Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik 9783848731183, 9783845274874

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Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik
 9783848731183, 9783845274874

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Sebastian Liebold | Frank Schale [Hrsg.]

Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik

Nomos

© Adenauer-Haus, Rhöndorf, Raimond Spekking

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-3118-3 (Print) ISBN 978-3-8452-7487-4 (ePDF)

1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Dieser Band umfasst ausgewählte Referate vom 3. und 4. Dezember 2015, als sich Politik- und Geschichtswissenschaftler anlässlich der Chemnitzer Tagung „Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik“ öffentlich Gedanken über Facetten und Probleme einer Denkströmung machten, die nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits „von vorn“ beginnen, andererseits bestimmte Muster und Traditionen – teils gewandelt – in ihrem Ideenkanon bewahren musste, wenn der Begriff „konservativ“ nicht bloße Hülse einer neuen Frucht sein sollte. Für das Werk, dem also die Frage „Neugründung auf alten Werten?“ vorangestellt und als Forschungsperspektive aufgegeben ist, konnten neben den Konferenzteilnehmern zwei weitere Autoren gewonnen werden. Ziel der Tagung war es, jüngere Fachkollegen ins Gespräch zu bringen, die sich in ihren Qualifikationsschriften mit Themen der Intellectual History der Bundesrepublik beschäftigen und folglich inhaltliche Schnittmengen haben. Da der Dreh- und Angelpunkt solcher Arbeiten der Konservatismus nach 1945 ist, liegt die Vermutung nahe: Dieses Feld ist keineswegs ausgeforscht. Kultur- und ideenhistorische Darstellungen der (frühen) Bundesrepublik sind – das betrifft übrigens auch das liberale und sozialistische Denken und deren Akteure – noch immer dünn gesät, von einer Gesamtdarstellung ganz zu schweigen. Die Tagung wollte sowohl inhaltliche Beiträge zum Nachkriegskonservatismus liefern als auch methodische Fragen der Intellectual History aufwerfen und diskutieren. Das erklärt den kaleidoskopartigen Charakter des Bandes, dessen Aufsätze vom Werkstattbericht bis zur Zusammenfassung abgeschlossener Arbeiten reichen. Wer den Band aufschlägt, um über den Konservatismus nach 1945 ein abschließendes Urteil zu finden, wird enttäuscht werden, ja vielleicht fragen: Ist der Gegenstand nicht noch vielschichtiger? Wie steht es um die Aktualität des Begriffes? Dies mögen zukünftige Studien zeigen. Es sei an dieser Stelle nicht nur den Referenten und Moderatoren der Tagung gedankt, sondern auch dem Inhaber der Professur Politische Theorie und Ideengeschichte Alexander Gallus und seinen Mitarbeitern, insbesondere Ann-Andrea Petzel und Patrick Keller, die durch ihre inhaltliche und organisatorische Unterstützung zum Erfolg der Veranstaltung beigetragen

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Vorwort

haben. Für die Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskriptes danken wir Christoph Adler, Lukas Hämisch, Patrick Thost, Michelle Tredup und Joseph Walthelm, für anregende Ideen unserer Kollegin Ellen Thümmler. Sebastian Liebold/Frank Schale

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März 2017

Inhalt

Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik

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Frank Schale Konservative Politiker Kein Abschied von Wunschbildern. Die Deutsche Partei in den 1950er Jahren

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Martina Steber Flucht nach Europa. Die abendländische Bewegung und die Transnationalisierung des Konservatismus nach dem Zweiten Weltkrieg

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Johannes Großmann Andreas Hermes – Landwirt, Minister, Verbandspräsident

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Peter Becker Konservative Akademiker Ein konservativer Humanist? Arnold Bergstraesser in der frühen Bundesrepublik

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Sebastian Liebold Carl Joachim Friedrich. Gemeinschaft, Tradition und Verwaltung

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Frank Schale „Der wahre Konservative“. Max Horkheimer und der Konservatismus der frühen Bundesrepublik

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Magnus Klaue

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Inhalt

Liberalkonservatismus und Nationalkonservatismus nach 1968 Das politische Denken des Publizisten Matthias Walden Nils Lange Eine Frage ‚nationaler Selbstbehauptung‘? Konservativer Antikommunismus im Jahrzehnt nach 1968

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Martin G. Maier Sprache und Ideologie des Konservatismus. Zur Differenz vom moderaten und radikalen konservativen politischen Denken in der Bundesrepublik Deutschland

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Tobias Bartels Perspektiven Neugründung auf alten Werten? Intellektuelle Abgrenzungen, Ideenformationen und Perspektiven

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Sebastian Liebold Angaben zu den Autoren

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Personenverzeichnis

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Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik Frank Schale

1. Einleitung Es ist ein offenes Geheimnis: Die eine Definition des „Konservatismus“ gibt es nicht. Aus dem Begriff des „Bewahrens“ abgeleitet, ist mithin nie ganz klar gewesen, was eigentlich konserviert werden soll – zu vielgestaltig ändern sich moderne Gesellschaften. Zwar richtet sich der Terminus des „Konservativen“ gegen eine bestimmte, als (zu) fortschrittlich wahrgenommene Tendenz. Worin diese liegt, ist jedoch keineswegs eindeutig, und Konservative haben schon immer darüber gestritten, was sie eigentlich am gesellschaftlichen Wandel, an dem sie selbst teilhaben, ablehnen. Politiktheoretische Deduktionen über „links“ und „rechts“ mögen normativ überzeugen oder nicht, sie stehen aber vor dem Problem, dass sie die im historischen Rückblick sichtbar werdende Pluralität der Positionen unterschätzen, die sich als konservativ bezeichnen oder so bezeichnet werden.1 Spitzt man diesen historisierenden Gedanken zu, so kommt man zu dem paradoxen Befund, dass der hochgradig normative und legitimierende Begriff des „Konservativen“ zu einer Leerformel zu werden droht. Um diesem Problem zu entfliehen, hat es nicht an Versuchen gemangelt, den Konservatismus als historisch fest umrissenes Phänomen einzugrenzen.2 So hat Panajotis Kondylis gegen eine Aktualisierung des Konservatismusbegriffs eingewendet, es sei unsinnig, „zeitgenössische Programme, Parteien oder Regierungen als konservativ zu bezeichnen, die sich dem technologischen Fortschritt, der sozialen Mobilität und somit dem neuzeitlichen Grundsatz der Machbarkeit der Welt verschrieben ha-

1 Etwa: Norberto Bobbio: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994. 2 Vgl. etwa die klassischen Studien von: Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt am Main 1984; Sigmund Neumann: Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1928; Klaus Epstein: The Genesis of German Conservatism, Princeton 1966.

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Frank Schale

ben“.3 Konservatismus meint für ihn die aristokratische Haltung gegenüber der sich zentralisierenden Herrschergewalt im Absolutismus. Gegen diese theoretisch plausible Position4 spricht, dass der Konservatismus als Ideologie und Kampfbegriff erst in Abgrenzung zur radikalen Aufklärung vor allem nach der Französischen Revolution an Bedeutung gewann und bis heute zum politischen Vokabular gehört.5 Aus dem gleichen Grund muss umgekehrt der von der Systemtheorie6 ins Feld geführten Absage widersprochen werden, dass „konservativ“ und „progressiv“ zu einfache Beschreibungen für die gestiegenen Anforderungen sozialer Differenzierung und politischen Entscheidens in modernen Gesellschaften seien. Der politische Code von rechts und links verfügt noch immer über eine beachtliche politische Mobilisierung, wie gerade das Lamento über den heute fehlenden Konservatismus vergegenwärtigt. Ob der gegenwärtigen Rhetorik adäquate politische Handlungen zuzuordnen sind, mag umstritten sein; zur politischen Integration in Parteien und Bewegungen taugt der Begriff allemal. Im Übrigen gibt Niklas Luhmann selbst für das Überleben des politischen Codes eine bündige Erklärung: Weil in modernen Gesellschaften politische Prozesse in der Zeitdimension artikuliert und verhandelt werden, kann diese Codierung die Güterabwägung von „Bestehen“ oder „Verändern“ einfangen. Selbst wenn also aus analytischer Sicht der Begriff des Konservativen soziologisch unterkom-

3 Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. 4 Die emphatische Selbstbezeichnung, Anhänger des Konservatismus zu sein, bleibt ambivalent, denn sie dient dazu, „die sich auflösende Ständegesellschaft unter neuen Zielsetzungen sozial und politisch neu zu formieren“ (Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Begriffe, in: Ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, S. 77-85, hier S. 82). 5 Vgl. Klaus von Beyme: Konservatismus. Theorien des Konservatismus und Rechtsextremismus im Zeitalter der Ideologien 1789-1945, Wiesbaden 2013; Klaus Epstein: The Genesis of German Conservatism (wie Anm. 2). 6 Niklas Luhmann: Der politische Code „konservativ“ und „progressiv“ in systemtheoretischer Sicht, in: Zeitschrift für Politik, 21 (1974) Heft 3, S. 253-271; Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015. Ironischerweise plädiert der Autor selbst für einen modernen Konservatismus (vgl. Ders.: Die Stunde der Konservativen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 2016, S. 9).

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plex bleibt, entfaltet er auf der Ebene der politischen Kommunikation eine beachtliche Integrationsleistung.7 Insgesamt scheint der Begriff des „Konservativen“ – wie viele sozialwissenschaftliche Vokabeln – ein seltsames Derivat aus analytischen Differenzierungen und politischen Werturteilen zu sein, an deren Spannung der Sozialwissenschaftler dann verzweifelt, wenn er nach einer abschließenden Definition sucht. Um sowohl eine bloß formale (Systemtheorie) als auch eine inhaltlich zu fest umrissene Definition zu vermeiden, die sich an einem empirisch uneinholbaren Ideal orientiert (Kondylis), muss nach historischen und sozialen Formationsverschiebungen im Konservatismus gefragt werden. Dies betrifft dessen Ideologie, aber auch Akteure, die sich selbst als „konservativ“ bezeichnen oder so bezeichnet werden. Der damit notwendig geringe analytische Gehalt des Allerweltsbegriffs „konservativ“ ist daher kein Nachteil, sondern ermöglicht, semantische Deutungskämpfe um ihn zu verfolgen. Die ideenhistorische Erforschung muss prüfen, welchen Stellenwert und welches Narrativ der Begriff im Arsenal politischer Akteure einnimmt und wie sich die entsprechenden Zuschreibungen im „Gewebe politischer Diskurse“8 zwischen Konservativen und Nicht-Konservativen sowie unter Konservativen historisch ändern. Im Sinne einer Intellectual History wird die Analyse politischer Ideen an biographische, fachgeschichtliche sowie soziale Faktoren und deren politischen Rahmen geknüpft, ohne die jeweiligen Aussagen als bloße kulturelle Epiphänomene herabzuwürdigen, folglich den Autor und seinen Text ernstzunehmen. 2. Intellectual History der Bundesrepublik Es gibt zwar keine Intellectual History der Bundesrepublik, aber selbstverständlich Werke, die diese sichtbar werden lassen. Zahlreiche Arbeiten zur intellektuellen Gründung der Bundesrepublik, zu öffentlichen Kontrover7 Obwohl die Systemtheorie als Differenzierungstheorie kein Interesse an ideologischen Fragen hat, erkennt sie zumindest die Permanenz ideologischen Denkens als Moment der normativ intendierten Entlastung und Entdifferenzierung politischen Handelns. Vgl. Niklas Luhmann: Wahrheit und Ideologie, in: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 4. Aufl., Opladen 1974, S. 54-65, hier S. 59. 8 Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, München 2008.

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sen um Staat und Gesellschaft sowie Darstellungen zu einzelnen Intellektuellen, Wissenschaftlern und anderen „Ideenproduzenten“ liegen vor. Jedoch dominieren politik-, sozial-, kulturgeschichtliche oder vergangenheitspolitische Perspektiven, während eine historische Kontextualisierung des politischen Denkens in der Bundesrepublik insgesamt noch auf sich warten lässt, indes zuletzt methodische Überlegungen erste Ergebnisse zeitigten.9 Intellectual History wird hier im Anschluss an Stefan Collini verstanden als „understanding of those ideas, thoughts, arguments, beliefs, assumptions, attitudes and preoccupations that together made up the intellectual or reflective life of previous societies“.10 Bündiger könnte ihr Gegenstand definiert werden als „what people in the past meant by the things they said and what these things ‚meant‘ to them“.11 Diese Aufgabe steht vor nicht kleinen forschungsmethodischen und -praktischen Problemen: Zunächst sei auf das grundsätzliche Problem der hermeneutischen Differenz hingewiesen, die die Intellectual History von einer älteren Vorstellung von Ideengeschichte abgrenzt, die als „History of Ideas“ (Arthur Lovejoy) oder als an Klassikern orientierte Geistesgeschichte (Wilhelm Dilthey) nach „ewigen“ Ideen sucht. Zwar scheint sich die Intellectual History mit ihrem Interesse an literarischen, kulturellen, sozialen und politischen Denk- wie Rollenmustern, ihren Produzenten, Streitern und Diskursen sowie ihren Kommunikations- oder generationellen Netzen einer solch „ahistorischen“ Ideengeschichte entgegenzustellen. Zugleich teilt sie das Problem einer jeden mit hermeneutischen Verfahren operierenden Wissenschaft, die eine bestimmte Begriffsbedeutung voraussetzt, um überhaupt das intellektuelle Feld organisieren und das jeweilige Problem sichtbar werden zu lassen – was gerade bei einem so polemisch verwendeten Begriff „konservativ“ durchaus heikel ist. Aber werden damit nicht be-

9 Vgl. Alexander Gallus: Vier Möglichkeiten, die Intellectual History der Bundesrepublik zu ergründen – Überlegungen zur Erschließung eines Forschungsfelds, in: Frank Bajohr u. a. (Hrsg.): Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 287-300; Sebastian Liebold/Frank Schale: Intellectual History der Bundesrepublik. Ein Werkstattbericht, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, (2016) Heft 16, S. 80-102 und die dort jeweils aufgeführte Literatur. 10 Stefan Collini: What is Intellectual History?, in: History Today, 35 (1985), S. 46-54, hier S. 46. 11 John Burrow: Brief an Anthony D. Nuttall, 3. Februar 1978, zitiert nach: Richard Whatmore: What is Intellectual History?, Cambridge 2016, S. 13.

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stimmte Ideen oder Ideologeme, von denen das Fach sich lösen wollte, mittransportiert, die für die forschungspraktische Auswahl letztlich unverzichtbar sind? Obwohl in den theoretischen Grundlegungen der Intellectual History, insbesondere im Zuge des „linguistic turn“ zahlreiche, methodisch subtile und theoretisch anspruchsvolle Ansätze entwickelt wurden, wird das methodische Repertoire nur selten in die konkrete Forschung eingebracht.12 Schließlich sei auf ein weiteres Problem hingewiesen: Das Feld der politischen Ideengeschichte gehört zum Bereich der Politikwissenschaft, in dem aber das Interesse an (ideen)historischen Fragestellungen schon seit Längerem hinter aktuelle, politikphilosophische und normative Diskussionen zurücktritt. So verwundert es nicht, dass sich Beiträge zur Intellectual History in anderen zahlreichen Disziplinen wiederfinden: in der Zeit-, Ideen-, Kunst-, Literatur-, Philosophie-, Wissenschafts-, Wirtschafts-, Medien- und Sozialgeschichte, deren Dialog aber keineswegs frei von methodischen, begrifflichen und theoretischen Barrieren ist. Umso dankbarer waren die Organisatoren der Tagung über die erfolgreiche Kooperation zwischen Historikern und Politikwissenschaftlern. 3. Konservatismus der frühen Bundesrepublik Die Frage nach dem Konservatismus der frühen Bundesrepublik war lange Zeit keine: Die Adenauer-Ära galt als „restaurative Epoche“,13 die die Chance der kulturellen und sozialen Neuordnung ungenutzt ließ und sich stattdessen durch personelle und strukturelle Kontinuität auszeichnete. Diese Sichtweise teilten ihre Kritiker und nicht zurückgekehrte Emigranten, die angesichts des „fehlenden Zorns des Volkes“14 gegenüber den nationalsozialistischen Tätern und der „politischen Käseglocke zwischen

12 Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Ideengeschichte, Stuttgart 2010; Andreas Mahler/Martin Mulsow (Hrsg.): Texte zur Theorie der Ideengeschichte, Stuttgart 2014; Richard Whatmore/Brian A. Young (Hrsg.): A Companion to Intellectual History, Chichester 2016. Zu dieser Kritik vgl. Andreas Busen/Alexander Weiß: Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens: The State of the Art?, in: Dies. (Hrsg.): Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens, Baden-Baden 2013, S. 15-39. 13 Walter Dirks: Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, 5 (1950), S. 942-954. 14 Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, Berlin 1986, S. 49.

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Rhein und Elbe“15 resignierten. Dieses Narrativ der autoritär-obrigkeitsstaatlichen Kontinuität wiederholte sich in zahlreichen politik- und geschichtswissenschaftlichen Studien, indem der deutsche Konservatismus mit Blick auf den Nationalsozialismus und den bundesdeutschen Rechtsextremismus interpretiert wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Begriff des Konservativen außer von politischen Außenseitern16 kaum zur Selbstbeschreibung verwendet wurde,17 es sei denn in maskierender Weise.18 Ein explizites Schrifttum zum Konservatismus und eine breite öffentliche Diskussion gab es in der frühen Bundesrepublik selten. In der parteipolitisch geprägten Literatur stechen lediglich Publikationen aus dem Umfeld der Deutschen Partei hervor,19 während unter den Christdemokraten der Begriff eher gemieden oder ohne rhetorische Schärfe vorgetragen wurde. Das wird gerade bei Adenauer selbst recht plastisch. Zwar bekannte er sich immer wieder zu traditionellen konservativen Leitideen, wie der Bedeutung von Kirche, Beamtentum und Familie, vertrat diese aber mit einer „gewissen Allgemeinverbindlichkeit“20. „Die Auffassung von der Vormacht, von der Allmacht des Staates, von seinem Vorrang vor der Würde und der Freiheit des Einzelnen widerspricht dem christlichen Naturrecht. Nach meiner Auffassung muss die Person dem Dasein und dem Rang nach vor dem Staat stehen. An ihrer Würde, Freiheit und Selbstständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze wie ihre

15 Otto Kirchheimer: o.T., in: Hermann Kesten (Hrsg.): Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, München 1964, S. 85-91, hier S. 85. 16 Vgl. Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950. 17 Namhafte Ausnahmen sind selten: Hans-Joachim Schoeps (Das andere Preußen, Stuttgart 1952) und Hans Barth (Der konservative Gedanke, Stuttgart 1958), wobei es vielleicht bezeichnend ist, dass Barth als letzten deutschen Konservativen Friedrich Julius Stahl aufzählt und neben Alexis de Tocqueville vor allem britische Konservative vorstellt. In dem wohl wichtigsten intellektuellen Werk des Konservatismus nach 1945, in Russel Kirks „The Conservative Mind. From Burke to Santayana“ (Chicago 1953) wird lediglich Wilhelm Röpke kurz genannt. 18 Vgl. Herbert Blank: Konservativ!, Hamburg 1953. 19 Vgl. Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952; Hans-Joachim von Merkatz: Die konservative Funktion. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens, München 1957; Heinrich Hellwege: Deutsche Verantwortung. Der konservative Weg in die Zukunft, Bremerhaven 1952. 20 Wilhelm Ribhegge: Konservative Politik in Deutschland. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Darmstatt 1992, S. 59.

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Orientierung. Die menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzelnen Menschen ist unersetzlich.“21

Die Christdemokraten als interkonfessionelle Sammlungspartei führten kaum programmatische Grundsatzdebatten. Wo weltanschauliche Positionen wie etwa der Abendlandgedanke oder die katholische Soziallehre in Konflikt mit den als politisch notwendig angesehenen Alternativlosigkeiten – Westbindung und Marktwirtschaft – gerieten, zielte man im Sinne eines organisatorischen Pragmatismus auf eine antikommunistische Sammlung des bürgerlichen Lagers.22 Der liberalkonservative Konsens legte die politisch-kulturelle Grundlage für den Erfolg der 1950er Jahre, auch wenn sein Credo von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) zunehmend Widerspruch provozierte. Dies betrifft nicht nur die linke, paradigmatisch von Gert Schäfer und Carl Nedelmann vorgetragene Absage an den „CDU-Staat“23, sondern auch die Kritik von Wilhelm Hennis, der einen trägen, die Sozialdemokratie umfassenden Konsensualismus konstatierte.24 Tatsächlich waren diese Motive nicht erst im Zuge der Studentenbewegung zu finden, wo sich der Ton lediglich radikalisierte, und der Konservatismusbegriff vollends zum polemischen Catch-all-Begriff wurde,25 sondern prägten schon die Debatte am Ende der Adenauer-Ära. Dies betraf einerseits die Thematisierung des Verhältnisses von Konserva21 Konrad Adenauer: Grundsatzrede in der Kölner Universität vom 24. März 1946, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Konrad Adenauer. Reden 1917-1967, Stuttgart 1975, S. 82-106, hier S. 82. 22 Vgl. Frank Bösch: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, Stuttgart 2001. Zu diesem Befund kamen schon Zeitgenossen: Arcadius R. L. Gurland: Die CDU/CSU. Ursprünge und Entwicklung bis 1953, Frankfurt am Main 1980. 23 Gert Schäfer/Carl Nedelmann (Hrsg.): Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1967. 24 Vgl. Wilhelm Hennis: Große Koalition ohne Ende? Die Zukunft des parlamentarischen Regierungssystems und die Hinauszögerung der Wahlrechtsreform, München 1968; Ders.: Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 203-243. Hennis’ Kritik richtet sich angesichts ihres Agierens in der Wahlrechtsfrage deutlicher gegen die SPD, in der Sache traf sie aber auch auf die CDU zu. Ungleich schärfer die Kritik bei: Caspar von Schrenck-Notzing: Honoratiorendämmerung. Das Versagen der Mitte. Bilanz und Alternative, Stuttgart 1973. 25 Etwa: Jürgen Ritsert/Claus Rolshausen: Der Konservativismus der kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1971; Oskar Negt (Hrsg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1968; Joachim Kahl: Positivismus als Konservatis-

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tismus und Nationalsozialismus,26 Kaiserreich und Weimarer Republik mit Blick auf den Aufstieg der NPD, andererseits die Kritik an der liberalkonservativen Politik der Nachkriegszeit – am „Gärtner-Konservatismus“.27 Neben biographischen Zugängen ragten in den 1970er Jahren28 zwei Studien hervor: Martin Greiffenhagen legte mit „Das Dilemma des Konservatismus“ eine Darstellung von Justus Möser bis Arnold Gehlen vor, in der auch das Verhältnis von Konservatismus und Nationalsozialismus bzw. Konservativer Revolution eine zentrale Rolle einnahm, in dem aber die Denunziation des konservativen Denkens zugunsten einer nüchternen Betrachtung zurücktrat.29 Gleiches lässt sich über Gerd-Klaus Kaltenbrun-

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mus. Eine philosophische Studie zu Struktur und Funktion der positivistischen Denkweise am Beispiel Ernst Topitsch, Köln 1976. Neben den Beiträgen von Schoeps siehe die Debatte um Begriff und Selbstverständnis des Konservatismus in mehreren Ausgaben von „Der Monat“ aus dem Jahr 1962, an der sich Hans Birkhäuser, Peter Dürrenmatt, Eugen Gerstenmaier, Klaus Harpprecht, Robert Hepp, Armin Mohler, Golo Mann, Hans-Joachim von Merkatz, Caspar von Schrenck-Notzing, Dietrich Schwarzkopf und Hans Zehrer beteiligten. Siehe auch: Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962; Ernst Nolte: Konservatismus und Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Politik, 11 (1964), S. 5-20; Harry Pross: Dialektik der Restauration, Olten 1965; Helga Grebing: Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945, Frankfurt am Main 1971. Armin Mohler: Konservativ 1962, in: Der Monat, 14 (1962), S. 23-29, S. 24; in diese Richtung auch: Caspar von Schrenck-Notzing: Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965. Die Kritik, dass hinter dem christdemokratischen Establishment ein schwacher, kaum souveräner Staat stünde, der dem Ernstfall nicht standhalten könne, findet sich schon frühzeitig bei Schmitt-Schülern: Werner Weber: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951 (ergänzte Auflagen: 1958 und 1970); Ernst Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950-1964, Stuttgart 1964; Ders.: Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. Mit weiteren Nachweisen vgl.: Hans-Gerd Schumann: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Konservatismus, Köln 1974, S. 21 (Anm. 44). Vgl. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland (1971), Neuausgabe, München 1977. Dies erklärt vielleicht auch die scharfe Kritik aus den unterschiedlichen politischen Lagern (von Hans-Joachim Schoeps, Caspar von Schrenck-Notzing und Hans-Dietrich Sander auf der einen sowie Reinhard Kühnl und Lutz Winckler auf der anderen Seite), die diesem Buch entgegengebracht wurde (siehe Nachwort zur Neuausgabe 1977). Eine Ausnahme bildet Armin Mohlers Kritik.

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ners „Rekonstruktion des Konservatismus“ sagen, das bei aller Sympathie über eine bloße Verteidigung hinausging und so wichtige Forschungsimpulse setzte.30 Trotz – oder besser: wegen – ihres ideengeschichtlich-analytischen Potentials dienten jedoch die späteren Arbeiten von Kaltenbrunner und Greiffenhagen primär der Bewertung des zeitgenössischen Konservatismus.31 Die Würdigung der sozialliberalen Koalition, die sich radikalisierende außerparlamentarische Opposition, der entstehende Neokonservatismus sowie die Rechtfertigung oder Kritik der „Tendenzwende“ und nicht die historische Forschung standen im Mittelpunkt der Konservatismusdiskussion seit den 1970er Jahren.32 Über die „geistig-moralische

30 Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg 1972; Ders. (Hrsg.): Konservatismus international, Stuttgart 1973; Ders. (Hrsg.): Die Herausforderung der Konservativen. Absage an Illusionen, Freiburg im Breisgau 1974 (insbesondere der Beitrag von Armin Mohler). 31 Martin Greiffenhagen (Hrsg.): Der Neue Konservatismus der siebziger Jahre, Reinbek bei Hamburg 1974; Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Die Herausforderung der Konservativen (wie Anm. 30); Ders.: Plädoyer für die Vernunft. Signale einer Tendenzwende, München 1974. 32 Helmut Schelsky: Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung. Grundsatzkonflikte der Bundesrepublik, München 1973; Frank Grube (Hrsg.): Die Utopie der Konservativen. Antworten auf Helmut Schelskys konservatives Manifest, München 1974; Robert Lederer: Neokonservative Theorie und Gesellschaftsanalyse, Frankfurt am Main 1979; Lothar Bossle (Hrsg.): Konservative Bilanz der Reformjahre. Kompendium des modernen christlich-freiheitlichen Konservatismus, Würzburg 1981; Gerhart Binder (Hrsg.): Der Neokonservatismus. Die Leitidee der achtziger Jahre?, Würzburg 1981; Eike Hennig/Richard Saage (Hrsg.): Konservatismus, eine Gefahr für die Freiheit?, München 1983; Kurt Sontheimer: Zeitenwende? Die Bundesrepublik Deutschland zwischen alter und alternativer Politik, Hamburg 1983; Richard Saage: Rückkehr zum starken Staat? Studien über Konservatismus, Faschismus und Demokratie, Frankfurt am Main 1983; Iring Fetscher (Hrsg.): Neokonservative und „Neue Rechte“. Der Angriff gegen Sozialstaat und liberale Demokratie in den Vereinigten Staaten, Westeuropa und der Bundesrepublik, München 1983; Claus Leggewie: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, Berlin 1987. Aus konservativer Sicht selbstkritisch: Günter Rohrmoser: Ideologie-Zerfall. Nachruf auf die geistige Wende, Krefeld 1990. Eine berechtigte, aber einseitige Kritik über die Konservatismusforschung der1980er Jahre: Hans-Christof Kraus: Konservatismus im Widerstreit. Zur neueren Literatur über seine Geschichte und Theorie, in: Der Staat, 28 (1989) Heft 2, S. 225-249. Zum Neokonservatismus aus dieser Zeit: Wolfgang H. Lorig: Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Zum intellektuellen Klima in zwei politischen Kulturen, Wiesbaden 1988; Sabine Pfeffer: Politischer Konservatismus in England und in

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Wende“33 wurde zwar viel aus ideengeschichtlicher und politikphilosophischer Perspektive nachgedacht, aber selten mit Blick auf praktische Politik. Statt in deren Niederungen hinabzusteigen, beschränkten sich die meisten Arbeiten indes auf den konstatierten Zusammenhang von Neokonservatismus und Rechtsextremismus.34 Dass jedoch der Neokonservatismus auch unter Konservativen umstritten war, belegen insbesondere die Autoren der sogenannten Ritter-Schule, die nicht nur gegenüber dem Planungsdenken skeptisch blieben, sondern insbesondere die liberale Demokratie gegen völkisch-nationalistische Phantasien verteidigten.35 Den Versuch zur Bündelung des deutschen Konservatismus unternahm 1989 die ebenfalls ideengeschichtlich argumentierende Arbeit von Kurt

der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Ein Vergleich konservativer Prinzipien, Münster 1989; Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.“ Zur konservativen Tendenzwende in den 1970er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 44 (2004), S. 449-478. 33 Zur Problematik des Begriffs: Peter Hoeres: Von der „Tendenzwende“ zur „geistig-moralischen Wende“. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), Heft 1, S. 93-119. Helmut Kohls Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 meidet, Adenauer ähnlich, den Begriff des Konservatismus. Die Kritik an der zusammengebrochenen sozialliberalen Koalition mündet keineswegs in konservativem Maßhalten, sondern in einem „Programm für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung“, das auf eine „Politik der Erneuerung“ zielt. Wo Kohl von den „Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes“ spricht, fügt er umgehend hinzu, dies meine „Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung“. Unter Werten versteht Kohl Würde, Freiheit, freie Initiative, Leistung und soziale Sicherheit. 34 Dieser Kurzschluss wird von Autoren der Kritischen Theorie nur bedingt unternommen; vielmehr wird der Neokonservatismus als Folge eines Erschlaffens „utopischer Energien“ interpretiert, der konservativ-sozialromantische Integrationsangebote wieder attraktiv werden lässt. Vgl.: Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985; Helmut Dubiel: Was ist Neokonservatismus?, Frankfurt am Main 1985; Hans-Jürgen Puhle: Konservatismus und Neo‑Konservatismus. Deutsche Entwicklungslinien seit 1945, in: Rainer Eisfeld/ Ingo Müller (Hrsg.): Gegen Barbarei, Frankfurt am Main 1989, S. 399‑423. 35 Hermann Lübbe: Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg im Breisgau 1971; Ders.: Fortschrittsreaktionen. Über konservative und destruktive Modernität, Graz u. a. 1987; Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981. Hierzu: Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.

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Lenk36, der jedoch ausschließlich konservative Intellektuelle diskutierte. Dies überzeugt bei der Darstellung genuin theoretischer Texte, gibt aber kein abschließendes Bild des Konservatismus. Spiegelbildlich lässt sich der Beitrag von Wilhelm Ribhegge37 lesen: einerseits aufgrund seiner wenig theoretischen, dafür an namhaften Politikern interessierten Darstellung, andererseits in seinem politischen Werturteil über den Nachkriegskonservatismus. Wo Lenk Kontinuitätslinien zur Konservativen Revolution sieht, betont Ribhegge die pro-demokratische Umorientierung des deutschen Konservatismus nach 1945. Das Ende des Kalten Krieges schien erneut Anlass zur konservativen Besinnung zu geben. Jedoch verblieb sie häufig mit einer bemühten Rehabilitierung des Nationenbegriffs – in gewisser Weise als Nachhutgefecht des Historikerstreits – in der älteren argumentativen Linie, das Verhältnis von Konservatismus und Nationalsozialismus zu thematisieren.38 Die Mehrzahl der Autoren monierten allgemein eine argumentative „Faschismuskeule“ und konkret eine zu starke Westorientierung.39 Während die Nation wieder zum Maß vieler Dinge wurde, kam der in den frühen Jahren stark vertretene Europagedanke kaum noch vor.40 An der Reformulierung einer eigenen theoretischen Position gab es wenig Interesse.41 Abseits die-

36 Vgl. Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus, Frankfurt am Main 1989; Ders.: Rechts, wo die Mitte ist. Studien zur Ideologie. Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservativismus, Baden-Baden 1994. 37 Vgl. Wilhelm Ribhegge: Konservative Politik in Deutschland (wie Anm. 20). 38 Vgl. Karlheinz Weißmann: Rückruf in die Geschichte, Berlin/Frankfurt am Main 1992; Hans-Helmuth Knütter: Die Faschismus-Keule. Das letzte Aufgebot der deutschen Linken, Frankfurt am Main 1993; Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hrsg.): Die selbstbewusste Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt am Main 1994. 39 Ansätze, die über einen Nationalkonservatismus hinausgehen, finden sich im Umfeld der CDU: Günter Rohrmoser: Der Ernstfall. Die Krise unserer liberalen Republik, Berlin 1994; Ders.: Kampf um die Mitte. Der moderne Konservativismus nach dem Scheitern der Ideologien, München 1999. Die aus heutiger Sicht bemerkenswerte konservative Neubestimmung mit Bezug zu Edmund Burke bei: Alexander Gauland: Was ist Konservativismus? Streitschrift gegen die falschen deutschen Traditionen. Westliche Werte aus konservativer Sicht, Frankfurt am Main 1991. 40 Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005. 41 Eine Ausnahme bilden die „Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus“ von Caspar von Schrenck-Notzing, wenngleich sein Band „Stand und Pro-

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ser Literatur, in der die Autoren der Konservativen Revolution42 eine höhere Aufmerksamkeit erfuhren, stieg langsam das wissenschaftliche Interesse am Konservatismus in der Bundesrepublik. Es wurde nicht mehr nur nach Kontinuitäten, sondern auch nach bundesrepublikanischen Transformationen und Neubegründungen (mitunter im Vergleich), nach der Vorstellung von Klassikern und allgemeinen Problemen konservativen Denkens gefragt.43 Verstärkt wurde dieses Interesse durch eine wachsende Historisierung: durch eine sozial-, alltags- und kulturgeschichtlich inspirierte zeithistorische Forschung, die die Adenauer-Ära als Feld entdeckte,44 deren Ambivalenzen sie schließlich als „Modernisierung im Wiederaufbau“ begriff und deren geistige Signatur sie „zwischen Abendland und Amerika“ erkannte. Die ideen- und intellektuellengeschichtlichen Spurensuchen45 be-

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bleme der Erforschung des Konservatismus“ den intellektuellen Nachkriegskonservatismus ausspart und auch die folgenden Bände hierauf nicht zu sprechen kommen. Es ist das Verdienst von Frank-Lothar Kroll, dies im letzten Band der Reihe nachgeholt zu haben: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, Berlin 2005. Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1995. Vgl. Richard Faber (Hrsg.): Konservatismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1991; Norbert Hilger: Deutscher Neokonservatismus. Das Beispiel Hermann Lübbes, Baden-Baden 1995; Michael Großheim: Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995; Hans-Christof Kraus (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland, Berlin 1995; Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.): Lexikon des Konservatismus, Graz 1996; Johann Baptist Müller: Konservatismus. Konturen einer Ordnungsvorstellung, Berlin 2007; Matthias Oppermann: Raymond Aron und Deutschland. Die Verteidigung der Freiheit und das Problem des Totalitarismus, Thorbecke 2008; Michael Großheim/Hans Jörg Hennecke (Hrsg.): Staat und Ordnung im konservativen Denken, Baden-Baden 2013. Einen umfangreichen Überblick über die zeitgeschichtliche Literatur bis zu Beginn der 1990er Jahre bietet: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.): Adenauerzeit. Stand, Perspektiven und methodische Aufgaben der Zeitgeschichtsforschung (1945-1967), Bonn 1993; neuere Übersicht: Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, Berlin 2007. Vgl. Clemens Albrecht u. a. (Hrsg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main u. a. 1999; Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Gangolf Hü-

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trafen daher nicht zuletzt den Nachkriegskonservatismus,46 genauer: dessen Normalisierung, die bei allen ambivalenten Einstellungen von konservativen „Solitären und Netzwerkern“ zur Demokratie und zur bundesdeutschen Erfolgsgeschichte beigetragen hat. Diesem Narrativ, das die ältere These von Hans-Peter Schwarz wiederholt,47 folgt mehrheitlich bis heute die zeitgeschichtliche Forschung.48 Die 1950er Jahre erscheinen als die Zeit des Konsensliberalismus, des Liberalkonservatismus, der Deradikalisierung und Entideologisierung, in der politische Konflikte, sofern vorhan-

binger/Thomas Hertfelder (Hrsg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000; Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hrsg.): Die janusköpfigen 50er Jahre, Wiesbaden 2000; Alexander Gallus: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990, Düsseldorf 2001; Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005; Marcus M. Payk: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München 2008; Morten Reitmayer: Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009; Alexander Gallus/Axel Schildt (Hrsg.) Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011; Michael Hochgeschwender (Hrsg.): Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011. 46 Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998; ders.: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999; Erhard Schütz/ Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009; Peter Uwe Hohendahl/Erhard Schütz (Hrsg.): Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945, Bern u. a. 2012. 47 Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer 1949-1957. Gründerjahre der Republik, Stuttgart 1981, S. 375-464. Axel Schildt folgt jedoch Habermas, der den Neokonservatismus als „Partei der Bewegung [beschreibt], die nichts anderes als die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft erhalten will. Sie verwandelt die Tendenz zur Bewahrung in die neukonservative Zustimmung zu einer Mobilisierung, die ohnehin geschieht“ (Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 74; vgl.: Axel Schildt: Ankunft im Westen (wie Anm. 46), S. 172). 48 Statt vieler: Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 273-318; Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 184-225; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 144-186.

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den, in Form der moralischen Kulturkritik verhandelt wurden.49 Diese Deutung gewinnt ihre Plausibilität, wo sie nach praktischer Politik fragt und die sozialen wie kulturellen Transformationsprozesse der deutschen Nachkriegsgesellschaft in den Blick nimmt. Zugleich ließe sie sich relativieren: Welche Bedeutung hatte das ältere konservative Denken, hatten aber auch intellektuelle Netzwerke aus dem Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus hinein in der frühen Bundesrepublik? Sind diese Aspekte des Konservatismus nur „Verlustmasse“ einer sich modernisierenden politischen Kultur? Weiter ließe sich fragen: Verstellt die Rede von der Modernisierung unter konservativer Ägide in der Nachkriegszeit nicht einerseits den Blick auf entsprechende Transformationsprozesse und Planungskonzeptionen vor dem Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt: im Nationalsozialismus50, in der Weimarer Republik51 und sogar im späten Kaiserreich52 und andererseits auf das Beharrungsvermögen konservativer Leitbilder

49 Jerry Z. Muller: The other god that failed. Hans Freyer and the deradicalization of German conservatism, Princeton 1987; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit (wie Anm. 35); Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920-1960, Göttingen 2007; Dominik Geppert/Jens Hacke (Hrsg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980, Göttingen 2008; Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2009; Michael Hochgeschwender: Der Verlust des konservativen Denkens. Eine Facette der bundesdeutschen Westernisierung 1950-1980, in: Axel Schildt (Hrsg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 149-190. 50 Zum Nationalsozialismus siehe die Diskussion um: Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. 51 Zur Weimarer Republik: Detef Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987; Wolfgang Bialas/Georg G. Iggers (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main u. a. 1996; Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, 2. Aufl., Frankfurt am Main u. a. 2007. 52 Zum Kaiserreich: Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), Husum 1980; Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1993; Uwe Puschner/Christina StangeFayos/Katja Wimmer (Hrsg.): Laboratorium der Moderne. Ideenzirkulation im Wilhelminischen Reich/Laboratoire de la modernité. Circulation des idées à l'ére wilhelminienne, Frankfurt am Main 2015.

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nach 1945? Was ist mit dem – in der älteren Forschung überzeichneten – subkutanen Fortleben bestimmter konservativer Vorstellungen von Intellektuellen? Lässt sich die „Rückkehr in die Bürgerlichkeit“53 lediglich als Preisgabe eines kämpferischen Aktivismus und Neuausrichtung am Konsens begreifen? Wiederholt eine Darstellung des Konservatismus, die in ihm nach 1945 primär „Anpassung und Lernprozesse“ erkennt, nicht die Selbststilisierung vom entideologisierten Zeitalter?54 Vor diesem Hintergrund werden in diesem Band folgende Fragen an den Nachkriegskonservatismus gerichtet: (1) Welche Motive und Ursachen haben das hochideologisierte Denken der Zwischenkriegszeit in ein integratives bürgerliches Common-Sense-Denken transformiert? Dass die totalitäre Erfahrung und die atomare Gefährdung im Kalten Krieg eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, liegt auf der Hand. Aber worin bestand das konservative Integrationsmoment? In einem gemeinsamen Ziel oder lediglich in der geteilten Ablehnung dessen, was mal zur totalitären, mal lediglich zur kommunistischen Gefahr erklärt wurde? Oder ist die Antwort viel banaler: Der Erfolg des Konservatismus war der Erfolg der Übriggebliebenen. Eine ähnliche These ist übrigens auch in der Emigrationsforschung formuliert worden, um die politische Konversion vieler Flüchtlinge verstehen zu können. (2) Welche Bedeutung hatten ideologische Restbestände aus Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus im Nachkriegskonservatismus? In welchem Verhältnis stand der liberale „Normalkonservatismus“ zu jenen Traditionen, die in der Bundes-

53 Ulrich Herbert: Rückkehr in die Bürgerlichkeit? NS-Eliten in der Bundesrepublik, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.): Rechtsradikalismus in der politischen Kultur der Nachkriegszeit, Hannover 1995, S. 157-178; Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Bernd Weisbrod (Hrsg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002. 54 In gewisser Weise folgen diese Ansätze daher der Selbstdeutung damaliger Autoren, insbesondere: Daniel Bell: The end of ideology. On the exhaustion of political ideas in the fifties, Glencoe 1960. Zur Kritik: Axel Schildt: Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: Ders./Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau (wie Anm. 45), S. 627-635. Der Vorwurf, dass Lernprozesse nur vorgeschoben und zur Camouflage der eigenen Position verwendet wurden, findet sich immer wieder bis in die heutige Literatur, etwa in den Wirtschaftswissenschaften (gegenüber den Ordoliberalen), im Staatsrecht (insbesondere gegenüber der Schmitt-, aber auch der Smend-Schule), der Geschichtswissenschaft (Theodor Schieder, Werner Conze) oder der Politikwissenschaft (Theodor Eschenburg und Arnold Bergstraesser).

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republik abgeschnitten werden mussten, um an dieser Erfolgsgeschichte mitzuschreiben? Aber auch: Beschönigt die Rede von der Modernisierung nicht retardierende Momente? (3) Welche Konfliktlinien bestanden innerhalb des Konservatismus? Dies betrifft neben dem etwaigen Streit um den – zumeist als marginalisiert angesehenen – monarchistischen Altkonservatismus auch das Verhältnis zur Konservativen Revolution. Dieses Ringen innerhalb des Konservatismus schlägt sich ebenso in der Abgrenzung von christlichem und technokratischem Konservatismus nieder. Wie positionierten sich diejenigen, die den Weg in den bundesdeutschen Normalkonservatismus nicht mitgegangen sind? Innerhalb welcher politischen und intellektuellen Kreise bewegten sie sich? (4) Wer den Konservatismus als Zeitgeist der Adenauer-Ära begreift, fragt immer auch danach, wie sich dieser nach deren Ende veränderte. Gerade die Diskussion um die 1970er Jahre als einem „roten“ oder „schwarzen“ Jahrzehnt berührt dieses Problem. (5) Obwohl die Debatte um den deutschen Konservatismus lange Zeit vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrung erfolgte, verlassen neuere Forschungen diese eindimensionale Perspektive. Der internationale Vergleich, insbesondere mit Blick auf die angelsächsische Entwicklung, dokumentiert Parallelen, die den Stellenwert eines deutschen Sonderweges relativieren. Hier gilt es, nach transnationalen Elitenzirkeln, aber auch nach praktischer parteipolitischer Zusammenarbeit – etwa im Zuge der europäischen Einigung – zu fragen, ohne die spezielle Herausforderung des deutschen Konservatismus, mit zu den Totengräbern der ersten deutschen Demokratie gehört zu haben, auszublenden. 4. Beiträge Ausgangspunkt des Bandes ist die Erkundigung nach dem politischen Konservatismus in Parteien und politischen Netzwerken nach 1945. Die Christdemokraten haben, darauf wurde bereits hingewiesen, auf eine Sammlung des bürgerlichen Lagers und weniger auf eine programmatische Neugründung des Konservatismus gesetzt. Debatten über Tradition und Neufindung der Konservativen blieben im Ergebnis Randphänomene. Bei allen persönlichen Enttäuschungen hat diese Temperierung der weltanschaulichen Debatten zugunsten eines breiten Common Sense zur Stabilisierung des bundesdeutschen Parteiensystems beigetragen. Der ambivalente Umgang mit Begriffen des „Konservatismus“ ist der Ausgangspunkt für Martina Stebers Analyse der Deutschen Partei (DP) 24

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und ihrer Protagonisten Hans-Joachim von Merkatz und Hans Mühlenfeld. Sie zeigt, wie sich der Wunsch nach inhaltlicher Erneuerung, die Abwendung von „Wunschbildern“ (Mühlenfeld) und die Hinwendung zu einem vagen bürgerlichen Konsensdenken mit einer eher restaurativen Strategie verband, die den Vorkriegskonservatismus als „fortschrittsversessen“ abkanzelte und bei den englischen Konservativen den „echten“ Konservatismus zu erkennen glaubte. Damit wollten die Parteidenker Kontinuitätslinien kappen, die die Deutsche Partei ausweislich ihres Programms kennzeichneten. Sie sahen in der alteuropäischen Ordnung sowohl die Freiheit des Einzelnen als auch die Vielfalt in der Gesellschaft gewahrt. Steber kontrastiert diese Setzungen mit politischen Alltagsfragen, die eine antipluralistische Haltung zutage bringen. Die sonst (gerade in der CDU) verbreitete Wendung zum Liberalkonservatismus machten die Akteure der DP lange nicht mit. Die dagegen überschaubare programmatische Debatte in der CDU mag das Bild bestätigen, dass im Zeitalter von Verwestlichung und Amerikanisierung eine genuin konservative Politik, insbesondere wenn sie dem Leitbild des „Abendlandes“ folgte, per definitionem in eine Defensivlage geriet, die entweder zur Preisgabe der eigenen Position oder zur politischen Bedeutungslosigkeit führen musste. Vom Ergebnis aus ließe sich dieser Wandel – vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrung – als Anpassung und Lernprozess beschreiben. Doch greift diese Verlustgeschichte nicht zu kurz, und müsste sie angesichts paralleler Prozesse in anderen europäischen Staaten nicht differenziert werden? Am Beispiel des Centre Européen de Documentation et d’Information (CEDI, dt.: Europäisches Dokumentations- und Informationszentrum) zeigt Johannes Großmann, dass die Analyse des deutschen Konservatismus den nationalen Kontext überschreiten muss. Zudem seien für das Agieren konservativer Politiker nicht allein Ideologie und Programmatik relevant, sondern situatives und pragmatisches Handeln. Die europäischen Konservativen waren unabhängig von Konfession und parteipolitischer Couleur (Gaullisten, Francisten, Monarchisten) bereit und durchaus fähig, den Abendlandgedanken als Basis gemeinsamer politischer Aktivitäten zu nutzen. Er trug mehrere Jahrzehnte ihre Zusammenarbeit. Dass dieser Gestaltungswille im nationalen Kontext durchaus enge Grenzen haben konnte, verdeutlicht Peter Becker am Beispiel von Andreas Hermes. Als ehemaliger Reichslandwirtschaftsminister und Präsident des Deutschen Bauernverbandes genoss Hermes großes Ansehen, scheiterte jedoch politisch. Die Ursache dafür liegt nicht ausschließlich in der 25

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„abendländischen“ Kritik an der Westintegration durch den Mitbegründer der Ost-CDU. Vielmehr waren es handfeste Spannungen, insbesondere seine agrarwirtschaftlichen Vorstellungen, die ihn in Konflikt zu Konrad Adenauer und zu den jeweiligen Landwirtschaftsministern Wilhelm Niklas und Heinrich Lübke brachten. Vor allem aber musste seine noch in der Weimarer Republik recht erfolgreiche Orientierung an einer tradierten Agrarstruktur, die sich jedoch nach dem Krieg zugunsten einer mehrheitlich klein- und mittelbäuerlichen Ordnung auflöste, misslingen. Hermes mag diese Schwäche erkannt haben, von den alten Idealen konnte er sich aber kaum lösen, und wenn, dann war dies nicht frei von Widersprüchen: So mochte er sich allgemein als guter Europäer verstanden haben, dachte dann aber doch in gewohnten Bahnen des Protektionismus. In einem zweiten Abschnitt werden Akademiker der Nachkriegszeit vorgestellt. Bei der Auswahl mag man sich die Augen reiben, denn von den Porträtierten gilt allein Arnold Bergstraesser als genuin Konservativer in der frühen Bundesrepublik – besonders kämpferisch war er hierin jedoch nicht. Geprägt durch die Exiljahre kam Arnold Bergstraesser 1954 nach Freiburg. Er kann indes, wie Sebastian Liebold zeigt, als Emigrant und als Nicht-Emigrant verstanden werden. Während er mit bestimmten Ideen bricht, hat er das Feld der deutschen Kulturgeschichte nie verlassen: Nach Frankreichstudien und recht nationalistisch geprägten Aufsätzen wandte er sich in der Emigration der Literatur, vor allem Goethe, zu – und von der Tagespolitik ab. Immer wieder kommen in den Nachkriegswerken Einstellungen aus der Wandervogelzeit zum Vorschein, die persönliche Eigenverantwortung und zugleich eine Sensibilität für kulturelle Eigenheiten der Völker betonen. Bildung spielte in Chicago und später in Freiburg ebenso eine Rolle wie Religion, die als „atlantisches Band“ verstandene Kultur des „Abendlands“ sowie die Anerkennung hergebrachter Machtverhältnisse. Mit Skepsis betrachtete er Technisierung und „Massendemokratie“, denen er – bei aller Liberalität und einem institutionell gefestigten Verständigungswillen – die Relevanz der „geistigen Überlieferung“ entgegensetzte, oft in europäischer Perspektive. Carl Joachim Friedrich teilte mit Bergstraesser das Heidelberger intellektuelle Milieu der Zwischenkriegszeit, den Doktorvater Alfred Weber und dessen Kulturkritik. Frank Schale zeigt, dass Friedrichs Denken maßgeblich von drei Momenten bestimmt ist: Gemeinschaft, Tradition und Verwaltung. Deren Symbiose glaubte er idealtypisch bei Johannes Althusius zu finden, die er später zu einer politischen Theorie des Verfassungsstaates ausbaute. Friedrich gab dabei dieser allgemeinen theoretischen 26

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Grundposition im Laufe der Zeit eine jeweils veränderte politische Stoßrichtung. Während er in der Weimarer Republik als Kritiker des Parteienstaates durchaus eine beachtliche Nähe zu Carl Schmitt aufwies – auch wenn er dessen seit 1932 vollzogene endgültige Absage an die parlamentarische Demokratie so nicht teilte –, erfuhr sein Konzept seit Mitte der 1930er Jahre bis zum Ende der 1950er Jahre eine Mäßigung und „Liberalisierung“. Zum „richtigen“ Konservativen wandelte sich Friedrich erst mit dem Ende des „cold war consensus“, in dessen Zuge er einerseits zum streitbaren Vertreter einer rechtsstaatsungebundenen Verwaltung wurde und andererseits eine Tradition einklagte, deren Werte er selbst nicht mehr benennen konnte. Dass in einem Sammelband zum Konservatismus Max Horkheimer diskutiert wird, dürfte überraschen. Jedoch hat Horkheimer in seinem Nachkriegswerk selbst immer wieder den Konservatismus thematisiert: „Das Ernsteste, womit wir uns heute zu beschäftigen haben, ist, daß es tatsächlich nur noch so wenige wirkliche Konservative gibt. Der echte Konservative weiß um die Gebrechlichkeit des Daseins und will es hegen. Er will es nicht gewaltsam ändern, er will bewahren. Der Pseudokonservative sagt aber, es muß so bleiben, wie es war, und wenn darüber alles zugrunde geht.“55 Magnus Klaue zeigt, dass der „Konservatismus“ bei Horkheimer weder eine Preisgabe seiner Position noch eine bloße Absage an die Studentenbewegung meint. Horkheimers Konservatismus basiert vielmehr auf der in der Emigration vollzogenen Einsicht, dass in Anbetracht der Gegenwart des Zivilisationsbruchs der „richtige“ Revolutionär die Überlieferung ernstnimmt und sie gegenüber der fortschreitenden instrumentellen Vernunft bewahrt. Erst vor diesem Hintergrund ist der Argwohn Horkheimers gegenüber der Studentenbewegung zu verstehen, die ihn zu sehr an die nationale Jugendbewegung der 1930er Jahre erinnerte. Die kulturellen und sozialen Veränderungen der 1960er/1970er Jahre bedeuten beachtliche Herausforderungen für den Konservatismus, die im dritten Abschnitt des Bandes zur Sprache kommen. Nicht wenige Konservative konstatierten angesichts der neu ausgerichteten Deutschland- und Ostpolitik, der wachsenden innenpolitischen Spannungen und schließlich des Endes der Nachkriegsprosperität einerseits und mit Blick zurück auf das durchaus ambivalent bewertete „Erbe Adenauers“ (Rüdiger Altmann)

55 Max Horkheimer: Zur Psychologie des Totalitären (1954), in: Ders.: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt am Main 1985, S. 77-83, hier S. 82.

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andererseits eine Erschütterung der Nachkriegsordnung, die sie als Krise des Staates und dessen „Regierbarkeit“ deuteten. In seinem Beitrag über Matthias Walden (eigentlich: Eugen Wilhelm Otto Baron von Saß) wird einer der kämpferischsten Kritiker des „roten Jahrzehntes“ vorgestellt. Eine „Spinne im Netz“ und zugleich distanziert gegenüber der Mitwelt, so sieht Nils Lange den langjährigen Redakteur der Welt, dessen Wort „staatsloyal“ Axel Springer bereitwillig aufnahm. Der in Dresden geborene, rasch beim RIAS aufgestiegene Journalist schien vielen „ein guter Feind“, dessen Positionen sowohl Härte (etwa in der Ostpolitik) als auch eine liberal-konservative Mäßigung auszeichneten. Keine Kompromisse wollte Walden in seinen politischen Ratschlägen mit den kommunistischen Staaten und ihren Ideologien eingehen. Die Westintegration trug der streitbare Intellektuelle hingegen mit. Als Ideal galt ihm die frühe Bundesrepublik, das er gegen alle späteren Wandlungen verteidigte. Die von früheren Nationalsozialisten durchsetzten Behörden hat er pressewirksam kritisiert. Und gerade dies musste ihm Kopfschmerzen machen: Als Europäer und überzeugter Gegner des Totalitarismus geriet er mit seiner schneidenden Kritik an der neuen Ostpolitik in ein politisches Fahrwasser, in dem ihm wohl selbst nicht wohl war. Seine Gegner hielten ihm dies nur zu gern vor. Von solchen Gewissensbissen sind die Autoren, die Martin G. Maier in seinem Beitrag über den konservativen Anti-Kommunismus der 1970er Jahre diskutiert, weitgehend frei. Zweifellos vertraten der österreichische Schriftsteller Herbert Eisenreich sowie die beiden Publizisten Gerd-Klaus Kaltenbrunner und Hans-Dietrich Sander nicht in jeder Hinsicht die gleichen politischen Positionen, sondern stellten unterschiedliche Facetten der Kritik dar, die sie als „linken Zeitgeist“ begriffen. Wo der eine Lust an der Provokation verspürte, der andere einen genuinen Konservatismus rehabilitieren wollte, sehnte sich Letzterer nach dem nationalen Imperativ eines „Furor teutonicus“. Bei allen Differenzen war ihr Eintreten für einen Nationalkonservatismus keineswegs nur eine Reaktion auf die Neue Linke und die veränderte Ostpolitik. Ihr eigentliches Ziel, so Maier, war die Absage an die seit den 1960er Jahren sich vollziehende „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) der Bundesrepublik. Wo Walden noch die Loyalität gegenüber dem bundesdeutschen Staat über die eigene politische Weltanschauung stellte, gingen jene weiter. So wie sie den westlichen Staaten einen nichtliberalen Freiheitsbegriff entgegenhielten, faszinierte sie die sozialistische Werteordnung gerade aufgrund ihrer mangelnden Liberalität. 28

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Der Spannung zwischen Liberalkonservatismus und Nationalkonservatismus thematisiert auch der methodologisch orientierte Artikel von Tobias Barthels, der im Anschluss an Michael Freeden und John G. A. Pocock für eine ideologisch-sprachpolitische Analyse konservativen Denkens plädiert, um sowohl eine interne Perspektive konservativer Akteure als auch die externe Sicht des Beobachters zu reflektieren. Von hier aus zeichnet er den seit den 1970er Jahren beschrittenen Weg der Ausdifferenzierung eines moderaten und eines radikalen Konservatismus nach, dessen jeweilige Gretchenfrage auf theoretischer Ebene im Verhältnis zum Liberalismus und praktisch in dem zur Bundesrepublik liegt. Mit dieser analytischen Trennung lassen sich nicht nur Binnenkonflikte und Radikalisierungsprozesse abbilden, die für das Verständnis des gegenwärtigen konservativen Denkens sehr instruktiv sind. Sie erklären auch mögliche neue Koalitionen (etwa zwischen Konservativen und Grünen), die in einem bloßen LinksRechts-Schema unverständlich blieben, aber schlicht deshalb möglich sind, weil man die gleiche „Sprache“ spricht. Derartige Transformationen nimmt der Band in den Blick. Weit davon entfernt eine Rekonstruktion des Konservatismus vorzulegen oder dessen ideologiekritische Desavouierung betreiben zu wollen, sollen dessen Wandelbarkeit, seine Erfolge und Niederlagen zur Sprache gebracht werden. In der Überzeugung, dass Intellectual History stets lokale und zeitliche Kontexte zur Sprache bringen muss, weil Theorien und Weltanschauungen „nie über dem Kampfgeschehen [des politischen Alltags] stehen“56, werden Spielarten konservativer Politik präsentiert, um zu dokumentieren, dass das, was Konservative zu bewahren versuchen, etwas je Verschiedenes meinen kann.

