktiven Mythen des 19. und 20. Jahrhunderts,88 von denen der Rassismus sicherlich der folgenund schreckensreichste war, den zukünftigen planetarischen Raum eröffnen könnten, der – unausdenkbar genug wäre dies – nicht von der globalen Technik beherrscht wäre.89 Was Jünger dichterisch-mythisch mit Worten wie Eintritt in ein neues Weltzeitalter, „Erdvergeistigung“,90 „Zeichen des Wassermannes“,91 ,Leben 85 86

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Jünger: Lettern und Ideogramme, S. 7, bzw. Jünger: Siebzig verweht I, S. 110. Überhaupt wäre Jüngers Zeichentheorie einmal eine Untersuchung wert. Auch Menschen können für ihn ‚Zeichenträger‘ sein: „Zur Physiognomik im weiteren Sinne gehört Zeichendeutung; man muß die Menschen als Zeichenträger, als Semaphore sehen.“ (Jünger: Siebzig verweht I, S. 68). „Was kehrt denn überhaupt wieder bei solchem Übergang? [...] Es kehrt überhaupt nichts Sicht- und Nennbares wieder [...]. Das heißt also: nicht Bilder und Konzeptionen, sondern das leere Konzept, die absolute Unbefangenheit.“ (Jünger, Ernst: Annäherungen. Drogen und Rausch. Stuttgart 1970, S. 391). Hier nimmt also Jünger sogar auch Bildlichkeit zurück. Am destruktivsten haben im 19. und 20. Jahrhundert sicherlich die ‚rassischen Mythen‘ funktioniert, insbesondere die ‚arische Rassenideologie‘, die im 19. Jahrhundert u. a. von Houston Stewart Chamberlin vorbereitet wurde und ihre traurigen Höhepunkt in Alfred Rosenbergs Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1934) fand (vgl. dazu auch Pekar: Ernst Jünger, S. 82f). Ein Angebot, diesen Raum zu denken, macht sicherlich Heideggers ‚planetarisches Bauen’: „Das Bauen als ein ‚Stiften und Fügen von Räumen‘ wurde für Heidegger zu einem weiteren Modell des nicht-aggressiven und nicht-zurichtenden Handelns.“ (Morat: Tat, S. 499). Jünger: Maxima – Minima, S. 334. Vgl. auch: „Das Ziel der Technik ist Erdvergeistigung.“ (Jünger: Maxima – Minima, S. 374) und: „In diesem Zusammenhang ist auch die Technik einzuordnen, als Form und Ansatz einer neuen Erdvergeistigung am Abschluß der historischen Zeit, des Eisernen Zeitalters.“ (Jünger: An der Zeitmauer, S. 492) „Jünger verband diese Idee ‚einer neuen Erdvergeistigung am Abschluß der historischen Zeit‘ mit Vorstellungen eines Magischwerdens der Technik.“ (Morat: Tat, S. 516). Jünger: An der Zeitmauer, S. 645. Vgl. auch Jünger: Siebzig verweht I, S. 593, und Jünger: Die Schere, S. 42.

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in einem neuen Haus‘92 oder „Leben in einem neuen Äon“93 usw. kennzeichnet, kann nüchterner ausgedrückt werden als Einziehung bzw. Einfügung einer die Globalisierung reflektierenden Ebene, die das Planetarische genannt werden kann.94 Auf jeden Fall markiert Jüngers Suche nach west-östlichen, planetarischen Zeichen, die den Raum für planetarische Mythen markieren könnten, seine Abkehr von dem einen, „totalisierenden Mythos“,95 wie es der ‚Arbeiter‘ gewesen war, ja sogar seine Abkehr von einem westlich ausgerichteten Weltbild mit seinen abendländischen Mythen und Helden: Die der griechischen Mythologie entstammenden Titanen sind bei Jünger Leitgestalten des globalen, nicht aber mehr des planetarischen Zeitalters;96 für dieses wären neue Bilder, Figuren und Mythen auszudenken,97 wie z. B. der auf einem Büffel nach Westen reitende Lao-Tse, den Jünger gelegentlich erwähnt.98 Jüngers Denken steht an der Grenze zu dieser neuen, ‚planetarischen‘ Mythologie: Im Durchgang durch den großen Mythos der Moderne,99 ‚Arbeiter‘ genannt, erreicht es dieses neue Niveau100 und gibt erste Hinweise darauf, wie dieses neue postglobal-planetarische Bewusstsein Ausdruck und Gestalt finden könnte. 92 93 94

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Vgl. Jünger: Maxima – Minima, S. 364. Jünger: Über die Linie, S. 278. Hier ergibt sich eine interessante Anschlussmöglichkeit meiner Überlegungen zu dem von italienischen Philosophen – in Bezug auf Jünger! – entwickelten Projekt einer ‚Geo-Philosophie‘, die „die Logik der Globalisierung und der planetarischen Vereinheitlichungs- und Gleichförmigkeitsvorgänge überwinden“ will und „Perspektiven für eine moderne und nicht bloß nostalgische Verwurzelung in der Erde in einem symbolischen Sinn zu eröffnen“ sucht (Gorgone, Sandro: „Zeitlichkeit und posthistoire bei Ernst Jünger. Geo-philosophische Rezeption und Aktualität seines Werkes“. In: Ernst Jünger. Eine Bilanz. Hg. v. Natalia Zarska, Gerald Diesener u. Wojciech Kunicki. Leipzig 2010, S. 472–485, hier S. 484). Seferens: Leute, S. 39; Seferens hingegen unterstellt Jünger gerade die Suche nach einem solchen ‚totalisierenden Mythos‘, der den „ästhetischen Rahmen [...] für eine autoritäre Staatsform [...] abgeben“ würde. In der Deutung Koslowskis ist der Titan ‚Arbeiter‘ bereits eine mythische Erfindung Jüngers: „Jünger ist mit diesem Mythos des Menschen als Sohn der Erde Schöpfer eines neuen Mythos und nicht nur Fortsetzer der griechischen Mythologie.“ (Koslowski: Mythos, S. 118). Zur Notwendigkeit des Mythos für menschliche Gemeinschaften vgl. u. a. ebd., S. 177ff., oder, grundsätzlicher noch, die Vorlesungen Manfred Franks über die ‚Neue Mythologie‘ (Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a.M. 1982). Über den Wasserbüffel in Asien schreibt Jünger: „Die Urkraft eines großen Zeichens verbindet sich mit mehrtausendjähriger Kultur. Schon Lao-Tse ritt auf einem schwarzen Büffel nach Westen davon.“ (Jünger: Siebzig verweht I, S. 96; vgl. auch die erneute Erwähnung Lao-Tses auf S. 141; vgl. dazu auch Pekar: Ernst Jünger, S. 216ff.) Lao-Tse war für Jünger eventuell auch unter dem Aspekt des ‚Nicht-Handelns‘ interessant (vgl. dazu Morat: Tat, S. 521). Jünger nennt auch hinduistische Mythen mit ihren ‚unvorstellbar großen Zeiträumen‘ (vgl. Jünger: An der Zeitmauer, S. 523). Vgl. Koslowski: Mythos, S. 16 und passim. Jünger übernimmt zuweilen einen solchen Blick „von außerplanetarischen Stationen“ (Jünger: An der Zeitmauer, S. 554) auf die Erde.

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Entwicklungen und Stationen im Streit um Jünger Dass Ernst Jünger ein ‚umstrittener‘ Autor ist, darf als Topos in Forschung, Literaturkritik und nicht zuletzt publizistischer Auseinandersetzung um Person und Werk bezeichnet werden. Diese Einschätzung des Autors kann auf eine durchaus beachtliche Geschichte zurückblicken. Sie reicht mindestens bis in die späten 1920er Jahre zurück, als der Autor erstmals einem weiteren Publikum ins Auge rückte bzw. durch die Publikation eines nationalistischen Aufsatzes in der links-liberalen Wochenschrift Das Tage-Buch und dessen Diskussion 1929 ins Blickfeld gerückt wurde.1 Ein ‚umstrittener‘ Autor ist Bezugspunkt eines Streitgeschehens. Versteht man den Begriff erst einmal ganz allgemein als kontroverse Beurteilung und öffentliche Diskussion einer Person und / oder eines literarischen oder publizistischen Werks, so zeigt sich der Streit um Jünger nach 1945 als eine Abfolge von wertenden Auseinandersetzungen, die um einige Kernthemen herum in den verschiedensten Öffentlichkeiten2 geführt wurden. Sie verliefen zwar getrennt, waren aber stets auch in einem hochkomplexen Mit-, Neben- und Ineinander verbunden und aufeinander bezogen. Die Kernthemen der Diskussionsfelder waren die Frage nach der Mitverantwortung dieses Autors und seines frühen Schrifttums für die fatale ‚Erfolgsgeschichte‘ des Nationalsozialismus sowie die Bewertung der literarischen Qualität des Jüngerschen Werks. Die Diskussion wurde zu verschiedenen Zeiten, mit unterschiedlichen Intensitäten und Qualitäten im wissenschaftlichen, im literaturkritischen, im allgemein-publizistischen, im literarischen und zum Teil auch im öffentlich-politischen Raum geführt. Gute Überblicke zum Streit um Jünger finden sich etwa in der MetzlerEinführung von Steffen Martus im Kapitel „Jünger nach 1945“3 oder im Teil „Späte Kontroversen und späte Schriften“ der von Helmuth Kiesel ver1

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Jünger, Ernst: „‚Nationalismus‘ und Nationalismus“. In: Das Tage-Buch 10 (1929) Nr. 38 v. 21.9.1929. Hg. v. Leopold Schwarzschild. Berlin, S. 1552–1558. – Siehe dazu Leopold Schwarzschild: „Heroismus aus Langeweile“. In: ebd., Nr. 39 v. 28.9.1929, S. 1585–1589. Siehe dazu etwa Führer, Karl Christian, Knut Hickethier u. Axel Schildt: „Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung“. In: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 1–38, die darauf hinweisen, dass Öffentlichkeit eine Institution ist, die sich vor allem in Medien, besonders wirksam in Massenmedien materialisiert beziehungsweise dort überhaupt erst konstituiert wird. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart 2001, S. 167–178.

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fassten Biographie.4 Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte etwa von Norbert Dietka,5 Roswitha Schieb,6 Liane Dornheim7 und anderen bieten Vertiefungen. Die Bedeutung einer Rezeptionsgeschichte Jüngers ist unbestritten und vor allem mit Blick auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen immer wieder herausgehoben worden; etwa in der für die Erforschung der politischen Publizistik des Autors bahnbrechenden Studie von Hans-Peter Schwarz: Für den Erforscher der politischen Ideen ist die Registrierung des Echos auf Ernst Jünger von besonderem Reiz. In der Auseinandersetzung um sein Werk stießen die politischen Strömungen, die im 20. Jahrhundert in Deutschland um Macht und Einfluß rangen, zusammen. Hier läßt sich im kleinen und ohne großen Aufwand ablesen, wie Faschisten, humanitäre Sozialisten, Liberale, Kommunisten, Konservative und Protestanten, Spießer, schöngeistige Bildungsbürger, Frauen, Reaktionäre in den verschiedenen Epochen politisch ansprechbar waren und argumentiert haben.8

Dass das Forschungsinteresse an Fragen der Rezeption gleichwohl noch immer vergleichsweise unterentwickelt ist, zeigen jedoch die Bibliographien Nicolai Riedels, die bei den Monographien keine eigene Rubrik zur Forschungs- und Wirkungsgeschichte Jüngers aufweisen und bei den unselbständigen Veröffentlichungen insgesamt kaum mehr als zwanzig – häufig kleinere – Beiträge zusammentragen.9 Die Diskursentwicklung nach 1945 ist derart komplex, dass hier nur eine grobe Skizze möglich ist. Als eine kleine Streitgeschichte versucht sie erst einmal nur, die Diskussion in ihrer Entwicklung aufzuzeigen, wobei einzelne Stationen besonders fokussiert werden. In einem zweiten Schritt soll diese Skizze dann in Hinblick auf einige strukturelle Beobachtungen vertieft werden. Streit um Jünger und die Rede von einem „Fall Jünger“ bewegte die öffentliche Diskussion bereits im Jahr 1945 und wurde in den Folgejahren kontinuierlich weitergeführt. Zu unterscheiden sind in diesen Jahren mindestens zwei Streitgeschehen, wobei der Name Jünger in dem einen zentral, in dem anderen nur verdeckt verhandelt wurde. Verdeckt spielte der Name Jünger bereits im Streit um Exil und Innere Emigration eine Rolle, der sich 4 5 6 7 8 9

Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 630–657. Dietka, Norbert: Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik (1945–1985). Frankfurt a.M. u. a. 1987. Schieb, Roswitha: „Die Rezeption Ernst Jüngers nach 1945“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996). Hg. v. Wilfried Barner u. a. Stuttgart 1996, S. 348–361. Dornheim, Liane: Vergleichende Rezeptionsgeschichte. Das literarische Frühwerk Ernst Jüngers in Deutschland, England und Frankreich. Frankfurt a.M. u. a. 1987. Schwarz, Hans-Peter: Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers. Freiburg im Breisgau 1962, S. 255. Riedel, Nicolai: Ernst Jünger-Bibliographie. Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928–2002). Stuttgart 2003, S. 108–110. Auch die Nachträge bieten keine nennenswerten Ergänzungen mehr. Siehe ders.: Internationale Ernst-Jünger-Bibliographie. Supplement I: Nachträge bis 2002 und Neuerscheinungen 2003–2004 (http://www.dla-marbach.de/fileadmin/redaktion/dla/ bibliothek/J__nger.2002-2004.online.pdf − aufgenommen am 28.2.2010).

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an den Schriftenwechsel Walter von Molo – Thomas Mann – Frank Thiess anschloss. Dreh- und Angelpunkt dieser sogenannten ‚Großen Kontroverse‘10 war eine polemische Zuspitzung Thomas Manns, mittels der er seine scharfe Entgegensetzung zur Inneren Emigration auf den Punkt brachte: Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.11

Thomas Mann nennt Jünger zwar nicht explizit, und auch in den vielen anderen Debatten-Beiträgen dieser die nächsten Jahre den öffentlichen Diskurs beherrschenden Kontroverse war der ausdrückliche Bezug auf Jünger eher peripherer Art; doch war Jünger im Bewusstsein vieler Debattanten und gerade im Bewusstsein Thomas Manns selbst als Konkurrenz- und Gegenfigur zum streitenden und umstrittenen Exilautor Mann allemal präsent. Im innerdeutschen Kulturdiskurs galt Jünger Vielen als der ‚heimliche König‘ der Inneren Emigration und in dieser repräsentativen Funktion im Ringen um die weitere kulturelle Entwicklung eines Nachkriegsdeutschland als Entgegensetzung zum oft so genannten ‚Kaiser des Exils‘ Thomas Mann. In diesen Kontext einer diskursiven Unentschiedenheit gehören die vielzitierten Verdikte Manns, dass Jünger „ein geistiger Wegbereiter und eiskalter Wollüstling der Barbarei“12 bzw. „ein Wegbereiter und eiskalter Genüssling des Barbarismus“ gewesen sei, der leider „ein viel zu gutes Deutsch schrieb für HitlerDeutschland“13. Diese Verdikte fielen in der privaten Korrespondenz mit der amerikanischen Verlegergattin Agnes E. Meyer im November und Dezember 1945. Mit der Publikation eines der Briefe 1963 im Rahmen einer Auswahledition durch die Tochter Erika14 wurde das Urteil öffentlich und als autoritativ beglaubigtes Wort ein Topos in der Streitgeschichte der 1960er, 1970er und 1980er Jahre.15 In quellenkritischer Hinsicht war die Validität des Urteils – und damit natürlich auch die Bezugnahme darauf – problematisch, 10

11 12 13 14 15

Siehe dazu etwa Hajdu, Marcus: „‚Du hast einen anderen Geist als wir!‘ Die ‚große Kontroverse‘ um Thomas Mann 1945–1949“. Inauguraldissertation, Justus-Liebig-Universität Gießen, 2002/3. (URN: urn:nbn:de:hebis:26-opus-20562 / URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/ 2005/2056/ – Stand: 16.03.2011). Mann, Thomas: „Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XII. Frankfurt a.M. 1990, S. 975. Mann, Thomas u. Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937–1955. Hg. v. Rudolf Vaget. Frankfurt a.M. 1992, S. 645. Brief vom 4.11.1945. Ebd., S. 649. Brief vom 14.12.1945. Mann, Thomas: Briefe. Hg. v. Erika Mann. Bd. II. Frankfurt a.M. 1979, S. 464. Noch 2003 wird Marcel Reich-Ranicki das Diktum als Beglaubigungsdokument zitieren: „Einen bedeutenden Roman von Jünger sehe ich nicht. Ich glaube, dass er seine Wirkung vor allem seiner Persönlichkeit zu verdanken hatte, nicht seiner Prosa. Thomas Mann hat ihn 1945 unübertrefflich charakterisiert: Er sei ‚ein Wegbereiter und eiskalter Genüssling des Barbarismus‘. Jüngers Werk ist mir fremd.“ (Wittstock, Uwe: „‚Wer es besser machen kann, soll es

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da Thomas Manns apodiktische Einschätzung sich recht eigentlich nicht auf eigene Jünger-Lektüre, sondern auf Hörensagen und Second-hand-Wissen aus dem Familien- und Freundeskreis gestützt hatte.16 Einen zentralen Stellenwert gewannen der Name und das Werk Jüngers in einem parallelen Streitgeschehen dieser Jahre, das mit der Debatte um Exil und Innere Emigration zwar verbunden war, sich aber eigenständig entwickelte.17 In diesem Streit um den „Fall“ oder das „Problem Jünger“ sollte der Autor – jedenfalls nach Ansicht seines frühen Biographen Karl Otto Paetel – zu der „umstrittenste[n] Gestalt unter den deutschen Intellektuellen des nachhitlerischen Deutschland“18 werden. Die Debatte fand in einer losen Folge publizistischer Beiträge statt und besaß ohne Zweifel einigen Aufmerksamkeitswert, zumal der Autor bis 1949 in den westlichen Zonen unter einem Publikationsverbot stand und in der östlichen sowieso verboten war. Auslöser der Debatte war die in Abschriften zirkulierende Friedensschrift Jüngers. Als Zeugnisse dieser frühen Auseinandersetzung immer wieder erwähnt werden eine Umfrage der Hamburger Akademischen Rundschau von 194719 und das Ergebnis einer „Diskussion am runden Tisch des ‚Nordwestdeutschen Rundfunks‘“ von 1946.20 Von zehn Fragen zur Bewertung Ernst Jüngers fanden bei den insgesamt fünf Debattanten – unter ihnen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Peter von Zahn und Axel Eggebrecht – immerhin vier eine übereinstimmende Einschätzung: Die Fragen „Ist J[ünger] ein großer Sprachkünstler“ und „War J. ein Bejaher, dadurch Förderer des Krieges?“ wurden einstimmig bejaht, die „Beurteilung des Arbeiter“ war einmütig negativ und die Erörterung „Sollte J. jetzt verboten werden?“ wurde mit nein beantwortet. Auf einer publizistischen Diskursebene zeigte sich in den späten 1940er Jahren mithin das Bild einer zwar durchaus kontroversen und in wichtigen Teilen Jünger-kritischen Debatte, die in positiver Hinsicht aber eine nicht gering zu schätzende Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen der literarästhetischen Bewertung aufwies.21 Nach-

16

17 18 19 20

21

tun. Dies ist ein freies Land‘. Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über seinen Kanon ‚Deutsche Literatur‘“. In: Die Welt, 21. Oktober 2003.) Siehe dazu Bluhm, Lothar: „‚ein geistiger Wegbereiter und eiskalter Wollüstling der Barbarei‘. Thomas Mann über Ernst Jünger. Eine Studie zu Manns politisch-literarischer Urteilsbildung“. In: Wirkendes Wort 46 (1996) H. 3, S. 424–445. Wiederabdruck in: Begegnungen. Studien zur Literatur der Klassischen Moderne. Hg. v. Lothar Bluhm. Oulu 2004, S. 116–141. Noch immer grundlegend ist der umfängliche „Exkurs“ „Das Jünger-Bild der Kritiker“ in Schwarz: Anarchist, S. 254–262. Paetel, Karl O.: Ernst Jünger. Weg und Wirkung. Eine Einführung. Stuttgart 1949, S. 13. 40 Meinungen über Ernst Jünger. In: Hamburger Akademische Rundschau 1 (1947), S. 447–450. Nordwestdeutsche Hefte. Hamburg. H. 7, 1946: „Debatte über Ernst Jünger“. – Rekurse auf diese frühe publizistische Debatte finden sich im gesamten Schrifttum über Jünger; siehe allein Paetel: Ernst Jünger, S. 237 und Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Stuttgart 1988, S. 224. Eine noch immer brauchbare Auswahl aus der frühen publizistischen Auseinandersetzung um Jünger nach 1946 in Deutschland bietet Paetel: Ernst Jünger, S. 223–229.

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dem bereits in den 1930er und frühen 1940er Jahren erste monographische Arbeiten zu Jüngers Werk erschienen waren, erwiesen sich dann die späten 1940er Jahre als Scharnierstelle in Bezug auf die Historisierung des Autors. Zwischen 1945 und 1949 erschienen einige das Jüngersche Werk und die Entwicklung des Autors – cum grano salis – ausgesprochen positiv bewertende wissenschaftliche Veröffentlichungen, auf die der Autor im Einzelfall, etwa bei den durchaus apologetischen Büchern von Gerhard Nebel und Karl Otto Paetel, sogar einigen Einfluss hat nehmen können.22 Dabei gelingt es, das auch von Jünger in seinen Strahlungen durch die ostentative Hervorhebung seiner Bibellektüre im besetzten Paris angebotene Bild einer christlichen ‚Wandlung‘ zu befördern, so dass der Autor – ob zu Recht oder Unrecht – für einen christlich fundamentierten Konservativismus in den 1950er Jahren veranschlagt23 und als Repräsentant einer meist kritisch perspektivierten frühbundesrepublikanischen ‚Restauration‘ deklariert werden konnte. Die Zuschreibung eines zwischen den späten 1920er und frühen 1940er Jahren erfolgten ‚Wandels‘ durchzieht von den 1940er bis in die 1960er Jahre hinein fast das gesamte Schrifttum über Jünger und dessen jüngere Werkentwicklung. Sie findet sich bei Karl Otto Paetel ebenso wie bei Alfred Andersch, Gisbert Kranz und anderen. Selbst dort, wo der Begriff nicht verwendet wird, begegnen vergleichbare Vorstellungen wie etwa bei Alfred von Martin, der 1948 von einer ‚Überwindung des Nihilismus‘ sprach und davon, dass Jünger „wieder eingebogen [sei] in die zweitausendjährige geistige Überlieferung des Abendlandes, von der er (mit Nietzsche) sich so radikal losgerissen hatte“.24 Die Denkfigur wurde auch von Autoren genutzt, die sich dezidiert kritisch mit Autor und Werk auseinandersetzten wie Peter de Mendelssohn25 oder deren analytischer Zugriff eine andere Akzentuierung zeigte wie 1958 Christian Graf von Krockow, der Jünger für einen spezifischen Dezisionismus reklamierte.26 22 23

24 25

26

Vgl. Kiesel: Ernst Jünger, S. 578f. Vgl. Schwarz: Anarchist, S. 259: „Die Konversion eines ehemals angesehenen Zerstörers vom Range Ernst Jüngers zu den abendländischen Werten war besonders in der Nachkriegszeit nach Meinung zahlreicher Kritiker geeignet, diesen Werten selbst erhöhten Kredit zu verschaffen. Nachdem der verlorene Sohn zurückgekehrt war, wuchs auch bei einstigen Gegnern die Neigung, ihn nun tatsächlich als Repräsentanten seiner Generation zu akzeptieren. Vor allem die Christen beider Konfessionen waren es, die ihn nach 1945 entdeckten und als einen der ihren grüßen – freilich bisweilen nicht ohne eine gewisse Reserve.“ Martin, Alfred von: Der heroische Nihilismus und seine Überwindung. Ernst Jüngers Weg durch die Krise. Krefeld 1948, S. 224. Mendelssohn, Peter de: „Gegenstrahlungen. Ein Tagebuch zu Ernst Jüngers Tagebuch“. In: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift 2 (1950), H. 14, S. 149–174. Siehe auch ders.: „Über die Linie des geringsten Widerstandes. Versuch über Ernst Jünger“. In: ders.: Der Geist in der Despotie. Versuche über die moralischen Möglichkeiten des Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft. BerlinGrunewald 1953, S. 173–235. Krockow, Christian Graf von: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart 1958.

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Auf der wissenschaftlichen Diskursebene gewann das literarische Werk durch die Konzentration des Blicks auf das ästhetische Potenzial eine eigene Reputation, ein symbolisches Kapital, das Jüngers gelegentlich so genannten literarischem „Comeback“27 seit den Strahlungen und vor allem Heliopolis mittelbar zugutegekommen sein dürfte. Erwähnung verdienen vor allem zwei kleinere Studien von Rainer Gruenter und Gerhard Loose, die 1952 in der hochrenommierten germanistischen Fachzeitschrift Euphorion erschienen. Sowohl Loose als auch Gruenter stellten mit zwar unterschiedlicher Akzentsetzung, aber doch gleichermaßen eine spezifische Literarizität des Jüngerschen Schreibens heraus.28 Gerade der Gruenter-Beitrag darf in seiner Bedeutung für die Entwicklung des nachfolgenden wissenschaftlichen Diskurses nicht unterschätzt werden. Gruenter stellte Jünger und sein Werk in die Tradition der ästhetischen Moderne und betonte den Bezug etwa zu Oscar Wilde und Stefan George. Aus einem Oberseminar des späteren Gründungsrektors der Bergischen Universität und Ordinarius für Deutsche Philologie sollte nicht zufällig die für die spätere Jünger-Forschung bahnbrechende Habilitationsschrift Karl Heinz Bohrers von 197829 wichtige Impulse gewinnen. Die 1950er bis 1970er Jahre hat Helmuth Kiesel in seiner Biographie mit guten Gründen als eine Zeit ‚zwischen Erfolg und Außenseitertum‘ bezeichnet.30 Und Steffen Martus wies darauf hin, dass das Interesse am Autor in der Nachkriegszeit trotz aller Verkaufserfolge der Bücher kontinuierlich abnahm, ohne dass die Diskussion um ihn gänzlich zum Erliegen kam.31 In streitgeschichtlicher Hinsicht wird man wohl von einer Phase der Diskursberuhigung sprechen dürfen. Jünger ist im literaturkritischen Diskurs dieser Jahre zwar kaum präsent, bleibt als bundesrepublikanischer ‚Fall‘ einer vor allem kritischen Öffentlichkeit aber im Bewusstsein. Die Ambivalenz zeigt sich vielfältig: In der öffentlichen Wahrnehmung etwa wurde Jünger zum einen immer mehr zu einem ‚Klassiker‘ der deutschen Literatur, was sich zwischen 1960 und 1965 ganz augenfällig schon in der Herausgabe einer zehnbändigen Werkausgabe und dem „Einzug in den Deutschunterricht der Bundesrepublik“ manifestierte.32 Zugleich nährte die Veröffentlichungsstrategie des Autors aber auch Unbehagen. Die Redaktionen seiner Werke – Böhme sprach 1972 von einer „extrem komplexe[n] Revisionsma27 28

29 30 31 32

Kiesel: Ernst Jünger, S. 578. Gruenter, Rainer: „Formen des Dandysmus. Eine problemgeschichtliche Studie über Ernst Jünger“. In: Euphorion 46 (1952), H. 2, S. 170–201. – Loose, Gerhard: „‚Die Tigerlilie‘. Ein Beitrag zur Symbolik in Ernst Jüngers Buch vom ‚Abenteuerlichen Herzen“. In: Ebd., S. 202– 216. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München, Wien 1978. Kiesel: Ernst Jünger, S. 575. Vgl. Martus: Ernst Jünger, S. 170. Ebd., S. 172.

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nie“33 – zielten allzu offenkundig darauf ab, frühere Radikalismen zeitkonform zu harmonisieren und die Exklusion seiner nationalistischen Publizistik schien Kritikern allzu offenkundig auf Verdrängen und Vergessen abgestellt zu sein. Aus einer kritischen Perspektive zeigte Jüngers Fassungspoetik damit dieselbe Tendenz zur Selbstexkulpation, die einem nicht geringen Teil der bundesrepublikanischen Elite jener Jahre vorgeworfen wurde. In streitgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert ist die Zeit um 1970. Mit Recht ist von einer „Blickverschärfung“34 gesprochen worden, die in der Bewertung des ‚Falles Jünger‘ einen kräftigen Ausschlag in Richtung Kritik und Entgegensetzung bewirkte. Nachdem Jüngers Subtile Jagden von einer Darmstädter Jury, zu der unter anderem Karl Krolow, Rolf Michaelis und Fritz Usinger gehört hatten, zum ‚Buch des Monats‘ gekürt worden war, brachte der Frankfurter Schriftsteller und Publizist Horst Bingel im September 1968 in der von ihm redigierten Streit-Zeit-Schrift ein Ernst Jünger-Themenheft mit zum größeren Teil kritischen Artikeln heraus. Die als ‚periodischer Scherz-Artikel‘ beworbene eher satirische Zeitschrift hatte es sich zum Programm gemacht, das arrivierte Kulturgeschehen der Zeit in kritischer und polemischer Form zu begleiten. Zuvor war ein Themenheft ‚Literatur und Klatsch‘ erschienen und nach dem Jünger-Heft sollte ein Themenheft ‚Pornographie‘ herauskommen.35 Die über zwanzig Beiträge des Jünger-Heftes boten trotz einzelner positiver Stimmen insgesamt doch ausgesprochen heftige Attacken gegen den Autor, der unter anderem als Militarist und Präfaschist diffamiert wurde. War in der Streit-Zeit-Schrift der argumentative Strang eher schwach ausgeprägt, so zeigte sich doch auch in den wissenschaftlichen Beiträgen der nachfolgenden Jahre zunehmend eine kritisch-ablehnende Bewertungstendenz: „In den siebziger und achtziger Jahren konnte im akademischen Bereich über Jünger nur ‚kritisch‘ gesprochen werden“, urteilt eine jüngere Arbeit zu Recht: „eine Beschäftigung mit seinem Werk bedurfte der Legitimation, und eine Publikation über ihn mußte mit salvierenden Erklärungen beginnen.“36 Die Blickrichtung auf das Jüngersche Werk verschob sich erkennbar hin zu den politischen Diskursen der 1920er und frühen 1930er Jahre und Jüngers Anteil daran. Diese 33 34 35

36

Böhme, Ulrich: Fassungen bei Ernst Jünger. Meisenheim am Glan 1972, S. VII. Kiesel: Ernst Jünger, S. 630. Streit-Zeit-Schrift. Redaktion: Horst Bingel. Heft VI/1 (Juni 1967): Literatur und Klatsch. München; – Heft VI/2 (September 1968): Ernst Jünger. Fakten. Frankfurt a.M. – Heft VII/1 (1969): Pornographie. Dokumente, Analysen, Comics. Frankfurt a.M. Kiesel: Ernst Jünger, S. 632. – Als der Verfasser dieses Beitrags Ende der 1980er Jahre seine Dissertation über das ‚Tagebuch zum Dritten Reich‘ schrieb, in der dem Diaristen Jünger ein besonderer Stellenwert zukam, erhielt er noch von verschiedenster Seite den dringlichen Rat, sich mit Blick auf eine weitere akademische Laufbahn diesem ‚problematischen‘ Autor am besten gar nicht oder nur in dezidiert kritischer Weise zuzuwenden. Bluhm, Lothar: Das Tagebuch zum Dritten Reich. Zeugnisse der Inneren Emigration von Jochen Klepper bis Ernst Jünger. Bonn 1991.

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Fokusverschiebung war bereits in den frühen 1960er Jahren durch Hans-Peter Schwarz eingeleitet worden.37 In diese Linie gehören etwa die Arbeiten von Karl Prümm, Marjatta Hietala und Gerda Liebchen.38 Die kritisch-ablehnende Grundhaltung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Jünger wird wahrscheinlich nirgendwo greifbarer als in Wolfgang Kaempfers Autorenband aus der Sammlung Metzler von 1981. Anders als vorgestellt, ist das Buch kaum als Realienband konzipiert, sondern ist der Versuch einer umfassenden Analyse, die Jünger als Solipsisten im Horizont eines nihilistischen Präfaschismus zu bestimmen suchte. Ästhetisch wird der Autor in eine Tradition des Trivialliterarischen gestellt und besonders abgehoben wird auf die Gewaltthematik.39 Wenn bislang von einer Streitgeschichte die Rede war, so wurde der Streitbegriff selbst eher allgemein im Sinne von kontroverser Beurteilung und öffentlicher Diskussion verstanden. In den Blick kamen (literatur-) wissenschaftliche, literaturkritische und publizistische Diskurse, die im Einzelfall zwar durchaus aufeinander Bezug nahmen, im Kern aber in ihren eigenen Diskursgrenzen verblieben. Fasst man den Begriff schärfer, so wie er lexikalisch oder systematisch inzwischen Verwendung gefunden hat,40 müssen die Akzente aber anders gesetzt werden. Bei Streiten im Sinne von Literaturstreiten handelt es sich um „publizistische Auseinandersetzung[en]“ mit öffentlichem Aufmerksamkeitswert, bei denen sich „lit.-ästhetische Diskurse mit historisch-politischen und gesellschaftlich-mentalen überschneiden“. Im Vordergrund stehen „gesellschaftliche Reiz- oder Tabuthemen“. Als eine Entstehungsvoraussetzung gilt eine „gesellschaftliche Problemlage“ mit „differente[n] Interessen oder Wertepositionen“, die „öffentlich bislang gar nicht oder nur in unbefriedigender Form thematisiert“ worden sind. Als maßgebliche Funktion wird herausgestellt, dass sich im Streit „Kommunikationsknoten“ lösten und sich in einem diffusen Problemfeld „klare Positionen“ ergäben. Als Eigenarten der Streitentwicklung wird beobachtet, dass sich die „thematische Zentrierung […] oft aus dem Nebendiskurs eines wei37 38

39

40

Schwarz: Anarchist. Prümm, Karl: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918–1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. Kronberg/Ts. 1974. – Hietala, Marjatta: Der neue Nationalismus in der Publizistik Ernst Jüngers und des Kreises um ihn 1920–1933. Helsinki 1975. – Liebchen, Gerda: Ernst Jünger. Seine literarischen Arbeiten in den zwanziger Jahren. Eine Untersuchung zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur. Bonn 1977. Kaempfer, Wolfgang: Ernst Jünger. Stuttgart 1981. Zuvor bereits ders.: „Der Mythos von der Macht und seinem Happyend. Zum trivialliterarischen Aspekt in den Schriften Ernst Jüngers“. In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. 32 (1977), H. 11. Hg. v. Walter Dierks und Eugen Kogon. Frankfurt a.M., S. 47–61. In dieser Linie u. a. auch ders.: „Das schöne Böse. Zum ästhetischen Verfahren Ernst Jüngers in den Schriften der dreißiger Jahre im Hinblick auf Nietzsche, Sade und Lautréamont“. In: Recherches Germaniques 14 (1984), S. 103–117. Bluhm, Lothar: „Literaturstreit“. In: Metzler Lexikon Literatur. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. v. Dieter Burdorf u. a. Stuttgart 2007, S. 453f.

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ter gespannten Problemhorizontes“ ergibt, sie häufig „reduktiv“ sei und von der „Thematik und Intention“ eines Initialtextes oder entsprechenden Gegenstandes beträchtlich abweiche. Mit Blick auf die Bewertung des Streitgegenstandes sei häufig ein „produktives Missverständnis“ bestimmend, das oft schon durch den „diskursiven Wechsel vom lit. auf ein nichtlit. Feld wie Publizistik oder Politik“ zustande kommt. Als Teil einer Marktmechanismen geschuldeten medialen Inszenierung werden „Skandalisierungseffekte“ zur Entfaltung gebracht. In solcherart Streiten geht es letztlich nicht um die Lösung von Problemen, sondern um die Offenlegung einer Konfliktstruktur. Deshalb erschöpft sich das Streitgeschehen „oft in reiner Positionierung und verläuft in der Regel desintegrativ.“41 Auf der Folie eines solchen engeren Streitbegriffs wird man die Diskussionen um Jünger in ihrem Gesamtverlauf seit 1945 kaum als Streitgeschehen im engeren Sinne von Literaturstreiten bezeichnen können. Die Diskussion blieb zumeist auf den einen oder den anderen Diskurs beschränkt, war meist allein publizistisch oder allein wissenschaftlich und damit auf eine jeweils engere Öffentlichkeit fixiert. Es handelte sich vergleichsweise nur um ‚Stürme in Wassergläsern‘. Gemessen an anderen literarisch-publizistischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik etwa um Brecht, Böll, Grass oder manchem Anderen wird man kaum umhin kommen, die Diskussionen um Jünger als eher marginal bezeichnen zu müssen. Allenfalls die frühe Nachkriegsdiskussion um den ‚Fall Jünger‘ in den 1940er Jahren wird für sich den Charakter eines tatsächlichen ‚Literaturstreits‘ reklamieren dürfen. Die genannten Diskursüberschneidungen und -überlagerungen waren hier auf jeden Fall gegeben. Als dem öffentlichen Streit zugrunde liegendes ‚Reiz- oder Tabuthema‘ kann das auch in der ‚Großen Kontroverse‘ mit und gegen Thomas Mann verhandelte Verhalten der Deutschen im Dritten Reich genannt werden. Entsprechend war die Fokussierung auf den ‚Fall Jünger‘ de facto eine Reduktion, ein Nebenfeld, auf dem stellvertretend – wie auf anderen Feldern auch – die Diskussion um ‚Kollektivschuld‘, um Kontinuität oder Bruch und anderes geführt wurde. Tua res agitur: Es ging weniger um Jünger, als um die Befindlichkeit einer um Selbstverortung bemühten Gesellschaft. Mit dem Übergang von einem autoritären und zuletzt totalitären zu einem demokratischen System wurde die Überprüfung und Neujustierung des kulturellen Systems und der möglichen Orientierungsmarken notwendig. Die Fixierung einer Diskussion um Jünger als Streit bzw. Literaturstreit gilt in einem nochmals stärkeren Maße für eine weitere Auseinandersetzung um den Autor in späteren Jahren. Im Mai 1982 hatte das Kuratorium des Frankfurter Goethepreises Jünger den diesjährigen Goethe-Preis zuerkannt. Zum Kuratorium gehörten neben dem Oberbürgermeister Walter Wall41

Bluhm: Literaturstreit, S. 453.

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mann von der CDU und dem Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann von der SPD noch Vertreter der Stadt, der Präsident der Universität, der designierte Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, Rudolf Hirsch als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, der Mitherausgeber der FAZ Joachim C. Fest als Vertreter der deutschsprachigen Presse und Gabriele Wohmann als Vertreterin der deutschsprachigen Literatur. Der Preis wird seit 1927 vergeben und ist hochrenommiert. Preisträger waren Stefan George, Gerhart Hauptmann, Sigmund Freud, Arno Schmidt und viele andere namhafte Persönlichkeiten. Bezugspunkt für die Preisvergabe ist ein schöpferisches Schaffen im Andenken Goethes. Die Vorgänge um die Preisverleihung an Jünger und den Streit darum hat Lutz Hagestedt 2004 konzise dargestellt.42 Zu einem Streit entwickelte sich die Preisvergabe durch die öffentliche Skandalisierung der Entscheidung, wobei das Streitgeschehen von politischer Seite initiativ befördert wurde. Erst Wochen nach der Bekanntgabe des Preisträgers erhob die Grünen-Fraktion im von der CDU mit absoluter Mehrheit regierten Frankfurter Stadtparlament in einer Protestnote Einspruch gegen die Entscheidung für Jünger als Preisträger. Die Hauptpunkte des Einspruchs waren der Vorwurf der fehlenden Aufarbeitung des Faschismus durch den Autor, Kriegsverherrlichung, Hass auf die Demokratie und Rassismus. Die den Streit kennzeichnende Diskursverschiebung vom Literarisch-Ästhetischen zum Politisch-Moralischen wird in der Presseerklärung der Grünen-Fraktion vom 4. August in besonderer Weise fassbar. „Uns ist es relativ gleichgültig, ob Ernst Jünger ein guter oder schlechter Schriftsteller ist“, heißt es hier, er sei vielmehr „ein durch und durch amoralischer Mensch“. Das Ästhetische wird also an einem moralischen Maßstab gemessen: Jünger betrachte „Krieg, Schmerzen, Blut usw. nur unter dem Gesichtspunkt der Erlebnisintensität für sich selbst“, nicht jedoch „als grauenhafte Ereignisse, die Menschen wehtun.“43 Der reduktionistische Zugriff wird nicht zuletzt auch an der Belegpraxis dieses Einspruchs deutlich, insofern sich die Protestnote auf eine Zitatensammlung von aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen Jüngers stützte. Der Autor sollte sich in seiner Rede bei der Verleihung des Goethe-Preises in der Frankfurter Paulskirche am 28. August dieser Praxis übrigens ebenfalls bedienen, als er eine Blütenlese literarischer Maximen vortrug. Nachdem sich auch die SPD im Frankfurter Stadtparlament dem Protest angeschlossen hatte, kam es zu einer mehrstündigen Debatte, an deren Ende sich die CDU mit ihrer Mehrheit durchsetzte und den Entschluss des Kuratoriums bestätigte. Der gewollt in 42

43

Hagestedt, Lutz: „Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 167–179. Zum Goethepreis-Streit und anderen Kontroversen nach 1945 siehe auch Seferens, Horst: „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 45–75. Zitiert nach Hagestedt: Ambivalenz, S. 170.

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die Öffentlichkeit getragene und ohne Zweifel inszenierte Streit um die Preisvergabe setzte die Mechanismen eines weiteren Streitgeschehens in Gang, indem der moralisch sich gebende politische Streit zu einem von den Massenmedien transportierten Kulturstreit ausgeweitet wurde. Die großen Zeitungen und Zeitschriften beteiligten sich an der Diskussion, die Schriftstellerverbände und eine Vielzahl bekannter Einzelpersönlichkeiten nahmen Stellung. Die aus der jahrzehntelangen Diskussion um den ‚Fall Jünger‘ bekannten Positionen wurden aufgegriffen und standen kontrastiv einander gegenüber. Hagestedt fasst zusammen: SPD und Grüne erklären nach ihrer Abstimmungsniederlage, dem Festakt in der Paulskirche fernbleiben zu wollen; Bundespräsident Karl Carstens (CDU), als ehemaliges SA-Mitglied selber politisch unter Druck geraten, sagt, ebenso wie Hessens Ministerpräsident Holger Börner (SPD), seine Teilnahme ab. Prominente wie Golo Mann oder Peter Glotz ergreifen für Jünger Partei, während der Ost-Berliner Sender ‚Stimme der DDR‘ gegen ihn Stellung bezieht […].44

Augenfällig ist, dass sich im Streit parteipolitische mit anderen taktischen Beweggründen vermengen, so dass eine ungebrochene Fraktionierung nicht gegeben ist. Die Preisverleihung selbst wurde von Protesten außerhalb der Paulskirche begleitet. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Streitfall hat es mehrheitlich jedoch nicht gegeben. Das Streitgeschehen selbst erschöpfte sich in der bloßen Positionierung der Streitteilnehmer und der Proklamation bekannter Wertungen. Differenzierte Stimmen waren die Ausnahme. Letztlich erwies der Streit sich als ein Ritual – wie öffentliche Streite sie häufig darstellen. Die zentralen Momente dürften der Aufmerksamkeitswert gewesen sein, der mit der Vergabe des Goethe-Preises verbunden war, und der Symbolwert des Namens Jünger, der konfliktuös genutzt und mit moralischen Attributen versehen werden konnte. Als den Konflikt verschärfend wird zudem die innenpolitische Situation eingeschätzt werden müssen. Der Streit um die Preisvergabe fiel in die Interimszeit zwischen einer von Bundeskanzler Helmut Schmidt mühsam gewonnenen Vertrauensfrage im Februar und dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum gegen ihn im Oktober des Jahres. Es war die Zeit der von vielen Emotionen begleiteten Erosion der im Bund regierenden sozial-liberalen Koalition bis zum Wechsel zu einer christlich-liberalen Regierung im Herbst 1982. Die Proklamation einer ‚geistig-moralischen Wende‘ durch den neuen Bundeskanzler Kohl zeigt, wie sehr dieses politische Geschehen auch und gerade als ein moralisches angesehen wurde. Selbst wenn sich der Streit um Jünger im Jahr 1982 in dieser Bezugnahme nicht erschöpft, wird man ihn doch primär als ein Moment im Bestreben nach Positionsbestimmung und Selbstverortung des damals in Bewegung geratenen politisch-kulturellen Systems der Bundesrepublik verstehen müssen. Die symbolische Funktion des Autors wird nicht zuletzt auch in 44

Ebd., S. 171.

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der dem Streit nachfolgenden Periode deutlich. Mit guten Gründen wird in der Forschung immer wieder auf den Stellenwert hingewiesen, den Ernst Jünger in der Kohl-Ära gewinnen sollte. An die medial begleiteten Besuche des Bundeskanzlers Helmut Kohl bei Ernst Jünger und andere repräsentative Auftritte darf erinnert werden. Ein wenig überzogen, aber nicht zu Unrecht sprach Horst Seferens 1998 von Jünger als „Aushängeschild eines modischen Neokonservatismus“.45 ‚Aushängeschild‘ bedeutet dabei nichts anderes als den Hinweis auf Jünger als symbolischen Funktionswert. Es ging nicht um Jünger, der lediglich als Anlass und Vehikel diente, sondern um Positionsbestimmungen und Meinungsführerschaft im öffentlichen Diskurs. Der Streit um Jünger im Jahr 1982 war Teil eines Machtspiels, das auf dem Feld der symbolischen Repräsentation ausgetragen wurde. Zutreffend beschreiben Bruno W. Reimann und Renate Haßel: Es geht neben der Textfrage und der […] biographischen Dimension auch um die Ebene der symbolischen Kommunikation, um die Art und Weise, wie das Werk und sein Autor in politischen Diskussionen verwendet werden – also um die Symbolfigur Jünger, um die sich Gemeinden und Gegengemeinden, Identitäten und Gegenidentitäten bilden. Unter dieser Perspektive geht der Blick von der Person, vom Werk auf das Publikum. In diesem Prozeß der symbolischen Codierungen jenseits der Verständigung auf das Werk kommt es zu periodisch aufflackernden Auseinandersetzungen, in denen Werk und Autor verteidigt oder verworfen werden. Diese Debatten werden, weil sie Stellvertreter-Debatten für anderes, z. B. für die Stellung des Nationalen sind, noch lange geführt werden.46

Es würde sicherlich Sinn machen, das damit verbundene Ritual Streit als eine „Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform“47 von kulturellem Sinn zu nutzen, um durch die Analyse der Bewertungen als Formen sprachlicher Realitätskonstituierung Einblick in die kollektiven Wahrnehmungsmuster und Vorstellungen der sie verwendenden kulturellen Gruppen zu gewinnen. Doch gibt es (im Unterschied zu einer komparatistischen) noch keine kulturwissenschaftliche Imagologie, auf die man sich hierbei stützen könnte. Sicher ist noch nicht einmal, ob es überhaupt gelänge, eine tatsächlich beschreibbare kulturelle Gruppe zu fixieren. Für die weitere Entwicklung des ‚Falls Jünger‘ als Streitgegenstand bemerkenswert scheint mir ein Blick in die 1990er Jahre. Wie kaum ein anderes Jahrzehnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die 1990er Jahre durch eine dichte Abfolge von Literaturstreiten gekennzeichnet, in denen nach der deutsch-deutschen Vereinigung das kulturelle System der neu-

45 46 47

Seferens: Leute, S. 41. Reimann, Bruno W. u. Renate Haßel: Ein Ernst Jünger-Brevier. Jüngers politische Publizistik 1920 bis 1933. Analyse und Dokumentation. Marburg 1995, S. 43. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Auflage, München 2002, S. 21.