56 Quentin Skinner: Freiheit und Pflicht. Thomas Hobbes’ politische Theorie, Frankfurt am Main 2008, S. 15.

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Kein Abschied von Wunschbildern. Die Deutsche Partei in den 1950er Jahren Martina Steber

1. Einführung Im Jahr 1967, als die Deutschland-Stiftung Kurt Ziesels sich öffentlichkeitswirksam daranmachte, den Konservatismus als rechte Ideologie zu konturieren und in der politischen Kultur der Bundesrepublik zu verankern,1 erinnerte der Journalist Paul Sethe in der Zeit an die Situation, in der sich die Konservativen in Deutschland nach dem Ende des NS-Regimes befunden hatten: „Was 1945 in Schutt und Trümmer sank, war mehr als nur der Nationalsozialismus oder die Größe des Reiches. Mit ihnen fielen in den Staub auch Begriffe, Gefühle, Lebenswerte, die jedem Konservativen teuer sind: Ordnung, Autorität, Tradition. Zu sehr waren sie missbraucht, ausgehöhlt, entleert worden; sie waren in die Nähe des Unheimlichen und Abstoßenden gekommen; man konnte sie so leicht nicht wieder daraus lösen.“2 Sethe, langjähriger Redakteur der Frankfurter Zeitung der 1930er und 1940er Jahre und Kriegspropagandist des NS-Regimes, konnte dabei nicht zuletzt auf eigene Erfahrungen rekurrieren.3 Den Kurs Ziesels lehnte 1 Vgl. Hans Dieter Bamberg: Die Deutschland-Stiftung e. V. Studien über Kräfte der „demokratischen Mitte“ und des Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim am Glan 1978; Martina Steber: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1980, Habilitationsschrift, LMU München 2015, S. 318f. und 328ff.; zu dem führenden Kopf der Deutschland-Stiftung, Kurt Ziesel, vgl. Axel Schildt: Im Visier: Die NS-Vergangenheit westdeutscher Intellektueller. Die Enthüllungskampagne von Kurt Ziesel in der Ära Adenauer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), Heft 1, S. 37-68. 2 Paul Sethe: Ein neuer Wilhelminismus? Noch gibt es in Deutschland keine konservative Bewegung, in: Die Zeit vom 10. März 1967. 3 Zu Paul Sethe vgl. Paul Noack: Paul Sethe. Publizistische Opposition gegen Adenauer, in: Josef Foschepoth (Hrsg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988, S. 235-249; Rainer Zitelmann: Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit, Erlangen/Bonn/Wien 1991, S. 149-181.

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er jedenfalls entschieden ab – so mochte er sich einen erneuerten Konservatismus nicht vorstellen. Seit 1945, so die These, die Sethes Beitrag zugrunde lag, wurde erfolglos nach einem genuin bundesrepublikanischen Konservatismus gefahndet. Denn an historische Vorläufer konnte nur bedingt angeknüpft werden, da der Konservatismus nach der Erfahrung des NS-Regimes diskreditiert war. Mit dieser Tatsache waren in der Bundesrepublik der 1950er Jahre all jene konfrontiert, die sich weiterhin als konservativ verstanden – auf welche Weise auch immer. Ganz besonders herausgefordert war indes die Partei, die sich im bundesrepublikanischen Parteienspektrum tatsächlich als „konservativ“ definierte: die Deutsche Partei. Das Ende des „tausendjährigen“ Dritten Reiches und damit der nationalsozialistischen Herrschaft, auf deren Konto millionenfacher Tod wie umfassende Verwüstung gingen, bedeutete auch das Ende der „lingua tertii imperii“, der Sprache des Dritten Reiches, die Victor Klemperer, unter nationalsozialistischer Verfolgung leidend, akribisch notiert und analysiert hatte.4 An der Sprache und ihren Begriffswelten zeigte sich, wie tief sich die nationalsozialistische Ideologie in die deutsche Gesellschaft eingegraben hatte. Denn die Sprache, die im nationalsozialistischen Deutschland propagiert und gesprochen wurde, offenbarte ein Charakteristikum des Nationalsozialismus: Seine Ideologie war eklektisch, relativ offen und oft uneindeutig; sie bediente sich aus den verschiedensten ideellen Kontexten, aus denen sie Begriffe und Interpretamente aufsog und sich anverwandelte.5 Dies traf auf kaum ein politisches Spektrum so zu wie auf den Weimarer Konservatismus. Die begrifflichen und ideellen Überlappungen, Synergien und Diskurskoalitionen mit dem Nationalsozialismus sind detailliert beschrieben worden.6 All jenen, die sich nach 1945 als konservativ verstanden und dieses Selbstverständnis politisch auch zum Tragen bringen wollten, stellte sich daher zuallererst eine Aufgabe: Sie mussten die politi-

4 Vgl. Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, hrsg. von Elke Fröhlich, 24., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart u. a. 2010. 5 Vgl. Lutz Raphael: Pluralities of National Socialist Ideology. New Perspectives on the Production and Diffusion of National Socialist Weltanschauung, in: Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014, S. 73-86; Waltraud Sennebogen: Die Gleichschaltung der Wörter. Sprache im Nationalsozialismus, in: Dietmar Süß/ Winfried Süß (Hrsg.): Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S.  165-183. 6 Vgl. zusammenfassend Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 182-210.

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sche Sprache eines Konservatismus in der Demokratie definieren. Dies war keine allzu einfache Aufgabe, hatte der Weimarer Konservatismus doch das Bündnis mit dem Nationalsozialismus gesucht und Hitler so erst an die Macht gebracht. Sollte ein demokratischer Neubeginn gelingen, musste mit der autoritären Tradition deutschen Denkens gebrochen werden, so lautete der demokratische Konsens im Nachkriegsdeutschland. Die 1950er Jahre waren in der jungen Bundesrepublik gekennzeichnet von einer tastenden Suche nach einer neuen politischen Sprache des Konservatismus. Dass der Konservatismusbegriff selbst stark belastet war, legte dem Ringen um die Begriffe und ihre Bedeutung eine zusätzliche Bürde auf. Viele scheuten davor zurück, sich als konservativ zu bezeichnen, selbst wenn sie konservative Ordnungsvorstellungen teilten, und wichen auf Alternativbegriffe aus.7 Den entgegengesetzten Weg ging die Deutsche Partei: Sie eignete sich den Konservatismusbegriff selbstbewusst an. Eine wichtige Rolle spielten dabei zwei Politiker, die in die Rolle des Intellektuellen schlüpften: Hans-Joachim von Merkatz (1905-1982) und Hans Mühlenfeld (1901-1969). 8 Sie suchten die programmatische Diskussion in der Partei nicht nur nach innen zu lenken, sondern traten auch in der publizistischen Öffentlichkeit mit dem Anspruch auf, letztgültige Interpretationen des Konservatismus zu liefern. Die Verschränkung von intellektueller und parteipolitischer Suche nach dem Konservativen verschaffte den Debatten in der Deutschen Partei Gewicht in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Umso mehr muss es überraschen, dass sie von der Forschung bislang kaum behandelt wurden. Den Kern des Konservatismus

7 Vgl. Martina Steber: Die Hüter der Begriffe (wie Anm. 1), S. 115-176. 8 Zu Hans-Joachim von Merkatz, allerdings betont affirmativ, vgl. Heinz-Siegfried Strelow: Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik – Hans Joachim Merkatz (1905-1982), in: Hans-Christof Kraus (Hrsg.): Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1995, S. 315-334; Oliver Gliech: Bio-bibliographische Grunddaten zu den Referenten und Generalsekretären des IAI 1929-1945, in: Reinhard Liehr/Günther Maihold/ Günter Vollmer (Hrsg.): Ein Institut und sein General. Wilhelm Faupel und das Ibero-Amerikanische Institut in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2003, S. 571-609, hier S. 585-590; zu Hans Mühlenfeld: Mühlenfeld, Hans, in: Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http:// www.munzinger.de.munzinger.emedia1.bsb-muenchen.de/document/0000000430 4 (Stand: 25. November 2016).

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machte Mühlenfeld jedenfalls in der Ablehnung utopischen Denkens aus, in einer „Politik ohne Wunschbilder“, so der Titel seines Buches.9 Bei der Aneignung des Konservatismusbegriffs durch die Deutsche Partei handelte es sich um eine gezielte politische Strategie, die intellektueller Konstruktionsarbeit bedurfte. Diese soll in einem ersten Schritt beleuchtet werden. In einem zweiten Schritt werden die Bedeutungsdimensionen des Begriffs offengelegt: Was meinte „konservativ“ in der politischen Sprache der Deutschen Partei? Welche politischen Konzepte verbanden sich damit? Dabei wird sich zeigen, dass der Partei, die seit den frühen 1960er Jahren in der Bedeutungslosigkeit versank, auch deshalb keine Zukunft beschieden war, weil ihr der Abschied von liebgewordenen Wunschbildern trotz gegenlautender Proklamationen gerade nicht gelang. 2. „Konservative Politik ist zeitnah“: Begriffsstrategien in den 1950er Jahren Die Deutsche Partei war aus der Niedersächsischen Landespartei hervorgegangen, die 1945 aus Resten der Deutsch-Hannoverschen Partei und der Welfischen Bewegung gegründet worden war. 1947 entschloss sie sich zu einer Umbenennung in Deutsche Partei, um ihr Aktionszentrum auf das gesamte Gebiet der Westzonen auszuweiten. Letztlich blieb sie aber eine norddeutsche Regionalpartei mit niedersächsischem Schwerpunkt. Mit der geographischen Weitung öffnete sich die Partei politischen Gruppierungen, in denen ehemalige Nationalsozialisten den Ton angaben.10 Sie drängten die Partei zu einem Kurs der „nationalen Opposition“. Als dezidierte „Rechtspartei“ trat die DP, die seit 1949 eine eigene Bundestagsfraktion stellte und in der ersten Koalitionsregierung Adenauers vertreten war, für die Anliegen von Wehrmachts- und Waffen-SS-Soldaten sowie ehemaligen nationalsozialistischen Führungschargen ein, wetterte gegen die Entnazifizierung und setzte sich für die Ehrung der alten Fahne des

9 Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952. 10 Zur Programmatik vgl. Heinrich Hellwege: Die acht Thesen der Deutschen Partei, Stade 1947.

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Deutschen Reiches ein, die mit dem deutschen Expansions- und Vernichtungskrieg assoziiert wurde.11 Dabei tobte im Inneren ein Flügelkampf zwischen den neuen Landesverbänden, v. a. den Landesverbänden Hamburg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen, sowie der niedersächsischen Gründungsgruppe.12 Mit Heinrich Hellwege stellte sie den Parteivorsitzenden, der zwischen 1955 und 1959 als Ministerpräsident an der Spitze einer Koalitionsregierung in Niedersachsen stand.13 Während die neuen Landesverbände eine „nationale Oppositionspartei“ anstrebten und sich klar im Lager der nationalen Rechten verorteten,14 plädierten die Niedersachsen für einen Weg der „konservativen Erneuerung“.15 Der Konservatismusbegriff war dabei bewusst in politischer Absicht gewählt. Nach dem für die Partei verheerenden Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 1953, bei der sie deutschlandweit nur 3,3% der Stimmen auf sich vereinigen konnte und acht ihrer gewählten 15 Bundestagsabgeordneten ihr Mandat Wahlabsprachen mit der CDU verdankten, nach diversen Skandalen um DP-Politiker mit ein-

11 Vgl. Horst W. Schmollinger: Die Deutsche Partei, in: Richard Stöss (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Bd. 2, Opladen 1986, S. 1025-1111; Hermann Meyn: Die Deutsche Partei. Entwicklung und Problematik einer national-konservativen Rechtspartei nach 1945, Düsseldorf 1965; Hans-Georg Aschoff: Die Deutsche Partei. Aufstieg und Niedergang einer Regionalpartei, in: Herbert Obenaus/Hans-Dieter Schmid (Hrsg.): Nachkriegszeit in Niedersachsen. Beiträge zu den Anfängen eines Bundeslandes, Bielefeld 1999, S. 73-85. 12 Vgl. Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 30-44. 13 Zu Heinrich Hellwege vgl. Matthias Frederichs: Niedersachsen unter dem Ministerpräsidenten Heinrich Hellwege (1955-1959), Hannover 2010; sowie das unkritische Lebensbild Emil Ehrich: Heinrich Hellwege. Ein konservativer Demokrat, Hannover 1977; Ehrich gehörte zu den engsten Mitarbeitern Hellweges in dessen Zeit als Ministerpräsident Niedersachsens. Zuvor hatte der überzeugte Nationalsozialist in der Auslandsorganisation der NSDAP und im Auswärtigen Amt Karriere gemacht. 14 Antrag der Landesverbände Berlin, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, zum Bundesparteitag in Goslar, 24.9.1952, zitiert in: Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 34. Zu den Fusionsgesprächen mit der nordrhein-westfälischen FDP unter Friedrich Middelhauve mit dem Ziel einer „nationalen Sammlung“ vgl. Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945-1953, München 2010, S. 121-126. 15 Vgl. Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 36.

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deutig nationalsozialistischen Sympathien16 und der spektakulären Auflösung des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen im Februar 195317 schlug die Parteiführung einen Kurs der Distanzierung gegenüber dem Rechtsextremismus und der programmatischen Klärung ein. Profil sollte der Konservatismusbegriff bringen. „Konservativ“, so beeilte sich die Parteiführung zu betonen, habe mit „reaktionär“ nichts gemein, und das obwohl die Begriffe „in Deutschland leicht verwechselt“ würden.18 Der Konservatismusbegriff sollte vom Ruch des Ewiggestrigen – das hieß in der Situation der 1950er Jahre des Antidemokratischen – befreit werden. Unter der Leitung von Hans-Joachim von Merkatz, zugleich Vorsitzender der DP-Fraktion im Bundestag, später in verschiedenen Ministerämtern, zwischen 1938 und 1945 indes Generalsekretär des nazifizierten Ibero-Amerikanischen Instituts, arbeitete ein Grundsatzausschuss über zwei Jahre an einem Textentwurf, der schließlich 1955 auf dem Bundesparteitag der Deutschen Partei in Bielefeld unter dem Titel „Zwanzig Thesen einer zeitnahen konservativen Politik“ verabschiedet wurde. Dem Grundsatzausschuss war die Aufgabe gestellt worden, auszuformulieren, was die Partei unter „konservativer Politik“ verstand. Die Diskussionen im Ausschuss legten offen, wie heterogen die Vorstellungen darüber bislang gewesen waren, wie von Merkatz vor dem Bundesparteitag der Deutschen Partei bei der Präsentation der Ergebnisse einräumte.19 Dem Bedürfnis nach Klärung dessen, was Konservatismus in der Bundesrepublik bedeuten konnte, hatte bereits 1952 Hans Mühlenfeld, stellvertretender Parteivorsitzender und Vorgänger von Merkatz’ im Fraktionsvorsitz, nachzukommen gesucht. Auch er stammte aus dem niedersächsischen DP-Milieu. Sein bereits 1948 verfasstes, aber erst 1952 publiziertes Buch „Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unse-

16 Vgl. z. B. Falsche Töne von rechts, in: Die Zeit vom 26. April 1949; Herr Schlüter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Januar 1950; Jan Molitor: … und stehn geschlossen hinter Hedler. Der Prozess von Neumünster – Gerichtliches Nachspiel eines politischen Skandals, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.  Februar 1950. 17 Vgl. „Selbstreinigung der DP“, in: Die Zeit vom 5. März 1953; Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 38f. 18 Jan Molitor: „Das wär’ bei Hitler nicht passiert…“. Die Rechtsradikalen – Gespräch einer Niedersachsen-Fahrt, in: Die Zeit vom 3. Mai 1951. 19 Konservative Politik ist zeitnah. Ihr dient die Deutsche Partei. Dokumente vom 6. Bundesparteitag der Deutschen Partei in Bielefeld am 4./5. November 1955, Bonn 1955, S. 20.

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rer Zeit“ suchte in der Form einer gelehrten Abhandlung „den konservativen Gedanken in einer zeitgemäßen Weise neu zu fassen“ und von allem vergangenheitspolitischen Ballast zu reinigen.20 Auch wenn es sich um keine parteioffiziöse Veröffentlichung handelte, fasste es doch deren Programmatik konzise zusammen.21 1957 legte von Merkatz mit „Die konservative Funktion. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens“ ebenfalls eine Schrift vor, die den Konservatismus ideengeschichtlich einzuordnen suchte.22 Sehr systematisch besetzte die Deutsche Partei den Begriff. Die Intellektualisierungsstrategie erinnert wohl nicht von ungefähr an die Begriffspolitik der Conservative Party, in der die Figur des Politiker-Intellektuellen seit dem 19. Jahrhundert immer wieder mit neuem Leben gefüllt wurde. Schriften über den Konservatismus mit intellektuellem Anspruch, wie sie etwa von Hugh Cecil 1912 oder von Quintin Hogg, dem späteren Lord Hailsham, 1947 vorgelegt wurden,23 gehörten zu den populären Marksteinen konservativer Selbstverständigungsdiskurse in Großbritannien.24 Hoggs „The Case for Conservatism“ wurde auch in interessierten Kreisen der Bundesrepublik rezipiert.25 Das Interesse an Großbritannien war in der Deutschen Partei ausgeprägt, was in erster Linie auf ihre Verankerung in Niedersachsen zurückzuführen ist. Seit die Hannoveraner 1714 den britischen Thron bestiegen hatten, waren die Verbindungen eng. Daran konnte angeknüpft werden, seit die Briten als Besatzungsmacht in Niedersachsen herrschten. Für Hellwege ergab sich aus den Hannoveraner Verbindungen gar eine „tausendjährige niedersächsische Mission“, nämlich „Übergangsbrücke und Bindegelenk zur angelsächsischen Welt“ zu sein.26 Mühlenfeld schrieb denn

20 Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9). 21 Vgl. Horst W. Schmollinger: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 1048. 22 Hans-Joachim von Merkatz: Die konservative Funktion. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens, München 1957. 23 Vgl. Hugh Cecil: Conservatism, London 1912; Quintin Hogg: The Case for Conservatism, Harmondsworth 1947. 24 Vgl. Martina Steber: Die Hüter der Begriffe (wie Anm. 1), S. 37ff. 25 Vgl. z. B. Hans Barth (Hrsg.): Der konservative Gedanke, Stuttgart 1958. 26 Heinrich Hellwege: Niedersachsens deutsche Aufgabe. Rede auf dem Landesparteitag der Niedersächsischen Landespartei am 34. Mai 1946, in: Heinrich Hellwege. Ein konservativer Demokrat. Festschrift zu seinem 50. Geburtstag am 18. August 1958, gewidmet von seinen Freunden in der Deutschen Partei, Braunschweig 1958, S. 9-24, hier S. 17f.

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auch die neue Attraktivität des Konservatismus nach 1945 zu einem Gutteil dem britischen Einfluss zu. „Erfolg, Stil und Ethos dieser [konservativen britischen] Politik rechtfertigen damit, als historisches Ganzes genommen, konservatives Denken überhaupt sichtbarer und eindrucksvoller, als es seine gedankliche Klärung zu tun vermöchte“, meinte Mühlenfeld.27 Besonders die britische parlamentarische Monarchie diente dabei als Vorbild und wurde zur Legitimation monarchistischer Konzeptionen herangezogen, die im niedersächsischen Flügel der Deutschen Partei verbreitet waren.28 Allerdings darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rezeption des konservativen britischen Vorbilds äußerst selektiv vor sich ging – von einer Auseinandersetzung mit der Politik der Conservative Party in den 1950er Jahren finden sich in den programmatischen Texten keine Spuren. Vielmehr war auch ihr ein politisch-strategischer Zug kaum abzusprechen: Mit der Betonung der britischen Verbindungen eines erneuerten deutschen Konservatismus stützte die Deutsche Partei einerseits innerparteilich ihre positive Haltung gegenüber Adenauers Politik der Westintegration und grenzte sich andererseits gegenüber rechtsextremen, nationalistischen Bewegungen ab – wohl gerade auch im Blick auf die britischen Besatzungsbehörden, die im Falle der rechtsextremen Unterwanderung der FDP 1953 energisch durchgegriffen hatten.29 Der Verweis auf den britischen Konservatismus stützte dabei noch ein zweites, zentrales Argument von Mühlenfeld. Er beabsichtigte die „theoretisch-begriffliche Reinigung“ des konservativen Denkens in Deutschland nach britischem Vorbild.30 Jenes sei nämlich im Laufe des 19. Jahrhunderts „entstellt“ worden, indem es im Legitimismus und Nationalismus bestimmende Elemente des Denkens seines Gegners, des Liberalismus, aufgenommen habe. An erster Stelle hätte hier die Abkehr von der Rationalitäts- und Fortschrittskritik gestanden, konservatives Denken hätte sich ideologisiert „bis zur Verkehrung seiner ursprünglichen Intentionen ins extreme Gegenteil“.31 Während so der „offizielle Konservatismus“ zu einer „Quasi-Ideologie“,32 zum „Pseudokonservatismus“ der Eliten mutiert

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Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9), S. 15. Vgl. Heinrich Hellwege: Niedersachsens deutsche Aufgabe (wie Anm. 26), S. 18f. Vgl. Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr (wie Anm. 14). Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9), S. 19. Ebd., S. 7. Ebd., S. 183.

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sei,33 habe der „echte Konservatismus“ fern aller Politik in der „Pflege von Brauch und Sitte, Volkskultur und Heimattradition“ überdauert, „gleichsam im Hintergrund der einzelnen deutschen Landschaften aufbewahrt“, getragen von einer „weitverbreitete[n] Schicht von Menschen, die […] den noch uneingestandenen, doch offenkundigen Bankrott der modernen Ideologien zum Anlass einer Besinnung auf ihre Aufgabe im Ganzen nehmen“.34 Durch diesen interpretativen Kunstgriff gelang es Mühlenfeld, sowohl die nationalistische und antidemokratische Kontinuitätslinie des deutschen Konservatismus zu kappen und seinen angeblich „verwestlichten“ Nachkriegsentwurf davon reinzuwaschen, als auch das niedersächsische konservative Milieu von allen Verstrickungsvorwürfen zu entlasten – obwohl dieses den Konservatismus über Jahrzehnte getragen und gerade mit einer nationalistischen und antiliberalen Heimatbeschwörung die Weimarer Republik zu Fall gebracht hatte.35 Erst die Umbrüche, die der Zweite Weltkrieg ausgelöst hatte, hätten die Tür zur Wiederbelebung des „echten“ Konservatismus geöffnet. Vier Gründe machte Mühlenfeld dafür verantwortlich: Zum ersten den britischen Einfluss, wie oben bereits erwähnt; zum zweiten habe der Krieg die Fortschrittsutopie bis ins Mark erschüttert, an deren Stelle eine genuin konservative, mithin „ganz andere und ungewohnte, weil undogmatische und unsystematische Vorstellung vom Werden der Zukunft“ gerückt sei;36 zum dritten habe der Krieg zu einer sozialen Entmachtung bislang führender Schichten geführt, so dass „konservatives Denken als Gesamterscheinung nicht mehr bloß auf deren egoistische Interessen zurückgeführt werden kann“; und zum vierten seien Sozialismus wie Liberalismus angesichts der Realitäten zur Entideologisierung und damit zur Aufnahme konservativen Gedankenguts gezwungen worden. Die Zeiten, so der Tenor, stünden gut für das Konservative, auch wenn der Begriff selbst über keine gute Reputation verfügte, vielmehr „oft eine ganze Skala von negativen Empfindungen“ hervorriefe.37 Die „überall verstreuten Regungen des konservativen Denkens“, die Mühlenfeld zu erkennen vermeinte, träten „oft noch unter fremden Namen“ auf, so dass

33 Ebd., S. 7. 34 Ebd., S. 183. 35 Vgl. Frank Bösch: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900-1960), Göttingen 2002. 36 Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9), S. 13. 37 Ebd., S. 11.

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er seine Arbeit auch als Erkennungshilfe für das wahrhaft Konservative unter misslichen begrifflichen Bedingungen verstand.38 So wie das historische Narrativ, das Mühlenfelds und Merkatz’ Differenzierung zwischen „Pseudokonservatismus“ und „echtem“ Konservatismus stützte, deutsche konservative Heroen vom Sockel stürzte, erhob sie andere zu ihren Leitfiguren. Merkatz folgte in seiner Abhandlung der Geschichtskonstruktion Mühlenfelds. Er legte sein Augenmerk auf die Inkubationszeit des modernen konservativen Denkens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Auch bei von Merkatz erscheint der Konservatismus als Gegenbewegung zu den Umwälzungen der Französischen Revolution, als sich eine polare Konstellation zweier entgegengesetzter politischer Strömungen herausgebildet habe, die bis in die Gegenwart den Fortgang der Geschichte bestimme. Zu konservativen Kronzeugen wurden ihm Justus Möser und Edmund Burke – ein deutsch-britisches Gespann mithin. Deutsches und britisches Denken bauten aufeinander auf, so die Botschaft, der Konservatismus hatte in seiner britischen Reinform auch deutsche Wurzeln, so wie der deutsche Konservatismus sich aus britischen Quellen speiste. Beide hätte dasselbe Anliegen bewegt, nämlich „die Freiheit des Menschen als einzelnen wie als Gruppe in der geschichtlich gewordenen und damit natürlich gewachsenen Eigenart und Besonderheit seines Wesens“ zu bewahren,39 und beide hätten „hellsichtig“ die „Nachteile der Inthronisierung der Vernunft“ erkannt.40 Darauf aufbauend und die „Vielfalt des Lebens in seiner natürlichen Ordnung“ achtend, müsse der Konservatismus sich beständig wandeln, weil sich auch das, „was verteidigt werden muss, in ständiger Wandlung befindet“. Für Merkatz bedeutete dies, dass sich der „politische Konservatismus […] monarchisch oder republikanisch, legitimistisch oder demokratisch, konstitutionell oder parlamentarisch“ positionieren und sich dennoch selbst treu bleiben könne.41 Wiederum diente dieses Argument dazu, den Konservatismusbegriff gegenwartstauglich zu machen, hatte die Deutsche Partei doch den Anspruch, eine „zeitnahe“ – und das bedeutete in der Bundesrepublik der 1950er Jahre: demokratisch-konservative – Politik zu vertreten.42

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Ebd., S. 6. Hans-Joachim von Merkatz: Die konservative Funktion (wie Anm. 22), S. 24. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. Konservative Politik ist zeitnah (wie Anm. 19).

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3. Arbeit am Begriff: Deutungshorizonte des Konservativen in der Deutschen Partei Wie aber sollte „zeitnahe“ konservative Politik aussehen, die sich die Deutsche Partei aufs Banner schrieb? Wodurch sollte sich ein zeitgemäßer Konservatismus auszeichnen? Kondensiert man die Aussagen dazu, kristallisieren sich drei Elemente heraus. Erstens war der Konservatismusbegriff der Deutschen Partei anti-rationalistisch bestimmt. Die Funktion des Konservativen war für Merkatz, „Regulativ des Rationalismus“ zu sein.43 Nach Mühlenfeld war den Konservativen der Gegenwart die Aufgabe gestellt, die „dem menschlichen Wesen entsprechenden Voraussetzungen des Daseins im Kampf gegen die naturwidrige Künstlichkeit der herrschenden Lebensordnung, gegen die in ihr Gestalt gewordenen Übergriffe des rationalen Fortschritts, gegen die schädlichen Wirkungen und Einflüsse der technischen Zivilisation“ wiederherzustellen;44 nicht zu bewahren also, sondern zu rekonstruieren – das ist entscheidend. Dabei lehnte Mühlenfeld den Fortschritt per se nicht ab, sondern differenzierte in einen gutzuheißenden „Fortschritt in der Welt der Sachen“ und die abzulehnenden „Übergriffe[n] des rationalen Fortschritts auf die Welt des Menschen“, die die ewige Ordnung der Zeitlichkeit, die Verkettung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aushebeln würden.45 Wie nun diese gesellschaftspolitische Rekonstruktion der „natürlichen“ Ordnung vonstattengehen sollte, das blieb selbst in den politischen Grundsätzen der Deutschen Partei nebulös. Stattdessen wurde ein Begriffsbündel angeboten, das den politischen Standpunkt umschreiben sollte: „Heimat, Grund und Boden, Eigentum; Familie, Sitte und Brauch, Tradition; Freiheit, Recht und Religion“ – das, so Mühlenfeld, seien die „Sinnprinzipien“ konservativen Denkens, die den Zielen „rationalistisch“ geleiteter, ideologischer Politik grundsätzlich widersprächen.46 Zudem definierte Mühlenfeld „Strukturelemente“ konservativen Denkens, die Barrieren gegen den absoluten Rationalitätsprimat aufrichten würden: „Anschauung und Erfahrung, natürliche Entwicklung, Wachsen und Werden; Unterschied und Mannigfaltigkeit; Konkretes, Besonderes und Eigentümliches;

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Hans-Joachim von Merkatz: Die konservative Funktion (wie Anm. 22), S. 79. Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9), S. 353. Ebd., S. 372. Ebd., S. 326.

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Ausgleich und Vermittlung“.47 Auch sie gerannen zu Leitbegriffen der Deutschen Partei. Zweitens sollte konservative Politik in der Bundesrepublik den Menschen schützen, den Menschen „in seiner durch lange Jahrhunderte natürlich-geschichtlich gewordenen Form“.48 Erst wenn der einzelne eins sei mit seiner ganz individuellen Geschichte, erhalte er „Persönlichkeit“, die „hoch oder niedrig an einem eigenen Ort steht“.49 Entscheidend war also die Bindung des Menschen an gewachsene soziale Ordnungen, die als „natürlich“, historisch und unveränderbar vorgestellt wurden. In der Pflege von Traditionen, der Hochschätzung von Institutionen und der Achtung der Geschichte drücke sich diese Vorstellung aus. Der beständigen Hervorhebung der „Vielfalt“ als konservativer Grundkonstante entsprach die Überzeugung von der „Ungleichheit in der Ordnung des Lebens“ und der Glaube an die Führungsaufgabe von Eliten.50 Brach der einzelne aus diesen Ordnungen aus bzw. wurden diese durch den „Fortschritt“ infrage gestellt, ging Individualität verloren.51 Das galt auch für den Transzendenzbezug des Menschen. Denn obwohl die Religion – und damit war immer das Christentum gemeint – eine bedeutende Rolle in dem Konservatismusentwurf der Deutschen Partei spielte, so doch nicht als Kraft aus sich heraus, sondern als „Religion der Väter“, als der „geschichtlich gewordene und gewachsene Glaube“, der sich als „Wertkanon“ manifestierte.52 Nicht von ungefähr engagierte sich von Merkatz in der Abendlandbewegung, in der die Suche nach dem Konservativen von christlichen Überzeugungen bestimmt war.53 Doch selbst wenn von Merkatz dem christlichen Glauben eine bedeutendere Rolle einräumte, als dies Mühlenfeld tat, so basierte auch sein Denken auf der bloßen Vorstellung des Christlichen als Garant

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Ebd., S. 327. Ebd., S. 323. Ebd., S. 325. Vgl. Hans-Joachim von Merkatz: Die konservative Funktion (wie Anm. 22), S. 77. Vgl. Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9), S. 327. Ebd., S. 334. Vgl. Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005; zur Verankerung von Merkatz̕ in der Bewegung vgl. Johannes Großmann: Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945, München 2014.

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und Lieferant „ewiger Lebenswerte“ zur rechten Ordnung von Staat und Gesellschaft, die dem Individuum Halt zu geben verhießen.54 Das Individuum rückte also auch hier ins Zentrum konservativen Denkens und Sprechens. Dabei blieb das Bekenntnis der Deutschen Partei zur Demokratie ambivalent. Akzeptiert wurde die Demokratie als Regierungsform, nicht als gesellschaftliches Regulativ. Von dem Wunschbild einer ungleichen, hierarchischen, auf überkommenden Ordnungen basierenden Gesellschaft verabschiedete sich die DP genauso wenig wie vom Ideal politischer Einigkeit und Harmonie.55 Diese antipluralistische Haltung ging Hand in Hand mit der Ablehnung der modernen Konsumgesellschaft und des Sozialstaates, gegen dessen Ausbau sich die DP-Bundestagsfraktion mit Konzepten, die auf individuelle Absicherung und gesellschaftliche Verantwortung setzten, profilierte.56 Mit dieser Gesellschaftsvorstellung eng verknüpft war auch das dritte Bestimmungsmerkmal des Konservatismusbegriffs der Deutschen Partei. Da sie an ihrem Antiliberalismus festhielt, sich aber zugleich genötigt sah, ihren eigenen Standort in der liberalen Demokratie zu bestimmen, war begriffliche Ausgleichsarbeit nötig. Diese für die Demokratisierung des konservativen Denkens wichtige Anpassungsarbeit konzentrierte sich auf den Freiheitsbegriff, in dem die ganze Ambivalenz des Konservatismusent-

54 Vgl. Hans-Joachim von Merkatz: Aufgaben und Möglichkeiten einer konservativen Politik, in: Konservative Haltung in der politischen Existenz. Vorträge und Gespräche der 5. Jahrestagung der Abendländischen Akademie in Eichstätt 1956, München 1956, S. 40-49, hier S. 45. 55 Vgl. z. B. Hans-Joachim von Merkatz: Krise und Zukunft der Demokratie. Vortrag anlässlich des 5. Jahreskongresses des Europäischen Dokumentations- und Informationszentrums am 4. Juni 1956 in Madrid, in: Ders.: In der Mitte des Jahrhunderts. Politische Lebensfragen unserer Zeit, München/Wien 1963, S. 110-123; Hans-Joachim von Merkatz: Ein konservatives Leitbild für unsere Zeit. Vortrag, gehalten während der 12. Internationalen Hochschulwochen des Österreichischen College, August/September 1956, in: Ebd., S. 7-22; zur Vorstellung von Harmonie als Ideal der Politik bei Hellwege vgl. Ingo Nathusius: Am rechten Rand der Union. Der Weg der Deutschen Partei bis 1953, Phil. Diss., Mainz 1992, S. 303ff. 56 Am Beispiel von Hans-Joachim von Merkatz führt dies Heinz-Siegfried Strelow: Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik (wie Anm. 8), aus. Zur sozialpolitischen Positionierung der Bundestagsfraktion vgl. Uwe Kranenpohl: Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 bis 1994, Wiesbaden 1999, S. 107-110; Ingo Nathusius: Am rechten Rand der Union (wie Anm. 55), S. 332ff.

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wurfs der DP zutage tritt. Dabei konnten die konservativen Programmatiker auf historische Arbeit an den Begriffen zurückgreifen. Merkatz’ Gewährsmann war Edmund Burke. In der Freiheit und Gerechtigkeit für den einzelnen liege der Sinn des „geschichtlichen Lebens“, so referierte von Merkatz den britischen Denker. Allerdings konnte Freiheit immer nur „definierte Freiheit“ unter dem historisch gewachsenen Gesetz sein, da sie andernfalls in „Anarchie und Zerstörung“ ausarte. Freiheit galt es also auszugleichen, die Freiheit des Individuums im „richtige[n] Maß“ gegenüber der „Autorität des Staatswillens“ und gesellschaftlichen Ordnungen zu halten.57 Merkatz bediente sich mithin der für die politische Sprache des Konservativen typischen Semantik des Ausgleichs.58 So sehr er auf Burke abhob und damit an die liberale Tradition des britischen Konservatismus anschloss, so sehr war ihm daran gelegen, seinem Freiheitsbegriff einen nationalen Anstrich zu geben. Freiheit sei, so führte Merkatz vor dem Parteitag der Deutschen Partei 1955 aus, „niemals ein Begriff an sich, sondern Freiheit ist eine alte deutsche Lehre, stellt immer eine Frage, wozu ich sie habe“.59 Denn der Nationsbegriff wurde hochgehalten in der Deutschen Partei, zumal in den Hochzeiten der Flügelkämpfe, als die Parteiführung bestrebt war, sich von allem chauvinistischen „Nationalismus“ zu distanzieren. Diese Grenzziehung gegen die nationale Rechte rechnete indes mit stark verschwommenen Rändern, die HansChristoph Seebohm, langjähriger Bundesverkehrsminister und streitbarer Vertriebenenfunktionär, bediente.60 Wenn etwa dazu aufgerufen wurde, „auf allen Gebieten der Politik, der Wirtschaft und des sozialen Lebens […] ständig die nationale Gemeinschaft durch die Tat und das gegenseitige Vertrauen“ zu „erneuer[n]“, dann evozierte dieser Appell wohl nicht

57 Vgl. Hans-Joachim von Merkatz: Zeitnahe konservative Politik, in: Konservative Politik ist zeitnah. Ihr dient die Deutsche Partei. Dokumente vom 6. Bundesparteitag der Deutschen Partei in Bielefeld am 4./5. November 1955, Bonn 1955, S.  20-28, hier S. 22. 58 Zu diesem Strukturprinzip der politischen Sprache des Konservatismus vgl. Martina Steber: Die Hüter der Begriffe (wie Anm. 1). 59 Hans-Joachim von Merkatz: Zeitnahe konservative Politik (wie Anm. 57), S. 22. 60 Vgl. Gilad Margalit: The Foreign Policy of the German Sudeten Council and Hans-Christoph Seebohm, 1956-1964, in: Central European History 43 (2010), S. 464-483.

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zufällig die nationalsozialistische Volksgemeinschaftsverheißung.61 Auch an diesem Wunschbild hielt die DP fest. An einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft konnte sie nichts Gutes finden. Freiheit hieß denn auch Freiheit der Nation nach außen, allerdings eingebunden in ein nach abendländischen Träumen gestaltetes, antikommunistisch ausgerichtetes Europa, verankert im westlichen Bündnis.62 In seiner Exegese des Freiheitsbegriffs brachte Merkatz den Verantwortungsbegriff ins Spiel: Staatliche Autorität in einer Demokratie beruhe in erster Linie auf der freiwilligen Anerkennung durch das Individuum, das seine eigenen Grenzen und seinen Platz innerhalb der gegebenen Ordnung annehme und zugleich für die Aufrechterhaltung dieser sozialen Ordnung Verantwortung übernehme. Je mehr Freiheit also dem Individuum zugestanden wurde – und in einer liberalen Demokratie war dies conditio sine qua non –, desto wichtiger wurde für konservatives Denken der Verantwortungsbegriff. Während also einerseits der auf das Individuum bezogene Freiheitsbegriff eingehegt wurde, wurde er andererseits nachdrücklich betont, dann nämlich, wenn die Freiheit des Individuums in der „Uniformität in der heutigen Massendemokratie“, in der Herrschaft des „Nivellierende[n], Gleichmachende[n] […] in der sogenannten egalitären Demokratie“ bedroht schien.63 Das Vokabular der konservativen Kulturkritik, die gegen „Masse“ und „Technik“ zu Felde zog, prägte das Denken der Deutschen Partei.64 Seine Freiheit konnte der Einzelne angesichts der „Anonymität

61 Vgl. Hans-Joachim von Merkatz: Zeitnahe konservative Politik (wie Anm. 57), S. 27. Zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsutopie vgl. u. a. Michael Wildt: „Volksgemeinschaft“, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3. Juni 2014, URL: http://docupedia.de/zg/wildt_volksgemeinschaft_v 1_de_2014 (Stand: 23. Februar 2017); Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014. 62 Vgl. Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 9), S. 332; HansJoachim von Merkatz: Politik im Widerstreit, München 1957; zu Merkatz’ Europakonzeption vgl. Heinz-Siegfried Strelow: Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik (wie Anm. 8), S. 322, 330ff. 63 Vgl. Hans-Joachim von Merkatz: Zeitnahe konservative Politik (wie Anm. 57), S. 23f. 64 Vgl. z. B. ders.: Ein konservatives Leitbild (wie Anm. 55). Zur konservativen Kulturkritik der 1950er und 1960er Jahre vgl. Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika (wie Anm. 53); Thomas Keller: Kulturkritik nach 1945, in: Gilbert Merlio/Gérard Raulet (Hrsg.): Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Kri-

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der Organisationsapparate“65 nur in „kleinen Einheiten“ bewahren, etwa in der Familie, der Gemeinde oder der Berufsgenossenschaft – Individualität wurde in dieser Vorstellung in geordneten Bindungen realisiert, wie sie „Institutionen“ (ein weiterer zentraler Begriff) boten. Zugleich wurde Freiheit im Ökonomischen durch Privateigentum, Leistung sowie „eigene Vorsorge“ und „eigene Verantwortung“ gewährleistet.66 Freiheit war ein schwieriger Begriff für die Konservativen der Deutschen Partei in den 1950er Jahren. Ihr Freiheitsbegriff blieb ambivalent – so ambivalent wie ihr gesamter Entwurf des Konservatismus. Diese Ambivalenz reflektierte von Merkatz in seinem Buch nur indirekt, und dies wiederum in Rückgriff auf Burke. Der nämlich sei „liberal“ gewesen, „weil er konservativ war“. Doch sein Konservatismus sei „kein Liberalismus im späteren Sinn dieses Begriffs“ gewesen.67 An der Wurzel des modernen Konservatismus habe mithin ein liberaler Impuls gelegen, der aber spezifisch konservative Züge getragen habe. Hieran galt es für Konservative in der liberalen Demokratie anzuknüpfen. Sehr direkt hatte sich von Merkatz mit den ambivalenten Zusammenhängen von Liberalem und Konservativem 1956/57 auseinanderzusetzen, als die Deutsche Partei mit der Freien Volkspartei fusionierte. Sie war kurz zuvor von sechzehn FDP-Bundestagsabgeordneten gegründet worden, die ihrer Partei auf Grund außenpolitischer Differenzen den Rücken

senbewußtsein, Frankfurt am Main 2005, S. 303-320; Wolfram Knäbich: Solitär wider Willen. Wandlungen der Kulturkritik bei Friedrich Sieburg nach 1945, in: Erhard Schütz (Hrsg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009, S.  147-166; Rudolf Uertz: Konservative Kulturkritik in der frühen Bundesrepublik. Die Abendländische Akademie in Eichstätt (1952-1956), in: Historisch-Politische Mitteilungen 8 (2001), S. 45-71; Marcus M. Payk: Der „Amerikakomplex“. „Massendemokratie“ und Kulturkritik am Beispiel von Karl Korn und dem Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den fünfziger Jahren, in: Arnd Bauerkämper/Konrad Hugo Jarausch/Marcus M. Payk (Hrsg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen 2011, S. 190-217; Morten Reitmayer: Elite. Sozialgeschichte einer politischgesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009. 65 Hans-Joachim von Merkatz: Ein konservatives Leitbild (wie Anm. 55), S. 17. 66 Vgl. Hans-Joachim von Merkatz: Zeitnahe konservative Politik (wie Anm. 57), S. 25-26. Zum Institutionenbegriff vgl. ders.: Die konservative Funktion (wie Anm. 22), S. 72, wo „Institution“ als „Gestalt gewordene Tradition und Konvention“ definiert wird. 67 Hans-Joachim von Merkatz: Zeitnahe konservative Politik (wie Anm. 57), S. 24.

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gekehrt hatten.68 Die Konfliktlinien des 19. Jahrhunderts hätten sich abgeschliffen, argumentierte von Merkatz; in der Demokratie bezeichneten „Begriffe wie konservativ, liberal, demokratisch, republikanisch […] keine kontradiktorischen Gegensätze mehr“. Vielmehr sei „[p]ersönliche Freiheit im ursprünglich liberalen Sinn […] nur denkbar in einer Ordnung, die nach konservativer Auffassung auf sittlichreligiösen Werten ruht“. Liberales und Konservatives seien daher „zwei Seiten ein und derselben Sache“. Diese liberal-konservative Allianz sei besonders aktuell, weil sich die zentrale ideologische Konfliktlinie in der Gegenwart verschoben habe. Die Weichen für die Zukunft würden nun über der Entscheidung zwischen einer „freiheitlichen, auf persönlicher Freiheit und Verantwortung ruhende[n] Sozial- und Wirtschaftsordnung“ und einer Gesellschaftsordnung gestellt, in der „der Staat zu einer totalen Zwangsausgleichskasse und die Gesellschaft zu einer einzigen Konsumgenossenschaft unter der Herrschaft einer allmächtigen Bürokratie“ werde.69 Insofern gründete die Selbstbeschreibung der DP als „Konzentration freiheitlich-konservativer Kräfte“,70 die Hellwege nach der Fusion zu etablieren suchte, nicht ausschließlich in taktischen Überlegungen.71 So kommentierte auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Fusion als Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung hin zu einer Verschmelzung von Konservatismus und Liberalismus – ihre Verbindung liege „im Zuge der Zeit“.72 Das Gespenst des „Versorgungsstaates“ und der Massenkonsumgesellschaft einte Konservative und Liberale in der jungen Bundesrepublik, wodurch der Begriff der individuellen „Freiheit“ im konservativen Denken eine weitere Aufwertung erfuhr. Wie sich ein solcher Begriff individueller Freiheit mit einem Gesellschaftsbild vertrug, das zugleich auf ihre Beschneidung durch

68 Vgl. Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 48ff.; Horst W. Schmollinger: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 1078-1082. 69 Hans-Joachim von Merkatz: Konservative und Liberale, in: Die Zeit vom 4. Oktober 1956. 70 Heinrich Hellwege: Weg und Ziel der Deutschen Partei. Rede auf dem VII. Bundesparteitag der Deutschen Partei am 28. Mai 1957 in Hamburg zur Eröffnung des Wahlkampfes, in: Heinrich Hellwege. Ein konservativer Demokrat. Festschrift zu seinem 50. Geburtstag am 18. August 1958, gewidmet von seinen Freunden in der Deutschen Partei, Braunschweig 1958, S. 135-144, hier S. 136. 71 Für Hermann Meyn handelt es sich allein um eine taktische Formel, vgl. Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 57, Anm. 6. 72 Neue „dritte“ Kraft?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. September 1956.

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Tradition, Hierarchie, Ordnung und Erbe setzte, blieb indes das Geheimnis der Deutschen Partei. 4. Das Ende der Deutschen Partei und die Crux des Liberalen Je mehr sich die Bundesrepublik festigte und sich der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft einstellte, die mit den Unionsparteien verbunden wurde und eine konzeptionelle Antwort auf die drängenden Probleme der Gegenwart gab, desto deutlicher traten die Widersprüche in der Programmatik der Deutschen Partei zutage. Die Liberalisierung der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit machte vor der Partei nicht Halt – mehr noch: Sie legte ihre programmatischen Widersprüche offen. „Freiheit“ in „Ordnung“ versprach auch die CDU/CSU, aber sie versprach sie nicht nur, sie schien diese auch zu verwirklichen – in einer die demokratischen und pluralen Realitäten der Gegenwart anerkennenden Art und Weise, ohne Verklärung einer heilen Welt der Vergangenheit.73 Doch auch die Unionsparteien sahen sich als Bewahrer – als Bewahrer einer christlichen Wertordnung, die einem Zuviel an Freiheit Schranken setzen sollte; sie schlossen somit an konservative Begründungsbestände an. Mit der zunehmenden Akzentuierung der Freiheit in der politischen Sprache der DP, die in Teilen der Partei die antiliberalen, antirationalistischen und antipluralen Wunschbilder in den Hintergrund drängte und mithin einen Liberalisierungsimpuls auslöste, verschwammen die programmatischen Unterschiede zur Union. Durch die enge Anlehnung der DP-Fraktion im Bundestag in außen- und wirtschaftspolitischen Fragen an die Unionsfraktion wurden diese politisch ohnehin selten ausgespielt. Die Deutsche Partei war kaum mehr als „die Schaluppe im Kielwasser der christlich-demokratischen Fregatte“, kommentierte Günther Gillessen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juli 1960.74 Weder die Zerstörung der sozialen Basis des Konservatismus durch die Verwerfungen des Krieges noch die zeitgenössisch viel diskutierte „Entideologisierung“ der Parteien markierten mithin das Ende der Deutschen

73 Vgl. Frank Bösch: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, Stuttgart u. a. 2001. 74 Günther Gillessen: Kleine Parteien im Sog, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Juli 1960.

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Partei,75 sondern ihre ambivalente Haltung zu Demokratie, Konsumgesellschaft und Sozialstaatlichkeit. Angesichts der christdemokratischen Zukunftsvision, die Freiheit, soziale Sicherheit und „Wohlstand für alle“ versprach, verloren Demokratie-, Bürokratie- und Kulturkritik zunehmend an Boden. Den programmatischen Weg der britischen Konservativen ging die DP gerade nicht, trotz aller Beteuerungen konservativer Verwandtschaft. Von vielen Wunschbildern nahm sie eben keinen Abschied. Nur deshalb hatte im Falle der Deutschen Partei Konrad Adenauers „staubsaugerartige“76 Integrationspolitik kleiner Parteien in die „Volkspartei“ CDU Erfolg. So war es nur konsequent, als 1960 neun DP-Abgeordnete ihrer Bundestagsfraktion den Rücken kehrten und zur CDU übertraten.77 Dass sich darunter auch Hans-Joachim von Merkatz befand, spricht Bände: Der Politiker-Intellektuelle der Deutschen Partei, der die individuelle Freiheit in das Zentrum seines Konservatismusentwurfs gerückt hatte, sah seine eigene konservative Zukunft nirgendwo anders als in der Union.

75 So argumentierte Marion Gräfin Dönhoff: Das Ende der Konservativen, in: Die Zeit vom 8. Juli 1960. 76 Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland (wie Anm. 6), S. 235. 77 Zur langsamen Selbstauflösung der Deutschen Partei vgl. Hermann Meyn: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 59-70; Horst W. Schmollinger: Die Deutsche Partei (wie Anm. 11), S. 1078-1089; Dorothea Oelze: Margot Kalinke und der Wechsel von neun Bundestagsabgeordneten der Deutschen Partei (DP) zur CDU 1960, in: Historisch-Politische Mitteilungen 18 (2011), S. 87-117; zum Kontext Karl-Heinz Naßmacher: Parteien im Abstieg. Wiederbegründung und Niedergang der Bauern- und Bürgerparteien in Niedersachsen, Opladen 1989.

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Flucht nach Europa. Die abendländische Bewegung und die Transnationalisierung des Konservatismus nach dem Zweiten Weltkrieg Johannes Großmann

1. Einführung Im Mitteilungsblatt der Abendländischen Akademie berichtete deren Generalsekretär Georg von Gaupp-Berghausen im Oktober 1954 über eine Tagung mit gleichgesinnten ausländischen Partnern in Spanien: „Eine wirkliche Dokumentation dieses von uns vertretenen abendländischen Geistes bildete die gemeinsame Schlußwallfahrt nach dem alten europäischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela. […] Wie im Mittelalter Santiago de Compostela der Wallfahrtsort der gesamten Christenheit zur Erhaltung des Abendlandes war, so war im kleinen auch diese Fahrt […] mit den Vertretern der Länder des Abendlandes, Europas und der beiden Amerika, evangelischer und katholischer Christen eine neuerliche Bittwallfahrt zur Erhaltung unserer christlichen Lebensart. Hier Helferin und Mittlerin zwischen den Ländern und Konfessionen zu sein, ist die Aufgabe unserer Akademie.“1 Diese freundliche Selbstdarstellung mag verwundern, sollte dieselbe Abendländische Akademie doch nur wenige Monate später in führenden bundesdeutschen Medien als reaktionäre und verfassungsfeindliche Unternehmung charakterisiert werden. Tatsächlich war der abendländischen Bewegung auch in der historischen Forschung kein besonders positives Image beschieden. Zwar wurde ihre Bedeutung für die intellektuellen Debatten der frühen Bonner Republik durchaus anerkannt. Sie wurde jedoch fast durchweg als eine reaktionäre2, zumindest aber als eine wenig anpassungsfähige und letztlich zum Scheitern verurteilte ideengeschichtliche und politische Strömung charak-

1 Georg von Gaupp-Berghausen: Abendländische Akademie – Mittlerin, in: Die Abendländische Akademie 1 (1954), Heft 3, S. 1-5, hier S. 4f. 2 Vgl. Andreas Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt am Main 1993, S. 349-368; Joachim Selzam: Monarchistische Strömun-

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terisiert. Dies gilt insbesondere für die umfangreiche Pionierstudie von Axel Schildt.3 Lediglich Vanessa Conze weist darauf hin, dass einige Akteure der abendländischen Bewegung sich durchaus auf den wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontext einstellten.4 Alle bisherigen Arbeiten tendieren dazu, die „Abendländer“ in den Kontinuitäten und Sollbruchstellen der deutschen Geschichte zu sehen. Sie verkennen oder unterschätzen, wie stark die abendländische Bewegung – sowohl intellektuell als auch personell – von Beginn an in ein breiteres europäisches Umfeld eingebunden war. Auf Grundlage einer quellenbasierten Untersuchung in mehreren Ländern5 bietet der vorliegende Beitrag daher eine alternative Deutung. Demnach verschwand die abendländische Bewegung nicht einfach von der historischen Bildfläche. Vielmehr verlagerten ihre Protagonisten den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten seit Mitte der 1950er Jahre fast vollständig auf die europäische Ebene. Ihre Annäherung an konservative Eliten aus anderen Ländern und die so angestoßenen Aushandlungsprozesse über gemeinsame Wertvorstellungen und politische Positionen machten sie gleichermaßen zu Subjekten und zu Objekten einer grundlegenden Transformation des Konservatismus in (West-)Europa. Diese These soll in sechs Abschnitten plausibel gemacht werden: Auf Basis konservativer Positionen der Nachkriegsjahre in Europa (2.) werden zunächst die Vorgeschichte und die Entstehung der abendländischen Bewegung nachgezeichnet (3.). Der Analyse der Abendländischen Akademie als interkonfessionelles und „übernationales“ Projekt (4.) wird – als ihr europäisches Pendant – das Centre Européen de Documentation et d’Information (CEDI) gegenübergestellt (5.). Schließlich soll gezeigt werden, dass die öffentliche Kritik an der Abendländischen Akademie seit Mitte der 1950er Jahre (6.) deren Protagonisten zu einer Intensivierung ihres „übernationalen“ Engagements bewegte und dadurch (7.) die Entstehung einer „Internationale der Konservativen“ beschleunigte. gen in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989, Univ.-Diss., Erlangen-Nürnberg 1994, S. 122-135. 3 Vgl. Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideengeschichte der 50er Jahre, München 1999, v. a. S. 21-82. 4 Vgl. Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005, v. a. S. 111-206. 5 Ausführlich Johannes Großmann: Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945, München 2014.

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2. Konservative Positionen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg Gemessen an anderen Autoritäten schien die katholische Kirche den Zweiten Weltkrieg in Europa unbeschadet überstanden zu haben. In Westdeutschland und Österreich konnte von einem Bedeutungsverlust bis in die 1950er Jahre hinein keine Rede sein. Auch in Frankreich ging der Katholizismus gestärkt aus dem Krieg hervor, wenngleich die starke Polarisierung zwischen kommunistischen, liberalen und religiös-konservativen Kräften seine integrative Funktion schmälerte. In Italien füllte die kirchennahe Democrazia Cristiana das Machtvakuum, das der Niedergang des Faschismus hinterlassen hatte. Auch das ursprünglich offen faschistische FrancoRegime in Spanien gab sich nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland einen betont katholischen Anstrich. Nur wenige Gläubige warfen der Kirche vor, dass sie der „Faszination des Totalitären“6 in der Zwischenkriegszeit zumindest in Teilen erlegen war. Der kirchliche Führungsanspruch ging einher mit Forderungen nach einer „Rechristianisierung“ der „säkularisierten“ Gesellschaft.7 Die katholische Kritik am zeitgenössischen „Materialismus“ wandte sich nicht nur gegen Kommunismus und Nationalsozialismus, sondern ausdrücklich auch gegen den Liberalismus. Anders als in der Zwischenkriegszeit verzichtete die Kirche nun jedoch auf ein direktes parteipolitisches Engagement. Stattdessen förderte sie zielstrebig den Auf- und Ausbau der katholischen Laienbewegung im Rahmen der Katholischen Aktion, deren Protagonisten sich verstärkt auf internationaler Ebene organisierten.8 Vor allem aber förderte der Vatikan die in fast allen westeuropäischen Ländern entstehenden christdemokratischen Sammlungsbewegungen: die Democrazia Cristiana in Italien, die Österreichische Volkspartei, den Mouvement Républicain Populaire in Frankreich, den Parti Social-Chrétien in Belgi-

6 Gerhard Besier: Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004. 7 Vgl. Martin Greschat: „Rechristianisierung“ und „Säkularisierung“. Anmerkungen zu einem europäischen konfessionellen Interpretationsmodell, in: Anselm DoeringManteuffel/Jochen-Christoph Kaiser (Hrsg.): Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart 1990, S. 1-24. 8 Vgl. Klaus Große Kracht: Die katholische Welle der „Stunde Null“. Katholische Aktion, missionarische Bewegung und Pastoralmacht in Deutschland, Italien und Frankreich 1945-1960, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 163-186.

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en. Die interkonfessionell zusammengesetzten deutschen Unionsparteien stellten einen europäischen Sonderfall dar.9 Zur neuen Rolle der Kirche kam die kritische Auseinandersetzung mit der Nation als gesellschaftlicher Bezugsgröße. Hinter dem FöderalismusDiskurs verbargen sich nicht nur staatsrechtliche, sondern auch sozialphilosophische und religiöse Überlegungen. Kirchennahe Kreise propagierten „Föderalismus“ und „Subsidiarität“ als naturrechtliche Grundprinzipen. Sie forderten eine Aufwertung der Familie, eine berufsständische Ordnung und einen verlässlichen Schutz vor staatlicher Willkür. Zugleich sollten „übernationale“ Instanzen dort einspringen, wo der Nationalstaat an seine Grenzen stieß. Dieser „integralföderalistische“ Diskurs band antimoderne und antiliberale Strömungen in die Nachkriegsgesellschaft ein und bereitete das Feld für den europäischen Integrationsprozess.10 So schien gerade die Besinnung auf christliche Werte und „föderalistische“ Prinzipien Möglichkeiten zu eröffnen, die im Krieg entstanden Gegensätze zu überwinden. Aus der Sicht vieler konservativer Politiker war die europäische Einigung daher zunächst weder eine funktionale Koordinierung nationaler Interessen, noch ein westliches oder liberales Projekt. Sie war föderalistisch, christlich – und im Herzen katholisch.11 Schon bald jedoch zeichnete sich ab, dass der Weg zu einem unabhängigen Europa angesichts des Ost-West-Konfliktes und der Dominanz der beiden Supermächte auf absehbare Zeit hin versperrt bleiben würde. Der Wiederaufstieg Europas schien nur in einem engen Bündnis mit den USA möglich. Das galt insbesondere für die junge Bundesrepublik. Konrad Adenauers ambivalente Politik der Westbindung war eine Folge dieser Einsicht.12 Zwar akzeptierte er die amerikanische Dominanz, doch hielt er gleichzeitig am Ideal eines selbstbestimmten Europa fest. Zwar erschien ihm die Westbindung vereinbar mit dem Anspruch auf eine „föderalistische“ Integration Europas, doch diente sie ebenso als Instrument zur Wiedererlangung nationaler Souveränität. So erschienen die Prämissen von

9 Als Überblick siehe Michael Gehler/Wolfram Kaiser/Helmut Wohnout (Hrsg.): Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien 2001. 10 Vgl. Undine Ruge: Die Erfindung des „Europa der Regionen“. Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt am Main 2003, S. 156-172. 11 Vgl. Philippe Chenaux: Une Europe vaticane? Entre le Plan Marshall et les Traités de Rome, Brüssel 1990. 12 Vgl. Ronald J. Granieri: The Ambivalent Alliance. Konrad Adenauer, the CDU/ CSU, and the West, New York 2003.

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Adenauers Deutschland- und Europapolitik noch bis weit in die 1950er Jahre hinein mit den katholisch-konservativen Positionen der unmittelbaren Nachkriegszeit vereinbar. Der antitotalitäre Grundkonsens trug dazu bei, dass die Zustimmung konservativer Eliten zu Adenauers „funktionaler“ Westbindung letztlich auch in einer „ideellen“ Westbindung mündete.13 So blieb das Feindbild des Kommunismus in Westdeutschland auch über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus bestehen und entwickelte sich in Abgrenzung zur DDR zu einer „konsensfähigen Integrationsideologie“.14 In Frankreich hingegen genossen die Sowjetunion und die Kommunisten bei Kriegsende hohes Ansehen. Hier blieb die sozialintegrative Funktion des Antikommunismus auf das bürgerliche Lager beschränkt. Spätestens seit dem Ausscheiden der kommunistischen Minister aus dem Kabinett im Mai 1947 spaltete sich die französische Gesellschaft an der Trennlinie zwischen Philo- und Antikommunisten. Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich in Italien, wenngleich die Christdemokraten mit ihrem antitotalitären Selbstverständnis hier eine größere politische Dominanz entfalteten. In Belgien und Österreich hingegen konnte sich eine kommunistische Gegenöffentlichkeit nur vorübergehend etablieren. Auch die Europäische Integration hatte eine offen antikommunistische Stoßrichtung. So stand die Angst vor einer Machtübernahme der Kommunisten in Westeuropa Pate für den Marshall-Plan und die rasche Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem. Die Teilintegration des spanischen Franco-Regimes in das transatlantische Bündnis vollzog sich ebenfalls im Rahmen einer antikommunistischen Interessenkongruenz. Der kleinste gemeinsame Nenner dieses christlich begründeten Antitotalitarismus waren weniger fortschrittsoptimistische als modernitätskritische Töne. So argumentierten die konservativen Befürworter eines antitotalitären Europa gerade gegen das Prinzip der Volkssouveränität und pluralistische Wertvorstellungen, wenn sie Nationalsozialismus und Kommunismus als entartete Formen demokratischer Herrschaft beschrieben, zu

13 Zur Unterscheidung zwischen „funktionaler“ und „ideeller“ Westbindung vgl. Eckart Conze: Wege in die Atlantische Gemeinschaft. Amerikanisierung, Westernisierung und Europäisierung in der internationalen Politik der Bundesrepublik Deutschland, in: Gian E. Rusconi/Hans Woller (Hrsg.): Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945-2000, Berlin 2006, S. 307-329. 14 Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 5. Aufl., Göttingen 1991, S. 255.

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Folgeerscheinungen gesellschaftlicher „Vermassung“ erklärten und als Ersatzreligionen einer „säkularisierten“ Gesellschaft deuteten. 3. Vorgeschichte und Anfänge der abendländischen Bewegung in Deutschland Katholizismus, Föderalismus und Antitotalitarismus trafen zusammen im Topos des „christlichen Abendlandes“. Der Abendland-Begriff hatte sich ursprünglich auf die ganze christliche Welt bezogen. Seit dem 19. Jahrhundert wurde er zunehmend für den westlichen, katholischen Teil Europas verwendet. Gleichzeitig entwickelte sich das „christliche Abendland“ zum politischen Kampfbegriff gegen die Ideen der Reformation, der Französischen Revolution und des Liberalismus.15 Oswald Spengler prägte schließlich nach dem Ersten Weltkrieg die Formel vom „Untergang des Abendlandes“,16 die rechtskonservativen Theoretikern als geschichtsphilosophische Begründung für antiliberales und antidemokratisches Denken diente. Bei den Fürsprechern einer „konservativen Revolution“ wurde das „Abendland“ schon bald von anderen Schlagworten wie „Nation“, „Volk“ und „Reich“ verdrängt. Jedoch wurde es zum Leitbegriff einer Gruppe von deutschen Katholiken um die 1925 gegründete Zeitschrift Abendland, die für eine europäische Verständigung, eine Annäherung an Frankreich und einen ökumenischen Dialog eintraten.17 Zu jenen, die in der Zwischenkriegszeit für eine Rückbesinnung auf „abendländische“ Traditionen kämpften, zählte auch Erich Fürst von Waldburg-Zeil. Er wollte den einstigen Führungsanspruch des Adels durch karitative Betätigung, wissenschaftlichen Austausch und die Rückbesinnung auf spirituelle Wurzeln neu beleben. Mit dem Münchner Journalisten Fritz Gerlich verständigte er sich auf die Gründung einer Zeitung, die für christliche Grundsätze eintreten und sich dem Kampf gegen Marxismus und Radikalismus verpflichten sollte. Erich von Waldburg-Zeil kaufte den in München erscheinenden Illustrierten Sonntag auf, dessen bestimmende

15 Vgl. Axel Schildt: Abendland (wie Anm. 3), S. 24f. 16 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., München 1918/1922. 17 Vgl. Vanessa Conze: Europa (wie Anm. 4), S. 27-56; Dagmar Pöpping: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne, 1900-1945, Berlin 2002, S. 100-123.

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redaktionelle Linie schließlich die Warnung vor dem Nationalsozialismus wurde. Seit Anfang 1932 erschien die Zeitung unter dem Titel Der Gerade Weg. Gerlich musste seinen Widerstand gegen die Nationalsozialisten schließlich mit dem Tod bezahlen. Erich von Waldburg-Zeil zog sich ins Privatleben zurück. Im Zweiten Weltkrieg diente er in der Wehrmacht, ehe er Ende 1944 nach dem sogenannten „Fürstenerlass“ entlassen wurde.18 Mit der Europa-Euphorie der Nachkriegsjahre erhielt der AbendlandBegriff neuen Aufschwung. Anders als zuvor wurden „Europa“ und „Abendland“ nun vor allem in konservativen Kreisen synonym verwendet. Ein marginaler Denkstil der Zwischenkriegszeit schien zu einer mächtigen ideengeschichtlichen Strömung geworden zu sein. Die 1946 von Johann Wilhelm Naumann gegründete Zeitschrift Neues Abendland knüpfte inhaltlich und personell an den Abendland-Diskurs der Zwischenkriegszeit an. Im Frühjahr 1951 wurde das Neue Abendland an Erich Fürst von Waldburg-Zeil verkauft.19 Dieser hatte sein politisches Engagement nach Kriegsende wiederaufgenommen und sich intensiv in die föderalistischen Neugliederungspläne und die Verfassungsdiskussionen im süddeutschen Raum eingeschaltet.20 Grundlage seines politischen Denkens war die katholische Soziallehre mit ihrer Forderung nach einer berufsständischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Eine Restauration des Absolutismus lehnte er ebenso ab wie Liberalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Individualismus und Kollektivismus.21 Mit dem Neuen Abendland verfügte Erich von Waldburg-Zeil über ein angesehenes publizistisches Forum. Zum Herausgeber ernannte er den CSU-Politiker Gerhard Kroll, der zuvor kommissarischer Geschäftsführer des Instituts zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik – des späteren Instituts für Zeitgeschichte – gewesen war. Kroll versprach, das Neue Abendland werde unter seiner Leitung „in die Phase der kämpferischen

18 Vgl. Andreas Dornheim: Adel (wie Anm. 2), S. 295-329. Siehe auch die Erinnerungen von Erich Fürst von Waldburg-Zeil, März 1941, abgedruckt in: Rudolf Morsey (Hrsg.): Fritz Gerlich – ein Publizist gegen Hitler. Briefe und Akten 1930-1934, Paderborn 2010, S. 321-340. 19 Vgl. ausführlich Axel Schildt: Abendland (wie Anm. 3), S. 29-46; Vanessa Conze: Europa (wie Anm. 4), S. 111-130. 20 Vgl. Andreas Dornheim: Adel (wie Anm. 2), S. 368-387. 21 Erich Fürst von Waldburg-Zeil: Soziallehren und Sozialerfahrungen der Menschheit. Die Lehre der Päpste mit besonderer Berücksichtigung von Quadragesimo anno, Leutkirch im Allgäu 1946.

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Auseinandersetzung eintreten“.22 Im August 1951 rief er eine Abendländische Aktion ins Leben, deren politische Positionen und Ziele er in einem Manifest über die „Grundlagen der abendländischen Erneuerung“ resümierte. Dieses Manifest spiegelte Krolls Enttäuschung über die parlamentarischen Verfassungen in Bund und Ländern offen wider. Dem Prinzip der Volkssouveränität stellte er einen „organischen“ Staatsaufbau gegenüber, der monarchische, aristokratische und demokratische Elemente vereinen und auf einer föderalen und korporatistischen Gliederung basieren sollte. In ökonomischer Hinsicht sprach er sich gegen ein entfesseltes Gewinnstreben und für eine gerechte Entlohnung von Arbeit aus, ohne jedoch das Prinzip des Privateigentums in Frage zu stellen.23 Es wäre sicher zu einfach, die Skepsis Krolls und der Abendländischen Aktion gegenüber dem Grundgesetz schlicht als Ausdruck religiöser Verklärung, antidemokratischer Ressentiments und überkommener konservativer Ordnungsvorstellungen zu deuten. Tatsächlich hatten ihre Protagonisten selbst erlebt, „daß Recht nicht nur von einem Diktator gebeugt werden kann, sondern auch von einer Mehrheit“.24 So war die Weimarer Republik aus ihrer Sicht nicht an einem Mangel, sondern an einem Übermaß an Demokratie zugrunde gegangen. Während der Begriff der „Restauration“ sonst gerade für die Kritik am konservativen Charakter der frühen Bundesrepublik genutzt wurde, nutzten die „Abendländer“ ihn, um auf die ihrer Meinung nach unzureichende Abgrenzung der zweiten von der ersten deutschen Demokratie hinzuweisen.25 Was die Abendländische Aktion im Kontext der frühen 1950er Jahre anstößig erscheinen ließ, war allerdings weniger ihre Demokratiekritik an und für sich als die kompromisslose Rhetorik, mit der sie vorgetragen wurde. Zwar wurde Krolls polemisches Manifest schnell um ein entschärftes Mehrpunkteprogramm ergänzt.26 Die Aktion fand jedoch kaum Anhänger. Auch ergaben sich schon bald Meinungsverschiedenheiten zwischen

22 Gerhard Kroll: An die Leser, in: Neues Abendland 6 (1951), S. 145. 23 Ders.: Grundlagen der abendländischen Erneuerung. Das Manifest der Abendländischen Aktion, München 1951; zur Abendländischen Aktion vgl. Axel Schildt: Abendland (wie Anm. 3), S. 47-55; Vanessa Conze: Europa (wie Anm. 4), S. 131f. 24 Alois Graf von Waldburg-Zeil: Vom Rand zur Mitte, unpublizierte Erinnerungen, o.O. 2001, S. 131. 25 Vgl. Emil Franzel: Die restaurativen Tendenzen der Epoche, in: Neues Abendland 6 (1951), S. 529-542. 26 Vgl. Abendländische Aktion (Hrsg.): Das Ordnungsbild der Abendländischen Aktion, München 1952.

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Kroll, der sich vor allem für sozial- und wirtschaftspolitische Themen interessierte, und Erich von Waldburg-Zeil, der sich ein stärkeres Engagement für die „übernationalen“ Ziele der Abendländischen Aktion erhoffte und nur wenig Interesse an der Mobilisierung einer breiteren Öffentlichkeit zeigte. Letzten Endes gab Kroll den Vorsitz der Aktion ab und wurde auch als Chefredakteur des Neuen Abendland entlassen. 4. Die Abendländische Akademie als interkonfessionelles und „übernationales“ Projekt Von Beginn an hatte Erich Fürst von Waldburg-Zeil die Gründung eines elitären, wissenschaftlichen Gegenstücks zur Abendländischen Aktion beabsichtigt. Die aus dieser Idee hervorgegangene Abendländische Akademie veranstaltete schließlich vom 6. bis 10. August 1952 eine erste Tagung in der mittelfränkischen Bischofsstadt Eichstätt. Dank prominenter ausländischer Beteiligung und einer betont interkonfessionellen Ausrichtung hatte sich die Bewegung – zumindest ihrer eigenen Wahrnehmung nach – „auf Anhieb aus jenem, ‚restaurativen, donaukatholischen Ghetto‘ erlöst, in das sie bisherige Vorurteile abzudrängen suchten“.27 Als Erich Fürst von Waldburg-Zeil im Mai 1953 bei einem Autounfall ums Leben kam, trat sein ältester Sohn Georg das intellektuelle und politische Vermächtnis an. Im September 1953 wurde die Abendländische Akademie ins Vereinsregister eingetragen. Äußerlich unterschied sich das satzungsgemäße Ziel „einer organisch und föderativ gegliederten übervölkischen Ordnung“28 kaum von den Absichten der Abendländischen Aktion. Neu waren allerdings der wissenschaftliche Anspruch, die dezidiert überkonfessionelle Botschaft und die ambitionierte internationale Perspektive. Erster Vorsitzender der Abendländischen Akademie wurde der Würzburger Staatsrechtler und vormalige Stabsoffizier Friedrich August Freiherr von der Heydte. Georg Fürst von Waldburg-Zeil selbst war stellvertretender Vorsitzender. Erichs Vetter, der Jesuitenpater Franz Georg von Waldburg-Zeil, und sein Schwippschwager Eberhard Fürst von Urach ge-

27 Helmut Ibach: Angst vor dem Herrschen, in: Neues Abendland 7 (1952), S. 568f. Für die Redebeiträge siehe: Abendländische Akademie (Hrsg.): Werte und Formen im Abendland, München 1952. 28 Abendländische Akademie (Hrsg.): Wesen, Ziel und Organisation, München 1953, S. 3.

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hörten dem Vorstand ebenso an wie der mittlerweile zum Chefredakteur des Neuen Abendland ernannte Helmut Ibach, der ehemalige Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg, Wilhelm Stählin, und der Münchner Historiker Georg Stadtmüller. Im Kuratorium engagierten sich namhafte konservative Politiker wie Heinrich von Brentano, Alois Hundhammer und Hans Schuberth sowie der erste Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff. Ein Beirat war für die wissenschaftliche Qualitätskontrolle zuständig. Neben einem Pressereferat gab es ein Rechtsreferat, ein Sozialreferat und ein Referat für „übervölkische Ordnung“.29 Die Abendländische Akademie organisierte zahlreiche Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. Breitere Resonanz ernteten jedoch vor allem ihre Jahrestagungen in Eichstätt, die jeweils mehrere hundert Teilnehmer versammelten. Die anspruchsvollen Redebeiträge dieser Tagungen boten ein gleichermaßen vielschichtiges wie konsistentes Panorama konservativen Denkens. Besondere Beachtung fand dabei der interkonfessionelle Dialog. Mit Stählin, dem Kieler Probst Hans Asmussen, dem ehemaligen Hamburger Hauptpastor Paul Wilhelm Schütz und dem Marburger Dekan Karl Bernhard Ritter engagierten sich namhafte evangelische Theologen in der Abendländischen Akademie, die sich bereits in der Zwischenkriegszeit für den ökumenischen Gedanken eingesetzt hatten. Sie bewegten sich „zwar am konservativen Rande des westdeutschen Luthertums, aber nicht außerhalb der Kirche“.30 Im Vergleich zum interkonfessionellen Anspruch hat die „übernationale“ Stoßrichtung der Abendländischen Akademie in der Forschung weniger Beachtung gefunden. Dabei unterhielt die Akademie von Beginn an enge Kontakte zu Einrichtungen im Ausland wie dem Comité Benelux, dem Europäischen Forum Alpbach und dem Forschungsinstitut für Fragen des Donauraumes. Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats waren die Germanisten Joseph-François Angelloz und Robert d’Harcourt, der Wirtschaftswissenschaftler Achille Dauphin-Meunier und der christlich-existenzialistische Philosoph Gabriel Marcel aus Frankreich, außerdem der

29 Zu Binnenorganisation und personeller Besetzung der Gremien vgl. ebd., S. 18-22. 30 Axel Schildt: Ökumene wider den Liberalismus. Zum politischen Engagement konservativer protestantischer Theologen im Umkreis der Abendländischen Akademie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Thomas Sauer (Hrsg.): Katholiken und Protestanten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik, Stuttgart 2000, S. 187-205, hier S. 187.

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Schweizer Kulturphilosoph Max Picard und der russisch-schwedische Mystiker Valentin Tomberg. Zur dritten Jahrestagung der Akademie im Juli 1954 reisten sechs von neun Referenten aus dem Ausland an – unter ihnen der schwedische Humanist Alf Ahlberg sowie der italienische Politologe Giuseppe Vedovato.31 Im April 1955 diskutierten Teilnehmer aus 13 westeuropäischen Ländern über „Das Abendland im Spiegel seiner Nationen“. Zu den Referenten zählten der zum Katholizismus konvertierte Schweizer Theologe Oskar Bauhofer, der niederländische Kunst- und Literaturwissenschaftler Wilhelmus Asselbergs, der belgische Senator Pierre Nothomb, der irische Keltologe Myles Dillon, der britische Historiker und Theologe Donald Nicholl, der norwegische Pastor Olav Brennhovd, der dänische Erziehungsforscher Holger Kjær, der österreichische Publizist Friedrich Heer und der italienische Philosoph Marino Gentile.32 Besonders intensive Kontakte unterhielt die Abendländische Akademie nach Spanien. Der Naturrechtsphilosoph Francisco Elías de Tejada y Spínola gehörte dem Beirat an. Staatsrat Marqués de Valdeiglesias, der als ein enger Vertrauensmann Francisco Francos galt, referierte in Eichstätt und publizierte wiederholt im Neuen Abendland. In seinen Artikeln lobte er Francos politische Weitsicht. Er kritisierte das Verhalten der USA und Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg, rechtfertigte die Entsendung der División Azul an die Ostfront als Beitrag zum Kampf gegen den Kommunismus und stellte dem europäischen Integrationsprozess selbstbewusst den unverzichtbaren Beitrag Spaniens zur „Wiedergeburt des Abendlandes“ gegenüber.33 Auch deutschsprachige Autoren des Neuen Abendland betonten die Bedeutung Spaniens für die westliche Welt.34 Ähnlich positiv fiel das Urteil über das Salazar-Regime in Portugal aus, das sogar zum „bestregierte[n] Staat Europas“ stilisiert wurde.35

31 Vgl. Abendländische Akademie (Hrsg.): Staat, Volk, übernationale Ordnung, München 1954. 32 Vgl. dies. (Hrsg.): Das Abendland im Spiegel seiner Nationen, München 1955. 33 José Ignacio Escobar y Kirkpatrick Marqués de Valdeiglesias: Spanien in Europa, in: Neues Abendland 9 (1954), S. 147-156; ders.: Spaniens Lehre an Europa, in: Neues Abendland 9 (1954), S. 527-536; ders.: Beitrag Spaniens, in: Neues Abendland 10 (1955), S. 285-291, hier S. 287. 34 Einen Überblick der im Neuen Abendland erschienenen Artikel deutschsprachiger Autoren zu Spanien gibt Petra-Maria Weber: Spanische Deutschlandpolitik, 1945-1958. Entsorgung der Vergangenheit?, Saarbrücken 1992, S. 236, Anm. 519. 35 Emil Franzel: Portugal, der bestregierte Staat Europas, in: Neues Abendland 7 (1952), S. 266-272.

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„Besondere Hoffnungen“ setzten die „Abendländer“ auf den österreichischen Thronprätendenten Otto von Habsburg, da er „die große Tradition der Habsburger mit einem sehr modernen amerikanischen, journalistisch geprägten Denken“ vereinte.36 Der international hervorragend vernetzte „Erzherzog Otto“ wurde rasch zur zentralen Symbol- und Integrationsfigur der abendländischen Bewegung, weshalb sich die „Abendländer“ auch in wachsendem Maße mit dem Vorwurf des Monarchismus, des Revanchismus und des Separatismus konfrontiert sahen.37 Tatsächlich konnten Außenstehende leicht den Eindruck gewinnen, die abendländische Bewegung schwimme ganz im Fahrwasser der österreichischen Legitimisten. Mit Gustav Canaval, dem Chefredakteur der Salzburger Nachrichten, gehörte dem Beirat der Abendländischen Akademie ein unermüdlicher Unterstützer des Hauses Habsburg an. Auch Georg von Gaupp-Berghausen, seit 1952 Generalsekretär der Akademie und Geschäftsführer des Verlags Neues Abendland, war Österreicher und galt als überzeugter Monarchist.38 Otto von Habsburgs eigener Denkhorizont jedoch reichte damals wohl bereits über das ihm von Gegnern unterstellte und von Anhängern nahegelegte Ziel einer Restauration hinaus. Sein politisches Engagement in den frühen Nachkriegsjahren sollte daher auch als eine Etappe auf dem zwar nicht geradlinigen, seit Beginn der 1960er Jahre aber in vollem Bewusstsein beschrittenen Weg vom Thronprätendenten zum Europapolitiker wahrgenommen werden.39 5. Das CEDI als europäisches Pendant zur Abendländischen Akademie Bei genauerem Hinsehen war die abendländische Bewegung also nie auf Deutschland beschränkt, sondern von Beginn an in ein transnationales Beziehungsgeflecht eingebettet. Der junge Otto von Habsburg wurde dabei zum entscheidenden Bindeglied. Er versorgte die deutschen „Abendlän-

36 Alois Graf von Waldburg-Zeil: Rand (wie Anm. 24), S. 51. 37 Vgl. z. B. die Ausarbeitung der Studiengruppe Südost: „Beschwörung des Heiligen Römischen Reiches“, 26. Juli 1954, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PAAA)-B 11/1241. 38 Zu den Verbindungen der abendländischen Bewegung nach Österreich siehe außerdem Matthias Pape: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945-1965, Wien 2000, S. 161-198. 39 Vgl. dazu die – allerdings allzu hagiographisch gefärbte – Darstellung von Stephan Baier/Eva Demmerle: Otto von Habsburg. Die Biographie, Wien 2002.

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der“ mit Kontakten nach Österreich, Belgien, Frankreich und in die Schweiz. Er machte sie zu privilegierten Ansprechpartnern der spanischen Regierung. Als verlässlicher außenpolitischer Fürsprecher und Informant genoss er das Vertrauen Francos und hatte Zugang zu seiner engsten politischen Entourage. Anfang der 1950er Jahre kamen daher sogar Gerüchte auf, der „Caudillo“ habe den Kaisersohn als künftigen spanischen König auserkoren.40 Im Frühjahr 1952 verständigte sich Otto von Habsburg schließlich mit dem Direktor des Hispanischen Kulturinstituts, Alfredo Sánchez Bella, und dem spanischen Außenminister Alberto Martín Artajo auf eine Mobilisierung der „christlichen Kräfte Europas“.41 Daraufhin trafen während der internationalen Sommeruniversität in Santander vom 17. bis 22. August 1952 konservative Politiker und Intellektuelle aus mehreren Ländern Westeuropas zusammen.42 Die zeitliche Koinzidenz mit der ersten Jahrestagung der Abendländischen Akademie in der Vorwoche war kein Zufall, zumal die größte ausländische Delegation aus Deutschland angereist war und sich fast ausschließlich aus „abendländischen“ Vertretern zusammensetzte. Das erklärte Ziel der spanischen Gastgeber war es, die „Sprecher des nichtliberalen christlichen Europa an einem Tische zusammenzubringen“ und „in weiter Sicht Grenzlinien und Marschpunkte ideeller und aktiver Weiterentwicklung abzustecken“.43 So einigten sie sich mit den Protagonisten der abendländischen Bewegung auf eine Institutionalisierung ihrer Zusammenarbeit. Die „Abendländer“ kehrten mit der Überzeugung nach Deutschland zurück, dass „dieses Spanien abendländischer und wehrfähiger als der Rest Europas“ sei. Sie fühlten sich bestärkt in ihrer Vision „von einem potentiell außerordentlich starken“, gleichermaßen „traditionsgebundenen und fortschrittlichen“ wie „geistig wehrbereiten und ethisch gesunden Europa“, das allerdings bislang noch „von der Künstlichkeit des offiziellen, leer laufenden, liberaldemokratischen Europa“ überschattet

40 Vgl. etwa Manuel de Santa Cruz (Hrsg.): Apuentes y documentos para la Historia del Tradicionalismo Español, Bd. 13, Madrid (Tres A) 1983, S. 103-125. 41 Ramón Pérez-Maura: Del Imperio a la Unión Europea. La huella de Otto de Habsburgo en el siglo XX, Madrid 1997, S. 281f. 42 Vgl. Georg von Gaupp-Berghausen (Hrsg.): 20 años C.E.D.I., Madrid 1971, S. 29f. Ein Teil der Redebeiträge wurde publiziert in: Instituto de Cultura Hispánica (Hrsg.): Aspectos económicos de la Europa actual, Madrid 1953; dass. (Hrsg.): Panorama político de la Europa actual, Madrid 1953. 43 Franz Niedermayer: Spanien sucht Europa, in: Neues Abendland 7 (1952), S. 753-754, hier S. 754.

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wurde.44 Auf zwei weiteren Treffen im September 1953 in Madrid und Anfang Februar 1954 auf Schloss Zeil im Allgäu wurde der künftige Rahmen der Unternehmung abgesteckt, die fortan unter dem unverdächtigen Namen Centre Européen de Documentation et d’Information oder einfach nur unter dessen Abkürzung CEDI firmierte. Zum Präsidenten des CEDI wurde Otto von Habsburg gewählt. Als Generalsekretär stand ihm der Marqués de Valdeiglesias zur Seite. Dessen Stellvertreter wurde GauppBerghausen.45 Die finanzielle Hauptlast trug das spanische Außenministerium unter Martín Artajo, das sowohl für ein Büro in Madrid als auch für die kostspieligen Kongresse aufkam. Unterstützt wurde das CEDI in den Anfangsjahren außerdem vom Hispanischen Kulturinstitut unter Sánchez Bella und vom spanischen Bildungsministerium unter Joaquín Ruiz-Giménez. Die spanischen Mitstreiter des CEDI zählten überwiegend zum nationalkatholischen Flügel des Franco-Regimes. Dieser hatte die Einheitspartei Falange seit 1945 aus den zentralen politischen Schaltstellen verdrängt. Ziel der Nationalkatholiken war es, die diplomatische Isolation der in den Nachkriegsjahren einhellig als faschistisch verurteilten Franco-Diktatur zu überwinden. Sie profitierten davon, dass der Beginn des Kalten Krieges die ideologischen Prämissen verschob und ihr religiös begründeter Antikommunismus in wachsendem Maße auf offene Ohren bei potentiellen Bündnispartnern aus Westeuropa und Amerika stieß. 1953 feierte das Franco-Regime mit der Aufnahme Spaniens in die UNESCO, dem Abschluss des Konkordates und der Unterzeichnung eines Stützpunktabkommens mit den USA gleich drei bedeutende diplomatische Erfolge. Nach dem UNO-Beitritt am 15. Dezember 1955 war das frankistische Spanien auf internationaler Ebene weithin rehabilitiert.46

44 Alfons Dalma: Europa ohne Angst, in: Neues Abendland 7 (1952), S. 623-626, hier S. 623 und 626. 45 Zur Frühgeschichte des CEDI siehe auch Vanessa Conze: Europa (wie Anm. 4), S. 169-206; in deutsch-spanischer Perspektive siehe Petra-Maria Weber: Deutschlandpolitik (wie Anm. 34), S. 205-268; Birgit Aschmann: Treue Freunde …? Westdeutschland und Spanien 1945-1963, Stuttgart 1999, S. 425-435; Carlos Sanz Díaz: España y la República Federal de Alemania (1949-1966). Política, económica y emigración, entre la Guerra Fría y la Distensión, Univ.-Diss., Madrid 2005, S. 434-450. 46 Zur Verortung des CEDI im Kontext des Franco-Regimes vgl. Johannes Großmann: Internationale (wie Anm. 5), S. 145-164.

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Die Kontaktpflege mit konservativen Eliten aus Westeuropa war ein entscheidendes Element dieses Kurswechsels. Das CEDI wiederum bot dafür eine ideale Plattform. Seine Jahreskongresse dienten gleichermaßen als ein Schaufenster Spaniens gegenüber Europa und als ein Schaufenster Europas in Spanien. Hier konnten Kontakte zu europäischen Entscheidungsträgern geknüpft und Verbündete gewonnen werden. Hier konnten ebenso gemeinsame Überzeugungen ausgelotet und Handlungsoptionen sondiert werden. Wenngleich das CEDI insbesondere von der Falange und den spanischen Monarchisten mit Argwohn beäugt wurde, entwickelten sich seine Treffen rasch zu Pflichtterminen des frankistischen Establishments. Neben hohen Diplomaten erschienen ranghohe Militärs, Falangisten und Syndikalisten, Mitglieder des Opus Dei, Unternehmer, Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller. Die Zahl der Teilnehmer stieg schnell an. Im September 1953 diskutierten etwa 50 geladene Gäste in Madrid über das Verhältnis von Europa und „Iberoamerika“. Ein Jahr später trafen in Santander knapp 100 Teilnehmer zusammen, um ihre Ansichten über den „föderativen Aufbau eines christlichen Europa“ auszutauschen. Im Juni 1955 befassten sich bereits 150 Referenten und Zuhörer in der Königsresidenz El Escorial mit dem „Problem der Koexistenz“.47 Die spanischen Teilnehmer trafen auf einen ausgewählten Kreis von konservativen Politikern, Intellektuellen, Militärs und Unternehmern, in dem fast alle westeuropäischen Länder repräsentiert waren. Unter den ausländischen Gästen der ersten Jahrestagungen befanden sich z. B. der französische General Georges Revers, der luxemburgische Europapolitiker Nicolas Margue, der spätere portugiesische Premierminister Marcelo Caetano, der griechische Spitzendiplomat Basileios Papadakes und der Schweizer Publizist James Schwarzenbach, der später durch seine fremdenfeindlichen Kampagnen bekannt wurde. Die größten ausländischen Delegationen kamen aus Österreich und Deutschland. Mit Hans-Joachim von Merkatz und Richard Jaeger, die sich beide auch in der Abendländischen Akademie engagierten, entschieden sich zwei prominente konservative Bundespolitiker für eine dauerhafte Mitarbeit im CEDI.

47 Zu Programmen, Teilnehmern und öffentlicher Resonanz der CEDI-Tagungen bis 1970 siehe Georg von Gaupp-Berghausen: 20 años (wie Anm. 42). Zu den Tagungen 1954 und 1955 siehe außerdem CEDI (Hrsg.): Regards sur l’Europe contemporaine, Madrid 1955; dass. (Hrsg.): La Coexistence Pacifique est-elle possible?, Madrid 1955.

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Für die ausländischen Teilnehmer bestand der besondere Charme der Jahreskongresse in ihrer Abgeschiedenheit. Als Diktatur, die nicht in die europäischen und transatlantischen Institutionen integriert war, lag Spanien damals gewissermaßen außerhalb des „Radars“ der westlichen Medien. Einige wenige, dem CEDI gegenüber wohlwollend eingestellte Auslandskorrespondenten entschieden, was über seine Aktivitäten bekannt wurde. Die spanische Presse wiederum unterlag der Kontrolle des Regimes. Diese Sicherheit trug nicht unwesentlich zur vertraulichen Atmosphäre bei, durch die sich die persönlichen Gespräche und Begegnungen am Rande der Tagungen auszeichneten. So entstand im „Windschatten“ Europas ein abgeschirmter Kommunikationsraum, in dem sich gewählte Repräsentanten und konservative Eliten aus demokratisch regierten Ländern unbedarft mit führenden Vertretern autoritärer Regime austauschen und anfreunden konnten. Hier konnten Überzeugungen dargelegt werden, die der heimischen Wählerschaft nur schwer vermittelbar schienen. Hier konnten sich Konservative aus unterschiedlichsten nationalen Traditionen in aller Ruhe auf die Suche nach gemeinsamen Positionen und Strategien machen. 5. Die öffentliche Kritik an der Abendländischen Akademie Wie stark sich Stimmungslage und politische Rhetorik unterdessen in Deutschland gewandelt hatten, bekam schließlich die Abendländische Akademie zu spüren. Auslöser der öffentlichen Debatte um die Akademie waren die Feierlichkeiten zum tausendjährigen Jubiläum der Schlacht auf dem Lechfeld. Zu einer Festwoche im Juli 1955 reisten zahlreiche Politiker und Geistliche aus dem In- und Ausland an. Den Schlusspunkt der Kundgebung markierte die Rede des frisch ernannten Bundesaußenministers Heinrich von Brentano vor 60.000 Zuhörern im Rosenaustadion. Nur wenige Wochen vor Adenauers Reise nach Moskau beschwor von Brentano den abendländischen Sieg gegen „die heidnischen Nomadenscharen des Ostens“, die in der kommunistischen Bedrohung ihre zeitgenössische Entsprechung gefunden hätten.48 Diese martialische und wenig diplomatische Ansprache rief die regierungskritische Presse auf den Plan. Die Jour48 Vgl. Heinrich von Brentano: Innere und äußere Einheit bringt Frieden, in: Leopold Schwarz/Max Hohenester (Hrsg.): Crux victorialis. Ein Erinnerungsbuch an die St.-Ulrichs-Festwoche und die Tage abendländischen Bekenntnisses vom 2.

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nalisten stolperten über die Mitgliedschaft von Brentanos im Kuratorium der Abendländischen Akademie, die dadurch selbst zum Medienthema wurde. Vor allem Der Spiegel unterstellte der Akademie verfassungsfeindliche und monarchistische Bestrebungen.49 Die Vorwürfe verhallten zunächst ohne größeres Echo, ehe sie der SPDAbgeordnete Helmut Schmidt im Dezember 1955 in einer Fragestunde des Bundestages aufgriff. Schmidt bezweifelte die Vereinbarkeit von Regierungsämtern mit einer Mitgliedschaft in der Akademie. Von Bundesinnenminister Gerhard Schröder erhielt er die Zusage einer umfassenden Prüfung. Erst jetzt griffen andere Zeitungen das Thema auf.50 Wenngleich sich auch mehrere Verteidiger der abendländischen Bewegung in regierungsnahen Blättern zu Wort meldeten,51 zogen die Vorwürfe nicht spurlos an der Akademie vorüber. Mitte Februar erklärte von der Heydte seinen Rücktritt vom Vorsitz.52 Von Brentano wollte seine Mitgliedschaft im Kuratorium so schnell wie möglich niederlegen.53 In einer Pressekonferenz am 9. März 1956 in Bonn stellten sich schließlich Fürst Waldburg-Zeil, von Merkatz, Jaeger und andere Vorstandsmitglieder den Fragen der Journalisten, um den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit aus der Welt zu räumen. Sie zogen eine klare Trennlinie zwischen der Abendländischen

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bis 11. Juli 1955 in Augsburg, Augsburg 1955, S. 303-306, hier S. 303f. Zum Kontext der Feierlichkeiten siehe Matthias Pape: Lechfeldschlacht und NATO-Beitritt. Das Augsburger „Ulrichsjahr“ 1955 als Ausdruck der christlich-abendländischen Europaidee in der Ära Adenauer, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 94 (2001), S. 269-308. Vgl. Die missionäre Monarchie, in: Der Spiegel vom 10. August 1955. Siehe u. a. SPD-Kritik an der Abendländischen Aktion, in: Süddeutsche Zeitung vom 3. Januar 1956; Hans Henrich: Die Revolutionäre der Reaktion. Was sich gewisse Herren unter konstruktivem Verfassungsschutz vorstellen, in: Frankfurter Rundschau vom 4. Februar 1956; Hans-Jakob Stehle: Nebel über dem „Abendland“. Reichsphantasien mit habsburgischem Hintergrund, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Februar 1956; Wo hört der Unsinn auf?, in: Der Spiegel vom 15. Februar 1956. Siehe z. B. Hans Otto Boehm: Politische Brunnenvergiftung, in: Deutsche Tagespost vom 18. Januar 1956; Paul Wilhelm Wenger: Jacobinische Gespensterjagd. Zum Kesseltreiben gegen die Abendländische Akademie, in: Rheinischer Merkur vom 10. Februar 1956. Von der Heydte an Jaeger, 24. Februar 1956, in: Archiv für Christlich-Soziale Politik, München (ACSP)-NL Jaeger–D 72. Siehe Jaeger an von Brentano, 30. Januar 1956, sowie von Brentano an Jaeger, 7. Februar 1956, in: ACSP-NL Jaeger–D 74.

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Aktion mit ihrer radikalen politischen Rhetorik und der wissenschaftlich ausgerichteten Tätigkeit der Akademie.54 Für Außenstehende musste es jedoch so wirken, als böten die „Abendländer“ die Aktion als Bauernopfer an, um die Akademie zu retten. Immerhin war inzwischen sogar Anklage vor dem Bundesgerichtshof erhoben worden. Erst nachdem der Oberbundesanwalt (heute: Generalbundesanwalt) mehrere Protagonisten vernommen hatte, wurde die Klage am 20. September 1956 aus Mangel an Beweisen für „verfassungsgegnerische oder strafbare Ziele“ eingestellt. Zwar hielt der Oberbundesanwalt Krolls „romantische, unklare und irreale Vorstellungen“ durchaus für problematisch. Einen direkten Zusammenhang mit der Tätigkeit der Akademie wollte er jedoch nicht erkennen. Letztlich könnten noch nicht einmal Krolls Sympathien für eine monarchistische Staatsform als verfassungsfeindlich gelten, „da zahlreiche noch bestehende Monarchien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen“.55 Das öffentliche Ansehen der Akademie war dennoch nachhaltig beschädigt. So verdeutlichte die Debatte, dass das „Abendland“ Mitte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik kaum noch als politisches und gesellschaftliches Leitbild zu vermitteln war. Der Abendland-Begriff war zu sehr mit monarchistischen, restaurativen und antiliberalen Konnotationen belastet, als dass sich die wirtschaftlich aufstrebende, neue deutsche Demokratie in ihm hätte wiederfinden können. Das Neue Abendland erschien 1956 nur noch vierteljährlich. Die Jahrestagung im Juni 1956 ließ zwar unter dem Motto „Konservative Haltung in der politischen Existenz“ noch die Bereitschaft zu einem offensiven Umgang mit der Kritik erkennen.56 Der für 1957 geplante Kongress wurde dann aber durch eine kleinere Arbeitstagung ersetzt. 1958 fand gar keine Tagung mehr statt. Zum Jahresende wurde auch das Neue Abendland eingestellt. Es wäre jedoch zu einfach, den Niedergang des Begriffes „Abendland“ als Ende einer ideengeschichtlichen Strömung und als politisches Scheitern ihrer Träger zu deuten. Tatsächlich hatten sich die Überzeugungen der abendländischen Bewegung durchaus als kompatibel mit den politischen

54 Vgl. die Argumentation in: Ist die Abendländische Akademie verfassungsfeindlich?, in: Die Abendländische Akademie 3 (1956), Heft 1, S. 1-6, vor allem S. 6. 55 Begründung des Oberbundesanwalts, 20. September 1956, beglaubigte Abschrift vom 4. Oktober 1956, in: ACSP-NL Jaeger–D 74. 56 Vgl. Abendländische Akademie (Hrsg.): Konservative Haltung in der politischen Existenz, München 1956.

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Realitäten erwiesen. Die Einheit Europas angesichts der kommunistischen Bedrohung galt auch den „Abendländern“ als alternativlos. Sie befürworteten die deutsche Wiederbewaffnung und akzeptierten die Rolle der USA als Schutzmacht. Die parlamentarische Stabilität, der autoritäre Regierungsstil Adenauers und die rheinisch-katholische Profilierung der Bonner Republik erleichterten ihnen die Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, zumal mehrere von ihnen die Regierungspolitik in führenden Positionen mitgestalteten. Obwohl der Kreis um das Neue Abendland an überkommenen Begriffen festhielt, hatten sich viele seiner Protagonisten Mitte der 1950er Jahre innerlich bereits weit von der antidemokratischen und antiliberalen Gedankenwelt der Anfangsjahre entfernt. Dieser Anpassungsprozess ging vor allem von ihrem interkonfessionellen und „übernationalen“ Anspruch aus. Die ältere Forschung zur abendländischen Bewegung verweist daher zwar zu Recht auf einen „Drahtseilakt zwischen Westoption und Antiliberalismus“.57 Sie vernachlässigt jedoch die zeitliche Dynamik dieser Konstellation und unterschätzt das differenzierte Wechselspiel zwischen Rhetorik, politischen Überzeugungen und tatsächlichem Verhalten der beteiligten Akteure.58 Vor allem aber verkennt sie den ideologischen Stellenwert, das faktische Ausmaß und die politische Relevanz der von den „Abendländern“ entscheidend mitgestalteten internationalen Vernetzung. Denn tatsächlich verschwand die abendländische Bewegung Mitte der 1950er Jahre nicht einfach von der politischen Bildfläche. Vielmehr konzentrierten sich ihre gescholtenen Protagonisten nun fast vollständig auf die europäische Ebene. Diese „Flucht nach Europa“ mag paradox erscheinen, waren die „Abendländer“ doch gerade für ihre Kontakte zu Otto von Habsburg und zum Franco-Regime kritisiert worden. Sie verdeutlicht jedoch, dass die Ideengeschichte der Bundesrepublik nicht getrennt von ihrem europäischen Kontext analysiert werden kann.

57 Axel Schildt: Abendland (wie Anm. 3), S. 49. 58 Ders.: Auf neuem und doch scheinbar vertrautem Feld. Intellektuelle Positionen am Ende der Weimarer und am Anfang der Bonner Republik, in: Alexander Gallus/Axel Schildt (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 13-32, hier S. 27, verweist zwar auf die „Trennung von Realpolitik und Gesinnung“. Gerade das realpolitische Handeln der „Abendländer“ wirkte jedoch auch auf ihre Gesinnung zurück, die damit immer wieder in Einklang gebracht werden musste.

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6. Auf dem Weg zu einer „Internationale der Konservativen“ In der Tat schien die Krise der Abendländischen Akademie den Ausbau des CEDI zu einem schlagkräftigen transnationalen Forum eher zu beschleunigen als zu bremsen. Anläufe zu einer formalrechtlichen Institutionalisierung und zu einer organisatorischen Festigung hatte es im CEDI schon vorher gegeben. Die Probleme der Abendländischen Akademie und die sich abzeichnende Entmachtung der nationalkatholischen Fraktion in Spanien zwangen nun jedoch zu einem raschen Handeln. Bei einer Versammlung auf Schloss Zeil am 18. und 19. Oktober 1957 wurde eine neue Satzung verabschiedet.59 Am 4. Dezember 1957 wurde das CEDI unter dem Namen Europäisches Dokumentations- und Informationszentrum e.V. ins Vereinsregister des Amtsgerichts München eingetragen. Der Vereinszweck bestand demnach darin, durch „eine ständige Zusammenarbeit führender Männer des kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens“ in „allen europäischen Ländern die Kräfte zu sammeln, die bereit sind, im öffentlichen Leben die Grundsätze der europäisch-christlichen Kultur zu verteidigen.“60 Das Generalsekretariat wurde offiziell von Madrid nach München verlegt. Das spanische Außenministerium finanzierte jedoch weiterhin das Madrider Büro und die Jahreskongresse.61 Parallel zur vereinsrechtlichen Konstituierung des CEDI sollten auch die nationalen Sektionen einen festen institutionellen Rahmen bekommen. Bereits im Laufe des Jahres 1955 waren das französische Centre Technique d’Études Européennes und das griechische Centre Hellénique d’Études Européennes gegründet worden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1957 entstanden in rascher Folge ein spanisches Zentrum, ein Comité Belge du Centre Européen de Documentation et d’Information, ein Centrum Österreich für europäische Dokumentation und Information, ein Comité Suisse de Rencontres Européennes und ein Centre Suédois d’Études Européennes. Mit dem Europäischen Dokumentations- und Informationszentrum Liechtenstein, dem britischen March Club, dem Centro Português de Estudos Europeus und dem finnischen Europaclub wurden in den Folgejahren

59 Vgl. Protokoll über die Arbeitstagung vom 18.-19.10.1957, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik, St. Augustin (ACDP)-01-148–131/3. 60 CEDI (Hrsg.): Buts et méthodes, Statuts, Organisation internationale, Réunions annuelles, München 1959, S. 19. 61 Anders als Petra-Maria Weber: Deutschlandpolitik (wie Anm. 34), S. 243-246, nahelegt, kann von einer deutschen Übernahme des CEDI daher keine Rede sein.

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weitere nationale Zentren ins Leben gerufen.62 In Deutschland übernahm das am 12. Dezember 1957 gegründete Europäische Institut für Politische, Wirtschaftliche und Soziale Fragen mit Sitz in Bad Godesberg die bisherige Funktion der Abendländischen Akademie als nationale CEDI-Sektion.63 Sein Präsident wurde von Merkatz. Als Geschäftsführer wurde mit Alois Graf von Waldburg-Zeil ein Bruder des Fürsten Erich von Waldburg-Zeil eingesetzt. Noch 1957 veröffentlichte das Europäische Institut den ersten Band einer „Konservativen Schriftenreihe“, den von Merkatz selbst verfasst hatte.64 Drei weitere Bände einschlägig profilierter Publizisten befassten sich mit dem Konservatismus in den USA, in Frankreich und in Österreich.65 Dass sich das CEDI immer mehr zu einer Art „Internationale der Konservativen“ entwickelte, hatte jedoch nicht nur mit seiner institutionellen Festigung zu tun. Seit 1955 hatte eine Gruppe französischer Politiker aus dem persönlichen Umfeld Charles de Gaulles um Edmond Michelet, Louis Terrenoire und Michel Habib-Deloncle das CEDI als ein nützliches Vehikel ihrer außen- und europapolitischen Interessen entdeckt. Der Einfluss der Gaullisten mit ihrem realpolitischen Pragmatismus, ihrer Kritik an einer supranationalen Integration Europas und ihrem Bemühen um Unabhängigkeit gegenüber den USA schlug sich schon bald in der programmatischen Ausrichtung des CEDI nieder. Nach der Rückkehr de Gaulles auf die politische Bühne im Mai 1958 wurde deutlich, dass die Gaullisten aus dem internationalen Kontaktnetz des CEDI längerfristig Nutzen ziehen wollten. Sie entsandten fortan hochrangig besetzte und minutiös vorbereitete Delegationen auf die Jahreskongresse, luden im Dezember 1960 zu einer Informationsreise nach Algerien und bemühten sich nach der Wahl Michelets im Juni 1962 zum Präsidenten des CEDI erfolgreich um einen

62 Ausführlich zu Gründung und Zusammensetzung der nationalen Zentren siehe Johannes Großmann: Internationale (wie Anm. 5), S. 181-200 und 215-221. 63 Vgl. Gaupp-Berghausen an Jaeger, 25.11.1957, in: ACSP-NL Jaeger–D 103. 64 Vgl. Hans Joachim von Merkatz: Die konservative Funktion. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens, München 1957; vgl. dazu und zur Person von Merkatz’ auch den Beitrag von Martina Steber in diesem Band. 65 Vgl. Robert Ingrim: Amerika findet sich wieder. Die konservativen Grundlagen in Geschichte und Politik der USA, München 1958; Armin Mohler: Die französische Rechte. Vom Kampf um Frankreichs Ideologienpanzer, München 1958; Johann Christoph Allmayer-Beck: Der Konservatismus in Österreich, München 1959.

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Umzug des Generalsekretariats nach Paris.66 Im zeitlichen Umfeld des Élysée-Vertrages gelang es ihnen mit Hilfe deutscher CEDI-Mitglieder, eine Reihe von informellen Treffen zwischen Vertretern der gaullistischen UNR-UDT und der deutschen CDU/CSU zu organisieren.67 Zwar reduzierten die Gaullisten ihr Engagement im CEDI seit Mitte der 1960er Jahre. Doch nutzten einige von ihnen es weiterhin für den Informationsaustausch mit potentiellen außenpolitischen Partnern. Dies galt auch für ein weiteres Forum, das 1959 auf eine Initiative des Schweden Arvid Fredborg hin von einem ausgewählten Kreis führender CEDI-Mitglieder geschaffen worden war: das Institut d’Études Politiques de Vaduz. Dieser elitäre politische Club, dessen erster Präsident von Merkatz wurde, finanzierte sich ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge und private Spendengelder. An vier Wochenenden im Jahr trafen sich hier konservative Politiker, Unternehmer und Intellektuelle aus Westeuropa und den USA in absolut vertraulicher und ungezwungener Atmosphäre. Schnell wurde das Vaduzer Institut zu einem Treffpunkt führender Entscheidungsträger und zu einem Scharnier zwischen Politik und Wirtschaftswelt. Viele seiner Mitglieder kannten sich schon aus dem CEDI. Es gab aber auch neue Gesichter wie den späteren Bundespräsidenten Karl Carstens, CDU-Bundesgeschäftsführer Konrad Kraske, den österreichischen Finanzminister Reinhard Kamitz oder den britischen Europaminister Geoffrey Rippon. Die Erfolgsgeschichte des Vaduzer Instituts verdeutlicht, dass sich der westeuropäische Konservatismus im Laufe der 1960er und 1970er Jahre endgültig aus seinen alten ideologischen Fesseln befreite und durch eine selektive Adaption liberaler Konzepte und Werte den Anschluss an neoliberale, neokonservative und neurechte Kreise fand.68 Doch auch das CEDI führte seine Aktivitäten in den 1960er Jahren fort. Es entwickelte ein zunehmendes Interesse für die Probleme der „Dritten Welt“ und Fragen der Entwicklungshilfe, was sich im Programm mehrerer Jahrestagungen und in einer engen Zusammenarbeit des Europäischen Instituts für Politische, Wirtschaftliche und Soziale Fragen mit dem Münchner Weltforum-Verlag niederschlug. Selbst die Abendländische Akademie erlebte Anfang der 1960er Jahre noch einmal eine kurze zweite Blütephase. CEDI-Mitglieder aus mehreren Ländern übernahmen eine aktive Rolle

66 Ausführlich zum gaullistischen Engagement im CEDI vgl. Johannes Großmann: Internationale (wie Anm. 5), S. 221-236. 67 Vgl. ebd., S. 236-244. 68 Vgl. ebd., S. 389-406.

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im Fraktionsbildungsprozess des Europaparlaments, wobei sie sich für eine – über das christdemokratische Spektrum hinausreichende – Sammlung konservativer Kräfte unter Einschluss der französischen Gaullisten und der britischen Konservativen einsetzten. Auch betätigten sie sich als Fürsprecher der im CEDI vertretenen, aber (noch) nicht am institutionellen Integrationsprozess beteiligten Länder Westeuropas. Vor allem Spanien blieb als Veranstaltungsort der Jahreskongresse ein zentraler Rückhalt und Bezugspunkt. So betätigten sich Mitglieder des CEDI auch immer wieder als Anwälte des Franco-Regimes, wenn es internationaler Kritik ausgesetzt war.69 Der Demokratisierungsprozess in Spanien nach dem Tod Francos sollte das CEDI schließlich um seinen wichtigsten Daseinszweck und seine finanziellen Ressourcen bringen. Dazu kam, dass das CEDI mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hatte. Eine junge Generation von Politikern und Intellektuellen hatte dieses einzigartige konservative Forum in den 1950er Jahren aufgebaut und für ihren eigenen Werdegang genutzt. Dies galt insbesondere auch für die deutschen Protagonisten wie von Merkatz, Jaeger und Graf von Waldburg-Zeil. Für sie war das anfängliche Engagement in der abendländischen Bewegung gerade nicht zum Hindernis, sondern zum Katalysator und Sprungbrett ihrer Karriere geworden. Insgesamt mehr als zweitausend Teilnehmer, unter ihnen knapp dreihundert Deutsche, hatten im Zeitraum zwischen 1952 und Mitte der 1970er Jahre mindestens einen der CEDI-Kongresse in Spanien besucht. Viele davon übersetzten die Vorstellung von einem europäischen Kernbestand konservativen Denkens und Handelns als Multiplikatoren in ihre politische Alltagspraxis. Nach seinem fünfundzwanzigsten und letzten Jahreskongress im November 1976 in Madrid stellte das CEDI seine internationalen Aktivitäten weitgehend ein. Endgültig aufgelöst wurde es aber erst 1990. Das Europäische Institut für Politische, Wirtschaftliche und Soziale Fragen und das belgische Zentrum bestehen formell bis heute fort. Und das Institut d’Études Politiques de Vaduz ist bis in die jüngste Zeit ein transnationaler Treffpunkt konservativer Eliten geblieben.70

69 Vgl. ebd., S. 323-385. 70 Vgl. ebd., S. 497-533.

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7. Epilog: Die Rückkehr des „Abendlandes“? Seit Ende 2014 hat das „Abendland“ ganz unverhofft seinen Weg zurück in das politische Alltagsvokabular gefunden: Eine Gruppe von selbsternannten Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) macht ihrem Unmut über Zuwanderung und ihrer Abneigung gegen das politische Establishment mit lautstarken Demonstrationen in deutschen Innenstädten Luft. Ähnlich wie die Protagonisten der abendländischen Bewegung Mitte der 1950er Jahre fühlen sie sich von den Medien missverstanden, die sie als rechtsradikal und verfassungsfeindlich verurteilen. Doch lassen sich die Macher und die Mitläufer von PEGIDA tatsächlich als Erben der abendländischen Bewegung charakterisieren? Die „Abendländer“ der frühen 1950er Jahre gaben sich konservativ und befanden sich doch auf dem Weg zu einer schleichenden Übernahme liberaler Wertvorstellungen. Hinter ihrer unglücklichen Rhetorik versteckten sich hehre Ziele wie die Überwindung der konfessionellen Gegensätze und die Abkehr von einem übersteigerten Nationalismus, der zu zwei Weltkriegen geführt hatte. Die von ihnen gelebte internationale Solidarität war gleichermaßen Daseinszweck und Durchgangsstation zu einer Annäherung unterschiedlicher Auslegungen des Konservatismus in Europa. Hinter dem „Abendland“ von PEGIDA hingegen verstecken sich nationalistische Engstirnigkeit und offener Fremdenhass. Die „Abendländer“ des Jahres 2014 geben sich liberal, doch in Wirklichkeit weist ihr Weltbild menschenverachtende Züge auf. Hinter ihren internationalen Solidaritätsbekundungen gegenüber Gleichgesinnten verbirgt sich in Wahrheit der Wille zur Abgrenzung und zum nationalen Alleingang. Doch nicht nur die großen Entwicklungslinien, sondern auch die vermeintlichen Details lassen klare Unterschiede erkennen: Damals erschien die Sowjetunion als größte Bedrohung des „Abendlandes“. Heute stilisiert PEGIDA das Russland Wladimir Putins zu dessen letzter Bastion. Damals bemühten sich die „Abendländer“ um eine klare Distanzierung vom Nationalsozialismus. Heute werden die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs von PEGIDA-Anhängern verharmlost. Damals setzte die öffentlichkeitsscheue Abendländische Akademie auf Diskussionen in elitären Zirkeln. Heute verabreden sich pöbelnde Massen unter dem Schlagwort des „Abendlandes“ zu schrillen Kundgebungen. Und während Geistliche den Tagungen der Akademie in den 1950er Jahren als Ehrengäste beiwohnten, verdunkeln sie heute Kirchen als Zeichen gegen Intoleranz.