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en Bundesrepublik neu verhandelt wurde.48 Einen eigentlichen ‚Streit um Jünger‘ hat es in diesem Jahrzehnt auf dieser Ebene nicht gegeben, allenfalls Auseinandersetzungen und Wertungsdissenzen, die jeweils in der Tradition des schon Beschriebenen standen. Gleichwohl ist zumindest in zwei der die 1990er Jahre prägenden Literaturstreiten auch der ‚Fall Jünger‘ in verdeckter Form eingeschrieben. Zum einen im Initialstreit um Christa Wolf. Der vom Wortführer der Wolf-Kritiker Ulrich Greiner in die Debatte getragene Kampfbegriff der „Gesinnungsästhetik“,49 mit der er eine allzu eng an politisch-gesellschaftlichen Überzeugungen orientierte Literatur und Literaturkritik zu geißeln suchte, geht auf eine Beschreibung des Soziologen Wolf Lepenies zurück, mit der dieser Karl Heinz Bohrers Bestimmung des Jüngerschen Werks zu präzisieren versucht hatte.50 Zum anderen stellte sich der 1993/94 wegen seines Spiegel-Essays Anschwellender Bocksgesang heftig umstrittene Botho Strauß in den darauf folgenden Jahren in eine gewisse Nachfolge Jüngers und erwies dem Autor 1995 in einer Festschrift demonstrativ seine Reverenz.51 Doch hieße es, das Modell Jünger in seiner Bedeutung deutlich zu überziehen, wenn man diesen eher marginalen Erscheinungen eine tiefere Bedeutsamkeit für die das Jahrzehnt prägende Stafette an Literaturstreiten zuerkennen wollte. En passant ist der Begriff des Rituals eingeführt worden, um den Streit um Jünger zu beschreiben. Heranzuziehen wären auch Begriffe wie Klischee oder Stereotyp. Der Name Jünger und der Rekurs auf sein Werk oder Teile seines Werks erweisen sich in der Diskussion seit 1945 als Bestandteile häufig vorkommender, gleichbleibender Muster – abhängig von der Position des wertenden Betrachters. Als Stereotyp fasst Jünger gerade in den dabei herausgestellten Streitstationen für den Nutzer in simplifizierender Weise Eigenschaften und Verhaltensweisen mit einem gewissen Wiederer-

48

49 50

51

Siehe dazu Bluhm, Lothar: „Standortbestimmungen. Anmerkungen zu den Literaturstreits der 1990er Jahre in Deutschland. Eine kulturwissenschaftliche Skizze“. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Hg. v. Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher. Heidelberg 2004, S. 61–73. Greiner, Ulrich: „Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz“. In: Die Zeit, 2. November 1990. Lepenies, Wolf: „Gesinnungsästhetik. Zu Karl Heinz Bohrers Auseinandersetzung mit Ernst Jüngers Frühwerk“. In: Merkur 32 (1978), H. 365, S. 1055–1060, hier S. 1058f. Siehe dazu Bluhm, Lothar: „Identität und Zeitenbruch. Probleme heterogener Sprachspiele im ‚neudeutschen Literaturstreit‘ 1990/91“. In: Spuren der Identitätssuche in zeitgenössischen Literaturen. Hg. v. Jürgen Kamm u. a. Trier 1994, S. 17–38, insb. S. 29f. Strauß, Botho: „Refrain einer tieferen Aufklärung“. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Hg. v. Günter Figal u. Heimo Schwilk. Stuttgart 1995, S. 323f. Viel zitiert ist das folgende Diktum: „Die Epoche der deutschen Nachkriegsliteratur wird erst vorüber sein, wenn allgemein offenbar wird, daß sie vierzig Jahre lang vom Jüngerschen Werk überragt wird. Er ist nach dem Krieg der Vergegenwärtiger, der Gegenwartsautor schlechthin gewesen.“ Ebd., S. 323.

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kennungswert zusammen. Im Kern sind damit Funktion und Leistung der Streite um Jünger bezeichnet. Mit Blick auf einen Disput zwischen Walter Jens und Heiner Müller um die Veröffentlichung von Tagebuchseiten Ernst Jüngers in der Zeitschrift Sinn und Form kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11. Februar 1993, Jens ginge es „offenbar nicht um das, was Jünger schreibt, sondern um das, wofür er einem gängigen Klischee nach zu stehen scheint.“ Darauf Bezug nehmend fasst der Jünger-Biograph Helmuth Kiesel mit schöner Lakonie wie folgt zusammen. „Dies traf auch für andere Fälle zu, in denen Jünger perhorresziert wurde“.52 Und er hat Recht. Wahrscheinlich wird man die Aussage sogar noch erweitern dürfen: Bei den Streiten um Jünger in der Bundesrepublik Deutschland ging es Kritikern wie Befürwortern, Heißen wie Kalten gar nicht so sehr um Jünger und sein Schreiben, sondern um das, wofür er einem jeweiligen Klischee und einer entsprechenden Interessenlage gemäß zu stehen schien. Das gilt mit Sicherheit für den massenmedial getragenen Streit in der publizistischen Öffentlichkeit; inwieweit es auch für die kontroversen Diskussionen im Wissenschaftsdiskurs gilt, ist nicht pauschal zu beantworten – es hat von der jeweiligen Fachkritik verhandelt zu werden.

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Kiesel: Ernst Jünger, S. 657.

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„Die verborgenen Mechanismen der Macht“ in Ernst Jüngers Erzählung Die Zwille Am 25. Juni 1943 fragte sich Ernst Jünger in seinem Zweiten Pariser Tagebuch im Alter von 48 Jahren, ob er nicht „Material sammeln sollte“ für eine Beschreibung „des historischen Abschnitts, in dem sein Bewusstsein erwachte“.1 Dieses Projekt ließ lange auf sich warten und wurde erst 30 Jahre später in der Bundesrepublik verwirklicht, als er seine Erzählung Die Zwille schrieb.2 Jüngers aufmerksames Betrachten der Gesellschaft seiner Jugendzeit ist zwar Grundlage seiner Erzählung, aber jenseits dieser gewissenhaften Beschreibung, durch sie hindurch und mit ihrer Hilfe ist dieses Werk zugleich eine Anspielung auf seine philosophischen Essays. Die Erzählung kann geradezu als eine Illustration seiner ein paar Jahre früher erschienenen philosophischen Essays gelten. In der auf seiner Erinnerung fußenden mikrosoziologischen Analyse geht es Ernst Jünger nicht nur darum, die damalige soziale und symbolische Weltkonstruktion der Vorkriegszeit zu erschließen, sondern auch gesellschaftliche Mechanismen aufzudecken, die eine lautlos-unsichtbare Gewalt3 erzeugten. In dem geschilderten Leben der kleinen Gesellschaft sind Machtund Dominanzverhältnisse im Spiel. Der Titel der Erzählung Die Zwille verweist ja auf eine Waffe, auf einen Kampf, der fast unbemerkt in der Stadt tobt. Zugleich aber ist die Zwille als archaische Waffe das Symbol eines in der Gesellschaft stattfindenden Rückschrittes, der einen Bruch mit der bestehenden Ordnung antizipiert. Unter Rückgriff auf analytische Kategorien Pierre Bourdieus kann man zeigen, wie Jünger komplexe historische Sachverhalte problematisiert. Der Rahmen der Erzählung ist bipolar organisiert: einerseits um den Grenadierplatz, wo regelmäßig mit Trommeln und Hörnern inmitten von gaffenden Zuschauern exerziert wird, und andererseits um Ungers Garten, den „Lieblingstreff der Penner und Schicksen“, verwildert, zwielichtig, eine 1 2 3

Jünger, Ernst: „Das zweite Pariser Tagebuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III. Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 9–294, hier S. 87–88. Jünger, Ernst: „Die Zwille“. In: Sämtliche Werke. Bd. 18. Erzählende Schriften IV. Die Zwille. Stuttgart 1983, S. 9–269. Pierre Bourdieu definiert diese kaschierte Gewalt, die er die „symbolische Gewalt“ nennt in: Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Wien 2005, S. 56–57.

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„Zone geringerer Legalität“.4 So materialisiert sich der im Bild der Stadt geschilderte Gegensatz zwischen Licht und Schatten. Aber „nicht nur hat jedes Licht seinen Schatten, sondern jeder Schatten hat auch sein Licht“,5 schreibt Jünger in An der Zeitmauer. Und in der Tat geschieht das Verbrechen, das Paulchen, einen Schüler des Internats, das die entscheidenden Akteure beherbergt, zum Selbstmord führt, hinter einer der modernen Lichtfassaden des Grenadierplatzes. Und umgekehrt wird ausgerechnet das dubiose Unterfangen der jungen Leute im Garten den Wiedereintritt Clamors in den sozialen Raum zur Folge haben. Die Menschen in der Stadt der erzählten Welt werden von dem farbigen Schauspiel auf dem Grenadierplatz angezogen und schenken Ungers Garten kaum Beachtung. Als Gegenpol des Grenadierplatzes spielt er in der historischen Interpretation des Autors jedoch eine wichtige Rolle. Die Transposition der Realität ist hier eine doppelte: zum einen die offizielle militärische Vorbereitung auf den nächsten Krieg, eine Erinnerung Ernst Jüngers aus seiner Jugendzeit, zum anderen die lautlose Verwilderung von Ungers Garten, eine vom Autor erfundene Metapher, in der der Eingriff neuer, elementarer Kräfte in das ruhige Leben der Gesellschaft und ihre Ordnung aufscheint.

1. Der Grenadierplatz Die Protagonisten der Erzählung sind dem Rahmen, dem sozialen Raum im Hinblick auf die Bedeutung stiftende Funktion für den Text ein- und untergeordnet. Der Grenadierplatz übt etwa sehr starke Zwänge auf die jungen Menschen aus, sie vermögen sich „von dem Schauspiel“ auf dem Exerzierplatz „kaum zu trennen“,6 vor allem, wenn Sturmangriff in geschlossener Ordnung geübt wird: Dann kam die Abteilung von weitem in dichtem Haufen angerannt. Das Bajonett war aufgepflanzt, die Klingen funkelten. Wenn der Feind erreicht war, schrie Zünsler „Hurra“, und sein Schrei pflanzte sich fort, als ob er eine Rakete entzündet oder eine Lawine ausgelöst hätte, die niederfuhr. Das war unwiderstehlich, war zermalmend […].7

Bei der Beschreibung der Szene wird durch die verwendeten Wörter Rakete, Lawine, zermalmen, die in den Kriegsbüchern Ernst Jüngers anzutreffen sind, die schmerzliche Erinnerung an den Weltkrieg und seine Opfer geweckt. Diese Erinnerung gehört aber einer anderen Zeit an als die der Erzählung. 4 5 6 7

Jünger: Die Zwille, S. 148f. Jünger, Ernst, „An der Zeitmauer“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 399–644, hier S. 534. Jünger: Die Zwille, S. 34. Ebd., S. 35.

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Auch wenn Jünger sehr wohl weiß, welche furchtbare Erfahrung den gaffenden jungen Zuschauern bevorsteht, geht es ihm vor allem darum, der historischen Wirklichkeit der Vorkriegsjahre den Status einer natürlichen Welt zu geben. Er begnügt sich mit einer Bestandsaufnahme der damaligen Realität und vermeidet jeden direkten Kommentar zum Geschehen aus der Position eines allwissenden Erzählers. Das militärische Exerzieren auf dem Grenadierplatz ist ein Beispiel für den damaligen von den Historikern erwähnten „gezielten Einsatz von Stimulantien“ als Instrument propagandistischer Erziehungsarbeit. Mit solchen „Schauspielen“ wurden kollektive patriotische Gefühlswallungen und Kriegsbegeisterung ausgelöst, und dies umso eher, wie der Historiker Reinhard Ilg schreibt, „als der Gedanke an den Krieg noch ein ‚Spiel‘ war“, das die Erwachsenen und die Institutionen legitimierten.8 In diesen Jahren wurden die Greuel des Krieges verharmlost oder gar ignoriert. Innerhalb der vom Autor untersuchten kleinen Gesellschaft ist kaum eine kritische oder gegnerische Einstellung zum Krieg zu hören. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass im Buch das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, des sozialen Raums, das Gymnasium ist. Wie in Frankreich haben sich die Lehrer in Deutschland an der psychologischen Vorbereitung der jungen Generation auf den nächsten Krieg aktiv beteiligt. Das rituelle Schauspiel auf dem Grenadierplatz ist die Grundlage der damaligen Weltkonstruktion der Menschen. Der inszenierte Sturmangriff dient als Instrument der politischen Macht, um eine symbolische Ordnung zu schaffen, die die kulturellen Praktiken der kleinen Gesellschaft beherrscht.9 Keiner wird daran zweifeln, dass Jünger selbst einmal einer der begeisterten jungen Zuschauer vor einem Exerzierplatz gewesen ist. Er berichtet also von realen Erfahrungen und sucht aber zugleich nach einem neuen poetischen Verfahren, um die Intensität der von den jungen Zuschauern damals empfundenen Gefühle dem heutigen Leser besser verständlich zu machen. Aus eigener Erfahrung weiß Jünger, dass das Exerzieren auf dem Grenadierplatz die „augenfälligste Manifestation des kulturell Unbewussten“ jener Epoche ist, „jenes sensus communis, der allererst die besonderen Meinungen, Gesinnungen, Urteile ermöglicht, in denen er sich äußert“.10 Dafür gibt es im Buch mehrere Beispiele. Mit diesem ersten Pol des Grenadiersplatzes als Sinnbild des kulturell Unbewussten werden Kontext und Si8

9

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Ilg, Reinhard: „Katholische Bildungsbürger und die bedrohte Nation: Das katholische Gymnasium Ehingen (Donau) im Kaiserreich und während des Ersten Weltkriegs“. In: Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges. Hg. v. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Dieter Langewiesche u. Hans-Peter Ullmann. Essen 1997, S. 341–370, hier S. 355. Vgl. Beltran-Vidal, Danièle: „Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzählung Die Zwille“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 47–56. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1970, S. 120.

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tuation heraufbeschworen, in denen die Handlungen der Protagonisten zu bewerten sind. Ausgehend von Gegensatzpaaren unter den jungen Gymnasiasten, den Pädagogen, den Orten, Dorf – Stadt, versucht Jünger damalige Gegenstände, Tätigkeiten, Ideen, Gefühle und Verhalten nach ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Typ von Menschen zu verbinden. Diese angeführten realistischen Bestimmungen ergeben sich aus den Beziehungen, die jede Figur zu den Anderen unterhält sowie zu den neuen Elementen, die in dem sozialen Raum auftauchen. Die drei Jungen Teo, Buz und Clamor kommen aus Oldhorst und wurden von dem Superus, dem Geistlichen des Dorfes, seinem Bruder, dem Professor, anvertraut. Sie werden in der von ihm geführten Pension untergebracht, damit sie das Gymnasium der Stadt besuchen können. Der Gegensatz von Stadt und Land sowie die eindeutigen Bewertungen der beiden Lebensbereiche werden durch die Gedanken der verschiedenen Figuren aktualisiert. Jeder der Oldhorster Jungen vertritt die im Keim enthaltene künftige Orientierung einer bestimmten sozialen Gruppe. Unter ihnen spielen Teo und Clamor die Hauptrollen. In der Welt der Erzählung versteht Teo es intuitiv, sich die angemessenen Gegenstände zu beschaffen, wie ein schickes neues Rad,11 einen modischen Mantel,12 um sein Prestige unter den Kommilitonen zu erhöhen, schon damit gibt er den Ton an. Um mit Bourdieu zu sprechen, gehorchen Sprache und Kleidung „als symbolische[ ] System[e] mit Ausdruckfunktion [einer] Logik der signifikanten Gegensätze“.13 Ohne Zweifel besitzt Teo dadurch „Distinktion“.14 Im Gegensatz zu den beiden anderen Jungen, Clamor und Buz, verbindet ihn nichts mehr mit dem Dorf Oldhorst, im Nu ist er im Leben der Stadt, in der Modernität völlig aufgegangen. Er hat nicht nur Geschmack, sondern auch Bildung und da er Theologie studieren will, sieht sein Onkel, der Professor, in ihm einen künftigen Theologen auf dem Niveau eines „Rennpferd[s], dem der Große Preis winkt“.15 Aus dem Bekenntnis seines Vaters, des Superus, wissen wir aber, dass Teo sich aus religiösen, traditionellen und familiären Bindungen innerlich befreit hat. Die Erfahrung der Fremdheit der noch an den überkommenen ländlichen Lebensformen orientierten Menschen wie Clamor, kennt er also nicht. Schneller als alle anderen ist Teo in der Lage, sich die neue Kultur, die Kultur der Stadt, anzueignen. Im Gegensatz zu ihm lebt Clamor noch in den Erinne11 12 13 14 15

Jünger: Die Zwille, S. 32: „Jeder hatte sein Fahrrad, Teo sogar eins mit Freilauf und nach unten gebogener Lenkstange wie die Rennfahrer.“ Ebd., S. 123: „Teo trug einen Mantel aus hellem Stoff, von dem das Wasser ablief, und Clamor das dunkle Cape, dessen Tuch sich allmählich vollsog und schwer wurde.“ Bourdieu: Soziologie, S. 64. Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979. Jünger: Die Zwille, S. 80.

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rungen an sein heimatliches Dorf und ist unfähig, sich den neuen Lebensverhältnissen der Stadt anzupassen, was in seiner Sprachlosigkeit zum Ausdruck kommt. Ohne es beabsichtigt zu haben, illustriert Jünger die Behauptung von Bourdieu, „um [im Handlungsraum] mitspielen zu können, müsse man eine bestimmte Sprache beherrschen und über eine bestimmte Kultur verfügen“,16 was auf Clamor nicht zutrifft: Wenn die anderen sich unterhielten, war ihr Gespräch mit Wendungen durchsetzt, die Clamor noch nie gehört hatte. […] Es war eine Sprache für sich, eine Fremdsprache. Die Ausdrücke wechselten, sie hatten, oft nur für Tage, ihre Modezeit. […] Clamor bewunderte das abseits wie eine freie Spielkunst, etwa von Seiltänzern. Die kannten nicht die Gefahr des Sturzes, den er erlitten hätte, schon bei den ersten Versuchen, es ihnen gleichzutun. Er sprach nur langsam; die Worte lösten sich schwer vom Mund. Er musste sie zwischen Klippen hindurchführen; dabei blieb viel von dem, was er sagen wollte und was er fühlte, im Unausgeprochenen zurück. […] Dass er nicht dazu gehörte, wusste Clamor besser als die anderen.17

Sein ohnmächtiger Anpassungsversuch, seine Unfähigkeit sich die Sprache der Stadt anzueignen, macht aus Clamor einen Ausgestoßenen, dem jede Handlung im sozialen Raum untersagt wird. Er lebt in seinen Gedanken noch immer in der Gesellschaft von Oldhorst und hängt der Zeit nach, als sein Vater noch am Leben war und er sich geborgen fühlte. Aber sein Vater lebt nicht mehr und vor seinem Dorf haben die Veränderungen der Zeit sowenig Halt gemacht wie vor jedem anderen. In der als Symbol der Modernität und der Zeitwende dargestellten Stadt hat Clamor seinen Bezug zur Welt noch nicht gefunden. Er fühlt sich bedroht und sucht Zuflucht in der Natur, deren Farben ihn faszinieren. Clamor neigt zur Kontemplation, d. h. zur Enthaltung von allen öffentlichen Geschäften und insofern kann er gar keinen Einfluss auf das Geschehen haben. Sein Rückzug in die Innerlichkeit erklärt seine Passivität bei allen Beziehungen, die er mit den anderen Protagonisten der Erzählung unterhält. Clamor ist in seine neue Umwelt, in die Stadt, noch nicht richtig eingebettet. Und weil er eben ‚nicht dazu gehört‘, löst das Schauspiel auf dem Grenadierplatz bei ihm keine Begeisterung aus, sondern Schrecken. In seinen sozialen Beziehungen im Gymnasium und in der Pension ist Clamor so unbeholfen, dass er die Unterstützung von Teo braucht, deswegen unterliegt er ganz seiner Macht. Indem Jünger detailliert auf die Unterschiede in der Kleidung, in der Sprache der Protagonisten, insbesondere auf deren soziale Praxis im Umgang mit den anderen Menschen der Erzählung eingeht, zeigt er, wie Teo seine Herrschaft, seine verborgene Macht, allmählich nicht nur über Clamor, sondern über den ganzen sozialen Raum ausübt. Es genügt Teo aber nicht, sich in der Pension und im Gymnasium einer gesellschaftsweiten Le16 17

Bourdieu, Pierre u. Margareta Steinrücke: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 2003, S. 13f. Jünger: Die Zwille, S. 24f.

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gitimation und Anerkennung versichert zu haben. Auch über Ungers Garten, den er „als sein Eigentum“18 betrachtet, will er herrschen.

2. Ungers Garten Das Exerzieren auf dem Grenadierplatz lässt Teo kalt. Im Gegensatz zu den Einwohnern der Stadt, die – bis auf Clamor – gefesselt stehen bleiben, wenn Sturmangriff geübt wird, belustigt er sich über den das Schauspiel inszenierenden Sergeant Zünsler, indem er ihm einen Beinamen gibt, „Klein Zaches“.19 Ungers Garten steht dagegen im Zentrum seines Interesses. Mit krampfhafter Aufmerksamkeit beobachtet er, wie ihm „die Penner“ „sein“ Gebiet streitig machen wollen. Er schickt sich also an, ihnen den Kampf anzusagen, und zwar mit Hilfe der Jungen, die ihm ergeben sind, oder die in seiner Macht stehen, wie Clamor. Teo ist zwar der Aggressivität der Zeit verfallen, aber nicht, um Krieg zu führen, um die Heimat und seine Landsleute zu verteidigen – wie die anderen jungen Leute und auch der junge Jünger damals es glaubten –, sondern aus purem Eigeninteresse: Er will über einen größeren Spielraum verfügen. Um mit „den Pennern“ aufzuräumen, braucht er eine Waffe, und nach langem Überlegen ist er auf die Zwille gekommen, weil „ein Treffer […] äußerst schmerzhaft [ist], doch ungefährlich“.20 Präzise beschreibt er Clamor, wie er sich den wenig rühmlichen Kampf vorstellt: „Wenn dann die ersten Treffer kommen, gibt es Tumult. Sie rennen irre, stoßen sich um, fallen übereinander her. Das ist wie mit dem Wolf und den Schafen: wenn der nur an der Hürde vorbeistreift, treten sie sich gegenseitig tot.“21 Von dem von Teo konzipierten Angriffsplan lässt sich auf ein Geschehen schließen, das, wie Jünger in An der Zeitmauer schreibt, „einen elementarischen, titanisch-tellurischen Zug [trägt], bei dem die materielle Ordnung die paternitäre überwiegt; altes Recht, alte Sitte, alte Freiheit wird fragwürdig“.22 Und tatsächlich haben wir aus dem Bekenntnis von Teos Vater erfahren, dass sein Sohn die Werte, die christlichen Werte, kenne und sie verachte.23 Seinem Vater dagegen sei „[d]ie Fackel […] in der Hand“ erloschen; „[s]ie weiterzureichen“ sei „ihm nicht vergönnt“ gewesen, kontert Teo.24 Im mikrosoziologischen Feld von Teos Erziehung tobte zudem ein symbolischer Kampf zwischen dem Vater und dem Herausforderer, dem Vikar. Der Sieg des Vikars brachte die Legitimität des Vaters ins Wanken und 18 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 149. Ebd., S. 36. Ebd., S. 151. Ebd., S. 155. Jünger: An der Zeitmauer, S. 474. Jünger: Die Zwille, S. 60. Ebd., S. 125.

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machte dessen verinnerlichte Symbole, wie das des Helden, im Auge Teos zunichte. Im Gegensatz zu Teo ist zwischen Clamor und seinem Vater „die Brücke […] intakt“.25 Clamor kennt die Werte. Auch wenn er nicht in der Lage ist, sich Teo entgegenzusetzen, fühlt er vage, dass dieser nicht richtig handelt. Dies ist auf die Vorgeschichte zurückzuführen, auf die Jünger detailliert eingegangen ist, indem er Teos Vater, den Superus, zu Wort hat kommen lassen. Die frühen Erfahrungen in Oldhorst, dem sozialen Ort, in den die Jungen hineingeboren wurden, machen aus, was Bourdieu den Habitus nennt. Jünger legt den Schwerpunkt auf die Beziehungen, die jeder mit dem eigenen Vater gehabt hat, und zeigt, wie die Vergangenheit, die den Habitus hervorgebracht und gestaltet hat, weiter in den Haltungen und Handlungsweisen der beiden Jungen in der Stadt fortwirkt. Auf das Scheitern des Superus in seiner Erziehung ist das Benehmen Teos zurückzuführen. Weil er seinen Vater und dessen Vorbilder, Regeln, Ratschläge, kurz dessen gesellschaftlichen Kodex verachtet, trägt Teo im Laufe der Erzählung große Sicherheit zur Schau und arbeitet in seiner sozialen Praxis am Sturz der Hierarchien, beispielsweise auf dem Gymnasium, nachdem sich herausgestellt hat, dass Paulchen sich das Leben genommen hat, weil Herr Zaddeck ihn missbraucht hatte. Bei der Konfrontation mit ihm sagt er Zaddeck vor dem Direktor: „Wenn Sie nicht so dreckig wären, würde ich Ihnen jetzt eine runterhauen“.26 Und der Direktor schweigt dazu, auch wenn er denkt, dass „es ein starkes Stück immerhin einem Lehrer gegenüber war“. Weil er jedoch in Teo einen „künftigen Herrn“ erkennt, lässt er ihn sprechen. Auch in der Pension führt Teo jetzt das Regiment, er ist „unentbehrlich“,27 der Onkel und die Tante verlassen sich völlig auf ihn. Das wäre schön und gut, wenn wir nicht wüssten, dass Teo in der Lage gewesen wäre, das Verbrechen zu verhindern, was er in der Hoffnung, einen Gewinn aus der Kenntnis der Untat zu ziehen, nicht getan hat. Teo geht es nur darum, seinem Willen zur Macht freien Lauf zu lassen. Er ist ein Beispiel für die vom Autor in seinem Buch An der Zeitmauer erwähnten „feineren Geister, die in ihrer Verantwortung ermatten […], sich esoterischen und exotischen Dingen zuwenden und höheren Spieltrieben folgen“.28 Er wird als Vertreter der um sich greifenden Dekadenz, des Nihilismus, dargestellt. Sein Unternehmen in Ungers Garten sieht Teo als eine Aufgabe. Er fragt sich, „wie […] mit minimalen Kräften ein Gebiet zu säubern und Schrecken zu verbreiten [ist]“.29 Sein Anliegen hat mit der Pflicht eines Soldaten, wie Ernst Jünger sie sich vorstellt, nichts mehr zu tun, eher mit dem Ziel eines Verbre25 26 27 28 29

Ebd., S. 126. Ebd., S. 264. Ebd., S. 265. Jünger: An der Zeitmauer, S. 624. Jünger: Die Zwille, S. 150.

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chers. Durch die „Verachtung des Mitleids und des Schmerzes“30 von Paulchen, dessen „Leiden […] Spielgeld für ihn“ ist,31 wird sein Porträt als „aktiver Nihilist“ noch vervollkommnet. Und doch hat sich Teo erfolgreich in der Gesellschaft der Stadt behauptet, weil er wie „der Dandy“ noch über die äußeren Maße einer Kultur verfügt, deren „Sinn zu schwinden beginnt.“32 Seine sozialen Beziehungen illustrieren die von Bourdieu beschriebene Funktionsweise symbolischer Macht, nämlich „die Verklärung der Herrschafts- und Unterwerfungsbeziehungen zu affektiven Beziehungen, die Verwandlung von Macht in Charisma oder in den Charme, der eine affektive Verzauberung bewirken kann“.33 Und in der Tat haben sich alle Protagonisten der Erzählung bis auf seinen Vater durch Teos äußeren Schein, seine Gewandtheit im Auftreten und Sprechen, seine Distinktion bezaubern und blenden lassen. Theoretisch hat Jünger in Über die Linie darüber nachgedacht und er erklärt diese Verblendung folgendermaßen: „Wenn sich der Nihilismus als spezifisch böse ansprechen ließe, dann wäre die Diagnose günstiger. Gegen das Böse gibt es bewährte Heilmittel. Beunruhigender ist die Verschmelzung des Guten und des Bösen, die oft dem schärfsten Auge sich entzieht.“34 Teos grausamer Geist lässt ihn als einen künftigen Vertreter der Mauretanier erscheinen, einer Sekte oder sozialen Gruppe, von der Jünger schon am Anfang der dreißiger Jahre Abstand nahm. Es geht ihm darum, die Wurzeln dieser für die Mauretanier typischen Grausamkeit aufzudecken. Er sieht sie in den Folgen der Zeitwende, des geistigen Umbruchs, der, von fast allen unbemerkt, sich verhängnisvoll auf das Leben der Menschen auswirkte. Das Schicksal Teos mit seinem gescheiterten Verhältnis zu seinem Vater und darüber hinaus zum christlichen und humanistischen Erbe, ist ein Beispiel dafür. Der Fehler von Teos Vater sowie sämtlicher Pädagogen in der Erzählung, um jeden Preis sich der Modernität anzupassen, hat dem Nihilismus und seinen bösen Folgen Tür und Tor geöffnet. Um mit Bourdieu zu sprechen, ist der Habitus der Pädagogen veraltet, darum fallen ihre Dispositionen und die sich transformierende Struktur der Gesellschaft endgültig auseinander. Dies erklärt ihren Verlust an Macht zugunsten Teos. Teo besitzt zwar soziales Kapital, aber er mobilisiert seine sozialen Beziehungen für eigennützige Zwecke. Nichts ist ihm fremder, als für die anderen zu 30

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Jünger, Ernst: „Über die Linie“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 239–280, hier S. 251: „Bei der gewaltigen Arbeits- und Willensleistung, die der aktive Nihilist sich zumutet, bei seiner Verachtung des Mitleids und des Schmerzes […]“. Jünger: Die Zwille, S. 198. Jünger: Über die Linie, S. 260. Zitat von Pierre Bourdieu in: Mauger, Gérard: „Über symbolische Gewalt“. In: Pierre Bourdieu: Deutsch-französische Perspektiven. Hg. v. Catherine Colliot-Thélène, Etienne François u. Gunter Gebauer. Frankfurt a.M. 2005, S. 208–230, hier S. 220. Jünger: Über die Linie, S. 256.

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kämpfen und sein Leben aufzuopfern, deshalb interessiert er sich mehr für die dunkle Seite der Stadt als für ihre Lichtseite. Teo ist also nicht die typische junge Gestalt der Vorkriegszeit, wie Jünger selbst damals es war und wie er viele gekannt hat. Seine im Auge seines Vaters verfehlte Erziehung, sein Habitus, entspricht der damaligen sozialen Lage nicht ganz, ist aber das Zeichen des bevorstehenden Strukturwandels der Gesellschaft wie wir sie heute noch kennen. Zu diesem Zeitpunkt seines Lebens geht es Jünger nicht um Macht und Herrschaft, sondern um Widerstand, Widerstand gegen den Nihilismus. Insofern ist der unaufhaltsame Aufstieg von Teo und die allgemeine Verblendung um ihn als Warnung zu verstehen. Im Gegensatzpaar Teo-Clamor vertritt Clamor eine mögliche Alternative. Clamor besitzt zwar kein soziales Kapital, aber dafür eine andere Kapitalsorte, einen musischen und geistigen Reichtum, der mit Machtformen nichts zu tun hat. In der Zeit der Erzählung ist er nur ein Schatten, aber wie üblich bei Jünger, endet die Erzählung mit einer guten Prognose, seiner Adoption durch den Zeichenlehrer, der seine künstlerischen Fähigkeiten bemerkt hat. Dank diesem neuen Vater wird wohl Clamor die Entdeckung machen, dass er selbst die Bedeutung hervorbringen muss, die er vergeblich hinter dem Naturerlebnis gesucht hat. Und dann wird er vielleicht in der Lage sein, wie es im Buch heißt, Teo zu „repostieren“.35 Jüngers Beschreibung dieses historischen Abschnittes erfüllt also einerseits das Programm der traditionellen Geschichte, sie ignoriert die Praktiken der damaligen Gesellschaft und ihr kulturelles Unbewusstes nicht. Dank des Instruments, das die Theorien des Soziologen Pierre Bourdieu zur Verfügung stellen, lässt sich die Beschreibung der kleinen Gesellschaft realistisch nennen, aber andererseits verweist sie zugleich auf die subjektive Interpretation des Autors: er inszeniert einen sich ankündigenden verborgenen Kampf um die symbolische Gewalt, der, nach ihm, den weiteren Verlauf der Geschichte bis heute fernsteuert und ihn erklärt. Erstaunlicherweise ist die Gestalt des jungen Jünger in dem Buch abwesend. Es lässt sich dann die Auffassung der Erzählung als teilweise autobiografisch nicht unproblematisch aufrechterhalten, auch ist sie nicht einfach als fiktionales Werk anzusehen, und zwar deshalb nicht, weil dem Leser in der Beschreibung des mikrosoziologischen Raums der Stadt der Eindruck des „Zeugnisses“ sich geradezu aufdrängt. Jüngers Werk stellt eine Ellipse dar, die das Wesentliche auslässt, die Axiome des alten Jünger aber implizit setzt, seine „Werte“, dank denen der Leser die Handlungen der beiden Hauptprotagonisten beurteilen und den Weg zur Überwindung des Nihilismus finden kann.

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Literaturverzeichnis Beltran-Vidal, Danièle: „Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzählung Die Zwille“. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin, New York 2004, S. 47–56. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1970. Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979. Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Wien 2005. Bourdieu, Pierre u. Margareta Steinrücke: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 2003. Ilg, Reinhard: „Katholische Bildungsbürger und die bedrohte Nation: Das katholische Gymnasium Ehingen (Donau) im Kaiserreich und während des Ersten Weltkriegs“. In: Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgechichte des Ersten Weltkrieges. Hg. v. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Dieter Langewiesche u. Hans-Peter Ullmann. Essen 1997, S. 341–370. Jünger, Ernst: „Das zweite Pariser Tagebuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III. Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 9–294. Jünger, Ernst: „Über die Linie“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 239–280. Jünger, Ernst: „An der Zeitmauer“. In: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 399–644. Jünger, Ernst: „Die Zwille“. In: Sämtliche Werke. Bd. 18. Erzählende Schriften IV. Die Zwille. Stuttgart 1983, S. 9–269. Mauger, Gérard: „Über symbolische Gewalt“. In: Pierre Bourdieu: Deutsch-französische Perspektiven. Hg. v. Catherine Colliot-Thélène, Etienne François u. Gunter Gebauer. Frankfurt a.M. 2005, S. 208–230.

3. ZEITGESCHICHTE

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Platonische Freund-/Feindbestimmungen Max Bense, Ernst Jünger und Gottfried Benn. Zur Vorgeschichte einer westdeutschen Wertungskonstellation Wir sind platonische Feinde Und berühren nicht unsere Hände. Du gehst träumend durch deine Gärten, ich schlafe mündig in meinem Gehirn und selbst meine verfänglichsten Schlüsse halten deine gefärbten Wörter schon längst nicht mehr auf. Du fängst deine Gespenster in Kästen, ich präpariere die Raubtiere zu Wörtern, aber die Rudel, die kamen, wichen uns beiden aus. Sie glaubten dem Ort des anderen Lebens und dem Schwarz des anderen Todes.

Dieser merkwürdige Text stammt aus der Feder des 71jährigen Autors Max Bense, und er hatte ihn einem anderen – damals 86jährigen – Schriftsteller zugedacht: „An Ernst Jünger“ stand jedenfalls über dem Poem, wenigstens in einer Pressemitteilung zu Benses erster Gedichtsammlung Zentrales und Occasionelles. Poetische Bemerkungen. Im Band selbst und auch in seinen postum von der Witwe Elisabeth Walther herausgegebenen Ausgewählten Schriften ist es indessen ohne jeden Hinweis auf Jünger abgedruckt.1 Bense, der in Westdeutschland vor allem als Semiotiker und Pionier einer informationstheoretisch abgestützten Textästhetik, aber auch als Mann der ‚Konkreten Poesie‘ bekannt geworden war,2 formulierte mit der Gedichtüberschrift „Platonische Feinde“ zunächst ein scheinbares Paradoxon. 1

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Bense, Max: „Platonische Feinde“. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 4. Poetische Texte. Hg. v. Elisabeth Walther. Stuttgart, Weimar 1998, S. 358; zuerst in: Bense, Max: Zentrales und Occasionelles. Poetische Bemerkungen. Stuttgart 1981, S. 33. In einer Pressemitteilung des Künstlerhauses Stuttgart, die sich bei Benses Briefen an Ernst Jünger befindet, ist das Gedicht abgedruckt und mit der Widmungszeile „An Ernst Jünger“ übertitelt (Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N., Nachlass [künftig: DLA, NL] Ernst Jünger). Vgl. zuletzt Jacob, Joachim: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007, bes. S. 430–439; Geulen, Eva: „Selbstregulierung und Geistesgeschichte. Max Benses Strategie“. In: Modern Language Notes 123 (2008), H. 3, S. 591–612; in jüngeren Einführungen in die Literaturtheorie wird Bense allerdings kaum noch erwähnt.

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In Platons ‚Symposion‘-Dialogen, die sich weitgehend um das Wesen des ‚Eros‘ drehen, wird im erzählerisch eingeschachtelten Gespräch des Sokrates mit der Priesterin Diotíma aus Mantinea das Konzept einer höheren Liebe entwickelt, die die leibliche Liebe übersteigt. In der letzten Rede des ‚Symposions‘ berichtet schließlich der umschwärmte, junge und wohlgestalte Alkibiades, wie der alte und äußerlich unansehnliche Sokrates durchaus im handfesten Sinne der antiken Knabenliebe begehrt werde, durch seine tatsächliche Enthaltsamkeit aber die Jugend Athens als Philosoph zur Tugend verführe. Die ‚wahre‘ Liebe, wie sie im ‚Symposion‘ nahegelegt wird, setzt den Schwerpunkt also auf einen intellektuellen und sittlichen Reifungsprozess im Verhältnis zweier Liebender, der auf Erkenntnis und Vervollkommnung zielt, die leibliche Liebe demnach in die zweite Linie stellt. Dieses vergeistigte Liebeskonzept ist dann im 15. Jahrhundert durch den Florentiner Humanisten Marsilio Ficino kommentiert und seither, obwohl er selbst noch vom ‚amor socraticus‘ gesprochen hatte,3 volkssprachlich unter dem Stichwort ‚amore platonico‘ für die europäische Geistesgeschichte verschlagwortet worden. Mit der Überschrift von Max Benses Gedicht wird dieser ‚amor platonicus‘ nun auf eine platonische Feindschaft übertragen, die im Analogieschluss der leiblich-unmittelbaren Verbindung nicht zu bedürfen vorgibt: „Und berühren nicht unsere Hände.“ Demnach kann die platonische Feindschaft ebenso auf eine geistige Befruchtung bezogen werden wie die platonische Liebe – auch sie führt dann im intellektuellen Reifungsprozess zu Erkenntnis und Selbstvervollkommnung. Benses Gedicht baut im Weiteren folgerichtig eine Dichotomie zwischen lyrischem Ich und angesprochenem Du auf, deren Deutung einfach scheint. Das Ich, das angesichts der später nicht mehr abgedruckten Widmung an Ernst Jünger in diesem Fall ausnahmsweise getrost mit dem Autor Bense gleichgesetzt werden darf, präsentiert sich als rational und erwachsen: Es beansprucht, „mündig“ im eigenen Hirn zu schlafen, also wohlbehalten in der Vernunft zu schlummern – womit es freilich nicht gerade hellwach erscheint. Dem Du hingegen, mithin dem Widmungsadressaten Jünger, wird unterstellt, wie Kleists Prinz von Homburg in Schlaf und Traum durch die Gärten zu wandeln: Dort ist die Ratio ausgeschaltet, der Adressat wirkt unmündig – ihm gebiert der Schlaf der Vernunft „Gespenster“. Demgemäß scheinen die „gefärbten“ Wörter des angesprochenen Du selbst den problematischsten rationalen Schlüssen des „mündigen“ Bense nichts mehr entgegensetzen zu können – dass Jüngers Worte als „gefärbt“ bezeichnet werden, weist ihnen überdies eine unechte, inferiore Qualität zu. Allerdings erlaubt die grammatische Struktur dieser Aussage auch die Lesart, dass die „gefärbten Wörter“ selbst in Benses „verfänglichsten Schlüssen“ nicht mehr ver3

Wurm, Achim: Amor platonicus. Lesarten der Liebe bei Platon, Plotin und Ficino. Berlin, New York 2008, S. 2.

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fangen, sondern diese längst durchdringen oder sich ihnen entziehen. Die dritte Strophe bringt sodann wenig zweideutig noch den bekannten Entomologen Jünger ins Bild, der in den Käfern – also außerhalb der Sprache – seine auf die Insekten projizierten „Gespenster“ präpariert, jene irrealen Geburten eines unmündigen Kinderglaubens, während das Lyrische Ich real anmutende Raubtiere im Wort, also diskursiv-rational zu bändigen weiß. Nachdem Benses Gedicht auf diese Weise klargestellt hat, dass hier ein gealterter Alkibiades seinen feindlichen Sokrates im Reifungsprozess inzwischen hinter sich gelassen haben will und damit der Vervollkommnung nahe scheint, bringt es noch einmal das Gemeinsame der platonischen Beziehung ins Spiel: Die Rudel in der dritten Strophe, semantisch auf die genannten Raubtiere zu beziehen, ließen sich weder vom einen, noch vom anderen auf die je eigene Weise präparieren und bannen, denn sie wichen den beiden schlicht aus, wie es sogleich heißt. Der Text endet offen, unversehens selbst „gefärbten Wörtern“ verfallend: Die Rudel der anderen werden auf differente ‚Seinsschichten‘ bezogen, wie man Bense an dieser Stelle ohne Stilbruch ‚jüngernd‘ oder ‚heideggernd‘ paraphrasieren könnte. Wer diese Rudel sein sollen, bleibt geheimnisvoll dunkel, wobei für den einschlägig konditionierten Rezipienten im „Schwarz des anderen Todes“ die SS und Celans Todesfuge mitschwingen, während mit jenen, die an ein anderes Leben glauben, wohl die Jünger der Jenseitsreligionen gemeint sind. Das verhandelte Gedicht ist gewiss alles andere als avanciert, nicht zuletzt weil es in seiner dichotomischen Wertverteilung recht hölzern vorgeht, stilistisch einen „Sarah-Sound“ (Peter Hacks)4 nachspielt und hinter Benses eigenen ästhetischen Anspruch zurückfällt. Auf einer zweiten Ebene offenbart der Text jedoch mehr, als dem Semiotiker möglicherweise selbst bewusst war – naheliegend ist die Suche nach einer verdeckten Lesart schon durch die aufgezeigten Unschärfen, die sich auch gegen die ‚Mündigkeit‘ des Lyrischen Ichs wenden lassen. Zu bedenken bleibt, dass es sich in Platons Gastmahl und dem ‚amor socraticus‘ um eine letztlich asymmetrische, hierarchische Relation handelt, um die Beziehung des zwar schönen und jungen, aber geistig unterlegenen und lernbegierigen Schülers zum weisen Alten. Der hier hypothetisch entfaltete Subtext eines gleichsam abgelegten alkibiadeischen Verhältnisses kann immerhin dadurch untermauert werden, dass Bense sich länger mit Jünger befasste als meist angenommen: Dies ist durch vier teils gehaltvolle Briefe Benses an diesen Autor sowie einige Texte 4

Vgl. Hacks, Peter: „Der Sarah-Sound“. In: Ders.: Werke in fünfzehn Bänden. Bd. 13. Maßgaben der Kunst 1. Berlin 2003, S. 241–257: Hacks ‚entbechert‘ hier zunächst ein Gedicht von Johannes R. Becher, um es dann im Stil von Sarah Kirsch neu zu formulieren – dass sich dieser Essay gegen Becher und nicht gegen Kirsch richtet, belegt jetzt Nickel, Gunther: „Dokumente zur Entstehung von Peter Hacks' Essay ‚Der Sarah-Sound‘. Mit Briefen von Franz Fühmann, Peter Hacks, Heinz Kahlau, Stephan Hermlin, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch“. In: Argos. Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks (2010), H. 7, S. 109–127.

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über ihn bezeugt, darunter eben jenes intime Gedicht, das gar eine ‚platonische Feindschaft‘ preisgibt. Seine respektvolle Annäherung datiert auf das Jahr 1940; über Ernst Niekisch reicht der Kontakt mittelbar sogar noch drei Jahre weiter zurück – in dessen nationalrevolutionärem, aber antinationalsozialistischem Verlag hatte Max Bense schon 1937 eine gegen Ludwig Klages gerichtete Schrift publiziert.5 Das zeitweise substantielle Interesse des fünfzehn Jahre jüngeren Intellektuellen für den Zeit seines Lebens ‚umstrittenen‘ Schriftsteller äußerte sich nicht zuletzt darin, dass ausgerechnet Bense Adorno Anfang 1950 ein Gerücht zutrug, nach dem Jünger und einige deutsche Generalstabsoffiziere 1940 versucht hätten, Walter Benjamin in Sicherheit zu bringen.6 Sehr bewusst indes verweist das zitierte Gedicht auf die bekannte und in ihrer elaborierten Variante stichhaltige Stil- und Grundsatzkritik, die Max Bense 1950 in seinem Traktat Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschen Literatur entwickelt hatte.7 Diese exemplarische Auseinandersetzung unter anderem mit Jüngers Texten und Inszenierungspraxis nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bense 1981 im Gedicht gleichsam autobiographisch und abschließend noch einmal bilanzierte, seine dort nicht offen eingestandene Faszination vom „platonischen Feind“ hatte ein komplementäres Gegenstück: Als ‚platonischen Freund‘ Benses könnte man in solchem Kontext gewiss Gottfried Benn kennzeichnen – seine geistige Beziehung zu dem schon 1956 verstorbenen Autor war intensiver und reichte noch weiter zurück. Max Benses eigenartiges Gedicht über jene ‚platonische Feindschaft‘ lässt sich somit als späte Verdichtung einer Konstellation und ihrer Entwicklung lesen, die nicht nur für diesen Autor persönlich, sondern auch für die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte bedeutsam war.

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Bense, Max: Anti-Klages oder Von der Würde des Menschen. Berlin 1937. Nach dem Zweiten Weltkrieg traten Niekisch und Bense wieder zueinander in – nicht sehr rege – Verbindung (DLA, NL Bense: Briefe von Ernst Niekisch). Brief von Theodor W. Adorno an Gershom Scholem vom 18. Februar 1951. In: Scholem, Gershom: Briefe. Bd. 2. 1948–1970. Hg. v. Thomas Sparr. München 1995, S. 239: Max Bense habe ihm „vor einem Jahr“ von einem Plan deutscher Generalstabsoffiziere im Sommer 1940 erzählt, Walter Benjamin als Lazarettpfleger im Heer unterzubringen und damit zu retten; daran sei auch Ernst Jünger beteiligt gewesen. Bense hatte Adorno wohl im Januar 1950 in Frankfurt a.M. besucht (vgl. DLA, NL Bense: Brief Adorno an Bense vom 29.12.1949). Bense, Max: Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschen Literatur. Köln, Berlin 1950; vgl. dazu nur knapp Dietka, Norbert: Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild in der bundesdeutschen Kritik (1945 bis 1985). Frankfurt a.M. 1987, S. 115f.; Jünger, Ernst u. Gerhard Nebel: Briefe 1938–1976. Mit einem Kommentar und Nachwort hg. v. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann. Stuttgart 2003, S. 831–833; Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin 2007, S. 389–391.

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1. „Ein Mann, der Zukunft haben kann“: Bense, Benn und Jünger im ‚Dritten Reich‘ Max Bense, 1910 in Straßburg geboren und nach dem Ersten Weltkrieg in Köln aufgewachsen, hatte in Bonn Physik, Chemie, Mathematik und Geologie studiert. Anfangs zeigte er sich dabei noch als Anhänger der von den Universitätswissenschaften einhellig abgelehnten ‚Welteislehre‘ des österreichischen Ingenieurs Hanns Hörbiger, nahm aber im Zuge seines Studiums offenbar davon Abstand: die letzten Beiträge Benses im sympathisierenden Umfeld dieses wissenschaftlichen Dilettantismus sind einige Artikel in der Zeitschrift für Welteislehre von 1934.8 Schließlich wurde er 1937 an der Bonner Universität mit einer Arbeit über Quantenmechanik und Daseinsrelativität promoviert. Diese Arbeit und viele seiner nun folgenden Publikationen waren dem Versuch gewidmet, Ergebnisse der Quantenphysik und der Naturwissenschaften allgemein in das bestehende Wissenssystem philosophisch einzubinden und daraus auch ästhetische Konsequenzen zu ziehen.9 Der damals noch nicht dreißigjährige Wissenschaftler Bense hatte sich früh und fleißig als Publizist betätigt, und dies nicht nur im Sinne einer Popularisierung der Naturwissenschaften – von Anfang an befasste er sich dabei auch intensiv mit der Literatur. Schon für die 1930er und frühen 1940er Jahre ist eine in Umfang und Substanz beachtliche, gleichsam nebenberuflich betriebene Bücher-, Aufsatz- und Feuilletonproduktion zu verzeichnen: über 20 Monographien und von ihm edierte Bücher, über 50 Rundfunksendungen, rund 400 Artikel und Rezensionen, davon die meisten in der Kölnischen Zeitung, hatte Bense bis 1945 publiziert.10 Hauptberuflich arbeitete er seit seiner Promotion in der Presseabteilung der IG Farben Leverkusen; mit Kriegsbeginn musste er sich einer Ausbildung als Meteorologe bei der Luftwaffe unterziehen. 1941 wurde er dann wieder entlassen und war bis Kriegsende als Physiker in einem Laboratorium für Hochfrequenzphysik tätig. Dass Bense damals eine Habilitation wegen seines Bezugs auf Albert Einstein verwehrt blieb, wie gelegentlich kol8

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Vgl. Bense, Max Otto: „Der WEL-Gedanke und die junge Generation“. In: Schlüssel zum Weltgeschehen 6 (1930), H. 11/12: Hörbiger / Schöpfer der Welteislehre / zum siebzigsten Geburtstag [Festnummer], S. 375–377. Zur Welteislehre vgl. Nagel, Brigitte: Die Welteislehre. Ihre Geschichte und Rolle im „Dritten Reich“. Stuttgart 1991. Noch 1934 berichtet die Zeitschrift für Welteislehre (Nr. 7, 1934, S. 222): „Der Mitarbeiter der Zeitschrift für Welteislehre, Max Bense, hielt im Reichssender Köln einige Vorträge, darin in erster Linie die Ergebnisse der WEL bezüglich gewisser Phänomene berücksichtigt werden.“ Bense, Max: Quantenmechanik und Daseinsrelativität. Eine Untersuchung über die Prinzipien der Quantenmechanik und ihre Beziehung zu Schelers Lehre von der Daseinsrelativität der Gegenstandsarten. Köln 1938; vgl. Emter, Elisabeth: „Physik und Ästhetik im Frühwerk von Max Bense. Zur theoretischen Fundierung experimenteller Schreibweisen“. In: Semiosis 20. Jg. (1995), H. 77/78, S. 5–35. Siehe dazu die umfassende Bibliographie von Elisabeth Walther: Chronologische Bibliografie der veröffentlichten Schriften und Rundfunksendungen von Max Bense. [Stuttgart] 2007. http://www.stuttgarter-schule.de/bensebibliografie.htm (Stand: 01.12.2010).

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portiert wird, ist unwahrscheinlich: Schließlich berief sich seinerzeit selbst ein der NSDAP angehörender und etablierter Philosoph wie Alfred Baeumler, der keine einschlägige physikalisch-mathematische Ausbildung hatte, auf solche deutschen Physiker und Mathematiker jüdischer Glaubensherkunft, deren Erkenntnisse für die – nicht zuletzt rüstungsrelevanten – Fachwissenschaften unverzichtbar blieben.11 Ob andere Gründe dafür vorlagen, dass Bense vor 1945 keine Universitätslaufbahn einschlug, wäre anhand von Quellen eingehend zu überprüfen. Jedenfalls hat der Philosoph und Publizist erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine akademische Karriere eingeschlagen; nach seiner Berufung als Kurator der Universität Jena und dortigen Habilitierung im Jahr 1946 wechselte er 1948 in die Westzonen, wo er von 1950 an als außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule und späteren Universität in Stuttgart lehrte. Dort entfaltete er beträchtliche Wirkung; 1963 wurde er endlich auch zum Ordinarius ernannt. So interessant es wäre, kann im Weiteren doch keine geistige Biographie Benses entworfen werden;12 die folgende Skizze beschränkt sich auf den Kontext, in dem der Philosoph, Wissenschaftler und Publizist in den späten 1930er Jahren auf den Schriftsteller Ernst Jünger stieß und ihn 1940 dann auch anschrieb. Bereits 1933 war er in einen lebhaften Austausch mit Gottfried Benn getreten, der die Arbeiten des jungen Publizisten schätzte und ihn auch zu fördern suchte: Für Benses erstes Buch Raum und Ich, in dem dieser sich noch auf Hörbiger, Edgar Dacqué und den Hörbiger-Popularisierer Eugen Georg bezog, durfte er eine positive Äußerung aus einem Brief Benns zur Werbung zitieren.13 1935 hatte Benn an seinen Freund Oelze über Bense geschrieben: „Er steht seit etwa 2 Jahren mit mir in Verbindung, ist stark von mir beeinflusst. Ist aber der interessanteste aus dem ganzen Nachwuchs. Hat oft u[nd] viel über mich geschrieben. Ein Mann, der Zukunft 11 12

13

Vgl. dazu Fröschle, Ulrich u. Thomas Kuzias: Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einer Dokumentation der überlieferten Korrespondenz. Dresden 2008, S. 126f. Einen werkbiographischen Umriss entwirft Elisabeth Walther in ihren Erläuterungen zu den Bänden von Benses Ausgewählten Schriften in Bd. 1 (1997), S. IX-XXXIX; siehe auch Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). Berlin, New York 1995, S. 272–298; zu Benses Biographie vgl. die Hinweise in: „‚Ab morgen Philosophie‘ – Begegnung in Jena. Interview mit Elisabeth Walther am 28. November 2003 in Stuttgart“. In: Ästhetik als Programm. Max Bense / Daten und Streuungen. Hg. v. Barbara Büscher, Hans-Christian von Herrmann u. Christoph Hoffmann. Berlin 2004, Teil 1 S. 10–17, Teil 2 S. 62–73; siehe ebd., S. 18–31: Herrmann, Hans-Christian von u. Christoph Hoffmann: „‚Der geistige Mensch und die Technik‘ – Max Bense im Labor für Hochfrequenzphysik (1941–1945)“; vgl. überdies Eckhardt, Michael: „Bense in Jena“. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 14 (2006), H. 1, S. 104–111; Walter, Harry: Max Bense in Stuttgart: „... nur ein Ort meiner Füße“. Marbach a. N. 1994. Bense, Max: Raum und Ich. Eine Philosophie über den Raum. Berlin 1934; das Benn-Zitat findet sich in Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Band IV. Prosa 2. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1989, S. 436 [Gelegentliche Äußerungen], vgl. ebd. Kommentar, S. 798.

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haben kann.“14 Noch in Der Ptolemäer zitiert Benn ganze Passagen aus Max Benses Buch Geist der Mathematik. Abschnitte aus der Philosophie der Arithmetik und Geometrie.15 In Anlehnung an Benn hatte wiederum Bense 1935 in seinem Buch Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis unter der Überschrift „Philosophie und Züchtung“ geschrieben, die Philosophie habe heute die Aufgabe, „den Geist an das Leben zu binden, den Geist an das Leben zu züchten – und sei es mit Geistverachtung, Hochmut und Macht.“ Allein „die vom System erlöste meditative, impressionistische Philosophie“ könne züchten, denn sie faßt den Menschen da, wo er, wenn es die Verwandlung geben soll, zu fassen ist: an der philosophischen Stimmung, die so tief aus dem Urmund des Bewußtseins, des Seinsgefühls und des Todesgefühls kommt, daß sie die wirklichen Zonen jenseits der Begriffe berührt. Und nur wo die Philosophie in ihren Mittelpunkt Leben und Züchtung setzt, da kann sie sich auch rassischer Elemente bewußt werden. Rasse drückt sich nicht in den philosophischen Begriffen, sondern nur in den philosophischen Stimmungen aus.16

Bense berief sich damit auch explizit auf Gottfried Benn und dessen zum nationalsozialistischen Mainstream querliegenden Gebrauch des Begriffs ‚Rasse‘. Benn habe nämlich „die Geschehnisse dieser Zeit, jene Geschehnisse, die vor allem Deutschland berührten, mittels einer ‚spontanen Geschichtsauffassung‘ gedeutet“. Diese sehe „das Phänomen der Geschichte nur und unmittelbar vom Auf und Ab des Lebens getragen“, worauf Bense folgerte: Man sah es niemals nach Platon deutlicher als hier: Alles Politische will Philosophie werden. Das heißt alles Politische will sich, wenn es so spät noch einmal aus der Tiefe des Lebendigen aufsteigt, vor einem Geistigen rechtfertigen. Warum geschieht das? – Philosophie will züchten.17

Eva Geulen hat darauf hingewiesen, dass sich schon in diesen lebensphilosophischen Zusammenhängen „eine sehr bewußte Strategie“ ankündigt, die in einer Verteidigung des ‚Geistes‘ im Rahmen einer formalisierten Geistesgeschichte Kontinuität stiften will und diese jedenfalls für Benses eigenen Zugriff auch wirklich stiftet.18 Mit einem zweiten für Jünger wichtigen Zeitgenossen befasste sich Bense in der Form eines geistigen Porträts, das er 1938 unter dem Titel „Oswald Spengler oder die Kritik an der Geschichte“ publiziert hatte: Den 1936 gestorbenen spekulativen Geschichtsphilosophen charakterisierte er als eine 14 15

16 17 18

Benn, Gottfried an F. W. Oelze, 04.06.1935. In: Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze 1932– 1945. Bd. 1. Wiesbaden 1977, S. 53, Brief Nr. 29. Vgl. Benn, Gottfried: „Der Ptolemäer“. Berliner Novelle 1947. In: Sämtliche Werke. Band V. Prosa 3. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1991, S. 8–55, bes. S. 10; siehe dort auch Kommentar S. 370. Benses Buch war 1939 erschienen. Bense, Max: Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis. Stuttgart 1935, S. 117. Ebd. Geulen: Selbstregulierung, S. 594, S. 598–604.

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Erscheinung, die in ihrem „universalen Standpunkt“ zwischen Philosoph, Schriftsteller und Historiker changiere; wie kein anderer fordere er „den universalen Standpunkt des Betrachters“ heraus; die „Universalität des weltgeschichtlichen Entwurfs Oswald Spenglers“ sei bestimmt durch den Gedanken einer „Ordnung der Zeit“19. Geschichte sei „rückwärts gewandte Politik, daher rein theoretisch“ – Bense lehnt sich hier an die romantische Formel von den Historikern als den rückwärtsgewandten Propheten an. Spenglers „letzte Rückwärtswendung“ habe diesen zwar daran gehindert, ein klares Verhältnis zu jener politischen Gegenwart zu finden, die mit dem faschistischen Staatsgedanken die ersehnte Macht, die ersehnte Vitalität politisch wirksam werden ließ. Die Mischung aus Bewunderung und Ironie, die Spengler den faschistischen und nationalsozialistischen Revolutionen in Italien und Deutschland entgegensetzte, macht offenbar, daß es etwas anderes ist, einen theoretischen Entschluß zu fassen oder einem Entschluß praktisch Wirkung zu verleihen. Spengler vermochte nur das erste. Daher konnte er nicht ja sagen zu der sich vor ihm auftuenden Zeit und mußte diese Zeit abrücken von seinem rückwärtsgewandten Denken der Härte und der tödlichen Pflicht.

Sein Untergangs-Pessimismus sei aber dennoch „ein schöpferischer, ein zum Widerspruch reizender Pessimismus“ gewesen, „der hinter aller Kritik und Absage ein welthistorisches Vertrauen verbirgt, das alle nachfolgenden Denker und Forscher, Techniker und Politiker in ihren Taten ewig rechtfertigt“, so endet dieses Porträt.20 Aus einer solchen im Dunstkreis eines „faschistischen Stils“21 operierenden – aber im Nationalsozialismus nicht systemkonformen – intellektuellen Umgebung heraus befasste sich Bense folgerichtig bald auch mit Ernst Jünger. Schon als Funker auf einer Armeewetterwarte bei der Wehrmacht stehend, publizierte er im Herbst 1940 eine Sammlung mit Essays bzw. Porträts: Darin räsonniert Bense über die Wirkung Nietzsches auf den Franzosen Henry de Montherland, der „für das verfallende Frankreich unerhörte vitale Forderungen“ stelle, und bemerkt dann, dass diesem „bei uns in etwa Ernst Jünger“ entspreche. In einer Bilanz verbucht er den deutschen Autor dort gleich noch einmal, indem er ihn in die zeitgenössische Nietzsche-Rezeption einreiht: „Eine Flut kulturpolitischer, kulturphilosophischer und geschichtsphilosophischer Schriften (z. B. Ernst Jünger, Pannwitz, Spengler, Hildebrandt) tiefer und falscher Prägung entströmte in den letzten

19 20 21

Bense, Max: „Oswald Spengler oder die Kritik an der Geschichte“. In: Ders.: Vom Wesen deutscher Denker oder Zwischen Kritik und Imperativ. München, Berlin 1938, S. 157–173, hier S. 165. Ebd., S. 172f. Auf die dissidente Qualität eines Bezugs auf den italienischen Faschismus wies am Beispiel Gottfried Benns erstmals Armin Mohler hin: „Der faschistische Stil“. In: Ders.: Von rechts gesehen. Stuttgart 1974, S. 179–221. Zum weiteren geistesgeschichtlichen Kontext siehe Geulen: Selbstregulierung, bes. S. 591–595, S. 602f.

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beiden Jahrzehnten der großen Quelle Nietzsche“.22 Bereits Anfang März 1940 hatte Bense in der Kölner Zeitung einen Artikel „Über den Stil“ veröffentlicht, auf den hin Ernst Jünger ihm die zweite Fassung seiner 1938 erschienenen Capriccios Das abenteuerliche Herz zuschickte, wiewohl er selbst darin nicht namentlich genannt wurde.23 Bense dankte ihm am 10. März 1940 und schrieb, dass gerade diese „Capriccios und kleinen Essays es waren, welche meine Untersuchung über den Stil auslösten. Es handelte sich dabei um jene Art von phänomenaler Diagnose, die an einem Detail immer das konstatiert, was die Epoche besitzt oder nicht besitzt“. Damit ist auch Benses Verfahren umrissen, das er bis in die Nachkriegszeit aufrechterhalten sollte. „Jedenfalls“, so fährt er Jünger gegenüber fort, „scheint mir der Stil ein Zug, eine Notwendigkeit, eine Kategorie der neuen Güte zu sein, an dessen Macht ich nicht nur als Logiker und Mathematiker, sondern ausgerechnet als Liebhaber des Lebens festhalte.“ Er habe im übrigen Jüngers Auf den Marmorklippen gelesen und verstehe „diese dunkle Klarheit, diese identisch wahre Aussage über gewisse Dinge, von denen ich noch nicht weiß, ob man als Einzelner hindurch oder darum herum muß“. So betreibe er nicht nur Sprachstudien an Jüngers Buch, sondern auch „Studien über gewisse Identitäten, Studien über den Stil in der Finsternis und Studien über die Wahrhaftigkeit, dieses selten anzutreffende Ding, auf das man als Kopf zum Ärgernis Vieler immer wieder beweisend den Finger legt, beinah als Rache.“ Benses verklausuliert regimekritische Lesart der Mamorklippen gipfelt hier in einer Hommage an deren Autor: Er halte ihn für einen „wesentlichen Katalysator innerhalb der Chemie des Geistes dieser Epoche, die eine Chemie der Wahrheiten ist, insofern es sich um saure, basische oder neutrale Reaktionen auf Wahrheiten (selbst relative) handelt.“24 Ein undatierter Brief aus den frühen 1940er Jahren umschreibt Benses damalige Stellung zu Jünger; anders als im Falle Gottfried Benns wahrt er allerdings stets eine zwar sympathisierende und höfliche, aber doch deutliche Distanz: Nicht dass ich Ihr Schüler wäre. Aber Ihre Aussagen über bestimmte Phänomene u. a. der Technik, der Totalität, der Zukunft und der Arbeit sind für mich von grösster Wichtigkeit. Ich untersuche diese Aussagen, weil ich die Geistesgeschichte der Mathematik untersuche und einen Zusammenhang der Linie Calvin (Prädestination und weltliches Berufsethos), Zeitalter der Mathesis universalis (Descartes, Pascal, Leibniz), Laplacescher Dämon (Geschlossene Naturkausalität) und totale Technik auf den Knochen des totalen Arbeiters (äusserste Form der innerweltlichen Askese) sehe. Ihre Begriffsbildungen werden in dieser Untersuchung eine Rolle spielen, insbesondere jene, die im Arbeiter und in einigen Essays der ‚Blätter und Steine‘ geprägt sind. Im übrigen möchte ich Ihnen noch anmerken, dass ich diesen Zusammenhang 22 23 24

Bense, Max: Aus der Philosophie der Gegenwart. Köln o.J. [1940], S. 26f. (Vorwort S. 11 datiert: „Bei der Wehrmacht, den 1. Oktober 1940“). Bense, Max: „Über den Stil“. In: Kölnische Zeitung Nr. 115, 2. März 1940, S. 4. DLA, NL Jünger: Brief Bense an Jünger vom 10. März 1940, zit. nach Jünger u. Nebel: Briefe, S. 832 (Kommentar).

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unter den für mich wichtigsten geistesgeschichtlichen Kategorien der Perfektion und Koinzidenz untersuche.25

Benses briefliche Ausführungen finden sich tatsächlich im 1946 erschienenen ersten Band seiner Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik wieder, und zwar im Kapitel „Der Laplacesche Dämon“, worin er sich explizit mit Jüngers Arbeiter auseinandersetzte.26 Stilistisch-literarisch war Bense von Jüngers essayistischen Texten fasziniert, weil er ihnen einen experimentellen Charakter auf der Höhe ihrer Zeit zumaß; dementsprechend nahm er immer wieder auch öffentlich in sehr respektvoller Weise Stellung, wenngleich er auch dort distanziert blieb. Substantiell im Hinblick sowohl auf Jüngers Verfahren als auch auf seinen eigenen Ansatz ist vor allem eine ausführliche „Bemerkung über einige Schriftsteller“, die Max Bense im Dezember 1943 in der Wochenzeitung Das Reich publizierte. Sie konzentriert sich auf den Essay als experimentelle literarische Form jenes ‚Geistigen‘, der heute etwas vertrete, darunter an bevorzugter Stelle Ernst Jünger. Während „Sokrates im Gespräch, im Zwiegespräch“, also „gleichsam in einer Urform des dramatischen Aktes“, hervorgebracht habe, was er sagen wollte, empfehle sich nunmehr der Essay als „Versuch“, Existierendes herauszuarbeiten, was eben „selbst vom Charakter des Experiments“ sei: Der Essay ersetzt gleichsam das dramatische Zwiegespräch. Er ist eine Art reflektierender Monolog und damit selbst eine dramatische Form. Die Dialektik liegt im Experimentellen. Das formale und inhaltliche Wesen des Essays besteht in nichts anderem, als eine Absicht sokratisch, also experimentierend durchzusetzen oder einen Gegenstand experimentierend hervorzubringen. Was gesagt werden soll, wird nicht sogleich als fertiger Spruch, als Gesetz gesagt, es wird vielmehr vor dem geistigen Auge des Lesers beständig hervorgebracht im Akt unermüdlicher Variation des Ausgangspunktes, und zwar auf eine Weise, die einerseits der experimentellen Demonstration eines naturgesetzlichen Effektes und andererseits der Herstellung einer wohlbestimmten Konfiguration im Kaleidoskop entspricht.

Ein solches experimentelles literarisches Verfahren bringt in Benses Augen vor allem Ernst Jünger exemplarisch in Anschlag, womit er „heute schon eine unmerkliche Herrschaft der Sprache und des Stils“ ausübe und zum Muster von Nachahmung wie Nachfolge geworden sei: Nimm irgendein Ding, z. B. mit Ernst Jünger den „Grünspecht“. Eine analytische Beschreibung führt zu nichts anderem als einem Stückchen Brehm, aber dadurch, daß man beim Anblick des Grünspechts eine Idee hat, nämlich die des Rhythmus, und diese Idee am Grünspecht spiegelt und bemerkt, daß „er“ im Augenblick der Schöpfung am Ort der Trennung „zwischen Rhythmus und Melos“ stand, kommt das Experimentelle in den Bericht, der zunächst wie ein Stückchen aus Brehm an25 26

Ebd.: Brief Bense an Jünger [1940], zit. nach Jünger u. Nebel: Briefe (Kommentar), S. 832f. Bense, Max: Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. Die Mathematik und die Wissenschaften. Hamburg 1946.

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hebt. Der Gedanke wird nun durchexperimentiert, allenthalben wird der Takt der Tätigkeit des Vogels untersucht, und findet man nun plötzlich eine Zeile, worin steht, daß diese Art von Kombinationen „kleine Modelle einer anderen Art und Weise die Dinge zu sehen“ darstellen, so hat man die Tendenz und hinter ihr den mit der puren ratio bereits entzweiten Geist. […] Entsprechend geschieht es immer: der Mann, der dem „kombinatorischen Schluß“ einen Essay gewidmet hat, erweist sich als glanzvoller Beherrscher dieses Verfahrens, das zur Grundlage der Essayistik gehört. Und dieses Verfahren ermöglicht es auch, daß die schreibende Subjektivität, der Literat im besseren Sinne des Begriffs, plötzlich in die Kombinatorik hineingenommen wird, derart, daß offen oder verschwiegen die Tendenz in Existenz umschlägt.27

2. Alte Konstellationen und neue Bewertungen um 1950 Die 1943 in Das Reich getroffene Einschätzung galt Bense auch noch nach dem Krieg. Im Herbst 1948 nahm Bense nach seinem Weggang aus Jena erstmals seit dem Krieg wieder Verbindung auf, und zwar mit einem recht ergebenen Brief, in dem er sich entzückt über Jüngers noch nicht publizierte Strahlungen zeigt – offenbar hatte er einen Vorabdruck gelesen.28 Sein positives Urteil über Jüngers Prosa sah er durch diesen neuesten Text bestätigt, und so eröffnete er 1949 in einem Artikel im Tagesspiegel gar eine bedeutsame literarische Reihe mit diesem Autor. Es könne „nur jene Prosa aktuelle Prosa sein“, heißt es dort, der es gelinge, „die Elemente der zeitgenössischen Möglichkeiten der Redeweise“ aufzunehmen, „und in diesem Sinne erscheinen mir Jünger, Kafka und Benn für Nachahmung und Nachfolge mindestens ebenso wesentlich wie Lessing und Goethe.“29 Indes unterzog Bense sein anfängliches Entzücken über Jüngers Tagebücher sehr bald einer grundlegenden Revision, die er 1950 auch der Öffentlichkeit kundtat, und zwar mit dem bereits erwähnten Traktat Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschen Literatur: Darin bekannte er sich vor allem zu Benn, während er die Prosa von Jüngers Strahlungen einer scharfen, exemplarischen Kritik unterzog. 27

28

29

Bense, Max: „Bemerkung über einige Schriftsteller“. In: Das Reich. Deutsche Wochenzeitung 4 (1943), H. 52, 26.12.1943 (Literatur / Kunst / Wissenschaft), S. [1f.]. Vgl. auch Benses Artikel: „Über Ernst Jünger. Im Anschluß an Gärten und Straßen“. In: Europäische Revue, 18 (1942), H. 4, S. 230–232. Vgl. DLA, NL Jünger: Brief Bense an Jünger vom 1. Oktober 1948; ein Vorabdruck der Strahlungen war beispielsweise im Dezember 1947 in der von Manfred Michler in Düsseldorf-Benrath herausgegebenen Zeitschrift Die Aussprache erschienen. Bense, Max: „Nachahmung und Nachfolge. Bemerkungen über Schriftsteller“. In: Tagesspiegel, 11. August 1949, zit. nach Benn, Gottfried: Briefe an den Limes-Verlag 1948–1956 mit der vollständigen Korrespondenz auf CD-ROM. Hg. u. kommentiert von Marguerite Schlüter u. Holger Hof. Stuttgart 2006, S. 195. Benn wies seinen Verleger am 12. August auf diesen „kolossalen Satz“ Benses hin, bemerkte freilich, „die ewige Zusammenstellung mit Jünger“ hänge ihm „zwar zum Halse raus und ich finde sie auch ganz verkehrt, aber in dem Fall könnte man sie verwenden“ (S. 41f.).

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Jünger, dem die moderne Physik allein schon aus den bekannten biographischen Konstellationen heraus durchaus vertraut war,30 hatte sich im Vorwort zu seinen 1949 unter dem Titel Strahlungen publizierten Tagebüchern als Anhänger sowohl „der Undulations- als auch der Korpuskulartheorie“ präsentiert und daraus sogleich ein Formprogramm entwickelt: Ästhetisch gewendet bedeute dies nämlich, „daß sowohl Gedanken als auch Bilder wirken sollen – und zwar in Deckung: in der Sprache verschmelzen die logischen Figuren mit den Ideogrammen des style imagé“.31 Weder die Korpuskulartheorie, also die Konzeption von Strahlung als Teilchen, noch die Undulationstheorie, also ein Verständnis von Strahlung als Welle, so konstatiert Elisabeth Emter in ihrer grundlegenden Arbeit über die Verhandlung der quantentheoretischen Forschungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, könne nach den Ergebnissen der damaligen Diskussionen die „Wirklichkeit der Strahlung“ vollständig wiedergeben. Die in der alten Physik sich widersprechenden, ja sich ausschließenden Beschreibungsverfahren stehen in der modernen Physik „gleichberechtigt nebeneinander“, sie seien „für sich genommen aber jeweils unvollständig“. Jünger übertrage nun, so Emter, die Vorstellung einer notwendigen Komplementarität der Konzeptionen auf sein Sprach- und Literaturkonzept als Forderung, die Verfahren bildhafter Imagination und abstrakt-logischer Elaboration von Gedanken zu amalgamieren.32 In Max Benses Augen gelang ihm aber genau dies nicht – entgegen seiner programmatischen Erklärung im Vorwort zu den Strahlungen. Unter anderem am Beispiel von Jüngers Schilderung der amerikanischen Panzer, die 1945 in Kirchhorst an seinem Haus vorbeirollten, wird diese Kritik scharf pointiert: Die moderne Erscheinung des Soldaten und der Technik finde in der symbolischen Kraft der Jüngerschen Worte keinen Ausdruck. Man lese nach und man wird finden, daß nur das Bild von der ‚magischen Angelpartie‘, die ‚zum Fange des Leviathans‘ auszog, einen Eindruck hinterläßt, und dieses Bild gehört einer Symbolwelt an, in der die natürliche Fauna, aber kein einziges Zeichen der Faraday-Maxwellschen Gleichungen beheimatet ist.33 30

31 32 33

In Sgraffiti berichtet er von den häufigen Gesprächen am elterlichen Tisch in Leisnig, woher ihm der Name Heisenberg früh geläufig war; sein Bruder Hans, eine mathematische Begabung und 1937 einschlägig promoviert, hatte während seines Studiums auch eine Übung bei Heisenberg besucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es über Friedrich Georg Jünger zum direkten Kontakt mit dem Physiker; vgl. Jünger, Ernst: „Sgraffiti“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 331–480, bes. S. 408; vgl. Kleint, Christian u. Gerald Wiemers (Hg.): Werner Heisenberg in Leipzig 1927–1942. Berlin 1993, S. 156; zu Hans Jünger vgl. Fröschle, Ulrich: Friedrich Georg Jünger und der ‚radikale Geist‘. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit. Dresden 2008, S. 67f.; zum Kontakt Heisenbergs mit den Brüdern Jünger siehe Jünger u. Nebel: Briefe, S. 626f., S. 776, S. 780–783, S. 787. Jünger, Ernst: Vorwort [zuerst 1949]. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 11–23, hier S. 21. Emter: Literatur, S. 134–147, hier S. 141. Bense: Ptolemäer, S. 43.

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Jüngers Bedeutung, so lautet Benses Zwischenbilanz 1950, liege eben vor allem darin, dass er „einer dieser ästhetischen Nahepunkte“ sei, „von dem aus der Blick auf eine hinter uns liegende Epoche fallen kann“. Von ihm aus lasse sich wohl „das alte Jahrhundert komponieren“;34 für eine Gegenwart und Zukunft im Zeichen „sich selber regulierender transklassischen Mechanismen“35 hingegen scheinen ihm Jüngers aktuelle Texte irrelevant. Dagegen wird nun Gottfried Benn als Gegenbild in Stellung gebracht: Dessen Arbeiten preist Bense – mit einer Wendung Edmund Husserls – als geglückte „Prosa für eine vorgegebene gedachte reale Welt“ in ihrem aktuellen Status, für eine Welt im ontologischen Zerfall, eine Welt für eine „Prosa ohne Roman, ohne Konfession, ohne das klassische adäquate Objekt, gegenstandsauflösend, ohne die Epik zu verlieren, Leerform“ – und damit Projektionsfläche – „für eine ganze Klasse phänotypischer Zeitgenossen“. In Benns Verfahren einer „Poesie der vollkommenen sinnlichen Rede“ öffne sich der andere „point de vue, von dem aus der Blick nach vorn möglich ist, das zwanzigste Jahrhundert als Spektrum eines ‚Prismatikers‘.“36 Erscheine Jüngers Zugriff „linear und einfach“, sei „Benns Geistesverfassung aber mehrdimensional und komplex“: Dieser habe „die moderne Welt assimiliert“, während Jünger die Erinnerungen zwar aufzeichne, sich aber der Assimilation entziehe und sie nicht wirksam werden lasse. Dabei sei, man müsse es dreimal betonen, unsere Welt eine technische Welt, die in Jüngers Versuch einer „transzendierenden Sprache“ weder in ihrer „absoluten Präzision“ noch in ihrer „Konstruktivität“ gegenwärtig werden könne. „Das völlige Versagen Jüngers, wenn an Stelle von Natur oder Tradition die Technik in ihrer funktionierenden Materialität in Erscheinung tritt“, erkläre sich, so Bense, „ausschließlich aus der inneren Anlage dieser Prosa, sich mit Hilfe der Mythologisierung der technischen Realität zu entziehen“.37 Vor dem Hintergrund einer in den ersten Nachkriegsjahren öffentlich stark auf Ernst Jünger und Thomas Mann fokussierten Diskussion fasst Bense gar diese beiden konträren Repräsentanten provokativ in einer Kategorie zusammen; in ihren scheinbar diametralen Positionen will er allenfalls Binnendifferenzierungen ausmachen. Anders als bei Benn sei man nämlich sowohl in der „kalifornischen“ Emigration Thomas Manns als auch in der „theologischen Emigration“ Ernst Jüngers bereit, „die theologische Subalternität als demonstrative Rekonvaleszenz vorzutäuschen“, was man „dann den neuen christlichen Humanismus“ nenne. Doch werde „hier nur ein provinzielles Ressentiment zum Aufbau einer verkäuflichen Literatur benutzt“; 34 35

36 37

Ebd., S. 31. Segeberg, Harro: „Ernst Jüngers Gläserne Bienen als Frage nach der Technik“. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Hg. v. Friedrich Strack. Würzburg 2000, S. 211–224, hier S. 219. Bense: Ptolemäer, S. 31. Ebd., S. 43.

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auf diese Weise verzichte man auf die Welthaltigkeit der Literatur und zugleich den Anspruch einer Weltliteratur. Ebenso wenig wie sein scheinbarer Antagonist Thomas Mann widersetze sich Jünger damit jener größten „gegenwärtige[n] Anfechtung der deutschen Schriftsteller und ihrer Prosa, in der sich bereits die ersten Züge eines Manierismus bemerkbar machen“. Die „theologische Emigration“ Jüngers sei, so Bense, „offenbar sorgfältig und lange“ vorbereitet worden; alle „Erkenntnisse und alle Erfahrungen, die er gewinnt, haben eine leicht pastorale und moralische Nuance“. In seiner „beschaulich unbeschauliche[n] Reflexion“ entstehe die – im übrigen „wundervolle“ – „Textur eines Gewebes“ von Gedanken als „letzter Abglanz, aber doch weithin leuchtend, einer abgestorbenen Epoche, die wir in unseren konservativen Augenblicken so lieben, weil sie uns eine Perfektion vortäuscht: das neunzehnte Jahrhundert“, ein „Gewebe“, „in das beinah alle Bildungsgüter, die das Jahrhundert Hegels und Nietzsches bevorzugte, eingeflochten sind, von einem glänzenden Formulierer, aber einem schwachen Denker bewohnt“, wie Bense schließlich polemisch zuspitzt: „diese Prosa, die, könnte man sie tasten, sich gelegentlich wie Plüsch anfühlen würde“.38 Ein vermutlich 1951 anlässlich des Erscheinens von Jüngers Der Waldgang verfasstes, aber nicht publiziertes Typoskript Benses bilanziert schließlich Jüngers Entwicklung von Das abenteuerliche Herz bis zu diesem neuesten Buch gleichsam als absteigende Linie: „Die ‚Marmorklippen‘ haben sich in eine Gartenlaube verwandelt“, Jünger gehöre mithin zu jenen zahlreichen deutschen Autoren, „die sich durch eine beständig nachlassende Spannung zum Geist auszeichnen“. Eine solche „nachlassende Spannung zum Geiste“ hatte Bense gegenüber Gottfried Benn schon 1935 in einem Brief als Wesen der Dekadenz bestimmt, eine Definition, die der Berliner Autor daraufhin in den höchsten Tönen lobte.39 Mit seinem polemischen Essay bekannte sich Bense nun auch offen als Parteigänger Benns, der wiederum in der durchaus prekären literarischen Konkurrenzsituation der Nachkriegszeit mit einem gewissen Behagen auf die scharfzüngigen Attacken des mit ihm seit 1933 im Briefwechsel stehenden Intellektuellen reagierte und ihn in sein Kalkül einbezog: „Ein ganz eleganter, jugendlicher, lebhafter Mann, sehr vordringlich, geltungsbedürftig, etwas angeberig u. keineswegs immer überwältigend interessant. Aber er ist jetzt ord. Professor in Stuttgart u. man hört sehr auf ihn“, schrieb er nach der ersten persönlichen Begegnung im Frühjahr 1952.40 38 39

40

Ebd., S. 12f., S. 27–29. DLA, NL Bense: Der Waldgang. Einige Bemerkungen zu Ernst Jüngers letzter Schrift. (d.i.: Jünger, Ernst: Der Waldgang. Frankfurt a.M. 1951) [Typoskript, unveröffentlicht]; Brief Benn an Bense vom 17.02.1935. In: Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort v. Max Rychner. Wiesbaden 1957, S. 63. Benn, Gottfried: Briefe an Oelze, Bd. 2.1, S. 134–135, hier S. 135, Brief Nr. 589, vom 18. IV. 52. Zum Verhältnis Benns zu Jünger vgl. Hof, Holger: „Nachwort“. In: Benn, Gottfried u.

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Dass Jünger Benses Ptolemäer und Mauretanier gelesen hatte und davon ernstlich getroffen war, belegt eine Postkarte, die er von einer Reise aus Antibes an Gerhard Nebel, seinen von ihm damals privilegierten Ruf-Verwalter, schickte: „Sechs Wochen hörte ich zum Glück nichts von literarischen Dingen, außer der Schrift von Bense, die mir gesandt wurde. Einer Ihrer Antagonisten – Chauffeur supérieur, der glaubt, dass man die Maxwellsche Gleichung kennen muss, um dem Zeitgeist nahe zu sein.“41 Den Anspruch, die moderne Welt prospektiv und prismatisch fassen zu wollen, hatte Jünger ja immer wieder selbst erhoben – im Arbeiter schien ihm dies, auch in Benses Augen und Urteil, zwei Jahrzehnte vorher noch gelungen. Die Vorwürfe der polemischen Schrift des vormaligen Bewunderers wogen schwer, und Jünger nahm sie produktiv auf: Seine sieben Jahre später erstmals publizierte Erzählprosa Gläserne Bienen lässt sich als Reaktion auf Benses Kritik und seine programmatischen Überlegungen verstehen.42 Harro Segeberg hat 1998 in seiner kontextualisierenden Analyse der Gläsernen Bienen Benses Einwände berücksichtigt und gezeigt, wie Jünger in der ersten Fassung – noch ohne den später eingefügten auktorialen Erzähler-Epilog – poetologisches Neuland gewann, von seinem „point de vue“ aus, in der Rittmeister-Gestalt des 19. Jahrhunderts, den Umbruch der Wissensordnung und Lebenswelt im 20. Jahrhundert in den Blick bekam und dabei erstaunlich (selbst)ironisch werden konnte: In der Figur des Rittmeisters, des „äußerst selbstreflexiven Ich-Erzählers“, tritt ein „Mann der alten Ordnung“ einer klassischen Mechanik der modernen „Dynamitkultur“ gegenüber, die „mit den Liliput-Robotern des Großindustriellen und Medienmanagers Giacomo Zapparoni“ eine „Welt intelligenter, weil sich selber regulierender transklassischer Mechanismen“ erzeugt. In der ersten Fassung dieses Textes scheint die unablässig arbeitende „Sinnmaschine“ Jünger stillgestellt, dem Ich-Erzähler nur eine Resignation von „anti-metaphysische[r] Schlichtheit“ zu bleiben und damit eine adäquate Problemformulierung geleistet zu sein.43 Es gelang Jünger in diesem Prosatext, wie Helmut Mottel im Anschluss an Segeberg zeigte, vor allem über eine Adaption des seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Bienendiskurses jene „Engführung der poetologischen mit der naturwissenschaftlichen Ebene des Symbolkomplexes“,44 wie sie letztlich auch Bense vorschwebte.45 Auf diese Konzeption der Gläsernen

41 42 43 44

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Ernst Jünger: Briefwechsel 1949–1956. Mit einem Kommentar und Nachwort hg. v. Holger Hof. Stuttgart 2006, S. 139–150. Brief Jüngers an Nebel vom 30. Juni 1950. In: Jünger u. Nebel: Briefe, S. 371. Jünger, Ernst: Gläserne Bienen. Stuttgart 1957. Segeberg: Bienen, S. 222, S. 218f., S. 223. Mottel, Helmut: „Technische Paradiese – Zur poetologischen Funktion der Metaphorisierung technischer Perfektion im Werk Ernst Jüngers“. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Hg. v. Friedrich Strack. Würzburg 2000, S. 225–242, hier S. 233. Dass hier tatsächlich eine produktive Reaktion auf Benses Kritik vorliegt, indiziert auch eine ähnliche Verhaltensweise des Autors in einem rund 20 Jahre zurückliegenden Fall: Jünger hatte

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Ulrich Fröschle

Bienen indes scheint sich Max Bense argumentativ nicht mehr eingelassen zu haben. Allerdings hängte Jünger seinem Text schon zwei Jahre später einen Epilog an, der die zuvor errungene Offenheit umgehend wieder in die alte Bedeutungsproduktion qua Zuweisung einband, womit er also erneut das von Bense kritisch herausgestellte Verfahren reaktivierte.46 Genau hier aber, angesichts des Schwankens zwischen Gläsernen Bienen und nachträglich hinzugefügtem Epilog, läge im Spiegel von Benses elaborierter Kritik auf der wissenschaftlichen Höhe seiner Zeit ein „point de vue“ auch für eine systematische und historische Analyse von Funktion, Bedeutung und Möglichkeiten der neueren Literatur seit Musil, gerade im Hinblick auf die weitere Entwicklung in der zweiten Jahrhunderthälfte, nicht zuletzt die von Bense favorisierte „Konkrete Poesie“, aus dem Abstand der heutigen Zeit.

Literaturverzeichnis „‚Ab morgen Philosophie‘ – Begegnung in Jena. Interview mit Elisabeth Walther am 28. November 2003 in Stuttgart“. In: Ästhetik als Programm. Max Bense / Daten und Streuungen. Hg. v. Barbara Büscher, Hans-Christian von Herrmann u. Christoph Hoffmann. Berlin 2004. Adorno, Theodor W. an G. Scholem,18. 02. 1951. In: Scholem, Gershom: Briefe. Bd. 2. 1948–1970. Hg. v. Thomas Sparr. München 1995, S. 239. Benn, Gottfried: Briefe an den Limes-Verlag 1948–1956 mit der vollständigen Korrespondenz auf CD-ROM. Hg. u. kommentiert von Marguerite Schlüter u. Holger Hof. Stuttgart 2006. Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze 1932–1945. Wiesbaden 1977. Benn, Gottfried: „Der Ptolemäer“. Berliner Novelle 1947. In: Sämtliche Werke. Band V. Prosa 3. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1991, S. 8– 55. Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Band IV. Prosa 2. Hg. v. Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Stuttgart 1989. Benn, Gottfried an M. Bense, 17.02.1935. In: Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort v. Max Rychner. Wiesbaden 1957, S. 63. Bense, Max: Anti-Klages oder Von der Würde des Menschen. Berlin 1937. Bense, Max: Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis. Stuttgart 1935. Bense, Max: Aus der Philosophie der Gegenwart. Köln o.J. [1940]. Bense, Max: „Bemerkung über einige Schriftsteller“. In: Das Reich. Deutsche Wochenzeitung (Berlin) 4 (1943), H. 52, 26.12.1943 (Literatur / Kunst / Wissenschaft), S. 1f.

46

seinerzeit die Kritik Walter Benjamins an dem 1930 publizierten Sammelband Krieg und Krieger aufmerksam registriert und in der Folge berücksichtigt; vgl. Honold, Alexander: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000, S. 239. Vgl. Segeberg: Bienen, S. 223; der „Epilog“ erschien erstmals 1959 in der französischen Übersetzung (Abeilles de verre. Paris 1959), auf Deutsch dann 1960 in der Taschenbuchauflage in Reinbek.

Platonische Freund-/Feindbestimmungen

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Bense, Max: „Der WEL-Gedanke und die junge Generation“. In: Schlüssel zum Weltgeschehen 6 (1930), H. 11/12: Hörbiger / Schöpfer der Welteislehre / zum siebzigsten Geburtstag [Festnummer], S. 375–377. Bense, Max: Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. Die Mathematik und die Wissenschaften. Hamburg 1946. Bense, Max: „Oswald Spengler oder die Kritik an der Geschichte“. In: Ders.: Vom Wesen deutscher Denker oder Zwischen Kritik und Imperativ. München, Berlin 1938, S. 157–173. Bense, Max: „Platonische Feinde“. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 4. Poetische Texte. Hg. v. Elisabeth Walther. Stuttgart, Weimar 1998, S. 358. Bense, Max: Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschen Literatur. Köln, Berlin 1950. Bense, Max: Quantenmechanik und Daseinsrelativität. Eine Untersuchung über die Prinzipien der Quantenmechanik und ihre Beziehung zu Schelers Lehre von der Daseinsrelativität der Gegenstandsarten. Köln 1938. Bense, Max: Raum und Ich. Eine Philosophie über den Raum. Berlin 1934. Bense, Max: „Über den Stil“. In: Kölnische Zeitung Nr. 115, 2. März 1940, S. 4. Bense, Max: „Über Ernst Jünger. Im Anschluß an Gärten und Straßen“. In: Europäische Revue (Stuttgart) 18 (1942), H. 4, S. 230–232. Bense, Max: Zentrales und Occasionelles. Poetische Bemerkungen. Stuttgart 1981. Dietka, Norbert: Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild in der bundesdeutschen Kritik (1945 bis 1985). Frankfurt a.M. 1987. Eckhardt, Michael: „Bense in Jena“. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 14 (2006) H. 1, S. 104–111. Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). Berlin, New York 1995. Emter, Elisabeth: „Physik und Ästhetik im Frühwerk von Max Bense. Zur theoretischen Fundierung experimenteller Schreibweisen“. In: Semiosis 20 (1995), H. 77/78, S. 5–35. Fröschle, Ulrich: Friedrich Georg Jünger und der ‚radikale Geist‘. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit. Dresden 2008. Fröschle, Ulrich u. Thomas Kuzias: Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einer Dokumentation der überlieferten Korrespondenz. Dresden 2008. Geulen, Eva: „Selbstregulierung und Geistesgeschichte. Max Benses Strategie“. In: Modern Language Notes 123 (2008), H. 3, S. 591–612. Hacks, Peter: „Der Sarah-Sound“. In: Ders.: Werke in fünfzehn Bänden. Bd. 13. Maßgaben der Kunst 1. Berlin 2003, S. 241–257. Herrmann, Hans-Christian von u. Christoph Hoffmann: „‚Der geistige Mensch und die Technik‘ – Max Bense im Labor für Hochfrequenzphysik (1941–1945)“. In: Ästhetik als Programm. Max Bense / Daten und Streuungen. Hg. v. Barbara Büscher, Hans-Christian von Herrmann u. Christoph Hoffmann. Berlin 2004, S. 18–31. Hof, Holger: „Nachwort“. In: Benn, Gottfried u. Ernst Jünger: Briefwechsel 1949–1956. Hg. v. Holger Hof. Stuttgart 2006, S. 139–150. Honold, Alexander: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000.

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Ulrich Fröschle

Jacob, Joachim: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007. Jünger, Ernst: Der Waldgang. Frankfurt a.M. 1951. Jünger, Ernst: Gläserne Bienen. Stuttgart 1957. Jünger, Ernst: „Sgraffiti“. In: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung, Bd. 9. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 331–480. Jünger, Ernst: „Vorwort“. In: Sämtliche Werke. Erste Abteilung, Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 11–23. Jünger, Ernst u. Gerhard Nebel: Briefe 1938–1976. Mit einem Kommentar und Nachwort hg. v. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann, Stuttgart 2003. Kleint, Christian u. Gerald Wiemers (Hg.): Werner Heisenberg in Leipzig 1927–1942. Berlin 1993. Mohler, Armin: „Der faschistische Stil“. In: Ders.: Von rechts gesehen. Stuttgart 1974, S. 179–221. Mottel, Helmut: „Technische Paradiese – Zur poetologischen Funktion der Metaphorisierung technischer Perfektion im Werk Ernst Jüngers“. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Hg. v. Friedrich Strack. Würzburg 2000, S. 225–242. Nagel, Brigitte: Die Welteislehre. Ihre Geschichte und Rolle im „Dritten Reich“. Stuttgart 1991. Nickel, Gunther: „Dokumente zur Entstehung von Peter Hacks' Essay ‚Der SarahSound‘. Mit Briefen von Franz Fühmann, Peter Hacks, Heinz Kahlau, Stephan Hermlin, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch“. In: Argos. Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks (2010), H. 7, S. 109–127. Segeberg, Harro: „Ernst Jüngers Gläserne Bienen als Frage nach der Technik“. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Hg. v. Friedrich Strack. Würzburg 2000, S. 211–224. Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Berlin 2007. Walter, Harry: Max Bense in Stuttgart: „... nur ein Ort meiner Füße“. Marbach a.N. 1994. Walther, Elisabeth: Chronologische Bibliografie der veröffentlichten Schriften und Rundfunksendungen von Max Bense. [Stuttgart] 2007. http://www.stuttgarter-schule.de/bensebibliografie.htm (Stand: 01.12.2010). Wurm, Achim: Amor platonicus. Lesarten der Liebe bei Platon, Plotin und Ficino. Berlin, New York 2008. Zeitschrift für Welteislehre Nr. 7, 1934.