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„Wenn wir in diesem Geiste unsere Arbeit fortsetzen, dann dürfen wir hoffen, dass Gott unser zukünftiges gemeinsames Werk segnen wird.“

1. Einführung Andreas Hermes – „Unser Herr Reichsminister“ – überschreibt Hermann Caspers, der Vizepräsident des Deutschen Raiffeisenverbandes, ein Lebensbild zu Hermes’ 80. Geburtstag im Jahr 1958.1 Dabei ist „Herr Reichsminister“ wohl mehr als eine – wenngleich ehrwürdige – Anrede. Es gilt also der Frage nachzugehen, wer dieser „Herr Reichsminister“ war, der über fünf Epochen deutscher Geschichte hinweg, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus bis hin zur alliierten Besatzung und zur Bundesrepublik Deutschland, das öffentliche Leben prägte und beeinflusste.2 Er wird als „aufrecht in seiner Gesinnung“3 beschrieben, als christlich-konservativer, abendländischer Intellek-

1 Vgl. Hermann Caspers: Unser Herr Reichsminister – Ein Lebensbild des Reichsministers a. D. Dr. Dr. h. c. Andreas Hermes, Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes Bonn, zur Vollendung seines 80. Lebensjahres, in: Ders. (Hrsg.): Festschrift für Andreas Hermes zum 80. Geburtstag, Neuwied am Rhein 1958, S. 13-40, hier S. 13. Das Zitat unter dem Titel findet sich bei Andreas Hermes: Ansprache beim Festabend im Hotel Dreesen, Bad Godesberg, in: Deutscher Raiffeisenverband e. V. (Hrsg.): Andreas Hermes 80 Jahre – Bericht über die Feier am 16. Juli 1958, Neuwied am Rhein 1958, S. 65-68, hier S. 67. 2 Vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes. Ein christlicher Demokrat in der ersten und zweiten deutschen Demokratie, in: Historisch-Politische Mitteilungen 10 (2003), S. 129-149, hier S. 129. 3 Yvonne Blatt (Bearb.): Andreas Hermes – „Mit unerschütterlichem Glauben und zähem Kämpfergeist“. Erinnerungen und Dokumente aus der Haft und zur Gründung der CDU 1944/45, St. Augustin/Berlin 2012, S. 9.

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tueller, als „aufrechter Demokrat“4, der selbst noch als vom Volksgerichtshof zum Tode Verurteilter die Standhaftigkeit beweist, der wohl eine persönliche und charakterliche Stärke zugrunde liegt, wie sie nur selten zu finden ist. Von einer Persönlichkeit ist die Rede, die das 20. Jahrhundert von seinen Anfängen bis weit über die Mitte hinaus, von verschiedenen Positionen aus, auf verschiedenste Art und Weise, geprägt hat.5 Indes ist vieles unbekannt, was die eigentlichen Ideen dieses Mannes angeht. Er ist Landwirt, Beamter, Politiker, Funktionär – und er ist Christ. Das alles gilt es in Beziehung zueinander zu setzen, um Mensch und Idee genauer zusammen zu bringen. So entsteht das Lebensbild eines Mannes, der zum 80. Geburtstag bekannte, kein guter Europäer zu sein, wenn er vergäße, ein Deutscher zu sein.6 2. Biografische Notiz Hermes’ Lebensweg ist, wie viele Lebenswege seiner Generation, von den Höhen und Tiefen des ausgehenden 19. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus geprägt, und er mag als exemplarisch gelten, wenn Hermes rückblickend berichtet, dass sein Leben „über Wellenberge und durch Wellentäler ging“. Sein Fazit, dass „die Bereicherung an inneren Werten, die mir die Wellentäler gebracht haben, größer war als das, was ich den Wellenbergen zu verdanken habe“, stellt den Bezug zu den wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Entwicklungen die-

4 Zum 125. Geburtstag von Andreas Hermes bringt das Bundesfinanzministerium 2003 eine Sonderbriefmarke in der Reihe „Aufrechte Demokraten“ heraus, die neben einem Portrait – unter Verwendung einer Aufnahme aus dem Bildarchiv der Geheimen Staatspolizei – Hermes vor dem Volksgerichtshof am 11. Januar 1945 zeigt. Ebenfalls ist diese Aufnahme als Vorsatzseite in: Arbeitsgemeinschaft der deutschen ländlichen Genossenschaften – Raiffeisen/Arbeitsgemeinschaft der deutschen Bauernverbände (Hrsg.): Festschrift für Andreas Hermes 1948, Neuwied am Rhein 1948, abgedruckt. 5 Zur ambivalenten Rolle von Persönlichkeiten im 20. Jahrhundert vgl. Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, München 2010, S. 11-23. 6 Andreas Hermes: Ansprache beim Festabend im Hotel Dreesen (wie Anm. 1), S. 67.

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ser Zeit her.7 Andreas Hermes wird am 16. Juli 1878 in Köln geboren.8 Es ist das Geburtsjahr u. a. Gustav Stresemanns; Konrad Adenauer wird zweieinhalb Jahre zuvor ebenfalls in Köln geboren. Nach eigenen Angaben war sein Vater Andreas im „Pförtnerdienst der Eisenbahndirektion Köln“ beschäftigt, seine Mutter, Therese geb. Schmitz, war die Tochter eines Landwirts aus Vettelhoven im Kreis Ahrweiler. Schon nach kurzer Zeit übersiedelt die Familie nach Mönchengladbach, wo Hermes mit seinen Geschwistern aufwächst. Im Anschluss an die Schulzeit9 absolviert er 1896-1898 eine landwirtschaftliche Ausbildung im Betrieb des Freiherrn von Solemacher-Antweiler auf Schloss Wachendorf.10 Hier erlernt er die „Grundbegriffe der praktischen Landwirtschaft“, die ihn zeitlebens prägen.11 Mit dem Erkennen der Notwendigkeit, der „landwirtschaftlichen Ausbildung eine gründliche wissenschaftliche Untermauerung zu geben“, immatrikuliert er sich 1898 an der Landwirtschaftlichen Akademie BonnPoppelsdorf, die er im Jahr 1900 als Diplom-Landwirt beendet.12 Nach einer kurzen Station als Gutsverwalter in der preußischen Provinz Sachsen13 und Landwirtschaftslehrer in Oldenburg14 nimmt er 1902 eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent wiederum an der Landwirtschaftlichen

7 Vgl. ebd. S. 65f. 8 Vgl. Andreas Hermes: Aufzeichnung des Lebensganges, Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), NL Hermes 01-090, zitiert nach Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 27; Heide Barmeyer: Andreas Hermes und die Organisation der deutschen Landwirtschaft – Christliche Bauernvereine, Reichslandbund, Grüne Front, Reichsnährstand 1928-1933, Stuttgart 1971, S. 2-18, hier S. 2. Sein vollständiger Vorname lautet Andreas Anton Hubert. 9 Nach eigenen Angaben verlässt er zu Ostern 1896 die Realschule mit dem „Einjährigen-Zeugnis“, vgl. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 41. 10 Vgl. ebd., S. 42; zudem Fritz Reichardt: Andreas Hermes, Neuwied am Rhein 1953, S. 11-12. Schloss Wachendorf gehört zur Stadt Mechernich im Kreis Euskirchen. Ein Gut Weilerswist als Ausbildungsbetrieb nennt Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 301. 11 Ebd., S. 48. 12 Vgl. ebd., S. 52. 13 Hermes ist von Frühjahr bis Herbst 1900 als „Feldverwalter“ auf Rittergut Stechau im Kreis Herzberg in der damaligen preußischen Provinz Sachsen beschäftigt, vgl. ebd., S. 53f. 14 Vgl. ebd., S. 54-57. Hermes selbst vermerkt, dass er die Stelle an der „kombinierten Ackerbau- und Höheren Bürgerschule in Cloppenburg i. Oldenburg“ aus wirtschaftlichen Gründen antritt. Hier verbleibt er vom Herbst 1900 bis zum Frühjahr 1902. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 301 nennt ausschließlich

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Akademie15 an, ehe er 1904 an die Universität Jena wechselt. Im Frühjahr 1905 wird er hier mit einer Arbeit über den Teilbau in Frankreich promoviert.16 Danach wechselt er nach Berlin und arbeitet dort in der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft.17 Er organisiert Landwirtschaftsausstellungen, etabliert in dieser Zeit regelmäßige Publikationen zur Landwirtschaftsentwicklung und unternimmt mehrere Forschungsreisen ins Ausland, insbesondere nach Südamerika. 1911 wechselt er zur landwirtschaftlich-technischen Abteilung des Internationalen Landwirtschaftsinstituts und wird in Rom dessen Direktor. Bei Kriegseintritt 1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst, wird Mitarbeiter der Presseaufbereitungsstelle im Stellvertretenden Generalstab und ab 1915 Mitarbeiter im Kriegsausschuss für Ersatzfutter bzw. für Öle und Fette.18 Nach Kriegsende wechselt Hermes in das Reichswirtschaftsministerium und leitet dort die Landwirtschaftsabteilung.19 Zu dieser Zeit erarbeitet er Pläne für ein selbständiges Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 1920 wird er der erste Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft in den Kabinetten Müller I, Fehrenbach, Wirth I und Wirth II.20 Dieses Amt hat er bis 1922 inne. Ebenfalls 1920 tritt er der Zentrumspar-

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1901 als Beschäftigungszeitraum, in dem Hermes als Landwirtschaftslehrer in Cloppenburg wirkte. Während dieser Zeit entsteht, in Zusammenarbeit mit Professor Johannes Hansen, ein Werk zur Rinderzucht, siehe: Johannes Hansen/Andreas Hermes: Die Rindviehzucht im In- und Auslande, Bd. I-II, Leipzig o. J., (1904); vgl. auch die „Beurteilung für Herrn A. Hermes aus M. Gladbach“ von Professor Hansen, in: Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 23f. Ebenfalls legt Hermes die Prüfung als Tierzuchtinspektor ab, vgl. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 59. Andreas Hermes: Teilbau in Frankreich (Abhandlungen des Staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena 2, Heft 4), Jena 1907. Vgl. Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 23-46. Die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) wird 1885 von Max Eyth (1836-1906) in Berlin mit dem Ziel gegründet, Impulse für den Fortschritt in der Land- und Ernährungswirtschaft zu geben. Vgl. http://www.dlg.org/125jahre.html (Stand: 2. Mai 2016). Zu den Grundlagen der DLG siehe: Das Grundgesetz der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft vom 11.12.1885, in: Günther Franz (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Deutschen Bauernstandes in der Neuzeit (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, hrsg. von Rudolf Buchner, Band XI), Darmstadt 1963, S. 490f. Vgl. Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 47-58. Vgl. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 302. Vgl. Heide Barmeyer: Andreas Hermes (wie Anm. 8), S. 6.

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tei bei.21 Auch privat bringt das Jahr 1920 für ihn eine neue Lebensphase: Im September heiratet er die sechzehn Jahre jüngere Anna Maria Schaller, die in Köln geboren und in Berlin aufgewachsen ist.22 Von 1921 bis 1923 ist er – zeitweise in Personalunion – ebenfalls Reichsfinanzminister in den Kabinetten Wirth II und Cuno.23 Während dieser Zeit ist er Leiter der deutschen Delegation bei der Konferenz von Genua24 und hat maßgeblichen Einfluss auf die Frage der Ruhrbesetzung.25 Mit dem Rücktritt des Kabinetts Cuno verlegt Andreas Hermes seine Tätigkeit vorrangig auf die Arbeit in den landwirtschaftlichen Standesorganisationen.26 Weiterhin gehört er dem Preußischen Landtag (1924-1928) sowie dem Reichstag (1928-1933) an.27 Diese Position an der Schnittstelle von Landwirtschaft und Politik ermöglicht es ihm zwar weiterhin, eine gewisse Schlüsselposition einzunehmen, insbesondere im Hinblick auf die Vereinigung der verschiedenen landwirtschaftlichen Verbände und deren Stellung zur Politik der Reichsregierung, politischen Einfluss gewinnt er hingegen nicht mehr.28 So ist er 1928-1933 Präsident der Vereinigung der deutschen Bauernvereine29 und 1930-1933 zudem Präsident des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen e.V.30 Bereits 1929 ist er an dem losen Zusammenschluss der eigenständigen Verbände Vereinigung der deutschen christlichen Bauernverei-

21 Der Beitritt erfolgt erst nach seiner Ernennung zum Reichsminister, vgl. Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 64; ferner Rudolf Morsey: Die Deutsche Zentrumspartei 1917-1923, Düsseldorf 1966, S. 307. 22 Vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 131 – aus dieser Ehe gehen die fünf Kinder Otto, Peter, Bruno, Maria und Therese hervor. 23 Vgl. dazu ausführlich Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 59-102. 24 Vgl. Heinrich August Winkler: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 171ff. 25 Vgl. Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 94-97. 26 Vgl. ausführlich Heide Barmeyer: Andreas Hermes (wie Anm. 8), S. 24ff.; Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 103-136. 27 Vgl. Bernd Haunfelder: Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871-1933. Biographisches Handbuch und historische Photographien, Düsseldorf 1999, S. 317f. 28 Vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 132. 29 Vgl. Edgar Hartwig/Lutz Fahlbusch: Vereinigung der deutschen Bauernvereine, in: Dieter Fricke u. a. (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte – Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien in Deutschland (1789-1945), Band 4, Köln 1986, S. 344-357. 30 Vgl. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 302.

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ne31, Reichslandbund32 und Deutsche Bauernschaft33 mit der Dachorganisation der Landwirtschaftskammern, dem Deutschen Landwirtschaftsrat34, zur Grünen Front35 maßgeblich beteiligt.36 Im März 1933 legt er aus Protest gegen die Nationalsozialisten alle öffentlichen Ämter nieder, wird kurz darauf verhaftet, im Juni 1934 wegen angeblicher „Veruntreuung von Rationalisierungsgeldern“ verurteilt und in den Ruhestand versetzt.37 1936-1939 ist er für die kolumbianische Regierung als Berater tätig und plant die Übersiedlung mit seiner Familie nach Südamerika.38 Der Nachzug seiner Kinder im Sommer 1939 scheitert durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs39, woraufhin Hermes zurückkehrt. Im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wird er am 22. Juli festgenommen und inhaftiert.40 Vom Volksgerichtshof wird er am 11. Januar 1945 zum Tode verurteilt, das Urteil jedoch nicht vollstreckt.41 Hermes wird am 25. April freigelassen. Bereits am 7. Mai beauftragt ihn die sowjetische Kommandantur mit der Organisation der

31 Vgl. Edgar Hartwig/Lutz Fahlbusch: Vereinigung (wie Anm. 29), S. 354. 32 Vgl. Jochen Cerny/Lutz Fahlbusch: Reichs-Landbund, in: Dieter Fricke u. a. (Hrsg.): Lexikon (wie Anm. 29), Band 3, S. 684-712. 33 Vgl. Werner Fritsch: Deutsche Bauernschaft, in: Dieter Fricke u. a. (Hrsg.): Lexikon (wie Anm. 29), Band 1, S. 570-573. 34 Vgl. Herbert Gottwald: Deutscher Landwirtschaftsrat, in: Dieter Fricke u. a. (Hrsg.): Lexikon (wie Anm. 29), Band 2, S. 165-183. 35 Vgl. Lutz Fahlbusch: Grüne Front, in: Dieter Fricke u. a. (Hrsg.): Lexikon (wie Anm. 29), Band 3, S. 72-75. 36 Vgl. Heide Barmeyer: Andreas Hermes (wie Anm. 8), S. 80-128, hier S. 86ff.; ferner Antonius John: Andreas Hermes, die Politik und der Verband – Weimarer Irrwege und agrarpolitische Konsequenzen, Bonn 1998, S. 36-43. 37 Vgl. ebd., S. 62. 38 Vgl. Anna Hermes: Drei Jahre Arbeit in Kolumbien (1936-1939), in: Arbeitsgemeinschaft der deutschen ländlichen Genossenschaften – Raiffeisen/Arbeitsgemeinschaft der deutschen Bauernverbände (wie Anm. 4), S. 251-256. 39 Vgl. Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 137-162. 40 Gemeinsam mit dem früheren Reichswehrminister Otto Geßler (1875-1955) und Hermes’ Nachfolger, dem früheren Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Anton Fehr (1881-1954), vgl. Antonius John: Andreas Hermes (wie Anm. 36), S. 77. 41 Vgl. ebd., S. 77f.: „Nur den intensiven Bemühungen von Frau Hermes gelang es, die Hinrichtung wiederholt zu verschieben, bis durch den schnellen Vormarsch der russischen Truppen in Berlin Rettung kam.“ Ähnlich auch Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 136: „[…] denn das Todesurteil wurde nicht mehr vollstreckt, dank aufopfernder Bemühungen seiner ebenso mutigen wie klugen Frau.“

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Lebensmittelversorgung und dem Aufbau eines Ernährungsamtes für Berlin; gleichzeitig wird er Stellvertretender Oberbürgermeister und Mitglied des Berliner Magistrats. Im Juni 1945 gründet sich unter seinem Vorsitz die CDU in Berlin.42 Nach Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Kommandantur, die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone betreffend, wird Hermes im Dezember 1945 der Leitung der CDU in der SBZ enthoben und übersiedelt noch im selben Monat nach Bad Godesberg. 1947-1949 ist er Mitglied im Wirtschaftsrat der Bizone und Vorsitzender des dortigen Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft. Der neugegründete Deutsche Bauernverband wählt ihn 1948 ebenso zu seinem Präsidenten wie der – ebenfalls 1948 neu gegründete – Deutsche Raiffeisenverband.43 In den 1950er Jahren engagiert er sich in den landwirtschaftlichen Standesorganisationen, er ist Leiter der deutschen Delegation zur Generalversammlung der Food and Agricultural Organization (FAO), Mitglied des Sachverständigen-Ausschusses zur Neugliederung des Bundesgebietes („LutherAusschuss“) und Präsident der Confédération Européenne de l’Agriculture. Hochbetagt stirbt Andreas Hermes am 4. Januar 1964 in Krälingen/ Eifel.44 3. Hermes’ agrarisch geprägter Konservatismus Mit „voce di sangue“ begründet Andreas Hermes seinen Wunsch, Landwirt zu werden.45 Seine Mutter, die der Landwirtschaft entstammte und „rheinisches Bauernblut in ihren Adern“46 hatte, scheint diesen Wunsch – wenn auch unbewusst – befördert zu haben.47 Dieser „Instinkthandlung“

42 Vgl. Arthur Schlegelmilch: Hauptstadt im Zonendeutschland – Die Entstehung der Berliner Nachkriegsdemokratie 1945-1949 (Schriften der Historischen Kommission zu Berlin, Band 4), Berlin 1993, S. 35; Jürgen Frölich (Hrsg.): „Bürgerliche“ Parteien in der SBZ, DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945-1953, Köln 1995. 43 Vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 147. 44 Vgl. ebd., S. 129; Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 304, gibt den 1. Januar 1964 als Todestag an. 45 Vgl. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 38. 46 Ebd., S. 28. 47 Vgl. ebd., S. 42, zitiert dazu: „[…] und es sprach wieder für den klaren Blick und die Lebensklugheit meiner Mutter, dass sie die Entscheidung ganz mir überließ.“

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folgend, sollte der Beruf ihn sein ganzes Leben lang begleiten. Und noch mehr: er war ihm Rückzugsort, an den er nach Zeiten politischer Verantwortung zurückkehrte, auch wenn er zeitlebens nie selbständiger Landwirt mit eigenem Betrieb war.48 Während dieser Zeit veränderte sich die Landwirtschaft mehr als in den vielen Jahrhunderten zuvor. Die Wende zum 20. Jahrhundert gilt als früher Höhepunkt politischer Auseinandersetzungen mit Fragen einer sich internationalisierenden Landwirtschaft.49 Hermes erlebt diese zunächst als Eleve im landwirtschaftlichen Betrieb, dann als Student und später als Mitarbeiter in der DLG. Es ist die Zeit, in der sich die nach der Reichsgründung immer stärker werdenden Befürworter eines Protektionismus jenen eines liberalen Denkens im Sinne des Freihandels entgegenstellen.50 Hermes’ Lehr-, Studien- und Assistentenjahre sind geprägt von der Diskussion um die Landwirtschaft in ihrer Stellung zum Markt. Dem im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung schrumpfenden Anteil der direkt in der Landwirtschaft Beschäftigten stellen sich ein immer mächtiger werdendes, städtisch geprägtes Bürgertum und ein sich ebenso zunehmend emanzipierendes Arbeitertum entgegen, die ihre Interessen, vor allem als Konsumenten, nachdrücklich durchzusetzen suchen. Trotz dieser sozio-strukturellen Defensivstellung der Landwirtschaft gelingt es dem traditionell konservativen Lager der „Agrarier“, durch ihr damals schon ausgeklügeltes System von verschiedenen Interessenverbänden, den Einfluss auf die Politik auszuweiten. Hermes’ Zeit als praktischer Landwirt beschränkt sich auf seine Lehrzeit, danach wechselt er ins akademische Lager. Hier festigt sich sein Blick auf die Landwirtschaft, der in erster Linie den Produzenten, somit vorrangig die Erzeugerseite, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt. Er gibt diesen Standpunkt selbst in den Notjahren nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in den Jahren als Minister für Landwirtschaft und Ernährung, nicht auf, auch wenn es auf den ersten Blick anders erscheinen mag:

48 Friedrich Steding: Agrarpolitik zwischen Zwang und Freiheit. Ein Erlebnisbericht, Prien am Chiemsee 1975, S. 45, nennt ihn einen „Agrarpolitiker ohne Ar und Halm“ (zitiert nach Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 147); vgl. auch: Der bäuerliche Heroismus, in: Der Spiegel 1954, Heft 13, S. 12-18, hier S. 13. 49 Vgl. Constantin von Dietze: Grundzüge der Agrarpolitik, Hamburg/Berlin 1967, S. 43ff.; Wilhelm Abel: Agrarpolitik, Göttingen 1967, S. 24-27. 50 Zur Agrarschutzpolitik vgl. Constantin von Dietze: Erfahrung und Entscheidung in der Agrarschutzpolitik, in: Arbeitsgemeinschaft der deutschen ländlichen Genossenschaften: Festschrift (wie Anm. 4), S. 31-68.

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„Auch die Preispolitik muss dem obersten Ziele der Ernährungspolitik untergeordnet werden, das darin besteht, eine Vermehrung und auf diesem Wege auch eine Verbilligung der Lebensmittel herbeizuführen. […] Eine einseitige Preispolitik zugunsten der Landwirte zu betreiben, lehne ich entschieden ab. Wenn ich für die wirtschaftlichen Erzeugnisse der nächsten Ernte höhere Preise vorschlage, so bestimmt mich hierzu – so widerspruchsvoll dies auf den ersten Blick auch erscheinen mag – gerade die Rücksicht auf die Verbraucher, denn eine verständige Verbraucherpolitik kann nur in einer zielbewussten Förderung der landwirtschaftlichen Produktion bestehen, durch die allein auf die Dauer eine reichlichere und billigere Ernährung ermöglicht werden kann. Hierzu ist es aber erforderlich, den Landwirten Preise zu gewähren, die ihre Produktionskosten decken.“51

Hermes argumentiert unbeirrt nach Prinzipien der Landwirtschaftspolitik im späten 19. Jahrhundert:52 Eine Hinwendung zum Markt kann nur mit einer Anpassung an die jeweiligen Marktbedingungen, insbesondere auf die Betriebsstruktur, die Produktivität und den Kapitalisierungsgrad hin erfolgen.53 Die von Hermes geforderten kostendeckenden Preise für Agrarprodukte laufen allerdings dem Wesen des Gleichgewichtspreises zuwider und wirken wie Preisuntergrenzen. Eine lediglich kostendeckende Erzeugung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Agrarstruktur lässt keinen Raum für Innovation und Investition. Es ist vielmehr ein Gefangennehmen in überkommenen Strukturen. Eine staatlich garantierte kostendeckende Erzeugung von Lebensmitteln enthält dem Konsumenten die kostensenkende Wirkung des Wettbewerbs durch technischen und wirtschaftlichen Fortschritt ebenso vor wie die Möglichkeit kostengünstiger Importe durch das gleichzeitige Belegen mit Gleitzöllen – und darüber hinaus nötige Strukturveränderungen. Letztlich bedeutet dies: Die Landwirtschaft fordert keinen Marktpreis, der sich nach Angebot und Nachfrage richtet, vielmehr stellt dieser konstruierte Preis das Spiegelbild der deutschen Produktionskosten dar. Wo dies aufgrund von Importen – die generell nur in Betracht gezogen werden, sollte die einheimische Landwirtschaft den Bedarf nicht selbst decken können – nicht möglich ist, wirken die Gleitzölle dahingehend, dass Importe – und seien sie noch so kostengünstig produziert – so

51 Andreas Hermes: Rede als Reichminister für Ernährung und Landwirtschaft am 2. Juli 1920 im Deutschen Reichstag, wörtliche Wiedergabe nach dem Reichstagsstenogramm, zitiert nach: Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 287-318, hier S. 288. 52 Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm Henning: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2 (1750 bis 1976), Paderborn 1978, vor allem S. 113-171. 53 Vgl. Constantin von Dietze: Grundzüge der Agrarpolitik (wie Anm. 49), S. 197ff.

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stark mit Zöllen belegt werden, bis ihr Preis das inländische Kostenniveau erreicht.54 Hermes’ Idee einer Landwirtschaft aus Erzeugersicht geht aber noch weiter: Sie zielt auf die Erhaltung einer tradierten Agrarstruktur. Insbesondere in den 1920er Jahren gelingt es ihm, die verschiedenen landwirtschaftlichen Interessengruppen und -verbände unter dem Dach der Grünen Front zu einem losen, wenngleich schlagkräftigen Konsortium zusammenzuschließen, das es versteht, seine Interessen gegenüber Staat und Gesellschaft durchzusetzen. 55 Dabei kann Hermes nicht eindeutig eine Präferenz für eine bestimmte landwirtschaftliche Betriebsstruktur zugewiesen werden. Als Präsident des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften Raiffeisen e.V.56 liegt sein Augenmerk vorrangig auf klein- und mittelbäuerlichen Strukturen. Als richtungsweisender Vorkämpfer innerhalb der Grünen Front waren ihm die Forderungen dieser von der mittel- und ostdeutschen Großlandwirtschaft dominierten Interessenvertretung keineswegs fremd.57 Vor diesem Hintergrund tendiert Hermes eher zu einer von mittleren bis größeren Einheiten geprägten Landwirtschaft als zu einer kleinbäuerlichen, mit starkem Selbstversorgungsanteil ausgestatteten Klein-, Neben- und Zuerwerbslandwirtschaft, wie sie von anderer Seite gefordert wird.58 Durch die Zeit des Nationalsozialismus unterbrochen führt er diese Idee einer tendenziell in größeren Einheiten organisierten Vollerwerbslandwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Eine Kollektivierung dagegen lehnt er vehement ab.59 Nicht ohne Wirkung ist indes seine Weigerung, die Bodenreformpläne in der sowjetischen Besatzungszone entschieden abzu-

54 Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning: Landwirtschaft (wie Anm. 52), S. 120-124. 55 Vgl. Heide Barmeyer: Andreas Hermes (wie Anm. 8), S. 80 ff. 56 Siehe dazu ausführlich: Gustav Klusak: Entwicklung und Aufgaben der Spitzenorganisation des deutschen ländlichen Genossenschaftswesens, in: Hermann Caspers: Festschrift für Andreas Hermes (wie Anm. 1), S. 197-212.; Heide Barmeyer: Andreas Hermes (wie Anm. 8), S. 129ff. 57 Vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 133. 58 So z. B. von Max Sering, später auch von Heinrich Lübke. 59 Zur Kollektivierung in den ersten Jahren nach Kriegsende vgl. Jens Schöne: Die Landwirtschaft in der DDR 1945-1990, 2. Aufl., Erfurt 2015, S. 9-19; Arnd Bauerkämper: „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Ausführungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996.

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lehnen.60 Er lehnt die Auflösung von Großbetrieben bei gleichzeitiger entschädigungsloser Enteignung der Besitzer ebenso ab wie die Aufsiedlung dieser Betriebe mit Neubauern aus den Ostgebieten und bisher unselbständigen, bereits ortsansässigen Kleinbauern, die seines Erachtens dadurch keine ausreichende Lebensgrundlage erhielten und durch die als landwirtschaftliche Erzeuger eine nachhaltige Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln nicht gesichert werden könne. Weitsichtig erkennt er, wie die Veränderung der Besitzstruktur, von einer (groß-)bäuerlichen hin zu einer kollektivierten Landwirtschaft, wirkt, die mit dem ursprünglichen Genossenschaftsgedanken eines Raiffeisen oder eines Schulze-Delitzsch nichts mehr zu tun hat. Er sieht den Weg genossenschaftlicher Entwicklung dahingehend gestört, dass an dessen Ende eine komplette Kollektivierung im Sinne Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) steht, die einer bäuerlichen Bezugs- und Absatzgenossenschaft in Idee und Wirkung entgegenstehen. So liegt seine Übersiedlung in die „Westzone“ nicht zuletzt auch in seiner Ablehnung sozialistischer Formen der Landwirtschaft begründet. Allerdings gibt es auch in den Westzonen Bestrebungen, in die landwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse, notfalls mit Zwang, einzugreifen.61 Die Stellung der Landwirtschaft zum Markt bleibt auch nach dem Zweiten Weltkrieg bivalent. So kann sich der Ausschuss für landwirtschaftliche Marktordnung, der mit namhaften Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Landwirtschaftsorganisationen besetzt ist, nicht auf ein einheitliches Gutachten einigen.62 Während die eine Gruppe eine stärkere Marktöffnung im Sinne einer Wettbewerbsordnung fordert63, sieht die andere den Weg in einer stark protektionistischen Marktregulierung.64 Seine in den späten 1920er Jahren einsetzenden und durch die Zeit des Nationalsozialismus jäh unterbrochenen Bestrebungen zu einer einheitlichen Interessenvertretung der Landwirte nimmt Hermes rasch wieder auf: Die Zusammenführung der verschiedenen Landesverbände zum Deut60 Hermes lässt sich selbst durch das Inaussichtstellen der Freilassung seines Sohnes Peter aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nicht zu einer Zustimmung zur Bodenreform bewegen, vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 142. 61 Vgl. z. B. Heinrich Lübke: Grundlagen einer neuen Siedlungspolitik, Recklinghausen 1946, S. 10-13. 62 Vgl. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.): Gutachten des Ausschusses für landwirtschaftliche Marktordnung, Bonn 1950. 63 Vgl. ebd., Gutachten A, Gutachtergruppe Prof. Dr. v. Dietze, S. 7-23. 64 Vgl. ebd., Gutachten B, Gutachtergruppe Prof. Dr. Baade, S. 25-36.

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schen Bauernverband (DBV) ist sein Werk. Mit der Reaktivierung des Raiffeisen-Verbandes gelingt es Hermes darüber hinaus, der Landwirtschaft auch die nötige Stellung in der Wirtschaft zu verschaffen und durch die Bündelung von Angebot und Nachfrage am Markt einen Gegenpol zu Industrie und Handel zu schaffen. Bei der Umsetzung seiner Konzepte allerdings gerät er zunehmend in Schwierigkeiten, was vorrangig mit der gegenüber der Vorkriegszeit stark veränderten Agrarstruktur zusammenhängt. Hatte sich schon in der Zwischenkriegszeit die Struktur der Landwirtschaft im Deutschen Reich aufgrund von Gebietsabtretungen und Kapitalknappheit, insbesondere im Bereich der Großlandwirtschaft, stark verändert, so steht Hermes in der jungen Bundesrepublik vor neuen Herausforderungen. Durch den Wegfall der mitteldeutschen Landwirtschaft und den Großbetrieben jenseits von Oder und Neiße hatte sich die Ausgangslage grundlegend verändert. Hermes sieht sich einer großen Anzahl kleinund mittelbäuerlicher Betriebe in West- und Süddeutschland gegenüber, die oft im Nebenerwerb bewirtschaftet werden, sowie nur wenigen Gebieten in Norddeutschland, die sich durch das Jahrhunderte lang konsequent praktizierte Anerbenrecht in größeren Einheiten erhalten haben. So laufen die Entwicklungslinien der Landwirtschaft in der jungen Bundesrepublik anders, wenn auch teilweise Konzepte, die in der Weimarer Zeit grundgelegt wurden, verwirklicht werden. Allerdings entspringen diese einem anderen Ideenkreis, der den Überlegungen, die Hermes anstellt, nicht (mehr) entsprechen. Wenngleich Bundeskanzler Konrad Adenauer die Einbindung der Landwirtschaft in die neue Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft ablehnt, so zeigt sich doch in den Folgejahren eine sukzessive Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Die westdeutsche Landwirtschaft wird unter der Idee der Strukturverbesserungen angepasst und auf den angestrebten europäischen Agrarmarkt vorbereitet.65 Hermes erlebt diese Zeit als wohl mächtigster Interessenvertreter der deutschen Landwirtschaft – die politischen Entscheidungen dagegen fällen andere, etwa die Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Wil-

65 Vgl. dazu ausführlich: Auswärtiges Amt (Hrsg.): Gutachten zu Fragen einer Europäischen Agrargemeinschaft, Bonn 1953.

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helm Niklas66 und Heinrich Lübke67, die in den ersten drei Kabinetten Konrad Adenauers die Landwirtschaftspolitik in eine andere Richtung lenken. Für ihn steht nach wie vor die Preispolitik, und damit die Angebotsseite, im Vordergrund. Er agiert weiterhin mit seinen Konzepten der 1920er Jahre, indem er argumentiert, dass nur durch hohe Preise ein ausreichendes Einkommen für die Landwirte erzielt werden kann. Den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung mit der Bundesregierung bildet wohl das von Hermes initiierte „Rhöndorfer Gespräch“ vom 17. Februar 1951, bei dem der Kanzler auf die Linie der Interessenvertreter der Landwirtschaft gebracht werden soll. Hermes versucht in diesem Zusammenhang Kanzler und Regierung davon zu überzeugen, dass nur durch die kräftige Anhebung des Agrarpreisniveaus eine langfristige Stabilität zu erreichen ist. Die „Sicherung der Landwirtschaft sollte“ – einmal mehr – „über den Preis erfolgen“.68 Kanzler Adenauer hingegen neigte eher dazu, einen Interessenausgleich herbeizuführen, der Erzeuger und Verbraucher gleichermaßen berücksichtigt. Diesen Weg lehnt Hermes erneut ab. Er geht noch weiter: Seine Forderung nach Kostendeckung und höheren Preisen für Agrarerzeugnisse erweitert er hin zu einer Forderung nach Parität, also nach gleich hohen Einkommen der Landwirtschaft im Vergleich zu Industrie und Handel. Die sogenannte Paritätsdebatte, die teilweise scharf und kontrovers geführt wird, soll eine staatlich garantierte, notfalls subventionierte Parität zum Ziel haben, um nicht zuletzt tradierte Strukturen innerhalb der Landwirtschaft zu erhalten. Insbesondere der DBV stellt diese Forderung nach Parität, die wohl im „Rhöndorfer Gespräch“ ihren Anfang nahm, auch noch weit über Hermes’ Präsidentschaft hinaus.69 Ziel der Bundesregierung dagegen ist es, die Landwirtschaft durch Strukturveränderungen, wie Flurbereinigung, Aussiedlung und Mechanisierung, inso-

66 Vgl. Ulrich Kluge: Vierzig Jahre Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Hamburg und Berlin 1989, darin insbes. „Die Ära Niklas (1949-1953)“, S. 85-164. 67 Vgl. ebd.: „Die Ära Lübke (1953-1959)“, S. 165-255; weiterführend Rudolf Morsey: Heinrich Lübke – Eine politische Biographie, Paderborn 1996. 68 Vgl. Theodor Sonnemann: Adenauer und die Bauern, in: Dieter Blumenwitz (Hrsg.): Konrad Adenauer und seine Zeit – Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Stuttgart 1976, S. 260-269, hier S. 269. 69 Vgl. ebd., S. 268: „Der Gedanke, den in der Landwirtschaft tätigen Menschen ein Einkommen zu garantieren, das dem vergleichbarer Berufsgruppen angepasst war, klang bereits an.“

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weit zu verändern, dass die Betriebe durch eine Intensivierung der Bewirtschaftung produktiver werden. Die durch die verbesserte Betriebsstruktur wegfallenden Arbeitskräfte werden von Industrie und Handel aufgesogen, mehr noch, die hohen Wachstumsraten der 1950er Jahre sind nur möglich durch eine erhöhte Abwanderung aus dem primären Sektor hin in sekundäre und tertiäre Bereiche. Bundeslandwirtschaftsminister Heinrich Lübke ist es vor allem, der diese Strukturreformen mit der ihm eigenen „Festigkeit“ umsetzt und dem die preisorientierte Angebotspolitik des Bauernverbandes zunehmend Unbehagen bereitet. Sein Ziel ist eine klein- und mittelbäuerliche Betriebsstruktur, die, als Familienbetrieb geführt, möglichst komplett auf Lohnarbeitskräfte verzichtet und auf arrondierten Betrieben intensiv wirtschaftet. Hermes dagegen scheint diesen Weg nur bedingt mitzugehen. Seine Bemühungen um die deutsche, zunehmend aber auch um die europäische Landwirtschaft, erfolgen in erster Linie als Interessenvertreter, der bewahrend wirkt. Sein Auftrag ist die Besserstellung der Landwirtschaft innerhalb der Volkswirtschaft mit den Mitteln des Interessenvertreters. Dass er diesen Auftrag annimmt, und ein mächtiger Vertreter seiner Berufsgruppe ist, zeigt er in den ihm übertragenen Ämtern bis ins hohe Alter. Bis in die 1960er Jahre hinein ist Andreas Hermes die Stimme der deutschen, ebenso wie der europäischen Landwirtschaft.70 4. Einheitsbefürworter – aus einer strukturkonservativen Haltung heraus Als Reichsminister in Weimar wird Hermes dem rechten Flügel des Zentrums zugerechnet, was nicht zuletzt seiner Nähe zur Landwirtschaft geschuldet sein mag, der in ihrer Struktur ein stark konservatives Moment mit großem Beharrungsvermögen in tradierten Lebensformen nachgesagt wird.71 Darüber hinaus – und das mag ebenso schwer wiegen – entfaltet Hermes ein stark christliches Moment in seinen Ideen. So erwirkt er 1931 die Umbenennung der Vereinigung der deutschen Bauernvereine in Verei-

70 Vgl. Johannes Hummel: Rundfunkansprache anlässlich des Todes von Andreas Hermes, in: Deutscher Bauernverband e.V./Deutscher Raiffeisenverband e.V. (Hrsg.): Andreas Hermes – Dem Gedenken eines großen Deutschen, Bad Godesberg und Bonn 1964, S. 26f. 71 Vgl. Rudolf Morsey: Die Deutsche Zentrumspartei (wie Anm. 21), S. 425.

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nigung der deutschen christlichen Bauernvereine.72 Dabei erkennt er schon früh, dass nicht eine konfessionelle Bindung sondern vielmehr das überkonfessionell „Christliche“ Grundlage politischen Handelns sein soll. Damit steht er im Gegensatz zur offiziellen Linie des Zentrums, die, als Konfessionspartei gegründet, traditionell die Interessen der katholischen Bevölkerung vertritt. In seiner Positionierung verdeutlicht Hermes, dass eine konfessionsgebundene Partei verschiedene Flügel entwickelt, die von den christlich-sozialen Interessen auf der einen, bis zu eher national-konservativen Vorstellungen auf der anderen Seite reichen. Vielleicht mag diesem Umstand das sowohl politisch als auch persönlich stark belastete Verhältnis zu Reichskanzler Joseph Wirth geschuldet sein, der zu jener Zeit einer der führenden Vertreter des Arbeitnehmerflügels des Zentrums ist. Wirth insbesondere ist es, der nicht nur gegen Hermes, sondern auch gegen Konrad Adenauer über die Differenzen in Sachfragen hinaus eine starke „persönliche Animosität“ aufbaut, die noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nachwirkt: „Für mich ist Adenauer der Reaktionär, dazu kommt Dr. Hermes, um das Maß voll zu machen.“73 Was eine konfessionsübergreifende christliche Politik angeht, so ist Hermes sicherlich ein Vorkämpfer, nimmt er doch schon hier einige der Ideen vorweg, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Erfolg der Union ausmachen sollten. Für Hermes persönlich ist der Glaube „unerschütterliche Richtschnur seines Lebens“. Diesen tief im Glauben begründeten Wertekanon hat er nie aufgegeben. So ist es aus seiner Sicht heraus nur konsequent, dass er mit der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten seine politischen Ämter niederlegt, war die Idee einer vom christlichen Glauben getragenen Politik mit der Ideologie der Nationalsozialisten nicht vereinbar. So sind es die christlichen Tugenden, die sein Denken und Handeln bestimmen, denen er alles weitere Tun unterordnet und die ihm immer wieder Richtung geben. In der Zeit des Nationalsozialismus – von den Regierenden zum Nichtstun verdammt – ist er es, der den Gedanken einer christlichen Politik weiterdenkt und deren Grundlagen er schon während der Zeit der ersten In-

72 Vgl. Yvonne Blatt: Andreas Hermes (wie Anm. 3), S. 302; Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 133; weiterführend Peter Hermes: Zusammenführen und Maßhalten – Andreas Hermes zum 125. Geburtstag, in: Die politische Meinung 48 (2003), Heft 7, S. 74-80, hier S. 75. 73 Joseph Wirth in einem Schreiben an Heinrich Köhler vom 26. November 1948 zitiert nach: Rudolf Morsey: Die Deutsche Zentrumspartei (wie Anm. 21), S. 452.

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haftierung 1933 entwickelt. Heinrich Lübke, ebenfalls der Landwirtschaft nahestehender Zentrumspolitiker und fast zeitgleich mit Hermes inhaftiert, erinnert sich zu dessen 80. Geburtstag: „Als wir uns später in verschiedenen landwirtschaftlichen Organisationen begegneten, waren wir nicht immer in allen Dingen einer Meinung. Das hat jedoch unseren gegenseitigen menschlichen Beziehungen keinen Abbruch getan. Aber dies war nur der Beginn, denn das Bindende und Schwere sollte erst später kommen. 1933 wurden Herr Dr. Hermes und ich verhaftet. […] Wir haben uns (nach unserer Freilassung) gelobt, immer nur miteinander, in keinem Fall mehr gegeneinander zu arbeiten, und das haben wir in den abgelaufenen 23 Jahren auch gehalten.“74 Die Idee einer überkonfessionellen christlichen Partei entwickelt er mit wenigen Eingeweihten im Rheinland schon vor dem 20. Juli 1944. Es soll eine Partei der Bürger, Bauern und Arbeiter gleichzeitig sein, auch der Name Union wird schon diskutiert.75 Die Zeit seiner zweiten Inhaftierung nach dem 20. Juli 1944, die Verurteilung zum Tode im Januar 1945 sowie die anschließende, rund 100-tägige „Todeshaft“ bis zur Freilassung Ende April 1945, haben Hermes zu einem „unerreichbar erscheinenden Vorbild der Tapferkeit und Gottergebenheit“ werden lassen. So resümiert sein Sohn Peter, sein Vater gehöre zu dem etwa ein Dutzend politischen Persönlichkeiten, die während dieser Zeit „mehr noch durch ihre Haltung als durch ihr Handeln prägendes Vorbild sein können“.76 Dem einzig verbliebenen Sohn mag dieses Lob gestattet sein. Verdichtet finden sich diese Leitlinien seines Lebens im von ihm an erster Stelle unterzeichneten Aufruf der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands vom 26. Juni 1945 wieder.77 Zwei Tage zuvor war die „Christlich-Demokratische Union feierlich aus der Taufe gehoben und mit einer Tasse echten Tees in gehobener Stimmung gefeiert“78 worden. Danach sind alle christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte Deutsch-

74 Heinrich Lübke: Rede anlässlich des 80. Geburtstag von Andreas Hermes in Bonn, in: Deutscher Raiffeisenverband (Hrsg.): Andreas Hermes 80 Jahre (wie Anm. 1), S. 29. 75 Vgl. Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 135f. 76 Peter Hermes: Zusammenführen und Maßhalten (wie Anm. 72), S. 78. 77 Faksimile als Zugabe zu Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10) überschrieben: „Deutsches Volk! In der schwersten Katastrophe, die je über ein Land gekommen ist, ruft die Partei Christlich-Demokratische Union Deutschlands aus heißer Liebe zum deutschen Volk die christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte zur Sammlung, zur Mitarbeit und zum Aufbau einer neuen Heimat.“ 78 Vgl. ebd., S. 208.

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lands dazu aufgerufen, den „Trümmerhaufen sittlicher und materieller Werte“, den der Nationalsozialismus hinterlassen hat, beiseite zu räumen und als „Kämpfer echter demokratischer Gesinnung den Weg der Wiedergeburt zu gehen“.79 Hermes sieht dafür alle Deutschen in der Verantwortung. Von Berlin aus versucht er, die Idee einer Union in die anderen Besatzungszonen hineinzutragen, um gemeinsam eine „Reichspartei“ zu etablieren. Dieser Versuch scheitert ebenso wie die Übernahme einer Führungsrolle in der CDU der Westzone nach seiner zwangsweisen Übersiedlung aus der SBZ nach Bad Godesberg. Dies mag nicht zuletzt an seinem angespannten Verhältnis zu Konrad Adenauer liegen, der in der Zwischenzeit zur unangefochtenen Führungspersönlichkeit der CDU in den Westzonen aufgestiegen war. Seine Politik der Westbindung ist nicht Hermes’ Politik. Er sieht Deutschland eher in einer Brückenfunktion zwischen Ost und West, und vielleicht lassen sich die politischen Ziele der beiden großen Kontrahenten dahingehend deuten, dass Adenauer zuerst die Freiheit und dann die Einheit im Blick hatte, wohingegen Hermes den Weg über die Einheit in die Freiheit gehen wollte. So formuliert Hermes auf dem Landesparteitag der CDU 1948 in Berlin: „Wir brauchen und wollen ebenso wenig einen Weststaat und eine Westregierung wie einen Oststaat und eine Ostregierung, da eine solche Entwicklung die verhängnisvolle Spaltung Deutschlands bedeuten würde.“ – Das war alles andere als die Sicht Adenauers. Hermes geht noch weiter, wenn er seine Rede mit den Worten schließt: „Wir, die entschlossenen Demokraten, müssen die Wiedervereinigung Deutschlands in die Hand nehmen, sonst gibt es früher oder später ein Unglück.“80 Aus heutiger Sicht sollten wohl beide, Adenauer wie Hermes, Recht behalten. Dieser deutlichen Positionierung von Hermes ist es geschuldet, dass er in der Bundesrepublik kein politisches Amt mehr annehmen sollte. Seine Nähe zum Nadolny-Kreis, der unmissverständlich die sofortige Einheit Deutschlands als Ziel einfordert, mag neben der Distanz zu Konrad Adenauer ein manifester Grund sein, warum Hermes sich nach Gründung der Bundesrepublik auf das Gebiet des Verbandswesens zurückzieht.81 Der Nadolny-Kreis war auf Hermes’ Initiative hin erstmalig in seinem Haus in

79 Ebd. 80 Andreas Hermes: Rede beim Landesparteitag der CDU in Berlin am 11. April 1948, zitiert nach: ebd., S. 261 und 264. 81 Theodor Sonnemann: Adenauer und die Bauern (wie Anm. 68), S. 268, bemerkt, dass Hermes „den Kanzler gemieden habe, wo er nur konnte“; noch deutlicher

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Bad Godesberg zusammengekommen und hatte sich als Gesellschaft für die Wiedervereinigung Deutschlands organisiert.82 Hermes, der zeitweise als Vorsitzender dieser Vereinigung fungiert83, definiert die Aufgaben zum einen in der „Wachhaltung der Verbundenheit in unserem Volke“, zum anderen in der „Aufklärungsarbeit nach innen und außen“ im Hinwirken auf eine Wiedervereinigung.84 Ziel ist die Herstellung einer deutschen Brückenfunktion zwischen Ost und West, die Hermes historisch begründet: „Deutschlands Geschichte ist mit dem Aufbau und der Formung des heutigen Europa aufs engste verknüpft und Jahrhunderte hindurch ein maßgeblicher Träger desjenigen Europa gewesen, das christliche Kultur und Gesittung über die Grenzen des alten römischen Reiches weit nach Osten und Norden getragen hat. Es wäre eine Preisgabe jahrhundertealter Errungenschaften, wenn die heute oft versuchte Einengung des europäischen Raumes Wirklichkeit würde.“85 Im Hinblick auf die mittel- und ostdeutschen Gebiete konkretisiert er dies: „Nicht Westdeutschland allein schuf diese Entwicklung. In Leipzig und Frankfurt/Oder bestanden bereits vor der Reformation deutsche Universitäten, in Magdeburg residierten die sächsischen Kaiser, Kant und Kopernikus lehrten und lebten in Ostpreußen, und aus der Thomaskirche in Leipzig ertönten die sakralen Klänge Bach’scher Fugen.“86

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Hermes selbst gegenüber Ernst Lemmer: „Adenauer ist ein unmöglicher Mann, ohne politischen Instinkt. Kurzum ein Oberbürgermeister.“ Zitiert nach Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 145. Vgl. Hans-Peter Schwarz: Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949 (Politica, Band 38), Neuwied/Berlin 1966, S. 758ff.; Alexander Gallus: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945 bis 1990, 2. Aufl., Düsseldorf 2006, S. 146-152. Schon im Herbst 1945 war Hermes der „Union der Aktiv-Kräfte gegen den Nazismus für ein lebendiges Abendland“, die später als „Occident-Union“ in Baden bekannt wurde, beigetreten und Präsidiumsmitglied geworden. Diese Mitgliedschaft hat er später nicht weiter verfolgt. Vgl. Jürgen Klöckner: Abendland – Alpenland – Alemannien: Frankreich und die Neugliederungsdiskussion in Südwestdeutschland 1945-1947, München 1998. Vgl. Andreas Hermes: Ansprache bei der Tagung der Gesellschaft für die Wiedervereinigung Deutschlands am 21. Januar 1950 in Bad Homburg v. d. Höhe, zitiert nach: Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 475-494, hier S. 483. Ebd., S. 481. Ebd., S. 491.

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Viel ist darüber diskutiert worden, warum Hermes nicht als Bundesminister in das Kabinett Adenauer eingetreten ist. So bemerkt zwar Peter Hermes, dass er für einen zweiten Platz nicht kandidieren wollte und er Adenauer auch geschrieben habe, dass er für ein Regierungsamt in der Bundesregierung nicht infrage käme.87 Adenauer selbst hat wohl nicht mit Hermes gerechnet, wenn er an ihn schreibt: „Die Frage der Ernennung des Bundesministers für Landwirtschaft und Ernährung macht mir Kopfzerbrechen. […] Da Sie auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen Organisation in so führender Stellung tätig sind, gestatte ich mir, Ihnen das mitzuteilen. Gleichzeitig möchte ich persönlich hinzufügen, wie sehr ich es bedauere, dass durch Ihre Verbundenheit mit dem Nadolny-Kreis es wohl nicht möglich ist, einen so hervorragenden Mann wie Sie für diesen Posten zu gewinnen.“88 Schließlich entspricht auch die Landwirtschaftspolitik in der Bundesrepublik nicht mehr Hermes’ ursprünglichen Ideen. Die Strukturverbesserungen, insbesondere in der Amtszeit Heinrich Lübkes und darüber hinaus, passen sich den Gegebenheiten der Bundesrepublik an, werten in der Landwirtschaftspolitik das Konsumenteninteresse spürbar auf, setzen eher auf klein- und mittelbäuerliche Betriebe und bereiten eine Europäisierung vor. Dazu bedarf es neuer Strukturen, doch Hermes argumentiert weiter in den Linien der Weimarer Zeit mit spürbarem Nachhall des ausufernden Protektionismus vor 1914. Er tut sich schwer damit, Strukturreformen als adäquates Mittel zu akzeptieren um die Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen.89 Dies war ihm schon einmal zum Verhängnis geworden, als es ihm auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise zwar gelang die Interessenverbände der Landwirtschaft in der Grünen Front zu einen, er jedoch veralteten Konzepten verhaftet blieb, die der Lösung der Situation kaum dienlich waren. Ist es Anfang der 1930er Jahre die Verschuldungskrise der Landwirtschaft, die sich durch die Haltung der Grünen Front eher verstärkt als entspannt, so ist es in den 1950er Jahren

87 Vgl. Peter Hermes: Zusammenführen und Maßhalten (wie Anm. 72), S. 80; Rudolf Morsey: Andreas Hermes (wie Anm. 2), S. 147. 88 Brief von Adenauer an Hermes vom 18. September 1949, zitiert nach Rudolf Morsey/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Adenauer – Rhöndorfer Ausgabe, Briefe 1949-1951, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1985, S. 108. 89 Vgl. Joachim Scholtyseck: Andreas Hermes (1878-1964), in: Institut für bankhistorische Forschung e.V. (Hrsg.): Sozialreformer, Modernisierer, Bankmanager – Biografische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens, München 2016, S. 271-287, hier S. 279.

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das Festhalten an einer ausschließlich angebotsorientierten Landwirtschaftspolitik die eher konservierend als innovativ wirkt.90 5. Hermes – was bleibt? Was immer Andreas Hermes tut, er tut es aus innerster Überzeugung. Er ist überzeugter Landwirt, Politiker und – ausweislich seiner vielen Reden – überzeugter Christ. Diese unerschütterlichen Grundlagen seines Lebens stehen für ihn nie zur Disposition. Er gilt eher als europäischer Deutscher denn als deutscher Europäer. Bei aller Weltgewandtheit betont er immer wieder die nationalen Interessen. So zitiert ihn einer seiner engsten Mitarbeiter, Johannes Hummel, mit den Worten: „Jede internationale Zusammenarbeit unserer Landwirtschaft muss der Rücksichtnahme auf unsere eigenen Lebensinteressen untergeordnet bleiben.“91 Und Hermes geht noch weiter, wenn er an seinem 80. Geburtstag bemerkt: „Darum geht es nicht, dass man sein eigenes Land vergisst, seine Nöte und seine Sorgen, die man besonders kennt und begreift. Wenn man glaubt, dies vernachlässigen zu können, um ein allgemeines europäisches Ideal an seine Stelle zu setzen, so ist das ein Irrweg.“92 Hermes ist weder rechts noch links, denn er weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, dass politische Extreme, egal aus welcher Richtung, immer gefährlich sind. Er gilt als konservativ, auf spezielle Weise.93 Dies gründet zum einen auf seiner Überzeugung als Christ sowie der uneingeschränkten Gültigkeit jener Lebensform, die mit Kultur und Werten des Abendlands beschreibbar sind: „Wir rufen nach der Wiedervereinigung Deutschlands, weil wir in tausendjähriger Geschichte eine geistige Haltung, eine Kultur- und Lebensform erworben haben, die uns zu einem maßgeblichen Faktor der abendländischen Gesittung gemacht haben. […] Das deutsche Volk kann nicht zu einem organischen Wiederaufbau seines in den letzten Jahrzehnten zerstörten geistigen und kulturel-

90 Vgl. etwa Heinrich Brüning: Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, S. 249-254. 91 Andreas Hermes, zitiert nach Johannes Hummel: Rundfunkansprache (wie Anm. 70), S. 27. 92 Andreas Hermes: Rede zu seinem 80. Geburtstag in Bonn, in: Deutscher Raiffeisenverband (Hrsg.): Andreas Hermes 80 Jahre (wie Anm. 1), S. 67. 93 Kurt Schumacher zählt Hermes zum deutschnational ausgerichteten Flügel der CDU, der „für die traditionelle, mit der russischen Kugel spielende Politik der Mittellage“ steht – vgl. Hans-Peter Schwarz: Vom Reich zur Bundesrepublik (wie Anm. 82), S. 501.