Archivalien: Nachlass Max Bense, DLA Marbach: Brief von Theodor W. Adorno an Bense, 29.12.1949. Briefe von Ernst Niekisch an Bense. Der Waldgang. Einige Bemerkungen zu Ernst Jüngers letzter Schrift. (d.i.: Jünger, Ernst: Der Waldgang, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 1951 143 S.) [Typoskript, unveröffentlicht].

Platonische Freund-/Feindbestimmungen

Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach: Briefe von Max Bense an Jünger, 01.10.1948 u. 10.03.1940. Bense, Max: Gedicht „An Ernst Jünger“.

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„In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher.“

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„In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher.“ Zur rhetorischen Struktur der Kulturkritik Ernst Jüngers Der Magister, wie Jünger den Freund Hugo Fischer in Anspielung auf dessen Hang zum Dozieren und Spintisieren nennt, erweist sich als genialer Zitatensammler, der seine Wohnung in einen riesigen Zettelkasten verwandelt hat. Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben (2007) Wir schreiten auf einer Brücke von Konventionen über den Abgrund der Historie. Ernst Jünger: Am Sarazenenturm (1955)

1. Das meinem Text als Titel vorangestellte Zitat „In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher“ stammt aus Ernst Jüngers Buch Autor und Autorschaft von 1984.1 Es sollte hier ursprünglich herhalten, um noch einmal bestimmte, auf die USA gemünzte Formeln der Kulturkritik beim ‚späten Jünger‘ zu untersuchen. Es wäre naheliegend, so dachte ich zunächst, Jüngers Stellung als ‚Solitär‘ in oder gegenüber der Bundesrepublik Deutschland inhaltlich zu begründen, indem man spezifische Teile seiner Modernitätskritik nach 1949 auf sie als eine moderne und westliche Staatsneugründung bezieht – vielleicht nach dem schönen Motto und dem Buchtitel Michael Rutschkys „Wie wir alle Amerikaner wurden“.2 Die Kritik der fortschreitenden ‚Verzifferung‘, die Jünger erneut anlässlich der Volkszählung 1987 in den Tagebüchern äußerte (diese Volkszählung war seit 1981 gegen erheblichen Widerstand in Vorbereitung), könnte man als einen solchen Inhalt seiner den modernen Verhältnissen angepassten

1

2

Die Buchausgabe von 1984 ist eine erweiterte Fassung der gleichnamigen Veröffentlichung im Bd. 13 der Sämtlichen Werke von 1981. Sie ist auch Textgrundlage für die nochmalige Veröffentlichung im Bd. 19, dem ersten Supplementband, der gleichen Ausgabe der Sämtlichen Werke. (Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“. In: ‚Sämtliche Werke‘. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 207). Rutschky, Michael: Wie wir alle Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte. Berlin 2004.

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Kulturkritik auffassen.3 Die für Jünger zu beobachtende ‚Verzifferung‘ entspräche dann – zusammen gelesen mit dem 1984er Titelzitat – auf diffuse Weise dem gesteigerten nordamerikanischen Einfluss auf die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung. Man kommt dabei allerdings nicht um die Einsicht herum, dass diese Kritik an der ‚Verzifferung‘ schon im Arbeiter von 1932 sehr präsent ist – und zwar zumeist ohne die Nordamerikaner, aber dafür mit Volkszählung.4 Hinzu kommt, dass unzählige Intellektuelle der Weimarer Republik, und damit auch Teile der so genannten ‚Konservativen Revolution‘, schon den Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 für den Anbruch eines ‚amerikanischen Zeitalters‘ hielten.5 Bei nochmaligem Lesen der Stelle fiel mir dann auf, dass sich die Passage zur angeführten ‚Verzifferung‘ in Jüngers Werk Autor und Autorschaft äußerst kunstvoll mit Einträgen und Reflexionen zum sogenannten ‚Gemeinplatz‘ abwechselte. Ernst Jünger setzt hier z. B. das „deprimierende Gefühl, daß man genau in die Statistik fällt“,6 mit Léon Bloys Einsicht gleich, dass „die Sprache des Bürgertums auf eine sehr kleine Anzahl von Formeln beschränkt ist.“7 Das machte mich stutzig und ließ mich schließlich absehen von meinem ursprünglichen Vorhaben, über Inhalte der Kulturkritik nachzudenken, um nun ihre Form und formale Genese in Jüngers Werk zu thematisieren. Dabei leitete mich die Idee, den ‚Gemeinplatz‘ nicht nur als sich wiederholende Rede, sondern auch als Muster ihrer Verfertigung zu betrachten. Hierbei handelt es sich im Übrigen um eine Idee, die Jünger selbst nahe legt: Dem von mir schon zitierten Hinweis auf Léon Bloy in Autor und Autorschaft geht folgende Passage unmittelbar voraus: „Ein Text wird nicht durch Wörter gebildet, sondern auch durch Versatzteile: Gängige Phrasen, 3 4

5 6 7

Vgl. Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV. Stuttgart 1995. Vgl. etwa Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Hamburg 1932, S. 140: „Im besonderen tritt das Bestreben, jedem Verhältnis einen ziffernmäßigen Ausdruck zu geben, in der Statistik hervor. Hier erscheint die Ziffer in der Rolle des Begriffes, der von beliebigen Gesichtspunkten aus ein und denselben Bestand vielfältig durchdringt. Es hat sich aus diesem Bestreben eine Art der logischen Argumentation entwickelt, bei der der Ziffer Beweiskraft zugestanden wird. Wichtiger ist, dass die Methodik, in der der Einzelne beleuchtet wird, sich nicht darauf beschränkt, ihn als Teil einer Summe zu sehen, sondern dass sie sich bemüht, ihn in eine Totalität von Erscheinungen einzubeziehen. Dies wird vielleicht klar an dem Unterschiede, der zwischen einer Volks- oder Stimmzettelzählung einerseits und den Punktergebnissen einer psychotechnischen Prüfung oder einer technischen Leistungstabelle andererseits besteht. Zu streifen ist auch noch der Rekord als die ziffernmäßige Wertung menschlicher oder technischer Leistungen. Er ist das Symbol eines Willens zur ununterbrochenen Bestandaufnahme der potentiellen Energie.“ Ausführlich entwickelt diesen Gedanken z. B. Eugen Rosenstock in seinem Buch Die europäischen Revolutionen. Jena 1931, S. 524ff. Jünger: Autor und Autorschaft, S. 207. Ebd., S. 185. (Der von Jünger intensiv rezipierte Autor Léon Bloy schrieb 1902 eine Auslegung der Gemeinplätze).

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auf denen die Sprache fortläuft wie auf einem Gleis.“8 Der folgende Absatz beginnt dann mit der Bemerkung, dass, „wo die Gemeinplätze überhandnehmen, es zu einer Identitätserschleichung kommt“.9 Vielleicht kann man die Autorposition Jüngers als ‚einzeln stehende‘ oder ‚einzeln lebende‘ – je nachdem, ob man für den ‚Solitär‘ die Architektur oder die Zoologie bemüht – sogar viel besser aus dem Fertigungsmuster der Topoi als aus ihren Inhalten ableiten. Die Entstehung des Musters geht aber unter Umständen mit den Vorbereitungen zur Republikgründung einher: Ich habe deshalb diese Entstehung eigenmächtig auf den Zeitraum zwischen 1943 und 1949 datiert.

2. Im Falle Ernst Jüngers hat man es mit einem Autor zu tun, der nicht müde wurde, seine Existenz als Leser über seine vita activa zu stellen. Obwohl dieses Leben zwei aktive Weltkriegsteilnahmen, zahlreiche Verwundungen, unzählige Reisen und einiges mehr zu verzeichnen hatte, wurde die Essenz dieses langen und aufregenden Lebens vom Autor selbst in der Regel so zusammengefasst: Verehrte Gäste, liebe Freunde, die Sie hier zu meinem Hundertsten versammelt sind. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so scheint mir, daß ich es als Leser verbracht habe. Das mag verwunderlich klingen – doch habe ich von Werken und Taten zuerst durch Bücher erfahren, also platonisch.10

Das könnte nun als Gemeinplatz gelesen werden, der bekanntlich die anschlussfähige Formulierung seines Gegenteils schon einkalkuliert11 – und tatsächlich lässt sich das Gegenteil leicht auffinden. Zu seiner Entdeckung von Joris Karl Huysmans Werk im Ersten Weltkrieg schreibt Jünger etwa am 5. Februar 1983 lapidar: „Aber ich meine, dass ich bei Guillemont mehr gelernt habe“12 – und zitiert damit eine berühmte und berüchtigte Schlacht dieses Krieges als einen noch größeren Lehrmeister seines Lebens. Man könnte das Bekenntnis des Hundertjährigen zum Platonismus der Lektüre aber auch einfach als Untertreibung lesen, was sein Engagement in der wirklichen Wirklichkeit angeht. Doch Jüngers Selbsteinschätzung als Leser hat noch in einer dritten Hinsicht einiges für sich: Diesem Bekenntnis entspricht nämlich ein Werk, dessen Umfang – allein als Aufreihung der produzierten Buch- und Essaytitel – im Jahr 1996 ein in seiner letzten Auflage 350 Seiten starkes Buch füllt. 8 9 10 11 12

Ebd. Ebd. Jünger, Ernst: Siebzig verweht V. Stuttgart 1997, S. 168. Vgl. z. B. Groddeck, Wolfgang: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel 1995, S. 52. Jünger, Ernst: Siebzig verweht III. Stuttgart 1993, S. 249.

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Daraus kann man nur den Schluss ziehen, dass sich Lesen und Schreiben irgendwie gegenseitig bedingen, durchdringen und abwechseln, da ansonsten selbst die Zeit eines hundertdreijährigen Lebens für ein solches Riesenwerk zu knapp bemessen wäre. Lesen wird wohl zum operativen Kern des hochgebildeten, man darf sagen: ‚gelehrten‘ Werks des berühmten Autors gehört haben. Technischer heißt das: Der Mann hat wahrscheinlich – eben wie ein Gelehrter – unentwegt studiert, exzerpiert, angestrichen oder ‚herausgezogen‘, wie er selbst es gerne nannte. Und er tat dies nachweislich nicht nur für sich, sondern auch für die ‚Schreiballianz‘ oder ‚wahre Bruderschaft‘ mit Friedrich Georg. Er tat dies auch nicht nur bei sich, sondern auch gemeinsam mit auserwählten Gesprächs- und Lektürepartnern. Ernst Jünger war sozusagen Mitglied von Exzerpt- und Studiengemeinschaften, zu deren innerstem Kreis auch jener Leipziger Privatdozent für Philosophie Ernst Hugo Fischer (1897–1975) gehörte.13 Ich möchte das zuerst mit einer von mir exzerpierten Stelle aus dem 1943 erschienenen norwegischen Reisetagebuch in Briefen namens Myrdun veranschaulichen. Diese Reise unternahm Ernst Jünger gemeinsam mit Fischer. Unter dem Datum des 31. Juli 1935 schrieb Ernst Jünger dem Bruder Friedrich Georg darin: Zunächst möchte ich Dein Herz durch drei stoische Sätze erfreuen. Chrysippos: Das Verlassen des Lebens wird den Tüchtigen in vielen Fällen zur Pflicht. Seneca: Die Götter geben uns alles umsonst. Hekaton: Wenn die theoretische Tugend der Selbstbeherrschung vorhanden ist, so stellt sich als notwendige Folge der Zustand der Gesundheit ein, wie beim Bau eines Gewölbes Kraft hinzutritt. Besonders diesen letzten empfehle ich Dir, sowohl zur Lehre wie auch als Muster eines durch und durch, und nicht nur an einem Punkte, richtigen Vergleichs.14

Die Fortsetzung des Zitats klärt uns dann detailliert über das Zustandekommen des Exzerpts und die Technik des Exzerpierens auf: Wie du bereits erraten hast, sitzt der Magister wieder über seinen Zitaten und Auszügen. Er gleicht in dieser Arbeit einer Mörtelbiene, die von allen Saumpfaden des Geistes Steinchen um Steinchen zusammenträgt. Dann wird ein vollwichtiger Vorrat ausgesiebt und mit köstlichen Sekreten ein Opus daraus aufgebaut. Ich wiederum beschmause ihn dabei.15

Interessant ist, dass in diesem kurzen zusammenhängenden Textausschnitt die eigene literarische Stellen-Politik zunächst von der akademischen abgesetzt wird. Das gelehrte Tun wird hier mit der akademischen Figur und dem akademischen Namen des oder eines „Magisters“ belegt. Jünger selbst be13 14 15

Vgl. Gajek, Bernhard: „Magister – Nigromontan – Schwarzenberg. Ernst Jünger und Hugo Fischer“. In: Revue de littérature comparée 71 (1997), H. 4, S. 479–500 u. S. 540f. Jünger, Ernst: Myrdun. Briefe aus Norwegen. Einmalige Feldausgabe für die Soldaten im Bereich des Wehrmachtbefehlshabers in Norwegen. Oslo 1943, S. 53. Jünger: Myrdun, S. 53.

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schreibt sich lediglich als genießerischen Tischgenossen dieses gelehrten Treibens und verspeist oder vorverdaut dabei einige besonders köstliche Bissen – in diesem Fall für den Bruder.16 Der freie Feinschmecker wohnt dem Tun eines manischen Fleißarbeiters mit Interesse, Gewinn und Lust bei – im Dienste eines anderen. Die Zitate sind hier aus Jüngers Sicht als ‚Bissen‘ Grundlage für einen Zufallsschmaus. Diese Absetzung erklärt sich nicht einfach aus der Tatsache, dass Hugo Fischer Privatdozent und Ernst Jünger gastrosophisch interessierter Studienabbrecher war. Auch eine grobe kulturkritische Scheidung des trockenen Gelehrten vom feinschmeckerisch-intuitiven Jäger und Aufleser exquisiter geistiger ‚Brocken‘ – eine Wendung Hamanns17 – ist hier nicht Jüngers Sache. Der auf das Temperament zielende kulturkritische Vertrocknungsvorwurf gegenüber dem Magister fällt sogar umgehend auf den Beobachter und Briefeschreiber Ernst Jünger zurück. Keineswegs – wie wir jetzt schon sehen – möchte Jünger dem gelehrten Magister Hugo Fischer die etwas despektierliche ‚unermüdlich Steinchen zusammentragende Mörtelbiene‘ allein anlasten.18 Der Mörtel stammt schließlich aus dem Wortfeld des Bauens im gerade zitierten Satz Hekatons, den der Briefschreiber dem brüderlichen Adressaten ja ausdrücklich als Lehre und sogar Muster eines durch und durch „richtigen Vergleichs“ empfiehlt.19 Wenige Seiten später benutzt er denn auch genau dieses Bild des ‚unermüdlichen Steinchen-Zusammentragens‘, um sein eigenes Schreiben und Arbeiten zu illustrieren. Ein Faust-Zitat leitet diese Fortsetzung ein. Dann beschreibt Jünger sein eigenes schriftstellerisches Tun als ein laufendes Zi16

17 18

19

Die Metaphorik von Essen und Lesen beleuchtet und versammelt in vielerlei Hinsicht der schöne Aufsatz „Von Bücherwürmern und Leseratten. Der Motivkomplex Lesen und Essen“ von Paul Goetsch, erschienen in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 37 (1996), S. 381–406. Vgl. Hamanns Früh-Schrift Brocken von 1758 mit dem biblischen Motto: „Sammlet die übrig bleibenden Brocken dass nichts umkomme“ (Joh. VI. 12). Ingo Stöckmann steckte in der Diskussion meines Beitrags auf der dem Band vorausgehenden Tagung den rhetorikgeschichtlichen Rahmen dieses Bildes ab und betonte, dass Jünger überdeutlich das seit Seneca (und bis ins 18. Jahrhundert) gebräuchliche Bienen-Gleichnis paraphrasiert, also eine topisch-inventive Lese- und Produktionsvorstellung reproduziert, nach der die Bienen gleichnishaft den Blütenstaub aufnehmen und in etwas Eigenes transformieren, wie der topische Leser im Rahmen der rhetorischen exercitatio bzw. aemulatio Texte sammelt, um sie zu einem eigenen Entwurf zu vereinen und um Vorgängertexte zu überbieten. In den Barockpoetiken gibt es dazu umfängliche Produktionskataloge, nicht zuletzt die Warnung, die gefundenen Stellen nicht unverdaut wieder ‚herauszukotzen‘ (S. von Birken, 1679). Das Metaphernfeld des Bauens und Baus hat Dolf Sternberger schon 1933 als konstitutive kulturkritische Metaphorik für die Philosophie Martin Heideggers analysiert. Diese Untersuchung sei hier aufgrund der zeitweisen Nähe zwischen Jünger und Heidegger ausdrücklich in diesem Zusammenhang erwähnt: Sternberger, Dolf: „Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie (1932/34)“. In: Ders.: Über den Tod. Frankfurt a.M. 1981, S. 69–265, hier S. 162ff.

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tieren und Kommentieren in genau jenen Termini des bienenfleißigen Bauens, die er zuvor auf das manisch-akademische Exzerpieren des Magisters verwandte: Der Rat des Mephisto: „Ernähre dich mit ungemischter Speise …“ ist wirklich nicht schlecht, nur scheint mir, daß der Mensch von heute dergleichen ebenso ungern hört wie Faust. Wie du siehst, kann es mir so schlecht nicht gehen, denn ich schiebe schon wieder die Steinchen hin und her. Freilich ist meine Aussicht, das Mosaik zu vollenden, besonders gering, da ich allzu gern auch die schon gesetzten Stellen wieder einreiße. Doch ist in den Lettern eine höhere Vernunft als in allen Büchern der Welt. Während ich das Zimmer hüte, ergötzen sich Celsus und der Magister in den Fischgründen. Ich spreche indessen der Hausbibliothek zu und bin an den Jahrgang 1836 des Brockhaus’schen Pfennigmagazins geraten, der eine Fundgrube von Kuriositäten ist.20

Gegen Ende des Zitats haben sich die Verhältnisse also geradezu umgekehrt: Der erzgelehrte Magister ergötzt sich „in den Fischgründen“ – und der genießerisch-faule Gelegenheitsaufleser verschiebt unermüdlich ‚Zitatsteinchen‘ und spricht bezeichnenderweise einem „Pfennigmagazin“ der Hausbibliothek zu. Das ist subtile Ironie, das ist freundschaftlicher Respekt vor Hugo Fischer und das ist zugleich der Hinweis auf eine Position von Jüngers Zivilisations- und Kulturkritik, die in den einfachen etablierten Gegensätzen der Kulturkritik nicht aufgeht. Der seit langem zu ihrem festen Bestand gehörende Gegensatz vom ‚Staub der Bücher und dem Saft des Lebens‘ wird also schon im Text selbst aufgelöst. Es bleibt – als Inhalt der Kulturkritik – jener Gegensatz von ‚den Lettern und den Büchern‘. Doch auch damit sind wir schnell fertig: Die ‚Lettern‘, die den Büchern angeblich kraft einer „höheren Vernunft“ überlegen sind, entsprechen Jüngers Idee einer umfassenden Physiognomik – und damit einer umfassenden Lesbarkeit der Welt aus einer gewissen Höhe der Beobachtung.21 Die erhoffte ‚Verletterung‘ ist Jüngers Antwort auf die in meinem Titel zitierte ‚Verzifferung‘. Einer befürchteten inhaltlichen Tendenz der modernen Welt wird mit einer beweglichen und aktiven Wahrnehmung begegnet, die noch den abgeschlossenen Büchern überlegen scheint.

3. Soviel zu den Inhalten der Kulturkritik: Schwieriger scheint es mir mit jenem aus lauter ‚Zitatsteinchen zusammengetragenen unvollendeten und unvollendbaren Mosaik‘ zu liegen. So hat Jünger sein Werk zur selben Zeit charak20 21

Jünger: Myrdun, S. 71f. Vgl. Christians, Heiko: „Gesicht, Gestalt, Ornament: Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), H. 1, S. 84–110.

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terisiert. Diese Metapher, die den abgeschlossenen opera des „Magisters“ Hugo Fischer gegenübersteht, konturiert Jüngers besondere kulturkritische Position deutlicher als schriftstellerische Technik, d. h. in diesem Fall als Variante der Stellenkommentierung und Stellengewinnung. Die Metapher zeigt überdies 1943 eine formale Eigenheit an, die den eigentlichen Beginn des diaristischen Riesenwerks Ernst Jüngers ankündigt – wie es sich dann seinen Weg durch die spätere Bundesrepublik Deutschland bahnt. Gärten und Strassen erscheint 1942, Aus der Goldenen Muschel 1944 und Atlantische Fahrt 1947 bzw. 1949. Hier wird endgültig eine Kette von Tagebüchern angesponnen, die eine Verlagerung des schriftstellerischen Schwerpunkts ankündigt – und Jünger so in die Position eines Kommentators der zweiten Jahrhunderthälfte rückt. Vielleicht kann man von hier aus, also vom Aussichtspunkt eines sich ankündigenden neuen Formatschwerpunkts, auch gut einen Blick auf die zivilisationskritische schriftstellerische Methodik werfen. Die ständige Arbeit am Tagebuch und vor allem ihre ständige rückwirkende Überarbeitung und verspätete Herausgabe – während die eigentlich zu verzeichnende und kommentierende Zeit ja voranschreitet – ist dieses unvollendbare Mosaik. Bleiben für meine Analyse noch die „Steinchen“ oder „Zitate“ übrig, die Jünger genauso fleißig wie der „Magister“ verbaut und hin- und herschiebt. Kommen wir also auf das von ihm praktizierte ‚Herausziehen von Stellen‘ und seinen Zusammenhang mit der Kulturkritik zurück: Genaugenommen nämlich sind die drei an Friedrich Georg adressierten Sätze der Stoa ihrerseits ein Exzerpt der magisterhaften Exzerpte Fischers und avancieren in ihrer geschickten Zusammenstellung zu Motti des Textes, ja, man könnte sagen, zu Motti des zum Zeitpunkt der Reise geführten Lebens der Protagonisten Jünger und Fischer. Das sind sie zumindest, wenn sie als ein im Jahre 1943 veröffentlichter Kommentar zum 1935 geführten Leben gedeutet werden: Zwei Jahre nach der Norwegen-Reise emigrierte Hugo Fischer nach Oslo, von wo aus er 1940 nach England ging und schließlich 1949 eine Gastprofessur in Benares (Indien) übernahm.22 Doch schnell zurück vom ‚Hin-und-Her-Schieben‘ durch Emigration und Flucht zum ‚Hin-und-Her-Schieben der Zitat-Steinchen‘, zum sisyphoshaften Bau an diaristischen Textmosaiken. Das Stellen-Finden oder Stellen-Nennen wird von Jünger immer wieder naturalisiert – denken wir nur an die ‚Fischgründe‘ und ‚Fischzüge‘ oder an die ‚Subtilen Jagden‘ und das ‚Botanisieren‘. Die Stellenaufnahme bzw. Stellenverarbeitung wird im22

Im Jahr 1956 kehrte Hugo Fischer in die Bundesrepublik Deutschland – auf eine außerplanmäßige Professur an die Universität München – zurück. Aus der bewegten und für die ‚Nationalrevolutionäre Gruppe‘ aufschlussreichen Biographie Hugo Fischers sind leider nur wenige Phasen in Umrissen bekannt, erforscht und bearbeitet ist so gut wie nichts. Vielleicht wird sich das mit der Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Ernst Jünger einmal ändern, die zumindest denkbar ist.

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mer wieder gastrosophisch oder auch architektural überformt – zu nennen sind etwa das ‚Schmausen‘ oder der ‚Gewölbebau‘. Wenn diese Arbeit tatsächlich einmal ‚Studium‘ genannt wird, dann werden gerade nicht Bücher studiert, sondern ‚Ereignisse‘ oder ‚Phänomene‘. Man denke nur an das berühmte ‚Studium der Attentate‘ in den 1949 veröffentlichten ‚Strahlungen‘, das einer Unterredung mit Karl Heinrich von Stülpnagel über die Möglichkeit des Tyrannenmords an Hitler vorausging.23 Die gelehrte Methode, als operativer Kern des Schreibens, wird bei Jünger in Natur- oder Baugeschichte, in Physiologie oder Weisheitswissen, in Gastrosophie oder Existenzielles übersetzt. Systematisches Exzerpieren kommt nicht vor. Gerade deshalb möchte ich die von ihm in der Bausteineund Bienenbildlichkeit angedeutete Überschneidung zwischen der Tätigkeit des Gelehrten und der Tätigkeit des Diaristen für seine spätere Kommentartätigkeit in politicis hervorheben.

4. Kultur- bzw. Zivilisationskritik als Medien- bzw. Technikkritik ist ja nicht einfach ein gesonderter Teil des Jüngerschen Werks, den einzelne Titel dann besonders eindrucksvoll und plausibel abdecken – wie etwa der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt von 1932 oder Philemon und Baucis. Der Tod in der mythischen und in der technischen Welt von 1972. Kulturkritik ist auch nicht einfach ein unvermeidliches, der Zeit, der Erziehung oder dem Charakter geschuldetes besonderes Aroma in Jüngers Werk, um in der gastrosophischen Metaphorik zu sprechen. Kulturkritik ist aber auch keine spezifische geisterhafte Partizipation an einem Diskurs seit Rousseau oder Eichendorff, seit William Morris oder Ezra Pound.24 Es kann auch nicht darum gehen, diese Partizipation an einem übergeordneten kulturkritischen Diskurs mithilfe von Stellen mal in diese, mal in jene Richtung zu belegen. Jünger abwechselnd mal mehr des ‚Rousseauismus‘ und mal mehr des ‚Spenglerismus‘ zu bezichtigen, hilft allein schon deshalb nicht weiter, weil die Stellenverwaltung und -verschaltung Grundlage des einen wie des anderen wäre. Mein Vorschlag wäre, das ‚fleißige Mörtelbienchen‘ als Schnittpunkt von Gelehrsamkeit und Zeitdiagnostik ernst zu nehmen, zu denaturieren und damit die Stellenarbeit Jüngers zu beschreiben. Das hieße allerdings für mich, dass das notorisch zu späte diaristische Riesenwerk keine ‚Bruchstükke einer einzigen gewaltigen Confession‘ liefert, dass es auch keine ‚einzig23 24

Vgl. (aus intimer Kenntnis der Gespräche) Schramm, Wilhelm von: Der 20. Juli in Paris. Bad Wörishofen 1953, S. 20f. Vgl. Christians, Heiko: „Kulturkritik“. In: Lexikon literatur- und kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart 2008, S. 398f.

„In der Verzifferung sind die Amerikaner von jeher unsere Schrittmacher.“

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artige zusammenhängende Chronik des 20. Jahrhunderts‘ ist, sondern dass es – wie schon oft vermerkt wurde – in erster Linie ein Lektüretagebuch ist und sich sein Aus- und Aufbau aus einer spezifischen Arbeitsweise ergibt. Marshall McLuhan hat eine solche Technik in seinem Buch über ‚The Classical Trivium‘ von 1943 beschrieben, das ich hier zur weiteren Analyse anführen möchte. Ein enzyklopädisches Wissen, schreibt McLuhan, wird dabei „um basale Themen oder Örter der Argumentation“25 gruppiert. Wenn man die Jüngerschen Tagebücher in diesem Sinne als eine Topik, als eine Kette von Topikbüchlein beschriebe, müssten sie von folgenden offen oder versteckt liegenden Überschriften dominiert werden: ‚Über die Lage‘, ‚Über die Gefahr‘, ‚Über den Schmerz‘, ‚Über den großen Verzehr‘, ‚Über die Verzifferung‘, ‚Über die Uniformierung‘, ‚Über das Leben als Prüfung‘ usw.26 Das ginge auch gut mit dem Eindruck zusammen, dass diese Tagebücher – gerade der bundesrepublikanischen Zeit – bis heute massenhaft Stellen aus Korrespondenzen, anderen Tagebüchern, Zeitungen, Gedicht- und Essaybänden, Fachbüchern etc. speichern. Damit das aber nicht allzu deutlich wird, heißt der modus operandi, mit dem die Stellen dann eingeführt, aneinandergefügt, paraphrasiert und zugeordnet werden, oft auch überraschend anders: z. B. ‚Straßenstudien‘, ‚subtile Jagd‘, ‚Fischzug‘, ‚Kuriositätenfund‘, ‚Wachtraum‘ usw. Auch das Tagebuch-Format, in das diese Einträge eines distanzierten Zeitdiagnostikers überführt werden, ist vermeintlich ganz der verstreichenden Zeit der modernen Welt und nicht den festen Örtern der gelehrten Lektüre verpflichtet. Das hat viele Vorteile: Das Provisorische dieses Arbeitens wird nicht dem Format, sondern den Zeitläuften, der Moderne, angerechnet und so stapeln sich die Stellen auch nicht vorläufig unter den entsprechenden Rubriken in einem Hilfsformat für eine eventuelle spätere Verwendung in ausufernden Traktaten wie dem Arbeiter oder dem Waldgang von 1951. Sie gehen vielmehr als ‚soziologisierte‘ Örter in ein per definitionem fortlaufendes Diarium ein, zu dessen Veredelung und Kanonisierung als Gattung der Autor wesentlich beigetragen hat. Die fortlaufende Lektüre, die dem Tagebuch ganz offensichtlich mehr als das Reisen oder das bloße Beobachten zugrunde liegt, wird dabei entweder zur Lektüre von ‚wirklichen Oberflächen‘ und ‚zoologischen Mikrowelten‘ physiognomisch transzendiert, oder jene aus der Lektüre hervorgehenden Stellen werden in laufend unterbrochene kulturkritische Teilerzählungen wie jene ‚Über die zunehmende Abstraktheit und Verzifferung der Welt‘ in25 26

McLuhan, Marshall: The Classical Trivium. The Place of Thomas Nashe in the Learning of his Time. Corte Madera 2006, S. 41. Dazu ausführlich das Kapitel ‚Topik‘ in Christians, Heiko: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen. Berlin 1999, S. 72–111.

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tegriert und damit tatsächlich im Tagebuch elegant untereinander verbunden. Eines von Jüngers Lieblingsbildern, dasjenige von „Archipelen von submarinem Zusammenhang“,27 das er beispielsweise auf die eigene Schreibpraxis oder auch auf Hamanns Gesamtwerk anwendet, ist so ein genauer Spiegel seines Exzerpierens und seiner Stellenpolitik, die meines Erachtens auch den Schlüssel zur Struktur der Kulturkritik darstellt.28 Das Bild ist seinerseits eine Fortschreibung eines von Hamann verwendeten Bildes, mit dem jener – im Namen des Sokrates – Leser forderte, „welche schwimmen könnten“.29 Die ‚kritischen Orte der Moderne‘ stünden dann nämlich zuerst als Überschrift im Commonplacebook, bevor sie in die Wirklichkeit hineingesehen werden.30 Werden sie häufig genug aufgefunden und treten sie dann in die insinuierten submarinen Erzählzusammenhänge, dann sind sie vor den Augen der Leser ‚soziologische Wirklichkeit‘ und ‚zeitdiagnostisches Kommentarwerk zur Bundesrepublik Deutschland‘ geworden. Diese Vertauschung von Beobachtung bzw. Erfahrung und Lektüre hat ihren Niederschlag im Tagebuchwerk des Autors durchaus gefunden: Schauen wir auf das Tagebuch der ‚Atlantischen Fahrt‘. Es erschien mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 in einem Tübinger Verlag, nachdem seine Erstausgabe 1947 noch mit dem Vermerk ‚nur für Kriegsgefangene‘ in England gedruckt wurde. Fast gegen Ende des Reisetagebuchs lesen wir zur Technik des Exzerpierens zunächst folgendes, uns schon Bekanntes: Vormittags noch recht schöner Sonnenschein, den ich auf dem Promenadendeck genoß. Nachts Lichter an der Küste von Spanien. Lektüre: Gregorovius, „Wanderjahre in Italien“. Zum ersten Male vertiefe ich mich in diese Prosa, die ruhig und mit sicherer Kraft vorwärtsschreitet und so der Landschaftsschilderung im besonderen ange27

28

29

30

Aphorismus Nr. 65 des ‚Epigrammatischen Anhangs‘ in der Erstausgabe von Blätter und Steine lautet: „Hamann denkt in Archipelen von submarinem Zusammenhang.“ (Jünger, Ernst: Blätter und Steine. Hamburg 1934, S. 215–226, hier S. 222). Dieser Anhang wurde in den folgenden Auflagen verändert. Die 2. Auflage von 1941 hat u. a. etwa 20 der Epigramme ausgetauscht. Sie führt das betreffende nun als Nr. 87. (Vgl. auch Mühleisen, Horst: Bibliographie der Werke Ernst Jüngers. Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft Bd. 47. Stuttgart 1996, S. 36). Vgl. auch Figal, Günther: „Archipele von submarinem Zusammenhang. Ernst Jünger als Leser Hamanns“. In: Johann Georg Hamann: Der hellste Kopf seiner Zeit. Hg. v. Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 206–216. Das gesamte Bild Hamanns lautet wie folgt: „Bey dieser Gelegenheit redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten. Ein Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen in jener lebendigen Elegie vom Philosophen machte desselben Sätze zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten.“ (Hamann, Johann Georg: Schriften. Bd. 2. Hg. v. Friedrich von Roth. Berlin 1821–1843, S. 12). Vgl. zu den Commonplace Books Mertner, Edgar: „Topos und Commonplace“. In: Strena Anglica. Festschrift für O. Ritter. Hg. v. Gerhard Dietrich u. Fritz Willy Schulze. Halle 1956, S. 178–224.

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messen ist. Ein Kabinettstück ist das Kapitel über Capri. Zog zwei Zitate für Friedrich Georg aus – das eine betrifft Apollo, das andere die Ironie.31

Um zu erfahren, dass 1936 ‚nachts Lichter an der Küste von Spanien‘ glommen, müssen wir das Reisetagebuch der Atlantischen Fahrt von 1949 sicher nicht unbedingt lesen. Interessanter ist der Hinweis auf die Lektüre, die mit Exzerpten für Friedrich Georg endete, dessen Überschriften und Interessen Jünger zeit seines Lebens parat hatte oder sogar teilte: ‚Über die Ironie‘ und ‚Über Apollo‘.32

5. Wie genau Jünger aber dieses Vorgehen nach vorgefassten Überschriften reflektierte, zeigt erst – auf derselben Reise – sein kurzer Landgang in Casablanca und ein Ausflug zu einem nahen „auf nichtssagend europäische Weise gebauten Badeort“,33 wie es in einer etwas platteren Lesart dann kulturkritisch korrekt im Text heißt. Hier begibt Jünger sich – laut Tagebuch von 1949 – auf ‚subtile Jagd‘ und beschreibt diese dann so: Näher am Strande erscheinen die Gewächse der Düne und des weißen Sandes, darunter der hohe Nachtschatten mit den gelben Äpfelchen, der an den Wegen Siziliens so häufig ist und den schon Goethe in seiner „Italienischen Reise“ erwähnt. Hier sind die Früchte bedeutend stärker und reichen an die Größe einer Orange heran. Dies sind die Gründe für die subtile Jagd. Wie immer an solchen Tagen komme ich bereits mit einigen vorgefaßten ‚Ideen‘ und in der Hoffnung, sie zu verwirklichen.34

Das Wort ‚Ideen‘ schreibt er in Anführungsstrichen, denn es sind tatsächlich keine Ideen, sondern die praxisnäheren Überschriften einer kulturkritischen Topik, die ihn leiten. Mit der Lektüre der Goetheschen Reisebeschreibung im Hinterkopf geht es nun an die kunstvolle ‚Herausziehung‘ eines Topos ‚aus der Natur‘: So möchte ich Carabus Richteri erbeuten, den großen blauen Läufer, der nur in der Umgebung von Casablanca heimisch ist. Auch hege ich seit langem den Wunsch, eine der sonderbarsten Lebensmasken der Schöpfung, das Chamäleon, im Felde zu beobachten. Was den Carabus angeht, so dauert es nicht lange, bis er mir zum Opfer fällt. Mit dem Chamäleon dagegen will es nicht glücken. Mit dem Auffinden solcher Tiere verhält es sich wie mit gewissen Handgriffen; einmal gelungen, werden sie beliebig wiederholt. Der erste Anblick bricht den Bann und wir gewinnen Augen für sie. Gern hätte ich diesen Zeugen ferner Drachenzeiten einmal im Gezweig gesehen, wo er in kleinen Gruppen auf dem Anstand liegen soll, mit seinen zangenförmigen 31 32 33 34

Jünger, Ernst: „Atlantische Fahrt“. In: Sämtliche Werke. Bd. 6. Tagebücher VI. Reisetagebücher. Stuttgart 1982, S. 109–183, hier S. 182. Vgl. z. B. Jünger: Siebzig verweht IV, S. 161: „Die Automatenwelt ist durchaus nicht-apollinisch; daher spürt sie als ihren stärksten Gegner das Gedicht.“ Jünger: Atlantische Fahrt, S. 178. Ebd., S. 179.

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Füßen, den Teleskopaugen und der Zunge, die aus dem Munde wie ein Kolben aus dem Ventile schießt. Der starre Mechanismus solcher Wesen beunruhigt; man möchte meinen, daß der Tiegel der Schöpfung schon im Erkalten gewesen und so noch eine Reihe von Automaten ausgegossen worden sei.35

Das lebendige Reptil, das hier scheinbar von Anfang an deutlich wichtiger genommen wurde als der engere entomologische Aspekt des Carabus Richteri, ist bezeichnenderweise nicht ins Netz gegangen. Da es aber als kulturkritische Überschrift, genauer: als ‚technisch-starre Maskenhaftigkeit des modernen Lebens‘, im Topikbüchlein längst existierte, konnte gerade auch sein Nichterscheinen zum Anlass eines kurzen und ausgefeilten Eintrags werden, der noch im Arbeiter von 1932 ganze Kapitel füllte. Zur Erinnerung: Das Buch vom Arbeiter stand ja ausdrücklich unter dem Vorwort und der Vorgabe der „Einübung ein und desselben Zugriffes“.36 Auch dieser ‚Zugriff‘ dürfte vor allem mittels einer vorgeschalteten Themenliste eingeübt worden sein, selbst wenn Jünger – statt der ‚subtilen Jagd‘ zu frönen – hier pflichtbewusst und zeitbedingt „nach den Regeln des soldatischen Exerzitiums“37 methodisch vorzugehen gelobte. Doch noch ein letztes Mal zurück zur Atlantischen Fahrt in der Ausgabe von 1949. Der aggressive militärische Tenor der Modernitätskritik im Arbeiter ist hier ganz in die höchst subtile Aufbereitung des (wie es heißt) „im Felde“ ausgebliebenen Fundes aufgelöst. Wir sehen also, dass diese Topisierung der Natur, die Jünger als vorgefasste „‚Ideen‘“ in Anführungsstrichen ankündigt, de facto eine Weiterführung der Topik darstellt. Könnte das schreibtechnisch vielleicht heißen, dass, wenn von ‚Straßenstudien‘, ‚militärischen Exerzitien‘, vom ‚Studium der Ereignisse‘ oder ‚subtilen Jagden‘ die Rede ist, die Eintragungsörter oder Topoi so gefüllt und in der Wirklichkeit verankert werden, bis sie ausschnitthafte kulturkritische Schilderungen des Sozialen ergeben und glaubhaft darstellen? Die ‚Mörtelbiene‘ aber – als überspannende und aufschlussreiche Metapher solchen Arbeitens – hat in Jüngers Werk bald ausgedient. Genauer: Sie hat irgendwann ausgedient als niedliche Metapher einer fleißig-gelehrten schriftstellerischen Arbeitsweise und wird befördert. Eine Beförderung heißt in Jüngers Hierarchien aber, dass ihr ein metaphysischer Stellenwert zugesprochen wird und sie damit als unfreiwilliges Wappentierchen der TopikTradition ähnlich unsichtbar wird wie das wandlungsfähige, aber ausgebliebene Chamäleon. Bevor die Biene dann 1957 im gleichnamigen Buch gänzlich ‚gläsern‘ im Dienste der Technikkritik wird, beendet sie 1949 noch als eine kleine No-

35 36 37

Ebd., S. 179f. Jünger: Der Arbeiter, S. 7. Ebd.

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tiz die Atlantische Fahrt. In dieser Notiz wird aus Jüngers gelehrtem ‚Mosaik des Sisyphos‘ der kulturpessimistische ‚Turmbau zu Babel‘: Die Welt nimmt schauspielhaften Charakter an. Es schien mir übrigens in allen Teilen der Erde, die ich berührte, Unruhe fühlbar gleich dem feinen Summen von Bienenstöcken vor dem Schwarm. Hierzu ist auch die fieberhafte Errichtung von Bauten zu rechnen, der ich überall begegnete; sie trägt babylonische Kennzeichen.38

6. Da ich mit Jünger-Zitaten aus seinem hohen Alter begonnen habe, möchte ich – aus Gründen der Symmetrie – nun auch mit solchen schließen. Dem kommt entgegen, dass sich Jünger auch im Alter häufiger in die Werkstatt schauen ließ. Es bleibt ja schließlich noch die Frage zu beantworten, wo das kleine Jüngersche Topikbüchlein etwa sitzt, wenn die Stelle nicht unmittelbar und wörtlich ins Tagebuch eingeht, und wie er sich selbst damit in der Tradition eines solchen Schreibens und Arbeitens verortet. Dazu notiert er: Wilflingen, 18. November 1981. Umfangreiche Reisewerke, selbst die eines Humboldt, liest man, vor allem als Don Juan der Bücher, mit Spannung, doch kaum mehr als ein Mal. Man kann nicht alles behalten, gut sind Notizen auf den Leerseiten. Ein Gedankenjäger wie Rivarol hatte einen Beutel für Notizen am Bettpfosten, ein assoziierendes Genie wie Jean Paul stapelte Exzerpthefte – gewissermaßen als Kanzlist seines geistigen Guthabens. Karl Julius Weber war im zwölfbändigen ‚Demokritos‘ sein eigener Lexikograph. Bei manchen, wie beim Älteren Plinius und beim unermüdlichen Vehse, fragt man sich, wie sie es geschafft haben.39

Als Letztes könnte man nun fragen, wie gut Jünger selbst ‚es geschafft hat‘. Man muss festhalten, dass es gelegentlich Probleme mit der Stellenverwaltung im eigenen Werk gab. Auch das Verhältnis zur Bundesrepublik zeigte sich mehr als einmal als ein solches ‚Stellenproblem‘: Unter dem Datum des 5. Februars 1983 ist ein langer Brief an seinen damaligen französischen Übersetzer abgedruckt. Jünger schreibt ihm: Es hat lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, dass der Kernspruch ‚Ich hasse die Demokratie wie die Pest‘ tatsächlich von mir stammt. Mitarbeiter entdeckten ihn in der Erstauflage des ‚Wäldchens 125‘, er paßt also in meine frühen Zwanziger. Den Text habe ich dann ‚gesäubert‘. Diese Streichungen stammen nicht etwa aus der Zeit nach 1945, sondern geschahen kurz vor oder nach 1933.40

Die Streichung einer Stelle, mit der sich Jünger den Nationalsozialisten zweifellos empfohlen hätte, ausgerechnet zum Zeitpunkt ihrer Machtübernahme, verwandelte Jünger, wie auch die Fortsetzung der zitierten Stelle sofort zeigen würde, nicht automatisch in einen Demokraten für die zweite Jahrhunderthälfte. Die Streichung zeigt aber, dass der Autor ein ‚Gespür für Stellen‘ hatte 38 39 40

Jünger: Atlantische Fahrt, S. 181. Jünger: Siebzig verweht III, S. 96ff. Ebd., S. 248.

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und genau wusste, dass das ‚Herausziehen‘ derselben von je her sowohl zum Kerngeschäft des entrückten Zeitdiagnostikers wie auch des polemischen Agitators gehörte. Was schließlich aus der titelgebenden ‚Verzifferung‘ wurde, können wir 1990 seinem Buch Die Schere entnehmen: „Die Ursachen der Verzifferung sind klimatisch; sie sind unterhalb der politischen Sphäre zu suchen, ja unterhalb der Sprache selbst.“41 In einer Art Naturalisierung der zweiten Stufe zog Jünger sich schon früher aus der ‚Weltgeschichte‘ in die ‚Erdgeschichte‘ zurück, wie er dann am 18. Januar 1981 in Paris diese Rückzugsbewegung bereits resümierend notierte. Damit wechselten nicht unbedingt die Überschriften oder ‚Ideen‘, unter denen er sammelte, aber die Einträge wurden nun anders ausgelegt.

Literaturverzeichnis Christians, Heiko: „Gesicht, Gestalt, Ornament: Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), H. 1, S. 84–110. Christians, Heiko: „Kulturkritik“. In: Lexikon literatur- und kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart 2008. Christians, Heiko: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen. Berlin 1999. Figal, Günther: „Archipele von submarinem Zusammenhang. Ernst Jünger als Leser Hamanns“. In: Johann Georg Hamann: Der hellste Kopf seiner Zeit. Hg. v. Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 206–216. Gajek, Bernhard: „Magister – Nigromontan – Schwarzenberg. Ernst Jünger und Hugo Fischer“. In: Revue de littérature comparée 71 (1997), H. 4, S. 479–500 und S. 540f. Goetsch, Paul: „Von Bücherwürmern und Leseratten. Der Motivkomplex Lesen und Essen“. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 37 (1996), S. 381–406. Hamann, Johann Georg: Schriften. Bd. 2. Hg. v. Friedrich von Roth. Berlin 1821–1843. Jünger, Ernst: „Atlantische Fahrt“. In: Sämtliche Werke. Bd. 6. Tagebücher VI. Reisetagebücher. Stuttgart 1982, S. 109–183. Jünger, Ernst: „Autor und Autorschaft“ (1984). In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Essays IX. Fassungen III. Stuttgart 1999, S. 9–266. Jünger, Ernst: Blätter und Steine. Hamburg 1934. Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Hamburg 1932. Jünger, Ernst: Myrdun. Briefe aus Norwegen. Einmalige Feldausgabe für die Soldaten im Bereich des Wehrmachtbefehlshabers in Norwegen. Oslo 1943. Jünger, Ernst: Die Schere. 2. Aufl. Stuttgart 1990. Jünger, Ernst: Siebzig verweht III. Stuttgart 1993. Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV. Stuttgart 1995. Jünger, Ernst: Siebzig verweht V. Stuttgart 1997. McLuhan, Marshall: The Classical Trivium. The Place of Thomas Nashe in the Learning of his Time. Corte Madera 2006. 41

Jünger, Ernst: Die Schere. Stuttgart 1990, S. 53.

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Mertner, Edgar: „Topos und Commonplace“. In: Strena Anglica. Festschrift für O. Ritter. Hg. v. Gerhard Dietrich u. Fritz Willy Schulze. Halle 1956, S. 178–224. Mühleisen, Horst: Bibliographie der Werke Ernst Jüngers. Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft Bd. 47. Stuttgart 1996. Rosenstock, Eugen: Die europäischen Revolutionen. Jena 1931. Rutschky, Michael: Wie wir alle Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte. Berlin 2004. Schramm, Wilhelm von: Der 20. Juli in Paris. Bad Wörishofen 1953. Sternberger, Dolf: „Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie (1932/34)“. In: Über den Tod. Frankfurt a.M. 1981, S. 69–265.