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len Lebens gelangen in der Gespaltenheit, in der es heute gehalten wird, da jeder Teil unter den Einfluss fremder Lebensformen geraten ist.“94 Zum anderen gründet sie auf seinen Überzeugungen als akademischer Landwirt, für den Landwirtschaft und Bauerntum untrennbar zusammengehören. Die Struktur einer bäuerlichen Landwirtschaft hat für ihn Priorität vor allen anderen Formen. Mit gleicher Leidenschaft kämpft er in den 1920er Jahren gegen kapitalistische Tendenzen in der Entwicklung der Landwirtschaft wie nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die sozialistische Bodenreform in der SBZ. So bemerkt Bundesminister Ernst Lemmer 1964: „Es musste zum Konflikt kommen mit den neuen Machthabern aus dem Osten, die glaubten, das deutsche Volk von seiner geschichtlichen und kulturellen Entwicklung in der abendländischen Kultur loslösen zu können.“95 Mit der eher am Konsumenten orientierten Agrarpolitik in der Bundesrepublik tut er sich ebenso schwer wie mit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Hermes’ Vorstellung einer Landwirtschaft gründet im Kaiserreich und festigt sich in den Extremsituationen der Weimarer Zeit. Dabei geht es immer um Schutz. Hermes will die Landwirtschaft schützen, vor den Kapitalisten, vor den Nationalsozialisten und vor den Kommunisten. Dieser Schutz geht noch weiter, wenn er als Interessenvertreter die Landwirtschaft vor dem Markt, das heißt vor den Interessen des Konsumenten, schützen will. Dieser Schutzgedanke lässt ihn nicht zuletzt – und vielleicht auch unbewusst – zum Bewahrer werden. Er will die Strukturen bewahren und wirkt strukturkonservativ, wenngleich sie sich um ihn herum verändern. Dieser Gedanke verbindet ihn mit vielen Politikern der Weimarer Republik: Er hält an seinen Überzeugungen und Idealen fest und wirkt in der Bundesrepublik schließlich wie aus der Zeit gefallen.96 Doch er bleibt – semper idem – immer ein Pragmatiker mit Blick für lange Zeiträume. Fast visionär wirkt sein Zitat von 1958: „Nur eine europäische

94 Andreas Hermes: Ansprache bei der Tagung der Gesellschaft für die Wiedervereinigung, zitiert nach: Fritz Reichardt: Andreas Hermes (wie Anm. 10), S. 491. 95 Ernst Lemmer: Ansprache anlässlich des Todes von Andreas Hermes, in: Deutscher Bauernverband e.V./Deutscher Raiffeisenverband e.V. (Hrsg.): Andreas Hermes – Dem Gedenken eines großen Deutschen, Bad Godesberg/Bonn 1964, S. 12f. 96 Vgl. Klaus Dreher: Der Weg zum Kanzler – Adenauers Griff nach der Macht, Düsseldorf/Wien 1972, S. 53f.: „Es war, als hätten sie [die Politiker] ihre Richtschnur verloren und als wäre auch die Zeit über sie hinweggegangen.“

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Gemeinschaft, die vom Geiste allseitiger Loyalität und Opferbereitschaft erfüllt ist, wird die Gewähr der Dauer in sich tragen.“97

97 Hermes, zitiert nach Johanns Hummel: Rundfunkansprache (wie Anm. 70), S. 27.

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1. Einführung Angesichts zunehmender Fliehkräfte in der deutschen Gesellschaft der Gegenwart sei es, wie Jan-Werner Müller rät, an der Zeit, sich „deutlicher über die symbolischen und moralischen Grundlagen des Gemeinwesens zu verständigen“.1 Warum suchen pluralistische Gesellschaften nach Selbstvergewisserung, nach Gemeinsamkeiten, nach „gewachsenen“ und praktischen Werten? Ähnliche Fragen ventilierte Arnold Bergstraesser im amerikanischen Exil, wodurch seine Antworten auf intellektuelle Debatten der frühen Bundesrepublik auf doppelte Weise Achtung erfuhren: Bergstraesser stand authentisch für den Blick auf die Kulturgeschichte im Angesicht des NS-Regimes (dessen Perfidität ihm die Heidelberger Stelle gekostet hatte), also für die Suche nach historischen Beispielen für den Umgang mit krisenhaften Erscheinungen; Bezüge fand er vor allem in der klassischen Literatur. Er stand – neben diesem europäischen Erzählstrang – für einen konstruktiven Umgang mit der Lebenserfahrung in Amerika, für jene atlantische Sicht also, die Westdeutschland nach 1945 zu prägen begann: die Wertschätzung kanonischer Denker, pragmatische Politik und das Gefühl, in der Kontinuität einer Ordnung zu leben, deren Grundlage nichts anderes als die „abendländische“ Kultur bildete (nicht mehr, wie in der Zwischenkriegszeit, mit dem Rhein als Trennlinie). Verfahrensfragen waren ihm, anders als etwa Theodor Eschenburg, der 1956 einen Band zum politischen System der neuen Republik2 publiziert hatte, weniger wichtig. Bildung und „Daseinsführung“ gehörten zu seinen Stichworten.

1 Jan-Werner Müller: Woran man sie erkennen kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Mai 2016, S. 11. 2 Vgl. Theodor Eschenburg: Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 1956.

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Dem jugendbewegten Heidelberger Nationalökonomen und Kultursoziologen3 mit Interesse für literarische Zirkel4 und deren ebenso elitäre wie – im Innern – weltbürgerliche Haltung ging es stets um das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt: In der von vielen Konservativen zunächst als fragil eingeschätzten Bundesrepublik, die schneller mit der Demokratie des Grundgesetzes zurechtkam als es die Einstellung vieler Menschen erwarten ließ, fußte Bergstraessers Zeitdiagnose auf der „Geistesgeschichte seit Platon“5, weshalb ihn viele Studenten im damals provinziell wirkenden Freiburg als Universalgelehrten ansahen. Ausweislich der Erinnerung seiner Schüler6 spielte bei Bergstraesser nach 1954 die eigene Vergangenheit keine Rolle. Wer in seinen Schriften der späten Schaffensjahre – er wirkte genau zehn Jahre in Freiburg – blättert, findet keinerlei Reflexion über die Position in der Zeit akademischer Kämpfe an der Universität Heidelberg 1932/33 und die Haltung zum Nationalsozialismus.7 In den meisten Texten geht Bergstraesser hingegen auf die Verantwortung des Einzelnen ein, die nur mit ausgeprägter Urteilskraft wahrgenommen werden könne.

3 Vgl. Günter C. Behrmann: Arnold Bergstraesser, in: Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 103-124; Sebastian Liebold: Das politische Bild vom citoyen. Arnold Bergstraessers Staat und Wirtschaft Frankreichs zwischen Kultursoziologie und Politikwissenschaft, in: Manfred Gangl (Hrsg.): Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2008, S. 311-338. 4 Vgl. Günter C. Behrmann: Arnold Bergstraesser, die Heidelberger Staats- und Sozialwissenschaften und Georges „Staat“ im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Bruno Pieger/Bertram Schefold (Hrsg.): „Kreis aus Kreisen“. Der George-Kreis im Kontext deutscher und europäischer Gemeinschaftsbildung, Hildesheim 2016, S. 475546. 5 So Ekkehart Krippendorff am 25. Juli 2016 im Gespräch mit dem Verfasser. 6 Dies bekundeten Dieter Oberndörfer am 13. September 2016 und Hans-Peter Schwarz am 8. Dezember 2016 im Gespräch mit dem Verfasser. 7 Bergstraesser war Mitglied der Kommission, die dem badischen Kultusminister 1932 die Entlassung des pazifistischen Mathematikers Emil J. Gumbel vorschlug; vier seiner Schriften zeugen von Faszination für NS-Ideen, vgl. Arnold Bergstraesser: Nation und Wirtschaft, Hamburg 1933; ders.: Die geistigen Grundlagen des Nationalbewusstseins in der gegenwärtigen Krise, Stuttgart/Berlin 1933; ders.: Staat und Erziehung, in: Hochschule und Ausland 11 (1933), Heft 9, S. 6-10; ders.: The Economic Policy of the German Government, in: International Affairs 13 (1934), S. 26-46.

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„Gab es denn in der frühen Bundesrepublik einen konservativeren Intellektuellen als Arnold Bergstraesser?“ Diese Aussage-Frage gab mir ein Hamburger Historiker mit auf den Weg, als ich mich an diesen Beitrag setzte. Kritik an dem schillernden Politikwissenschaftler, der bei seinem Tod 1964 einhellig positive Nachrufe bekam, gab es vor allem seit den 1980er Jahren: War Bergstraesser aufgrund seiner Positionen nicht ein ewig Gestriger, verhaftet im autoritär begriffenen Demokratieverständnis der Heidelberger Staatswissenschaft der 1920er Jahre?8 Ein Chemnitzer Historiker deutete mir an: Bergstraessers Texte sind bloße Rhetorik, also nur „schöne Literatur“ und damit Teil eines integrierenden Narrativs, das zu Beginn der bundesrepublikanischen Ära – etwa im Europagedanken und mit Goethe – helfen wollte, die nahe Vergangenheit zu übertünchen und der Gegenwart eine gemeinsame Richtschnur zu geben.9 Wie konnte ein solcher Mann (vor allem als Redner) eine so große Wirkung erzielen? Er war Gründer vieler Institutionen, Impulsgeber für das Schulfach „Gemeinschaftskunde“10, Lehrer einer großen Schülerschar, aber vor allem „lieferte“ er den passenden Stoff für die Deutschen in der Nachkriegszeit: Indem er moderne Mitteilungsformen wie das Radio nutzte, war es ihm möglich, sowohl in der Art wie im Inhalt den „Nerv“ vieler auf Besinnung und Ausgleich Hoffenden zu treffen. Seine Zeitdiagnose kam an, vielleicht gerade deshalb, weil sie verschiedene Interpretationen zuließ. Als der OstWest-Gegensatz auf dem Höhepunkt war, punktete Bergstraesser – so mei-

8 Claus Dieter Krohn: Der Fall Bergstraesser in Amerika, in: Thomas Koebner u. a. (Hrsg.): Das jüdische Exil und andere Themen (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 4), München 1986, S. 254-275; Günter C. Behrmann: Deutsche Nachkriegspolitologen in der Nationalsozialistischen Diktatur: Arnold Bergstraesser, in: Hubertus Buchstein (Hrsg.): Die Versprechen der Demokratie. 25. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden 2013, S. 431-466. 9 Einen Überblick über die Europagedanken der 1950er Jahre bietet u. a. FrankLothar Kroll: Probleme und Perspektiven einer Europäischen Geschichte, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.): Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Erlangen 2014, S. 19-51, hier S. 47-49; besondere Nähe zu Bergstraesser weist u. a. das Werk von José Ortega y Gasset auf, dazu Birgit Aschmann: Der Kult um den massenphobischen spanischen Geistesaristokraten Ortega y Gasset in den 1950er Jahren, in: Axel Schildt (Hrsg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 28-55. 10 Vgl. Joachim Detjen: Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung, Baden-Baden 2016, vor allem S. 103-162.

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ne Eingangsthese – mit unstrittigen Common-Sense-Positionen: Europa war für ihn eine alte Idee, die Freiheit der „Kitt“ der westlichen Welt, umgekehrt Unfreiheit ein Kennzeichen der kommunistischen Staaten, die es anzuprangern galt. In diesem hoch ideologisiertem Intervall des 20. Jahrhunderts versuchte Bergstraesser (1896-1964) eine demokratische Normenbildung: Sein Verständnis des Faches Politikwissenschaft ist zwar, da er kein Lehrbuch verfasste, nur als Summe der kleineren Texte beschreibbar, doch stehen mit Rekurs auf klassische Bildungstraditionen, auf tradierte Werte wie die persönliche Verantwortung des Menschen vor Gott gegenüber den Mitmenschen, auf Machtausgleich und kultureller Toleranz die Determinanten seines Weltbildes fest. Die These vom konservativen Humanismus als einer Integrationsidee der frühen Bundesrepublik lässt sich inzwischen mit dem Auge des Historikers sehen, weil jene Gedanken zu keinem Begründungszusammenhang der Gegenwart mehr gehören.11 Dabei ist Bergstraessers synoptisches Wissenschaftsverständnis – so lautet meine zweite These – mit „großen Linien“ und wenigen Belegen, zu dem eine charismatische Ausstrahlung und organisatorisches Geschick kamen, ein Erfolgsrezept, das – mit Sinn für den Zeitgeist – den „mittleren Zuhörer“ gewinnen konnte. In der Breitenbildung, in Politik und Wirtschaft reüssierte er mehr als unter Kollegen. So lässt sich auch die schnell abflachende Rezeption nach Bergstraessers Tod – zumindest vorläufig – erklären. Das hier verfolgte werkbiographische Herangehen bietet die Möglichkeit, Antworten auf verdichtete Fragen einer „Intellectual History“ der Bundesrepublik zu finden: Welche Netzwerke sind um die Person Bergstraessers herum rekonstruierbar? Gab es spezifische Strategien, die Inhalte an den Adressaten zu bringen? Wie unterscheiden sich die „Rollen“, die Bergstraesser im Umgang mit Wissenschaft, Bildungseinrichtungen, mit Politik und Gesellschaft einnahm?12 Eine Person in ihrem Zeitalter zu verstehen, macht Denkwege nachvollziehbar, die Schranken wie Neuerungen augenfällig werden lassen: etwa

11 Zur Historisierung der frühen Bundesrepublik, deren Wertebasis nicht mehr der heutigen entspricht, siehe Sebastian Liebold: Das Alter der Bundesrepublik. Theodor Eschenburg und die helle Gegenwart, in: Mut 49 (2014), Heft 1, S. 61-63. 12 Biographieforschung als Zweig der Intellectual History resümieren Frank Schale/ Sebastian Liebold: Intellectual History der Bundesrepublik. Ein Werkstattbericht, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 16 (2016), S. 97-119.

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die Abwendung von der im Heidelberg der 1920er Jahre „modischen“ Kulturkritik und die Hinwendung zur konstruktiven Anthropologie, die klassische Bürgerideale mit demokratischen Regeln im „Atomzeitalter“ verband. Der Blick geht damit über die Person hinweg: Woher kamen Bergstraessers Ideen, welche eigenen Ideen „überlebten“ ihn? Der als schwach apostrophierte theoretische Ansatz, ein Amalgam13, das ein lebensweltliches Harmoniebedürfnis angesichts der Zerrissenheit (gemäß der zweiten These) spiegelt, wird als Suche nach Halt in überdauernden Werten verständlich. 2. Ideenwelt eines atlantischen Humanismus Im 17 Jahre dauernden Exil hatte Bergstraesser gelernt, beharrlich an seinen Überzeugungen festzuhalten, andere zu überdenken. Diese Fähigkeiten nützten ihm in den Gründungsjahren der Bundesrepublik, als Anknüpfungspunkte der neuen Demokratie öffentlich ausgehandelt wurden. In Debatten zwischen Emigranten und Dagebliebenen konnte er eine vermittelnde Position einnehmen, weil er einerseits für die Fährnisse des Exils stand, andererseits für ein positives Verhältnis zum Vaterland, für Bildungstraditionen und Kenntnis der „Klassiker“, für alles, was als bürgerlich galt: Als gesellschaftlicher Kristallisationspunkt hatte er öffentlichen Einfluss, nicht zuletzt in militärischen Kreisen. Eine „liberalkonservative Bürgerlichkeit“14, den bald so gefassten habituellen Konsens der Adenauerzeit, hatte er zuvor recht ähnlich in Chicago erlebt. Obgleich er klar zu den „Atlantikern“ zählt, geriet er nicht in (harten) Widerspruch zu „gaullistischen“ Amerikakritikern unter den europäischen Konservativen – insofern kommt mir das Gegensatzpaar „Abendland und Amerika“15 bei ihm wie ein Kunstgriff vor. Anhand von Bildungs- und Seminarplänen lässt sich – für Bergstraessers Umfeld – sagen: Abendländische Auffassungen teilten fast alle gelehrten Köpfe etwa um Robert M. Hutchins in Chicago, 13 Ansätze in den Schriften wertet sorgfältig aus Joachim Detjen: Elemente politischer Philosophie im Denken Arnold Bergstraessers, in: Lothar R. Waas (Hrsg.): Politik, Moral und Religion – Gegensätze und Ergänzungen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Graf Ballestrem, Berlin 2004, S. 245-282. 14 Jens Hacke: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, S. 102. 15 Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.

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der für die Berufung von (teils deutschstämmigen) Professoren sorgte, die sich als Humanisten verstanden.16 Dort war Bergstraesser 1944 im Buch „Germany – a short history“17 (mit George N. Shuster) für die Achtung des „anderen“ Deutschlands eingetreten, für den Geist der Reformation, der Aufklärung und der – nicht totalitär ausgearteten – Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert. Den historischen Ansatz untermauerte er mit zwei Goethebüchern und vielfältigen Aktivitäten in der deutschen Community, zu der u. a. Wilhelm Pauck, Max Rheinstein, Werner Richter und Hans Rothfels gehörten.18 Die Emigranten führten eine emotionale Wertedebatte, nicht zuletzt, weil sie überwiegend von der NS-Verwaltung entlassene Wissenschaftler waren; ein normatives Fachverständnis teilten alle. Unter der Frage „Wie soll eine gute Gesellschaft aussehen?“ äußerten sich deutschstämmige Professoren 1947 von Chicago aus zur in den „Westzonen“ geplanten Bildungsreform: Sie votierten für das humanistische Gymnasium und gegen die CollegeStruktur.19 Bergstraesser versuchte bald nach Kriegsende, kollegiale Kontakte in Deutschland zu reaktivieren, sammelte Informationen über die Lage an den Universitäten und unternahm Anstrengungen zur Rückkehr: 1946 korrespondierte er mit Wilhelm Fehling, damals Kurator der Universität Kiel und – wie Bergstraesser – in den 1920er Jahren eng mit der Rockefeller Foundation in Kontakt.20 Ähnlich wie Carl J. Friedrich pendelte er dann eine Zeit lang zwischen Chicago und Deutschland: zuerst – im

16 Hutchins, von 1929 bis 1950 Präsident der Universität am Lake Michigan, kann als kongenialer Geist Bergstraessers gelten, da seine Mühen um ein breites Studium generale (Grundlagen der „Humanities“) mit Bergstraessers Ideen der „Synopse“ als Basis menschlicher Urteilskraft zusammenpasste; vgl. Anne H. Stevens: The Philosophy of General Education and Its Contradictions. The Influence of Hutchins, in: The Journal of General Education 50 (2001), S. 165-191. 17 Arnold Bergstraesser/George N. Shuster: Germany – a short history, Chicago 1944; der Band ging aus der landeskundlichen Tätigkeit beim „Army Specialized Training Program“, einer Art von Crashkurs in deutscher Geschichte und Kultur für Offiziere, hervor. 18 Zu den Goethebüchern und dem weiteren Wirken in Amerika Sebastian Liebold: Arnold Bergstraesser und Fritz Caspari in Amerika, in: Frank Schale u. a. (Hrsg.): Intellektuelle Emigration. Zur Aktualität eines historischen Phänomens, Wiesbaden 2012, S. 89-110. 19 13 German born professors at the University of Chicago yesterday issued an attack, in: Chicago Daily Tribune vom 27. März 1948, S. 5. 20 Während Karl Brandt ihm zuriet, wandte sich Eugen Rosenstock-Huessy gegen Kiel, wie Günter C. Behrmann mir in Kenntnis der Kieler Akten mitteilte.

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Rahmen eines von Max Horkheimer initiierten Austauschs – nach Frankfurt am Main, dann 1952/1953 nach Erlangen, wo er u. a. Dieter Oberndörfer und Kurt Sontheimer unterrichtete. Am zweiten Ort konnte er die Amerikakunde durch engen Kontakt mit dem Amerikahaus und dem Aufbau einer Bibliothek über Jahre festigen. Doch die Verhandlungen um eine ordentliche Professur gestalteten sich schwierig, bevor ihm die Universität Freiburg eine Doppelnomination „Politikwissenschaft und Soziologie“ anbot; für ihn verwandte sich dort u. a. der Agrarökonom und NS-Gegner Constantin von Dietze. Bergstraesser, der hart um eine gute Ausstattung der Professur verhandelte, fühlte sich 1954 in Freiburg – mit 58 Lebensjahren – endlich „angekommen“, was sich u. a. im bald in Angriff genommenen Hausbau zeigte. Wer die Berufungsakten nachliest, stellt indes fest: Bücher für das Fach im modernen Sinne hatte er – abgesehen von einem Frankreichband 1930 – nicht vorgelegt.21 Neben dem Deutschlandbuch von 1944 konnte er lediglich zwei Bände zu Goethe in die Waagschale werfen.22 Der Entzug der Lehrbefugnis in Heidelberg 1935, die Entlassung 1936 und die zunächst schwache Position von 1937 an im kalifornischen Exil forderten ihren Tribut. Was macht einen „atlantischen Humanismus“ aus, warum ist er bei Bergstraesser konservativ gefärbt? Dazu stelle ich das in Chicago präzisierte Wissenschaftsverständnis des Netzwerkers und Organisationstalents vor, ehe ich auf Werthaltungen eingehe, die diesem zugrunde liegen. Die auf philosophische Klassiker ausgerichteten „Humanities“ der Universität Chicago verstärkten (seit der Anstellung 1944) Bergstraessers Besinnung auf Kulturtraditionen, die passfähig waren für das „westliche“ Leben. Ob die Themen in Amerika Anklang fanden, konnte er durch die „Goethe Bicentennial Convocation“ 1949 in Aspen „testen“: In den Bergen von Colorado kamen Ernst Robert Curtius, José Ortega y Gasset, Albert Schweitzer und andere Geistesgrößen zusammen, um über die Aktualität von Goethes Menschenbild und Staatsverständnis zu sprechen. Zwei Dinge wurden für Bergstraesser und seine Kollegen wichtig: die literarische Überlieferung als Ausdruck einer historischen Wahrheit und der weltbürgerlich geprägte Bildungsgedanke mit seinen Möglichkeiten, den Menschen nach dem ver-

21 Vgl. Sebastian Liebold: Das politische Bild vom citoyen (wie Anm. 3). 22 Arnold Bergstraesser: Goethe’s Image of Man and Society, Chicago 1949 (bei Herder 1962 unverändert in engl. Sprache aufgelegt); ders. (Hrsg.): Goethe and the Modern Age, Chicago 1950.

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heerenden Krieg wieder Halt und Orientierung zu geben.23 Im Goethebuch von 1949 verwendete Bergstraesser das deutsche Wort „Ursprünglichkeit“ mit dem Nachsatz: „The German prefix ur carries connotations not only of time but of value.“24 In der Sturm-und-Drang-Zeit habe der Dichter seinen Freiheitsbegriff als „new order“ verstanden, der tiefe geschichtliche Wurzeln hatte: „Goethe’s first visit to the cathedral of Strassburg revealed to him the normative power of genius together with the role of art in mediating between the gods and men.“25 Wie zeitlos Bergstraesser das Werk des Weimarer Dichters sah, wird in dem kleinen Aufsatz „Goethe und unsere Zeit“ deutlich. Er überrascht zunächst mit dem Befund: „Goethe und sein Werk sind nicht mehr etwas Selbstverständliches, das man feiern könnte wie einen gesicherten Besitz.“26 In einem Dreischritt nähert sich der Exil-Literat der These: Goethe lieferte dem „Hunger“ nach überzeitlichen Werten und nach einer Synopse von alldem, was nicht totalitäre Züge trug, die passenden Texte – weil der Weimarer Dichter erstens allgemein Menschliches selbst angesprochen hat, weil zweitens die Wissenschaft „neu an die Texte herantrat“ (ein dezenter Hinweis auf Aspen), mit anderen Worten: eine Relektüre vornahm, und weil drittens auch die vehementesten Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht an Goethe vorbei kämen. Forscher, betont Bergstraesser, sähen in Jugend, Mannesalter und im weise wirkenden Greis eine „Einheit des Werdens“. Zusammen halte das Werk die „religiöse Lebenskrise“, eine Seinsfrage oder „Existenzphilosophie“ und die Erkenntnis, der „Mensch sei bestimmt zur Frucht“.27 Die Selbstverwirklichung geschehe

23 Nach der Idee von Bergstraesser und Mortimer J. Adler fand sich unter großzügiger Förderung des Industriellen Walter P. Paepcke etwa Martin Buber bereit, für den Band „Goethe and the Modern Age“ kultur- und religionsgeschichtliche „Remarks on Goethe’s Concept of Humanity“ zu liefern, Ernst Robert Curtius eine Rede über „Medieval Bases of Western Thought“; William E. Hocking parlierte über „Binding ingredients of Civilization“, José Ortega y Gasset denkbar vage „Concerning a Bicentennial Goethe“; Robert M. Hutchins fasste die Tagung zusammen unter „Goethe and the Unity of Mankind“. 24 Arnold Bergstraesser: Goethe’s Image (wie Anm. 22), S. 54 (Hervorhebung im Original). 25 Ebd., S. 62 (meine Hervorhebung). 26 Arnold Bergstraesser: Goethe und unsere Zeit, in: Monatshefte 42 (1950), Heft 2, S. 77-88, hier S. 77 – ein Resümee des Jubiläumsjahres. 27 Ebd., S. 82-84. Ähnliche Gedanken entwickelte er im Beitrag für die von Werner Conze edierte Festschrift für Hans Rothfels: Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes, Düsseldorf 1951.

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durch das Annehmen des Lebens, so wie es ist, und durch verantwortliches Tätigsein. Aus der „spiritualitischen Naturphilosophie“ heraus habe Goethe Natur und Geist als gleichen Ursprungs gesehen – und daher nicht nur gedichtet, sondern u. a. auch Farbenlehre betrieben. Bergstraesser nutzt für Goethes Methode den Begriff „organisch“ (im Gegensatz zu „mechanisch“); sie sei einer „Synthese“ zugewandt.28 Gegen Kritiker verteidigt er die Gründung humaner Beziehungen auf Metaphysik und Natur: Kunst lediglich der Schönheit wegen zu betrachten, bedeute ein Abgleiten ins Ästhetische – das „empirisch positivistische Verfahren“ der Moderne habe die Kunst als „bloße Subjektivität“ verstanden und so „ihres Symbolgehalts wie ihrer Gesetzlichkeit beraubt“. Goethes Denken eigne – darin stimmt er, wie ein Blick auf Werke zeigt, mit Theoretikern wie Jacques Maritain oder Leo Strauss überein – ein im Naturrecht wurzelnder Wahrheitsbegriff. Wie manch anderer politischer Theoretiker findet der Denker-Pragmatiker Bergstraesser nach den Wirren des Krieges Halt in solchen Ansichten, die eine Verschmelzung von deutschen literarischen Traditionen mit Eindrücken vom amerikanischen Geistesleben (etwa zur Rolle des Individuums, den Freiheitsrechten, dem christlichen Erbe, dem Bildungsanspruch gemäß menschlichen Fähigkeiten) als Erneuerung der bei Alfred Weber erprobten Kultursoziologie erlaubte. Neuhumanistisch kann daher die Ideenwelt genannt werden, mit der Bergstraesser nach Deutschland zurückkehrte.29 Die Tages- und Weltpolitik, in Freiburg später zentral für ihn, kam in diesem Denken kaum vor; sein unpolitischer Charakter muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Kritik aus dem Weg zu gehen. Ein Schlüsseltext dieser Suche nach einem Ausgleich von Tradition und Moderne ist die Rede „Hofmannsthal und der europäische Gedanke“, mit der Bergstraesser sich unter die Europa-Interpreten mischte.30 Welche bio-

28 Arnold Bergstraesser: Goethe und unsere Zeit (wie Anm. 26), S. 85. 29 Eine in diesem Geiste verfasste Arbeit stammt aus der Feder seines Schülers und engen Freundes, dem späteren Leiter des Bundespräsidialamtes und Botschafters in Portugal; vgl. Fritz Caspari: Humanismus und Gesellschaftsordnung im England der Tudors, Bern 1988 (engl. Original: Humanism and the Social Order in Tudor England, Chicago 1954); beide gaben in Chicago die Deutschen Beiträge zur geistigen Überlieferung heraus. 30 Arnold Bergstraesser: Hofmannsthal und der europäische Gedanke (Kieler Universitätsreden 2), Kiel 1959 – gehalten 1951 während der „Wanderjahre“; Entwurf in University of Chicago Libraries, Special Collections: Presidents’ Papers 19451950, Box 18, Mappe 10.

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graphischen Ursachen die Beschäftigung mit Hofmannsthal hatte, konnte Fritz Caspari erklären: Bergstraesser und er waren seit Heidelberger Tagen mit Heinrich Zimmer befreundet, dessen Frau die Tochter Hugo von Hofmannsthals war.31 Beide sahen in dem Gegenspieler von Stefan George einen „Wertesucher“ – Hofmannsthal konnte als „positiver“ und „politisch denkender“ Kopf die erstrebte Modernisierung und Demokratisierung der Kulturkunde flankieren.32 Wie Goethe habe Hofmannsthal, berufen, „geistige Maßstäbe zu verwalten“ (wo die Politik dies verworfen hatte), das „fließende Leben mit der zeitlosen Wahrheit“ verbunden. In der Sprache des Dichters habe sich die „Erneuerung der Maßstäbe kulturellen Lebens“ angedeutet.33 Die Suche nach Halt durch die Literatur knüpft an einen Satz an, den Bergstraesser ganz ähnlich 193834 geäußert hat: „Die Frage nach den Werten des Lebens entspringt bei [Hofmannsthal] einem sicheren Gefühl für ihre Verborgenheit und Gefährdung.“ Immer wieder geht es im Text um die „Einheit der abendländischen Überlieferung“ – was mit dem „Verfall der geistigen Kräfte“ in der Zeit des Totalitarismus genau gemeint war, bleibt im Ungefähren. Konstruktiv ist indes jene Kritik am Nationalstaat (vor dem Hintergrund der Vita Hofmannsthals im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarns), die Bergstraesser angesichts der europäischen Einigungsmühen im Sinne der Nachkriegsordnung als nötig ansieht: Für ihn war es paradox, dass Staaten noch auf Reservatrechten beharrten. In Hofmannsthals Personenkonstellationen sei die Idee eines „übernationalen Verbandes“ greifbar – Bergstraesser wünschte sich demgemäß eine „Einsicht in diesen aufbauenden und erneuerungsfähigen Kern der abendländischen Welt“ und eine „Wirkung des Geistes auf die politische Gestalt des Völkerlebens“. Ähnlich wie Ortega y Gasset35 sprach Bergstraesser zugleich präzise von den Traditionen und den Chancen von deren Erneuerung und vage von konkreten Schritten dahin – Texte etwa zur frühen Integration nach den Römischen Verträgen 1957 publizierte der im nämlichen Jahr als Dekan mit der 500-Jahrfeier der Universität Freiburg Beschäftigte nicht. In-

31 So Fritz Caspari (1914-2010) im Juli 2008 gegenüber dem Verfasser. 32 Dies gab Bergstraesser seinen Schülern mit auf den Weg, so Dieter Oberndörfer im Gespräch mit dem Verfasser. 33 Zitiert nach der Entwurfsfassung (wie Anm. 30), ebenso das Folgezitat. 34 Arnold Bergstraesser: On being responsible, in: Scripps College Bulletin 13 (1938), Heft 1, S. 23-37. 35 Dazu Birgit Aschmann (wie Anm. 9).

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des fand er sich in „guter Gesellschaft“ mit Positionen vieler konservativer Politiker, namentlich denen Adenauers: Da Europa nicht primär eine Verbindung von Nationalstaaten werden sollte (wie Charles de Gaulle es wollte), sondern ein „übernationaler Verband“ mit fester transatlantischer Bindung, konnte Bergstraesser bei seinen Auftritten mit humanistischen Werten reüssieren. Er wirkte, so ist mein Eindruck, in Westdeutschland nahezu wie ein „freier Intellektueller“, weil seine akademische Affiliation (bis 1954) in den USA lag und sein Konzept einer im Exil überformten alteuropäisch-massenkritischen Politik – nach Auschwitz und Hiroshima – als eine „Wiederkehr“ von außen wirkte. 3. Politikwissenschaft als historisch-literarisch grundierte Freiheitslehre Vielleicht war es kein Zufall, dass Bergstraesser nach Freiburg berufen wurde: In Chicago hat Bergstraesser Seminare zur Philosophie und Zeitdiagnose Martin Heideggers abgehalten. Es gab unter den Studenten eine riesige Nachfrage nach „europäischen Traditionen“, die der Kulturforscher in vielfältiger Weise zu befriedigen suchte: Beispiele für seine Seminare sind „Interpretation of the Renaissance“ und „Introduction to German Life and Culture“ (beide im Herbst 1945 gehalten), „German philosophy from Leibniz to Kant“ und „The Philosophy of Goethe’s Faust“ (beide im Winter 1945 gehalten). Im Winter 1949 hielt Bergstraesser einen Kurs zu „Contemporary German Philosphy“ u. a. mit Rekurs auf Heideggers „Sein und Zeit“. Das wichtigste Zeugnis über Gegenwartsbefassung von Bergstraesser in Amerika datiert indes bereits auf das Jahr 1938 – die Rede „On being responsible“, die, in Fortführung von Gedanken der Wandervogelzeit, Humanität durch Bildung verheißt.36 Die immense Verantwortung der kriegsgebeutelten Europäer nach 1918, für Frieden einzutreten, belegte er durch einen Satz von Walther Rathenau: „No one discharges us from our share in the responsibility, yet we are rarely aware of the nature of our obligation.“37 Diesen wendete er mit Blick auf die Verantwortung der Welt beim Münchner Abkommen an: Die Position Chamberlains habe einen „central European imperialism“ Deutschlands ermöglicht. Im Bewusstsein immer wiederkehrender Gefahren, die in der menschlichen Natur liegen,

36 Arnold Bergstraesser: On being responsible (wie Anm. 34). 37 Ebd., S. 27.

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schloss er: „Very often events escape us and our wishes, but the freedom of our own minds always remains. We have only to stand for this, for here lies our essential liberty.“38 Wenn auch literarisches Erbe und Humanismus in Freiburg ein wenig in den Hintergrund traten, blieben sie in allen Aussagen Bergstraessers präsent – so bei einer Rede zum 150. Todestag von Friedrich Schiller im Nationaltheater Mannheim. Der Text „Schillers Idee der Freiheit“ von 1955 verweist auf den „Akt der Empörung“, durch den der Dichter der mit klarem Urteil erfassten „unsittlichen Wirklichkeit“ die Idee eines „sittlichen Baus der menschlichen Welt“ entgegengesetzt habe.39 Der Handelnde ende aber nicht mit Gedanken, sondern lebe „für die Verwirklichung der Idee“. Die Geschichte zeigte eine lange Dauer des „bloßen Naturstaates“, der den Menschen ständig gefährde, doch in der schroffen „Ungeborgenheit“ liege zugleich die Freiheit der Entscheidung. Die Grenzen des Möglichen schüfen eine Norm, die „im Dasein des Menschen schlechthin als ein zur Vollendung Aufgegebenes angelegt ist“ (es heideggert sehr), die ihm Gewissheit aus der „letzten Übereinstimmung des geistigen Entwurfes mit der selbstgelebten Erfahrung“ bringt. Was heißt das praktisch? Im Sinne der Französischen Revolution sollte die „Grundverfassung des Menschen“ ein „freies Gemeinwesen“ sein – er zitiert Schiller: „Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.“40 Konservativ wirkt es, wenn die Vernunft als Mittel erscheint, sich als Bürger einerseits zu verwirklichen, andererseits in die „Ganzheit“ einzuordnen, deren Balance auf Machtbeschränkung beruhe. Angesichts der Verwerfungen zweier Kriege müsse sich jeder selbst fragen, was Freiheit ihm bedeute – insofern zählt Bergstraesser zu den Vertretern derer, die „westliche“ Werte in den Köpfen verankern wollten. Entscheidungsfreiheit als Kategorie der Politik griff Arnold Wolfers 1962 in der Festschrift zu Bergstraessers 65. Geburtstag auf, die zudem einen Beitrag über Sprache und Dichtung des jungen Schiller enthält.41 38 Ebd., S. 36. 39 Abgedruckt in: Arnold Bergstraesser: Staat und Dichtung, hrsg. von Erika Bergstraesser, Freiburg im Breisgau 1967, S. 239-252, hier S. 240. 40 Die drei Zitate dieses Abschnitts finden sich ebd., S. 247-249. 41 Arnold Wolfers: Staatskunst und moralische Entscheidungsfreiheit, in: Fritz Hodeige/Carl Rothe (Hrsg.): Atlantische Begegnungen. Eine Freundesgabe für Arnold Bergstraesser, Freiburg im Breisgau 1964, S. 183-206; Matthijs Jolles: „Verstumm’ Natur!“ Zur Deutung der Sprache und Dichtung des jungen Schiller, in: Ebd., S. 71-82.

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Mit philosophischen und ethischen Grundfragen knüpfte er an Gesellschaftsdiagnosen an, wie sie auch die amerikanische Soziologie lieferte.42 Die deutsche Politikwissenschaft nahm von Bergstraessers kleinen Texten wenig Kenntnis; an den meisten Standorten hatte das Fach, das sich als „neu“ verstand, „Geburtswehen“ zu überstehen – in Freiburg war die Zuordnung zur Philosophischen bzw. Staatswissenschaftlichen Fakultät jahrelang strittig; der Historiker Gerhard Ritter sprach der Politikwissenschaft, teils verbunden mit persönlichen Angriffen gegen Bergstraesser, jede Existenzberechtigung ab.43 Als Einzelkämpfer in Freiburg entwickelte Bergstraesser das Fach in zwei Richtungen: Er gab – im Bereich der politischen Ideengeschichte – mit Dieter Oberndörfer 1962 „Klassiker der Staatsphilosophie“44 heraus und publizierte über die Grundlagen des Faches, veröffentlichte – im Bereich der internationalen Politik – mit Wilhelm Cornides „Die internationale Politik“45, ein Resümee des Jahres 1955, das Rezensionen als Meilenstein der Forschung feierten. Die internationalen Beziehungen analysierte er vor allem ordnungspolitisch.46 Wenn Bergstraesser die Ordnungspolitik (oft verbunden mit dem Wort „Daseinsordnung“) als Rahmensetzung für individuelle Freiheit verstand, dann nicht als Mittel für den Ausbau von Institutionen und staatlichem Handeln, sondern – das lehrte die deutsche

42 Vgl. Arnold Bergstraesser: Deutschland und die amerikanische Soziologie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), Heft 3, S. 222-243; ders.: Geschichtliche Kräfte im Gesellschaftsaufbau der Vereinigten Staaten, in: Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung 1 (1957), S. 91-111; ders.: Prinzip und Analyse in der amerikanischen wissenschaftlichen Politik, in: Jahrbuch für Amerikastudien 3, Heidelberg 1958, S. 7-14; ders.: Die Soziologie der Freiheit. Alfred Weber zum Gedächtnis, in: Außenpolitik. German foreign affairs review 10 (1959), Heft 3, S. 141-149; Zum Problem der sogenannten Amerikanisierung Deutschlands, in: Jahrbuch für Amerikastudien 8, Heidelberg 1963, S. 15-23; eine empirische Studie wurde erst nach Bergstraessers Tod fertig; vgl. ders. (Hrsg.): Soziale Verflechtung und Gliederung im Raum Karlsruhe. Grundlagen zur Neuordnung eines Großstadtbereiches, Karlsruhe 1965. 43 Bergstraesser hat ein Gutachten beider Fakultäten über die Zugehörigkeit des Faches an anderen Hochschulorten aufbewahrt; vgl. Universitätsarchiv Freiburg B 110, Nr. 313. 44 Arnold Bergstraesser/Dieter Oberndörfer: Klassiker der Staatsphilosophie. Ausgewählte Texte, Stuttgart 1962. 45 München 1958; erster Band der Jahrbücher des Forschungsinstituts. 46 Vgl. Arnold Bergstraesser: Weltpolitik als Wissenschaft. Geschichtliches Bewusstsein und politische Entscheidung, Köln/Opladen 1965. Kurz vor seinem Tod versuchte er, Forschungen zur „Weltzivilisation“ anzustoßen.

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Geschichte – als Mittel zum Rückzug vom totalitären Staatsverständnis. Ähnlich wie die Denker der ordoliberalen Schule47 griff er das Thema u. a. durch Gastbeiträge beim Colloquium Politicum immer wieder auf. Ein Dies-academicus-Vortrag im Wintersemester 1962/63, der das Studium generale stärken sollte, hieß „Der Einzelne, die Vielen und die Ordnung“. Das Verhältnis der drei Begriffe fußt für Bergstraesser – als ein soziologisches Problem – auf der „Struktur der menschlichen Verbände“. Die moderne Gesellschaft ist indes nicht mehr übersichtlich wie die antike Polis, sondern differenziert (soziale Rollen, Berufe, Politik). Zu organisieren ist für ihn die „Daseinsführung“, was sich in der Kulturgeschichte spiegle: Jeder Akt eines Staatsmanns findet in einem gesellschaftlichen Gefüge statt, das ihn prägt (also ein reziprokes Verhältnis, wie es die „Intellectual History“ erforscht). Während Konservatismus und Sozialismus verschiedene Verbände entworfen hätten, sei der – von ihm favorisierte – liberale Gedanke dieser: die „Erweiterung des Bewegungsspielraumes in Richtung auf Mitbestimmung, im wirtschaftlichen, im politischen und im erzieherischen Bereich“.48 Das wieder entdeckte Naturrecht, eine Basis für moderne Grundrechte und Gewaltenteilung, gebe dem Einzelnen vorrangig Recht – dies gleiche einer Revolte gegen geschichtliche wie gesellschaftliche Bestimmtheit. Was kann der Einzelne tun? Er ist geschichtlich „variabel“, dem Wandel unterworfen, dem Wandel des Geistes wie sozialer Belange, aber er prägt auch sein Umfeld. Die Moderne charakterisieren zwei weitere Erfahrungen: Mobilität (so lernen sich verschiedene Leute kennen) und Bevölkerungswachstum (Dynamik der Masse). Die offene Gesellschaft dieser Moderne macht es dem einzelnen schwer, das Ordnungsgefüge zu überblicken. Eine „Überfülle der Vielen“ habe zur Frage „Kleiner Mann, was nun?“ geführt. Die Pflicht der Ethik liegt darin, jedem einzelnen einen Wert zu geben und diesen zu verteidigen. Die Offenheit, das Verhältnis vom einzelnen, vielen und der Ordnung immer wieder zu rejustieren, sei nötiger Bestandteil der freien Gesellschaft. Weil der Mensch in Aristoteles’ Sinne ein zoon politicon ist, vernunftbegabt und des Handelns mächtig, gibt er der gebauten Welt den meisten Raum; er be-

47 Insbesondere Alexander Rüstow (Heidelberg), Walter Eucken, der bis zu seinem Tod 1950 in Freiburg gewirkt hatte, Franz Böhm (Frankfurt am Main) und Wilhelm Röpke (Genf). 48 Arnold Bergstraesser: Der Einzelne, die Vielen und die Ordnung, in: Der Einzelne und die Gemeinschaft (Freiburger Dies Universitatis 10), Freiburg im Breisgau 1963, S. 9-21.

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trachtet das Vorhandene. Indes gibt es ein Arkanum, das aus der Schöpfung resultiert (dies habe Marx als Idealist abgelehnt). Der Mensch sei jedoch – wieder nutzt Bergstraesser Heideggers Vokabular – „sich selbst ein Ich“, eine physisch-psychisch-geistige Einheit, er erfahre „sein eigenes Dasein als bewirkt und bewirkend“.49 Eine höhere Verantwortung vor Gott habe das abendländische Denken ethisch gestärkt. Die Erziehung befestige das Wissen um die Bedingtheit menschlichen Vermögens im doppelten Sinne und um die Möglichkeiten seiner sozialen Rolle. An diesem Punkt hätte seine politische Philosophie, wie er sie in der Weimarer und in der frühen Exilzeit vertrat, geendet. Doch Bergstraesser unternimmt einen Ausflug in die Empirie und unterscheidet drei Arten des Sozialgefüges, das zweckbestimmte, das innere, das politische: Die erste bestimmt das Wirtschaftsleben und ist durch Leistungswillen gekennzeichnet. Die zweite ist der Bereich von Freundschaft, Literatur und den Künsten – sie ermögliche die Erfahrung von Transzendenz. Schließlich die dritte Art: Die freiheitliche Demokratie erlaube, anders als der totalitäre Einparteienstaat, dem Bürger individuelle Entfaltung. Dabei müsse der Mensch zu einem Urteil fähig und offen für Kritik sein, um den Maßstab einzuhalten, der anderen ebenfalls ein freies Leben erlaubt. Die Politik spielt so eine ermöglichende und nur sekundär korrigierende Rolle. Mithin bekannte sich Bergstraesser zur Bestimmung des Gemeinwohls durch einen freien Willensbildungsprozess („in der öffentlichen Meinung vorbereitet und in legalen Willensbildungsformen vollzogen“), andererseits hing für ihn der stets nötige Kompromiss „von der politischen Einsicht und der moralischen Kraft der Führungsspitzen“ ab – hier liegen die Grenzen des damaligen Demokratieverständnisses namentlich bei Fragen der Partizipation.50 Die Erfahrung zweier Kriege und des Exils hatten ihn zum Realisten gemacht; insbesondere das internationale Machtgefüge durfte für ihn nicht durch Idealismus gefährdet werden – ein Spiegel aller Unzulänglichkeiten des „Kalten Krieges“.51 Eine Herzensangelegenheit blieb für ihn – seit den Tagen des Wandervogels – die politische Bildung als Grundlage für alle bürgerschaftliche

49 Ebd., S. 14. 50 Ders.: Politik, in: Ders.: Weltpolitik als Wissenschaft (wie Anm. 46), S. 181-193, hier S. 185. 51 Diese Einschätzung teilt Bergstraesser mit konservativeren Köpfen – etwa mit Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952.

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Teilhabe, deren technische Ausgestaltung ihn weniger interessierte. Mit Theodor Eschenburg konzipierte er (gegen erheblichen Widerstand der Lehrerschaft wie der Verwaltung) das Unterrichtsfach Gemeinschaftskunde; zudem hielt er rastlos Reden bei Bildungseinrichtungen – er kann in diesem Bereich als wesentlich engagierter gelten als etwa der Wahlrechtsforscher Ferdinand Hermens oder der Theoretiker Eric Voegelin.52 Dieter Oberndörfer fasste dies 1965 so zusammen: Bergstraesser habe die deutsche Katastrophe nicht als „Resultat unglücklicher Kausalverkettungen“ hingenommen, sondern als „Ausdruck mangelnder rationaler Bewältigung der politischen Sachentscheidungen“. Um Urteilsfähigkeit herzustellen, sei für ihn die Jugend- und Erwachsenenbildung eine vordringliche Aufgabe gewesen, dazu sei die Internationale Politik getreten, weil Deutschland zuvor stets an einer „Provinzialität des öffentlichen Bewusstseins“ gelitten habe.53 So ergänzen sich Konservatismus und Rationalität neu. Eine Art „Rundumschlag“ über den Menschen in der Gesellschaft, sein Handeln und seine Grenzen, lieferte Bergstraesser mit der Diagnose: „Mensch und Gesellschaft im Atomzeitalter“, erschienen in der Reihe von Vorträgen an der Universität Hamburg im März 1956, unter der gängigen Frage: Ragt der Mensch über seinen technisierten Alltag hinaus? Im politischen Urteil und im politischen Handeln verfüge der Mensch – bei allen Bindungen – über eine grundsätzliche Freiheit. Wie weit diese geht, wie weit die Geschichte subjektive Färbungen aufweist, darüber gab es beständig Streit unter Philosophen. Technische Neuerungen höben das „Atomzeitalter“ gegenüber vergangenen Epochen heraus – obgleich der Erkenntniswille bereits in der Scholastik angelegt sei. Der Grad an Umgestaltung sei erdrückend, nicht nur „im alten Europa“, sondern auch in vielen Entwicklungsländern (Bergstraesser nahm – wie viele Zeitgenossen – an, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse global erreichbar sein würde).54 Die Ausrichtung der „Daseinsführung“ auf eine transzendente Dimension hin habe derweil nachgelassen (die Säkularisation ermöglichte für ihn eine

52 Minutiös Joachim Detjen: Das Verhältnis der Gründergeneration (wie Anm. 10), S. 103-162. Anders als spätere Generationen standen die „Gründer“ der Breitenund Erwachsenenbildung insgesamt aufgeschlossen gegenüber. 53 Dieter Oberndörfer: Vorwort, in: Arnold Bergstraesser (wie Anm. 46), S. 9-13, hier S. 13. 54 Arnold Bergstraesser: Mensch und Gesellschaft im Atomzeitalter, in: Ders.: Politik in Wissenschaft und Bildung – Schriften und Reden, Freiburg im Breisgau 1961, S. 109-123, hier S. 112.

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„erzwingbare Gebundenheit“), ebenso die schöpferische Kraft der „dichterischen und bildenden Künste“, in denen etwa Schiller eine gemeinschaftsstiftende Wirkung und einen erzieherischen Weg zur politischen Freiheit gesehen habe. Mithin sei das menschliche Verhältnis zur Natur gestört. In der Soziologie äußere sich dieses Phänomen an den „großen“ Institutionen: Großbetriebe, große Organisationen, große Städte hätten die „einfach übersehbare Gesellschaft“ zerstört.55 Indes sei aus der unpersönlichen Art („Verstädterung ist eine konstruktive Möglichkeit“) die offene Gesellschaft entstanden, die jedem ohne Ansehen sein Recht zuspricht. Zur Freiheit brauche der einzelne aber Fähigkeit, Einsicht und Erziehung. Die Industriegesellschaft werde – wieder zeigt sich Euphorie – die Armut abschaffen, wenn es nur gelinge, die „Kontinuität der internationalen Zusammenarbeit an diesem gemeinsamen Interesse zu festigen“.56 Aus „Übergangsschwierigkeiten“ würden später neue Freiheiten (Verfügung über Zeit, gesunde Lebensführung) erwachsen. Bergstraesser distanziert sich vom literarischen Pessimismus gegenüber dem „Massenzeitalter“. Hier sehe ich eine „Modernisierung“ des kulturkundlichen Denkens, wie er es in der Heidelberger Studienzeit von Alfred Weber übernommen hatte. Mit der Erfahrung der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft wendet Bergstraesser sich aber auch gegen die Kultur der „Zerstreuung“, die dem Menschen kein eigenes Urteil, keine Schöpferkraft zubillige. Er wiederholt die Notwendigkeit, politische Urteilskraft auszubilden, um politische Freiheit selbst ausüben zu können. Dazu sei Erziehung nötig, das gemeinsame Nachdenken über Grenzen der Entwicklung. Pathetisch schließt er: „Weiß die Jugend“ genug vom Dasein, von „Einbildungskraft und Spiel, von Freundschaft und Familie“, die sich – dem Zwang zur Wandlung entrückt – „mit derselben Unmittelbarkeit geltend machen können wie je“?57 Die Bildungsforschung müsse das „Wozu?“ des Faches neu erklären. Er hielt eine „normative Vorstellung von dem, wozu der moderne Mensch sich bilden könne“, für möglich: Pluralität und gegenseitige Achtung bildeten der Kern der Antwort. Der menschliche Umgang nach bestimmten

55 Ebd., S. 116. Alexander Rüstow lobte – ganz ähnlich – die ländliche „Kleinheit aller soziologischen Gruppen“ in früheren Zeiten, siehe: Ortsbestimmung der Gegenwart, Band 1: Ursprung der Herrschaft, Erlenbach-Zürich 1950, S. 263. 56 Arnold Bergstraesser: Mensch und Gesellschaft (wie Anm. 54), S. 117. 57 Ebd., S. 122, ebenso das Folgezitat.

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Regeln scheint – ähnlich wie in der Rede von 1938 – als Minimum seiner Philosophie auf. Wie Bergstraesser seinen Bildungsgedanken publik machte, soll an einigen Radiobeiträgen umrissen werden, in denen er seine Sicht über die Aufgaben der politischen Bildung und die dazu nötige Ausstattung der Politikwissenschaft – mit geringer Variation – wiederholte: etwa über „Die Stellung der Politik innerhalb der Wissenschaft“ (Süddeutscher Rundfunk am 26. Februar 1958) bzw. „Die Stellung der Politik in den Wissenschaften“ (SWR am 8. Juni 1958) oder „Politik als wissenschaftliche Disziplin“, Vortrag im NWDR Hannover (um 1960).58 Für den Sender RIAS hieß der Beitrag „Wissenschaft und Politik in der Gegenwart“ (7. Februar 1963).59 Unermüdlich sprach er auf Bildungstagungen – auch für Pädagogen in der außerschulischen Bildung, so unter dem Titel „Bildungsplan für eine politische Erwachsenenbildung“ am 2. Mai 1959 in Tutzing, unter dem Titel „Die Aufgaben der politischen Bildung“ am 7. Juli 1959 (beim Jugendleiter-Lehrgang „Der Film in der politischen Bildungsarbeit“), unter dem Titel „Die Wissensgebiete der politischen Bildung“ am 7. September 1959 wiederum in Tutzing, unter dem Titel „Die politische Entscheidung in der modernen Welt“ auf der 14. Niederrheinischen Universitätswoche im Frühjahr 1962 und unter dem Titel „Bildung und Ausbildung im Kulturaustausch“ am 5. Oktober 1962 in Bonn.60 In Tutzing konnte er sich auf den Vertrauten Felix Messerschmid verlassen, dessen langes Wirken für die Akademie Bergstraessers Thesen Geltung verschafften. 4. Wirkung durch Institutionen und Schüler Obgleich Bergstraessers Redekunst zu Lebzeiten beliebt war, ist seine langfristige Bedeutung für das intellektuelle Leben der Bundesrepublik eher in erfolgreichen Institutionengründungen und im Wirken seiner Schü-

58 Redetexte abgelegt im Bundesarchiv N 1260, Nr. 146 bzw. 149. 59 Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 76. Dieser Beitrag brachte ihm ein Honorar von 500,- DM ein. 60 Ebd., Nr. 163; Bundesarchiv N 1260, Nr. 153; Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 163; Bundesarchiv N 1260, Nr. 156; das Ziel der Herausbildung von Urteilskraft betont anhand der beiden im Bundesarchiv abgelegten Vorträge auch Joachim Detjen (wie Anm. 10), S. 154 – Urteilskraft als zentrales Ziel aller Bildungsmühen Bergstraessers hebt Detjen ebd., S. 143, heraus; der fünfte Vortrag liegt als Typoskript im Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 77.

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ler zu suchen (die sich indes später kaum mehr auf ihn bezogen). Übrigens war Bergstraesser sich nicht zu schade, in jugendbewegter Tradition bei mehreren Hochschulgruppen zu sprechen – auch auswärts: So sagte er Hildegard Hamm-Brücher 1959 einen Vortrag bei der liberalen Gruppe an der Münchner Universität zu.61 Aus etlichen dieser Auftritte ergaben sich Promotionen. Bergstraesser zog Studenten an – auch aus Indien, wohin er kurz vor seinem Tod gereist war, um sein Projekt „Weltzivilisation“ voranzutreiben. Das Freiburger Seminar für politische Wissenschaft wurde zu einem Angelpunkt des – damals in der ganzen Breite vertretenen – Faches.62 Bergstraesser äußerte sich, anders als in Briefen, im Schülerkreis indes nie über Chicago, geschweige denn über die Zeit davor.63 In der Lehre oszillierte er zwischen Weltpolitik und literarischer Überlieferung als Ausdruck für politisches Denken; immer wieder kam dabei Goethe vor, zudem Hofmannsthal und Stifter. Gemeinsam mit George A. Romoser hielt er ein vergleichendes Seminar über deutsche und amerikanische Politikwissenschaft (Sommersemester 1955); das letzte von ihm geplante Seminar sollte im Sommer 1964 Arnold Brechts Politische Theorie beleuchten. Auf seine später selbst zu Ruhm gekommenen Assistenten wie u. a. Hans Maier, Dieter Oberndörfer und Kurt Sontheimer war Verlass, wenn der Chef unvorbereitet von Gremiensitzungen oder außeruniversitären Reden kam. Mit seinen – meist in Kooperationen betriebenen – Forschungen deckte er auch die Soziologie ab, die zur Doppelvenia gehörte, etwa 1954 bei Planung einer Studie mit Friedrich Tenbruck (damals George-Washington-Institut in Stuttgart, später ebenfalls Freiburg) zur Akkulturation von „Ostzonenflüchtlingen“ in der Bundesrepublik64 oder zum „Amerikabild in der deutschen Presse“. Zwei Gründungen wurden schnell über Freiburg hinaus bekannt: die Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschung (heute Arnold-Bergstraesser-Institut), die vor allem die Entwicklungspolitik früh als eigenen Zweig betrieb, und das Colloquium politicum, das die Tutoren, 61 Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 18. 62 Bergstraesser korrespondierte freundlich mit fast allen Fachkollegen, so mit Wolfgang Abendroth, mit Gerhard A. Ritter und Gilbert Ziebura (wegen einer Festschrift für Ernst Fraenkel), Alexander Rüstow (in Betreff der Arbeitsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft), Helmut Schelsky und Eric Voegelin. 63 Das ergaben Interviews mit Gottfried-Karl Kindermann (7. Dezember 2016), Dieter Oberndörfer (13. September 2016) und Hans-Peter Schwarz (8. Dezember 2016) mit dem Verfasser einhellig. 64 Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 212.

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darunter Wolfgang Schäuble, als auch namhafte Kollegen aus Deutschland und den USA mit viel Freiraum und großem öffentlichen Echo „bespielten“. Ein Dies-academicus-Vortrag vom Winter 1962/63 mit dem Generalthema des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv sollte das Studium generale stärken.65 Drei Gebiete belegen Bergstraessers rastlose Tätigkeit in den zehn Freiburger Jahren bis zu seinem Tod 1964 eindrucksvoll: die politische Bildung, die nationale und internationale Politikberatung und Netzwerkbildung sowie eine unermüdliche Vortragstätigkeit zu Gegenwartsfragen verschiedenster Couleur. Zum ersten Gebiet: Dicke Bretter musste er bohren, um mit dem verwaltungserfahrenen Theodor Eschenburg das Unterrichtsfach Gemeinschaftskunde durchzusetzen; beiden war daran gelegen, nicht nur – wie im Fach Geschichte – Quellenstoff zu präsentieren, sondern auch ein kritisches Verhältnis zur eigenen Umwelt zu ermöglichen. Durch geschickte Positionierung von langjährigen Bekannten schaffte er es, die von ihm mitbegründeten Akademien für politische Bildung in Buchenbach bei Freiburg (inzwischen Teil der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg), in Tutzing und in Wesseling (Schloss Eichholz als Nukleus der Konrad-Adenauer-Stiftung) in dauerhafte Einrichtungen zu verwandeln. Er bestimmte in Beiräten Bildungsinhalte mit – so in der Kommission für Fragen der politischen Bildung, in die ihn der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder holte. Auf dem zweiten Gebiet, der Politikberatung, konnte er auf ein weites Netz an Bekannten und Kollegen rechnen, die u. a. im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Frankfurt am Main Zeit opferten und Texte lieferten – dort entstand etwa das erste Jahrbuch zur internationalen Politik.66 Sachlich-harte Auseinandersetzungen konnte Bergstraesser im Beirat „Innere Führung“67 der gerade aufgestellten Bundeswehr (an dem sich etwa Marion Gräfin Dönhoff beteiligte) durch Kompromissfähigkeit und „langen Atem“ bestehen. Dazu kamen Tagungen und Treffen der in Hamburg 65 Vgl. unter Anm. 48. 66 Arnold Bergstraesser/Wilhelm Cornides (Hrsg.): Die internationale Politik 1955, München 1958 (gefördert durch die Rockefeller-Stiftung; der zweite Band erschien 1961). 67 Dazu – mit grundsätzlicher Kritik an der Militärforschung – Christa-Irene Klein: Arnold Bergstraesser als Vermittler zwischen Wissenschaft, Politik, Militär und Öffentlichkeit in den 1950er Jahren, in: Sebastian Brandt u. a. (Hrsg.): Universität, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Westdeutschland (1945 bis ca. 1970), Stuttgart 2014, S. 243-276.

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ansässigen Atlantik-Brücke und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, wo er (wie im Beirat der Fritz-Thyssen-Stiftung) erfolgreich Unternehmer für akademische Projekte einzuspannen wusste.68 Jahrelang förderte Bergstraesser die deutsche Amerikakunde durch Vorträge.69 Sie illustrieren sein transatlantisches Netzwerk gut. So referierte er u. a. öfters im Einzugsgebiet des Amerika-Instituts in München, weil er den dortigen Organisator, Howard K. Beale, aus Chicago kannte (und mit ihm auch über Alltagspolitik korrespondierte): Im Amerika-Haus Nürnberg sprach er am 12. März 1957 über den „sozialen Wandel im 20. Jahrhundert“. Zum 10. Jubiläum des Hauses brachte er ferner seinen Lehrer Edgar Salin als Referenten mit; Heinrich Weinstock referierte zu „Technologie contra Humanismus“, Dolf Sternberger über „Soziale und kulturelle Entwicklungsphasen der unterentwickelten Gebiete“. Den außenpolitischen Vortrag „Die atlantische Gemeinschaft und die Koexistenz-Parole“ hielt er in Regensburg, Stuttgart und in Urach. Bergstraesser war mit Tatkraft und Fördergeld an mehreren deutsch-amerikanischen Konferenzen beteiligt, darunter der „Third American-German Conference“ in Bad Godesberg und Berlin im November 1962 – und wieder tauchen alte Bekannte auf: Carl J. Friedrich (mit seinem Schüler Zbigniew Brzenzinski), Henry Kissinger, und George N. Shuster, seinerzeit amerikanischer Vertreter bei der UNESCO in Paris (Bergstraesser war damals Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission).70 Einen besonders engen Draht unterhielt er mit dem Stuttgarter GeorgeWashington-Institut für Amerikanische Kultur und Vergleichende Soziologie, wo er sich u. a. im Wintersemester 1954/1955 (also ein halbes Jahr nach Amtsantritt in Freiburg) am dortigen akademischen Programm betei-

68 Der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. förderte u. a. Bildungsstudien der Bundeswehr und einen Amerika-Aufenthalt von Hans Wolfgang Kuhn; vgl. Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 211. 69 Seit dieser Zeit hielt Bergstraesser jahrelang Vorträge für Amerikahäuser in ganz Deutschland; siehe Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 217; ferner den grundlegenden Text Bergstraessers: Amerikastudien als Problem der Forschung und der Lehre, in: Jahrbuch für Amerikastudien 1 (1956), S. 8-14, den er auf der Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien am 13. Juni 1953 in Marburg vorgetragen hatte. 70 Immer wieder ist es die „geistige Welt“, die als Basis für politische Gestaltung im „technischen Zeitalter“ erscheint – und Wissen um kulturelle Überlieferung als Verständigungsmöglichkeit; vgl. Arnold Bergstraesser: Führung in der modernen Welt, Freiburg im Breisgau 1961, S. 51.

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ligte – mit der Vorlesung „Die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik 1914-1954“ und mit einem in Kooperation durchgeführten Lektürekurs „Analyse und Kritik neuerer amerikanischer Literatur zur Soziologie der industriellen Gesellschaft“.71 Beide Qualifikationsschriften Dieter Oberndörfers zeugen – exemplarisch – von der Übernahme der Vorliebe für Amerika durch einige Bergstraesser-Schüler.72 Die Management-Fähigkeiten des 1963 auf eine zweite Freiburger Politikprofessur Berufenen stehen für sich: Er versammelte die „engeren“ Schüler in einer Festschrift73, baute die Arbeitsstelle zum Arnold-Bergstraesser-Institut aus und intensivierte die Entwicklungspolitik u. a. durch empirische Studien und Gutachten für Entwicklungsaktivitäten der politischen Stiftungen.74 Bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik konnten etliche der Schüler während des Studiums (oder danach) Projekte betreiben. In der Mammutstudie „Die internationale Politik 1955“ tat sich – neben Bergstraessers Kollegen Cornides75 – vor allem Gottfried-Karl Kindermann hervor, ein späterer Ostasienexperte. Bergstraesser schrieb ein Überblickskapitel, in dem er die Lage nach den „Pariser Verträgen“ 1954 als „gefestigt“ ansah – die Koexistenz hielt er indes für ein labiles Gleichgewicht. Praktisch suchte er dies zu sichern, etwa indem in der NATO Einvernehmen über die politischen und kulturellen Gemeinsamkeiten herrschte: Ein entsprechendes Seminar fand an der Universität Freiburg vom 21. bis 26. April 1960 statt – nach Princeton 1953 und Oxford 1956: „The Standpoint of the NATO States towards the Communist Orbit“. Immer wieder war bei den mit Militärs, Politikern und Intellektuellen besetzten

71 Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 212. 72 Vgl. Dieter Oberndörfer: Über die Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 1958 (2. Aufl. 1961); ders.: Die amerikanische Außenpolitik vor dem Problem der Koexistenz. Theorien, Prinzipien und Dynamik (1960, unveröffentlicht). 73 Ders. (Hrsg.): Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg im Breisgau 1962 (2. Aufl. 1966). 74 Vgl. Dieter Oberndörfer: Zur Geschichte des Arnold-Bergstraesser-Instituts. Eine Dokumentation und persönliche Erinnerungen, Freiburg im Breisgau 2011, S. 12; Sebastian Liebold: Dieter Oberndörfer (geboren 1929), in: Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.): Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 569-582, hier S. 575f. 75 Wilhelm Cornides’ Kriegsbericht über die Kenntnis der Bevölkerung im Generalgouvernement über die Judenvernichtung war 1959 publiziert worden; vgl. Hans Rothfels: Zur „Umsiedlung“ der Juden im Generalgouvernement, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), Heft 3, S. 333-336.

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Panels, die u. a. Dagmar Gräfin Bernstorff und Fritz Scharpf leiteten, vom Humanismus die Rede – nicht zuletzt in den Begrüßungsworten von Kurt Georg Kiesinger und in einer abendlichen „address“ von Hans-Joachim von Merkatz.76 Mit Wolf Graf Baudissin, der Leitfäden für die soldatische Bildung anstrebte, war Bergstraesser, der dafür oft nach Bonn reiste, einer Meinung: Militärische Abschreckung genüge gegen die „bolschewistische Bedrohung“ nicht. Man brauche eine menschlichere Ordnung, die mittels politischer Bildung popularisiert werden sollte. Bergstraesser wirkte dazu an einem Handbuch für Offiziere mit.77 Für Soldaten im demokratischen Verfassungsstaat sollte die politische Bildung ein Mittel zum Ausgleich zwischen Gehorsam und humanistischer Einsicht werden.78 Als Wehrverfassung schwebte Bergstraesser und Eschenburg ein straffer Apparat zur Mobilmachung vor, die ein Verteidigungsrat anordnen sollte (eine unverwirklichte Idee).79 Ein Mitkämpfer bei der Ausformulierung der „westlichen“ Gemeinschaft war Bergstraesser in persönlich nicht immer spannungsfreiem Verhältnis Carl J. Friedrich, wie sich etwa an dessen Beitrag für die zweite Festschrift aus dem weiteren Freundeskreis ablesen lässt.80 Dieser Band zeugt von Nahverhältnissen, die Bergstraessers Denkwelt spiegeln: Robert M. Hutchins trug einen Text über „Goethe and the unity of mankind“ bei, Hans Rothfels über „Religion und Nationalität“, Helmut Schelsky „Gedanken zur Rolle der Publizistik“. Im Briefwechsel mit Kollegen wie mit Schülern wird erkennbar: Bergstraesser achtete die Position seines Gegenübers. Die zweite Gruppe profitierte von Freiräumen, um sich zu entfalten.81 Offenkundig ist dies vor allem an Sontheimers Habilitation zum an-

76 Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 226; vgl. Christa-Irene Klein: Arnold Bergstraesser als Vermittler (wie Anm. 67), hier S. 270. 77 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.): Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung, Tübingen 1957. 78 Christa-Irene Klein (wie Anm. 67), S. 260. 79 Vgl. Arnold Bergstraesser/Theodor Eschenburg: Die Eingliederung der Streitkräfte in das Staatswesen der Bundesrepublik, in: Europa-Archiv 10 (1955), S. 7953-7958. 80 Carl J. Friedrich: Die Macht der Negation und das Verhängnis totaler Ideologie, in: Fritz Hodeige/Carl Rothe (Hrsg.): Atlantische Begegnungen (wie Anm. 41), S. 13-24. 81 Einige Projekte scheiterten – wie die Habilitation von Nicolaus Sombart; er sandte vom Europarat aus öfters Ideen für den Text an Bergstraesser, vgl. Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 60.

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tidemokratischen Denken in der Weimarer Republik, die Bergstraesser – trotz eigener Kritik – durchbrachte.82 Trotzdem hat sich in der Öffentlichkeit ein relativ homogenes Bild der politikwissenschaftlichen „Freiburger Schule“ festgesetzt, vielleicht auch weil Dieter Oberndörfer, Bergstraessers engster Sachwalter, immer „das Menschliche“83 ins Zentrum politischer Analysen rückte und als „Werkzeuge“ dafür die Zeitgeschichte, die Soziologie und das Staatsrecht, mithin ähnlich wie Bergstraesser die „Synopse“ gebrauchte. Oberndörfer fragte: Warum brauchte die (damals junge, nach ihrem Selbstverständnis suchende) Bundesrepublik eine Politikwissenschaft? Er verwies auf das Ethos politischen Handelns, die demokratische Idee – sie in der Gesellschaft zu verankern, sei Kern des Faches. Zu dessen Leistungen gehört daher die politische Bildung, der fachliche Rat, die Prognose, wie Oberndörfer sie etwa für die Atlantik-Brücke betrieb.84 Rückschau hielt er 1976 für die Konrad-Adenauer-Stiftung auf 200 Jahre deutsch-amerikanische Beziehungen.85 Humanistische Einwürfe, vor allem in der Migrationspolitik, bewegten ihn nach 1990. 5. Resümee Mit der Heidelberger Grundlage einer breiten Kultursoziologie machte Arnold Bergstraesser, der aus der Emigration in ein Land mit demokrati-

82 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962; vgl. den herzlichen Briefwechsel mit Bergstraesser – Universitätsarchiv Freiburg B 204, Nr. 45. 83 Dieter Oberndörfer: Politik als praktische Wissenschaft, in: Ders. (Hrsg.): Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, 2. Aufl., Freiburg im Breisgau 1966, S. 22 bzw. S. 26; das Wort mag ein Grund für die Zuschreibung der Freiburger als „ontologische“ Schule sein; vgl. Horst Schmitt: Politikwissenschaft und freiheitliche Demokratie. Eine Studie zum „politischen Forschungsprogramm“ der „Freiburger Schule“ 1954-1970, Baden-Baden 1995. 84 Dieter Oberndörfer (Hrsg.): East-West-Tensions. The Present Status – Future Developments, Freiburg im Breisgau 1960 (deutsch als: Ost-West-Beziehungen. Der gegenwärtige Stand, künftige Entwicklungen, Freiburg im Breisgau 1960); vgl. Ludger Kühnhardt: Atlantik-Brücke. 50 Jahre deutsch-amerikanische Partnerschaft 1952-2002, Berlin/München 2002, vor allem S. 41 und 50-56. 85 Michael G. Eisenstadt/Dieter Oberndörfer (Hrsg.): 200 Jahre Deutsch-Amerikanische Beziehungen. The Bicentennial of American-German Relations, Bonn 1976.

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schem „Bildungshunger“ kam, die Politikwissenschaft zu einem Integrationsfach mit großer öffentlicher Ausstrahlung. Er suchte, wie viele seiner Zeitgenossen, in der klassischen Überlieferung nach den Erfahrungen des Totalitarismus nach Orientierungsangeboten; er fand sie in jenen Denkern, die eine humanistische Weltsicht besaßen. Dabei beließ er es nicht – alle seine Aktivitäten an der Universität, in der Breitenbildung, bei politischen Beiräten, in kulturpolitischen und internationalen Netzwerken hatten das Ziel, diesen normativen Standpunkt in den westlichen Gesellschaften zu festigen. In dem Sinne lässt sich Bergstraesser zu den „kalten Kriegern“ zählen. Im Rekurs auf die zwei Thesen – der Ausrichtung am Common Sense und einer synoptischen Wissenschaft – ist eine Verschränkung erkennbar: Bergstraessers Lebensstationen und sein Denken sind durch die Exilsituation und die Aufbauphase der Bundesrepublik gekennzeichnet – das vermittelt nicht zuletzt ein Interview mit Peter Jochen Winters, den Bergstraesser nach der Promotion zur Zeitschrift „Christ und Welt“ empfohlen hatte.86 Würdigungen nach dem Tod betonten die Arbeit für die „neue“ Wissenschaft von der Politik und transatlantische Verbindungen.87 Bergstraesser hatte es – im Urteil der Zeitgenossen – geschafft, durch „modische“ Begriffe und Traditionsbestände (das geistige Europa, Goethe, den Menschen in seiner Umwelt) der zerklüfteten Gesellschaft Halt zu geben. Er nutzte vor allem geistesgeschichtliche Klassiker, um ein bürgerliches Integrationsangebot zu unterbreiten: Die „gute Politik“ stützte sich für ihn auf allseits gebilligte Regeln, die vor allem in der literarischen Überlieferung zu finden sind und eine Machtbeschränkung im Verhältnis zu Gott aufwiesen. Arnold Bergstraessers normatives Wissenschaftsverständnis hat vor allem in den 1970er und 1980er Jahren – parallel zur empirischen Wende im Fach – scharfen Widerspruch erfahren; so hat ihm etwa Alfons Söllner den Versuch einer „neuhumanistischen Werterestauration“ unterstellt (Berg-

86 Abschrift des Interviews im Bundesarchiv N 1260, Nr. 2 – gedruckt Peter Jochen Winters: Der Gelehrte – Arnold Bergstraesser, in: Christ und Welt vom 27. Dezember 1963, S. 19. 87 Frühe Würdigungen stammen u. a. von Ernst Fraenkel: Arnold Bergstraesser und die deutsche Politikwissenschaft, in: Arnold Bergstraesser: Weltpolitik als Wissenschaft (wie Anm. 46), S. 252-259; Victor Lange: Der Europäer in Amerika, in: Ebd., S. 247-251.

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straesser habe gegen die Modernisierung der Bundesrepublik gearbeitet).88 Dieser Beitrag sollte zeigen, welche Ansichten dem damaligen pro-westlichen Konsens zuzurechnen sind, wo Bergstraesser ältere Positionen beibehielt und warum er zu Lebzeiten kaum aneckte – beispielsweise bei Kollegen wie Wolfgang Abendroth oder Ernst Fraenkel: Das Exil war im Fach eine „Klammer“, wie sie nur wenige andere Wissenschaften kannten. Intensiv betrieb Arnold Bergstraesser den – politisch gewollten und durch persönliche Kontakte bereicherten – transatlantischen Ideenaustausch in der frühen Bundesrepublik. Das für Baden-Württemberg konzipierte Fach „Gemeinschaftskunde“89 wurde zum Erfolgsmodell für ganz Deutschland. Bergstraesser hat kein Lehrbuch vorgelegt; anders als etwa Ernst Fraenkels Aufsatzsammlung „Deutschland und die westlichen Demokratien“ sind seine Werke kaum mehr präsent – und wenn, dann bereits als zeithistorische Dokumente, wie das Frankreichbuch von 1930 oder der bei Erscheinen breit gewürdigte Goetheband von 1949.90 Sein Gelehrtenleben weist transnationale Züge auf, beispielsweise durch die Goethe-Tagung in Aspen 1949. Dort entstand das Aspen Institute, das bis heute die verschiedensten „Formate“ politischer Treffen anbietet und Ideen der politischen Bildung beidseits des Atlantiks vertritt – mit deutlich konservativ-humanistischem Einschlag.91 Die Schilderung von Arnold Bergstraessers Wirken in der frühen Bundesrepublik hatte zum Ziel, die Person als den Brennpunkt einer im Wandel begriffenen intellektuellen Richtung zu betrachten: einer Richtung, die im Nationalsozialismus anfangs ein Mittel zur Veränderung der strauchelnden Demokratie zu erkennen glaubte, in Amerika deutsche Traditio-

88 Bergstraessers „Ton“ und Denkstil habe eine „neuhumanistische Werterestauration“ bezweckt, so Alfons Söllner: Normative Verwestlichung. Die politische Kultur der frühen Bundesrepublik und Arnold Bergstraesser (1999), in: Ders.: Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006, S. 181-200, hier S. 196; schärfere Kritik äußerte Rainer Eisfeld, etwa in: Mitgemacht – Theodor Eschenburgs Beteiligung an „Arisierungen im Nationalsozialismus, Wiesbaden 2016, S. 57-66. 89 Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, Bochum 1988, S. 216 und S. 296ff. 90 Ob sich das Schattendasein mit der Neuauflage von „Goethe’s Image of Man and Society“, Whitefish 2013, ändert? 91 Vgl. Sidney Hyman: The Aspen Idea, Norman 1975; James Sloan Allen: The Romance of Commerce and Culture. Capitalism, Modernism, and the Chicago-Aspen Crusade for Cultural Reform, Boulder 2002.

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Ein konservativer Humanist?

nen stärker rezipierte als zeitgenössische Methoden, im Nachkriegsdeutschland aber zur geistigen Elite einer Ära avancierte, die bei aller Rückbesinnung auf Klassisches, vom Nationalsozialismus mithin Unversehrtes, machtbewusst eine modernisierte Art konservativer Lebenseinstellung, eine Common-Sense-Haltung, als Schlüssel zum Erfolg nutzte. Der wohl kritischste Schüler Bergstraessers, Kurt Sontheimer, schrieb in „So war Deutschland nie“, Bergstraesser habe in der Geschichte des abendländischen Geistes nach Orientierung für das Leben in der modernen Welt gesucht. „Die Studenten und Nachwuchswissenschaftler, die in den Bannkreis seines Charismas gerieten, haben ein Bewusstsein davon gewonnen, dass es in der Politik gewiss auch um Macht, doch letztlich um den Menschen geht, um die ihm gemäße Ordnung, um den Wert seiner Person.“92 Die Politikwissenschaft verstand Arnold Bergstraesser – ebenso wie die meisten anderen Fachgründer nach 1945 – laut Sontheimer als eine „Wissenschaft vom Menschen“, deren Aufgabe darin bestehe, die „Frage nach der guten, menschengemäßen Ordnung des Zusammenlebens lebendig zu erhalten und die politischen Systeme, auch das der westlichen Demokratie, daraufhin zu prüfen, inwieweit sie den normativen Prinzipien, denen sie dienen wollten, in ihrer konkreten empirischen Gestalt gerecht wurden.“93 Bergstraesser erscheint als ein konservativer Humanist.

92 Kurt Sontheimer: So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999, S. 79. 93 Ebd., S. 80.

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Carl Joachim Friedrich. Gemeinschaft, Tradition und Verwaltung1 Frank Schale

1. Einleitung Die Analyse politischer Weltanschauungen und ihrer Vertreter kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen. Von einem empirisch-nominalistischen Standpunkt aus ließe sich argumentieren, dass zur jeweiligen Weltanschauung diejenigen gehören, die sich zu ihr zugehörig zählen. Diese immanente Perspektive hat den Vorteil, dass sie das Material selbst sprechen lässt und Zuordnungsprobleme vermeidet. Sie muss nicht nach dem wahren Konservatismus fragen, denn sie meint, den Forscher als Referenzpunkt ausklammern zu können. Zugleich ließen sich auch gute Gründe finden, gegenüber dieser Betrachtungsweise Zweifel anzumelden. Sie geht implizit von der Authentizität und Aufrichtigkeit des jeweiligen Intellektuellen aus, dass er die Weltanschauung, zu der er sich zu bekennen vorgibt, tatsächlich vertritt. Ob dies zutrifft, ist keineswegs ausgemacht. Diese entkontextualisierte Verwendung bestimmter Ideologeme verweist letztlich auf neue, teils selbst ideologisch, teils strategisch und teils historisch konkret begründete Bündniskonstellationen gegenüber Dritten: die Ablehnung des Liberalismus durch Nationalbolschewisten oder Nationalrevolutionäre, die Ausbildung des Sozialliberalismus als progressive Strömung, der antitotalitäre Konsens des Konsensliberalismus oder der historische Kompromiss zwischen Eurokommunismus und Christdemokraten. Solche Zuordnungsfragen lassen sich nicht nominell beantworten. Es bedarf die Empirie transzendierender Argumente, die das Material strukturieren und eine ideologische Zuordnung ermöglichen. Zugleich muss diese Zuschreibung am ideengeschichtlich zur Verfügung stehenden Material, also anhand von – historisch keineswegs kongruenten – Texten, Aussagen und Handlungen, geprüft werden. Die Reduktion auf allein theorie-akrobatisch konstruierte Zuschreibungen reicht hierfür nicht aus –

1 Für Hinweise danke ich Alexander Gallus und Patrick Keller.

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nicht zuletzt, um bestimmte politische, intellektuelle wie biografische Ambivalenzen zu erfassen. So wie ich einen mittleren Weg zwischen einer rein immanenten und transzendenten Position gehen werde, versuche ich zu zeigen, dass bestimmte biographisch formative Ideen nur selten aufgegeben werden. Das politische Denken mag sich daher innerhalb eines bestimmten Paradigmas bzw. Denkstils bewegen, aber es geht niemals in diesem auf, sondern zeigt beachtliche Varianzen. Erst in seinen letzten Schriften entfaltet sich Friedrichs konservatives Denken vollends. Carl Joachim Friedrich, 1901 in Leipzig geboren und 1984 in Lexington gestorben, war ein Schüler von Alfred Weber in Heidelberg und siedelte nach Querelen am Institut 1926 in die USA um. Dort gelang ihm ein rasanter Aufstieg an der Harvard-University, in der amerikanischen Politikwissenschaft insgesamt sowie in diversen Beratergremien, wobei seine Zusammenarbeit mit dem Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone Lucius D. Clay wohl am wichtigsten gewesen ist. Anders als es sein Ruf als politischer Akteur, Empiriker und Komparatist nahelegt, verstand er sich als ideengeschichtlicher Rechtstheoretiker. Heute genießt Friedrich einen ambivalenten Ruf. Geschätzt wird er bei den einen als Pionier der Totalitarismustheorie, Mitbegründer der Vergleichenden Politikwissenschaft und Demokratiewissenschaft, als Verfassungs- und Föderalismustheoretiker, als Theoretiker der internationalen Beziehungen und als Vordenker der bundesrepublikanischen Ordnung. Andere beanstanden sein defizitäres Demokratieverständnis und rücken seine Ideen in die Nähe Carl Schmitts,2 wobei insbesondere die Denkfigur der konstitutionellen Diktatur bis heute immer wieder diskutiert wird.3 Im Folgenden wird Friedrichs Platz in der politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts genauer umrissen, indem grundlegende politiktheoretische Annahmen dargestellt und historisch bedingte Variationen seines Denkens erkundet werden, um abschließend die Frage nach seinem Konservatismus zu beantworten. Dass ich ihn als deutschen Konservativen deute – Friedrich selbst 2 Vgl. Hans J. Lietzmann: Politikwissenschaft im „Zeitalter der Diktaturen“. Die Entwicklung der Totalitarismustheorie Carl J. Friedrichs, Opladen 1999; Udi Greenberg: The Limits of Dictatorship and the Origins of Democracy: The Political Theory of Carl J. Friedrich from Weimar to the Cold War, in: Rudy Koshar (Hrsg.): The Weimar Moment. Liberalism, Political Theology, and Law, New York 2012, S. 443-464. 3 Vgl. Sanford Levinson: Framed. America’s 51 constitutions and the crisis of governance, Oxford, New York 2010; Günter Frankenberg: Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 2010.

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hat dieses Wort für sich nicht in Anspruch genommen und sprach stattdessen von Tradition4 –, ist seiner politischen Sozialisation geschuldet, in deren Folge er zeitlebens im Geiste der deutschen Kulturkritik argumentierte. Obwohl er sich schon bald als „Amerikaner“ generierte, begleitete er nicht zuletzt aufgrund seiner Professur in Heidelberg die deutsche Nachkriegsentwicklung. 2. Friedrich in der Spätphase der Weimarer Republik: ein Adept Schmitts? Erste Grundlinien seines politischen Denkens lassen sich aus seiner Verteidigung einer starken Präsidialgewalt in der Weimarer Republik gewinnen. Friedrich teilte die auch unter Liberalen verbreitete kulturkritische These, dass die Massendemokratie die integrative Kraft des Staates erodieren lasse. Wie angesichts dieser Diagnose, für die die Weimarer Republik ein Paradebeispiel zu sein schien, die richtige Ordnung gestaltet werden soll, wurde zu seinem Lebensthema. Die eigene Zeit wird als allgemeine Krise empfunden, weshalb seine Analyse auch nicht bei politischen Überlegungen stehen blieb. Wie bei vielen seiner Generation weist sein politisches Denken selbst noch in späten Jahren eine kulturkritische Note auf. Obwohl Friedrich in der Weimarer Republik kaum parteipolitische Verlautbarungen machte, vertrat er wohl eine Position zwischen Nationalliberalismus und Nationalkonservatismus. In seiner Kritik an der Reparationspolitik der Alliierten und der sozialdemokratischen Regierung lobte er die Haltung Hjalmar Schachts.5 Ob hieraus eine Nähe zur Deutschnationalen Volkspartei abgeleitet werden kann, ist schwierig zu entscheiden, da Friedrichs Kritik an der alliierten Reparationspolitik, sie verhindere notwendige Investitionen, auch von nichtkonservativen Autoren geäußert wurde. Unbestreitbar ist, dass Friedrich gegenüber der parlamentarischen Demokratie und dem „unlimited faith in the ruling force of reason“ einen „profound

4 In „Der Verfassungsstaat der Neuzeit“ (Berlin u. a. 1953, S. 496) führt Friedrich zunächst aus, dass der Begriff des Konservatismus historisch und geographisch weitgehend kontingent ist und lediglich das bewahren will, was er als wünschbare Gegenwart und Tradition begreift, um dann fortzufahren: „In den Vereinigten Staaten ist ein Konservativer ein Konstitutionalist.“ 5 Vgl. Carl J. Friedrich: Reparation Realities, in: Foreign Affairs 7 (1928), Heft 1, S. 118-131.

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distrust“6 empfand. Schon früh brachte er die richterliche Kontrolle und die Grundrechte gegen die parlamentarische Gesetzgebung in Stellung. Diese parlamentarismuskritischen Momente erklären sowohl sein Interesse an Carl Schmitt als auch sein ambivalentes Verhältnis zum Faschismus. In einer Rezension zu Robert Michels „Sozialismus und Faschismus in Italien“ heißt es, Italien gebe nun zu Recht seine „role of the Cinderella among the nations“ auf und werde angesichts seiner „culture and intellectual attainments“ zur Großmacht. Dass er schließlich Italien, welches sich zu diesem Zeitpunkt im zweiten Italienisch-Libyschen Krieg befand, als „thoughtful, objective, industrious, and peaceful nation“7 bezeichnete, dürfte aus heutiger Sicht zumindest befremden. Friedrichs „frühere Freundschaft“8 mit Carl Schmitt nimmt in der kritischen Literatur über ihn einen zentralen Platz ein. So glaubt Hans Lietzmann nachweisen zu können, dass der antikommunistische Verteidiger der „freien Welt“ selbst durchaus bereit war, in den Bahnen des „Kronjuristen des Dritten Reiches“ zu argumentieren. Diese inkriminierende Lesart trifft nur teilweise zu. Unbestritten ist, dass sich insbesondere Friedrichs Verteidigung der Notstandgesetzgebung in den Bahnen von Schmitts Diktaturbuch bewegt. Generalisierend heißt es daher, dass „sowohl die Begründung der Weimarer Notverordnungspraxis, wie die Rechtfertigung der Hitlerschen Gewaltherrschaft, wie die der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland, als auch schließlich der bundesdeutsche Nachkriegskonstitutionalismus […] ihre theoretische Grundlage aus dem gleichen Stamm politischer Theorie erfahren.“9

6 Carl J. Friedrich: The Issue of Judicial Review in Germany, in: Political Science Quarterly 43 (1928), Heft 2, S. 188-200, hier S. 195, 200. 7 Carl J. Friedrich: Sozialismus und Faschismus in Italien, by Robert Michels, in: The American Political Science Review 22 (1928), Heft 1, S. 197-199, hier S. 199. 8 Brief von Carl Schmitt an Ernst Forsthoff vom 15.2. 1956, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926-1974), Berlin 2007, S. 120. Trotz seiner Kritik in „The New Belief in Common Man“ hat Friedrich den Kontakt zu Schmitt nicht abbrechen lassen. So hat er nicht nur spätere Werke an ihn geschickt, sondern sich auch gemeinsam mit Ernst Forsthoff für die Besetzung seiner Nachfolge durch Hans-Joachim Arndt eingesetzt. (vgl. Arno Mohr: Politikwissenschaft in Heidelberg, in: ders./Dieter Nohlen (Hrsg.): Politikwissenschaft in Heidelberg. 50 Jahre Institut für Politische Wissenschaften, Heidelberg 2008, S. 19-87, hier S. 41. 9 Hans J. Lietzmann: Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie, in: Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 174-192, hier S. 189.

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Diese Zuspitzung verkennt, dass Friedrich nicht zur extremen Rechten in der Weimarer Republik gehörte.10 Seine Schmitt-Rezeption beschränkte sich auf die Diktaturschrift und folgte nicht dessen späteren Wendungen. In der Auslegung von Art. 48 und 25 der Reichsverfassung unterschied er zwischen einer verfassungsdurchbrechenden und einer kommissarischen Diktatur. Friedrich interpretierte den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung, der im Notstand – etwa bei kurzzeitiger Störung der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments – weitgehende Sondermaßnahmen durchsetzen kann. Der Reichspräsident könne aber nicht die Verfassung selbst suspendieren, vielmehr sei er nur ein Verfassungsorgan unter anderen. So könne der Reichstag die Notverordnung außer Kraft setzen. Aber es dürfen weder die funktionalen Aufgaben von Präsident, Regierung und Reichstag beschnitten werden, noch sei eine Verfassungsänderung im Zuge der Notstandsregime möglich. Schließlich gelte auch im Ausnahmezustand: „Activities of the government are subject to review by the courts.“11 Diese Interpretation der Notstandsmaßnahmen, die immer wieder auf deren rechtsstaatliche Grenzen hinweist, entspricht Schmitts Position von 1921. Nur hatte er sie im Zuge der Notverordnungspraxis selbst verlassen, um die demokratietheoretisch begründete höhere Legitimität des Reichspräsidenten gegen den parlamentarischen Gesetzgeber, aber auch gegen das Prinzip der Gewaltenteilung und schließlich – nach 1933 – gegen das Rechtsstaatsgebot selbst zu rechtfertigen.12 Nicht der Weimarer Reichsverfassung galt Schmitts Sorge, sondern der Wiederherstellung der politischen Einheit, die zur souveränen Entscheidung fähig ist. Normative Verfassungsfragen mussten an dieser Stelle zurücktreten. Noch deutlicher werden diese Differenzen in Friedrichs „The Development of the Executive Power in Germany“ von 1933, indem er angesichts des Preußenschlages erneut darauf insistiert, dass während der Notstandgesetzgebung „the constitutional organization of the government must remain intact. […] The commissary appointed by the president could ‚reestablish public safety and order‘, but he cannot take over the government of Prussia.“ Ein totaler Staat ist mit dieser Position nicht zu machen,

10 Friedrichs Protestbrief gegen Ernst von Salomons „Die Geächteten“ wird erwähnt bei: Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 277. 11 Carl J. Friedrich: Dictatorship in Germany?, in: Foreign Affairs 9 (1930), Heft 1, S. 118-132, hier S. 130f. 12 Vgl. Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, 6. Aufl., Berlin 1998, S. 93.

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wohl aber eine autoritäre Verschiebung zugunsten eines Verwaltungsstaates. „Germany will remain a constitutional, democratic state with strong socializing tendencies whose back-bone will continue to be its professional civil service.“13 Eine solche Position ließe sich aus der Sicht der partizipatorischen Demokratietheorie kritisieren, weil sie wesentliche Aspekte politischer Herrschaft gegen die politische Teilhabe zu immunisieren versucht. Aber sie ist keineswegs identisch mit Schmitts Option zugunsten der souveränen Diktatur des Reichspräsidenten. Während es für den konservativen Revolutionär Schmitt kein Zurück in den Verfassungsstaat gibt, um wenig später den Durchbruch zum totalen Staat zu wagen, klagt der traditionalistisch gestimmte Friedrich die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung ein. Hierin verdeutlicht sich der Unterschied zwischen konservativrevolutionärer Begeisterung für den plebiszitär sich rechtfertigenden totalen Staat und der konservativen Begründung für einen elitären Verfassungsstaat, dessen Bürokratie ein Mindestmaß an politischer Teilhabe verlangt. 3. Friedrichs politiktheoretische Position Friedrichs Verteidigung der kommissarischen Diktatur basiert nicht auf dem Dezisionismus oder dem konkreten Ordnungsdenken Schmitts, sondern folgt den politischen Implikationen der Kulturtheorie seines Doktorvaters Alfred Weber. „Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa“ besteht für Weber in einer Unterminierung der kulturellen Errungenschaften Europas durch die falsch verstandene Demokratie, die atomisierte und atomisierende Massendemokratie, in der der Staat seiner integrativen Kraft verlustig geht. Ohne eine genaue Lösung für diesen Desintegrationsprozess anzubieten, hoffte der jugendbewegte Weber auf die genialen Führer, um die aus der Bahn geschossenen Kräfte wieder auf ein richtiges Maß lenken zu können. Ziel müsse eine „oligarchische Massenorganisation auf demokratischer Basis“14 sein, eine Elitenherrschaft, die durch ein „cliquenhaftes Solidaritätsbewusstsein gegen die Masse des Volkes“ ein

13 Carl J. Friedrich: The Development of the Executive Power in Germany, in: The American Political Science Review 27 (1933), Heft 2, S. 185-203, hier S. 202f. 14 Alfred Weber: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925, S. 139.

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überindividuelles „geistiges Kollektivum“15 von oben her schaffe. Diese Gemeinschaft trägt bei dem jugendbewegten Weber starke Züge eines corpus mysticum, in dem sich der einzelne mit der Gemeinschaft auf gefühlsmäßiger Art und Weise vereinige, um so dem „Banne der Mittelmäßigkeit“16 zu entfliehen. Im Zentrum der Weberschen Argumentation steht das Problem, wie politische Eliten bestimmte kulturelle Leistungen zum Wohl der Gemeinschaft erbringen. Von dieser Spielart elitären Denkens ist Friedrich stark geprägt: Die kulturelle Leistung ist der aus dem europäischen Bürgerkrieg im Barock17 geborene Konstitutionalismus, dessen Bedrohung zunächst in der Massendemokratie, später in der totalitären Diktatur liege. Eine erste systematische Annäherung für seine allgemeine politiktheoretische Überzeugung unternahm er im Vorwort zu seiner 1932 veröffentlichten Edition von Johannes Althusius‘ „Politica“, in der er die Grundlage jedes richtigen politischen Nachdenkens findet. Richtig ist eine Ordnung, wenn sie einerseits die grundsätzlichen Bedürfnisse einer Gemeinschaft befriedigen kann und anderseits den Prozess der Gemeinschaftsbildung durch Eliten, die sich aber der Gemeinschaft verantworten müssen, weitgehend frei gewähren lässt. Beide Aufgaben erfüllt am ehesten der Konstitutionalismus, in dem eine verantwortungsbewusste Verwaltung die tägliche politische Arbeit übernimmt. Immer wieder zitiert er den ersten Satz aus Althusius‘ Politica: „‚Politics is the science of linking human beings to each other for a social life‘, so begins the ‚Politics‘ of Althusius. It one considers this definition just as it stands, one will perceive that Althusius was primarily concerned with what we now call the sociological or political field.”18 Der Mensch lebt immer in Gemeinschaft, politische Herrschaft dient der Gemeinschaft, die jedoch nur begrenzt zur Selbstorganisation fähig sei. Dennoch, wer die soziale Einbindung ignoriere, reduziere den Normalbürger auf den durch nichts gebundenen, atomisierten Masse-

15 Ebd., S. 145. 16 Ebd., S. 164. 17 Vgl. Carl J. Friedrich: Das Zeitalter des Barock. Kultur und Staaten Europas im 17. Jahrhundert, Stuttgart, 1954. 18 Carl. J. Friedrich: Introduction, in: Politica methodice digesta of Johannes Althusius, Cambridge 1932, S.XV-XCIC, S. LXILI.

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menschen.19 Eben weil das gemeinschaftliche Leben nicht völlig rationalisierbar ist – Friedrich spricht neben religiösen auch von erotischen Motiven20 –, kann Herrschaft nicht völlig rationalisierbar gemacht werden. Aber zugleich kann eine Diktatur nur eine Notmaßnahme sein, würde sie doch die kommunale Ordnung von oben zerstören. Gerade sein Konservatismus, im Staat eine „living community“21 zu erkennen, hinderte ihn daran, Schmitts Weg in die Diktatur zu folgen. Diese Grundgedanken führte Friedrich in seinem ersten Hauptwerk „Constitutional Government and Politics“ von 1937, ein Standardwerk der amerikanischen Comparative Government, detaillierter aus. Obwohl er primär historisch argumentierte, betonte Friedrich, dass der Konstitutionalismus Ausdruck einer allgemeinen Conditio Humana sei. Die Vorstellung der konstitutionell gebundenen Herrschaft trägt dem in Freiheit und Gemeinschaft lebenden Menschen Rechnung. „Der Konstitutionalismus schafft durch Gewaltenteilung (Aufteilung der Macht) ein System wirksamer Beschränkungen für das Handeln der Regierung. Er unterwirft sozusagen den ‚Staat‘ der Verfassung. […] Allgemeinverständlicher, doch weniger exakt ausgedrückt, handelt es sich um ein System von Regeln zur Gewährleistung des fair play, wodurch eine ‚verantwortliche‘ Regierung entsteht.“22

Die historisch-kulturelle Leistung des Verfassungsstaates reiche zwar bis in die Antike (Aristoteles) zurück, jedoch soll seine historische Argumentation eigentlich zeigen, dass die Idee der verfassungsmäßigen Ordnung eine Art wesentliche Bestimmungen des menschlichen Daseins sei. Dazu zeige die Genese des Verfassungsstaates der Neuzeit, dass er von bestimmten Vorbedingungen abhängig sei, die zugleich Grenzen seiner Weiterentwicklung markieren. Die Bejahung des Verfassungsstaates setze die Bejahung des Staates voraus. Der in Gemeinschaft lebende Mensch könne

19 „Althusius is much more absolutist at bottom than Bodin ever was, only it is not absolutism of the prince or the mass, but absolutism of the organized community, of the state.“ (Ebd., S. XCII). Weil für Friedrich Gemeinschaft eine historisch gewachsene Aufgabenteilung meint, muss er auch Schmitts Dezisionismus ablehnen, dem solch organische Vorstellungen fremd blieben. Gemeinschaft meint nicht Homogenität, die Friedrich später als Ursache für Schmitts Totalitarismus ausmachte (vgl. Carl J. Friedrich: Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, 2. Aufl., Heidelberg 1966, S. 120). 20 Vgl. Carl J. Friedrich: Introduction (wie Anm. 18), S. LXXI. 21 Ebd., S. LXXXVI. 22 Carl J. Friedrich.: Der Verfassungsstaat der Neuzeit (wie Anm. 4), S. 26.

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nur dort Freiheit genießen, wo es institutionelle Garantien für eben jene Freiheit gibt. Weil es „zuerst einen Staat geben [muss], bevor er konstitutionalisiert werden kann“23, erscheinen Verwaltung, Militär, Diplomatie, Polizei und Rechtspflege als tragende Stützen der freiheitlichen Ordnung. Aus dem historisch-faktischen Vorrang des Staates wird die normative Priorität der Verwaltungselite abgeleitet. Dass der Staat die Freiheit des Bürgers bedrohen könnte, kommt Friedrich nicht in den Sinn. Vielmehr bedrohen Teilhaberechte die „Schnelligkeit und Tatkraft“24 der Bürokratie. Demokratie spielt für ihn eigentlich nur im verfassungsgebenden Prozess – durch Repräsentanten – und auf kommunaler Ebene eine Rolle. Gegenüber dem Parlament bleibt Friedrich jedenfalls skeptisch: Das idealerweise nach Mehrheitswahlrecht gewählte Parlament diene der Auswahl der „wirklichen Führer“25, die sich gegenüber den Wählern allein „unter dem Gesichtspunkt ihrer technischen Leistung“26 rechtfertigen müssen. Angesichts der „willkürlichen Handlungen der Mehrheit“27 würden zu weitreichende Mitbestimmungsrechte und Kontrollbefähigungen das konstitutionelle System und damit den Schutz des Individuums gefährden. Friedrich plädiert für einen rationalen Verwaltungsstaat, dessen Zweck das gute Leben der Gemeinschaft sein soll, zu dem aber auch – wie konkret bleibt unklar – der Schutz des Einzelnen gehört. Solange sich die gemeinschaftlich gesonnenen Individuen zum Leistungsstaat bekennen, bleiben die politischen Probleme überschaubar. Bei Zielkonflikten zwischen rationalem Verwaltungshandeln und normativem Gemeinschaftsleben verweist Friedrich auf die politischen Eliten und ihre Leistungen. Diese autoritäre Note seines Denkens wird so lange temperiert, wie der Glaube an den in Gemeinschaft lebenden Menschen aufrechterhalten werden kann. Aber gerade hier liegt das grundsätzliche Problem der politisch verfassten Moderne: Der brave, in Gemeinschaft lebende einfache Mann ist zum iso-

23 24 25 26

Ebd., S. 42. Ebd., S. 64. Ebd., S. 339. Ebd., S. 309. Dass der Betonung der Leistungsfähigkeit der Verwaltung weniger ein rechtsstaatliches als vielmehr ein flexibles betriebswirtschaftliches Konstrukt zugrunde liegt, wurde vor allem von Herman Finer moniert. Die Kontroverse mit Finer vollzieht sich in der Deutung des Verantwortungsbegriffs, wie Michael Jackson plausibel hervorhebt (vgl. Michael Jackson: Responsibility versus Accountability in the Friedrich-Finer debate, in: Journal of Management History 15 (2009), Heft 1, S. 66-77). 27 Carl J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit (wie Anm. 4), S. 17.

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lierten und entfremdeten Massenmenschen geworden, der sein Verhältnis zur Gemeinschaft und zum Staat selbst rationalisiert. 4. Demokratisch-freiheitliche Uminterpretation Diese kulturkritische Position erwies sich in der aufziehenden Systemauseinandersetzung als schwierig. Wer den westlichen Verfassungsstaat aus Gründen der Demokratisierung dem Untergang geweiht sieht, kann kaum ein glaubhafter Kritiker totalitärer Regime sein.28 In „The New Belief in the Common Man” von 1942 arbeitete Friedrich die innerhalb seines Ansatzes möglichen demokratischen Elemente deutlicher heraus. Titel und Impetus sind an die berühmte Kriegsrede des Vizepräsidenten Henry A. Wallace „The Price of Free World Victory“ aus dem gleichen Jahr angelehnt. Der von einem starken spiritualistischen Glauben geprägte Wallace nahm seinen Ausgangspunkt in der Annahme, „Democracy is the only true political expression of Christianity.“29 Demokratie sei kein abstrakt rationales Konstrukt, sondern eine natürliche, erstmals in Amerika richtig und dauerhaft gefundene Lebensform. Seine Rede vom einfachen Mann, der nicht Schreiben und Lesen konnte, wohl aber für seine in der Gemeinde verbürgten Rechte einzustehen wusste, rief noch einmal den Mythos der kongregationalistischen Pioniernation wach. Der Kampf der Gemeinschaft der Freien gegen den satanischen Angriff der nazistischen Konterrevolution sei die Verteidigung der universellen menschlichen Würde. Diese weltweit durchzusetzen, sei die amerikanische Mission, so wie das amerikanische Jahrhundert in Wahrheit das Jahrhundert des common man sein werde. Religiös-moralische Überzeugung und technischer Fortschritt gehen Hand in Hand: Die Verteidigung der Freiheit bedeutet maximalen Einsatz in Produktion und Kampf. Die Rede gipfelt in der Beschwörung: „No compromise with Satan is possible. We shall not rest until all the victims under the Nazi yoke are freed. We shall fight for a complete peace as well as a complete victory. The people‘s revolution is on the march, and the

28 Bezeichnenderweise veröffentlichte Friedrich „Constitutional Government and Politics“ ab 1951 unter dem Titel „Constitutional Government and Democracy“. 29 Henry A. Wallace: The price of free world victory, in: ders.: Democracy Reborn, New York 1944, S. 190-196.

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devil and all his angels cannot prevail against it. They cannot prevail, for on the side of the people is the Lord.“30 Diese Verknüpfung von Freiheit, Gemeinschaft und Glaube teilte Friedrich: Die richtigen politischen Autoritäten sind mehr als Macht und Befehl, sie verweisen auf „Werte, Überzeugungen oder Glaubensinhalte,“31 die weniger theoretisch begründet denn – durch die religiöse Praxis eingeübt – gelebt werden. Damit treten jene Motive stärker hervor, die ein expertokratisches Politikverständnis dämpfen: „Was als richtig wirkt, kann nur deshalb als richtig wirken, weil die Menschen, auf die es wirkt, selber diejenigen sind, die die Werturteile fällen.“32 Die Frage, wie offene Gemeinwohlfindung und Verwaltungshandeln zu vermitteln sind, die Wallace mit Gottvertrauen gegenüber dem common man hatte, delegiert Friedrich aber an den klugen Politiker. Die Gemeinwohlfindung erfolge durch das Volk, dessen Ausführung geschehe aber durch politische Eliten, deren Infragestellung selbst gemeinwohlgefährdend sei: „Denn dann strömen in die Gemeinschaftsentscheidungen die Kenntnis und der Sachverstand dieser funktionellen Eliten nicht mehr ein, und es werden infolgedessen die Entscheidungen in steigendem Maße demagogisch, aber nicht gemeinschaftsbildend oder -erhaltend.“33 Den idealistischen Progressivismus von Wallace, der gegenüber der „roten Gefahr“ eine optimistischere bzw. gegenüber dem Antikommunismus eine defensivere Linie vertrat und in der Gründung der Progressive Party 1948 gipfelte, ging Friedrich folglich nicht mit.34 Das ist plausibel: Wenn in der Moderne der Gemeinschaftsmensch durch den Massenmenschen ersetzt werde, müssen sämtliche Wiederherstellungsversuche als gefährliche Romantik erscheinen. So ist jede Stärkung des verloren gegangenen Gemeinschaftsglaubens für Friedrich von einer tiefen Aporie gekennzeichnet: Wer die kollektiven und dringend

30 Ebd., S. 196. 31 Carl J. Friedrich: Demokratie als Herrschafts- und Lebensform (wie Anm. 19), S. 21. 32 Ebd., S. 45. 33 Ebd., S. 81. 34 Wallace zeitweilige kooperative Haltung gegenüber der Sowjetunion und dessen scharfe Kritik an der Truman-Doktrin, die ihn in den Augen der Antikommunisten als unzuverlässig erschienen ließen, finden sich bei Friedrich selbstredend nicht, wohl aber eine – aus Sicht eines Totalitarismusbuches überraschende – Bejahung des wirtschaftlichen Planungsgedankens (Carl J. Friedrich: The Political Thought of Neo-Liberalism, in: American Political Science Review 49 (1955), Heft 2, S. 509-525).

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nötigen normativen Grundlagen einer Gemeinschaft festigen wolle, präsentiere meist eigene parteipolitische Einstellungen, so seine realistisch-liberale Anmerkung.35 Vor diesem Hintergrund wird auch sein Institutionalismus deutlich: Nicht bestimmte politische Programme und abstrakte Ideen, sondern ein funktionierender Verfassungsstaat gewährleiste bürgerliche Freiheit. Mit dieser in der Besatzungspolitik vollends entfalteten Position war Friedrich, der wie sein militärischer Vorgesetzter Lucius D. Clay „dem missionarischen Eifer rigoroser Moralisten aus dem Norden skeptisch gegenüberstand“ 36, für die amerikanische Nachkriegspolitik – anders als Wallace – unter Truman und Eisenhower kompatibel. Auch sein bekanntestes Buch, „Totalitarian Dictatorship“ von 1956 zeichnet sich durch eine vergleichsweise liberalkonservative Geste aus. Zwar erklärt Friedrich, „daß die totalitären Systeme nur in einer Welt entstehen konnten, die durch die Massendemokratie und die moderne Technik bestimmt ist. […] Totalitäre Ideologien sind aus dieser Perspektive die Radikalisierung einer typisch modernen Entwicklung; man darf solche Ideologien nicht verwechseln mit überlieferten Anschauungen und Brauchtümern, wie sie sich in traditionellen Gesellschaften finden.“37

35 Vgl. Carl J. Friedrich: Demokratie als Herrschafts- und Lebensform (wie Anm. 19), S. 74. 36 Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 123. Friedrich war Constitutional and Governmental Affairs Advisor des amerikanischen Office of Military Government for Germany. Seine liberal gewendete autoritäre Position überschneidet sich mit zahlreichen Ideen des „Jefferson democrat“ Clay. Dies betrifft neben einer Skepsis gegenüber abstrakten Positionen die Hervorhebung einer starken lokalen und regionalen Regierung sowie der republikanischen Vorstellung, dass Demokratien nicht nur Rechte bieten, sondern auch Pflichten auferlegen sollten. In der Besetzungspolitik plädierte Friedrich, anders als Clay, für eine zurückhaltende Entnazifizierungspolitik, sowie die Verantwortung nach der institutionellen Neugründung rasch an die Deutschen zu übergeben. Die sich hieraus ergebenden Spannungen zu Clay brachte er noch Jahre später zum Ausdruck (Carl J. Friedrich: Pathologie der Politik. Die Funktion der Missstände: Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung, Propaganda, Frankfurt am Main 1973, S. 176, S. 223.) Schriften zur Nachkriegsplanung: ders.: Military Government as a Step Toward Self-Rule, in: The Public Opinion Quarterly 7 (1943), Heft 4, S. 527-541; Ders. u. a. (Hg.): American Experiences in Military Government in World War II, New York 1948; Ders.: Rebuilding the German Constitution I, in: The American Political Science Review 43 (1949), Heft 3, S. 461-482; Ders.: Rebuilding the German Constitution II, in: The American Political Science Review 43 (1949), Heft 4, S. 704-720. 37 Carl J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 23, 27.

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Aber den konservativen Impetus, Totalitarismus und Moderne in Verbindung zu setzen, relativiert er, sobald er auf tatsächliche Zustände in der Diktatur zu sprechen kommt. Eine konsequent konservative Deutung des Totalitarismus, die diesen mit der Moderne insgesamt identifiziert, wie etwa bei Leo Strauss oder Eric Voegelin, lässt sich bei Friedrich nicht finden. Totalitäre Herrschaft ist keine einfach entfesselte, sondern durch Parteiideologen instrumentalisierte Technik, so wie die wissenschaftlichen Legitimationsversuche, etwa die Rassenbiologie oder der Marxismus-Leninismus bloß pseudowissenschaftliche Argumente sind.38 Nähe und Grenzen zum Konservatismus treten v. a. in der Frage nach möglichen Oppositionsherden gegen totale Herrschaft hervor. So seien gerade traditionelle Institutionen – Familie, Kirche, Universität und Militär – „Inseln der Absonderung“. Diese wären nicht erst durch den Totalitarismus, sondern „die Logik der modernen Gesellschaft“39 insgesamt bedroht. Dennoch muss Friedrich einräumen, dass auch diese Institutionen die totalitären Regime mitgetragen haben40 – ein Eingeständnis, das seltsam isoliert neben seiner These von deren widerständigem Charakter stehen bleibt. So verwundert es nicht, dass auch ein anderer konservativer Topos, die Vorstellung natürlicher Eliten, gegen den Totalitarismus immunisiert wird. Seine Darstellung totalitärer Herrschaft dürfe nicht als Kritik an der charismatischen Herrschaft verstanden werden. Richtiges Charisma setze einen „Glauben mit echtem religiösem Inhalt“41 voraus, das selbstredend totalitären Systemen fehle. Richtige Autorität und totaler Terror widersprechen sich. Was nicht explizit gemacht wird, ließe sich auf den Nenner bringen, dass erst Religion und Autorität die richtige Ordnung begründen. Hier liegen denn auch seine Nachkriegsthemen. Eine erste Antwort auf diese „ewigen“ Fragen ist das Werk „Die Staatsräson im Verfassungsstaat“ von 1957/1961, in dem er verschiedene, im Kalten Krieg ergriffene Verfassungsschutzmaßnahmen unter Rückgriff auf ideengeschichtlich rekonstruierte Klassiker von Machiavelli bis Hegel diskutiert. Obwohl er nicht an der Notwendigkeit der Staatsräson zweifelt, dürften die angestrebten Zwecke nicht die angewendeten Mittel heiligen:

38 Daher wird hier die Kritik am Sowjetkommunismus nicht auf Marx selbst ausgedehnt. 39 Ebd., S. 218. 40 Vgl. ebd., S. 224f. 41 Ebd., S. 61.

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„Die Staatsräson ist daher nur eine besondere Form der allgemeinen Feststellung, daß Mittel ihrem Zweck angemessen, d. h., daß sie rational im Hinblick auf den Zweck sein müssen und daß daher diejenigen Mittel die besten sind, die die größte Aussicht auf Erfolg haben. Dabei braucht nicht gesagt zu sein, daß es vollkommen klar ist, geschweige denn daß es sich von selbst verstehe, was in einem solchen Sinne 'rational' ist. Aber wenn der Erfolg eingetreten ist, dann wird das, was ihn herbeigeführt hat, ex post facto durch ihn gerechtfertigt, und in diesem Sinne 'macht' Macht Recht.“42

Aus diesem Grund verurteilt er die antikommunistische Politik der fünfziger Jahre und bringt sie sogar in Verbindung mit der Politik totalitärer Systeme: „Amerika ist auf das Zutrauen der Menschen eingeschworen, auf einen Glauben an die Fähigkeit der Menschen zusammenzuarbeiten, die Überzeugung in die Tat umzusetzen, daß, wenn man jedem Mitglied einer Gemeinschaft ein hinreichendes Maß an Freiheit gibt, insbesondere die Freiheit, die Wahrheit zu suchen, sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen und richtig oder falsch zu wählen, dann eine erfolgreiche Zusammenarbeit möglich ist. Amerika ist durch seine Verfassung darauf festgelegt, daß kein Mensch die Wahrheit kennt, daß es zwar eine endgültige Wahrheit geben mag, daß aber niemand weiß, was sie ist, genau, wie es Gott gibt, aber kein Mensch sagen kann, ob er ihn besser kennt als ein anderer. Der Mensch kann nur hoffen, etwas mehr Wahrheit zu besitzen, aber auch das bleibt immer eine offene Frage.“43

Staatsräson im Verfassungsstaat meint keine Unterordnung, sondern das richtige Austarieren von Zwecken und Mitteln. Damit überführt Friedrich das Problem der Staatsräson auf das der Machtkontrolle und Freiheitssicherung. Eine absolute Sicherung des freiheitlichen Staates sei unmöglich, weil dies in der Preisgabe der Freiheit selbst läge. Die Naivität einer simplen Gemeinschaftskonzeption missbilligt Friedrich nun explizit, weil schlicht nicht klar sei, was mit dem „romantischen Glauben an den ‚gemeinen Mann‘“44 gewonnen sei. Entsprechend liberal ist seine Bewertung der Verfassungsschutzmaßnahmen: Er spricht sich gegen Parteiverbote und verwaltungstechnische Diskriminierung aus. Stattdessen verweist er auf die freiheitliche Kultur Großbritanniens, ausschließlich konkrete strafrechtlich relevante Handlungen zu verfolgen.45 Letztlich müsse jedem Bürger die „innere“ Sicherheit gewährt werden, seinem Gewissen zu fol-

42 43 44 45

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Carl. J. Friedrich: Die Staatsräson im Verfassungsstaat, Freiburg 1961, S. 15. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 125f.

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gen. Diese liberale Pointe, deren Held nicht Althusius, sondern Kant ist, bildet den Schlusspunkt. Wie ist diese liberale Temperierung zu erklären? Friedrichs kulturkritische Position musste im antitotalitären Kampf eine zumindest rhetorische Neuausrichtung erfahren, die die Vorstellung von verantwortungsbewusster Elite und treuer Gemeinschaft in die neue Welt verlegte und die USA als berechtigten Erben dieser Tradition deutete. Anders als der gerade bei Emigranten zu findende Typus des „liberal cold warriors“ war sich Friedrich angesichts der Einigkeit des westlichen Lagers in der Hochphase des Kalten Krieges so sicher, dass er keine radikale freiheitsbeschränkende Verschärfung als notwendig erachtete, zumal bei ihm ein ex-kommunistisches Renegatentum als individuelle Motivation fehlte.46 Vor allem das Motiv des optimistischen Konsensliberalismus, die totalitäre Gefahr bedrohe den in Freiheit vollzogenen Fortschritt, weshalb im antikommunistischen Kampf auch eben jene Freiheit eingeschränkt werden müsse, trat bei dem kulturkritisch gestimmten Friedrich zurück. Die totalitäre Gefahr war für ihn nur die Folge einer allgemeinen kulturellen Nivellierung, die Gemeinschaft, Tradition und Verwaltung erodieren ließ, deren historisch gewachsene Institutionalisierung jedoch überhaupt erst Freiheit ermöglichte. Die Infragestellung dieses Settings – auch zugunsten der Kommunismubekämpfung – erscheint als unnötige Störung dieser guten Ordnung. Insofern war es gerade sein Konservatismus, der ihn im Kalten Krieg zum „Liberalen“ werden ließ. Doch letztlich passen freiheitlicher Individualismus und die Überzeugung, dass die Gemeinschaft das Alpha und Omega jeder Theorie des Politischen sein müsse und nur eine Elite individuelle Bedürfnisse befriedigen könne, nur begrenzt zusammen. Ab den frühen 60er Jahren – äußerliche Anlässe sind der Sputnik-Schock, die Berlinkrise, die Kuba-Krise, der Vietnamkrieg, die innerwestliche Kritik am cold war consensus und die sich radikalisierende Bürgerrechtsbewegung – wird er die liberale Geste peu à peu zurücknehmen.