„Der reinste Ausdruck unserer Lage.“

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„Der reinste Ausdruck unserer Lage.“ Der Kessel als literarischer Chronotopos und existenzphilosophische Metapher bei Theodor Plievier und Ernst Jünger 1. Die Kesselschlacht gilt als eines der charakteristischen Merkmale des Zweiten Weltkriegs und als Spezifikum des Feldzugs der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion. Im Rahmen des ideologisch motivierten Vernichtungskriegs wurde mit dem „Verfahren von Keil und Kessel“ eine lange preußische Tradition der „Idee der völligen Einkreisung“ zur Auslöschung des Gegners realisiert, wie der emigrierte deutsche Militärhistoriker Herbert Rosinski bereits 1944 zeigte.1 Im selben Maße wie die deutschen Aggressoren die Taktik der militärischen Umklammerung auf ihrem Vormarsch nach Russland trugen, vollzog sich auch die Zurückdrängung der Wehrmacht seit Stalingrad 1942/ 1943 als Abfolge blutiger Umfassungsschlachten, die das klassische Prinzip einer zusammenhängenden Front aufhoben. Was in frühen nationalsozialistischen Propagandawerken zum Russlandfeldzug noch als Beleg für die militärische Überlegenheit und den soldatischen Willen der Deutschen gefeiert worden war,2 kehrt sich in der Kriegsliteratur nach 1945 entsprechend um. Romane wie Richard Hasemanns Gejagt (1953), Michael Horbachs Die verratenen Söhne (1957) oder Wolfgang W. Parths Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück (1958), aber auch der in der DDR erschienene Erstling von Erich Loest Jungen, die übrig blieben (1949/50) schildern das Zurückweichen der Deutschen in drastischen Bildern als fortgesetzte Fluchtbewegungen aus den permanenten Zangenoperationen einer russischen Übermacht. Die Einkesselung lässt sich somit zu den kollektiv erfahrenen „Ereignisstrukturen“ (Reinhart Kosselleck)3 der Soldaten des Zweiten Weltkriegs 1

2

3

Rosinski, Herbert: Die deutsche Armee. Eine Analyse. Düsseldorf, Wien 1970, S. 286. Vgl. Reemtsma, Jan Philipp: „Die Idee des Vernichtungskrieges: Clausewitz – Ludendorff – Hitler“. In: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944. Hg. v. Hannes Heer u. Klaus Naumann. 2. Aufl. Hamburg 1995, S. 377–401. Vgl. Renner, Rolf Günter: „Hirn und Herz: Stalingrad als Gegenstand ideologischer und literarischer Diskurse“. In: Stalingrad. Ereignis – Wirkung – Symbol. Hg. v. Jürgen Förster. München, Zürich 1992, S. 472–492. Zum Begriff vgl. Koselleck, Reinhart: „Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein“. In: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. Hg. v. Wolfram Wette. München, Zürich 1992, S. 324–343.

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zählen. In der bereits durch die Nationalsozialisten angeregten Mythisierung der Schlacht um Stalingrad fand diese Erfahrungsdimension des östlichen Kriegsschauplatzes nach 1945 Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen.4 Fortan stand der Kessel im Allgemeinen und Stalingrad im Besonderen sinnbildlich für die angeblich ausweglose Lage des deutschen Landsers im nationalsozialistischen Krieg. Wolfgang Borchert nahm diese Denktradition auf prägnante Weise vorweg: „Jeder von uns ist durch Stalingrad gegangen, durch ein großes oder kleines.“5 Als literarischer Chronotopos und existenzphilosophische Metapher diente der Kessel zur raumsemantischen Auskleidung dieses Opfernarrativs, das sich durch die westdeutschen Kriegsromane der 1950er Jahre zieht. Zwei Autoren, und das wird im Folgenden zu zeigen sein, haben als Ideen- beziehungsweise Stichwortgeber wesentlich zu der Hypertrophierung des Kessel-Paradigmas beigetragen: Theodor Plievier und Ernst Jünger. Plieviers epochaler Stalingrad-Roman hatte erheblichen Anteil an der Stilisierung Stalingrads als „Geschichtszeichen“ (Helmut Lethen)6 und etablierte die narrative Konfiguration des Chronotopos „Kessel“. Dies zeigt nicht zuletzt eine ganze Reihe von Werken über Kesselschlachten, die auf jene Erzählverfahren und Deutungsmuster zurückgreifen, welche im Folgenden in Anlehnung an Bachtins chronotopisches Analysemodell aufzuzeigen sind. Zu nennen wären neben den beiden weiteren epischen Stalingrad-Verarbeitungen von Heinrich Gerlach und Fritz Wöss, Die verratene Armee (1957) und Hunde, wollt ihr ewig leben (1958), insbesondere Reinhard Hauschilds Roman über die in Ostpreußen eingekesselte Armee plus minus null? (1952) und Herbert Zands parabolischer Text Letzte Ausfahrt. Roman der Eingekesselten (1953). Mit Herbert Zands Roman ist ein Textbeispiel genannt, dass die chronotopische Inszenierung der Kesselschlacht durchwebt mit einem eng an Ernst Jüngers Auseinandersetzung mit dem Phänomen orientierten existenzphilosophischen Diskurs: „Jeder ist sein eigener Kessel und seine eigene Kesselschlacht und keiner kapituliert, eher er nicht vernichtet wird mit der Gewalt des Übermächtigen“, stellt dort einer der Protagonisten das zentrale Dilemma der eingeschlossenen Individuen heraus.7 Ernst Jünger ist es, der

4

5 6 7

Vgl. Wegner, Bernd: „Der Mythos ,Stalingrad‘ (19. November 1942–2. Februar 1943)“. In: Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung. Hg. v. Gerd Krumeich u. Susanne Brandt. Köln u. a. 2003, S. 183–197; Wrochem, Oliver von: „Stalingrad im Nachkriegsgedächtnis – Ereignis und Erinnerung im Wandel“. In: Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität. Hg. v. Harald Schmid u. Justyna Krzymianowska. Würzburg 2007, S. 132–149. Borchert, Wolfgang: „Stalingrad“. in: Hamburger Freie Presse (25.09.1946). o.S. Lethen, Helmut: „Stalingrad als Geschichtszeichen“. In: Geschichtszeichen. Hg. v. Heinz-Dieter Kittsteiner. Köln u. a. 1999, S. 153–180. Zand, Herbert: Letzte Ausfahrt. Roman der Eingekesselten. Wien, Zürich 1992, S. 154.

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in seinen Tagebüchern und Essays nach 1945 der Metapher vom Kessel die generalisierende Bedeutung einer Epochensignatur zuschreibt. Dabei dehnt er die Semantik des Lexems. Die existentielle Grundsituation, die hier als mehrschichtiges „Prinzip des Eingekesseltseins“ bezeichnet werden soll, bezieht sich vor allem auch – und das wäre als Spezifikum der Kriegsliteratur zum Zweiten Weltkrieg festzuhalten – auf die Bedrohung durch den ‚hausgemachten‘ Feind im Rücken des Soldaten. Wenn Heinrich Bölls Reflektorfigur Andreas aus der Erzählung Der Zug war pünktlich (1949) trotz der Gewissheit, an der Ostfront zu sterben, nicht desertiert, so aus dem Bewusstsein dieser paradigmatischen Ausweglosigkeit des Landsers: Ich könnte hier aussteigen, irgendwohin gehen, irgendwohin, immer weiter, bis sie mich schnappten, an die Wand stellten, und ich würde nicht zwischen Lemberg und Czernowitz sterben, ich würde in irgendeinem sächsischen Nest niedergeschossen oder in einem Konzentrationslager verrecken.8

Für Jünger materialisiert sich in der Gestalt des eingekesselten Soldaten das den Vernichtungstendenzen der übersteigerten „Totalen Mobilmachung“ ausgelieferte Individuum als zentraler Bezugspunkt seiner angesichts der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs modifizierten Auseinandersetzung mit Moderne und Modernisierung. In Hans Werner Richters Roman Die Geschlagenen (1949) dagegen, um nur ein weiteres prominentes Beispiel zu nennen, wird die Situation des Eingeschlossenseins zum apologetischen Sinnbild für die Lage aller Deutschen im Totalitarismus. Richters Protagonist Gühler antwortet im Verhör auf die Frage des amerikanischen Heeresdolmetschers, warum seine Gruppe im amerikanischen Trommelfeuer trotz erheblicher Verluste nicht eher kapituliert habe, als bis es zur Gefangennahme im eigenen Stellungsloch kam: „Wenn jemand nicht zurück darf und nicht vorwärts kann, bleibt er in der Mitte liegen. […] Hinter uns standen die Bäume, an denen wir gehangen hätten, und vor uns war die Artillerie.“ Sodann vergleicht er diese Zwangslage mit den Zuständen in Deutschland selbst: „Das deutsche Volk ist in der gleichen Lage wie wir an der Front. In einem Trommelfeuer gibt es noch immer die Möglichkeit, mit dem Leben davonzukommen. Vor einem Erschießungskommando gibt es diese Möglichkeit nicht.“9 Die wenigen kursorischen Verweise auf Texte der (Nach-)Kriegsliteratur mögen an dieser Stelle genügen, um zu belegen, dass eine vergleichende Lektüre der Schriften von Theodor Plievier und Ernst Jünger aus der Nachkriegszeit von einigem Gewinn sein kann für die Forschung zur kulturellen Verarbeitung von Krieg und Diktatur in der frühen Bundesrepublik. Die beiden Autoren sind hierfür auch deshalb interessant, weil sie gemeinhin zwei unterschiedlichen ideologischen Lagern zugeordnet werden, in ihrer 8 9

Böll, Heinrich: „Der Zug war pünktlich“. In: Werke. Kölner Ausgabe, Bd. 4. Hg. v. Hans Joachim Bernhard. Köln 2003, S. 294–402, hier S. 309. Richter, Hans Werner: Die Geschlagenen. München 1985, S. 123.

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Perspektivierung des Kriegsgeschehens aber signifikante Kongruenzen aufscheinen lassen.

2. Der Kessel als operativer Raum der Kriegsgeschichte, mythischer Erinnerungsort und epischer Chronotopos trat mit Theodor Plieviers dokumentarischem Stalingrad-Roman bereits unmittelbar nach Kriegsende ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit. Noch 1945 erstmals in einer deutschen Ausgabe aufgelegt, gehört das Epos um den Untergang der 6. Armee zu den meistdiskutierten und meistverkauften literarischen Werken der Nachkriegszeit. In zweierlei Hinsicht kann es als Schlüsseltext für die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs in der frühen Bundesrepublik gelten. Indem sich die Lesart, die Plievier anbot, auf das gesamte Kriegsgeschehen, zumal die Entwicklung im Osten, anwenden ließ, wurde der Roman meinungsbildend. Michael Kumpfmüller zeigt in seiner profunden Darstellung zu den Varianten des „Mythos Stalingrad“ die Deutungshoheit über das Ereignis auf, die sich Plievier mit seinem Gegenentwurf zu den nationalsozialistischen Bemühungen um eine Mythenbildung erschrieben hat.10 Auf die Versuche der Nazis, Stalingrad in Anknüpfung an die Spartaner- und Nibelungentradition als Heldenepos zu inszenieren,11 antwortete Plievier mit der epischen Ausgestaltung der Schlacht zu einer Tragödie um Schuld und Sühne. Es war dieser von Plievier begründete „Untergangsmythos“ (Kumpfmüller), der den Kriegsdiskurs der Nachkriegszeit prägte und sich in das kollektive Gedächtnis der frühen Bundesrepublik einschrieb. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich demgegenüber auf die narratologischen Aspekte des Romans. Die Art und Weise, wie Plievier dieser Lesart der Kesselschlacht narrative Gestalt gab, das Zusammenspiel von dokumentarischem Anspruch und „dichterischer Schau“12, etablierte sich als Maßstab für den Realismus der littérature engagée jüngerer Autoren.13 Für wesentliche Züge des Kriegsromans nach 1945 erweist sie sich deshalb als modellbildend. Gerade am Beispiel von Stalingrad wird deutlich, dass sich der ereignisbezogene Authentizitätsanspruch von Kriegsliteratur keineswegs un10 11

12 13

Kumpfmüller, Michael: Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines Mythos. München 1995, S. 89. Wegner: Mythos, S. 188. Zur Anverwandlung der Thermopylenschlacht in Deutschland vgl. auch Albertz, Anuschka: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart. München 2006. Hermann, Hans H.: „Der Dichter und die Katastrophe. Ein Gespräch mit Theodor Plievier“. In: Der Ruf 2 (1947), H. 16, S. 3. Vgl. etwa Alfred Anderschs Würdigung des Romans im Rahmen seiner poetologischen Bestandsaufnahme von 1948 als „das erste große Kunstwerk der deutschen Nachkriegsliteratur“ (Andersch, Alfred: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Karlsruhe o.J. [1948], S. 22).

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weigerlich in einer Rhetorik der Defiktionalisierung erschöpft, wie Rainer Leschke behauptet.14 Im Gegenteil ist der Kessel nicht als bloßer (historischer) Schauplatz, sondern als eine erzähltechnische Größe zu verstehen, die einen ganz erheblichen Anteil an der Rezeptionssteuerung hat. Wohl kein Chronotopos illustriert Bachtins Lehrsatz von der Interdependenz von Temporalität und Topizität in literarischen Texten so eindrücklich wie die Verbindung von zeitlicher Beschleunigung und Raumschwund, die den Kessel konfiguriert.15 Drei Aspekte der Zeitdimension in Stalingrad sind in dieser Hinsicht bemerkenswert: Zunächst unterzieht Plievier die historische Dimension der Kesselschlacht einer signifikanten Reduktion. Er verschweigt Vorgeschichte und Kontext der Schlacht und auch die Zeit nach der Kapitulation wird nicht berührt. Tatsächlich beginnt der Text in medias res mit der Einführung eines der beiden Protagonisten, dem Unteroffizier August Gnotke – „Und da war Gnotke“ –, und endet mit dem Auszug der Überlebenden aus der Ruinenstadt, dessen „Marschband“ sich in einer Panoramaperspektive über den menschenverlassenen Schauplatz verliert.16 Mit der Schließung des Kessels setzt das Romangeschehen folglich in einem Moment ein, in dem die deutschen Aggressoren zu Verteidigern geworden sind.17 Eine ähnlich verkürzte Zeitdimension gilt auch für die Figurenzeichnung. Plievier verzichtet auf die Entwicklung der Charaktere aus elaborierten Lebensläufen: „Seine Vergangenheit“, so heißt es über Gnotke entsprechend knapp weiter, „war […] abgerissen und seine Gegenwart war ohne Umkreis.“ Dies gilt für die ganze Armee, wie der heterodiegetisch-extradiegetische Erzähler gegen Romanende zusammenfasst: „Dieses Soldatenvolk war ,fertig‘, […] war ohne Vergangenheit und ohne Zukunft.“18 So wie der Schauplatz außerhalb eines historischen Kontinuums angesiedelt erscheint, gilt auch innerhalb des Kessels ein eigenes chronometrisches Gesetz. Die „Kesselzeit“ – narratologisch unterstrichen etwa durch das Alternieren von epischem Präteritum und historischem Präsens sowie der Tendenz zu Parataxen kurzer Sätze und Schlagwörter – verkürzt sich für die Figuren auf eine Existenz des bloßen Augenblicks.

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17 18

Vgl. Leschke, Rainer: „Kriegerische Opfer. Von den Verlusten der Kriegserzählung“. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Hg. v. Lars Koch u. Marianne Vogel. Würzburg 2007, S. 98–117. Vgl. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Frankfurt a.M. 2008. Plievier, Theodor: Stalingrad. Köln 2001, hier S. 9, S. 431. Die Ansprache des Generalstabsoffiziers, die am Beginn der ersten Fassung als eine Art Vorwort steht, hat Plievier in der veränderten Buchfassung von 1945 weggelassen (vgl. das Nachwort von Hans-Harald Müller in: ebd., S. 435–456). Erst im Folgeroman von 1952 über die scheiternde Schlacht vor Moskau holt Plievier die Darstellung des deutschen Angriffskrieges nach. Plievier: Stalingrad, S. 17, S. 404.

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Dem entspricht die Destruktion des chronologischen Erzählprinzips zugunsten eines Verfahrens, das die Simulation „parataktischer Gleichzeitigkeit“ intendiert und damit nicht zufällig an die Wirkungsästhetik des Mediums Film erinnert.19 Besonders augenfällig werden die Anleihen bei Schnitttechnik und alternierender Montage an wiederholt auftretenden Passagen, die über repetitive Syntagmen gegliedert werden.20 Darüber hinaus – und dies trägt zum Eindruck zeitlicher Beschleunigung hauptsächlich bei – nimmt die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit mit der Schilderung der gesteigerten Vernichtung bei reduzierten Raumverhältnissen zu, insofern sich die „detailliert simultane“ mit einer „detailliert sukzessiven“ Darstellung überlagert.21 So verwischen sich über weite Strecken die zeitlichen Relationen zwischen der Vielzahl von korrelativen Handlungssträngen und eingestreuten Erzählminiaturen, wäre da nicht die übergeordnete chronotopische Konstante der ablaufenden Frist des enger werdenden Raums: So maß die am Wolgaufer verlaufende Basis des Kessels an 30 Kilometer und in der Tiefe […] betrug die Strecke noch an 40 Kilometer. Das war ein Zustand auf Zeit und abgesehen von der Linie an der Wolga war es ein Zustand, der sich an jedem Tag vom Abend bis zu[m] Morgen veränderte.22

Minutiös registriert der Erzähler auch den fortschreitenden Raumschwund. Dieser geht einher mit der allmählichen Auflösung des deutschen Verteidigungsringes und der konstanten Bewegung der Reste der Armee auf das Zentrum des Kessels hin: „Weiter. Der Kessel enger. Männer sterben ungezählt. […] Auf enger werdendem Raum ziehen sie sich konzentrisch auf die Mitte zurück […].“23 Das bedeutsame topologische Gegensatzpaar von Zentrum und Peripherie verweist auf die spezifische Raumsemantik der erzählten Welt. Die Teilbereiche Umfassungsring – Verteidigungslinie – Hauptquartier markieren dabei die wichtigsten räumlichen Strukturelemente des quasi-zirkulären semantischen Feldes. Als unaufhaltsam kontrahierende Ränder der erzählten Welt sind die russischen Umfassungskräfte Teil des chronotopischen Prinzips. Plievier stellt die Einkesselung der deutschen Truppen entsprechend als ein Ausgeliefertsein an eine schicksalhafte, nur durch ihre Vernichtungsgewalt in Erscheinung tretende Macht dar. 19

20 21

22 23

Vgl. Nickel, Gunther: „Faction – Theodor Plievier: Stalingrad (1945)“. In: Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hg. v. Hans Wagener. Amsterdam, Atlanta 1997, S. 49–62, hier S. 56, der zurecht auf Plieviers literarische Sozialisation im Umfeld der Neuen Sachlichkeit hinweist. Vgl. Plievier: Stalingrad, S. 167–172: „Und da gab es […] Da gab es […] Da war […] Da gab es“ usf. Kumpfmüller: Schlacht, S. 118. Vgl. Plievier: Stalingrad, S. 138f., 166–172, 191–195, 327–371. Die zunehmende Ausweitung der Erzählzeit und die Steigerung des synchronischen Erzählprinzips sind bereits an dem wachsenden Seitenumfang ablesbar, den Plievier Abschnitten mit Ereignissen und Ereignisgruppen von geringem zeitlichen Umfang einräumt. Plievier: Stalingrad, S. 104f. Ebd., S. 265f., vgl. ebd. S. 26, S. 33, S. 56, S. 69f., S. 98, S. 136f., S. 157, S. 161, S. 199, S. 217.

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Man mußte sich auf dem Beobachtungsstand des Regiments befinden, um das Mündungsfeuer der russischen Geschütze sehen zu können und […] schaudernd zu begreifen, daß […] die westliche Hälfte des Kessels […] von einem feuernden Halbkreis umgeben und in eine klammernde Faust genommen war.24

Aus der Vogelperspektive des Erzählers als undurchdringbar tödlicher Einhegungswall eines schrumpfenden Terrains beschrieben, bedeuten die Umfassungslinien für die Eingeschlossenen mithin die Grenzen des näher rükkenden natürlichen wie kognitiven Horizonts und werden entsprechend mit Katastrophen-Metaphern bedacht.25 Mehrfach finden sich die Initiativen des Gegners derart aus der fließend mit Erzählerkommentaren alternierenden Wahrnehmung der Hauptfigur Gnotke beschrieben: Dreieinhalb Stunden fällt der Katarakt aus Eisen und Rauch und Feuer aus dem Himmel. Und nicht das Ende, ein Höhepunkt in der Stufen- und Tonleiter des Grauens ist erreicht. Himmel und Erde erstarren und man darf nicht atmen, man muß ganz klein sein. […] Und da ist es: eisernes Dröhnen, Rasseln von Ketten, Aufdröhnen der gefrorenen Erde, Hauch von heißem Öl, herabfallende Finsternis […] Die Panzer rollen über die Hockgräber weg. […] Artillerie, Granatwerfer, Panzer – eine ganze Maschinerie der Hölle […], hier ist sie in den herausgeforderten Dimensionen und rollt über deutsche Soldaten weg, die verholzt, versteinert, eingeschrumpft wie Mumien in der Erde hocken. Die Panzer sind durch. Eine neue Welle der Stille […] dauert bis Menschen hörbar werden. […] Aufheulen. Ein tierisches Geschrei, eine anstürmende Woge. Und jetzt hoch! Die steifen Glieder bewegen, auf tauben Füßen stehen, auf tauben Füßen laufen…26

Gegenüber dieser Naturgewalten ähnlichen Bedrohung sind die Figuren zur hilflosen Passivität verdammt.27 Angesichts der chronotopischen Dynamik des Kessels ist die sukzessive Fluchtbewegung der versprengten Truppenteile

24 25 26

27

Ebd., S. 56. „Mondlandschaft“/„Mondstadt“ (ebd., S. 21, S. 329), „Topf des Sterbens“ (ebd., S. 113), „apokalyptisches Land“ (ebd., S. 130), „Stalingrader Plantagen des Todes“ (ebd., S. 234, S. 251), usf. Ebd., S. 179; vgl. insbesondere auch ebd., S. 19: „Die Erde, der Himmel! Der Himmel brennt, im Norden und auch über dem Don. Der Himmel über den Sümpfen und über der Donniederung ist nicht mehr weiße Milch, ist aufbrodelndes dickes Blut.“ Kurz danach erscheint Gnotke die Einschließungsbewegung in Form von Naturgewalten: „Er lag in der Erdspalte. Links begannen die sich zum Don hinziehenden Sümpfe und Treibsände […] Voraus lagen die Linie der deutschen […] Batteriestellungen; darüber hinaus, unter Wolken und Rauchfetzen, waren russische Stellungen zu erkennen, aber nicht auf lange, sie hüllten sich in eine brodelnde Rauchbank, in der rostrote Flecken aufglühten […] sie fransten den Himmel aus, sie erhoben sich zu einer Steilküste aus rotem Feuer“ (ebd., S. 20f.). Feindliche Soldaten treten in kaum einer Passage als Akteure auf. Den deutschen Soldaten steht stattdessen eine personalisierte, in ihren Effekten mit Naturgewalten gleichgesetzte Kriegsmaschinerie gegenüber. Diese Wahrnehmung wird in Plieviers Moskau-Roman expliziert: „,Wir schaffen es nicht, das nimmt kein Ende…‘ Panzerleutnant Vohwinkel gab durch den Funk nach hinten: ,Am Waldrand eine neue Welle, man verliert jede Übersicht!‘ ,Ja, das ist schon ein Naturereignis‘, kam es zurück. […] Neue Wellen kamen hoch, das ganze Feld, soweit es zu übersehen war, voller

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Richtung Kesselzentrum zwangsläufig ein bloßes Hinausschieben des vorgezeichneten Endes. Die Kapitulation und Gefangennahme der Überlebenden erfolgt in einem auf wenige Kellerlöcher reduzierten Erzählraum.

3. Der Einschließungsring bildet den Rahmen für die zentrale, ihrerseits todbringende Konfliktlinie des Romans. Diese ist zwischen Kesselzentrum, also dem Hauptquartier der Armee, und den Verteidigungslinien gezogen. Plieviers zweiter Protagonist, die zentrale Kommentatorfigur und Fokalisierungsinstanz Oberst Manfred Vilshofen, weist immer wieder in aller Deutlichkeit darauf hin.28 Die „Diskrepanz zwischen Front und Führung“29 ergibt sich aus dem militärischen Grundkonflikt zwischen den absenten weisungsbefugten und verantwortungslos entscheidenden Stabstaktikern im Bunker und den präsenten verantwortungsbewussten, in ihren Handlungen aber weisungsgebundenen Frontpraktikern in den vordersten Linien. Im selben Maß, wie sich die Einflusssphäre der Armeeleitung verengt, zieht sich diese in sich selbst zurück und igelt sich innerhalb des Stalingrader Kellersystems in einer hermetischen Scheinwelt ein. Sowenig die Kulisse aus „Ehre, Preußentum und Haltung“30 jedoch die Erosion ebendieser Wertmaßstäbe zu verbergen vermag, so fatal wirkt sich die Befehlsgewalt aus, die diesem entarteten Denksystem bis zum Schluss entwächst. Die Generäle im Bunker lesen Goethe und blättern in Gesangbüchern; andere spielen Flöte.31 Gleichzeitig lassen sie die Notunterkünfte und Lazarette nach Menschenmaterial durchkämmen und zwingen halbverhungerte und invalide Soldaten in sinnlose Todeskommandos. Vilshofen: „Vorn geht alles zu Bruch, vorn fällt alles. Hinten wird reingegriffen. Vorn ist die Welt des Untergangs. Hinten moralisches und physisches Verkommen.“32 Das globale Kesselprinzip überträgt sich auf die Zustände innerhalb des belagerten Terrains. Der Einflussbereich der Armeeführung „ist einerseits von einem weiten (feindlichen) Raum umgeben, andererseits wird er selbst

28

29 30 31 32

Menschen. ,Das kann man nicht mehr totschießen!‘“ (Plievier, Theodor: Moskau. Köln 1991, S. 239f.). Die Kommentatorrolle wird Vilshofen vom Erzähler explizit zugeteilt: „ Es bedurfte eines Vilshofen und des Stromes aus seinem Munde, […] um Gedanken auf die Spitze zu treiben […] Und vielleicht war er nichts als die Stimme dieser Stadt […] die Stimme der Stalingrader Höhlen und Keller und die Stimme des Marsches mit dem Rücken nach Stalingrad […] was niemals ein Soldat ausgesprochen […], er sprach es aus“ (Plievier: Stalingrad, S. 320). Ebd., S. 313. Bernig, Jörg: Eingekesselt. Die Schlacht um Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945. New York u. a. 1997, S. 28. Plievier: Stalingrad, S. 330. Ebd., S. 314.

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zur (feindlichen) Umgebung einer Vielzahl von kleineren Räumen“.33 Die Autoritäten entpuppen sich als entscheidender Gegner im Rücken der Soldaten. Auffangkommandos der Militärpolizei treiben jeden halbwegs einsatzfähigen Landser mit vorgehaltener Waffe vor die Russen: „eine russische Kugel oder aber auch den Blick eines deutschen Feldjägers“ auf sich zu ziehen, für den eingeschlossenen Soldaten „war das eine ebenso schlimm wie das andere.“34 Das Terrorsystem der Feldgendarmerie setzt die Soldaten in nochmals verengten Fronten fest, vor sich die russischen Truppen, hinter sich die Erfassungs- und Exekutionskommandos, aber auch Gruppen letzter Kriegsfanatiker: „Die Armee hatte für ihre Männer nur das Grab vorgesehen und hatte dahin gewirtschaftet“, resümiert der Erzähler.35 Von vornherein macht der Roman deutlich, dass der schrumpfende Kessel die Atomisierung des eingeschlossenen Kollektivs zur Folge hat. So gleicht die massenhafte Fluchtbewegung ins Kesselzentrum einem „Sturz ins Chaos“;36 die „Agonie einer Armee“ mündet in einen bellum omnium contra omnes: „keiner hilft dem anderen […], so tief ist unser Sturz, so tief sind wir gefallen. […] Wir sterben um nichts…“, kommentiert ein verwundeter Hauptmann die Rücksichtslosigkeiten des Rückzugs.37 Inmitten des Zusammenbruchs ist das Individuum in seiner persönlichen Kesselsituation gefangen und auf sich alleingestellt: „Voraus und im Rücken, rechts und links, unter den Füßen und in der Luft, hier war Front.“38 Die vielen Handlungsstränge und unzähligen narrativen Momentaufnahmen, vor allem aber die Multifokalisierung, die die Einzelereignisse aus dem Bewusstsein der leidenden Figuren heraus perspektiviert, unterstreichen das zentrale Thema des Romans, die Lage des Individuums in der Katastrophe. Für diese Zustände macht Vilshofen der Generalität wortgewaltig den Prozess. So wenig es aber eine Welt außerhalb des Kessels gibt, so sehr bleibt die Suche nach den Verantwortlichen für das militärische Desaster im Wesentlichen auf das eingekesselte Armeesystem beschränkt. Der kausale Zusammenhang von Schuld und Sühne, den Vilshofen hervorkehrt, löst die Schuldfrage im klassischen Rahmen des tragischen Konflikts. Das schwerwiegende Vergehen des Generalstabs, von dem sich Vilshofen als Offizier nicht ausnimmt,39 liegt darin, sich im Zwiespalt zwischen „Befehl und Ehre“, zwischen „sittlichem Empfinden und ,soldatischer Gehorsamspflicht‘“ für das „Aufgeben des freien Willens“ entschieden zu haben, und dies trotz der Erkenntnis, an einem „militärischen Wahnsinn“ mitzuwirken: „Des ei33 34 35 36 37 38 39

Kumpfmüller: Schlacht, S. 120. Plievier: Stalingrad, S. 241. Ebd., S. 412; vgl. auch ebd., S. 234, S. 397. Ebd., S. 339. Ebd., S. 195, S. 86f. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 162f., S. 421.

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genen Entschlusses hat man sich begeben. Das ist die Tragödie, der Männer hier im Keller, der ganzen Armee, unseres ganzen Volkes.“40 Aus dieser Perspektive bekommt die Kesselschlacht die Qualität eines Jüngsten Gerichts. Die deutschen Stalingradkämpfer werden zu Opferlämmern, die stellvertretend – Plievier selbst weist darauf hin41 – für alle deutschen Verbrechen nach Stalingrad „als die gegebene Hinrichtungsstätte“ geführt werden: „Wie schwer wiegt die Schuld? Wieviel wiegt die tote Stalingradarmee […] ist die Schuld aufzuwiegen? […] Deutsches Volk, welche Tollheit und wessen Tollheit mußt du hier ausschwitzen!“42 Im Gegensatz zur Mehrzahl der Sympathieträger des Romans gehen die Protagonisten Vilshofen und Gnotke in der Katastrophe nicht unter. Sie durchlaufen vielmehr als „exemplarisch Lernende“43 die Katharsis des Untergangs, und verlassen als Schrittmacher eines wie auch immer gearteten Neuanfangs gemeinsam die Bühne: „Es war nicht das Ende der Tragödie, aber es war Aktschluss.“44 Beide Figuren tragen einen hohen Symbolcharakter; sie stehen für zwei mögliche zukunftsweisende Verhaltensformen in der Katastrophe, mithin für zwei Möglichkeiten, sich über die physische Ausweglosigkeit zu erheben. Der Offizier Vilshofen, der sich seiner persönlichen Verantwortung für das Geschehen bewusst ist, übt sich im kassandrisch-kontemplativen Ertragen des Untergangs: „Jetzt heißt es stillhalten und spüren, was wir nicht nur einer Stadt und nicht nur einem Land und nicht nur einem Volk angetan haben.“45 Vilshofens passiver Sühnepose stellt Plievier mit Gnotkes Verhaltensweise einen aktiven Gegenentwurf an die Seite. Der Unteroffizier wählt den Weg der praktizierten Nächstenliebe, um sich in der allgemeinen Enthumanisierung einen Rest Menschlichkeit zu bewahren. Er schleppt seinen kranken Kameraden Matthias Gimpf durch alle Stationen des Zusammenbruchs: „solches Verhalten war auf diesem Grund […] selten geworden, und das war die Substanz, auf die es ankam.“46 Vilshofens Würdigung der Kameradschaft Gnotkes formuliert das Credo, das Plievier ans Ende seines Romans stellt. Drei wichtige wirkungsästhetische Schnittstellen des hermeneutischen Angebots mit seiner chronotopischen Verdichtung ergeben sich aus der narratologischen Lektüre von Stalingrad: Erstens zeichnet sich der Kessel als se40 41 42 43

44 45 46

Ebd., S. 231, S. 369, S. 308, S. 287. Vgl. Hermann: Gespräch. Plievier: Stalingrad, S. 163, S. 419f. Rohrwasser, Michael: „Theodor Plieviers Kriegsbilder“. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961). Hg. v. Ursula Heukenkamp. Amsterdam, Atlanta 2001, S. 139–153. Plievier: Stalingrad, S. 426. Ebd., S. 114. Ebd., S. 422.

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mantisches Feld durch spezifische raumzeitliche Relationen aus: Die erzählte Welt ist gekennzeichnet durch Raumschwund und Beschleunigung. Das globale Prinzip des Eingekesseltseins überträgt sich zweitens auf die Verhältnisse im Kessel. Dem einschließenden Gegner entspricht der Feind im Rücken der Soldaten. In letzter Konsequenz beschreibt es drittens die existentielle Situation des Individuums in der Katastrophe. Schließlich geht es um die Frage nach sinnstiftenden Verhaltensweisen in der Situation der Ausweglosigkeit: Sie werden auf individueller Ebene im Rahmen von tragischen Konflikten entschieden. Immer wieder hat Theodor Plievier öffentlich auf den Rang hingewiesen, den er dem Individuum für eine zukunftsweisende Überwindung des „Nullpunkts“ der politischen und geistesgeschichtlichen Katastrophe einräumt: „Die Wiedergeburt beginnt mit der Zelle. Sie beginnt im Individuum.“47 Auch die beiden Folgeromane Moskau und Berlin, die sich mit Stalingrad zu einer Trilogie fügen, rücken das Schicksal des Einzelnen im totalen Krieg in den Mittelpunkt.48 Die gesellschaftliche Realisierung des „Prinzips der Freiheit“49 setzt die „Gewissensfreiheit“50 des Einzelnen voraus. Im expliziten Anschluss an Kierkegaards apodiktische Formel vom „EntwederOder“51 fällt die zentrale „Entscheidung über Gut und Böse“ in der „eigenen Brust“52. So gesehen ist die stille Wendung der Romanfigur Gnotke zum humanitären Engagement in der Ausweglosigkeit des Kessels als eindrückliche Mahnung zu verstehen. Mit der Definition von Freiheit als Entscheidungsfreiheit – im Kessel kann Freiheit gar nichts anderes sein – liefert Plievier ein Beispiel für die Konjunktur existenzphilosophischer Strömungen und insbesondere für die breite Kierkegaard-Rezeption nach 1945 und öffnet damit einen Bezugsrahmen, der zu Ernst Jüngers Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg führt.53 47

48

49 50 51 52 53

Plievier, Theodor: „Über die Freiheit“. In: Der Frankfurter Schriftstellerkongreß im Jahr 1948. Hg. v. Waltraud Hohenberger-Wende. Frankfurt a.M. 1989, S. 57–64, hier S. 63; vgl. Ders.: „Humanität und Staat“. In: Der Monat 2 (1949), H. 13, S. 14–22, hier S. 15: „Der moralische Boden, auf dem wir heute stehen, ist schwankend geworden, seit das Individuum aufgehört hat, sich selbst als Ausgang einer sittlichen Weltanschauung zu fühlen.“ Zur moralischen Selbstbehauptung des Individuums im Zeitalter der Totalitarismen als zentrales Axiom von Plieviers Schreiben vgl. auch Bernig, Jörg: „Der große Krieg im Osten und die tragische Selbstbehauptung des Individuums. Antitotalitarismus und individualistischer Anarchismus in Theodor Plieviers Kriegstrilogie Moskau – Stalingrad – Berlin“. In: Heukenkamp: Schuld, S. 113–125. Plievier, Theodor: „Vom Nullpunkt der Kultur. Rede anläßlich des Kongresses für Kulturelle Freiheit in Berlin“. In: Der Monat 3 (1950), H. 24, S. 527–534, hier S. 531. Plievier: Über die Freiheit, S. 63. Ebd., 57f. Vgl. Kierkegaard, Søren. Entweder – Oder. Teil I und II. 10. Aufl. München 2009, insbes. S. 704ff. Plievier: Nullpunkt, S. 531. Vgl. allgemein Rahner, Mechthild: „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“ – Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945–1949). Würzburg 1993; Sei-

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4. Die drei genannten Aspekte des Deutungsangebots, das Plieviers Roman macht, tauchen auch in den Nachkriegspublikationen von Ernst Jünger auf. Das Kessel-Paradigma zieht sich als leitmotivischer Subtext bereits durch dessen 1949 edierte Tagebücher zum Zweiten Weltkrieg. Drei Sinnebenen des militärsprachlichen Lexems „Kessel“ eröffnen sich in den Strahlungen, auf die der Autor in der Essayistik der frühen Nachkriegsjahre immer wieder zu sprechen kommt. Zunächst stellt die Kesselschlacht einen dominanten Aspekt des konkreten Wahrnehmungshorizonts des Diaristen dar. Frühzeitig beurteilt Jünger das militärgeschichtliche Phänomen als ein symbolträchtiges Paradigma allgemeiner ideengeschichtlicher Tendenzen der Epoche und wertet das „Eingekesseltsein“ im Rahmen seiner Nihilismus-Definition als ein übergeordnetes existentielles Prinzip. Dem entspricht auf metaphorischer Ebene schließlich die Interpretation der Kessel-Situation als zeitgenössische Ausprägung des mythischen Modells des tragischen Konflikts und die Konturierung der Leidensgestalt des eingekesselten Soldaten als existenzphilosophische Symbolfigur. An dieser Figur probt auch Jünger im gedanklichen Entwurf verschiedene sinnstiftende Möglichkeiten der „Bewegung im nihilistischen Felde“,54 dessen sinnfälligste Realisierung Jünger im Kessel erkennt. Dass Jüngers publizierte Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren nichts mit flüchtigen Alltagsnotaten gemein haben, sondern das Ergebnis eines komplexen Literarisierungsprozesses darstellen, ist von der Forschung bereits mehrfach ausführlich behandelt worden.55 Bislang nicht in den Blick gerückt ist dabei der biographische Spannungsbogen, den die Strahlungen aufbauen. Tatsächlich hängt die Dramaturgie des Geschehens eng mit dem Paradigma des Kessels beziehungsweise der Einkesselung zusammen, das sich als leitmotivischer Subtext durch die Tagebücher zieht und die makrotextuelle Strukturierung von Jüngers Notaten mitbestimmt. Die vier Abteilungen der Edition von 1949 bündeln jeweils unterschiedliche Annäherungsweisen an das Phänomen des Kessels und das existenzielle „Prinzip des Eingekesseltseins“.

54 55

bert, Thomas: Existenzphilosophie. Stuttgart, Weimar 1997. Zur literarischen Kierkegaard-Rezeption im Speziellen vgl. den Überblick in Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa Bd. 1: Von der Trümmerliteratur zur Dokumentarliteratur. Basel, Tübingen 2006, S. 195–212. Jünger, Ernst: „Über die Linie“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 237–280, hier S. 264. Vgl. z. B. Brandes, Wolfgang: Der ,Neue Stil‘ in Ernst Jüngers ,Strahlungen‘. Bonn 1990; Bluhm, Lothar: „Ernst Jünger als Tagebuchautor und die ,Innere Emigration‘ (Gärten und Straßen 1942 und Strahlungen 1949)“. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg. München 1995, S. 125–153; Sader, Jörg: „Im Bauch des Leviathan“. Tagebuch und Maskerade. Anmerkungen zu Ernst Jüngers „Strahlungen“ (1939–1948). Würzburg 1996; Hüppauf, Bernd: „Unzeitgemäßes über den Krieg. Ernst Jünger: Strahlungen (1938–1948)“. In: Wagener: Böll, S. 13–47; Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 137–163.

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Mit explizitem Bezug auf Goya dienen die beiden „Pariser Tagbücher“ unter anderem der Sammlung von „Capriccios“ aus dem Kriegsgeschehen.56 En detail hält Jünger die Gräuel-Berichte von Augenzeugen pars pro toto für den Vernichtungskrieg in der Sowjetunion fest. Jüngers Reflexionen über das Gehörte kommen schon früh und dann immer wieder auf die Einkesselung als ein übergeordnetes Prinzip zu sprechen, das die drei laufenden Spielarten der Massenvernichtung – Todeslager, Bombenkrieg und Kesselschlacht – einbegreift: „der Kessel ist der reinste Ausdruck unserer Lage; mir war das schon deutlich, ehe dieser Krieg begann. Vorbilder kündeten es an, wie etwa das Schicksal der Judenschaft“.57 Demgegenüber geben Jüngers „Kaukasische Aufzeichnungen“ von seiner Reise an die Ostfront aus der konträren Perspektive des privilegierten Beobachters einen Überblick über den russischen Kriegsschauplatz: „Die Feldherrnperspektive ist ungemein vereinfacht, doch zugleich dämonisch erhöht. Die Einzelschicksale verschwinden aus der Sicht, doch sind sie geistig gegenwärtig, summieren sich zur Atmosphäre, die ungeheuer drückt.“58 Jünger selbst wird im Kaukasus nur bedingt in Kampfhandlungen verstrickt. Seine eigenen Erfahrungen reflektiert er jedoch ausdrücklich vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad, die während seines gesamten Frontaufenthalts tobt. „Ein jeder von uns wird in diesen Kesseln mit umgeschmolzen, auch wenn er körperlich nicht gegenwärtig ist. Demgegenüber gibt es keine Neutralität.“59 In den abschließenden „Kirchhorster Blättern“ schließlich mischt sich die Warte des zunehmend selbst Betroffenen unter die Archivalien des distanzierten Ohren- bzw. Augenzeugen. Jünger beschreibt die Schlussphase des Krieges explizit als persönliche „Einkesselung“ im letzten Refugium durch den vorrückenden und überfliegenden militärischen Gegner und den anhaltend fanatischen politischen Feind.60 Die Tagbuchedition schließt mit der finalen Kontraktion des militärischen Einschließungsrings, der Einnahme Kirchhorsts durch die Amerikaner. Am Ende steht die Sinn- und Seinsfrage: „Was ist Geburtsschmerz, was ist Todesschmerz bei diesem Spiel?“

56 57 58 59

60

Jünger, Ernst: Strahlungen. Tübingen 1949, S. 106 u. ö. Ebd., S. 506; vgl. ebd., S. 502, wo Jünger das brennende Hannover explizit als Kessel bezeichnet. Ebd., S. 260. Ebd., S. 245. Jünger trifft in Russland am Tag der Einkesselung der 6. Armee, dem 21. November 1942, ein und verlässt das Land am 9. Januar 1943, also wenige Wochen vor der endgültigen Auflösung des Stalingrader Kessels am 31. Januar bzw. 2. Februar. Ebd., S. 646; vgl. ebd., S. 641: „Das Nahen der Katastrophe lässt die Verhältnisse noch nackter hervortreten. Wie ich den Radiomeldungen entnehme, besteht bei vielen der örtlichen Machthaber die Neigung, sich mit einigen kleinen Erschießungen zu verabschieden.“

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5. Wie bereits erwähnt, fasst Jünger in der Metapher vom „Kessel“ als dem „Bild der Zeit“61 schlechthin verschiedene Ausgeburten totalitärer, beziehungsweise mit Jünger verallgemeinernd gesprochen: „nihilistischer“ Machtentfaltung. Gegenüber dem Fokus auf das Konzentrationslager in Hannah Arendts zeitgenössischer Totalitarismustheorie62 erweitert Jünger den Gesichtskreis und nimmt mit Vernichtungsschlacht und Bombenkrieg – ultimativ mit der Atombombe – zwei weitere Belege für die global fortschreitende Enthumanisierung im geistigen wie historischen Raum mit in den Blick. Jüngers Beurteilung der Erscheinungen ergibt sich aus seiner Modernisierungstheorie des Arbeiter-Komplexes;63 freilich mit einem signifikanten, nun auf die prekäre Stellung des betroffenen Individuums in der Katastrophe gerichteten Schwenk: Die ausweglose Umstellung des Menschen ist seit langem vorbereitet, und zwar durch Theorien, die eine logische und lückenlose Welterklärung anstreben und mit der technischen Entwicklung Hand in Hand gehen. Es kommt zunächst zur rationalen, sodann auch zur gesellschaftlichen Umkreisung des Gegners; dem schließt sich zu gegebener Stunde die Ausrottung an.64

Die Kesselschlachten sind hierfür auf doppelte Weise paradigmatisch. Sie bieten für Jünger „das äußere Bild der innerpolitischen Konstellation“ und beschreiben die ausweglose Lage des Einzelnen; zugleich tritt dort „die politische Struktur, die sich die Staaten gegeben haben, […] in ihrer kriegerischen Kehrseite hervor.“65 Entsprechend fasst die Metapher des Kessels einige zentrale Aspekte und Ausprägungen des von einer breiten zeitgenössischen Geistesströmung und so auch von Jünger als Leitprinzip der Epoche ausgewiesenen Nihilismus.66 Zunächst ist es seine chronotopische Spezifik, die einen metaphorischen Gebrauch des Kessel-Begriffs erlaubt. Jüngers im Aufsatz Über die Linie (1950) ausgeführte Definition des Nihilismus als allgemeinen Zustand des 61 62 63

64

65 66

Jünger, Ernst: „Der Waldgang“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374, hier S. 302. Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1955. Zur insgesamt affirmativen Perspektive, die der Arbeiter-Essay auf Modernisierungsprozess und Technifizierung der Lebenswelt wirft vgl. Martus: Ernst Jünger, S. 88–98 sowie Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 84–94. Jünger: Waldgang, S. 302. Vgl. bereits Jünger: Strahlungen, S. 97, mit Bezug auf die Kesselschlacht: „Dort unten verwirklicht sich viel von unseren trübsten Träumen; es werden Dinge, die man seit langem, seit über siebzig Jahren kommen sah, Realität.“ Jünger: Strahlungen, S. 79, 209. Ebd., S. 79, S. 209; vgl. ebd., S. 94, wo er festhält, dass „die Vernichtungstendenzen, Erschießungs-, Ausrottungs- und Aushungerungsbestrebungen aus allgemein-nihilistischen Zeitströmungen hervorgehen.“ Zum Einfluss von Nietzsches Werk vgl. Wilczek, Reinhard: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption. Trier 1999.