46 Vgl. Hannah Arendt: Gestern waren sie noch Kommunisten, in: dies.: Übungen im politischen Denken, Bd. 2, München 2012, S. 228-237.

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5. Verunsicherung und Rollback Diese Verunsicherung trägt bereits sein Buch „Transcendent Justice“ von 1964, das drei Jahre später in Deutschland unter dem Titel „Christliche Gerechtigkeit und Verfassungsstaat“ erschienen ist. Seine These lautet, dass der Konstitutionalismus nur als Teil der christlichen Kultur verständlich ist. „Die Verfassung soll das ‚Selbst‘ in seiner Würde und seinem Wert schützen; das ‚Selbst‘ hat ursprünglichste, entscheidende Bedeutung. Die Sorge für das ‚Selbst‘, die [...] in der christlichen Glaubenshaltung verwurzelt ist, hat die Rechtsbegriffe entwickelt, die dann als ‚natürliche Rechte‘ erscheinen.“47

Argumentativ hat diese These zur Folge, dass einerseits antike Autoren keine „richtigen“ Verfassungsdenker sein können und andererseits alle christlichen politischen Theoretiker zumindest als Vorläufer des freiheitlichen Verfassungsstaates erscheinen bzw. tatsächliche Vordenker des Verfassungsstaates als religiöse Autoren gedeutet werden.48 Aus der Perspektive der Ideengeschichtsschreibung verwickelt er sich selbstredend in einen eklatanten Widerspruch eines jeden naturrechtlichen Arguments, indem er den Konstitutionalismus als quasi-transzendentale „universelle Möglichkeit des Menschen als Menschen“49 begreift, den Zugang zu diesem Universalismus aber allein für das Christentum reserviert. Politisch wird der Konstitutionalismus, der die „Unterordnung des Herrschers unter richterliche Entscheidungen“50 verlangt, weniger als notwendige Vorform demokratischer Selbstregierung, sondern als deren Grenze, wenn nicht gar als Widerpart gedeutet. Der Konstitutionalismus, heißt es im Kapitel zu Althusius, verlange nach intermediären Gewalten und sich harmonisch fügenden subsidiären Kreisen, die die Gemeinschaft überhaupt erst konstituieren. Aber wie lassen sich in diesem letztlich hierarchischen Modell generelle Normen begründen? Das führt Friedrich nicht aus. Dafür tritt die politische Funktion der so geordneten Gemeinschaft deutlich hervor: „Auf der Einmütigkeit, die solcher Glaube bei der Bestimmung der Grundwerte und insbesondere jener Werte vorsieht, die

47 Carl J. Friedrich: Christliche Gerechtigkeit und Verfassungsstaat, Köln, Opladen 1967, S. 19. 48 So würden Kants kategorischer Imperativ und seine politiktheoretischen Überlegungen auf dessen „tiefreligiöser Einstellung“ (ebd., S. 84) basieren. 49 Ebd., S. 8. 50 Ebd., S. 37.

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der Gedanke der Berufung des Christen mit sich bringt, ruht die Autorität einer Herrschaft.“51 Heißt das nicht, dass liberale Rechte nur dort Geltung besitzen, wo ihre vorpolitische und letztlich religiöse Wertebasis besteht? Eine rechtsphilosophische Diskussion, wie transzendente Werte in einer säkularen Gesellschaft überhaupt Legitimationskraft erhalten, fehlt. Jedoch ist das Werk ein Buch des Übergangs, denn noch immer richtet sich Friedrichs Kritik nicht gegen zu weitgehende Mitbestimmungs- oder Freiheitsrechte, sondern eher gegen deren Einschränkung, wie sie die amerikanische und deutsche Bürgerrechtsbewegung zurecht monierten.52 Diese politische Positionierung täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Grundrechte von der hier aus vertretenen Theorie einen prekären Status haben: Sie basieren einerseits auf dem im christlichen Glauben verankerten Naturrecht und werden andererseits dem Bürger vom Staat lediglich gewährt. Bezeichnenderweise spricht sich Friedrich schließlich für die Einführung der Notstandsverfassung aus, und es ist gerade die sich radikalisierende Kritik der Studentenbewegung gegen diese Forderung, die zu einer weiteren Verschärfung von Friedrichs politischem Denken führte. In „Tradition und Autorität“ von 1972/74 will Friedrich nun nicht nur zeigen, dass die Tradition des Westens im Rechtsstaatsgedanken liege, sondern vor allem, dass Tradition und Autorität die Grundlage jeder rationalen Argumentation bilden. Obwohl er Tradition, dessen reaktionäre Verteidigung er als „Traditionalismus“53 verwirft, als Reservoir für mögliche Problemlösungsangebote versteht, bringt ihn die hierarchische Differenzierung von Tradition und Rechtstaat dazu, „vorherrschende Werte und Glaubensinhalte“54 in Stellung gegen vermeintliche Rechtsansprüche zu bringen. So versucht Friedrich zwar für einen Ausgleich von Autorität und Vernunft zu werben, um gleichermaßen die rationalistische Kritik am Staat und die irrationale Verteidigung einer verloren gegangenen Tradition miteinander zu versöhnen. Indem er aber ausführt, dass diskursive Gründe im Politischen nicht logisch-rationaler Natur, sondern rein rhetorischer, emotionaler und historischer Art seien, ist jeder rationalen Kritik das Wasser abgegraben. So heißt es schließlich: „Tradition ist der Vater jedweden Gemeinwesens, und es kann keine Autorität ohne Tradition geben, noch Tra-

51 52 53 54

Ebd., S. 63f. Vgl. ebenda, S. 99. Carl J. Friedrich: Tradition und Autorität, München 1974, S. 20. Ebd., S. 17.

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dition ohne Autorität.“55 Wo indes die von Friedrich als tradiert angenommen Grundwerte infrage gestellt werden, kann er nur eine gefährliche Erosion des Gemeinwesens sehen.56 Da er aber nicht benennt, worin die allgemeinen Werte bestünden, bzw. allein die formale Antwort geben kann, bei diesen handele es sich um die „Idee einer konstitutionellen Ordnung und der Herrschaft des Rechts“57, bleibt seine Kontrastierung von Vernunft und Tradition unklar. Vor allem ist angesichts der inhaltlichen Wandelbarkeit der ausgemachten „Idee des Rechts“ eine Fixierung auf eine bestimmte Tradition normativ nicht einsichtig.58 Konkret heißt es weiter: In Rechts- und Verfassungsfragen sollten zwar Vernunftgründe das politische und staatliche Handeln leiten, aber nicht auf diese reduziert werden. Rationale Regeln führten nicht immer zur richtigen Lösung, weshalb es auch Situationen geben kann, in denen die Regierung aufgrund ihrer praktischen Kompetenz außerhalb rechtsstaatlicher Bahnen agieren müsse. Dies betrifft nun keineswegs nur heikle Fragen des Ermessensspielraums oder das Problem der Notstandsgesetzgebung, sondern leitet auch Friedrichs grundsätzliches Verständnis der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese sei traditionsgemäß allein der Exekutive vorbehalten, weshalb jedes auch nur indirekte Eingreifen durch den Kongress einem „allgemeinen Autoritätsverlust“59 gleichkomme, der die staatliche Sicherheitsaufgabe gefährde. Dass die Frage um die tradierten Rechte im außenpolitischen Entscheidungsprozess gerade während des Vietnamkrieges heftig gestritten wurde – erinnert sei an Schlesingers Vorwurf der „imperial presidency“ – und gerade die auch von Friedrich selbst immer wieder hoch-

55 56 57 58

Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 69. Clarke E. Cochran zeigt am Beispiel des Gerechtigkeitsbegriffs Friedrichs unklare Trennung von normativen und empirischen Aussagen: Einerseits ist sie ein transzendenter Wert, andererseits eine regulative Norm einer konkreten Gemeinschaft. Da sich nun Autorität auf diesen Wert bezieht, muss Friedrich einräumen, dass auch totalitäre Führer über Autorität verfügen – ein Schluss, der aber der eigenen normativen Prämisse widerspricht. Clarke E. Cochran: Authority and Community. The Contributions of Carl Friedrich, Yves R. Simon, and Michael Polanyi, in: The American Political Science Review 71 (1977), Heft 2, S. 546-558, hier S. 550. 59 Carl J. Friedrich: Tradition und Autorität (wie Anm. 53), S. 82. Gemeint sind die National Commitments Resolution (1970), die Aufhebung der Gulf of Tonkin Resolution (1971) und der Case Act (1972). Die Maßnahmen des Kongresses gegen die Exekutive wurden im War Powers Act (1973) ausgeweitet.

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gehaltene Tradition der Checks and Balances ins Feld geführt wurde, muss an dieser Stelle nicht betont werden.60 An solchen Stellen wird deutlich, wie die Imagination bestimmter Normen und Praktiken zu einer als verbindlich erklärten Tradition dazu dient, politische Forderungen und Reformen abzuwehren. Dies betrifft auch den Bereich der Bürgerrechte, denn „die Freiheit der Unabhängigkeit einer Gruppe von Personen kann nur dann erhalten werden, wenn eine Autorität die Grenzen setzt, innerhalb derer solche Freiheit sich bewegt. Die Freiheit der Partizipation setzt eine autoritative Ordnung voraus, an der man partizipieren kann.“61

Aus diesem Vorrang der Institutionen vor der politischen Freiheit müssen nicht nur dem antiautoritären politischen Aktivisten, den Friedrich nun als anarchistischen Systemfeind wahrnimmt, bestimmte Freiheitsrechte genommen werden – „Gewalt wird notwendig“62 –, sondern auch die Parteien erscheinen jetzt als potentielle Infragestellung einer an sich verantwortungsbewusst agierenden Bürokratie. „Die Legitimierung von Parteien und ihren Führungen ist durch die Verfassungsordnung gegeben, von der sie ein Teil sind, doch der politisch neutrale Staatsdienst erweitert diese Legitimität sowohl durch die Art der Dienstausübung wie auch durch die Fähigkeit, die von der Führung angenommene Position zu begründen. Ein solcher Staatsdienst erfordert nämlich eine Autorität, die auf der technischen und administrativen Kompetenz beruht, welche für die große Menge der Beherrschten das entscheidende Kriterium der Qualität der Regierung und deren vielfach unannehmbaren Forderungen an die Regierten darstellt.“63

Solch abwehrende Momente verdecken aber das eigentliche Problem, welches Friedrich mit dem Begriff der „anti-traditionalistischen Tradition“64 umschreibt. Wenn Tradition im Gegensatz zum Traditionalismus kein bloßes Festhalten an bestimmten, als ewig angesehenen Werten darstellt, son-

60 Arthur M. Schlesinger, Jr.: The Imperial Presidency, Boston 1973. Vor diesem Hintergrund sei erwähnt, dass Friedrich in „The Impact of American Constitution Abroad“ den Präsidenten, den Föderalismus und die gerichtliche Normenkontrolle als wesentliche Merkmale der amerikanischen Verfassung – von Demokratie ist kaum die Rede – bezeichnet. Friedrichs These, Außenpolitik sei naturgemäß Vorrecht des Präsidenten, ist unterkomplex. 61 Carl J. Friedrich: Tradition und Autorität (wie Anm. 53), S. 94. 62 Ebd., S. 98. 63 Ebd., S. 106. 64 Ebd., S. 127.

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dern Ergebnis der gegenwärtigen politischen Kommunikation ist, dann lassen sich weder die Priorität einer bestimmten Tradition noch allgemeine und universelle Normen postulieren. Diesen Zustand kann nur derjenige als „Krise der Autorität“65 bezeichnen, der jene offene Gemeinwohlfindung selbst in Abrede stellt. Vielleicht ist aus diesem Grund der Held des Buches Edmund Burke, dem bei aller kämpferischen Verteidigung von Tradition, Naturrecht und Religion doch nur konservative Trauer blieb. In seinem letzten, nicht gerade sehr systematisch verfassten Buch „Pathologien der Politik“ tritt nun endgültig hervor, dass sich die angenommene Harmonie zwischen Tradition, Gemeinschaft und Eliten als zu anspruchsvoll erweist, um verfassungspolitische Reformen adäquat zu erfassen. Weiterhin bleibt unklar, worin die westliche Tradition besteht, welche Normen sie begründet, wo die Grenzen der Gemeinschaft und das Agieren der Elite liegen. Friedrich argumentiert recht plakativ, dass alle Bürger einer staatlichen Gemeinschaft, sobald sie radikale Forderungen stellen, die eigene Nation gefährden.66 Bürgerrechtsbewegungen, die das politische System bzw. große Teile der Bevölkerung zu repressiven oder gewalttätigen Handlungen provozieren, seien schlicht systemgefährdend. Die Verantwortung für jene Reaktionen tragen entweder die Aktivisten, ihre Unterstützer oder jene, die entsprechende Versammlungen genehmigen.67 Sollte etwa aufgrund eines zu weitreichend gewährten Demonstrationsrechtes68 ein „militärischer Staatsstreich“69 notwendig werden, tragen die Richter, die diese Demonstration genehmigt haben, die Verantwortung. Sie befänden sich heute in der gleichen Position wie die Justiz vor der Machtergreifung Hitlers. Von hier aus zieht Friedrich den Schluss, dass gesetzwidrige Praktiken wie Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung oder Propaganda nicht nur funktional im Sinne der Systemerhaltung sind, sondern über die Staatsräson hinaus einen normativen Inhalt haben. Weil es unmoralischer Mittel bedürfe, um die institutionelle Ordnung aufrechtzuerhalten, die erst mora65 66 67 68

Ebd., S. 127. Vgl. Carl J. Friedrich: Pathologie der Politik (wie Anm. 36), S. 65-100. Vgl. ebd., S. 165f. Bereits einige Jahre eher heißt es gegenüber einem Ausbau von Grundrechten: „Such hopes would, however, become chiliastic utopias, unless they are accompanied by the humble recognition of man's greater responsibilities as his rights increase.“ (Carl J. Friedrich: Rights, Liberties, Freedoms: A Reappraisal, in: The American Political Science Review 57 (1963), Heft 4, S. 841-854, hier S. 854). 69 Carl J. Friedrich: Pathologie der Politik (wie Anm. 36), S. 58.

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lisches Handeln möglich mache, ermögliche unmoralisches Handeln erst eine ethische Existenz, indem es den Wert der Moral überhaupt bewusst mache.70 Am Beispiel der Korruption heißt es etwa: „Wo die Korruption dazu beiträgt, eine veraltete politische Ordnung neuen Verhältnissen und Gegebenheiten auf gesellschaftlichem, technologischem und weltanschaulichem Gebiet anzupassen, kann man sie als funktional bezeichnen.“ Und doch will er diese Ausführungen nicht als Plädoyer für Korruption verstanden wissen: „Die Korruption kann zwar funktional sein, aber sie bleibt es nur dadurch, daß man dagegen vorgeht.“71 Unklar bleibt, wo die Grenze zwischen funktionaler und dysfunktionaler Korruption liegt – klar ist nur, dass sie nicht durch die Frage der Legalität beantwortet wird.72 Die politische Position ist in der Nixon-Ära mit Händen zu greifen: Die Infragestellung von als gewachsen angesehenen Entscheidungsprozessen verlangt gesetzeswidrige Praktiken zugunsten der Gemeinschaft – selbst dann, wenn die Gemeinschaft hierin einen Verstoß gegen die eigenen Prinzipien erachten sollte. So liegt der Wert nachrichtendienstlicher Praktiken allein darin, ob sie bei Entscheidungen der Exekutive helfen. Diese Praktiken seien nicht immer zu billigen, sofern sie aber unerkannt bleiben, kein Misstrauen gegen die Regierung erwecken und zur Erreichung bestimmter systemerhaltender oder systemverändernder Ziele dienen, bleiben sie hinnehmbar73 – ein famoses Eingeständnis für einen Theoretiker des Konstitutionalismus.74 Und doch ist dieser Schluss konsequent, folgt er doch der bereits in „Autorität und Tradition“ getroffenen These vom Vorrang der

70 Vgl. ebd., S. 10f. 71 Ebd., S. 139. 72 Am Beispiel des Kent-State-Massakers kommentiert Friedrich zynisch die Worte einer Demonstrantin, die aufgrund der Erschießungen ihren Glauben in die amerikanische Regierung verloren habe: „Diese Erbitterung kann funktional werden, wenn sie einen Menschen veranlaßt, sich politisch zu betätigen und am politischen Leben teilzunehmen. Es ist aber nicht sicher, daß dies geschehen wird […], denn die Ungeduld dieser jungen Leute ist nicht die geeignete Voraussetzung dafür, sich an dem nur langsam vorangehenden und anstrengenden politischen Prozeß zu beteiligen. Darüber hinaus werden diese Menschen nicht gern anerkennen, daß es notwendig ist, sich den politischen Gepflogenheiten anzupassen“ (Ebd., S. 98). 73 Vgl. ebd., S. 179-183. 74 Hier zeigen sich vollends die Folgen eines allein am Erfolg orientierten Verwaltungsbegriffs. Bezeichnenderweise hat Herman Finer bereits 1941 gegen Friedrich vorgeworfen, sein Verwaltungsbegriff weise eine antidemokratische Pointe auf: „Politicians and employees are working not for the good of the public in the sense of what the public needs, but of the wants of the public as expressed by the pub-

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Tradition vor der Legalität. Er tritt in dem Moment besonders plastisch hervor, als Friedrich angesichts der sich verselbständigten anti-traditionalistischen Tradition den Gemeinschaftsbegriff durch den des Systems ersetzt.75 Gegenüber einer besseren Kontrolle der Verwaltung kann er sich nur ätzend äußern, etwa wenn er gegenüber den entsprechenden Reformvorschlägen aus der „Great Society“ betont, dass die Missstände nur deshalb gesehen werden würden, „because the makebelieve of the past created illusions about the chance of eliminating this ‚pathologies of politics‘ – all politics, including democratic politics.“76 Wer die Bürokratie rationalisieren und normativen Standards unterwerfen wolle, begehe politischen Selbstmord. Die offenkundige Frage, gegenüber wem die Verwaltung verantwortlich ist, bleibt empirisch und normativ unbeantwortet.77 6. Fazit Der Verlauf von Friedrichs politischem Denken lässt sich in der Form einer negativen Parabel beschreiben. Nach einer expertokratisch-autoritären Exposition in den zwanziger Jahren begründet und differenziert er diese mit einem voraussetzungsreichen ideengeschichtlich legitimierten Konstrukt, das von der symbiotischen Beziehung einer Gemeinschaft und ver-

lic“ (Herman Finer: Administrative Responsibility in Democratic Government, in: Public Administration Review, 1 (1941), Heft 4, S. 335-350, hier S. 337). 75 Auch hier ist die Argumentation von beachtlichem Zynismus geprägt: Friedrich stellt zunächst fest, dass wirtschaftlicher Erfolg durch Korruption erreicht werden könne, diese Praxis aber aus demokratischer Perspektive problematisch sei, um fortzufahren, dass sie dann dysfunktional werde, wenn die Bevölkerung die Regierung ohnehin unterstütze. Wo sie dies nicht tue, erweist sich die Korruption denn auch als funktional, jedoch nur unter der Bedingung der Geheimhaltung. Diesen Gedanken schließt er mehr als sibyllinisch ab, wenn er vom Standpunkt des Ökonomen einen militärischen Staatsreich als „billiger“ erachtet, um endlich auszuführen: „Eine solche Entwicklung kann sogar zu den Alternativen gehören, mit denen sich die Vereinigten Staaten künftig auseinandersetzen müssen.“ (Ebd., S. 135.) 76 Carl J. Friedrich: What Is the American Condition?, in: The Virginia Quarterly Review 50 (1974) Heft 4, S. 610-614, hier S. 611. 77 „His formulas are not only ungrounded in empirical evidence but also relatively optimistic – one might even say naïve – regarding the acceptance by politicians and the public of the expanded role of nonelected career civil servants.“ (Jeremy F. Plant: Carl J. Friedrich on Responsibility and Authority, in: Public Administration Review 71 (2011), Heft 3, S. 471-482, hier S. 480.)

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antwortungsbewussten Elite getragen und einem starken Konstitutionalismus ausgeglichen wird. Dies soll gleichermaßen beide Extreme – unmittelbare Demokratie und Diktatur – bannen. Der Status dieses Konzeptes ist aber von Anbeginn fragil, denn Friedrich erläutert nicht, ob es sich hierbei um eine analytische, historische oder normative Konstruktion handelt. Vielmehr legen seine dazu meist nicht explizit gemachten Äußerungen nahe, dass er dieses Politikverständnis in die Vergangenheit projiziert, um es von der Gegenwart bzw. diese von jenem Ideal zu kontrastieren. Dieses kulturkritische Moment muss keinen Konservatismus implizieren. Wo Friedrich eine erfolgreiche Gemeinschaftsbildung zu erkennen glaubt, insbesondere im weitgehend geschlossenen Kampf gegen die totalitären Regime bzw. in der scheinbar konfliktlosen Zeit der Wohlstandsgesellschaft mit ihrem Traum vom Ende aller Ideologien, konnte er sich für eine Liberalisierung des Gemeinschaftsbildungsprozesses einsetzen. Entsprechende staatliche Eingriffe erfahren sogar eine dezidierte Kritik. Sobald angesichts der wachsenden inneren Kritik am cold war consensus die Gemeinschaftsbildung selbst bedroht zu sein schien, trat umgehend die restriktive Idee der von demokratischen oder parlamentarischen Kontrollen befreiten Elitenherrschaft hervor. Einen Nullpunkt erreicht dies in den siebziger Jahren, in denen Friedrich den für sein Denken fundamentalen Zusammenhang von Konstitutionalismus, Gemeinschaft und Verwaltungselite aufkündigt und Letzterer erlaubt, auch jenseits des Rechtsstaates zu agieren, um schließlich über die Zweckhaftigkeit einer Militärdiktatur zu sinnieren. In Friedrichs Schriften finden sich nicht nur Topoi des Nachkriegskonservatismus (die Kritik der Säkularisierung, der Vorrang des Rechts vor der Demokratie, ein beachtlicher Massenmachiavellismus und die Problematisierung der „totalitären Demokratie“ als genuiner Beitrag zur Totalitarismustheorie),78 sondern auch eher traditionelle Motive zumindest subkutan wieder (die Verwendung der Tradition als anthropologisches Argument, die Betonung des Vorrangs von konkreten Problemlagen vor abstrakten Theorien, die natürliche Notwendigkeit von Hierarchie, die Religion als ordnungsstiftende Instanz sowie eine markante Fortschrittsskepsis).79 Dass aber das, was man konservative Werte nennen könnte, Fried-

78 Vgl. Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus, Frankfurt am Main 1989, S. 173-217. 79 Vgl. Gerhard Göhler: Konservatismus im 19. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Bernd Heidenreich (Hrsg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 17-32, hier S. 28f.

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rich eher instrumentell denkt, markiert den Abstand zum traditionellen Konservatismus des 19. Jahrhunderts. Zwar bringt Friedrich immer wieder Werte und Normen als Argument, worin diese bestehen und inwiefern sie angesichts der Modernisierung westlicher Gesellschaften erhalten bleiben können, wird hingegen nicht diskutiert. Daher lassen sich bei Friedrich auch von den bei Russell Kirk aufgezählten Momenten konservativen Denkens – Glaube an die Heiligkeit der Gemeinschaft, Liebe zum Geheimnis des geordneten Lebens, Wertschätzung der natürlichen Hierarchie, Bejahung des Zusammenhangs von Eigentum und Freiheit, Lob des Gefühls und der Tradition sowie die Begrüßung einer Reformierung zum Gottgewollt-Richtigen – nur diejenigen Momente explizit wiederfinden, die der Konservative als kritikwürdig empfindet: unbegrenzten Fortschrittsglauben, Verachtung der Tradition, eine auf allgemeine Nivellierung abzielende Volldemokratisierung sowie wirtschaftliche Einebnung.80 Dieses Desiderat, keine positiven politischen Ziele mehr zu formulieren, mag Ausdruck einer theoretischen Inkonsequenz sein. Zugleich ist sie aber auch Folge seiner immer wieder in Stellung gebrachten Rede von der Effizienz und Schlagkraft der Verwaltung, hinter der eine beachtliche Planungseuphorie hervortritt, obwohl – oder besser: weil – sie in einem niemals aufgelösten Spannungsverhältnis zu der vor sich hergetragenen Fortschrittsskepsis steht. In dieser Paradoxie gründet Friedrichs Erfolgsmöglichkeit, sowohl an einen kulturkritischen Diskurs seit der Jahrhundertwende anzuknüpfen als auch als politischer Modernisierer zu argumentieren. Solange dieser Zwiespalt nicht zu einer Entscheidung genötigt wurde, passte sein politisches Denken zum nicht geteilten Konsensliberalismus der Nachkriegszeit. Kulturpessimistische, gemeinschaftliche und elitäre Momente traten im Vergleich zur Weimarer Zeit markant zurück, mit der Erschütterung des cold war consensus jedoch umso heftiger hervor. Dies ließ Friedrich wie nicht wenige Autoren zum „Neokonservativen“ werden.81 Solang er bereit war, die autoritären Momente seines Denkens liberal auszuweisen, war ihm der

80 Vgl. Russell Kirk: The Conservative Mind, 7. Aufl., Washington, DC 1985, S. 8-10. 81 Eine parallele Entwicklung bei Schelsky: Vgl. Ellen Thümmler: Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? – Helmut Schelskys Demokratie der Sachlichkeit, in: Alexander Gallus (Hrsg.): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, Göttingen 2013, S. 206-220; Frank Schale: Technische Steuerung und politischer Heros. Schelskys Hobbesinterpretation, in: ebd., S. 139-155

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Erfolg als Konstitutionalismus- und Totalitarismustheoretiker gewiss. Als er aber glaubte, mit seiner politiktheoretischen Position Ernst machen zu müssen, und seine Kritik statt gegen den Ostblock gegen die „illusions on freedom and democracy“82 zu richten, stand er angesichts des Auseinanderbrechens der imaginierten Einheit von Gemeinschaft und Verwaltung vor der Wahl, hoffnungsloser Romantiker oder Apologet des technischen Staates zu werden. Diese Opposition verweist auf ein grundlegendes politiktheoretisches Problem: Wer das wertrationale Moment der Gemeinschaft an das zweckrationale Moment des Rechts- und Verwaltungsstaates koppelt, wird letztlich eine Diffusion von Politik, Recht und Moral aushalten müssen. Und wer kein Interesse hat, den Gemeinschaftsbegriff selbst funktional-soziologisch aufzuklären oder die immanenten normativen Implikationen des Verwaltungs- und Rechtsstaates zu reflektieren, der muss nicht nur die moderne Gesellschaft im ständigen Niedergang sehen. Er wird den Rechtsstaat zum bloßen Mittel instrumenteller Vernunft degradieren.

82 Carl J. Friedrich: What Is the American Condition? (wie Anm. 76), S. 614.

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„Der wahre Konservative“. Max Horkheimer und der Konservatismus der frühen Bundesrepublik Magnus Klaue

1. Hamburg, 1970: Kritische Theorie im „Spiegel“ Als Georg Wolff, Leiter des Ressorts „Geisteswissenschaften“ der Wochenzeitschrift Der Spiegel, und sein Redaktionskollege Helmut Gumnior am 19. November 1969 den emeritierten Sozialphilosophen Max Horkheimer in seinem Haus in Montagnola in der Schweiz besuchten, um das Gespräch zu führen, dessen Druckfassung in der ersten Spiegel-Nummer 1970 unter dem Titel „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“ erschien1, ruhte im Archiv des Hamburger Magazins bereits ein anderes Interview. Es war ebenfalls unter Beteiligung von Wolff drei Jahre früher geführt worden, erschien aber erst mehr als sechs Jahre nach Veröffentlichung des Gesprächs mit Horkheimer im Druck. Der Titel, unter dem es am 31. Mai 1976 publiziert wurde („Nur noch ein Gott kann uns retten“), klingt ähnlich dräuend wie der des Horkheimer-Interviews, aber der Gesprächspartner war ein Erzfeind der Kritischen Theorie: Martin Heidegger.2 Im Vergleich mit dem Lokaltermin bei Horkheimer, bei dem nicht einmal Wolffs Mitarbeiter Rudolf Ringguth zugegen war, der im

1 „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“. Spiegel-Gespräch mit dem Philosophen Max Horkheimer, in: Der Spiegel, 1970, Heft 1-2, S. 79-84. Im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1985ff. (= HGS), Bd. 7, S. 345-357. In seinen Memoiren erinnert sich Wolff, wie er und Gumnior am „warmen Spätherbsttag des 19. November“ in Montagnola eingetroffen seien. Vgl. Georg Wolff: Memoiren. Unveröffentlichtes maschinengeschriebenes Typoskript, o. J., S. 241. Das Originaltyposkript befindet sich im Besitz des Medienforschers Lutz Hachmeister, der eine Kopie davon 2012 dem Spiegel-Archiv übergeben hat. Ich danke Lutz Hachmeister für die Möglichkeit, die Horkheimer betreffenden Passagen des Manuskripts einzusehen, und für die Genehmigung, daraus zu zitieren. 2 Siehe zum Folgenden die Rekonstruktion der Vor- und Wirkungsgeschichte des Heidegger-Interviews durch Lutz Hachmeister: Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS, Berlin 2015.

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Spiegel als Kenner der Kritischen Theorie galt und das Interview maßgeblich vorbereitet hatte3, war die Spiegel-Gesandtschaft, die sich im September 1966 in Heideggers Schwarzwald-Hütte eingefunden hatte, hochrangig besetzt gewesen.4 Sie wurde von Rudolf Augstein persönlich angeführt, dem das Trophäeninterview5 mit dem medienabstinenten Existentialphilosophen ein so wichtiges Anliegen war, dass er in den folgenden Jahren mehrfach versuchte, Heidegger zu bewegen, das autorisierte Gespräch, das dieser zu Lebzeiten nicht publiziert wissen wollte, früher abdrucken zu lassen. Die Bemühungen waren vergeblich, das Interview erschien fünf Tage nach Heideggers Tod. In seinen unveröffentlichten Memoiren beschreibt Wolff seine freundliche Beziehung zu Horkheimer.6 Nach Wolffs Schilderung begann sie mit einem Telefoninterview für den Spiegel im August 1969 aus Anlass von Adornos Tod7 und währte bis zu einem letzten Besuch im Frühjahr 1973, als Horkheimer schon schwerkrank in einer Nürnberger Klinik lag. Im letzten Brief, den Horkheimer an Wolff schrieb, autorisiert er die Druckfassung seines spätesten Spiegel-Interviews, das am 16. Juli 1973, neun

3 Georg Wolff vermerkt, dass Ringguth bei der Vorbereitung des Gesprächs mit Horkheimer „eine entscheidende Rolle“ gespielt habe, obwohl er „nicht dabei anwesend“ war: „Seine zuvor verfaßte Analyse der Frankfurter Schule bildete das Fundament, auf dem dann unserer [!] Fragekatalog gründete.“ (vgl. Georg Wolff: Memoiren (wie Anm. 1), S. 241). Mit der „Analyse“ bezieht sich Wolff auf einen Artikel Ringguths, der ohne Verfasserangabe am 17.3.1969 im Spiegel erschienen war: China am Rhein, in: Der Spiegel, 1969, Heft 12, S. 161f. 1973 fungierte Ringguth mit Helmut Gumnior als Autor eines Bandes der Rowohlt-Monographien-Reihe über Horkheimer: Helmut Gumnior/Rudolf Ringguth: Max Horkheimer, Reinbek 1973. 4 An der zum Gespräch mit Heidegger entsandten Spiegel-Delegation hatten neben Augstein und Wolff der Presse-Stenograf Walter Steinbrecher und die Fotografin Digne Meller Marcovicz teilgenommen. Siehe Lutz Hachmeister: Heideggers Testament (wie Anm. 2), S. 7-60. 5 So nennt Hachmeister in Abgrenzung zum Recherche- und Bekenntnisinterview die Interviewgattung, die „vorher in der Fragestruktur weitgehend ausgehandelt“ und bis zur Veröffentlichung längere Zeit verwahrt wird. Vgl. Lutz Hachmeister: Heideggers Testament (wie Anm. 2), S. 13f. 6 Georg Wolff: Memoiren (wie Anm. 1), S. 222-246. 7 Das Gespräch erschien am 11.8.1969: „Himmel, Ewigkeit und Schönheit“, SpiegelInterview mit Max Horkheimer zum Tode Theodor W. Adornos, in: Der Spiegel, 1969, Heft 33, S. 108f. Wiederabgedruckt in: HGS 7, S. 291-294.

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Tage nach Horkheimers Tod, inklusive Nachruf erschien.8 Emblematisch für die Beziehung zu Horkheimer ist in Wolffs Memoiren ein Dokument, das er „Mein Bekenntnis-Brief vom November 1969“ nennt.9 Darin informierte er Horkheimer vor dem im gleichen Monat geführten Spiegel-Gespräch über seine Mitarbeit für den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD). Der Brief, so Wolff, „schloß mit einer Erklärung, wonach ich in meinem Leben keinen Menschen getötet oder sonstwie an einer Tötung mitgewirkt hätte“.10 Wolff ließ den Brief durch Gumnior, der zu einem Vorgespräch nach Montagnola fuhr11, Horkheimer aushändigen. Das folgende Interview im November 1969 legte die Grundlage für den weiteren Austausch zwischen Horkheimer und Wolff; trotzdem ist Horkheimer, folgt man Wolffs Darstellung, auf dessen „Bekenntnis“ erst ausdrücklich eingegangen, als Wolff bei den Vorbereitungen eines weiteren Gesprächs über „das Verhältnis von Juden und Deutschen“12 brieflich hervorhob, dieses werde notwendigerweise „als das Gespräch eines großen Juden mit einem ehemaligen SD-Mann“ wahrgenommen werden. Nun schrieb Horkheimer an Wolff, „für entscheidend“ halte er nur, „dass Sie an keinen Untaten teilgenommen haben“.13 Das Interview über Juden und Deutsche kam Wolff zufolge dann trotzdem nicht zustande, weil Horkheimer sich weigerte, „allzu sehr über den Antisemitismus“ zu reden, um diesen nicht „aufs Neue zu erwecken“.14 Die freundliche Beziehung zu Wolff währte dennoch bis zu Horkheimers Tod. Während Wolffs Skrupel angesichts seiner SD-Mitgliedschaft in der Schilderung seiner Beziehung zu Horkheimer breiten Raum einnehmen, kommt er an keiner Stelle darauf zu sprechen, dass zum Zeitpunkt des Interviews mit Horkheimer das Heidegger-Gespräch druckreif beim Spiegel lag. Das ist umso beachtenswerter, als die Koinzidenz seiner gleichzeitigen Bekanntschaft mit Heidegger und Horkheimer den Rahmen von

8 „Es geht um die Moral der Deutschen“. Professor Max Horkheimer über die Zukunftsgesellschaft, in: Der Spiegel, 1973, Heft 29, S. 95-98. Wiederabgedruckt in: HGS 7, S. 480-485. 9 Georg Wolff: Memoiren (wie Anm. 1), S. 242. 10 Ebd., S. 240. 11 Vgl. Ebd., S. 240: „Diesen Brief gab ich meinem Kollegen Helmut Gumnior mit, der in einem Vorweg-Gespräch noch einige technische und inhaltliche Fragen klären sollte.“ 12 Ebd., S. 241. 13 Ebd., S. 243. 14 Ebd., S. 243.

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Wolffs Erinnerungen an Horkheimer bildet und ein Großteil der 25 Typoskriptseiten, die er diesen widmet, dem Nachweis von Affinitäten im Denken beider dient. Wolff identifiziert drei „Aussage-Gruppe[n]“, in denen Horkheimer und Heidegger sich nahe seien: die Warnung vor „technischem Fortschrittsglauben“, eine angebliche Abneigung gegen „Amerikanismus“ und „Marxismus-Leninismus“ sowie die Sehnsucht nach einem „andere[n] Denken“.15 Diese Reduktion von Horkheimers Denken auf einen vagen Fortschrittspessimismus war Wolff nur möglich durch Ausblendung des historischen Erfahrungshintergrunds: der Tatsache, dass der dem konservativen Bürgertum entstammende deutsche Jude mit marxistischer Vergangenheit und der Husserl-Schüler, der den Lehrer im Namen des Nationalsozialismus denunziert hatte, sich eben nur formal, auf der Ebene von „Aussage-Gruppen“, zusammenbringen ließen. Wolff erinnert sich, Heidegger habe ihm, nachdem er ihn brieflich am 6. Juli 1973 – ein Tag vor Horkheimers Tod – auf „Äußerungen“ in Horkheimers SpiegelInterview von 1970 hingewiesen habe, in denen dieser Heidegger „nahe“ sei, mit der kommentarlosen Abschrift des Briefes einer Studentin geantwortet. Diese berichtete darin, Horkheimer habe einmal geäußert, dass Heidegger beim Luftangriff in Freiburg 1944 „[l]eider“ nichts geschehen sei.16 Diese Abfuhr durch Heidegger kontrastiert Wolff mit Horkheimers diplomatischem Schweigen zu Wolffs Vergangenheit. Dass der Kontrast auch auf eine unüberbrückbare Kluft im Denken beider hinweisen könnte, kam ihm aber nicht in den Sinn – so wenig wie die Tatsache, dass ihn selbst historisch und biografisch mehr mit Heidegger als mit Horkheimer verband. Dass ein Brief an Heidegger, den Wolff versehentlich nach Montagnola gesandt hatte, von dort „ohne jede spitze Bemerkung Horkheimers wieder zurückkehrte“17, führt Wolff denn auch auf Horkheimers Freundlichkeit zurück – und erwägt nicht, ob sich auf einen solchen Irrtum womöglich gar nicht adäquat antworten ließ. In der Konstellation zwischen Wolff, Heidegger und Horkheimer kommt auch etwas von der widersprüchlichen Geschichte des Spiegel zum Ausdruck. In dessen Redaktion war Wolff, der 1952 zum Spiegel gestoßen war, lange Jahre weniger durch seine SD-Mitgliedschaft als durch seine

15 Ebd., S. 224. 16 Ebd., S. 226. Siehe hierzu Lutz Hachmeister: Heideggers Testament (wie Anm. 2), 168f. 17 Georg Wolff: Memoiren (wie Anm. 1), S. 223.

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Sympathien für die Regierung Konrad Adenauers eine Ausnahme.18 Augstein, der das Blatt 1947 als lizensierten Nachfolger der von den britischjüdischen Presseoffizieren John S. Chaloner, Harry Bohrer und Henry Ormond herausgegebenen Zeitschrift Die Woche aus der Taufe hob, hatte drei Jahre später von dem ursprünglich getroffenen Gentlemen’s Agreement, das Gründertrio mit 30 Prozent der Gesellschafteranteile am Spiegel zu beteiligen, nichts mehr wissen wollen. Die Woche-Herausgeber wurden mit einer symbolischen Zahlung (ein halbes Jahr lang 500 DM monatlich an Bohrer und Chaloner) abgespeist – in Ignoranz ihrer Biografien: Bohrers Eltern und Schwester waren in Auschwitz ermordet worden, er war 1939 nach London emigriert; Ormond, mit bürgerlichem Namen Hans Ludwig Jacobssohn, war von den Nazis als Richter entlassen und in Dachau inhaftiert worden.19 Statt sich mit diesen Biografien zu beschäftigen, begann Augstein schon 1949, gezielt Fachleute aus dem ehemaligen SD für den Spiegel anzuwerben20, darunter Horst Mahnke, der 1950 in einer mit Wolff verfassten Reportage jüdische displaced persons für den damals viel diskutierten Kaffeeschmuggel verantwortlich machte. Adlatus von Mahnke und Wolff war Franz Alfred Six, ehemals Presseleiter im SDHauptamt und dort verantwortlich für die akademisch-strategische Gegnerforschung, nach zeitweiliger Internierung 1952 durch US‑Hochkommissar John Jay McCloy begnadigt und seit Mitte der Fünfziger Mitglied der FDP mit Kontakten zum Bundesnachrichtendienst (BND).21 Lutz Hachmeister zeigt in seiner Studie, in welchem Maße die spezifische Form

18 1961/62 hatte Wolff im Spiegel eine acht Folgen umfassende Artikelserie über Adenauer publiziert, die auch als Korrektiv zu Augsteins Adenauer-Gegnerschaft zu verstehen war. Anders als Augstein unterstützte Wolff Adenauers Politik der Westbindung. Vgl. Lutz Hachmeister: Heideggers Testament (wie Anm. 1), S. 150-166. Zu Augsteins Ressentiment gegen den „West-Drifter“ Adenauer siehe Lars Lüdicke: Adenauer als Außenpolitiker und der Antikommunismus im Auswärtigen Amt, in: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hrsg.): „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014, S. 105-122, hier S. 105. 19 Über Bohrer, Ormond und Chaloner siehe Lutz Hachmeister: Heideggers Testament (wie Anm. 2), S. 97-104. 20 Vgl. ebd., S. 97-144. 21 Wolff und Mahnke hatten 1949 beide eine Anstellung als Marktbeobachter beim Hamburger Kaffee-Einfuhrkontor gefunden und in dieser Funktion den grassierenden Kaffeeschmuggel beobachtet. Kenntnisse aus dieser Arbeit verwendeten sie in ihrer Reportage. Wegen antisemitischer Tendenzen der Reportage wurde der Spiegel von dem Frankfurter Rechtsanwalt Joseph Klibansky verklagt. Vgl. ebd.,

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des investigativen Journalismus, die der Spiegel entwickelte, bis in die Diktion hinein von den geheimdienstlichen Erfahrungen der ehemaligen SD-Angehörigen geprägt war. Auch politisch, mit seiner Parteinahme für die als neue Heimat ehemaliger NSDAP- und SS-Mitglieder dienende FDP gegen Adenauers „Kanzlerdemokratie“22, und ideologisch, durch seinen Antikatholizismus, der ihn mit Heidegger verband, setzte Augstein relativ bruchlos Traditionen des Nationalsozialismus fort.23 In der frühen Bundesrepublik wurde diese Fortführung freilich gerade von Vertretern der „jungen Generation“ wie der Gruppe 47 wegen ihrer staatskritischen Stoßrichtung als progressiv und links wahrgenommen. Dass Wolff mit seiner Sympathie für Adenauer Horkheimer näher war als dem Spiegel, obgleich er durch seine Biografie erfahrungsgeschichtlich von Horkheimer getrennt blieb, dürfte ein Grund für die unausgetragene Ambivalenz gegenüber Horkheimer sein, die in Wolffs Memoiren zum Ausdruck kommt. Eine solche Ambivalenz prägt auch das Spiegel-Interview vom Januar 1970. Das Bemühen der Interviewer, die Hinwendung zur Theologie in Horkheimers spätem Denken mit einer an den Titel des unpublizierten Heidegger-Interviews erinnernden Gottesrenaissance in Verbindung zu bringen, liest sich als Versuch, Horkheimer auf eine Religiosität einzuschwören, der er beharrlich widerspricht: „SPIEGEL: …  Wenn es keinen Gott gäbe […] – worauf soll sich dann der Moralist in der Politik berufen können? HORKHEIMER: Auf Gott berufen? Das können wir nicht. […] Man kann nur handeln mit dem eigenen Antrieb, möge es so sein… SPIEGEL: Möge es so sein, daß es einen guten Gott gibt? HORKHEIMER: Adorno und ich – wer von uns beiden es zuerst formuliert

S. 109-113. Zu Six siehe Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. 22 Über diesen Begriff, der im Gegensatz zur „Koordinationsdemokratie“ eine auf den Kanzler statt auf das Kabinett ausgerichtete Form parlamentarischer Arbeit bezeichnet und sich meist polemisch gegen Adenauers angeblichen Autokratismus wandte, siehe: Arnulf Baring: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München 1969. Zum gegen die Adenauer-CDU gerichteten Rechtsnationalismus der frühen FDP siehe: Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945-53, München 2010. 23 Die Bedeutung von Augsteins Antikatholizismus für die Funktion des Spiegel als oppositionellem Leitmedium der Adenauer-Ära betont Hans Maier: Die deutschen und ihre Geschichte. Gesammelte Schriften, Band 5, München 2010, S. 290-296. Über die Affinitäten von Heideggers antikatholischer Wende zum Nationalsozialismus Hans Ebeling: Wege ins Eine, Würzburg 2000, S. 42-47.

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hat, weiß ich heute nicht mehr –, auf jeden Fall haben wir beide nicht mehr von Gott, sondern von der „Sehnsucht nach dem Anderen“ gesprochen.“24

Schon als Horkheimer geäußert hatte, die „Sehnsucht“, dass „das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge“, gehöre „zum wirklichen denkenden Menschen“, hatten die Interviewer eingehakt: „SPIEGEL: Also eine neue Religion? HORKHEIMER: Nein, wir können nicht eine neue Religion gründen.“25 Gegen Ende des Gesprächs wurde ein letzter, schon leicht genervter Versuch unternommen: „SPIEGEL: Indem Sie über die Rivalität der Welt, über die Verlassenheit des Menschen sprechen, reden Sie zugleich über das Absolute, also Gott. Ist das nicht ein Gottesbeweis? HORKHEIMER: Nein, das ist kein Gottesbeweis. Ich würde sagen, es ist ein theologisches Postulat. SPIEGEL: Wie kann ich wissen, daß ich verlassen bin, wenn kein Gott da ist? […] HORKHEIMER: Die Verlassenheit ist nur möglich, da haben Sie recht, durch den Gedanken ans Absolute. Aber die Gewißheit von Gott ist unmöglich.“26

Die systematisch scheiternden Kommunikationsversuche mit Horkheimer wirken seitens der Interviewer wie der Versuch, diesem die Titelzeile des unter Verschluss gehaltenen Heidegger-Interviews abzupressen, indem er zugeben möge, dass nur noch ein Gott uns retten könne.27 Evoziert wird das Vokabular der Existentialontologie, deren Renaissance in der Bundesrepublik bereits schon wieder mehr als zehn Jahre zurücklag: „neue Religion“, „das Absolute“, „Verlassenheit des Menschen“; statt „Sehnsucht“,

24 Max Horkheimer: „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“ (wie Anm. 1), S. 351 25 Ebd., S. 350f. 26 Ebd., S. 352. 27 Ähnlich vehement versuchten die Spiegel-Journalisten Horkheimer noch im letzten der mit ihm geführten Gespräche auf ein Bekenntnis zur positiven Religion zu vereidigen. Seine Äußerung, dass die Naturwissenschaften „keine moralischen Gebote“ enthielten, beantworteten sie mit der Frage: „Bedeutet das, die Religion sollte wiederbelebt werden?“ Horkheimers Entgegnung entsprach der im früheren Gespräch: „Nein, das ist nicht nur nicht möglich, sondern auch dem Wesen nach problematisch. Die Wiederbelebung der auf Dogmen begründeten Religion ließe sich nicht einfach mit dem Fortschritt der Wissenschaft und der Technik vereinigen“ (Max Horkheimer: „Es geht um die Moral der Deutschen“ (wie Anm. 8), S. 480).

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„das Andere“ und der „denkende Mensch“28 – Wendungen, die den Unterschied des Interesses an Theologie zu dem an Religion markieren.29 Doch nicht die Mühen, Horkheimers spätes Denken mit der Existentialphilosophie der fünfziger Jahre zu vereinbaren und ihn insofern zum Konservativen zu machen, sind das wirklich Interessante des Interviews, sondern der Rahmen dieser Bemühungen, der sie zu konterkarieren scheint – die Vorwürfe, er sei ein Konservativer geworden. Diese werden in der Eingangsfrage zusammengefasst: „SPIEGEL: Herr Professor, Sie und Ihr Freund Adorno waren die Begründer der Kritischen Theorie, die jahrelang als die Philosophie der revolutionären Jugend in Deutschland galt. Neuerdings haben Sie sich zu vielen Fragen in einer Weise geäußert, die als konservativ interpretiert worden ist. Sie haben im Streit um die Pille Papst Paul halbwegs verteidigt. Sie haben vom Stalinschen Faschismus gesprochen. Sie haben die Art, wie Theologie liberalisiert wird, kritisiert und den Rückgang der Gewissensbildung infolge der Erschütterung der väterlichen Autorität denunziert. Über alle diese Themen möchten wir mit Ihnen noch im Einzelnen sprechen…“30

Um zu verstehen, wie die Haltungen, deretwegen der späte Horkheimer hier buchstäblich zur Rede gestellt wurde, mit der Kritischen Theorie, als deren Preisgabe sie zumeist verstanden worden sind, doch zusammenhängen; inwiefern der Versuch des Spiegel, Horkheimer auf einen bestimmten Konservatismus zu vereidigen und ihm zugleich einen anderen Konservatismus vorzuwerfen, nicht nur paradox ist; und was diese Missverständnisse mit den unterschiedlichen Bedeutungsvalenzen zu tun haben, die beide Seiten jeweils mit der Rede von der „revolutionären Jugend in Deutschland“ verbunden haben, muss in die Zeit zurückgegangen werden, auf die die Konstellation von Horkheimer, Wolff und Heidegger verweist: in die Bundesrepublik der frühen fünfziger Jahre.

28 Das Fortleben existentialontologischer Phraseologie in der frühen Bundesrepublik kritisierte Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt am Main 1964. 29 Deshalb berechtigt Horkheimers verstärktes Interesse an Theologie seit den sechziger Jahren nicht dazu, ihn in den Kontext einer von der Achtundsechziger-Bewegung ausgehenden und in die sozialen Bewegungen der Siebziger fortwirkenden „Politisierung der Religion“ zu stellen. So geschieht es bei Pascal Eitler: „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt am Main 2009. 30 Max Horkheimer: „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“ (wie Anm. 1), S. 345.

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2. Wiesbaden, 1950: Die Verfassungstreue der Kritik Am 1. Dezember 1950 hielt Max Horkheimer im Staatstheater Wiesbaden vor den Mitgliedern des Landtags und dem an diesem Ort ebenfalls zugelassenen öffentlichen Publikum die Festrede zum vierten Jahrestag der Hessischen Verfassung. Seine erste von den USA aus vor Neugründung des Instituts für Sozialforschung unternommene Sondierungsreise nach Deutschland hatte er zweieinhalb Jahre zuvor angetreten; die Wiedereröffnung des Instituts fand ein Jahr später statt.31 Wie keine andere deutsche Stadt hatte sich Frankfurt mit seinen bedeutenden jüdischen Traditionen, befördert durch den sozialdemokratischen Oberbürgermeister Walter Kolb, nach 1945 um die Rückkehr jüdischer Emigranten bemüht.32 Der am 1. Dezember 1946 in Kraft getretenen Verfassung des Landes Hessen, in der viele Bestimmungen des Grundgesetztes vorweggenommen sind und die zugleich an Verfassungstraditionen aus der Weimarer Republik anknüpfte, kam eine ähnliche Vorreiterfunktion bei der Demokratisierung zu.33 Dennoch bliebe eine Betrachtung, die die Benennung Horkheimers als Festredner der Verfassungsfeier einfach aus dieser politischen Konstellation ableitet, der Sache äußerlich. Horkheimer war zum Zeitpunkt der Festrede amerikanischer Staatsbürger und hatte gegenüber den USA wie gegenüber Deutschland deutlich gemacht, dass er dies im Fall einer Rückkehr bleiben wollte. Horkheimers Festrede mit dem Titel „Politik und Soziales“ wurde dennoch ungekürzt in der Beilage des Hessischen Staatsanzeigers abgedruckt, in der sonst nur über Gesetzesänderungen und Wahler-

31 Vgl. Rolf Wiggershaus: Max Horkheimer. Begründer der „Frankfurter Schule“, Frankfurt am Main 2014, S. 127-169; Monika Boll: Max Horkheimers zweite Karriere, in: Dies./Raphael Gross (Hrsg.): „Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können“. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2013, S. 345-374. 32 Vgl. Heike Drummer/Jutta Zwilling: „Die Krönung unserer eigenen Wiedergutmachungspflicht“. Die Stadt Frankfurt am Main und das Institut für Sozialforschung, in: Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland, Frankfurt am Main 2009, S. 18-29. 33 Vgl. Jochen Lengemann: Das Hessen-Parlament 1946-1986. Biographisches Handbuch des Beratenden Landesausschusses, der Verfassungsberatenden Landesversammlung und des Hessischen Landtags (1.-11. Wahlperiode), hrsg. vom Präsidenten des Hessischen Landtags, Frankfurt am Main 1986.

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gebnisse informiert wurde34 – ein bis heute singuläres Phänomen, das von der ungewöhnlichen Wertschätzung zeugt, die Horkheimer staatlicherseits eingeräumt wurde. Möglich geworden ist Horkheimers Rede durch politische Netzwerke, über die er teils schon lange vor 1949 verfügte und die in die Weimarer Republik zurückverweisen. Sie weisen ihn in der Zeit um 1950 als dezidierten Gegner der Spiegel-Fraktion aus. Zu Horkheimers Vertrauten während der Nachkriegsjahre gehörte der christdemokratische Jurist und Ökonom Franz Böhm, der 1945/46 im Kabinett des parteilosen hessischen Ministerpräsidenten Karl Geiler Unterrichts- und Kultusminister war und 1952 auf Vorschlag Konrad Adenauers Leiter der deutschen Delegation für das Luxemburger Abkommen zwischen Israel und der BRD wurde.35 Böhm war in der Weimarer Republik Mitbegründer der ordoliberalen Freiburger Schule und trat seit Beginn der dreißiger Jahre öffentlich gegen den Antisemitismus in Deutschland ein. 1938 wurde er mit seiner Schwiegermutter Ricarda Huch nach dem Heimtückegesetz angeklagt und verlor seine Lehrbefugnis in Freiburg. Nach Kriegsende erhielt Böhm erneut einen Lehrstuhl an der Freiburger sowie später an der Frankfurter Universität, deren Rektor er 1948/49 war. Gemeinsam mit seinem Kollegen Walter Eucken trug Böhm maßgeblich dazu bei, dass die Freiburger Universität Heidegger 1946 die Lehrbefugnis entzog.36 Neben der linkskatholischen Denkschule um Eugen Kogon und Walter Dirks, den Begründern der Frankfurter Hefte37, hatte auch Böhm Einfluss auf die Gestaltung der Hessischen Verfassung, die neben wirtschaftsliberalen auch staatsinterventionistische Elemente enthielt, die in das spätere Grundgesetz keinen Eingang fanden. Dass Horkheimer 1950 in Wiesbaden sprechen konnte, dürfte er neben der Fürsprache von Kolb der Beziehung zu

34 Vgl. Max Horkheimer: Politik und Soziales. Festrede, in: Staatsanzeiger für das Land Hessen Nr. 51 vom 23. Dezember 1950. Beilage Nr. 14, S. 89-92. Im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in: HGS 8, S. 38-52. 35 Vgl. Dan Diner: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München 2015, S. 17. Zur Lebensgeschichte Franz Böhms vgl. Sebastian Sigler: Franz Böhm – wie einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft der Gestapo entkam, in: Ders. (Hrsg.): Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler, Berlin 2014, S. 229-248. 36 Zur Bedeutung von Böhm und Eucken für die universitätspolitische Entmachtung Heideggers siehe Lutz Hachmeister: Heideggers Testament (wie Anm. 2), S. 76f. 37 Vgl. Karl Prümm: Entwürfe einer zweiten Republik in den Frankfurter Heften 1946-1949, in: Thomas Koebner/Gert Sautermeister/Sigrid Schneider (Hrsg.): Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1945, Opladen 1987, S. 330-343.