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Schwundes und der Beschleunigung, auf die er noch im Großessay An der Zeitmauer von 1959 wiederholt rekurriert,67 korrespondiert mit den Eigenschaften des Plievierschen Chronotopos. Gerade die bemühten Raum-ZeitKategorien machen die Synchronisierung von Nihilismus und Modernisierungsprozess evident. Bereits mit der „Totalen Mobilmachung“ hatte Jünger eine lange Erfahrungs- und Deutungstradition der Moderne fortgesetzt und Bewegung beziehungsweise Beschleunigung zu einem der „Hauptprinzipien der Epoche“ erhoben.68 Im Vorwort der Strahlungen erhält der Zusammenhang von Nihilismus und Beschleunigung sogar planetarische Gültigkeit: Inzwischen ist uns der Gedanke vertraut geworden, daß wir auf einer Kugel hausen, die mit Geschosses-Geschwindigkeit in Raumestiefen fliegt, kosmischen Wirbeln zu. […] Und jeder antikopernikanische Geist wird bei der Erwägung der Lage auf den Gedanken stoßen, daß es unendlich leichter ist, die Bewegung zu steigern, als umzukehren zu ruhigerer Bahn. Hierauf beruht der Vorteil des Nihilisten gegenüber allen anderen.69

Das Prinzip des „Schwunds“ ergänzt die Denkfigur der Beschleunigung: „Er betrifft nicht nur die Individuen, sondern auch ihre Konfigurationen und Bildungen.“70 Zunehmende systemische Ausdifferenzierung und Spezialisierung werden hier ebenso zu Symptomen der fortschreitenden „Reduktion“ von Wirklichkeit wie die zeitgenössischen ideologisch verkürzten Weltanschauungen, die von Nietzsche diagnostizierte Erosion grundlegender Normen und Wertvorstellungen sowie die Verwissenschaftlichung und damit „Vereinfachung“ der Ontologie. Die nihilistische Welt ist ihrem Wesen nach eine reduzierte und weiter sich reduzierende, wie das notwendig der Bewegung zum Nullpunkt hin entspricht. Das in ihr herrschende Grundgefühl ist das der Reduktion und des Reduziertwerdens. […]

Die Reduktion kann räumlich, geistig, seelisch sein; sie kann das Schöne, das Gute, das Wahre, die Wirtschaft, die Gesundheit, die Politik berühren – nur wird sie immer im Ergebnis als Schwund bemerkt werden.71 Wie viele andere Zeitgenossen, so diagnostiziert auch Jünger, dass insbesondere die höheren, transzendenten Bezugspunkte des Seins im Schwinden begriffen sind.72 Hieraus resultiert die Grundvoraussetzung für das entscheidende Mittel totalitärer Machtsicherung nach innen: die Gefangen67 68

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Vgl. Jünger, Ernst: „An der Zeitmauer“. In: Sämtliche Werke, Bd. 8. Essays II. Der Abeiter. Stuttgart 1981, S. 397–645, hier z. B. S. 528, S. 540, S. 542. Kiesel, Helmut: Wissenschaftliche Diagnose und Dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger. Heidelberg 1994, S. 95. Zur Beschleunigung als zentrale Erfahrung im Modernisierungsprozess der westlichen Welt vgl. die profunde Studie von Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005. Jünger: Strahlungen, S. 8. Jünger: An der Zeitmauer, S. 540. Vgl. Kiesel: Diagnose, S. 164. Jünger: Über die Linie, S. 257. Jüngers Auslassungen spitzen verbreitete Axiome eines kulturkritischen Skeptizismus zu, der, wie Helmut Kiesel im Vergleich mit Max Webers Diktum von der „Entzauberung“ der Welt

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setzung des Einzelnen in seiner perspektivlosen Todesangst: „Die Bosheit des Feindes, das Schreckliche der Mittel scheinen sich im gleichen Maß zu steigern, in dem im Menschen die Schwäche wächst. Zuletzt umgibt ihn der Terror wie ein Element.“73 Die Grundbefindlichkeit der Angst im Nihilismus entspricht wiederum der Lage des hoffnungslos eingekesselten Soldaten und ihren spezifischen raumzeitlichen Bedingungen: „man sieht den Tod von weitem, über Wochen und Monate herannahen.“74 Im Essay Der Waldgang (1951) heißt es dazu: Die große Einsamkeit des Einzelnen zählt zu den Kennzeichen der Zeit. Er ist umringt, ist eingeschlossen von der Furcht, die sich gleich Mauern anschiebt gegen ihn. Sie nimmt reale Formen an – in den Gefängnissen, der Sklaverei, der Kesselschlacht.75

Und An der Zeitmauer verallgemeinert: „In der Krisis schwinden die Dimensionen […]. Die Todesnähe verändert Zeit und Raum.“76 Der gezielten „Entthronung der obersten Werte“ folgt die Herabsetzung der moralischen Standards.77 Jünger erkennt diesbezüglich schon früh die eigene Qualität des Vernichtungskrieges im Osten, die entgrenzte „nihilistische“ Aggression nach außen.78 Neben dem schonungslos thematisierten Massensterben von Juden und Kriegsgefangenen entwächst die Kesselschlacht einer ideologisch motivierten und drakonisch durchgesetzten Annihilationsstrategie, die keine Regeln mehr kennt.79 Hierin sieht Jünger einen entscheidenden Unterschied zum Ersten Weltkrieg – und dies in bemerkenswerter Übereinstimmung mit einem Gedanken Theodor W. Adornos. Dieser notierte im Rahmen eines prominenten Eintrags der Minima Moralia aus dem Herbst 1944 zum pazifischen Kriegsschauplatz:

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gezeigt hat, die Auseinandersetzungen mit der Moderne schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts begleitet (vgl. Kiesel: Diagnose). Jünger: Über die Linie, S. 242; vgl. ebd., S. 274: „Hier liegt auch der eigentliche Grund für die Erbitterung gegen jede Lehre, die transzendiert. Dort schlummert die höchste Gefahr: daß der Mensch furchtlos wird.“ Deutlich auch in Jünger: Waldgang, S. 370: „Der freilich ist am leichtesten einzuschüchtern, der glaubt, daß, wenn man seine flüchtige Erscheinung auslöscht, alles zu Ende sei. Das wissen die neuen Sklavenhalter, und darauf gründet sich die Bedeutung der materialistischen Lehren für sie. Sie dienen im Aufstand zur Erschütterung der Ordnung und sollen nach errungener Herrschaft den Schrecken verewigen. Es soll keine Bastionen mehr geben, auf denen der Mensch sich unangreifbar und damit furchtlos fühlt.“ Jünger: Strahlungen, S. 209; vgl. auch die Friedensschrift, wo Jünger ein kesselspezifisches „Sterben auf verlorenem Posten“ beschreibt, „bei dem man den Tod von ferne, doch unentrinnbar sich nähern sieht“ (Jünger, Ernst: „Der Friede“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 193–236, hier S. 199.). Jünger: Waldgang, S. 334. Jünger: An der Zeitmauer, S. 545. Jünger: Über die Linie, S. 258f. Vgl. ebd., S. 412. Vgl. ebd., S. 416f.

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Der Eindruck ist nicht der von Kämpfen, sondern der mit unermeßlich gesteigerter Vehemenz vorgenommener mechanischer Straßen- und Sprengarbeiten, auch von ,Ausräuchern‘, Insektenvertilgung im tellurischen Maßstab. Operationen werden durchgeführt, bis kein Gras mehr wächst. Der Feind funktioniert als Patient und Leiche. Wie die Juden unterm Faschismus gibt er nur noch das Objekt technisch-administrativer Maßnahmen ab, und wenn er sich zur Wehr setzt, hat seine Gegenaktion sogleich denselben Charakter.80

Auch für Jünger gleichen die Schlachten des Zweiten Weltkriegs industrieller Insektenvernichtung. Deshalb erscheinen ihm Stalingrad und ähnliche Schlachten als äußerste Konsequenz und Höhepunkt der nihilistischen Entwicklung, als „entscheidende Konfrontationen […] nach der Erreichung des absoluten Nullpunktes“.81 In der Friedensschrift stellt er analog zu Adorno fest: Denn größere Unbarmherzigkeit ist dem eigen, der für Ideen und reine Lehren zu kämpfen glaubt, als jenem, der allein die Grenzen des Vaterlandes schützt. So wurden Schlachten möglich, in denen auch der Überwundene, der Waffenlose mit Mitleid nicht rechnen durfte – Belagerungen und Gefangenschaften, bei denen keine Aussicht auf Entrinnen war. […] Es gab Bereiche, in denen man sich vernichtete wie Ungeziefer […] Und abgeschnitten von jeder Hoffnung […] sah man große Heere dem Tod entgegensiechen in den Leidensräumen der Kesselschlacht.82

Dieser Befund gilt nicht nur für das Verhältnis zur gegnerischen Partei, sondern zudem wie bei Theodor Plievier für die Situation des Soldaten innerhalb des eigenen Armeeverbands. Vermittels der heimischen Gräuelpropaganda zum äußersten Einsatz gegen den Feind getrieben,83 finden sich die Soldaten von einer zweiten tödlichen Front aus verschärften Sanktionen der Militärgerichtsbarkeit bedroht, die ein Zurückweichen vor dem anstürmenden Gegner unterbinden soll. Die Logik der Angsterzeugung durch Staatsterror wird also nicht nur gegen die Beherrschten eingesetzt, sondern gleichsam gegen die eigenen Parteigänger. In diesem Sinne halten die totalitären Systeme ihre Frontkämpfer in einer dauerhaften wie ausweglosen individuellen „Kesselsituation“. Hierzu heißt es im Waldgang:

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Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1981, S. 66. Jünger: Strahlungen, S. 341. Jünger: Der Friede, S. 199. Vgl. auch folgende Stelle aus Der Gordische Knoten: „Daß sich der Soldat in aussichtsloser Lage ergeben kann, gehört zu den schweigenden Vereinbarungen. Er wird bis zum Tode kämpfen, wenn er weiß, daß der Gegner in sich die Scheu vor den Wehrlosen überwunden hat. Aus diesem Grunde kam es in Europa und Nordafrika nicht zur Kesselschlacht, wie sie sich in Rußland und auf den pazifischen Inseln entwickelte“ (Jünger, Ernst: „Der Gordische Knoten“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 375–479, hier S. 412). Jünger: Strahlungen, S. 223: „Die Gegner erwarten keine Gnade voneinander und werden durch die Propaganda in dieser Meinung bestärkt.“

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Selbst dort, wo der Leviathan auf Mut sich angewiesen sieht, wie auf dem Schlachtfeld, wird er darauf sinnen, dem Kämpfer eine zweite und stärkere Bedrohung vorzuspiegeln, die ihn am Platze hält. In solchen Staaten verläßt man sich auf die Polizei.84

Der Symbolgehalt der Exekution eines Deserteurs, die Jünger bereits auf den ersten Seiten der Strahlungen beschreibt, wirft die grundlegende seinsbezogene Fragestellung des Autors in der Kriegs- und Nachkriegszeit auf: „Wie stellt sich die Lage dar, die heute jeden von uns bedroht und seine Existenz schattiert? Und wie verhält man sich in ihr?“85

6. Aus seinen Beobachtungen zur enthemmten Kriegsführung ergibt sich für Jünger die entscheidende Differenz zwischen den beiden Weltkriegen, die er im Tagebuch festhält: „Ideengeschichtlich ist dieser zweite Weltkrieg vom ersten völlig unterschieden; er ist wahrscheinlich die größte Auseinandersetzung über die Willensfreiheit, die es seit den Perserkriegen gegeben hat.“ Jünger verlegt die eigentliche zukunftsweisende Auseinandersetzung also auf eine Metaebene. Deren Grundproblematik entspricht – auch dies eine deutliche gedankliche Parallele zu Plieviers Kesselentwurf – dem mythischen Modell der Tragödie. Dort geht es nicht mehr so sehr um die Durchsetzung nationaler Interessen, als vielmehr um die Verteidigung ethischer Prinzipien. „Mensch oder Maschine“ – in dieser Dichotomie erblickt der Diarist die „eigentlichen Fronten des großen Vorgangs“.86 Das Prinzip des Eingekesseltseins appliziert die antike Figur des tragischen Konflikts auf die Verhältnisse des modernen Vernichtungskriegs. Die Kessel-Konstellation verschärft und pointiert die Problemlage. „Neutralität“ erlauben diese Auseinandersetzungen insofern nicht, als die Kessel das eingeschlossene Individuum vor die Entscheidung stellen, sich dem ohnehin unausweichlichen Untergang bis zuletzt zu widersetzen und dabei auf der Spirale der Vernichtung fortzuschreiten oder bewusst aus ihrem Kreislauf auszubrechen.87 Die Typologie des Opfers, die Jünger in der Friedenschrift mit Blick auf die Extremräume Kessel, Lager und Trümmerstadt entwirft, räumt dem Landser in diesem Zusammenhang eine dreifache Opferrolle 84

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Jünger: Waldgang, S. 333. Zum Faktor Angst als ein konstitutives Machtinstrument totalitaristischer Systeme vgl. Bergsdorf, Wolfgang: „Politik und Angst“. In: Angst und Politik in der europäischen Geschichte. Hg. v. Franz Bosbach. Dettelbach 2000, S. 13–28. Jünger: Strahlungen, S. 39. Ebd., S. 239, S. 505. Vgl. Jünger: Waldgang, S. 360f., wo es in Anlehnung an Kierkegaard heißt: „Es gibt also Lagen, die unmittelbar zur moralischen Entscheidung auffordern, und das vor allem dort, wo der Umtrieb seine tiefsten Wirbel erreicht. […] Dann fällt die Entscheidung dem Einzelnen zu, und zwar als Entweder-Oder, indem ein drittes Verhalten, nämlich das neutrale ausgeschlossen wird.“

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ein. Physisch ist der Soldat der von allen Seiten andrängenden Vernichtung preisgegeben. Psychisch findet er sich in einem unauflösbar tödlichen Gewissenskonflikt gefangen: So schnitt, besonders für die echten und reinen Geister, der Krieg in tragische Bereiche ein, und unentwirrbar erschien gerade dem treuen Sinne oft der Widerspruch, in dem die Stimmen […] der Pflicht und der Einsicht sich begegneten. Da gab es viele, denen der Tod auf freiem Felde, im ehrlichen Gefecht die einzige, die schönste Lösung schien. In ihnen fiel das beste, das volle Saatkorn in den Grund.88

Mit der emphatischen Bejahung des Leidens setzt Jünger darüber hinaus eine lange existenzphilosophische Denktradition seit Schopenhauer fort. Hatte er sich bereits im Essay Über den Schmerz (1934) in eine Reihe mit den Zeitgenossen Heidegger und Jaspers gestellt und das Leiden als Medium der Selbstund Welterkenntnis beschrieben,89 geht er mit der Opfermythologie, zu der er sich in der Friedensschrift versteigt, noch einen Schritt weiter. Karl Jaspers hatte bereits in der Zwischenkriegszeit der Existenz, die sich im Leiden selbst bewusst wird, die Fähigkeit zugemessen, „das Leid der Welt als ihr eigenes Leid zu tragen.“90 Aus dieser Perspektive gewinnt bei Jünger wie bei Plievier das sinnlose Sterben der Eingekesselten die sinnstiftende Qualität eines stellvertretenden Opfergangs.91 Über die Linie führt die Apotheose des Opfers weiter und verklärt die Vernichtungsstätten des Krieges zu kathartischen Schmelzöfen. Der als stellvertretender ‚Opfergänger‘ durchlaufene Läuterungsprozess zeigt sich bei den Überlebenden im distinktiven, zukunftsweisenden „Wille[n] zum Opfer“, in der unbedingten Bereitschaft zur Preisgabe des eigenen Lebens: Sie ist gerade dort zu treffen, wo der Schmerz am größten war, und zeichnet die deutsche Jugend aus. Bedeutender als je im Siege erscheint sie, wenn man sie nach solcher Prüfung aus den Trümmern, den Kesseln und dezimierender Gefangenschaft heimkehren sieht. Es fehlt nun der Übermut, doch dafür wächst ein neuer Mut, der darin, den Kelch zu leeren, liegt.92

In diesem Sinn löst die tragische Leidensgestalt des eingekesselten Soldaten – vor sich den todbringenden Gegner, hinter sich die Exekutionskommandos der Standgerichte; Befehlsgewalt und Pflichtgefühl auf der einen, Gewissen 88

89 90 91 92

Jünger: Der Friede, S. 199f. Ähnlich auch Hans Werner Richter. In seiner Rezension von Theodor Plieviers Moskau-Roman heißt es: „das Licht ist bei jenen, die zwischen den Fronten stehen, das Licht ist dort, wo die hoffnungslos Kämpfenden gegen diesen Maelstrom von beiden Seiten stehen“ (Richter, Hans Werner: „,Der Kampf um Moskau‘. Zu dem neuen Buch von Theodor Plievier“. In: Die Literatur 1 (1952), H. 12, S. 3.). Vgl. Jünger, Ernst: „Über den Schmerz“. In: Ders. Blätter und Steine. Hamburg 1934, S. 154– 213. Jaspers, Karl: Philosophie II: Existenzerhellung. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg 1973, S. 232f. Vgl. Jünger: Der Friede, S. 196; vgl. bereits Jünger: Strahlungen, S. 375. Jünger: Über die Linie, S. 269; vgl. bereits Jünger: Strahlungen, S. 640: „Und doch kommt es mir so vor, als ob der Deutsche dort auch etwas gelernt, gewonnen hätte – ich spürte das zuweilen im Gespräche mit Soldaten, die aus den Kesselschlachten zurückkehrten.“

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und moralisches Empfinden auf der anderen Seite – den heroischen „Krieger“-Typus von 1914–1918 ab.93 Er wird zur existenzphilosophischen Symbolfigur des auslaufenden nihilistischen Zeitalters. Bereits im Tagebuch heißt es hierzu: Das Abenteuer dieser Jahre für uns, die wir im Zentrum stehen, liegt darin, daß kein Ausweg sichtbar ist. […] Das ist unsere horoskopisch-metaphysische Lage; die Kriege, Bürgerkriege und Vernichtungsmittel stellen sich ein als sekundärer, als zeitlicher Decor. Das ist die Aufgabe, die wir zu lösen haben, die Überwindung der Vernichtungswelt, die nicht auf der historischen Ebene gelingen kann.94

7. Diese Aufgabe, die Jünger als den „Schritt über die Linie“ bezeichnet, hat dieselben Kehrseiten wie bei Plievier: eine kontemplative und eine aktive Form des Verhaltens im nihilistischen Feld. Vor allem anderen gilt es Jünger, eine affirmative Haltung gegenüber Situationen der Ausweglosigkeit,95 mithin eine veränderte, sinnstiftende Perspektive auf die Erscheinungen der Zeit zu gewinnen.96 So manifestiert sich die Zeitlichkeit des nihilistischen Prinzips von vornherein in der Bewegung der historischen Entwicklung auf einen Nullpunkt zu, die Jünger bekanntlich bereits 1929 konstatiert.97 Die in Über die Linie entworfene „Topographie des Nihilismus“, wie es Martin Heidegger ausdrückte,98 zeichnet ein Verlaufsschema der Liminalität aus Altstruktur, nihilistischer Zwischenphase und Neustruktur. Grundsätzlich beschwört Jüngers Geschichtsphilosophie damit den zeitgenössischen Topos von der not93

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Vgl. mit Bezug auf die Kesselschlacht Jünger: Waldgang, S. 302: „Das Leiden wächst auf eine Weise, durch die das Heroische notwendig ausgeschlossen wird.“ Bereits im Tagebuch des Frankreichfeldzugs heißt es lapidar: „Im reinen Überstehen liegt heute schon Verdienst“ (Jünger, Ernst: Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940. Berlin 1942, S. 75.). Zur Inszenierung des Soldaten als „Krieger“ in Ernst Jüngers Stahlgewittern vgl. Schöning, Matthias: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen 2009, S. 167–187. Jünger: Strahlungen, S. 408. Ebd., S. 603: „Wir sind in einer Lage, an der die Ausweglosigkeit das einzig Positive ist. Sie weist die Intelligenz auf ihre inneren und eigentlichen Bastionen hin.“ Ebd., S. 66: „Dabei ist diese Lage ungeheuer lehrreich, denn wo kein Ausweg, keine Hoffnung sich mehr bietet, werden wir gezwungen, stillzustehen. Die Perspektive verändert sich.“ Korrespondierende Überlegungen finden sich bereits in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (vgl. Jünger, Ernst: „Das abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios“. In: Sämtliche Werke, Bd. 9. Essays III. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 177– 330, hier S. 262–265). Vgl. Jünger, Ernst: „Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung: Aufzeichnungen bei Tag und Nacht“. In: ebd., S. 31–176, hier S. 135: „Wir marschieren seit langem einem magischen Nullpunkt zu, über den nur der hinwegkommen wird, der über andere, unsichtbarere Kraftquellen verfügt“. Vgl. Heidegger, Martin: „Zur Seinsfrage“. In: Ders. Wegmarken. Frankfurt a.M. 2004, S. 385– 426, hier S. 412.

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wendigen reinigenden Katastrophe;99 zugleich entfaltet sie analog zu van Genneps Klassiker über die rites de passage ein zentrales Axiom der Kulturanthropologie. Da es sich beim Nihilismus wesentlich um die Zwischenphase eines geistigen Vorganges handelt, kann es nicht allein um die Unterdrückung seiner phänomenologischen Symptome gehen. Deshalb ist mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ das Ende der Entwicklung auch noch nicht erreicht. Die globalen Abläufe erscheinen vielmehr als Ausprägung und Spiegel mentaler Dispositionen. Entsprechend betont Jünger in der Friedensschrift analog zu Theodor Plievier, dass „Heilung zunächst im Geist erfolgen“ und, wie er in Über die Linie ausführt, beim Individuum ansetzen muss: „Sein Inneres ist ja das eigentliche Forum dieser Welt; und seine Entscheidung ist wichtiger als die der Diktatoren und Gewalthaber. Sie ist deren Voraussetzung.“ Und weiter: „Hier steht ein jeder […] im unmittelbaren und souveränen Kampfe. Ist er hier stärker, verändert sich die Welt.“100 Der „Mut, den Kelch zu leeren“, die Überwindung der Todesangst stellt für Jünger die entscheidende geistige Operation dar, die das Überqueren der Linie verspricht und zu einer höheren Form der Freiheit auch im geschlossenen Raum führt. Ihr entwächst ein neuer Typus in Jüngers Gestaltenkabinett: die Opferfigur des Eingekesselten kann zum Waldgänger werden. Dieser erkennt sich in seiner „unaufgeteilten und unzerstörbaren Substanz“ und hebt den in ihm verborgenen Schatz an ererbten überzeitlichen Sinnhorizonten und Deutungsmustern. In der Besinnung auf diese Qualitäten liegt das „überindividuelle“ Machtpotential des Einzelnen; sie bieten eine sinnvolle Perspektive über den Kessel hinaus: „Die Überwindung der Todesfurcht ist […] die Überwindung jedes anderen Schreckens; sie alle haben nur Bedeutung hinsichtlich dieser Grundfrage.“101 Auf diese Weise wird es dem Individuum möglich, die ausweglos gewordene Partie nicht verloren zu geben, sondern den Widerstand aus innerer Kraft und in eigener Sache fortzusetzen102 – den „Nullpunkt“ auch handelnd zu durchbrechen. Das Überleben der malstromartigen Kessel verliert an existentieller Bedeutung: „Entscheidend bleibt schließlich, ob man als Mensch in ihnen stirbt“, notiert Jünger bereits im Tagebuch und fragt im Waldgang mit Verweis auf Edgar Alan Poe und die französischen Existenzialisten: „Wäre es möglich, zugleich auf dem Schiff zu verbleiben und sich die eigene Entschei99 100

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Vgl. hierzu z. B. Vondung, Klaus: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988. Jünger: Der Friede, S. 218 und Ders.: Über die Linie, S. 279. Bereits im Vorwort der Strahlungen kommt Jünger auf die individuelle Dimension der Katastrophe zu sprechen: „In unserem Haupt, in unserer Brust sind die Arenen, in denen die alten Mächte sich begegnen in den Verkleidungen der Zeit“ (Jünger: Strahlungen, S. 18). Jünger: Waldgang, S. 331, vgl. außerdem ebd., S. 305, S. 316, S. 327f. Vgl. ebd., S. 305, S. 354.

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dung vorzubehalten […]?“103 Auch Jean-Paul Sartre und Albert Camus konzeptualisieren in ihren Schriften der 1940er Jahre im Anschluss an Kierkegaard Freiheit als Entscheidungsfreiheit.104 Bei Ernst Jünger wird der Bezug zum Vordenker des „Entweder-Oder“ so deutlich wie bei Plievier. Im Waldgang fällt die Entscheidung explizit im Rahmen ebenjener alternativlosen Alternative.105 Egal, ob in der Akzeptanz der Sinnlosigkeit des Daseins wie bei Camus106 oder im Ausfluss von Jüngers Ewigkeitsahnung – dem furchtlos gewordenen Einzelnen gelingt es, den tragischen Konflikt „zwischen der ihm unmittelbar verliehenen Qualität des Menschen“107 und der ihm von den zeitgenössischen Mächten abverlangten Unterordnung unter den verbrecherischen Automatismus der entarteten totalen Mobilmachung im „Hier und Jetzt“ zu entscheiden. Demgegenüber ist es wichtig, daß der Waldgänger sich in seiner Sittlichkeit, in seiner Kampfführung, in seiner Gesellschaft nicht nur deutlich vom Verbrecher unterscheidet, sondern daß dieser Unterschied auch in seinem Inneren lebendig ist. Er kann das Recht nur in sich finden, in einer Lage, in der Rechts- und Staatsrechtslehrer ihm nicht das nötige Rüstzeug an die Hand geben.108

In der ethischen Haltung bewahrt sich also doch noch ein Rest Heroismus. In der Entscheidung zwischen Gut und Böse als eigenverantwortlicher und selbstloser Gewissenstat wächst der Einzelne über sich und die Lage des Eingekesseltseins hinaus. Sich selbst bewahrt er damit ein Stück individueller Ungebundenheit: „Er widerspricht nicht der Entwicklung, sondern trägt Freiheit in sie hinein.“ Inmitten des Untergangs und der Ausweglosigkeit können aus dieser Entscheidung heraus nachgerade „Wunder“ vollbracht werden: Wunder der Nächstenliebe. Ein Wunder muß geschehen, wenn man solchen Wirbeln entkommen soll. Das Wunder hat sich unzählige Mal vollzogen, und zwar dadurch, daß […] der Mensch erschien und Hilfe spendete. […] In jeder Lage und jedem gegenüber kann so der Einzelne zum Nächsten werden […] Das kann nicht verloren gehen, und davon lebt die Welt. Es sind die Opfer, auf denen sie beruht.109

Während Theodor Plievier dieses „Wunder“ anhand der Figur des Unteroffiziers Gnotke darstellt, liefert Jünger bezeichnenderweise selbst ein Beispiel für die Forderung der Stunde. Laut Tagebuch nimmt der aus dem Dienst entlassene Hauptmann als Führer der Kirchhorster Volkssturmabteilung in der 103 104

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Ebd., S. 309. Zu Jüngers Verhältnis zum französischen Existentialismus vgl. Martus, Steffen: „Ist der Anarchismus ein Existentialismus? Die Krise des ,Einzelnen‘ bei Ernst Jünger, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre“. In: Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur. Hg. v. Cornelia Blasberg u. Franz-Josef Deiters. St. Ingbert 2004, S. 159–197. Vgl. Anmerkung 87. Vgl. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. 3. Aufl. Reinbek 2001. Jünger: Waldgang. S. 361. Ebd., S. 363. Ebd., S. 360, vgl. außerdem S. 363, S. 374.

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höchsten Bedrängnis der letzten Kriegswochen noch einmal die Stellung auf verlorenem Posten im Kampfgeschehen ein. Er wendet sich aber von vornherein gegen den Befehl des Haltens um jeden Preis und lässt die letzten Verteidigungsstellungen ohne weiteres Blutvergießen übergeben: Ich bin in diesem Landstrich, wie so oft im Leben, der letzte, der Kommandogewalt besitzt. Gab gestern den einzigen Befehl in diesem Zusammenhange: die Panzersperre zu besetzen und dann zu öffnen, wenn die Spitze [des gegnerischen Angriffskeils, N.Ä.] sichtbar wird.110

In bezeichnender Analogie zu Theodor Plievier konturiert Jünger das KesselParadigma also folgendermaßen: Der Kessel als „nihilistisches Feld“ in extremo wird zur Raummetapher für die epochale Erfahrung beschleunigten Transzendenz- und Wertverlustes in der Moderne. Unter dem Rubrum fasst Jünger die Topographie der Massenvernichtung insgesamt. Als existenzphilosophische Metapher beschreibt der Kessel die ausweglose Lage des Einzelnen in der allgemeinen Katastrophe der Zeit, die Jünger am Beispiel des eingekesselten Soldaten aufzeigt. Wie bei Plievier sieht sich das Landser-Individuum zwischen militärischem Gegner und den eigenen Autoritäten auf dem Schlachtfeld gefangen gesetzt; es ist im Wesentlichen Opfer. Indem das von allen Seiten existenziell bedrohte Individuum seine Todesangst überwindet und den tragischen Konflikt in einer Gewissensentscheidung löst, öffnet sich ein Ausweg aus der Umklammerung: ein Moment der Freiheit in der eigenverantwortlichen, selbstlosen Gewissenstat.

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Technische Innovation und literarische Imagination Ernst Jüngers narrative Technikvisionen in Heliopolis, Eumeswil und Gläserne Bienen 1. Technik und Erzählung oder die Konstruktion von Resonanzräumen Indem sie sich von der Zeit entfernen, nähern sie sich den Grundstrukturen, die das Geschehen wiederholt. Eumeswil, S. 94

In Ernst Jüngers Romanen und Erzählungen der Nachkriegszeit finden sich allerlei eigentümliche technische Erfindungen mit auch für diese Zeit unzeitgemäßen Bezeichnungen: Phonophor und Luminar, Elektro- oder AmbianzZerstäuber und Permanentfilm, Televisor, Blinkstift und Selektor. Von der seinerzeit bekannten Welt der Technik und Medien ist hingegen bestenfalls eine Schwundstufe übriggeblieben, die in diesen in der Zukunft angesiedelten Texten zudem auf Begriffe zurückgreifen, die eher der Frühzeit der medientechnischen Entwicklung entstammen. So ist die Rede von Photogrammen und Lichtbildern, Dampfmaschinen und Phonographen, Transistoren, Automaten und stereoskopischen Bildern. Auch für die damalige Zeit wird man die meisten dieser Bezeichnungen als altertümelnd bezeichnen können. Und weiter: Die Welt der maschinellen Produktion und der Kriegstechnik, die in der frühen Publizistik noch breit literarisch dargestellt, theoretisch reflektiert und auch, wie etwa in Veränderte Welt, mit diagnostischer Intention photographisch abgebildet wird, findet allenfalls in Gläserne Bienen noch am Rande Erwähnung, ohne jedoch zum eigentlichen Kernbestand der Erzählung zu gehören.1 In Heliopolis und Eumeswil scheinen wir es hingegen mit postindustriellen Gesellschaften zu tun zu haben. Fabriken sind aus dem Bereich der Erzählung gänzlich verschwunden und Arbeiter gehören mittlerweile offenbar eher dem Dienstleistungssektor an. Es gibt zwar noch Raketen, die aber eher der Flucht aus der Welt von Heliopolis oder der Reise jenseits der Hesperiden dienen, als dass sie in irgendeiner Weise noch eine größere strategi1

Vgl. dazu auch den instruktiven Sammelband Strack, Friedrich (Hg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000. Der Schwerpunkt liegt hier auf den frühen Texten, aber auch Gläserne Bienen ist Gegenstand eines Aufsatzes.

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sche wie lebensweltliche Bedeutung in dem skizzierten Kosmos hätten. Auch die Rede von Raketenhäfen passt zu diesem Befund. In Heliopolis und Gläserne Bienen spielt daher auch weniger das Navigieren von Raketen oder Luftschiffen als vielmehr das Reiten von Pferden eine wichtige Rolle und auch der durch andere Texte prominent gewordene ‚Waldgang‘ findet sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen drei Texten. Obwohl die Texte eine technisierte Welt mit allerlei futuristischem Inventar beschreiben, verzichten sie nicht darauf, die Ablösung der Pferde durch Panzer als Zeichen der Zeit zu deuten – und das dürfte auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit bereits längst der Vergangenheit angehört haben.2 „Ein langer Ritt, sei es im Sprunggarten, sei es am Strande oder auf dem Pagos“3 ist auch im Reich der Phonophore und Elektro-Zerstäuber nicht verschwunden, nur „Philipp“ fehlt im Inventar der sprechenden Namen, in dem „Melitta“ jedoch an eine kulturhistorisch frühere Entwicklungsphase der Gesellschaft programmatisch erinnert – und damit meine ich natürlich nicht die Kaffeefilter gleichen Namens ostwestfälischer Herkunft sondern das griechische Wort für „Biene“. Betrachtet man diese eigentümliche Gemengelage aus wenigen merkwürdig futuristischen technischen Apparaten einerseits und anachronistischen medialen Reminiszenzen andererseits, so muten selbst die Texte Jules Vernes aus dem späten 19. Jahrhundert, um nur ein prominentes Beispiel zu wählen, als ein ebenso explizites wie weitreichendes Ausbuchstabieren von Technikvisionen an, demgegenüber Ernst Jüngers technische Vorstellungskraft mehr als nur blass bleibt. Oder um einen zeitgenössischen Vergleich zu wählen: Jüngers Texte ähneln weit eher Edgar Allan Poes Imaginarium, in dem es eben auch um Automaten und Daguerreotypien, um Kryptograpfie und kosmologische Visionen geht, als Jules Vernes enzyklopädischem Fortschrittsoptimismus. Gleichwohl – und das ist eine der auffälligsten Paradoxien – ist in den drei bereits genannten Texten, auf die ich mich auch im Folgenden konzentrieren werde, die Technik omnipräsent: Es finden sich zahlreiche Sentenzen, Bonmots, Reflexionen und sogar geschichtsphilosophische Modelle, die Technik als die Signatur der Zeit bestimmen und sie als Chiffre der Zeitläufe deuten. Technik ist, mit anderen Worten, zugleich wesentlich und akzidentell, Epiphänomen und Kern des Geschehens zugleich. Die Relevanz der Technik für das Universum der Erzählung zeigt ein Gedankenexperiment: Würde man die wenigen futuristisch anmutenden Erfindungen aus den Texten herausnehmen, so wäre die Welt von Heliopolis von derjenigen des Herrn der Ringe, mit dem sie einen gnostischen Grundzug wie auch die strenge Ordnung der Welt in verschiedene, klar voneinander 2 3

Jünger, Ernst: „Gläserne Bienen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 421–559, hier S. 471. Jünger, Ernst: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt. Tübingen 1955, S. 81.

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getrennte und doch aufeinander angewiesene Gruppen teilt, nicht sehr weit entfernt. Und würde man in Eumeswil auf den Luminar verzichten, so würde sich Manuel Venators Geschichtsstudium auf den nicht sehr ergiebigen Vergleich zwischen universitären Forschungsergebnissen und auf der Kasbah erwobenem Herrschaftswissen beschränken. Vor allem aber würde der ohnehin bereits arg karge Tagesablauf noch ein weiteres wichtiges Element verlieren und die Posthistoire ihren besonderen Geschichtsraum einbüßen. Eumeswil wäre dann „kein Ort nirgends“, im Sinne von weitgehend zeitlosen modellartig reduzierten Raum-, Herrschafts- und Gesellschaftsformen irgendwo zwischen den Maharanas Indiens und den Agadiren der Berber, die, so berichtet Ernst Jünger, ihn bei der Raumordung des Romans inspiriert hätten. Betrachtet man diese noch sehr allgemeinen Befunde, so ergibt sich ein recht eigentümliches Bild. Zum einen ist die Frage nach der Technik offenkundig entscheidend, da die Texte nicht nur zahlreiche Fährten auslegen, die nahelegen, sie auch, ja vor allem als Reflexionen über Technik zu lesen, sondern auch weil die zeitliche Ansiedlung der Texte in einer mal nahen, mal fernen Zukunft eine bestenfalls minimale Plausibilität einzig aufgrund der technischen Versatzstücke gewinnt. Es ist also ein Primat der Technik zu konstatieren. Zum anderen nimmt jedoch die Technik bei der narrativen Instrumentierung der Texte eine doppelte Stimme ein: eine sehr vordergründige recht schrill futuristische und eine zweite, deutlich dunklere, anachronistisch reduzierte eines vermeintlich technikfreien Raumes, in dem Höhlen, Imker, Apiarien und Eremiten eine viel größere Rolle spielen. Mit anderen Worten: Die Technik steht im Vordergrund und im Hintergrund, nicht mitten auf der Bühne. Sie ist vordergründig und hintergründig zugleich. Weiterhin entwickeln – zumindest in den beiden Romanen – die recht weitschweifigen Erzählungen, die eher einem Ausritt in das Dickicht komplexer Bezüge oder Exkursionen in das Reich der Imker, Katakomben oder Wälder ähneln, die Thematik der fraglos wichtigen Technikvisionen überaus gemächlich. In Eumeswil ist zwar fortwährend die Rede vom Luminar, aber es braucht geschlagene 340 von gut 430 Seiten, bis die Funktionsweise dieses Geräts überhaupt beschrieben wird. Ähnliches ist für den Phonophor zu konstatieren, der bereits in Heliopolis eingeführt wird. Hier führt erst das Interesse des Parsen Budur Peri an dem „berühmten Allsprecher“4 dazu – und das erst nach drei Vierteln des Romans – , dass seine Geschichte und Funktionsweise erläutert wird. In Heliopolis und Eumeswil findet, um ein weiteres und zugleich letztes Beispiel anzuführen, zwar der Elektro-Zerstäuber intensiv Verwendung, ohne dass aber klar würde, was nun genau seine Funktion ist. So heißt es etwa: „Die Ambianz-Zerstäuber an den Säulen 4

Ebd., S. 335.

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sprühten im Gewirr. Die kleinen Apparate auf den Tischen verstärkten ihre Ausstrahlung.“5 Wir erfahren weiter, dass sie zum „kollektiven Luxus“6 gehören, dass man Zerstäuber zum Zeichen des Abschieds abstellt,7 und dass es „behaglich im Raum ist“, wenn „der Zerstäuber auf mittleren Touren lief“,8 aber das ist auch schon alles. Der Ambianz-Zerstäuber – und mit ihm diverse weitere Apparate in Heliopolis und Eumeswil – ähnelt Brian Enos Ambient Music, die dazu gedacht ist, auf Flughäfen im Hintergrund zu laufen und zugleich eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen, die für hastig Durchreisende und lange Wartende gleichermaßen geeignet ist und zudem mehrfach nacheinander gespielt werden kann. In Jüngers narrativem Universum verleiht er den Räumen eine andere kühlere, technische Erscheinungsform, die mit der ansonsten zu konstatierenden Patina der sentenzenlastigen Erzählprosa kontrastiert. In Gläserne Bienen schließlich wird die Unschärfe und Unbestimmtheit der titelgebenden Apparatur mitsamt der abgeschnittenen Ohren Programm. Ernst Jünger war gleichwohl dieses technische Instrumentarium offenkundig so wichtig, dass er es in den beiden späteren Texten weiter- und wiederverwendete. Die Bienen, die dann in Gläserne Bienen titelgebend werden, finden sich in diversen Varianten und mit erheblicher Tragweite bereits in Heliopolis. Phonophore und Zerstäuber tauchen gleichermaßen in Heliopolis und Eumeswil auf, wo zudem der Bezug zum vorhergehenden Roman noch dadurch unterstrichen wird, dass, so der Text, auf die in Heliopolis noch gebräuchliche Technik der „Metalle, die unmittelbar Energie ausstrahlten“,9 Verzicht geleistet wird, „einmal, weil sie sich als hochgefährlich herausstellte, und dann, weil man sie nicht mehr beherrscht. „Dagegen“, so Jünger weiter – und ich zitiere mit heuristischer Intention den ganzen Passus –, ist sie in den Katakomben perfektioniert worden. Das lässt aus bescheidenen Proben ‚zur friedlichen Nutzung‘ schließen, die, wie der Blinkstift oder die thermischen Ringe, importiert werden. Sie erinnern an die Glasperlen und Spiegel für die Eingeborenen der Sklaven- und Goldküsten.10

Diese explizite Bezugnahme ist durchaus bemerkenswert, da sie zum einen eine diachrone Ordnung der beiden Texte im Sinne von zwei Gesellschaften betont, diese aber zum zweiten nicht als Fortschrittsgeschichte deutet (das Wissen um Gefahr und die Unkenntnis gehen hier Hand in Hand), sondern sie zum dritten nutzt, Heliopolis im Untergrund von Eumeswil, d. h. innerhalb der neuen Formationen anzusiedeln, um zugleich zum vierten eine weitausgreifende historische Klammer zu öffnen, die ihre ‚Roots‘ im Sklavenhandel 5 6 7 8 9 10

Ebd., S. 43. Ebd., S. 59. Ebd., S. 169. Jünger, Ernst: Eumeswil, Stuttgart 1977, S. 207. Ebd., S. 218. Ebd.

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hat und auf der Klaviatur Natur vs. Kultur spielt. Fünftens werden zugleich en passant mit dem „Blinkstift“ und den „thermischen Ringen“ neue technische Erfindungen generiert und eingeführt, die dem Leser nolens volens eben so erscheinen müssen wie den Eingeborenen die von den Kolonialmächten dargebotenen Perlen und Spiegel, da sie auch in der weiteren Folge des Romans ohne jede weitere Erläuterung bleiben und es bei dem schillernden Effekt des sprachlichen Blinkens bleibt. Der Blinkstift, das sei nicht wirklich einschränkend hinzugefügt, taucht noch ein weiteres Mal im Text auf und zwar in einer Reflexion Martin Venators: Als Historiker bin ich auf die Schrift angewiesen, während ich als Anarch sie auch entbehren kann. Übrigens soll man in den Katakomben Methoden entwickelt haben, die sie [die Buchstaben, B.S.] überflüssig machen; der Blinkstift gibt eine Probe – doch das steht auf einem anderen Blatt.11

Wohl auf einem jener Blätter, von denen es im Text heißt: „Der Weltgeist liebt die unbeschriebenen Blätter; sind sie beschrieben, so fallen sie von selber ab.“12 Der Blinkstift scheint bereits jenseits des Endes der Gutenberggalaxis angesiedelt zu sein,13 d. h. in einem Raum, in dem eben jener Weltgeist, nun mit Kojèves Hegel-Interpretation gesprochen,14 die Blätter bereits sämtlich vollgeschrieben hat. Der Baum ist kahl. Das ist sechstens und letztens eine der Strategien der Texte, die sich an dieser kurzen Belegstelle „in nuce“, wie Jünger vielleicht sagen würde, zeigt: Die narrative Unschärfe legt Bezüge zur aktuellen Situation – im Klartext zur Atomkraft bei den „thermischen Ringen“ und zum Computerzeitalter beim „Blinkstift“ – nahe, ohne diese jedoch in irgendeiner Weise zu präzisieren. Es wird vielmehr ein epischer Resonanzraum erzeugt, in dem die unterschiedlichen Bezüge, Zeitschichten und auch Ordnungen widerhallen und idealiter ein möglichst wenig kakophones, ja wohltemperiertes wie wohlklingendes Konzert der Stimmen ergeben. Dass dies geschieht oder überhaupt geschehen kann, ist vielleicht die zentrale narrative Strategie der Texte. Ernst Jünger geht es, so könnte man tentativ formulieren, um das Durchspielen von bestimmten Modellen, die in den technischen Apparaturen chiffrenartig eine Art narrativer Abbreviatur finden. Diese funktionieren, wie bereits die erste Belegstelle zeigt, unabhängig von den unterschiedlichen Ordnungen von Zeit und Raum, von Gesellschaft und Herrschaft, von Technik und Kultur. Orte und Gesellschaften verändern 11 12 13

14

Ebd., S. 227. Ebd., S. 80. Hier natürlich die einschlägigen Texte von McLuhan und Bolz aufnehmend. Vgl. McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn 1995 und Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. München 1995. Allgemein dazu Höltschl, Rainer: „Gutenberg-Galaxis“. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Hg. v. Alexander Roesler und Bernd Stiegler. Paderborn 2005, S. 77–81. Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel. Paris 1947. Deutsche Teilübersetzung von Iring Fetscher: Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Frankfurt a. M. 1975.

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sich, doch die Technik bleibt weitgehend bestehen. Und selbst dann, wenn wir uns in einem Raum der Science Fiction wähnen, zielt Fiction darauf, Science als Habitus, als gewohnte wie gewöhnliche Form der Lebenswelt zu inszenieren. Technik ist eine der Konstanten in den drei Erzählungen und dies zugleich text-, kultur-, gesellschafts- und geschichtsübergreifend. Das ist durchaus überraschend, da gerade die Technik von der Archäologie über die Geschichtswissenschaft bis hin zu filmischen wie literarischen Erzählungen einer der einschlägigsten Kandidaten als Indikator gesellschaftlichen wie kulturellen Wandels darstellt. Gebrauchskeramik verändert sich im Laufe der Jahrhunderte kaum (und wird daher von Archäologen meist gleich beiseite geräumt), wohl aber Installationen zur Wasserversorgung, Kriegsgeräte oder Fortbewegungsmittel. Die erzählte Technik der Texte Ernst Jüngers hingegen inszeniert eben Technik als Konstante, als modellhaftes Gestell, das das Geschehen über Text, Raum und Zeit hinweg grundiert und ordnungsverstärkend wie -inszenierend ist. Doch was genau sind diese Modelle? Was ist die Imagination hinter der technischen Innovation? Wie funktionieren – und das ist hier narratologisch, theoretisch und diagnostisch gemeint – die Apparate?

2. Luminare und Phonophore oder Allgegenwart, Archiv und Hierarchie Die Ratio regiert an jedem Orte, sonnengleich. Heliopolis, S. 103

Bei genauerem Hinsehen findet sich in Heliopolis und Eumeswil jeweils ein Leitmedium, das alle weiteren technischen Innovationen überwölbt und im Gegensatz zu diesen relativ ausführlich beschrieben wird. In Heliopolis ist es der Phonophor, in Eumeswil der Luminar. Die narrative Strategie ist hier wie dort, das Medium erst in praxi wie eine Art technisches Leitmotiv einzusetzen, um dann am Ende des Romans doch noch genauer auf es einzugehen. „Es gab hier keine tote Zeit“, heißt es so etwa zu Beginn von Heliopolis ziemlich orakelhaft enigmatisch und weiter: „Auch schufen die Phonophore ja eine Art Allgegenwart.“15 Wir erfahren weiterhin, dass der Phonophor einen Kontakt zum Zentralarchiv herstellen16 und auch als eine Art Diktaphon eingesetzt werden kann, dass er in Verbindung mit dem Punktamt und dem Zentralarchiv zur „Vervollkommnung der maschinellen Berichterstattung“ maßgeblich beiträgt17 und dass es offenbar Unterschiede zwischen Phono15 16 17

Jünger: Heliopolis, S. 32. Ebd., S. 41. Ebd., S. 202. Vgl. auch ebd.: „Sie schlossen den ungeheuren Vorrat von Daten mit Gedankenschnelle auf. Der Phonophor-Anruf traf diese Labyrinthe wie ein aus Ganglienfäden gewebtes

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phoren und Telephonen gibt, da auf dem Schiff beide zugleich eingesetzt werden18 und schließlich, dass sogar eine Sammlung von Phonophoren für den Armeegebrauch angelegt wurde.19 Doch erst im Gespräch zwischen Lucius de Geer und Budur Peri erfährt auch der geduldige Leser, was es mit dem Phonophor nun genau auf sich hat. Phonophore haben drei Dimensionen: eine räumliche, eine zeitliche und eine hierarchische. „Der Allsprecher. Ausführung für normales Gehör. Unkäuflich, unverkäuflich, unübertragbar und nur an der Funktion des Trägers haftend, nicht aber an der Person, von seltenen Ehrungen abgesehen.“20 So lautet die sachliche Beschreibung des technischen Instruments. Es dient als Orientierungshilfe, da man jederzeit bestimmen kann, wo man sich befindet, aber auch umgekehrt als Ortungsgerät, da die Schaltzentralen, das Punktamt und das Zentralarchiv, wissen, wo sich ein jeder Träger befindet. In Eumeswil wird dies mehrfach reflektiert und Manuel Venator wird mitunter das Gerät abschalten, um nicht geortet werden zu können. Diese Allgegenwart des Phonophors dient auch dazu, Abstimmungen durchzuführen, indem die Träger ihr Votum übermitteln.21 Aber was hier nach Gleichheit aussieht, erweist sich im Durchgang durch den „ungeheuren Vereinfacher“ als eine nur scheinbare Kategorie, da zwar alle antworten, aber nur wenige fragen dürfen. Der Phonophor ist weiterhin auch Zahlungsmittel und Verbindung zu sämtlichen Radiostationen, Nachrichtenagenturen und last but not least zum allumfassenden Archiv, d. h. zur Gesamtheit der Bücher, Aufzeichnungen und Dokumente in Heliopolis bzw. Eumeswil. Die Technik ist – und das betont der Text nachdrücklich – allumfassend und allgegenwärtig, global in Zeit und Raum. Und zugleich ist der archivalische Zug unübersehbar: Zum Archiv wird hier die Zeit. Kommunikationsmedien sind vor allem auch Speichermedien und das bereits in ihrer Funktionsweise. Durch diese Verzahnung von Archiv und Gegenwart, individueller Anwendung und globaler Verbreitung, Speicherung und Kommunikation nimmt der technische Apparat eine neue Qualität an: „Man möchte meinen,“ so diagnostiziert der Erzähler in Heliopolis etwas raunend, „daß der Stoff mit seinen kristallenen Gittern und seinen strahlenden Metallen unmittelbare Intelligenz gewonnen hätte, und daß hier einer der Übergänge von der Technik zur reinen Magie gelungen wäre“.22 Die Magie der Technik und der Stoffe ist aber vor allem anderen Materialisation der Struktur der neuen Machtordnung. Es ist eine

18 19 20 21 22

Spinnennetz und zauberte das Material herbei, in welchem Zusammenhang der Pläne und Geschäfte es auch gebraucht wurde.“ Ebd., S. 283. Ebd., S. 308. Ebd., S. 336. Ebd.: „Die Gegenwart der alten Volksversammlung, des Marktes, des Forums war hier auf ungeheuere Räume ausgedehnt. Vor allem war der Phonophor ein ungeheure Vereinfacher.“ Ebd., S. 337.

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Magie der technischen Kristallisation als Überblendung und Bündelung von Raum, Zeit und Macht. Und so nimmt es kaum wunder, dass der Phonophor auch zum Gegenstand einer geschichtsphilosophischen Studie mit dem Titel „Die drei Stufen zur Gleichheit“ wurde, die die Geschichte der Menschheit auf die formelhaften Stadien Religion, Politik und Technik bringt.23 Die Phase der kinetischen Verfassung der Welt oder des Zustands des Arbeiters, für die der Phonophor stellvertretend wie sinnbildlich angeführt wird, ist zwar scheinbar ein „ideales Mittel der planetarischen Demokratie“,24 tatsächlich aber gerade aufgrund ihrer Allgegenwart und bis zu den Hesperiden bzw. den großen Wäldern, in denen die Kunst der Genetik längst verloren geglaubte Natur hervorgerufen hat, reichenden Raumkontrolle vor allem eines: Gleichschaltung. So etwa Eumeswil unter Verwendung eines unüberhörbar sprechenden Wortspiels: „Den Phonophor werde ich,“ räsoniert Manuel Venator, „also auf lange Frist ausschalten. Im Schalten und Geschaltet-Werden erschöpft sich unsere gesellschaftliche Existenz. Das Ideal ist die Gleichschaltung.“25 Was in Heliopolis als Magie der Technik apostrophiert wird, erweist sich nicht erst in dieser Sentenz aus Eumeswil als Gleichschaltung von Natur und Kultur, Religion und Politik und schließlich der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in einem Instrument, das gleich und unterschiedlich zugleich ist, zeigen doch die „Unterschiede in der Kapazität“ des Geräts zugleich auch präzise unterscheidbare soziale Hierarchien an. Parsen durften etwa nur die Phonophore der „Händler und Geschäftsleute“ benutzen.26 Die klaren Hierarchien und Ordnungen der Gesellschaft in ethnische und Berufsgruppen bilden sich in jenen der Technik ab. „Am Unterschiede der Metalle“, so heißt es explizit, „erkannte man den Wirkungsgrad, und daraus ergab sich, wie in früheren Zeiten etwa durch die Ordensbänder, eine gewisse Hierarchie, die sich in Fragen des Vortritts, der Vorfahrt oder als Ausweis gegenüber den Behörden äußerte.“27 Die soziale Ordnung ist von metallischer Klarheit. Man könnte nun eine Stufenleiter der Metalle, die sich etwa in alchemistischen Traktaten findet und dort mit den Sternen, Säften und Temperamenten in Einklang gebracht wird, auf jene der Gesellschaft übertragen und würde – so zumindest das aufgerufene Imaginarium – in etwa jene der Phonophore erhalten. Wirkungsgrade sind hier technische und soziale zugleich. Am Unterschied der Metalle werdet ihr sie erkennen. Sie sind das, was sie sein sollen: „Embleme“.28 Daran wird sich auch in Eumeswil nichts ändern, nur dass hier die Distinktionen noch deutlicher ausgewiesen werden: Unterschieden werden Phonophore mit 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 335. Ebd., S. 336. Jünger: Eumeswil, S. 163. Jünger: Heliopolis, S. 335. Ebd. Ebd., S. 336.

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schmalem Silberstreif29 bzw. die gestreiften Phonophore der Kasbah-Bewohner,30 seltene Goldphonophore31 und schließlich graue Phonophore der hier im doppelten Wortsinn niedrigen Bevölkerungsschichten, da sie am Fuß der Kasbah leben, „mit dem man hören, doch nicht sprechen kann“,32 sprich mit dem man zu gehorchen hat und nicht zu befehlen vermag. Der Phonophor ist so zu allererst ein Gerät hierarchischer Kommunikation, bei dem technische Performanz und jene der Macht Hand in Hand, und ich bin versucht zu sagen: Hand in Handy gehen. Beide Texte, Heliopolis wie Eumeswil, imaginieren jedoch auch in je unterschiedlicher Weise eine Flucht aus der technischen Gleichschaltung, aus dem Raum, der mit dem Phonophor erreicht werden kann: Funklöcher als Flucht(t)räume. Hüben wie drüben schlägt sich der Protagonist auf die Seite des Herrschers im Exil. In Heliopolis steht am Ende der Aufbruch zum Regentenschiff, das irgendwo im Weltraum über dem Geschehen schwebt, in Eumeswil die Expedition in den großen Wald als Xenophon redivivus, der vom Geschehen berichten soll und als Historiker zugleich einen besonderen Blick auf es zu richten hat. In beiden Texten gehört es jedoch auch zum narrativen Programm, dass die Flucht aus dem Reich der Ordnungen wieder in den Raum der Erzählung zurückgeholt und von ihr eingeholt wird. In Heliopolis noch in extremer Abbreviatur durch die letzten Sätze des Romans, in Eumeswil dann ähnlich wie auch in Gläserne Bienen durch einen Epilog, der das archivarische Gewissen dem technischen Wissen der Archive übereignet. Es gibt kein Entkommen aus dem Reich der Technik, wenn es zur narrativen Technik der Erzählung gehört, Räume zu konstruieren, deren Ordnung notwendig geschlossen ist. Erzählung wird in Heliopolis und in Eumeswil zur Technik der Gleichschaltung. Heliopolis und Eumeswil sind mit anderen Worten Aufzeichnungen des Phonophors und Szenen im Luminar. In beiden Texten ist auch explizit davon die Rede, dass die Protagonisten ihre Berichte in den Phonophor sprechen. Die Macht der Archive gehört zur Gewalt der Technik dazu. Und das, was in beiden Texten geschieht, könnte man dann, der Logik der Texte und ihrer Apparate folgend, im Luminar betrachten, jenem seltsamen Gerät, das Geschichte in ein Theater der Anschauung und Betrachtung, in ein „Marionettenspiel“33 verwandelt. Es ist mehrfach betont worden, dass das Luminar eine Art technikgewordenes Posthistoire darstellt. Es verwandelt Geschichte in reine Anschauung, in einen Gegenstand des durch désinvolture und „Leidenschaft ohne Teilhabe“34 gekennzeichneten teilnahmslosen Blicks des „Metahistorikers, der den Ge29 30 31 32 33 34

Jünger: Eumeswil, S. 18. Ebd., S. 391. Ebd., S. 141. Ebd., S. 389. Ebd., S. 266. Ebd., S. 376.

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schichtsraum verlassen hat.“35 Ein neuer olympischer Blick auf das Geschehen tut sich auf, für den sich die Vielfalt der Erscheinungen in Urbilder verwandelt, die, so Eumeswil eine Sentenz von Giordano Bruno gleich mehrfach zitierend, „Bild und Spiegelbild“ zugleich sind.36 Die Szenen des Luminars sind historische Sedimentierung und Auferstehung zugleich. „Ein überzeitlicher Kern kann in der Materie entdeckt und aus ihr befreit werden. Das sind Auferstehungen,“ so in Eumeswil – jedoch solche, das wäre zu ergänzen, die sich inmitten des zu einer Geschichte gewordenen Geschichtsraums befinden. Das Luminar führt ein Jenseits und eine Aufhebung der Zeit im Raum der Geschichte selber regelrecht vor Augen, es „ist eine Zeitmaschine, die zugleich die Zeit aufhebt; es führt aus ihr heraus.“37 Es verwandelt alles in ein stereoskopisches „Spiel der Retina“,38 bei dem zudem das äußere und das innere Theater gleichgeschaltet werden, gibt es doch ein „ungeheueres Archiv in unserem Inneren, dem nichts verloren geht.“39 Die Einbildungskraft und die Bilder der Archiv gewordenen Kraft der Geschichte sind ihrerseits Bilder und Spiegelbilder zugleich. Ein weiteres Mal auf die Erzählung übertragen, kann man aus der Beobachtung der These des Textes, dass der „wahre Historiker eher Künstler, vor allem Tragiker als Mann der Wissenschaft“40 ist, folgern, dass das auch für den Erzähler gilt, der umgekehrt als Künstler der bessere, weil im Wortsinn wesentlichere Historiker ist. Er hat es mit einem Reich der Bilder zu tun, dessen Fäden er als „neutraler, wertfreier Beobachter“41 in den Händen zu halten hat. Und dabei muss er sich immer vor Augen führen, dass „selbst Moses, wenn [man] ihn ins Luminar zitiert – er muß […] Antwort stehen.“42 Jene des Anarchen, Metahistorikers und auch Erzählers wäre der neue kategorische Imperativ nach dem Auszug aus dem gelobten Land: „Ich werde zu Dingen und Personen die rechte Distanz finden.“43

35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S. S.

57. 69. Dort auch S. 242 und, ein drittes Mal, S. 263. Eine weitere Variante S. 275. 401. 378. 378. 182. 221. 277. 240.

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3. Cut and Paste oder abgeschnittene Ohren und verlängerte Blicke Ein großer Physiker ist immer auch Metaphysiker. Gläserne Bienen, S. 485

Die rechte Distanz verfehlt jedoch Rittmeister Richard, der Protagonist der Erzählung Gläserne Bienen, und sie ist so zugleich die unausgesprochene Leitfrage des Textes, die dieser wie durch ein narratives Perspektiv in Szene zu setzen versucht. Richard zieht es vor, die Phänomene mit einem Feldstecher in Augenschein zu nehmen so wie Nathanael den Automaten Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann betrachtete. Dass Jünger Hoffmann offenbar im Blick hatte, verraten neben dem Automatenmotiv weitere intertextuelle Marker, wie ein expliziter Vergleich und die Sentenz, dass es sich bei Konstruktionen in Zapparonis Fabrik um bestürzende in Callots Manier handelt.44 Clara et distincta fallen in beiden Fällen die Urteile über das Gesehene bekanntlich nicht aus. Es geht Rittmeister Richard eher wie dem Kinozuschauer von David Lynchs Film Blue Velvet, dessen Eingangssequenz eine ähnliche Irritation in Szene setzt, die Gläserne Bienen ausbuchstabiert. Dort greift sich ein rasensprengender Mann, nachdem sich der Schlauch verknotet hat, plötzlich an den Hals, so als habe ihn eine Biene gestochen und als könne er dem allergischen Schock nicht Herr werden und zugleich wechselt die Perspektive von dem Point of View eines Kindes, mit der die Eingangssequenz gedreht wurde, in jene untergründige der Insekten, die ein Rasenstück bevölkern, auf dem kurze Zeit darauf der Protagonist ein abgeschnittenes Ohr finden wird. Die „Doppelgründigkeit“,45 um Jünger zu zitieren, und das Switchen zwischen Oberfläche und Tiefe, Innen- und Außenwelt gehört hier wie dort zu den narrativen Strategien und ist Teil ihres Programms. Wenn Richard Zapparonis Welt betritt, so erscheint sie ihm wie ein intensiviertes Ebenbild oder ein „technisch gefärbtes Märchen“46 der neuen Wirklichkeit, in der die Menschen „immer mechanischer, berechenbarer wurden und oft hatte man kaum noch das Gefühl, unter Menschen zu sein.“47 Den Übergang zwischen der alten und der neuen Welt markiert hier noch das Pferd: Rittmeister Richard beklagt das Verschwinden der Pferde zugunsten der Panzer, um dann in Zapparonis Werk das „Paradepferd des technischen Optimismus“ zu erblicken.48 Seine Prüfung wird darin bestehen, herauszufinden, ob er dieses zu reiten imstand ist. Und diese Prüfung wird er nicht zuletzt aufgrund einer falschen Distanz zum Geschehen nicht bestehen. Während die Entdek44 45 46 47 48

Jünger: Gläserne Bienen, S. 511 (dort ist die Rede vom „Archivarius Lindhorst“) und S. 516. Weiterhin ist auch die Rede von Capriccios, S. 544. Ebd., S. 458. Ebd., S. 450. Ebd., S. 422. Ebd., S. 483.

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kung, dass es sich bei den Bienen um ein waffenartiges „Insekt vom Mond“49 handelt, bei dem der Natur „ins Handwerk gepfuscht“50 wurde, noch im Bereich des kategorial Fassbaren liegt, erblickt er in den „Automatenvölkern“ einen triumphierenden „Geist von unserem Geist“, eine „in hoher Ordnung konzentrierte zwecklose Macht“51 und ein Eintreten „in das Gesetz der Serie, in die Gewohnheit“,52 wird doch mit jener der abgeschnittenen Ohren die Grenze des Gewöhnlichen überschritten. Nun „gewinnen die Bilder Macht über uns“,53 werden zu Traumbildern, die zu einer „tieferen Stufe der Wirklichkeit“54 führen – so wie die Kamerafahrt in das Reich der Insekten bei David Lynch. Eine Reaktionsform Richards auf den Schock angesichts der abgeschnittenen Ohren ist es, seinerzeit Schnitte zu setzen – und zwar tief in die Geschichte. Plötzlich ist die Rede von Abtrennung von Gliedmaßen im Mythos und Abschnitten der Weltgeschichte.55 Die Vexierbilder der abgeschnittenen Ohren führen eine Zäsur in der Geschichte vor Augen, über die der ehemalige Rittmeister nicht springen will und das nicht zuletzt, weil ein weiteres Mal an den offenkundig nicht überwundenen Abschied vom hippolitischen Zeitalter, wenn ich so sagen darf, erinnert wird: „Hier aber,“ so räsoniert Rittmeister Richard, war der Geist am Werke, der das freie und unberührte Menschenbild verneint. […] Er wollte mit Menschenkräften rechnen, wie er seit langem mit Pferdekräften rechnete. Er wollte Einheiten, die gleich und teilbar sind. Dazu mußte der Mensch vernichtet werden, wie vor ihm das Pferd vernichtet worden war. Da mußten solche Zeichen an den Eingangstoren aufleuchten. Wer ihnen zustimmte, ja wer sie nur verkannte, der würde brauchbar sein.56

Und was macht Rittmeister Richard? Er erzählt. Das ist die andere Reaktionsform. Er erzählt angesichts der „Probemobilmachung“,57 der er sich ausgeliefert sieht, von seiner Kindheit, dem Kosakenkrieg unter Kindern (und auch dem späteren asturischen Krieg) und nicht zuletzt der Lektüre von Büchern wie „Ein deutsches Reiterleben“.58 Und er versucht, sich an Flavius Josephus’ Jüdischen Krieg, genauer an den nicht namentlich erwähnten Untergang Masadas zu erinnern und diesen als eine historische Zäsur ähnlichen Typs zu bestimmen.59 Ein weiteres Mal werden narrativ Modelle durchge49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

504. 505. 509. 515. 518. 520. 521 und S. 539. 547. 523. 527. 593.

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spielt, die hier Schnitte über Schnitte generieren. Das Verfahren ist das eines Cut and Paste, da Jüngers Rekurs auf E.T.A. Hoffmann nicht zuletzt dazu dient, die Inkommensurabilität des romantischen Blicks teleskopisch vor Augen zu führen. Die Unentscheidbarkeit, ob es sich um menschliche oder künstliche Ohren handelt, wird als Scheideweg in Szene gesetzt, bei dem aber nur scheinbar noch zu entscheiden ist, welchen Weg man nun einschlägt. Die Entscheidung ist längst gefallen. Die Optionen werden dennoch deutlich, clara et distincta, profiliert: „Menschliche Vollkommenheit und technische Perfektion sind nicht zu vereinbaren. Wir müssen, wenn wir die eine wollen, die andere zum Opfer bringen; bei diesem Entschlusse beginnt der Scheideweg.“60 Aber Rittmeister Richard gehört mit seinem romantischen Dualismus längst einer vergangenen Epoche an. Der Schritt über die Linie hat längst stattgefunden. Und das neue technische Zeitalter, bei dem die Unterscheidung zwischen Menschen und Automaten, Kultur und Natur, künstlichen und menschlichen Ohren hinfällig geworden ist, ist längst angebrochen. „Es gibt Prognosen, die behaupten, daß unsere Technik eines Tages in reine Zauberei ausmünden will“,61 orakelte noch Rittmeister Richard. Der Redaktor des Historischen Seminars, der seinen Bericht herausgibt, hat längst die rechte Distanz zum Geschehen eingenommen und blickt zurück auf eine Zeit, in der „die Konflikte noch gefühlt wurden“, um sogleich unmissverständlich hinzuzufügen: „Richard kannte nicht die überraschenden Wendungen, die sein Thema des brennenden Interesses beraubt hatten, das ihm eine lange Reihe von Jahren zuteil geworden war.“62 Bei David Lynch soll man am Ende des Films die oberflächlich geglättete kleinbürgerliche amerikanische Idylle, die scheinbar wiederhergestellt ist, nicht ohne ihren Abgrund betrachten können. Man soll eben auch mit den Augen der Insekten sehen. Und bei Ernst Jünger soll nicht zuletzt der Blick auf die Gesellschaften von Heliopolis, Eumeswil und die Fabrik Zapparonis und jener auf die Jahrtausende, die hier zitiert, erzählt und aufgerufen werden, jenem in den Luminar ähneln, in dem Geschichte theatralisch in Szene gesetzt wird. Und er soll sich, das scheint mir die eigentliche Pointe der Gläsernen Bienen zu sein, durch eben ihre technische Nüchternheit auszeichnen oder, um Ernst Jünger zu zitieren, „die Verwandlung einer außerordentlichen Erscheinung in eine typische“63 und das Eintreten „in die Maße einer anderen Ökonomie, in das Titanische“64 in den Blick nehmen. Mit den Facettenaugen von gläsernen Bienen sollen wir die Geschichten und mit diesen auch die Geschichte lesen. 60 61 62 63 64

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

521. 448. 559. 515. 513.

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Literaturverzeichnis Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. München 1995. Höltschl, Rainer: „Gutenberg-Galaxis“. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Hg. v. Alexander Roesler u. Bernd Stiegler. Paderborn 2005, S. 77–81. Jünger, Ernst: Eumeswil. Stuttgart 1977. Jünger, Ernst: „Gläserne Bienen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart 1978, S. 421–559. Jünger, Ernst: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt. 2. Aufl. Tübingen 1955. Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel. Paris 1947. Deutsche Teilübersetzung von Iring Fetscher: Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Frankfurt a. M. 1975. McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn 1995. Strack, Friedrich (Hg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000.

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Poetik des Interims Ernst Jünger und die Bundesrepublik Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, saßen auch Ernst und Liselotte Jünger, nicht anders als die meisten Bundesbürger, vor dem Fernseher und verfolgten die Ereignisse in der seit fast dreißig Jahren geteilten Stadt. Der Eintrag ins Tagebuch Siebzig verweht IV vom anschließenden Tag zeichnet folgendes Bild von den Zuschauern vor dem Apparat in der Wilflingener Oberförsterei: Wir saßen bis über Mitternacht vorm Bildschirm und nahmen am Jubel rund um das Brandenburger Tor teil. Die Enkel riefen aus Berlin an – sie haben auf der Mauer getanzt. Endlich einmal auch eine gute Nachricht für unser Land. Sie wirkte wie ein Regen in der Wüste nach langer Trockenheit. Daß es einmal zur Wiedervereinigung kommen würde, habe ich nie bezweifelt – ob ich sie noch erleben würde, jedoch sehr. Dabei habe ich weniger an ein nationales Erwachen als an das Einschmelzen der Grenzen innerhalb der allgemeinen Entwicklung zum Weltstaat gedacht. Um so mehr erstaunte mich die Zuversicht, mit welcher der Bundeskanzler kürzlich hier in der Bibliothek das baldige Ende der „Zone“ voraussagte.1

Während die Enkel sich die Gunst der Stunde sogleich zu eigen machen und auf der Mauer tanzen, bleibt dem Vierundneunzigjährigen, der an so vielen Wendepunkten der deutschen Geschichte überdurchschnittlich stark involviert in die Ereignisse war, diesmal nur die Rolle des Beobachters – fernab in der Provinz und nivelliert durch das Massenmedium Fernsehen. Aufgewogen wird die einst selbst gewählte Entfernung von den historischen Zentren2 allerdings dadurch, dass der Autor nach wie vor in engem Kontakt mit Geschichte machenden Männern steht. Und ungebrochen ist auch der Wille zur Deutung, der es sich zumutet, bereits am nächsten Tag Wirkungen zu bilanzieren und sofort von der Wiedervereinigung zu reden, die doch eben erst als reale Möglichkeit im Horizont der Zukunft aufgetaucht ist. Auch wenn ihm hier die spätere Redaktion dieser Tagebücher, die erst nach sechs Jahren 1995 erschienen, einen Streich gespielt haben sollte, bleibt doch bemerkenswert, 1 2

Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV. Stuttgart 1995, S. 382. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zog Jünger sich aus dem Machtzentrum Berlin zurück, um zunächst nach Kirchhorst auszuweichen, später nach Ravensburg und 1950 schließlich nach Wilflingen. Vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007; Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie. München, Zürich 2007.

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dass Jünger sich die neuerliche Selbstdarstellung als der Geschichte vorgreifender Diarist gestattet hat. Sie unterstreicht einerseits den ein Leben lang aufrecht erhaltenen Anspruch, als Autor und Zeitbeobachter zu gelten, dessen Wort von eminenter Welthaltigkeit ist, andererseits jedoch geht die punktuelle Bezugnahme auf das historische Ereignis in der Aneinanderreihung disparater Notate unter, die ein weites Spektrum ausschreiten, das von poetologischen Aphorismen über die unvermeidlichen Lesefrüchte bis zur Verzeichnung von Bucheingängen und deren Widmungen reicht und alle Tagebücher seit 1965 gleichermaßen prägt.3 Über den zitierten Eintrag hinaus bemerkt Jünger in seinem Tagebuch denn auch nur sehr wenig zum Prozess der deutschen Wiedervereinigung, der mit dem Fall der Mauer beginnt. Hier wird der Begriff „Wendehals“4 als Beispiel für das schöpferische Vermögen der Alltagssprache aufgegriffen, dort in geläufiger Naturmetaphorik festgehalten, dass „das Tauwetter […] früher [kam] als erwartet“.5 Auch zu Rückblicken auf die Geschichte der Bundesrepublik, die mit dem einschneidenden Ereignis ebenfalls zu Ende geht, ist Jünger wenig aufgelegt. Der Prozess der Wiedervereinigung erinnert den Autor zwar an seine universalgeschichtlichen Deutungsambitionen aus der Zeit des Kalten Krieges,6 stimuliert ihn aber nicht mehr zu neuen Perspektiven. Gleichwohl markiert der Doppelcharakter, der die vom Autor selbst skizzierte Szene prägt, in sehr treffender Weise den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung zu Jüngers Werk nach 1945 (1.) und insbesondere zu ausgewählten Erzähltexten (2.) in ihrer Nähe zum Diskurs der frühen Bundesrepublik (3.), aber auch in ihren Anklängen an die Texte der Zwanzigerjahre (4.).

1. Die Mischung aus Nähe und Ferne nämlich, aus Anspruch und Zurückhaltung, aus Zentralperspektive und Provinz, sagt über Jüngers Werk der zweiten Lebenshälfte mehr aus als der verzweifelte Versuch, ihn in ähnlicher Weise zu fassen zu kriegen wie den Autor des – wie die Historiker gelegentlich formulieren – „zweiten Dreißigjährigen Krieges“7 1914–45. Man muss die 3

4 5 6

7

Als kritische Stimme zu diesem „egozentrischen“ Schreibprojekt vgl. Heißenbüttel, Helmut: „General i.R. als Goethe. Zu Ernst Jüngers Tagebüchern ‚Siebzig verweht‘“. In: Text und Kritik 105/106 (1990): „Ernst Jünger“, S. 119–124. Jünger: Siebzig verweht VI, S. 399. Ebd., S. 392. Vgl. hier insbes. Jünger, Ernst: „Der Waldgang“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374, sowie Ders.: „Der Weltstaat. Organismus und Organisation“. Ebd., S. 481–526. Der bereits seit Ende der Weltkriegsepoche kursierende Begriff wurde namhaft u. a. in Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: 1914–1949. München 2003, S. XIX u. S. 985, aufgegriffen.

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genannten Ambivalenzen der Perspektivierung und des Geltungsanspruchs gar nicht unter Rückgriff auf Jüngers eigene Begriffe als neuerliche ‚Stereoskopie‘ auszeichnen,8 die ja bezweckte, „die Einheit im inneren Widerspruch“9 einzufangen, um vom einzelnen Bruchstück der Wirklichkeit zu einer machtvollen Totalperspektive überzugehen. Vielmehr verweist das Changieren zwischen beliebigem Notat und aufblitzender Deutungsambition im Tagebuch auf die kalkulierte und poetologisch reflektierte Unterbestimmtheit zurück, die das Werk nach 1945 trotz inszenierter Zeitnähe durchgängig prägt. Insbesondere für Jüngers Erzähltexte gilt, dass sie zwar als Spiegel der Welt angelegt, aber in einer derartigen Ferne aufgestellt sind, dass die Einlösung der zeitdiagnostischen Deutungsversprechen, die sie abgeben, ebenso in die Zukunft entrückt wird wie die Erzählwelten von Heliopolis und Eumeswil. So muss offen bleiben, in welcher Sinndimension und mit welcher Reichweite genau hier Deutungskraft reklamiert wird. Werden normativ exemplarische Figuren vorgeführt, die anschaulich machen, wie man sich unter den Bedingungen autoritärer Herrschaft verhalten soll? Oder ist nur die anthropologische Schwärze,10 die das wiederholte Spiel mit dem Werden und Vergehen von Machtkonstellationen in Jüngers Erzählwelten von den Marmorklippen bis zur Zwille aufweist, als verbindlich anzusehen? Derartige Fragen werden von allen fiktionalen Texten nach 1945 nahe gelegt, aber von keinem wirklich beantwortet. Anders als in der Weimarer Zeit, als Jünger sich in den Reihen der Frondeure gegen die Republik auf expliziteste Weise exponierte11 und anders auch als in der Phase des NS-Regimes, als sein Schreiben – gleichermaßen bedingt durch die Vita des Autors und die besonderen Publikationsund Rezeptionsbedingungen – gar nicht anders als implizit politisch und zeitbezogen wahrgenommen werden konnte,12 kennzeichnet seine Arbeiten nach 1945 eine diesbezügliche Unentschiedenheit, ein Verharren im Interim. Die Bedeutungskonstitution der Texte verfährt zwar nach den gleichen Regeln wie in den Jahren zuvor,13 in der pragmatischen Dimension jedoch, die

8 9 10 11 12 13

So insbes. Seferens, Horst: „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 212ff. Jünger, Ernst: „Das abenteuerliche Herz“. Erste Fassung. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 86. Vgl. z. B. die Bemerkung in Jünger, Ernst: „Jahre der Okkupation“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III: Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 403–659, hier 455. Vgl. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. Wie z. B. die Rezeption von Dolf Sternberger und Heinrich Böll zeigt, die Kiesel: Jünger, S. 472ff. anführt. Vgl. Stöckmann, Ingo: „Der Intellektuelle als Kosmopolit – Ernst Jüngers Weltbürgertum“. In: Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa. Hg. v. Matthias Schöning u. Stefan Seidendorf. Heidelberg 2006, S. 134–149.

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„Text[e] als Handlung“ verstanden,14 gibt es parallel zur fraglosen Kontinuität entscheidende Veränderungen zu konstatieren. Wenn jeder Text eine in der bloßen Intention nicht aufgehende Form der Selbstexposition15 des Autors ist, zu der sowohl die strukturalen Merkmale des Textes und alle seine Poetizität formenden Elemente gehören als auch die hermeneutisch zugängliche Bedeutung, das diskursive Moment und seine referentielle Dimension, dann hat sich der Stil der Jüngerschen Arbeiten nach 1945, das, worin Poetik und sachlicher Einsatz zusammenstimmen, signifikant geändert. Dann kann bezüglich Jüngers Werkentwicklung festgehalten werden, dass er von seiner hochgradig forcierten und z.T. riskanten Strategie abrückt und die gleichen Textverfahren nun nicht länger im Dienste heroischer Zuspitzung stehen, sondern dem Entwurf ins Unbestimmte abgehobener Welten dienen. In den Zwanzigerjahren wird die Intervention des Rechtsintellektuellen Jünger in die Politik zwar auch nicht praktiziert, aber in sehr vielen Texten wenigstens inszeniert. Nach 1945 verweigert Jünger nicht nur die Neuedition dieser Texte, er verzichtet auch auf analoge politische Publikationen, für welche Position auch immer. Dieser Unterschied im Selbstbild und in der Selbstinszenierung ist nicht gering zu schätzen. Der Ausdruck ‚Interim‘ soll, bezogen auf Jüngers Werk nach 1945, diese Modifikation des Autorschaftskonzepts und der konkreten Autortätigkeit anzeigen. Der Begriff ‚Interim‘ ist metasprachlich verortet und fasst die Änderung des Stils idealtypisch zusammen. Im besten Falle ließe sich zeigen, dass im konzeptuellen Kernbereich des Werkes an die Stelle des in den Zwanziger- und Dreißigerjahren viel gebrauchten Begriffs der ‚Stereoskopie‘ Vorstellungsinhalte aus dem Wortfeld ‚Interim‘ getreten sind. Mit einem Schwergewicht auf der Zeitdimension will meine Begriffswahl genau jene von Jünger inszenierten oder narrativ realisierten Zustände ins Rampenlicht stellen, die entgegen der stereoskopischen Zangenbewegung, der Jünger eine besondere „Feinheit des Zugriffs“ nachrühmt,16 die nicht minder feine Gabe des Innehaltens, die Produktivität des Zögerns auszeichnen.17 Während ‚Stereoskopie‘ als Metapher für eine momentane, ja plötzliche, die Widersprüche aufschließende Koinzidenz zweier eigentlich getrennter Sinndimensionen im Dienste einer totalisierenden Fassung steht,18 die der Entscheidung benachbart ist, bezeichnet das ‚Interim‘ die bis auf Abruf an14 15 16 17 18

Vgl. Stierle, Karlheinz: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975. Zum Begriff der Exposition vgl. Bal, Mieke: Kulturanalyse. Hg. v. Thomas Fechner-Smarsly u. Sonja Neef, übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2002, S. 31–39. Jünger, Ernst: Das abenteuerliche Herz, S. 86. Vgl. dazu jüngst – freilich ohne Berücksichtigung Jüngers – Joseph Vogl: Über das Zaudern. Berlin 2007. Vgl. Seferens: Leute, S. 154ff.

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dauernde Phase einer gleichsam schwebenden Eröffnung. Die Unbestimmtheit und das gleichermaßen Vorübergehende wie Andauernde des auf vorläufig noch verschwiegene Entscheidungen zusteuernden Augenblicks werden nicht als Mangel an Bestimmung, sondern als glücklicher Moment einer im Windschatten der Geschichte sich einstellenden Freiheit erfahren. Um das verwickelte Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in Jüngers Werk deutlich zu machen, sind zunächst die vordergründigsten politischen Kriterien hintanzustellen, um solchen Texten wie dem 1960 erschienenen Essay Der Weltstaat, der manchem Beobachter als Ausdruck einer grundlegenden politischen Wandlung erschien,19 seine poetologische Nähe zu den explizit zeitbezogenen oder interventionistischen Texten der Zwanziger- und Dreißigerjahre nachzuweisen.20 In einem zweiten Schritt im Anschluss an den Nachweis poetologischer Kontinuität ist dann die pragmatische Flexibilität der Textverfahren zu prüfen. Denn wenn sich zeigen ließe, dass identische Verfahren im Dienste gegenläufiger Texthandlungen stehen können, wäre eine Gesamteinschätzung der Werkbiographie Ernst Jüngers auf Mehrdimensionalität zu verpflichten. Als Beispiel bietet sich an dieser Stelle neben beiden Fassungen von Das abenteuerliche Herz Jüngers Sizilischer Brief an den Mann im Mond an, der trotz Zugehörigkeit zur Literatur der Weltkriegsepoche einen weitgehend zivilen Charakter hat und die Aufmerksamkeit für die Frage nach der Form nicht geradezu zwangsläufig in Text-Kontext-Beziehungen ableitet. Aus dem Korpus der Texte nach 1945 könnte neben den Ausführungen zum Weltstaat zum Beispiel der Gelegenheitsessay Der Baum berücksichtigt werden, der den Begriff der „Stereoskopie“ tatsächlich aufgreift, ohne sich aber der „billigen Versuchungen der Ironie“21 zu erwehren, die dem Jünger der Zwanzigerjahre als unvereinbar mit der Stereoskopie gilt.22 Die genannten Texte sind einander zunächst darin ähnlich, dass sie sich einer Poetik der Synthese bedienen, in der die Anregung, die Jünger durch die Kulturmorphologie Oswald Spenglers erfahren hat, weiter nachwirkt. Der implizite Autor konstituiert sich dadurch, dass er eine „Wahrnehmungslehre sichtbar-unsichtbarer Zeichen“23 sowohl skizziert als auch praktiziert, die einen besonderen Blickwinkel imaginiert, dem sich entweder dank „großer 19

20 21 22

23

Vgl. Prümm, Karl: „Vom Nationalisten zum Abendländer. Zur politischen Entwicklung Ernst Jüngers“. In: Basis 6 (1976), S. 7–29. Die Unvollkommenheit der Jüngerschen „Wandlung“ betont dagegen Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zu Gegenwart. Baden-Baden ²1998, S. 404–408. Vgl. Stöckmann: Intellektuelle, S. 144ff. Jünger: Das abenteuerliche Herz, S. 101. Vgl. Jünger, Ernst: „Der Baum“. In: Sämtliche Werke. Bd.12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 289–303. Vgl. dazu auch das Nachwort der Herausgeber in: Jünger, Ernst u. Albert Renger-Patzsch: Briefwechsel 1943–1966 und weitere Dokumente. Hg. v. Matthias Schöning u. a. München 2010, S. 195–212. Stöckmann: Intellektuelle. S. 145.

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Höhe“24 oder einer Fusion von zwei Sinnesqualitäten „durch ein einziges Sinnesorgan“25 eine Ansammlung heterogener, ja militant gegensätzlicher Phänomene zu einer paradigmatischen Reihe mit tiefem gemeinsamen Sinn ordnet. Hinsichtlich ihrer Textverfahren konvergieren die genannten Arbeiten Jüngers darin, dass sie das metaphorische Programm der Stereoskopie in eine Essayistik übersetzen, die auf der Textoberfläche in sich weitgehend abgeschlossene Prosaskizzen ohne starke immanente Reihenfolge aneinander fügt, die auf einen Tiefensinn verweisen, der im einzelnen Abschnitt punktuell expliziert wird. Dann klappt die historische Perspektive des Sammelns von Phänomenen in eine prognostische um, die das Sichtbare zu seinem unsichtbaren Ziel hin verlängert: Unser hochgezüchtetes, auf Ursache und Wirkung dressiertes Denken hat uns für solche Erscheinungen fast farbenblind gemacht. Daß etwas sich vorbereitet, erklären wir vor allem durch die historische Wirkung, den Schub der Tatsachen. Es gibt aber einen ebenso starken Zug der Tatsachen, der von der anderen Seite wirkt; es gibt neben der kausalen eine finale Einwirkung, die beide sich im Augenblick treffen und ihm Form geben. Wie jede Tür zugleich Eingang und Ausgang ist, so kann, je nach der Perspektive des Beurteilenden, die Gegenwart sowohl als Konsequenz begriffen werden wie als Vorzeichen des Eintretenden.26

Der prognostische Anspruch, den die Umkehrung der Blickrichtung erhebt, wird dadurch eingelöst, dass die unterschiedlichen Phänomene, die Abschnitt für Abschnitt ins Rampenlicht gestellt werden, als Anzeichen desselben historischen Telos fungieren. Neben diesen Übereinstimmungen der Texte gibt es jedoch auch Unterschiede. Insbesondere die Autorposition, die sich im Zuge der Welt- und Zeitdeutung konstituiert und exponiert, wird nicht identisch reproduziert, sondern variiert. Insbesondere die Schlusspointe der prospektiven Gestaltbildung weist deutliche Unterscheide auf. Während Das abenteuerliche Herz, 1. Fassung, und der Sizilische Brief an den Mann im Mond der Autorschaft die Kraft der Offenbarung zusprechen, die dem Einzelnen seinen Platz anweist,27 begnügt sich der poeta vates der Nachkriegszeit mit der Artikulation von Hoffnungen, die in eine entgegengesetzte Richtung weisen, nämlich dass der Mensch einmal vom „Zwang der Organisation“28 befreit werden 24 25 26 27

28

Jünger, Ernst: „Sizilischer Brief an den Mann im Mond“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 9–22, hier S. 19. Jünger: Das abenteuerliche Herz, S. 83. Jünger: Der Weltstaat, S. 496 (Hervorhebung M. Sch.). Vgl. Jünger: Das abenteuerliche Herz, S. 175: „Hier ist es, wo Aufgabe und Verantwortung des Dichters beginnt, denn ihm ist die Wirklichkeit des Kreises offenbar, dem der Einzelne angehört als ein Punkt seiner Peripherie“, sowie Jünger: Sizilischer Brief an den Mann im Mond, S. 22: „Wir fühlen, wie, zögernd noch, Sinn in das große Werk einzuschießen beginnt, an dem wir alle schaffen, das uns im Banne hält.“ Jünger: Der Weltstaat, S. 526.

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könne. Das ist nicht nur programmatisch ziviler, sondern auch performativ. Nach einem gleichermaßen anspruchsvollen Prozess der mythopoetischen Identifikation aller Zeiterscheinungen schwingt der Text sich nicht zu einem Finale abschließender Selbstermächtigung auf, sondern mäßigt den Anspruch der Verkündung. – Man mag nun einwenden, dass solche unterschiedlichen Programmierungen gegenüber der identischen Struktur des Textes nachrangig seien. Bemerkenswert bleibt in jedem Fall, dass die Texte überhaupt mit einer abschließenden Fixierung der Autorposition enden und nicht darauf vertrauen, dass die erhobenen Ansprüche performativ deutlich geworden sind. Dieses uneingestandene Misstrauen gegen das eigene Verfahren macht immerhin deutlich, dass es sich der Programmierung gegenüber indifferent verhält und insofern nicht per se ausreichend stark ist, um die Analyse der Werkentwicklung allein zu entscheiden. Der Vorschlag, die Differenz mit der Opposition Stereoskopie vs. Interim hervorzuheben, hat offensichtlich den Nachteil, dass sie einem prominenten Begriff aus dem Lexikon des Autors einen metasprachlich verankerten Terminus gegenüberstellt. Dieser Nachteil wird jedoch durch die paradigmatische Qualität der gegenübergestellten Begriffe aufgewogen, die daraus resultiert, dass sie einen grundlegenden Wechsel des Ordnungsrahmens anzeigen. Während der Begriff der Stereoskopie raumsemantischer Art ist, gehört der Begriff des Interims der Zeitdimension an. Hinter der vorliegenden Untersuchung steht mithin die These, dass im Werk Jüngers ein Primat des Raumes, das für die Schriften zum Ersten Weltkrieg ebenso gilt wie für die symbolische Topographie von Auf den Marmorklippen, vom Primat der Zeit abgelöst wird, das sich in Titeln wie An der Zeitmauer niederschlägt, aber auch in der temporalen Situierung der erzählten Welten und den Erzählanlässen der narrativen Texte nach ’45. Nimmt man nur die Erzählung Gläserne Bienen von 1957, so fällt auf, wie Jünger eine Erzählsituation konstruiert, die die erzählte Zeit so arrangiert, dass sich ein großer Teil der vom Erzähler passagenweise erinnerten Zeit mit der kollektiven Vergangenheit der Leser und des Autors deckt, während die Haupthandlung der Begegnung des Rittmeisters Richard mit Zapparoni die Tür zu einer allein vom Autor geschauten Zukunft aufstößt.29 Dieser Befund ist zunächst insofern auffällig, als bereits die frühesten Jünger-Texte den Erzähler zwar ebenfalls als Schwellenfigur inszenieren, die den Leser in für ihn neuartige und gefährliche Räume führt,30 aber 29 30

Vgl. Jünger, Ernst: „Gläserne Bienen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart ²1999, S. 421–559, Vgl. Stöckmann, Ingo: „Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und ‚Das abenteuerliche Herz‘ (Erste Fassung)“. In: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der klassischen Moderne. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 189–220, hier S. 195.: „Es gehört zu den Stileigentümlichkeiten Jüngerscher Texte, ihren Innenraum als ein ‚Reich‘ in Szene zu setzen, in das der Autor Zutritt gewährt,

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eben in Räume, die einer topologisch differenzierten Ordnung angehören, deren Zentrum die Zone des größten Schmerzes ist. Mit Blick auf Gläserne Bienen und auch bezüglich der Texte Heliopolis und Eumeswil sind demgegenüber zwei Unterschiede hervorzuheben. Zum einen dominiert hier die Zeitdimension, zum anderen ist bemerkenswert, dass die sich abzeichnenden Möglichkeiten für eine „Ästhetik des Schreckens“31 nicht länger restlos ausgekostet werden. Entweder es schließt sich an den Moment der Gefahr in der erzählten Welt die Rückkehr der Protagonisten in geordnete Bahnen an, vielleicht um einige Illusionen erleichtert,32 oder es wird das eigentliche Geschehen narrativ gerahmt – so in Gläserne Bienen und Eumeswil –, um ihm Bestimmtheit zu entziehen. Handelt es sich sowieso schon um Zeiten des Übergangs oder Schwellensituationen, dann steigern die Rahmungen des nurmehr intradiegetisch Erzählten durch die (extra-) diegetisch vorgelagerten fiktiven Hörer vergangener Vorlesungen33 oder Herausgeber nachgelassener Papiere34 die Unsicherheit, wie die auf nächst höherer narrativer Ebene dargestellten Haltungen zur Welt, etwa die des Anarchen,35 denn nun einzuschätzen seien. Jünger spielt zwar souverän mit dem Problem der Geschichtlichkeit, wenn er mittels ostentativ zeitferner Erzählwelten zeitdiagnostische Nähe herstellt. Die Souveränität der Inszenierung des über den Zeiten stehenden Dichter-Sehers bricht sich jedoch in keiner Entschiedenheit des Urteils Bahn. Auch die Essays, die sicherlich nicht ganz konform mit den Erzähltexten gehen, urteilen nun, verglichen mit den früheren Arbeiten, weniger apodiktisch36 – wie oben angedeutet. Darüber hinaus hat sich in ihnen die Blickrichtung verkehrt. Jüngers Perspektive ist nun die des in seiner Freiheit bedrohten Einzelnen,37 dessen „Schmerz“ ein starkes Kriterium darstellt –

31 32 33

34

35

36 37

wenn sich der Leser über die Gefahren und Zumutungen eines derart bedeutsamen Schrittes Rechenschaft abgelegt hat.“ Vgl. Bohrer, Karl-Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. Frankfurt a.M. u. a. 1983, hier insbes. S. 233ff. Vgl. Jünger: Gläserne Bienen. S. 553ff. Vgl. ebd., S. 556ff. Die abschließende Unterfütterung des Erzählten durch den Epilog ist hier, im Fall von Gläserne Bienen, Ergebnis einer späteren Entscheidung des Autors, der die erste Fassung noch ohne diesen publiziert hatte. Vgl. dazu auch den Beitrag von Ulrich Fröschle in diesem Band. Vgl. Jünger, Ernst: „Eumeswil“. In: Sämtliche Werke. Bd. 17. Erzählende Schriften III. Eumeswil. Stuttgart ²1999, S. 378f. Der Epilog dort, der den auf intradiegetischer Ebene zur unterlegenen Partei gehörenden Bruder auf extradiegetischer Ebene als Herausgeber der Papiere eines Verschollenen einsetzt, relativiert die ‚Philosophie‘ des Anarchen, die der Ich-Erzähler Martin Venator ausbreitet, ohne viele Worte. Vgl. Schöning, Matthias: „Der Anarch und die Anarchisten. Ernst Jüngers Eumeswil: Eine metapolitische Typologie der Staatsfeinde aus dem Jahr ’77“. In: Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Hg. v. Norman Ächtler u. Carsten Gansel. Heidelberg 2010, S. 21–49. Kiesel: Jünger, S. 599. Vgl. Jünger: Der Waldgang.

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und nicht einen mit ostentativer Geringschätzung übergangenen Aspekt.38 Zieht man – wie auch im Folgenden – vor allem das Erzählwerk heran, so stellt sich die geschwundene Entschiedenheit noch einmal anders dar. Zwar treffen wir einerseits auf beeindruckende Technikvisionen, andererseits jedoch sieht man sich stets offenen und zum Teil gerahmten Diegesen gegenüber, die alle abschließenden Urteile über die Technik, die Zeit und auch die Möglichkeiten des Einzelnen vertagen.

2. Im Brief vom 25. Juni 1949 an Martin Heidegger, den neu gewonnenen Briefpartner der westdeutschen Jahre, bringt Jünger seine literarische Strategie noch immer auf den Begriff der ‚Verschwiegenheit‘, der in den „Jahren der Okkupation“39 auf Seiten ehemaliger ‚Konservativer Revolutionäre‘ sofort nach Kriegsende populär geworden war: „Im Laufe der letzten Jahre ist mir ganz deutlich geworden, daß Schweigen die stärkste Waffe ist, vorausgesetzt daß sich dahinter etwas verbirgt, das das Verschweigen lohnt.“40 Derartige Bemerkungen sind erkennbar den Umständen geschuldet. Spätere Aussagen zur so genannten Fassungspoetik, die zusammenfassend gesagt dahin gehen, dass „jede Schöpfung den Zustand ungebrochener Einheit“ aufhebe41 und daher in einen unabschließbaren Schreibimpuls münde, der sich in immer neuen Fassungen um das konstitutiv Unsagbare bemühe, zeigen allerdings, dass die aus der prekären öffentlichen Situation nach 1945 geborene „Kommunikationstrategie der Verschwiegenheit“42 über die pragmatischen Zwänge der ersten Besatzungszeit hinausführt und eine Autorpoetik eröffnet, die den Schaffensprozess weniger als zugreifend, denn als tastend versteht. Doch auch wenn man die programmatische Verschwiegenheit primär auf den Kontext der zeitgenössischen Öffentlichkeit bezieht, bedeutet das selbstverordnete Schweigen nicht vollständige Enthaltung. Im Gegenteil: Verschweigen ist immer Verschweigen von etwas. Die erklärte Weigerung, etwas auszusprechen impliziert pragmatische Relevanz des Verschwiegenen und verleiht dem Akt des Nicht-Sprechens selbst Bedeutung.

38 39 40 41 42

Vgl. Jünger, Ernst: „Über den Schmerz“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 143–191. Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation. Jünger, Ernst u. Martin Heidegger: Briefe 1949–1975. Hg. v. Günter Figal. Stuttgart, Frankfurt a.M. 2008, S. 14. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001, S. 234. Vgl. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit: Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 314ff. Vgl. auch van Laak, Dirk: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin ²2002, S. 126–133.

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Nimmt man Jünger beim Wort, der ja nun keineswegs tatsächlich geschwiegen hat, sondern noch im Jahr der Gründung der Bundesrepublik sowohl den Roman Heliopolis als auch Strahlungen, die Tagebücher der Kriegszeit, veröffentlicht, dann gilt es eine vom Verschwiegenen zehrende Beredtheit zu untersuchen, für die weniger das Gesagte, als die Art und Weise aufschlussreich ist, mit der das Sagen das Schweigen umhegt. Der realisierte Text mag demnach unter dem Vorbehalt nicht realisierter Aussagen stehen und insofern etwas Vorläufiges an sich haben, aber er ist deswegen nicht lediglich defizient, sondern bleibt ein Zeugnis der Auseinandersetzung mit dem unvollkommen Bezeichneten, das Rückschlüsse in verschiedenen Richtungen ermöglicht. Er ist eine Art Zwischenbericht einer unendlichen „Annäherung“, wie es in Jüngers poetologischen Überlegungen nach 1945 aber auch im Zusammenhang seiner Drogen-Experimente immer wieder heißt.43 Selbstverständlich ist zu betonen, dass Jüngers Konzeptualisierung seiner Autorschaft nach 1945 auf weit ältere Überlegungen zurückgreifen kann. Die neuen Kontextbedingungen nach 1945 initiieren seine Poetik nicht, aber sie verleihen ihr einen starken extrinsischen Schub, weil diese an sich authentische Poetik dem in der öffentlichen Wahrnehmung stark belasteten Autor zugleich eine literarische Strategie an die Hand gibt, sein zeitdiagnostisches Schreiben fortzusetzen, ohne sich in einer für weitere Inkriminierung anfälligen Weise tiefer in politische Zusammenhänge zu verstrikken. Denn Jünger praktiziert nicht nur sein Textverfahren weiter, sondern reklamiert für seine Texte nach wie vor Referentialität. Die Bedingungen haben sich verändert und mit ihnen auch der Stil der Selbstexposition, doch noch die entferntesten Visionen der Welt erheben weiterhin den Anspruch, gedeutete Wirklichkeit zu sein. Bereits im ersten eigenständigen Erzähltext nach 1945, dem groß angelegten Roman Heliopolis, werden Distanznahme und Referentialisierung in einer für die Poetik des Interims charakteristischen Weise zusammengezwungen. Auf der einen Seite entwirft Jünger eine räumlich wie zeitlich weit entfernte Welt und eröffnet den Text mit der poetologischen Metapher von der Schiffskabine als Camera obscura, in der die Welt am Modell geschaut werden kann: Man näherte sich dem Hafen, die Schiffe wurden häufiger. Ein schmaler Schlitz des Bullauges ließ ihre Bilder wie in eine Dunkelkammer fallen und verkehrte sie. Lucius ergötzte sich an ihrem Anblick wie in einem Kabinett, in dem man den Weltlauf am Modell betrachtet und rein als Schauspiel nimmt.44 43 44

Vgl. Jünger, Ernst: „Annäherungen. Drogen und Rausch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 11. Essays V. Annäherungen. Stuttgart 1978. Jünger, Ernst: „Heliopolis“. In: Sämtliche Werke. Bd. 16. Erzählende Schriften II. Heliopolis. Stuttgart ²1998, S. 14.

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Auf der anderen Seite durchsetzt Jünger seinen Text mit unübersehbaren Realitätssplittern der Nazi-Herrschaft, die das auf Exemplarität abzielende Weltmodell nur mit Faktizität verunreinigen können und die reklamierte Theatralität zur Provokation werden lassen.45 Abgesehen davon, dass die ganze Ausgangssituation des Schiffes, das sich der in zwei Lager gespaltenen Stadt Heliopolis nähert, wie ein Modell der sich auf den Nationalsozialismus zubewegenden Weimarer Republik wirkt, sind insbesondere das Attentat auf „Messer Grande“ und das anschließende Pogrom zu nennen, die den Attentaten auf Heydrich vom 27. Mai ’42 und dem auf das NSDAP-Mitglied Ernst Eduard von Rath in Paris am 7. November 1938, das als Vorwand für die so genannte Reichskristallnacht diente, nachgebildet sind.46 Darüber hinaus stellen die Bilder vom Lager,47 die besondere Betonung der Stimme des Landvogts,48 die Figur des Dr. Becker,49 die möglicherweise auf einen namensgleichen Chemiker des RSAH verweist, der Begriff „Schädelindex“50 und der vollkommen zwanglos eingestreute Name „Tresckow“,51 der in der historischen Realität einem der hartnäckigsten Hitlerattentäter gehört, einen engen Zusammenhang zwischen erzählter Welt und der damals jüngsten Vergangenheit her. Der Heliopolis-Roman verdeutlicht Jüngers Changieren zwischen zeitlicher Ferne und historischer Nähe, das manchem Leser, zuvörderst Carl Schmitt, viel Verdruss bereitet hat.52 Sein Beispiel macht klar, dass Jüngers Texte nach ’45 tatsächlich nicht mehr Distanz zur Realgeschichte haben, sondern bestrebt sind, der unverändert starken zeithistorischen Referenz eine distanziertere, weniger unmittelbare Form zu geben. Besonders aufschlussreich ist hier der letzte der angeführten Belege. In der fiktiven Welt wartet die Hauptfigur Lucius de Geer auf neue Befehle seines Vorgesetzten, wie nach dem Attentat auf den Sicherheitschef der Gegenseite zu verfahren sei. Als er in dessen Büro gebeten wird, ist der „General in einem Telefonat begriffen“ und sagt gerade zu seinem Gesprächspartner: „Gut, Tresckow, reichen Sie mir eine Kopie des Wisches auf dem Lichtweg ein. Er soll zum Gegenstand der Belehrung gemacht werden. Was mit den Agenten werden soll? 45

46 47 48 49 50 51 52

Den innerdiegetischen Beobachter die Welt als Schauspiel erfahren zu lassen, gehört seit In Stahlgewittern und prominent in den Pariser Tagebüchern wiederum zu den Konstanten des Jüngerschen Werks. Vgl. auch Encke, Julia u. Claudia Öhlschläger: „Arbeit am Unverfügbaren: Ernst Jünger und die Szene des Ereignisses“. In: Performativität und Ereignis. Hg. v. Erika Fischer-Lichte. Tübingen 2003, S. 135–148. Vgl. Jünger: Heliopolis, S. 221ff. Vgl. ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 230ff. Vgl. ebd., S. 237ff. Vgl. ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 226. Schmitt, Carl: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951. Hg. v. Eberhard von Medem. Berlin 1991, S. 280. Vgl. auch Noack, Paul: Ernst Jünger. Eine Biographie. Berlin 1998, S. 238.

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Erschießen, innerhalb einer halben Stunde – ich setze die Standgerichte nicht zum Bridgespielen ein.“53

Danach legt der General den Hörer auf und wendet sich dem Kommandanten zu. Der Befehlsempfänger des beendeten Telefonats spielt keine weitere Rolle, so wenig wie vorher. Um so mehr muss auffallen, dass Jünger die in jeder Hinsicht vollkommen bedeutungslose Sequenz, die weder in der narrativen Fügung noch hinsichtlich semantischer Konzeptualisierung irgend eine Rolle spielt, dazu benutzt oder allererst entwirft, um den historisch stark aufgeladenen Eigennamen „Tresckow“ einzuwerfen, der wenig genug verbreitet ist, um hinsichtlich seiner Referenz keinen Zweifel aufkommen zu lassen – wenngleich natürlich nicht behauptet werden kann, am anderen Ende der Leitung müsse man sich die historische Person des preußischen Offiziers Henning von Tresckow vorstellen. Die puristische Argumentation, dass die literarische Fiktion „keine direkte Beziehung des Dargestellten zu einer realen außerliterarischen Welt“ impliziere und „unabhängig von ihrer Herkunft […] alle thematischen Einheiten beim Eingang in das fiktionale Werk zu fiktiven Elementen“ würden,54 stößt hier jedoch trotzdem an eine Grenze. Der ganze Sinn der nicht weiter analysierbaren Szene kann nur darin bestehen, eine Art schimmernden ‚Realitätseffekt‘ (R. Barthes) zu erzielen, der sich dadurch einstellt, dass der genannte Name eben nicht zu einem restlos fiktiven Element geworden ist, obwohl er auch nicht als rein historisch gedacht werden kann. Gerade seine sonstige Funktions- und Gestaltlosigkeit verhindert die Entschlackung des Realitätsanteils zugunsten der Anreicherung mit diegetischer Immanenz. Wer hier, im Kontext der anderen Anspielungen, auf einen Namen trifft, dessen Mangel an innerdiegetischem Profil die Überblendung des historischen Trägers des Namens ausbleiben lässt, kommt nicht umhin, eine unbestimmte Referenz der erzählten auf die reale Welt festzustellen. Der Text stellt mittels einzelner Elemente, die mehr oder weniger Interpretationsaufwands bedürfen, eine Beziehung zwischen Dargestelltem und historischer Welt her, lässt aber die Frage unbeantwortet, was die Referentialisierung besagen soll. Auf dem Gebiet der Epik ist also eine gegenstrebige Fügung von Bezugnahme und Leerstelle, von Implikationssignalen und Explikationsmängeln festzustellen, die mit der Essayistik der Nachkriegszeit eine Tendenz zur Interimistik teilt, zu einem Aufschub der Festlegungen, der von den Souveränitätsgesten des Autors, der alles in sein Homogenisierungsspiel einreiht, nur unvollkommen kaschiert wird. Will man im Anschluss an diesen Befund, der sich auch auf den späteren Roman Eumeswil und andere Texte übertragen ließe, nun unabhängig von Jüngers Selbstaussagen prüfen, wie 53 54

Jünger: Heliopolis, S. 226 (Hervorhebung M. Sch.). Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin, New York ²2008, S. 37.

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sich sein poetologisch artikulierter Anspruch, Literatur als eine ‚Fassung‘ der Welt mit Modellcharakter zu betreiben, zur Unbestimmtheit seiner Texte verhält, so rückt neben programmatischen Aussagen vor allem die Frage nach strukturellen Entsprechungen zwischen historischer Epoche und narrativer Form ins Zentrum. Die historische Adäquatheit der literarischen Zeitdiagnose, mit deren Bestimmung die Frage beantwortet wird, ob Vagheit oder Weltbezug in Jüngers Texten überwiegen, hätte sich demnach daran zu beweisen, inwieweit es ihr tatsächlich gelingt, für die Situation der Nachkriegszeit eine strukturell entsprechende Textform zu finden. In diesem Sinne sei zunächst einer diskursiv vermittelten Nähe zwischen Jüngers Poetik des Interim und dem Selbstverständnis der BRD als Provisorium nachgegangen. Ein zweiter Schritt rundet dann das im folgenden Abschnitt vielleicht allzu nahtlos erscheinende Bild ab, indem er eine ‚poietische‘ – d. h. hier erneut ‚textverfahrensmäßige‘ – Verfehlung der Bundesrepublik in Jüngers Texten feststellt. Anders formuliert, möchte ich abschließend die Doppelthese aufstellen, dass die bisher unter der Überschrift Interim untersuchte Autorpoetik und die von ihr geleiteten Erzähltexte eine enorme Passung mit dem Diskurs der frühen Bundesrepublik aufweisen, während die Art und Weise der konzeptuellen Strukturierung der Epik eher den Zeit-Stil der Weimarer Republik reproduziert und insofern die Realitäten nach 1945 zunehmend verfehlt.

3. Zunächst ist festzuhalten, dass zwischen Jüngers Erzählen und bundesrepublikanischem Diskurs eine schlichte Nähe zunächst in beider Vorläufigkeit besteht, d. h. im interimistischen Charakter sowohl des Staatswesens in seiner Wahrnehmung durch das halbierte Staatsvolk und seine Repräsentanten als auch der Texte Ernst Jüngers in ihrem Zeitbezug. Wie an der Präambel der bundesrepublikanischen Verfassung abgelesen werden kann, stellt die Vorläufigkeit des politischen status quo ein paradigmatisches Wortfeld des BRDDiskurses dar. Die Ausarbeitung und Verabschiedung des Grundgesetzes sollte zunächst einen lediglich „vorübergehenden modus vivendi für den westlichen Teilstaat Bundesrepublik bereitstellen“,55 der von den Verfassungsvätern selbst als vorläufiges Staatsgebilde angesehen wurde. Die ursprüngliche Form der Präambel des Grundgesetzes bringt dies zum Ausdruck: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichwertiges Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk […], um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, 55

Van Laak: Gespräche, S. 157.

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kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

Will man zum Vergleich mit Jünger die Perspektive heranziehen, wie sie im Umfeld von Carl Schmitt kultiviert wird, jenem mit ihm befreundeten Staatsrechtler, der auf anderen Schauplätzen, aber ähnlich intensiv wie Ernst Jünger in die deutsche Geschichte involviert ist, so bringt die Vorläufigkeit der Verfassung, wie sie in der Präambel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 offen ausgesprochen wird, nur zum Ausdruck, dass die Bundesrepublik kein souveräner und insofern gar kein echter Staat ist.56 Zudem korrespondiert dem außenpolitischen Malus einer von den Besatzungsmächten abhängigen Souveränität und territorial begrenzten Reichweite innenpolitisch eine schwache Exekutive, die die unvollkommene Staatlichkeit weiter reduziert. Die starke Stellung der bundesrepublikanischen Judikative, so kann der Vorwurf zusammengefasst werden, treibt im Vergleich mit der Weimarer Reichsverfassung den Teufel mit dem Belzebub aus, insofern sie die schädliche innerstaatliche Institutionenkonkurrenz, die in der Weimarer Zeit zwischen Reichskanzler und Reichspräsident bestand, auf Kanzleramt und Bundesverfassungsgericht überträgt.57 Es ist hier nicht der Ort, über diese Diagnose zu befinden. Immerhin kann jedoch festgehalten werden, dass eine solche Position, die von einer dem Jünger der Weltkriegsepoche verwandten Position ausgeht, weder dem endgültigen Einzug der gesellschaftlichen Moderne in Deutschland genügt, noch überhaupt mit substantiellen historischen Veränderungen im Gefüge von Staat und Gesellschaft rechnet. Die explizite Vorläufigkeit der Bundesrepublik müsste andernfalls nicht wertend und d. h. abwertend interpretiert werden, wenn man sie nämlich als Potentialität versteht, als Bezeichnung einer markierten, durchaus selbstbewussten Offenheit für künftige Bestimmungen durch Geschichte und Gesellschaft. Ernst Jünger nun hat sich nicht veranlasst gesehen, seine Meinung zu diesem Grundgesetz und dem damit inaugurierten Staat bekannt zu geben. Verfolgt man die bald nach Kriegsende einsetzende Anti-Jünger-Publizistik, kann man wohl verstehen, dass Jünger wenig Sinn darin sah, sich öffentlich explizit politisch zu äußern. Wie vermint das Terrain war, kann man einem neutral bilanzierenden Spiegel-Titel aus dem Jahr 1950 entnehmen, der Jünger im Laboranten-Kittel vor dem Mikroskop zeigt, aber weniger den Ento56 57

Vgl. ebd., S. 162f. Vgl. auch Mehring, Reinhard: Carl Schmitt zur Einführung. Hamburg 1992, S. 131. Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: „Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“. In: Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Hg. v. Helmut Quaritsch. Berlin 1988, S. 283–300, hier insbes. S. 291f.

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mologen porträtiert als vielmehr die öffentliche Gestalt als epizentrischen Schnittpunkt der Diskurse.58 Wichtiger, weil tiefgründiger als das die Gemüter mit schöner Regelmäßigkeit erhitzende Nicht-Verhältnis zwischen Jünger und der verfassungsmäßigen Struktur der Bundesrepublik, ist seine Partizipation am zeitgenössische Lage-Diskurs, die seinen Texten im gleichen Maße eingeschrieben ist wie der Präambel des Grundgesetzes und der geläufigen Rede vom „Übergangszustand“ und „Provisorium“, die mit Carlo Schmid, bekanntlich einem Freund Jüngers,59 einer der Väter des Grundgesetzes selbst angestimmt hatte60 und die heute zur historiographischen Metasprache gehört.61 Ernst Jüngers Erzähltexte führen diesen Diskurs nicht nur programmatisch weiter, sondern zeigen sich bis in ihre Narrativik von der bereits skizzierten Logik des Interim geprägt, die der Unterbestimmtheit des geschichtlichen Augenblicks die Erwartung künftiger Bestimmung korreliert – und eben nicht, wie die skizzierte Position der Schmitt-Schule, die Gestik der sei es politischen, sei es poetischen Souveränität erneuert. Ein ausdrückliches Lob des Interimszustandes formuliert z. B. Lucius, die Hauptfigur des Romans Heliopolis, im „Das Symposion“ überschriebenen Kapitel des ersten Teils. Vor die Aufgabe gestellt, den Riten des Gastmahls durch einen spontanen Redebeitrag zum Thema „Augenblick des Glücks“ zu genügen, spricht er: „Das Glück trägt für mich Züge des Unberührten, des Unbeschriebenen. Wenn ich es einem Schatz vergleiche, so liebe ich daran den Augenblick, in dem ich ihn voll in meinem Besitz fühle, doch keine Verfügung darüber traf. Es ist ein potentieller Zustand, den die Illusion belebt. Stets spielt das Weiße in ihn ein. Die weißen Flächen stimmen mich heiter: ein Feld im Schnee, der Brief, der uneröffnet, das Blatt Papier, das wartend auf meinem Tische liegt. Bald werde ich es mit Zeichen, mit Buchstaben bedecken und trage dadurch von seinem Schimmer ab. […]“62

Im Weiteren führt er aus, in welcher Hinsicht ihm der Augenblick der vollen Potentialität, in dem noch all das möglich ist, was nicht wirklich werden wird, verlockend erscheint: als Neuanfang, als von keiner „Niederlage“ schon befleckter „Traum vom Siege“,63 als geschenkter Tag vollkommenen Inkognitos. Abermals genannt wird auch die durch wissendes Schweigen gemehrte 58 59

60 61 62 63

Der Spiegel 1950, H. 4. Vgl. Schmid, Carlo: Erinnerungen. Bern, München, Wien 1979, S. 193; Ernst Jünger: „Das erste Pariser Tagebuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart ²1998, S. 223–406, hier S. 348 (4.6.1942); ders.: Siebzig verweht II. Stuttgart 1981, S. 555f.; Weber, Petra: Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie. München 1996, S. 155. Vgl. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 66. Vgl. Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982– 1990. München 2006. Jünger: Heliopolis. S. 108. Ebd.

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Macht.64 Auf diese suggestive Reihe, die auf die Wünsche des Autors hin transparent zu sein scheint, folgt auch hier eine poetologische Wendung, nämlich die Vision einer illuminierten Welt, die Auge und Licht in eins fallen lässt: „[…] Der Lichtstoff reichert sich an wie auf Tapeten, deren Muster sich erhellt. Ich gebe den Bildern Antwort, sende sie wie aus einem Spiegel in die Welt zurück. Das Auge wird sonnenhaft, die Welt ein Bildersaal. Sie formt sich zu Melodien, die ich komponiere, das Glück der Maler, der Dichter, der Liebenden wird mir vertraut.“65

Während das Auge, so muss man diesen Gipfel temporären Glücks wohl verstehen, nicht mehr nur rezeptiv fungiert, sondern selbst produktiv erscheint, als sei es selbst die Quelle der Sichtbarkeit, verdichtet sich die sichtbare Welt zu bildhaften Konstellationen. Was in der Epiphanie, im Moment einer akausalen Äquivalenz von Welt und Blick, von Sein und Perspektive, kulminiert, ist jedoch nicht nur ein einzelner persönlicher Moment, sondern beschreibt das Wesen des ästhetischen Augenblicks selbst. Bemerkenswert ist daran vor allem, dass der Nietzsche-Leser Jünger sich hier für die apollinische Variante des Rausches entscheidet, der, wie es in der Götzen-Dämmerung heißt, „vor allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt“.66 Weder Gefährlichkeit, noch Plötzlichkeit und erst recht keine Souveränität charakterisieren hier den ästhetischen Augenblick, sondern ein geradezu ‚ökologischer‘ Zustand der harmonischen Kodependenz67 von Subjekt und Objekt, der schon in Nietzsches Nachlassfragment „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ von 1873, erstmals veröffentlicht dann 1896,68 als „ästhetisches Verhalten“69 bezeichnet wird. Dabei steht Lucius, den man wiederholt als alter ego des Autors angesehen hat,70 nicht alleine. Alle vier Beiträge zum Symposion, das die intellektuelle Elite aus dem Herrschaftsbereich des Prokonsuls versammelt, lassen sich als Plädoyers fürs claire obscure, für das Maß und das Mittlere verstehen, das den Verzicht auf alles Forcierte mit dem temporären Glück der Schaffenden und Liebenden vergütet, von dem bei Lucius die Rede war: „Das Glück liegt in der Illusion“, begann nun der Maler, „und die Erfüllung ist sein Tod. Was läßt uns zaudern zwischen dem Augenblick, in dem wir die Frucht im Lau64 65 66 67 68

69 70

Vgl. ebd., S. 109. Ebd. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta, 2. Band. München 1994, S. 939–1033, hier S. 996 (Streifzüge eines Unzeitgemäßen Nr. 10). Vgl. Kliche, Dieter u. Karlheinz Barck: [Art.] „Ästhetik/ästhetisch“, in: Ästhetische Grundbegriffe I. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar 2000, S. 308–400, hier S. 388. Nietzsche, Friedrich: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“. In: Nietzsche’s Werke, Bd. X, Abteilung II, Bd. 2: Schriften und Entwürfe von 1872 bis 1876. Hg. v. Fritz Koegel. Leipzig 1896, S. 161–179. Nietzsche, Friedrich: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta, 3. Band. München 1994, S. 309–322, hier S. 317. Vgl. Noack: Jünger, S. 232.

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be leuchten sehen, und jenem, in dem die Hand sie bricht? Wir möchten die Spanne des Glückes ausdehnen.“71

Daran schließt Serner an, in dessen Rede es heißt, dass „sich die Weisen aller Länder und aller Zeiten darüber einig [seien], daß das Glück nicht durch das Tor der Wünsche zu gewinnen [sei].“72

Will man den Status solcher Figurenrede bestimmen, so können nur narrative Charakteristika verlässlich Aufschluss geben, die hier allerdings erstaunlich gleichsinnig fungieren. So wenig wie in der erzählten Welt eine Entscheidung darüber herbeigeführt wird, ob am ästhetischen Glück des Interim, des Innehaltens oder Zauderns im Moment der Balance von subjektiver und objektiver Potentialität das visionäre oder das illusionäre Moment bestimmend ist, so wenig schlägt das textuelle Verfahren nach einer Seite aus. Auch der Text in seiner narrativen Struktur verharrt in der Unbestimmtheit, wenn man sich z. B. die Fiktionalitätsproblematik genauer anschaut. In der ontologischen Dimension haben wir zunächst ein eindeutig fiktives Geschehen, zugleich aber starke Parallelen zwischen den Ereignissen dort und den Geschehnissen der damals jüngsten deutschen Geschichte, die durch die bereits belegten Realitätssplitter untermauert werden. Der Text weist insofern eine ontologische Unbestimmtheit auf, eine Vermischung von fiktiver Welt und realgeschichtlichen Anklängen, der eine pragmatische Unentschiedenheit entspricht: Fiktionalität wird weniger – wie im typischen Schlüsselroman – als Deckmantel in Anspruch genommen, sondern vielmehr als Mittel zur Interpretation der historischen Realität genutzt, ohne freilich Faktualität zu behaupten. Die Interpretation der Realität besteht dabei darin, am situationsbezogenen Modell eine exemplarische Haltung vorzuführen, die nach einem Dritten sucht, „außer Freund und Feind“.73 Nimmt man auch noch „Ortners Erzählung“ hinzu, die nicht nur innerdiegetisch das Symposion abschließt, sondern als eigenes Kapitel daraus hervorgehoben wird, dann kristallisiert sich zunehmend eine gleichermaßen programmatische wie poetologische Selbstrevision Jüngers heraus. Abermals wird der Bildbereich der Optik und des Lichts herangezogen, um einen Rückzug aus dem „Dämonenreich“ des Schmerzes zu veranschaulichen, der mit der umgekehrten Bereitschaft einhergeht, seinen Frieden mit der „geschwächte[n] Domäne des Menschlichen“ – so heißt es am Schluss von „Ortners Erzählung“ – zu machen.74 Wer mehr als das kleine Glück will, dem der intradiegetische Ich-Erzähler der Ortnerschen Binnennarration schließlich den Vorzug gibt, der muss einen Pakt mit dem Teufel eingehen. Doch dafür spricht nicht viel, nachdem die Epoche der „großen Feuer71 72 73 74

Jünger: Heliopolis, S. 109. Ebd., S. 111. Ebd. S. 152. Ebd., S. 145.

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schläge“ und der „uranischen Gefährdung“,75 von der die Romanwelt weiß und nach deren realer Entsprechung man nicht suchen muss, „das Vertrauen in die Festigkeit der Städte und Wohnungen erschüttert hat“.76 Erinnert man sich daran, dass es noch in „Über den Schmerz“ hieß, dass wir in die „elementare Zone […] unentrinnbar eingebettet“ seien und „uns ihr durch keine Art der optischen Täuschung entziehen“ könnten,77 dann suchen der Heliopolis-Roman und die Figuren des Symposions, mit ihren Plädoyers für ästhetische Zustände, Illusion und clair obscure nach einer Philosophie der Post-Militanz, die sich zwar der Zerbrechlichkeit des Friedens höchst bewusst ist, der soldatische Existenzialismus aber zunehmend ermüdet. Was auch immer die Angehörigen der „skeptischen Generation“78 von Jünger im Einzelnen gehalten haben mögen, umgekehrt kann man an dieser Stelle immerhin ahnen, wie z. B. Alfred Andersch und Karl Korn durchaus sowohl Jünger empfehlen als auch der Gruppe 47 zuneigen konnten.79

4. Doch soll der Bogen der historiographischen Annäherung Jüngers an die BRD nicht überspannt, sondern abschließend vielmehr noch angedeutet werden, wo die Grenzen der Akkomodation im Verhältnis zwischen Jüngers Erzählen und dem Diskurs der Bundesrepublik liegen. Wie oben angedeutet, setzt die Epik Jüngers, für die im Detail bislang vor allem Heliopolis herhalten musste, die Apologie des Interims erzählerisch zum Beispiel in ontologische Unbestimmtheit und pragmatische Unentschiedenheit auf. Verstärkt werden beide „Un“-s zudem durch die narrative Unterbestimmtheit des discours bzw. récit. Vor allem die Romane Heliopolis und Eumeswil sind narrativ schwach strukturiert.80 Die starke Typologisierung der Figuren und Situationen in Begleitung ausgedehnter Digressionen programmatischer Natur macht das Nacheinander des Erzählens relativ beliebig. Wollte man eine Umstellungsprobe vornehmen, so erwiese sich, dass sich ohne große Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution die einzelnen Erzählsequenzen auch in eine andere Reihenfolge bringen ließen. In gewisser Weise ist nicht nur das Ende ei75 76 77 78 79 80

Ebd., S. 174. Ebd. Jünger: Über den Schmerz, S. 147. Vgl. Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf, Köln 1963. Vgl. Payk, Marcus M.: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn. München 2008, S. 196–203. Vgl. auch Hohendahl, Peter Uwe: „Der unsichtbare Autor: Erzählstruktur und Sinngehalt in Ernst Jüngers Roman ‚Eumeswil‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 2, S. 310–336.

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nes jeden Jüngerschen Erzähltextes offen, sondern Offenheiten prägen auch den inneren Zusammenhang. Was auf den ersten Blick die Poetik des Interim und ihre Passung mit dem BRD-Diskurs noch einmal zu bestätigen scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als widerspenstig, nämlich sobald man die Art und Weise der textuellen Erzeugung des Sinns der Erzählwelten in den Blick nimmt. Bedeutung wird in Jüngers Texten vor allem durch eine scharf antithetische Semantik erzeugt. Seien es Raumsemantik oder Figurenkonstellation, die entscheidenden Dimensionen der Bedeutungsproduktion sind stets als polare Alternativen angelegt. Der Vorrang paradigmatischer Sinnkonstitution gegenüber syntagmatischer macht Jüngers Texte zwar kognitiv prägnant, jedoch nicht nur auf Kosten der narrativen Bindung, sondern auch um den Preis referentieller Inadäquatheit. Mit einem Begriff aus dem diskursanalytischen Vokabular von Jürgen Link ließe sich sagen, dass Jüngers Epik eine Art „protonormalistischer“81 Sinnkonstitution betreibt, wie sie für die Weimarer Republik typisch ist, für die innenpolitischen Zustände der zur ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ werdenden Bundesrepublik82 aber zunehmend weniger passt. Während die Bundesrepublik, wie der soziologische Befund andeutet, zunehmend zu einer „flexibel-normalistischen“83 Gesellschaft wird, deren Diskurse einen starken Mittelbereich privilegieren und Randpositionen marginalisieren, bleiben Jüngers Texte hinsichtlich ihrer semantischen Struktur im Manichäismus der Zwanzigerjahre befangen. Beständig finden wir in Heliopolis, Gläserne Bienen oder Eumeswil zentrale Figuren in einer Fundamentalopposition gegenüber den tragenden Institutionen der erzählten Welt. Es scheint geradezu, als könnte Jünger seinen Erzählgegenständen ohne die Konstruktion radikaler Gegenpositionen, die am Feind nicht ein gutes Haar lassen, kein Profil verleihen. Erst dort, wo der Neunzigjährige in seinem letzten großen Erzähltext den Übergang von einer militärisch codierten Disziplinar- zu einer polizeilich funktionierenden Kontrollgesellschaft eigens in Szene setzt, nämlich in Eine gefährliche Begegnung, gelingt es ihm, den Plädoyers fürs Unbestimmte und Vorübergehende ein narratives Verfahren an die Seite zu stellen, das die Aussageebene wenigstens im Wesentlichen unterstützt. Zwar konstituieren auch hier die paradigmatischen Gegensätze zwischen dem aristokratisch81 82

83

Zum Begriffspaar protonormalistisch vs. flexibel normalistisch vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen ²1999, S. 75–102, tabellarisch S. 79f. Eine der klassischen Stellen für diesen Begriff findet sich bei Schelsky, Helmut: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer soziologischen Tatbestandsaufnahme. Stuttgart 1955, S. 218. Vgl. dazu auch Braun, Hans: „Helmut Schelskys Konzept der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ und die Bundesrepublik der 50er Jahre“. In: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 199–223. Vgl. Link: Versuch, S. 94ff.

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soldatischen Personal auf der einen und dem polizeilichen, inklusive seiner kriminellen Gegenspieler, auf der anderen Seite die beiden Pole. Der Sinn dieses Antagonismus jedoch wird aus der transgressiven Bewegung gewonnen, die einzelne Figuren wie Etienne und Wilhelm von Goldhammer mehr oder weniger widerstrebend vollziehen, so dass das eminent symbolische Ritual der alten Gesellschaft, das drohende Duell, am Ende verhindert werden kann, nicht aber der Selbstmord des Verdächtigen, der die letzte Möglichkeit wahrnimmt, sich den neuen Mächten zu entziehen. So beweist sich gerade im partiellen Scheitern die neue Ordnung am Ende darin, dass sie sich mit ihrer konstitutiven Transitivität, dem permanenten Interim, versöhnt und für diejenigen eigens Rollen ausdifferenziert, die sich damit nicht zufrieden geben wollen: Der Fall war abgeschlossen […]. Darin hatte der Inspektor dem Minister zugestimmt. Unbefriedigt blieb nur der Instinkt des Spürhundes auf einer frischen Fährte kurz vor dem Ziel. Aber was frommt es, eine Beute zu apportieren, die unwillkommen war? Polizisten, die auf eigene Faust weiterermitteln, können nur Undank ernten – dafür gab es Beispiele genug. Das war l’art pour l’art oder eine Aufgabe für bezahlte Detektive, für Journalisten auch. // Dobrowsky strich mit der Hand über das Bändchen: „Das Dossier ist abgeschlossen; der Fall bleibt ungeklärt […]“.

Die Privatermittler und Journalisten, die immer weiter bohren, so erfährt der erstaunte Leser, betreiben l’art pour l’art im pejorativen Sinne. Substantielle Kunst dagegen, das wird implizit deutlich, hat sich mit der Unvollendbarkeit abzufinden.

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Hohendahl, Peter Uwe: „Der unsichtbare Autor: Erzählstruktur und Sinngehalt in Ernst Jüngers Roman ‚Eumeswil‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 2, S. 310–336. Kliche, Dieter u. Karlheinz Barck: [Art.] „Ästhetik/ästhetisch“, in: Ästhetische Grundbegriffe I. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar 2000, S. 308–400. Jünger, Ernst: „Annäherungen. Drogen und Rausch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 11. Essays V. Annäherungen. Stuttgart 1978. Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz“. Erste Fassung. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1979, S. 31–176. Jünger, Ernst: „Das erste Pariser Tagebuch“. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Tagebücher II. Strahlungen I. Stuttgart ²1998, S. 223–406. Jünger, Ernst: „Der Baum“. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Essays VI. Fassungen I. Stuttgart 1979, S. 289–303. Jünger, Ernst: „Der Waldgang“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 281–374. Jünger, Ernst: „Der Weltstaat. Organismus und Organisation“. Ebd., S. 481–526. Jünger, Ernst: „Eumeswil“. In: Sämtliche Werke. Bd. 17. Erzählende Schriften III. Eumeswil. Stuttgart ²1999. Jünger, Ernst: „Gläserne Bienen“. In: Sämtliche Werke. Bd. 15. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart ²1999, S. 421–559. Jünger, Ernst: „Heliopolis“. In: Sämtliche Werke. Bd. 16. Erzählende Schriften II. Heliopolis. Stuttgart ²1998. Jünger, Ernst: „Jahre der Okkupation“. In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Tagebücher III. Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 403–659. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. Jünger, Ernst: Siebzig verweht II. Stuttgart 1981. Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV. Stuttgart 1995. Jünger, Ernst: „Sizilischer Brief an den Mann im Mond“. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Essays III. Das Abenteuerliche Herz. Stuttgart 1979, S. 9–22. Jünger, Ernst: „Über den Schmerz“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 143–191. Jünger, Ernst u. Martin Heidegger: Briefe 1949–1975. Hg. v. Günter Figal. Stuttgart, Frankfurt 2008. Jünger, Ernst u. Albert Renger-Patzsch: Briefwechsel 1943–1966 und weitere Dokumente. Hg. v. Matthias Schöning u. a. München 2010, S. 195–212. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007. Laak, Dirk van: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin ²2002. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen ²1999. Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zu Gegenwart. Baden-Baden ²1998 Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar 2001. Mehring, Reinhard: Carl Schmitt zur Einführung. Hamburg 1992.

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Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990. München 2006.

Personenregister Das Personenregister erfasst – mit Ausnahme der Person Ernst Jüngers – alle im Fließtext genannten Personen; Erwähnungen innerhalb des Fußnotenapparates und der Literaturverzeichnisse sind nicht berücksichtigt. Adenauer, Konrad 63 Adorno, Theodor Wiesengrund 56, 148–150, 236, 284f. Alexander der Große 170 Alighieri, Dante 72 Almuro, André 133 Andreä, Friedrich Christian 39 Andersch, Alfred 209, 326 Arendt, Hannah 282 Bachtin, Michail 270, 273 Baeumler, Alfred 238 Balzac, Honoré de 103 Barthes, Roland 41, 148, 320 Baudelaire, Charles 91, 119 Benjamin, Walter 4f., 26, 142, 149, 153, 236 Benn, Gottfried 5, 122, 127, 152, 233, 236–239, 241, 243, 245f. Bense, Max 233–248 Beuys, Joseph 145 Bingel, Horst 211 Blanchot, Maurice 41 Bloy, Léon 254 Blumenberg, Hans 138, 147, 151, 195 Böhme, Ulrich 210 Bohrer, Karl Heinz 3f., 210, 217 Böll, Heinrich 14, 213, 271 Borchert, Wolfgang 270 Borges, Jorge Luis 9 Börner, Holger 215 Bourdieu, Pierre 221, 224f., 227–229 Boveri, Margret 120 Brahe, Tycho 76f. Brecht, Bertolt 5, 26, 140, 213 Bruno, Giordano 304 Burstein, Jessica 154

Caillois, Roger 155 Calvin, Johannes 241 Camus, Albert 290 Carstens, Karl 215 Celan, Paul 29, 79–84, 86, 235 Dacqué, Edgar 238 Darwin, Charles 154f. Demus, Klaus 80f. Demus, Nani 80 Derrida, Jacques 41 Descartes, René 241 Dietka, Norbert 206 Döblin, Alfred 14 Dornheim, Liane 206 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 39 Driesch, Hans 46 Dürer, Albrecht 72–75 Eco, Umberto 41 Eggebrecht, Axel 208 Eichendorff, Joseph von 260 Eliade, Mircea 123, 126 Emter, Elisabeth 244 Eno, Brian 298 Erasmus von Rotterdam 76f. Fabre, Jan 137, 156 Fabre, Jean-Henri 154, 156 Fassbinder, Rainer Werner 150 Fest, Joachim C. 214 Ficino, Marsilio 234 Fischer, Ernst Hugo 253, 256–259 Fischer, Joschka 29 Foucault, Jean 41 Fourier, Jean Baptiste Joseph 149 Freud, Sigmund 214 Freyer, Hans 180

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Personenregister

Friedländer, Saul 145 Frommel, Wolfgang 133 Gennep, Arnold van 123, 289 Georg, Eugen 238 George, Stefan 210, 214 Gerlach, Heinrich 270 Geulen, Eva 239 Glotz, Peter 215 Goethe, Johann Wolfgang 19, 42, 44, 52, 86, 96, 145, 214, 243, 263, 276 Goya, Francisco de 281 Grass, Günter 14, 213 Greiner, Ulrich 217 Gruenter, Rainer 210 Günther, Albrecht Erich 178 Hacks, Peter 235 Hagestedt, Lutz 133, 214f. Hamann, Johann Georg 114, 257, 262 Hasemann, Richard 269 Haßel, Renate 216 Hauptmann, Gerhart 214 Hauschild, Reinhard 270 Heer, Hannes 144 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 150, 246 Heidegger, Martin 23, 26, 72, 91, 129, 138, 144f., 148–150, 154, 189, 194, 198, 287f., 317 Hekaton (von Rhodos) 256f. Hemingway, Ernest 151, 176 Heraklit 65, 146f., 150 Herzog, Roman 9 Hesiod 65 Heydrich, Reinhard 319 Hielscher, Friedrich 26, 150 Hietala, Marjatta 212 Hildebrandt, Kurt 240 Hirsch, Rudolf 214 Hitler, Adolf 150, 170, 177, 260 Hobbes, Thomas 165 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 305, 307 Hoffmann, Hilmar 214 Holbein, Hans (der Jüngere) 77 Homer 70 Horbach, Michael 269 Hörbiger, Hanns 237f. Humboldt, Alexander von 265 Husserl, Edmund 245 Huxley, Aldous 28

Huysmans, Joris-Karl

255

Jaspers, Karl 287 Jean Paul 265 Jens, Walter 218 Jerphanion, Guillaume de 39 Josephus, Flavius 306 Joyce, James 14 Jünger, Friedrich Georg 105, 129, 163, 168, 256, 259, 263 Jünger, Liselotte (geb. Bäuerle) 38, 52, 309 Kabakov, Ilya 137, 156 Kaempfer, Wolfgang 212 Kafka, Franz 243 Kant, Immanuel 111 Kempowski, Walter 137–139, 141, 157 Kepler, Johannes 77 Keyserling, Eduard von 44 Kierkegaard, Søren 279, 290 Kiesel, Helmuth 3, 6, 195, 205, 210, 218 Kircher, Athanasius 148 Klemm, Gustav Friedrich 39 Klostermann, Vittorio 166 Kluge, Alexander 29, 137f., 140–145, 148–151, 157 Koch, Willy A. 81 Koeppen, Wolfgang 14, 22 Kohl, Helmut 9, 25, 215f. Kojève, Alexandre 299 Korn, Karl 326 Koslowski, Peter 196 Kranz, Gisbert 209 Kristeva, Julia 41 Krockow, Christian Graf von 209 Krolow, Karl 211 Kubin, Alfred 128 Kumpfmüller, Michael 272 Lacoue-Labarthe, Philippe 149 Lassalle, Ferdinand 150 Leibniz, Gottfried Wilhelm 241 Leonardo da Vinci 96 Lepenies, Wolf 217 Leschke, Rainer 273 Lethen, Helmut 145, 270 Lewis, Wyndham 154 Liebchen, Gerda 212 Link, Jürgen 327 Linné, Carl von 100, 102 Littell, Jonathan 137–139, 145, 157

335

Personenregister Loest, Erich 269 Loose, Gerhard 210 Lübbe, Hermann 180 Lukács, Georg 20, 26 Lullus, Raimundus 148 Lützeler, Paul Michael 138 Lynch, David 305–307 Malraux, André 176 Mann, Erika 207 Mann, Golo 215 Mann, Thomas 14, 22, 72, 207f., 213, 245f. Marquard, Odo 180 Martin, Alfred von 209 Martus, Steffen 67, 80, 91f., 205, 210 McLuhan, Marshall 261 Mendelssohn, Peter de 209 Meyer, Agnes E. 207 Meyer, Conrad Ferdinand 44 Michaelis, Rolf 211 Mitterand, François 9, 25 Mohler, Armin 80f., 139, 164, 169, 172– 179 Molo, Walter von 207 Morat, Daniel 3, 129 Morris, William 260 Mottel, Helmut 247 Müller, Heiner 9, 29, 137, 140–142, 146, 151, 218 Musil, Robert 14, 248 Nabokov, Wladimir 156 Napoleon Bonaparte 177 Nebel, Gerhard 132, 165, 177, 209, 247 Negt, Oskar 143, 150 Niekisch, Ernst 164, 168f., 172f., 175, 177, 236 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 39, 131, 150, 189, 209, 241, 246, 283, 324 Nolte, Ernst 170 Oelze, Friedrich Wilhelm 238 Ohlendorf, Otto 145 Orwell, George 28 Ovid (Publius Ovidius Naso) 145 Paetel, Karl Otto 23, 208f. Pannwitz, Rudolf 240 Parth, Wolfgang W. 269 Pascal, Blaise 99, 241

Piranesi, Giovanni Battista 39 Plard, Henri 106, 139 Plievier, Theodor 269– 274, 276, 278– 280, 283, 285–291 Plinius der Ältere 265 Poe, Edgar Alan 114, 192f., 289, 296 Pound, Ezra 260 Prümm, Karl 212 Raabe, Wilhelm 44 Rath, Ernst Eduard von 319 Reimann, Bruno W. 216 Renger-Patzsch, Albert 146 Richter, Hans Werner 271 Rivarol, Antoine de 148, 163, 177, 265 Rochefoucauld, François de la 148 Rosinski, Herbert 269 Rotteck, Karl von 39 Rousseau, Jean-Jacques 260 Rutschky, Michael 253 Rychner, Max 81, 120, 122f. Sartre, Jean-Paul 290 Schieb, Roswitha 206 Schmid, Carlo 323 Schmidt, Arno 214 Schmidt, Helmut 215 Schmitt, Carl 26, 72, 129, 138, 147, 164f., 168–173, 177, 319, 322 Scholem, Gershom 142 Scholem, Werner 142 Schurtz, Heinrich 123f. Schwarz, Hans-Peter 206, 212 Schwilk, Heimo 3, 253 Seferens, Horst 178f., 216 Segeberg, Harro 247 Spaemann, Robert 180 Spengler, Oswald 46, 239f., 313 Steiner, Rudolf 145, 149 Stifter, Adalbert 44 Stöckmann, Ingo 92, 129, 148 Strauß, Botho 217 Stülpnagel, Karl Heinrich von 260 Thiess, Frank 207 Tresckow, Henning von 319f. Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 39 Usinger, Fritz

211

Verne, Jules 296 Vehse, Karl Eduard

265

336 Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio) 39 Vries, Simon Philip de 40 Wallmann, Walter 213f. Walser, Martin 72 Weber, Karl Julius 265 Weber, Max 163f., 179 Wehler, Hans-Ulrich 9 Wellershoff, Dieter 14

Personenregister Wilde, Oscar 210 Wohmann, Gabriele Wolf, Christa 217 Wöss, Fritz 270 Xenophon

303

Zahn, Peter von Zand, Herbert Ziegler, Leopold

208 270 46

214

Werkverzeichnis Ernst Jüngers Das Werkregister verzeichnet alle innerhalb des Fließtextes erwähnten Werke Ernst Jüngers. Darüber hinaus sind auch Erwähnungen innerhalb des Fußnotenapparates erfasst, soweit es sich nicht um bibliographische Angaben bzw. Zitatnachweise handelt. Fundstellen in den Fußnoten sind durch Asterisk (*) gekennzeichnet. Aladins Problem 14, 37f., 39*, 40 Am Sarazenenturm 253 An den Leser 99 An der Zeitmauer 8, 27, 38, 62–64, 66, 68, 71, 111, 152, 172f., 176, 189, 200*, 222, 226f., 283f., 315 Annäherungen. Drogen und Rausch 5, 53, 119, 120*, 123, 133 Ansprache zu Verdun 143 Atlantische Fahrt 259, 262–265 Auf den Marmorklippen 3f., 20, 90, 93*, 100–102, 112*, 155, 167, 241, 246, 311, 315 Auf eigenen Spuren. Anlässlich der ersten Gesamtausgabe 52 Aus der goldenen Muschel 39*, 259 Autor und Autorschaft 48, 50f., 54, 62, 67, 90f., 92*, 93–95, 97f., 108, 112, 114, 116, 132, 253f. Autor und Autorschaft. Nachträge 54, 111 Besuch auf Godenholm 14, 119–124, 126, 128f., 130*, 131–134 Blätter und Steine 16, 68, 89*, 99, 105, 241, 262* Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht 4, 11, 16, 89, 99, 122*, 129f., 131*, 144, 246, 313f. Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios 241, 288*, 313 Das erste Pariser Tagebuch 3, 191*, 319* Das zweite Pariser Tagebuch 3, 141, 191*, 221, 319* Das Sanduhrbuch 62, 71, 76, 78f., 86 Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt 5, 15f., 28, 45f., 100, 141, 143, 153, 166f., 172, 175f., 185f., 189, 208, 242, 247, 254, 260f., 264, 282

Der Baum 313 Der Friede 13, 62, 112, 164, 186*, 187, 208, 284*, 285–287, 289 Der Gordische Knoten 27, 163, 170–172, 285* Der Waldgang 5, 22, 27, 38, 48, 96, 111, 122, 128, 130, 138, 163–170, 172, 196*, 200, 246, 261, 284f., 289f. Der Weltstaat. Organismus und Organisation 5, 13, 27f., 46, 49, 163, 173, 188*, 313 Die Schere 6, 48, 266 Die Totale Mobilmachung 55, 175 Die Zwille 27, 221, 311 Eine gefährliche Begegnung 14, 27, 147, 327 Eumeswil 8, 14, 17, 22, 27, 48*, 110*, 148, 295, 297f., 300–304, 311, 316, 320, 327 Fassungen. Zur Offenbarung Johannis 50, 54, 71 Gärten und Straßen 259 Gläserne Bienen 14, 89f., 93, 105f., 108, 110*, 111, 152, 247f., 295f., 298, 303, 305, 307, 315f., 327 Grenzgänge 111 Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt 14, 17, 22, 27, 38, 39*, 90, 102, 103–105*, 106, 112*, 147, 154, 172, 210, 295–298, 300– 303, 311, 316, 318f., 323, 326f. Jahre der Okkupation 95 Kaukasische Aufzeichnungen 138*, 144, 191*, 281 Kirchhorster Blätter 191*, 281 Lettern und Ideogramme 200 Lob der Vokale 16, 68, 144 Minima – Maxima. Adnoten zum Arbeiter 12, 147, 189* Myrdun. Briefe aus Norwegen 256

338

Werkverzeichnis Ernst Jünger

Politische Publizistik 1919–1933 4, 185 Post festum. Danksagung bei der Feier meines 80. Geburtstags zugleich Nachwort zur zweiten Gesamtausgabe 52 Rivarol 177 Sgraffiti 244* Siebzig verweht (I–V) 6, 42, 45, 90, 154, 156, 191 Siebzig verweht I 193, 200* Siebzig verweht II 142 Siebzig verweht IV 309

Siebzig verweht V 142 Sinn und Bedeutung. Ein Figurenspiel 90* Sizilischer Brief an den Mann im Mond 89, 313, 314 Sprache und Körperbau 68, 86 Strahlungen 191f., 209f., 243f., 260, 280, 283, 286, 289*, 318 Subtile Jagden 111, 113, 137, 151–153, 211 Über den Schmerz 16, 89*, 287, 326 Über die Linie 187*, 193*, 195*, 228, 282, 287–289