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Böhm verdankt haben. Zu dem sozialdemokratischen Juristen Georg-August Zinn, der nur wenige Tage nach Horkheimers Rede zum Ministerpräsidenten Hessens gewählt wurde und zuvor Justizminister war, hielt Horkheimer ebenfalls Kontakt. Auch Zinn hatte sich in der Weimarer Republik gegen den Antisemitismus engagiert und sich während des Nationalsozialismus als Anwalt für vom NS-System Verfolgte eingesetzt38; als Jurist hatte auch er an der Ausarbeitung der Hessischen Verfassung Anteil. Die zu großen Teilen aus früheren HJ-Mitgliedern und Wehrmachtsoldaten bestehende „junge Generation“ der neuen Bundesrepublik, von der, vermittelt über die Gruppe 47, entscheidende Impulse für die spätere Neue Linke ausgingen – auf deren Seite sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre der Spiegel schlug –, sah die politische Gründungsgeneration der BRD eher als eine konservative Altherrenriege an, gegen die eine neue politische Jugendbewegung zu mobilisieren sei. Die Erfahrungsgeschichte der Kritischen Theorie jener Jahre legt etwas anderes nahe39: Für das Fortleben des Faschismus in der Demokratie, wie es Adorno später nannte, scheint in den 1950er Jahren eher der Spiegel zu stehen, dessen als progressiv und modern wahrgenommener Antikatholizismus und Polemik gegen den gesellschaftspolitischen Konservatismus der Adenauer-Republik sich personell und ideologisch als subkutane Fortschreibung von Traditionen aus der Zeit des Nationalsozialismus verstehen lassen. Die Kritische Theorie wiederum, die der retrospektive Blick der Achtundsechziger-Generation als Projekt gleichsam akademisch camouflierter Staatsfeinde wahrnehmen wollte40 – was ihr Ressentiment gegen Adorno und Horkheimer am Ende nur befeuerte –, war zur Zeit ihrer institutionellen Neugrün-

38 Vgl. Dietfrid Krause-Vilmar: Die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 in der Stadt Kassel, in: Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben Kassel (Hrsg.): Kassel und Nordhessen in der Zeit des Nationalsozialismus, Kassel 2003, S. 7-18. 39 Zur Einschätzung der „jungen Generation“ der frühen Bundesrepublik durch die Protagonisten der Kritischen Theorie siehe Monika Boll: Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik. Münster 2004, S. 37-49. Über die generationen- und erfahrungsgeschichtlichen Gründe für Horkheimers Distanz zur bundesrepublikanischen Jugend vgl. Werner Konitzer: „Die Juden und Europa“: Habermas, Horkheimer oder ein Nachspiel des Nationalen, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur VIII (2010): Kommunikationsräume des Europäischen – Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen, Leipzig 2014, S. 238-253. 40 Zur Unwiederholbarkeit der historischen Konstellation, die Adorno und Horkheimer in der Bundesrepublik den widersprüchlichen Doppelstatus von Professoren und Staatskritikern ermöglicht hat: Wolfgang Pohrt: Der Staatsfeind auf dem Lehr-

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dung nach 1945 mit den politischen Eliten der Bundesrepublik, nicht zuletzt über die gemeinsame Weimarer Erfahrung, weit enger verbunden als mit deren politischer Opposition. Horkheimers singulärer Status als Verfassungsfestredner in Wiesbaden 1950 verweist aber auch darauf, dass sich aus dieser Diagnose kaum die These begründen lässt, die Kritische Theorie sei in Wahrheit die Gründungsphilosophie der BRD gewesen.41 Eher hat sie den fortwährenden Antagonismus zwischen deren historischem Anspruch und ihrer Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht. Das lässt sich an Horkheimers Rede erkennen. Sie vollzieht, noch dazu vor einem staatstragenden Publikum, den schroffen Bruch mit der marxistisch begründeten Kritik an parlamentarischer und bürgerlicher Verfassung, wie sie die Kritische Theorie, bei aller Distanz zu Arbeiterbewegung und Parteikommunismus, bis in die späten dreißiger Jahre geprägt hatte.42 Zugleich aber begründet sie diesen Bruch mit der spezifisch deutschen Erscheinungsform der Volksdemokratie in Gestalt des Nationalsozialismus. Durch den Erfahrungskern von nationalsozialistischer Verfolgung und jüdischem Exil ist Horkheimers Verteidigung von parlamentarischer Demokratie und bürgerlicher Verfassung etwas grundlegend anderes als der Versuch der bloßen Restauration einer in Weimar gescheiterten konstitutionellen Form: Diese erhält vielmehr eine neue erfahrungsgeschichtliche Begründung und Notwendigkeit. Dass es vor allem in parlamentarische Ämter eingesetzte Juristen und Ökonomen waren, zu denen Horkheimer im Vorfeld der Institutsneugründung Kontakt pflegte, erscheint vor diesem Hintergrund nicht mehr zufällig. Seine in „Politik und Soziales“ artikulierte Verfassungstreue bezieht sich anders als die später gängige Rede vom Verfassungspatriotismus nicht auf das sich seinen Souverän gebende Konkretum eines Staatsvolks43, sondern auf die „formale Freiheit“, deren Kritik im Namen konkreter Freiheit „unmittelbar

stuhl. Vortrag in Hamburg vom 4. Mai 1984, in: Ders.: Stammesbewusstsein, Kulturnation. Pamphlete, Essays, Feuilleton, Berlin 1984, S. 56-69. 41 Programmatisch und materialreich wird diese Sichtweise vertreten von: Clemens Albrecht u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Korrigierte Studienausgabe, Frankfurt am Main 2000. Zu Horkheimers Verbindung mit führenden Politikern der frühen Bundesrepublik vgl. besonders S. 97-131. 42 Hierzu Monika Boll: Max Horkheimers zweite Karriere (wie Anm. 31), S. 353ff. 43 Begründet wurde der Begriff 1979 von: Dolf Sternberger: „Verfassungspatriotismus“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Mai 1979, S. 1; wieder abgedruckt in: Ders.: Schriften. Bd. 10. Hrsg. von Bernhard Vogel u. a., Frankfurt am

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zur Abschaffung jeglicher Freiheit selber“ zu führen drohe44, und auf deren Institutionen, deren bürokratische Starre Horkheimer gegen ein falsches Verständnis des von ihm mitgeprägten Begriffs der verwalteten Welt in Schutz nimmt: „Wir alle haben erfahren, wie das alte Mißtrauen gegen das Verdinglichte und Verhärtete der Institutionen propagandistisch dafür benutzt worden ist, der barbarischen Hierarchie Hitlers zur Macht zu verhelfen und damit ein Maß an Verhärtung […] zu erreichen, wie es kein Paragraph, kein junkerlicher Gerichtshof, keine parlamentarische Geschäftsordnung je besaß.“45

Die politische Erfahrung, an die hier als Begründung jener Verfassungstreue appelliert wird, ist nicht die des Nationalsozialismus als bürokratischem System und totalem Machtapparat, sondern vom Nationalsozialismus als losgelassener totaler Dynamik, die im Wüten gegen das „Verdinglichte“, „Verhärtete“ der barbarischen „Verhärtung“ keine Grenzen setzte. Aus dieser Erfahrung zieht Horkheimer die Konsequenz, dass „die Welt zur Hölle [wird], wenn sie solcher Ordnungen wie der verfassungsrechtlichen sich entäußert“, und begründet dieses Urteil erneut mit einer unhintergehbaren Erfahrung: „[Uns] gilt […] die Welt der Verfassung nicht länger als eine Welt von befrackten Festrednern, von leerem Betrieb und spitzfindig legalistischen Kontroversen, sondern als die Zuflucht, in der uns noch zu atmen erlaubt ist. Was verdinglicht, institutionell scheint, kann zur einzigen Rettung gerade des Menschlichen werden.“46

Kaum zufällig verknüpft er dieses Diktum mit der Berufung auf die „amerikanische Demokratie“, deren „Akte der Gesetzgebung“ in der Verbin-

Main 1990, S. 3-16. Aufgegriffen hat den Terminus Jürgen Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft, in: Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 632-660. Obschon der Begriff sich gegen die Begründung demokratischer Verfassungen durch Abstammung und Ethnie richtet und deshalb oft wegen seiner Abstraktion kritisiert worden ist, rekurriert er auf das Staatsvolk als Wertegemeinschaft und ist somit selbst eher ein Versuch, sich vom abstrakten und formellen Verfassungsverständnis der angloamerikanischen Tradition, auf die Horkheimer sich bezieht, zu lösen. Zur Kritik daran siehe: Johannes Agnoli: Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg 1995. 44 Max Horkheimer: Politik und Soziales (wie Anm. 34), S. 45. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 46.

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dung von Freiheit und Gerechtigkeit „weit über alles früher für möglich Gehaltene hinausgingen“.47 In der Rede von der „Welt der Verfassung“ als „Zuflucht“, die allein noch zu „atmen“ erlaube, und als einziger „Rettung gerade des Menschlichen“, ist die Erfahrung des amerikanischen Exils aufgehoben: Historischer Rückbezug auf die Weimarer Republik und geografischer Rückbezug auf Amerika konvergieren. Die bürgerliche Verfassung tritt selbst an die Stelle des vergangenen Exils. Das heißt aber auch, dass der bürgerliche Staat, dem sie sein Gesetz gibt, nicht wieder zur Heimat, ja nicht einmal mehr zum Zuhause werden kann, sondern bestenfalls eine Bleibe gewährt, in der sich leben und arbeiten lässt. Wie in einem Palimpsest scheinen in dem 19 Jahre später veröffentlichten Spiegel-Interview in jenen Passagen, die nicht nur von den Interviewern als Symptom eines neuen Konservatismus des späten Horkheimer gedeutet wurden, die 1950 formulierten Urteile durch. Die Kontinuität ist so offenkundig, dass weit eher als Horkheimers scheinbare Neuorientierung in den späten 1960er Jahren erklärungsbedürftig ist, weshalb sich zu dieser Zeit gesellschaftspolitische Anschauungen, die 1950 formuliert wurden, ungewandelt erhalten zu haben scheinen. Indes zeugt diese Wandlungslosigkeit selbst von einem Wandel, der sich im Rekurs auf den Begriff der Revolution, mit dem die Spiegel-Interviewer mehrfach die Kritische Theorie assoziieren, andeutet. Sprechen sie einleitend davon, dass diese „jahrelang als die Philosophie der revolutionären Jugend in Deutschland galt“, bekräftigen sie das im Weiteren mit dem Hinweis, „daß zahlreiche Führer der deutschen studentischen Protestbewegung aus dem Umkreis Ihres Frankfurter Instituts kamen“.48 In den Formulierungen fällt der emphatische Konnex von „Revolution“, „Protest“, „Jugend“ und „Deutschland“ auf (von der affirmativen Rede von den „Führern“ ganz zu schweigen). Horkheimer aber geht in seinen Entgegnungen auf den Begriff der Revolution überhaupt nicht ein und gebraucht ihn erst später in der prominenten Formulierung, „daß der wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter sei als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten heute“.49 Auf die Verknüpfung der Kritischen Theorie mit dem Begriff der Revolution seitens der Spiegel-Redakteure antwortet er stattdessen durch

47 Ebd., S. 43. 48 Max Horkheimer: „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“ (wie Anm. 1), S. 345. 49 Ebd., S. 354.

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Betonung des Begriffs der Bewahrung: „Die Kritische Theorie hat immer eine doppelte Aufgabe gehabt: das zu Verändernde zu bezeichnen und gewisse kulturelle Momente zu bewahren.“50 Gegen Ende des Gesprächs erklärt er, ausdrücklich gegen den Vorwurf gewendet, er wolle geschichtlich Vergangenes „zurückholen“, historische Prozesse ließen sich „nicht rückgängig machen“, jedoch müsse versucht werden, „etwas von dem Überlieferten zu bewahren, indem man die Wandlung auch in ihrer Negativität sichtbar macht“: „Das ist eine wichtige Aufgabe Kritischer Theorie.“51 Damit verweist Horkheimer zu einem Zeitpunkt, als der Begriff der Revolution wieder vermehrt bemüht wurde, auf dessen Historizität, ohne ihn freilich preiszugeben. Er erinnert die „revolutionäre Jugend in Deutschland“ und ihre Apologeten, zu denen in jener Zeit auch der Spiegel zählte, an das von ihnen vergessene beharrende, gleichsam statische Moment gesellschaftlichen Fortschritts, in dem gerade jenes Lebendige festgehalten sei, das von der Affirmation des gegen sich selbst blinden Fortschritts verraten werde.52 Dieses Moment der stasis, dessen fortschrittliche Qualität Horkheimer in seiner Verteidigung der bürgerlichen Verfassung mit Blick auf das künftige demokratische Staatswesen hervorgehoben hat, sieht er nun zugunsten einer blanken Identifikation von Fortschritt und dynamis verraten. Damit ruft er eine für die Kritische Theorie konstitutive Erfahrung in Erinnerung: die des progressiven, modernen Charakters der nationalsozialistischen Bewegung – die keine Bewegung Ewiggestriger, sondern selbst in nicht unwesentlichen Teilen eine Jugendbewegung war. 3. Hamburg/Bern, 1973: Vergessene Gedächtnisse Wie das Missverständnis, oder besser vielleicht: das konstitutive Nichtverstehen der Spiegel-Interviewer hinsichtlich Horkheimers Begriff des Kon-

50 Ebd., S. 345. 51 Ebd., S. 356. 52 Hierzu Max Horkheimer: Invarianz und Dynamik in der Lehre von der Gesellschaft, in: HGS 8, S. 53-63, besonders S. 58: „Gerade hier aber, in der äußersten Negation, in dem, was der Mensch zu verlieren droht, erscheint er schließlich als das, was er ist. Seine Freiheit, das eigentlich Menschliche, liegt in der Kraft, nicht stereotyp zu werden, sondern das Neue zu erfahren, das zu wollen, was nicht je schon ist, das nicht bloß Bestehende und Seiende, das andere.“ Die Fähigkeit, das Neue zu „erfahren“, setzt das Bewusstsein des Menschen um das voraus, was er zu „verlieren“ droht.

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servatismus mit den verschiedenen Einschätzungen der Jugend zusammenhängt53, lässt sich an den Urteilen Horkheimers über die Bedeutung der Familie für die Individuation, insbesondere für die Gewissensbildung ablesen, die sich ebenfalls schon in der Festrede von 1950 finden und im Spiegel-Interview noch deutlicher als das Motiv der Verfassungstreue nachklingen. In „Politik und Soziales“ kommentiert Horkheimer den in Artikel 4 der Hessischen Verfassung festgeschriebenen besonderen Schutz von „Ehe und Familie“ als „Grundlage des Gemeinschaftslebens“54 wie folgt: „Es ist darin mehr Wahrheit enthalten, als es zuerst den Anschein hat. – Aus den Fortschritten der modernen Psychologie ist uns bekannt, daß eine behütete Kindheit erst diejenigen Kräfte zur Entfaltung bringt, die einen arbeits- und genußfähigen, einen wahren Menschen ausmachen. In jedem ist die Anlage zu dem vorhanden, was wir Gewissen nennen. Wer aber nicht das Glück hat, in den zarten und leicht beeindruckbaren Jahren mit einem zugleich geliebten und geachteten Erwachsenen umzugehen, der wird seelisch verstümmelt bleiben. Wahrheit, Anstand, Gerechtigkeit, innere Unabhängigkeit werden nicht so tief in sein Wesen versenkt und eingebildet, wie es zum geistig unabhängigen, selbständigen, widerstandsfähigen Menschen gehört.“55

Begründet wird die Verteidigung des verfassungsmäßigen Schutzes von Ehe und Familie mit orthodox freudschen, den bürgerlichen Konstitutionsgrund der Psychoanalyse verteidigenden Argumenten56, die auf die Stärkung des Individuums gegenüber Kollektiven zielen:

53 Horkheimers Kritik richtete sich dabei stets gegen die Fetischisierung von Jugend, nicht gegen diese selbst. Jener Fetischisierung stellte er in seinem letzten Gespräch mit dem Spiegel ein emphatisches Verständnis von Kindheit wie von Erwachsensein entgegen, wobei letzteres auf die Fähigkeit zur verwandelnden Rettung kindlicher Erfahrung zielt: „Der Geist […] gehört zur Kindheitsepoche der Menschheit. […] Wir können allenfalls hoffen, daß die künftige Menschheit etwas von Religion und Philosophie bewahrt – so wie der wahrhaft erwachsene Mensch ein Stück seiner Kindheit“ (Max Horkheimer: „Es geht um die Moral der Deutschen“ (wie Anm. 8), S. 483f.). 54 So die von Horkheimer zitierte Formulierung zum besonderen Schutz von Ehe und Familie in Art. 4 der Verfassung des Landes Hessen. Zum Verhältnis von restaurativen und fortschrittlichen Elementen in der Familienpolitik der frühen Bundesrepublik vgl. Robert G. Moeller: Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997. 55 Max Horkheimer: Politik und Soziales (wie Anm. 34), S. 41f. 56 In Horkheimers dezidiert bürgerlichem Verständnis der Psychoanalyse besteht zumindest ein Akzentunterschied gegenüber Herbert Marcuse, dessen 1955 in den Vereinigten Staaten unter dem Titel „Eros and Civilisation“ erschienene Freud-

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„Das Kollektiv, sei es auch das der Schule, vermag die zarte und höchst komplizierte geistige Wechselwirkung von Vater, Mutter und Kind nicht nachzuholen oder zu ersetzen, ohne die es zur Bildung des Gewissens, zur wahren Identifikation mit den Ideen der Zivilisation nicht in vollem Maße kommen kann.“57

Die Apologie der Familie, die die „zarten und leicht beeindruckbaren Jahre“ der Kindheit, welche Voraussetzung der Ausbildung des Gewissens sind, institutionell erst ermöglicht, verdankt sich zweifellos in bedeutendem Maß Horkheimers auf das 19. Jahrhundert zurückverweisender Erfahrung der Kindheit im deutsch-jüdischen Bürgertum und revoziert damit eine in den fünfziger Jahren bereits lange vergangene Erfahrungsgeschichte, die Horkheimer eher mit Freud als mit seinen damaligen Gesprächspartnern teilte.58 Zugleich verweist die Verteidigung der bürgerlichen Familie als Voraussetzung gelingender Individuation aber auch auf die damalige Gegenwart. Wie Dagmar Herzog in ihrer bedeutenden Studie „Sex after Fascism“ zur Sexual- und Familienpolitik in der frühen Bundesrepublik ausführt59, lassen sich der Sexualkonservatismus, die Rigidität beim Schutz von Familie und Ehe und die Prüderie der 1950er Jahre in der BRD, gegen die sich dann die Achtundsechziger-Bewegung wandte, zu

Studie zwar theoretisch ebenfalls der Orthodoxie verpflichtet, politisch aber deutlich sozialrevolutionär ausgerichtet ist. Marcuse teilte Horkheimers Abneigung gegen die angloamerikanische Pragmatisierung der Psychoanalyse, sah deren Aktualisierung durch die Neue Linke aber wesentlich positiver. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1995. 57 Max Horkheimer: Politik und Soziales (wie Anm. 34), S. 42. 58 Georg Wolff ist 1914, Helmut Gumnior 1930 geboren. Beide umspannten biografisch gleichsam die in den zwanziger Jahren in Deutschland geborene Generation der HJ- und Wehrmachtssoldaten, mit denen Horkheimer die „junge Generation“ der frühen Bundesrepublik stark identifizierte und für deren generationelles Selbstverständnis eher als Freuds Schriften Alexander Mitscherlichs 1963 erschienene Studie „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ emblematisch war. Diese reflektiert, wenngleich in politisch zweideutiger Weise, die Erosion der psychosozialen Bedingungen des freudschen Begriffs von Individuation. Zur konfliktreichen Beziehung zwischen Mitscherlich und den Protagonisten der frühen Kritischen Theorie, vor allem hinsichtlich ihrer Einschätzung des Nationalsozialismus, siehe: Tobias Freimüller: Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler, Göttingen 2007. 59 Vgl. Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005. Die amerikanische Originalausgabe ist im gleichen Jahr erschienen.

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deren wichtigsten Vorläufern die sexuelle Befreiungsbewegung zählte, als Symptome des kulturellen Konservatismus, gar als eine Kontinuität von der Zeit des Nationalsozialismus zur Bundesrepublik nur unzureichend verstehen. Im Gegenteil deutet Herzog, die detailliert zeigt, wie im „Dritten Reich“ Sexualrepression im Zusammenhang der Rassengesetze, des Antisemitismus und der Eugenik mit Tendenzen zu sexueller Liberalisierung und Promiskuitätspropaganda koexistierten, den Sexualkonservatismus der Adenauer-Ära als eine Reaktion darauf, dass der Nationalsozialismus sowohl von der Volksgemeinschaft selbst wie von denen, die nach 1945 deren Demokratisierung anstrebten, als eine Epoche bedrohlicher sexueller Entgrenzung und Triebenthemmung wahrgenommen worden sei.60 Die Protagonisten der sogenannten sexuellen Revolution und die Kommunarden der Achtundsechziger-Bewegung hätten, so Herzogs These, den Sexualkonservatismus der fünfziger Jahre, in dem sie aufgewachsen waren – also die postfaschistische Antwort auf Erfahrungen des Nationalsozialismus – in einer Art kollektiver Amnesie mit dem Nationalsozialismus selbst verwechselt.61 Die Wiederkehr bestimmter Topoi der nationalsozialistischen Sexual- und Körperpolitik – die Fetischisierung von Nacktheit und den Exorzismus von Privatsphäre und Intimität bei den Kommunarden – versteht Herzog als Wiederkehr eines nie reflektierend ins Bewusstsein gehobenen Verdrängten. Vor diesem Hintergrund erhält die Beharrlichkeit, mit der Horkheimer bereits 1950 formulierte Positionen über den Zusammenhang von Familie, Individuation und Gewissensbildung noch im 1970 veröffentlichten Interview wiederholt und verteidigt, einen erfahrungsgeschichtlich neuen Akzent. Äußerungen aus dem Interview wie die, „daß die Pille auch die Familie, die ja nicht zuletzt auf sexueller Treue aufbaut, verändern wird, ja daß elementare ethische Strukturen unserer Gesellschaft in Frage gestellt werden“62, oder dass das „Motiv der unerfüllten oder gar unerfüllbaren Sehnsucht nach dem anderen Menschen“ in der gegenwärtigen Gesell60 Wie Herzog zeigt, setzte das für die frühe Bundesrepublik oft als typisch angesehene Schweigen über Fragen der Sexualität erst in den fünfziger Jahren ein. In den Jahren unmittelbar nach Kriegsende rückte Sexualität dagegen „in den Mittelpunkt der Bemühungen, den Faschismus – und seine Niederlage – zu bewältigen“ (ebd., S. 83). 61 Zur historischen Amnesie als Charakteristikum der Achtundsechziger-Bewegung: Ebd., S. 173-222. 62 Max Horkheimer: „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“ (wie Anm. 1), S. 355.

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schaft „museal“ und „‘Romeo und Julia‘ ein Museumsstück“ geworden sei, „das Fortgeschrittene eigentlich schon nichts mehr angeht“63, werden von Horkheimer in Verbindung gebracht mit der Diagnose einer Liquidation – nicht einer Aufhebung – der väterlichen Autorität in der realen gesellschaftlichen Erfahrung: „Indem Sohn und Tochter täglich vom Vater hören: ‚Seid fleißig! Sagt die Wahrheit! Tut das Rechte!‘ – geht die Forderung in ihre Psyche ein. Schließlich vernehmen sie des Vaters Stimme als ihre eigene. Während der Pubertät hält der Sohn dem Vater denn entgegen: ‚Sprichst denn du immer die Wahrheit? Tust du immer das Rechte?‘ Bis dann der Sohn versteht, daß man in dieser Welt nicht immer die Wahrheit sagen kann, nicht immer das tun kann, was man sollte. Das ist ein Moment der Reife. Nun aber ist heute die Autorität des Vaters erschüttert durch die […] Veränderungen, zu denen man auch die Pille zählen kann. […] Spielt das Gewissen, da die Autorität des Vaters nicht mehr dieselbe wie früher ist, eine andere Rolle? Oder kann es sich überhaupt nicht mehr herausbilden?“64

Solche Bemerkungen, die blank genommen wie Positionen der Gegenaufklärung erscheinen mögen, erhalten ihren erfahrungsgeschichtlichen Gehalt zurück, wenn sie als Antworten auf den von Herzog an der Generation der „Jugend“, deren Partei der Spiegel gegenüber Horkheimer ergreift, erkannten Erfahrungsverlust, als Reaktion auf jene Amnesie verstanden werden: als ein Konservatismus, der nicht das Überholte festzuhalten, sondern im historischen Prozess liquidierte Erfahrungsreste ins Bewusstsein zu heben sucht. Konsequenterweise begründet Horkheimer im Gespräch seine Verteidigung des Freiheitspotentials im Prinzip der Konkurrenz mit einer Erinnerung an seinen Vater, also mit tradierten Erfahrungsgehalten, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen65, deren lebendige Gültigkeit er aber für sein eigenes Denken beansprucht:

63 Ebd. 64 Ebd., S. 356. 65 Horkheimers Vater Moses Horkheimer, genannt Moriz, war Textilunternehmer und beschäftigte in seiner Kunstbaumwollfabrik in Zuffenhausen bei Stuttgart bis zu 90 Mitarbeiter. Die Fabrik produzierte jährlich etwa 5000 Tonnen Ware, die ins Inund Ausland verkauft wurde. 1918 war Moriz Horkheimer zum Ehrenbürger Zuffenhausens ernannt worden. Max Horkheimers Entscheidung, das Geschäft seines Vaters nicht fortzuführen, war zugleich der Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Vgl. Rolf Wiggershaus: Max Horkheimer (wie Anm. 31), S. 14-24. Zum sozialhistorischen Hintergrund Jacob Toury: Jüdische Textilunternehmer in BadenWürttemberg 1683-1938, Tübingen 1984. Außerdem Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 1964, S. 75 ff.

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„Er ließ die Abfälle von Webereien und Wäschefabriken durch Maschinen aufreißen und zu neuen Materialien für Spinnereien verarbeiten. Wie sollte er wohl anders dazu gekommen sein als durch den Impuls, man könne dadurch ein reicher Mann werden? Der Konkurrenzkampf veranlaßte ihn, sich praktisch anzustrengen, gar nicht so unähnlich, wie ich selbst mein ursprüngliches philosophisches Interesse den Anforderungen einer akademischen Laufbahn gemäß entfaltete, um meine geliebte, kürzlich verstorbene Frau angemessen erhalten zu können.“66

Im „Impuls“, der in der gegenwärtigen Gesellschaft keinen Ort hat und doch für deren Erkenntnis konstitutiv ist, überleben gleichsam somatisch Gedächtnisschichten, die vom falschen Fortschritt liquidiert und vergessen wurden. Sie lebendig zu halten, ist das Ziel von Horkheimers spezifischem Konservatismus. Insofern überrascht es nicht, dass Horkheimer nach seinem Tod am 7. Juli 1973 auf eigenen Wunsch auf dem jüdischen Friedhof in Bern neben seiner Frau und seinen Eltern begraben wurde – im einzigen nicht postfaschistischen deutschsprachigen Land Europas und inmitten einer Ikonographie, die das deutsch-jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts evoziert67 –, während Horkheimers letztes Spiegel-Interview, mit geringfügiger, aber dreister Änderung eines Zitats68, posthum unter dem gleichwohl zukunftsweisenden Titel „Es geht um die Moral der Deutschen“, erschien.

66 Max Horkheimer: „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“ (wie Anm. 1), S. 356. 67 Dan Diner: Am Grab von Max Horkheimer, in: René Bloch/Jacques Picard (Hrsg.): Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern 1200-2000, Zürich 2014, S. 413-418. 68 Die Äußerung, aus der die Überschrift stammt, richtet sich gegen „das überfreundliche Zeremoniell bei Begegnungen zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Staatsmännern“: „Die für die terroristische Herrschaft kennzeichnende Gewalt sollte doch nicht völlig in Vergessenheit geraten. Ich sage das vor allem deswegen, weil ich befürchte, daß dieses übertriebene Zeremoniell die moralischen Maßstäbe im Westen, vor allem im Bewußtsein des deutschen Volkes, beschädigen könnte. […] Es geht um die politische Moral der Deutschen.“ (Max Horkheimer: „Es geht um die Moral der Deutschen (wie Anm. 8), S. 482f.) Dass Horkheimer für eine „politische Moral“ plädiert, die er als westlich kennzeichnet und „im Bewußtsein des deutschen Volkes“ besonders schwach verankert glaubt, wird durch die Verkürzung ausgeblendet. Ein noch drastischeres Beispiel für entstellende Überschriften gibt das Spiegel-Interview aus Anlass von Adornos Tod, das „Himmel, Ewigkeit und Schönheit“ übertitelt ist. Im Interview sagt Horkheimer über Adorno: „Er hat immer von der Sehnsucht nach dem ‚anderen‘ gesprochen, ohne das Wort Himmel oder Ewigkeit oder Schönheit oder sonst was zu benutzen.“ Max Horkheimer: „Himmel, Ewigkeit und Schönheit“ (wie Anm. 7), S. 294.

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Liberalkonservatismus und Nationalkonservatismus nach 1968

Das politische Denken des Publizisten Matthias Walden Nils Lange

1. Einführung „Wie national darf’s denn sein?“1 überschrieb Matthias Walden am 11. April 1965 seine Kolumne in der Illustrierten Quick. Adressat war der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und Vize-Kanzler Erich Mende (FDP). Da sich der Minister als ehemaliger Wehrmachtsoffizier und Ritterkreuzträger für die Ehrung des Eisernen Kreuzes aus der Nazi-Zeit ausgesprochen hatte, warf ihm Walden vor, sich nicht ausreichend von fehlgeleitetem nationalem Denken zu distanzieren. Er schrieb weiter: „Mein Vaterland hat es mir allerdings schwer gemacht, es zu lieben. Aber ich versuche es trotzdem und gerade deshalb.“2 Dieses Paradoxon spiegelt das ambivalente Verhältnis des Publizisten Matthias Walden zu nationalen Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland wider. Auch Egon Bahr äußerte sich nach Waldens Tod über seinen ehemaligen Kollegen beim Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) in diese Richtung: „Gerade weil er zu den wenigen gehörte, die der Nation mit Leidenschaft anhingen, ohne Nationalist zu sein, ist ihm bleibender Respekt sicher.“3 Denn Walden galt Zeitgenossen als Patriot und ständiger Verfechter einer Einheit in Freiheit. Diese sah er allerdings in der Neuen Ostpolitik der sozialliberalen Regierung als auf unabsehbare Zeit verspielt an und bezeichnete im November 1972 den Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR als „Teilungspapier“4. Es erscheint lohnenswert, das politische Denken dieses unabhängigen Streiters und Mahners näher zu betrachten. 1 Matthias Walden: Wie national darf's denn sein? Offener Brief von Matthias Walden an Erich Mende, in: Quick – Illustrierte für Deutschland vom 11. April 1965. 2 Ebd. 3 Egon Bahr: Über Matthias Walden, in: Bettina von Saß (Hrsg.): „Er war ein guter Feind“. Zum 15. Todestag von Matthias Walden äußern sich seine Kritiker, Berlin 1999, S. 83-85, hier S. 85. 4 Matthias Walden: Statt Deutschland nur noch „BRD“, in: Die Welt vom 16. November 1972.

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Geboren wurde Walden als Eugen Wilhelm Otto Baron von Saß im Mai 1927 in Dresden. Als Redakteur der Zeitung der sächsischen CDU Die Union geriet er mehrfach in Konflikt mit dem sowjetischen – später ostdeutschen – Zensor. Nach seinem Ausschluss aus dem Verband der Deutschen Presse der DDR siedelte er 1950 in die Bundesrepublik Deutschland über. Das Pseudonym Matthias Walden legte sich Saß zu, um seine in der DDR gebliebenen Eltern zu schützen. Bis zu seinem Tod 1984 wirkte er in der Bundesrepublik Deutschland als Journalist, Publizist und politischer Kommentator, seit 1981 gemeinsam mit Axel Springer als Mitherausgeber der Zeitung Die Welt. Thomas Mergel sieht Matthias Walden in einer Reihe mit Gerd Ruge, Conrad Ahlers und Marion Gräfin Dönhoff als Vertreter eines politischen Neuanfangs im Journalismus der Bundesrepublik der 1950er Jahre.5 Dies entspricht durchaus auch einer zeitgenössischen Sicht, so schrieb beispielsweise 1962 ein US-Presseoffizier an das State Department in Washington, dass es sich bei Walden um „eine[n] der fähigsten jüngeren Fernsehredakteure politischer Sendungen“6 handele. Sich selbst charakterisierte Walden als einen Meinungsjournalisten. Er sah die Aufgabe seiner Arbeit weniger in der reinen Nachrichtenvermittlung, sondern legte großen Wert auf Meinung und Polemik.7 Diese Interpretation seiner Tätigkeit machte ihn zum Akteur in zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Debatten der Bundesrepublik Deutschland. Zu diesen trug er zunächst ab 1950 als Rundfunkkommentator beim RIAS und ab 1956 beim Sender Freies Berlin (SFB) bei. Beim SFB wurde er stellvertretender Chefredakteur und Chefkommentator – ab 1958 auch beim Fernsehen. Er trat außerdem als Leitartikler in der Wochenzeitung Christ und Welt in Erscheinung, bevor er von 1963 bis 1966 politischer Kolumnist in der Illustrierten Quick wurde. Ab 1967 avancierten Waldens Leitartikel zum festen Bestandteil der Meinungsseiten der „Richtungszeitungen“ (Hans-Peter Schwarz) des Springer-Verlages Die Welt und Welt am Sonntag und ab den 1970er Jahren zählte er zum inners-

5 Vgl. Thomas Mergel: Politischer Journalismus und Politik in der Bundesrepublik, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.): Politischer Journalismus. Öffentlichkeit und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 193-211, hier S. 197. 6 Zitiert nach: Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006, S. 261; dort ausführlich zur „45er“-Generation in der Medienelite S. 244-292. 7 Vgl. Matthias Walden: Politik im Visier, Stuttgart 1965, S. 14.

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ten Zirkel Springers.8 Der Verleger machte Walden nicht nur 1981 zum Mitherausgeber der Welt, sondern ernannte ihn ein Jahr später zum designierten Nachfolger in der Verlagsleitung – einen Posten, den Walden aufgrund seines frühen Todes 1984 allerdings nicht antreten konnte. Eine zusammenhängende wissenschaftliche Analyse von Matthias Waldens politischem Denken, seinen Positionen und Haltungen liegt bislang nicht vor.9 Neben einigen journalistischen Beiträgen über Werk und Person Matthias Waldens10 – unter anderem von Wegbegleitern wie Ernst Cramer11 – sticht die Forschung des Historikers Daniel Schwane heraus. In seiner Dissertation „Wider den Zeitgeist? Konflikt und Deeskalation in West-Berlin 1949 bis 1965“ geht Schwane knapp auf das publizistische Wirken Matthias Waldens vor dem Hintergrund des Chruschtschow-Ultimatums und der ersten Passierscheinverhandlungen in Berlin ein.12 Wentker behält mit seiner Kritik recht, da Schwane zwar eingesteht, dass Walden durch seine strikt antikommunistischen Positionen in der Diskussion um die Passierscheinverhandlungen 1963 klar dem rechten Flügel der CDU zuzuordnen war, es aber versäumt analytisch auf diese Entwicklung einzugehen.13 Durch Schwanes Eingeständnis, Walden sei mit seinen strikt antikommunistischen Positionen in der Diskussion um die Passierscheinverhandlungen 1963 klar dem rechten Flügel der CDU zuzuordnen, behält Wentker mit seiner Kritik recht.14 Er versäumt es jedoch, analytisch auf diese Entwicklung einzugehen. In einem späteren Aufsatz für das Deutschland-Archiv, der sicher einen wichtigen Beitrag für die wissenschaftliche Bearbeitung der Person Matthias Walden und seines publizis-

8 Vgl. Hans-Peter Schwarz: Axel Springer. Die Biographie, 2. Aufl., Berlin 2012, S.  626. 9 Dies ist das Ziel der Dissertation des Verfassers. 10 Sven Felix Kellerhoff: Sein Lebensthema war Deutschland. Vor 30 Jahren starb der visionäre Journalist Matthias Walden. Er ahnte die Einheit voraus, in: Die Welt vom 17. November 2014. 11 Ernst Cramer: Freiheit war die Triebfeder seines Tuns. Zum 20. Todestag des ehemaligen WELT-Herausgebers Matthias Walden, in: Die Welt vom 17. November 2004. Cramer war u. a. Herausgeber der „Welt am Sonntag“ (1981-1993). 12 Vgl. Daniel Schwane: Wider den Zeitgeist? Konflikt und Deeskalation in WestBerlin 1949 bis 1965, Stuttgart 2005, S. 164-189. 13 Vgl. Hermann Wentker: Rezension zu: Daniel Schwane: Wider den Zeitgeist? (wie Anm. 12), in: H-Soz-Kult, publiziert am 21. April 2006 unter: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-7041 (Stand: 9. Dezember 2016). 14 Vgl. Daniel Schwane: Zeitgeist (wie Anm. 12), S. 174.

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tischen Wirkens darstellt, vermag Schwane dies wiederum nicht zu leisten.15 Auffällig ist, dass Matthias Walden in der wissenschaftlichen Literatur meist ohne nähere Betrachtung oder Differenzierung als konservativer Journalist und Publizist aufgeführt wird.16 In seinem Aufsatz über den „Springer-Mentor“ Hans Zehrer verweist Hans Becker von Sothen gar auf Armin Mohler, der sich erinnerte, 1965 von Zehrer gemeinsam mit weiteren konservativen – ausdrücklich nicht „liberal-konservativen“ – Schreibern zur Welt geholt worden zu sein. Sothen zählt dann auf: Winfried Martini, William S. Schlamm, Matthias Walden, Hans-Dietrich Sander und Hans Georg von Studnitz.17 Eigentlich hieß es in dem „Who is who“ der Konservativen, das Armin Mohler vor den Wahlen 1969 schrieb, aber, dass bei Matthias Walden sein „heftiger Antikommunismus“ über dessen „linksliberale Grundeinstellung“ hinwegtäusche.18 Mohler druckte seinen Text fünf Jahre später noch einmal in seinem programmatischen Buch Von rechts gesehen ab, aus dem auch Sothen zitiert hat. An dessen vorgenommener Deutung lässt sich vor diesem Hintergrund aber zumindest zweifeln. Walden konnte Mohler offensichtlich nicht gemeint haben, als er von den anderen konservativen Autoren gesprochen hat. Freilich muss die Charakterisierung eines Verteidigers der Konservativen Revolution wie Mohler etwas verzerrt wirken. Dass sich Matthias Walden lange selbst

15 Vgl. ders.: Konservativer Vordenker oder vergessenes Fossil des Kalten Krieges? Der Publizist und Journalist Matthias Walden als Streiter für Freiheit und Demokratie, in: Deutschland Archiv 41 (2008), Heft 1, S. 75-84. 16 Siehe zum Beispiel: Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 120; vgl. auch Hermann Wentker: Rezension (wie Anm. 13). 17 Vgl. Hans Becker von Sothen: Hans Zehrer als politischer Publizist nach 1945, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, Berlin 2005, S. 125-178, hier S. 177. Interessanterweise fällt bei Alexander Gallus, der sich auf Sothen beruft, in der Aufzählung konservativer Autoren, die Zehrer zur „Welt“ geholt hatte, Matthias Walden weg; vgl. Alexander Gallus: Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 256. 18 Vgl. Armin Mohler: Konservativ 1969, in: Hans Julius Schoeps/Christopher Dannemann (Hrsg.): Formeln deutscher Politik. Sechs Praktiker stellen sich: Walter Scheel, Hans Reif, Freiherr von und zu Guttenberg, Armin Mohler, Günther Müller, Hans-Jürgen Wischnewski, München und Esslingen 1969, S. 91-118, hier S. 95. Erneut abgedruckt in: Ders.: Von rechts gesehen, Stuttgart 1974, S. 14-35.

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auch eher als einen „Mann der Mitte“19 gesehen hat und sich erst im Laufe der siebziger Jahre als konservativ verstand, kann sicher ebenfalls nur als Indiz gelten. Zumal dies nicht verwunderlich war, mussten für Walden doch die Konservativen nach dem „Machtwechsel“ 1969 eben „Idealisten der demokratischen Mitte“ sein.20 Die Zweifel verdichten sich indes angesichts der Ausführungen Jürgen Peter Schmieds, der in seiner 2010 erschienenen Biographie über Sebastian Haffner Walden als „liberal-konservativen“ Gegenspieler Haffners einführt. Eine Herleitung dieser Zuschreibung für Matthias Walden ist auch bei Schmied nicht zu finden, doch scheint es, als habe er diese vor allem angesichts des freiheitlich orientierten Charakters von Waldens Denken getroffen, der eine wie auch immer geartete Synthese von Demokratie und Diktatur nicht zuließ.21 Und auch der Beitrag von Waldens ehemaligem Kollegen beim RIAS und späterem Regierungssprecher sowie ständigem Vertreter in der DDR unter Helmut Schmidt, Klaus Bölling, in dem von Waldens Tochter herausgegebenen Erinnerungsband „Er war ein guter Feind“ lässt auf die Eigenart und Unabhängigkeit von Matthias Waldens politischem Denken schließen. Laut Bölling habe sich Walden nie von extremen antikommunistischen Gruppierungen vereinnahmen lassen und zeigte sich auch in seiner Kritik an der Ostpolitik nicht nationalistisch.22 Die folgenden Abschnitte bilden eine einführende Betrachtung über das politische Denken dieses streitbaren Journalisten und Kommentators und liefern einen Ausblick für weitere Analysen. Ausgehend von Waldens Kategorie des „staatsloyalen Handelns“ werden seine davon abgeleiteten grundsätzlichen Haltungen zur Bonner Ost- und Deutschlandpolitik sowie zur deutschen Nachkriegsdemokratie dargestellt.

19 Das wird zum Beispiel deutlich an Waldens Nachruf auf den CSU-Politiker Karl Theodor zu Guttenberg: Matthias Walden, Er diente dem Volk, er gab sich dem Vaterland, nicht der Partei. Nachruf auf Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, in: Die Welt vom 6. Oktober 1972. 20 Vgl. Ders., Konservative Haltung – ein Gebot der Zeit, in: Konservativ heute 1 (1970), Heft 5, S. 7-11, hier S. 11. 21 Vgl. Jürgen Peter Schmied: Sebastian Haffner. Eine Biografie, München 2010, S.  265; Sebastian Haffner: Die Deutschen und ihre Kommunisten, in: Stern vom 5.  Mai 1963; ferner Matthias Walden: Die Deutschen und ihre Kolumnisten, in: Quick – Illustrierte für Deutschland vom 26. Mai 1963. 22 Vgl. Klaus Bölling: Matthias Walden, Streiter gegen die Lauheit, in: Bettina von Saß (Hrsg.): „Er war ein guter Feind“ (wie Anm. 3), S. 91-95, hier S. 94.

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2. Die Kategorie des „staatsloyalen“ Handelns Die Kategorie des „staatsloyalen“ Handelns wurde von Walden in einem im Mai 1965 publizierten Artikel in der vom Kongress für Kulturelle Freiheit (CCF) herausgegebenen Zeitschrift Der Monat entworfen. Waldens Beitrag war die Antwort auf einen Text in der vorhergehenden Ausgabe des Monats vom Stern- und Zeit-Redakteur Peter Grubbe23, der den Zustand der deutschen Presse als zu „rechtslastig“ kritisierte und vor allem den Springer-Verlag als regierungstreu und konformistisch bezeichnet hatte. Laut Grubbe habe sich der Verlag nach dem Positionswechsel der Welt Ende der 1950er Jahre zu einem nationalistischen Zeitungshaus nach dem Vorbild des Hugenberg-Verlages entwickelt.24 Walden verteidigte in seinem Beitrag den Springer-Verlag, dem er zu diesem Zeitpunkt außer durch vereinzelte Gastbeiträge noch nicht institutionell verbunden war. Er schrieb: „Die Blätter des Hauses Springer sind nicht regierungstreu, sondern staatsloyal.“25 Darüber hinaus warf er Grubbe vor, die Realität der deutschen Presselandschaft falsch zu beurteilen. Es gebe im Gegenteil kaum eine Möglichkeit, einen scharfen Angriff auf das SED-Regime auf überregionaler Ebene irgendwo anders drucken zu lassen als in den Springer-Blättern.26 Die publizistische Debatte erregte auch in der Führungsebene des Springer-Konzerns Aufmerksamkeit, und so wurde der relevante Absatz aus Waldens Aufsatz in der Haus-Illustrierten des Verlages an prominenter Stelle zitiert.27 In ihrer Studie über den SpringerVerlag merkt Gudrun Kruip an, dass Axel Springer das Adjektiv „staats-

23 Erst in den 1990er Jahren kam ans Licht, dass Peter Grubbe eigentlich Claus Volkmann hieß und als Angehöriger der SS und Kreishauptmann in Polen an Judendeportationen beteiligt war. In den 1960er Jahren galt er noch als glaubwürdiger linksliberaler Autor und Journalist; siehe dazu: Matthias Weiß: Journalisten – Worte als Taten, in: Norbert Frei (Hrsg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 241-299, hier S. 295-299. 24 Vgl. Peter Grubbe: Freiheit, die ich meine, in: Der Monat 17 (1965), Heft 199, S.  88-94, hier S. 88; zum Vorwurf Grubbes u. a. Christina von Hodenberg: Konsens (wie Anm. 6), S. 366. 25 Matthias Walden: Liberal-sozialistische Koloraturen, in: Der Monat 17 (1965), Heft 200, S. 124-126, hier S. 126. 26 Vgl. ebd., S. 124-126. Christina von Hodenberg schätzt den Einfluss des SpringerVerlages zu dieser Zeit gleichfalls kaum als Gefahr für eine pluralistische Öffentlichkeit ein; vgl. Christina von Hodenberg: Konsens (wie Anm. 6), S. 368. 27 Vgl. Staatsloyal, in: Springer Post. Haus-Illustrierte für alle Mitarbeiter des Verlagshauses Axel Springer 10 (1965), Heft 6, S. 2.

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loyal“ so gefiel, dass der Verleger es von nun an ständig verwendete, wenn die politische Linie seines Verlages zur Sprache kam.28 Nicht nur seine Mitarbeiter sollten sich anscheinend mit dieser Kategorisierung identifizieren, sondern sie sollte auch als Assoziation mit dem Verlag für die publizistische und politische Riege der Bundesrepublik dienen. Eine „staatsloyale“ Linie war für Springer wie für Walden der Inbegriff der politischen Mitte, in der sie sich selbst sowie das Zeitungshaus Springers verorteten. Als „rechts“ konnte – so schließt Kruip – eben nur der Nationalsozialismus oder Hugenbergs Presseimperium gelten.29 3. Ost- und Deutschlandpolitik unter dem Primat des Antikommunismus In erster Linie richtete sich Waldens Polemik gegen strategische Ansätze der publizistischen Diskussion über eine Neudefinierung der Ost- und Deutschlandpolitik, die aus seiner Sicht gegen die strikt antikommunistische Staatsräson der Bonner Außenpolitik verstießen.30 Die publizistischen Vorstöße standen grundsätzlich in der Tradition des von Egon Bahr bei der Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing im Juli 1963 skizzierten Konzeptes eines „Wandels durch Annäherung“. Der damalige Pressesprecher des Berliner Senats warnte in seinem Referat vor einer zu engen Diskussion um die Anerkennung der DDR, da diese in eine Sackgasse führen würde.31 Noch am Abend zuvor hatte Walden auf derselben Tagung ein flammendes Plädoyer gegen eine Anerkennung der DDR gehalten, warf Entspannungsbefürwortern und Verfechtern menschlicher Erleichterungen vor, an die Unüberwindbarkeit des Kommunismus zu glauben, und erklärte seine Haltung mit einer antitotalitären Position: „Kann

28 Vgl. Gudrun Kruip: Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlages. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999, S.  147. 29 Vgl. ebd. 30 Zum Beispiel Peter Bender: Offensive Entspannung. Möglichkeit für Deutschland, Köln und Berlin 1964; Sebastian Haffner: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches. Grundfehler deutscher Politik nach Bismarck – damals und auch heute, 3. Aufl., Hamburg 1965. 31 Vgl. Egon Bahr: Vortrag in der Evangelischen Akademie Tutzing. 15. Juli 1963, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe/Band 9, Frankfurt am Main 1978, S. 572-575, hier S. 574.

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man denn nur entweder gegen die Nazis oder gegen die Kommunisten sein? Muß man denn nicht gegen beide sein, wenn man glaubhaft vor sich und allen anderen bleiben will?“32 Walden bewegte sich hier eindeutig auf den Bahnen der zu dieser Zeit populären Totalitarismustheorie.33 Er folgte auch der Diktion eines kämpferischen Antikommunismus der Anfangszeit des CCF unter der Federführung des amerikanischen Publizisten James Burnham. Burnham argumentierte auf der Gründungsveranstaltung des Kongresses 1950 im geteilten Berlin, dass es zwischen „Freiheit und Sklaverei“ keinen Raum mehr für eine „Dritte Kraft“ geben könne und dass ein Frieden unmöglich sei, solange die kommunistische Macht die Welt bedrohe.34 In den kommenden Jahren sah sich Walden mit seinem strikten Nichtanerkennungskurs, der im Klima der Berlin-Krisen noch zweifellos der vorherrschenden Meinung entsprach, immer mehr in die Minderheit gedrängt.35 Das lag zu einem großen Teil daran, dass der Publizist seine Positionen, die er in den 1950er und frühen 1960er Jahren im „Vorposten der Freiheit“ (Ernst Reuter) Berlin entwickelt hatte, in ihren Grundzügen beibehielt. Der 17. Juni 1953 blieb für den ehemaligen DDR-Bürger Walden darüber hinaus der eindeutige Beweis, dass die Menschen in der DDR sich nach einem westlich-demokratischen Regierungssystem sehnten.36 Ihre Unterdrückung durch die aus Moskau installierten Machthaber musste im Westen stets präsent gehalten werden. Seinen polemischen Attacken war gemein, dass sie in ihrer Konsequenz jegliche Möglichkeiten der Koexis-

32 Matthias Walden: Referat vor der Evangelischen Akademie Tutzing am 14. Juli 1963 – Thema: „Anerkennung von Realitäten“. Axel-Springer-Verlag Unternehmensarchiv (ASV-UA) NL Walden: Ordner: SFB Wochenkommentare, S. 31. 33 Siehe dazu: Carl Joachim Friedrich (in Zusammenarbeit mit Zbigniew K. Brzezinski): Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957; Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, New York 1951. 34 Vgl. James Burnham: Die Rhetorik des Friedens, in: Der Monat 2 (1950), Heft 22/23, S. 448-455, hier S. 454; Dominik Geppert: Intellektuelle und Antikommunismus. Der Kongress für Kulturelle Freiheit und die Gruppe 47, in: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hrsg.): „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014, S. 321-333, hier S. 324. Siehe außerdem ausführlich zum CCF: Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. 35 Vgl. Daniel Schwane: Walden (wie Anm. 15), S. 80. 36 Vgl. Matthias Walden: Zum 17. Juni 1961, in: Welt am Sonntag vom 15. Juni 1961.

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tenz von West und Ost oder eine Brückenfunktion eines geeinten Deutschlands ablehnten. Nur Adenauers Politik der Westintegration konnte in Waldens Augen zur Einheit in Freiheit des deutschen Volkes führen.37 An diesem Dualismus hielt der Publizist auch noch fest, als ihm bewusst wurde, dass die Westmächte Mitte der 1950er Jahre politisch nicht in der Lage waren, die Lösung der Deutschen Frage gegen Moskau durchzusetzen.38 Er kritisierte diejenigen, die in dem „Geist von Genf“ eine Chance auf Annäherung zwischen Ost und West sahen. Zeigte die Genfer Konferenz vom Juli 1955 für ihn lediglich, dass Chruschtschow und Bulganin zwei deutsche Staaten wollten.39 Walden erkannte die Taktik des Kreml, durch eine Hinhaltepolitik den Westen an den Status der deutschen Zweistaatlichkeit zu gewöhnen. Daraus leitete er seinen Ansporn ab, stets auf den Antagonismus der deutschen Teilung aufmerksam zu machen. Anders als beispielsweise für Egon Bahr und Willy Brandt änderte der Mauerbau vom 13. August 1961 nichts an Waldens kämpferischer antikommunistischer Haltung und seiner starren Ablehnung einer Entspannungspolitik gegenüber Moskau oder gar einer Annäherung an das SEDRegime der DDR.40 Der Mauerbau war für Walden, im Gegensatz zu Brandt und Bahr, kein Scheitern der Politik der Stärke, sondern ein klares Zeichen der Schwäche des Kommunismus, dem folglich nur mit weiterer Härte begegnet werden dürfe.41 Trotzdem war eine gewisse Flexibilität in der politischen Haltung Matthias Waldens vor dem Hintergrund der Großen Koalition 1966 zu erkennen. Den beweglicheren Ansatz in der Ostpolitik Kiesingers, der die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien, Ungarn, Bulgarien und der Tschechoslowakei beabsichtigte, akzeptierte Walden, sofern sich an die ostpolitische Konzeption von Union und

37 Vgl. Ders.: Spielregeln der Demokratie – Oktober 1954, in: Ders. (Hrsg.): Berliner Mikrophon 1953-1959. Eine Chronik in Kommentaren. Unveröffentlichtes Manuskript (ASV-UA: NL Walden. Ordner Berliner Mikrophon), S. 27-31, hier S. 29. 38 Vgl. Ders.: Deutsche Ostpolitik auf neuen Wegen – Oktober 1956, in: Ders.: Mikrophon (wie Anm. 36), S. 167-173, hier S. 169. 39 Vgl. Ders.: Der Geist von Genf – August 1955, in: Ders.: Mikrophon (wie Anm.  36), S. 70-74, hier S. 72. 40 Siehe zur Bedeutung des Mauerbaus für das außenpolitische Denken Brandts und Bahrs Manfred Görtemaker: Die Ursprünge der „neuen Ostpolitik“ Willy Brandts (1998), in: Ders. (Hrsg.): Deutschland und der Westen. Gedanken zum 20. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 123-138, hier S. 123. 41 Vgl. Daniel Schwane: Walden (wie Anm. 15), S. 79.

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SPD gehalten wurde, die eindeutig am Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik festhielt.42 Genau daran scheiterte aber Kiesingers Außenpolitik. Walden war besorgt, dass sich die SPD von der gemeinsamen Konzeption lösen könnte, war doch seine Hoffnung in eine Große Koalition zu großen Teilen daraus bestimmt, dass die SPD in der Regierungsverantwortung von ost- und deutschlandpolitischen „Illusionen“ Abschied nehmen würde. Als dann 1969 Willy Brandt als Kanzler der sozialliberalen Koalition mit seiner Neuen Ostpolitik eine neue Ära der bundesdeutschen Außenpolitik begründete und Matthias Waldens „Befürchtungen“ wahr wurden, war seine Positionierung als vehementer Meinungsgegner der sozialliberalen Regierung keine Überraschung. Es war auch nicht verwunderlich, dass er den Grundlagenvertrag von 1972 polemisch als „Teilungspapier“43 diskreditierte oder in dem 1975 erschienen Buch „Kassandra-Rufe“ von einem „Jahrzehnt des Opportunismus“ sprach.44 Die mythische Figur der Kassandra wurde zum Kennzeichen seines Selbstverständnisses. Ähnlich wie Gerhard Löwenthal – so schreibt es Stefan Winckler in seiner Biographie über den langjährigen Moderator des „ZDF-Magazins“ – sah Walden in einem „Wandel durch Annäherung“ die Gefahr einer Konvergenz der westlichen Demokratie mit dem Kommunismus und daraus resultierend einen Rückgang des Freiheitsbewusstseins in der Bundesrepublik.45 Später konnte Walden zwar der NATO-Politik Helmut Schmidts und deren Fortsetzung unter Helmut Kohl oder der Politik der Stärke Ronald Reagans einiges abgewinnen.46 Gleichwohl blieb der missmutige Gedanke, durch die politische Annäherung an die DDR und die Ostverträge die deutsche Einheit auf lange Zeit verspielt zu haben.47 Die Rolle der Kassandra trieb

42 Vgl. Werner Link: Die CDU/CSU-Fraktion und die neue Ostpolitik – in den Phasen der Regierungsverantwortung und der Opposition, 1966-1975, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag – 1949 bis heute, München 2009, S. 115-140, hier S. 118. 43 Matthias Walden: „BRD“ (wie Anm. 4). 44 Vgl. ders.: Kassandra-Rufe (wie Anm. 18), S. 7-20. 45 Vgl. Stefan Winckler: Gerhard Löwenthal. Ein Beitrag zur politischen Publizistik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2011, S. 352; Matthias Walden: „Konvergenz“ – nicht nur eine Theorie?, in: Siegfried Kappe-Hardenberg (Hrsg.): Wohin treibt Deutschland?, Velbert 1973, S. 36-53, hier passim. 46 Vgl. zum Beispiel Matthias Walden: Wenn Reagan unbequem wird, in: Die Welt vom 28. Juli 1981. 47 Vgl. Daniel Schwane: Walden (wie Anm. 15), S. 82ff.

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Walden in die öffentliche Isolation und machte ihn für seine publizistischen und politischen Gegner vorhersehbar. Im Springer-Verlag fand er jedoch ein gleichgesinntes Umfeld, was nicht zuletzt an seinem steilen Aufstieg vom Leitartikler und Chefkommentator zum Mitherausgeber der Welt und schließlich zum designierten Verlagsleiter zu beobachten war. 4. Die Verteidigung der deutschen Nachkriegsdemokratie Die zweite Ebene „staatsloyalen“ Handelns bezieht sich bei Walden auf die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Seit Beginn seiner publizistischen Laufbahn stilisierte Matthias Walden die Grundwerte der Bundesrepublik, vor allem durch Kritik an den Zuständen in der DDR – die er stets in Anführungszeichen zu setzen pflegte –, zum Ideal.48 Dadurch erhob er vor allem negative Freiheiten wie freie Wahlen, freie Meinungsäußerungen und Reisefreiheit zu den Grundfesten des westdeutschen Teilstaates. Sein Staatsideal war die „Freiheit in Ordnung“ in einer parlamentarischen Demokratie, die so gegen Radikalismus von rechts und links gleichermaßen geschützt werden sollte.49 In einer Fernsehdebatte über die Studentenproteste an deutschen Universitäten 1968, in der Walden den Part der „Klage wider den Linksfaschisten“ übernahm, spitzte der Publizist seinen Standpunkt pointiert zu. Er sagte: „Freiheit ohne Ordnung ist Anarchie, Ordnung ohne Freiheit ist Diktatur.“50 Walden gab darüber hinaus zu, dass die Demokratie in der Bundesrepublik durchaus fehlbar sei, aber dass die Vorteile überwiegen würden und dass sich Reformbemühungen immer innerhalb des Rahmens

48 Zum Beispiel Matthias Walden: „Wie Panther durch die Straßen schleichen“. Die SED kämpft gegen das selbständige Denken, in: Christ und Welt vom 14. Februar 1957. 49 Vgl. ders.: Verkaufe ich meine Meinung? Wider die Tabus der Gesinnungs-Abstempler, in: Rheinischer Merkur vom 12. April 1968. 50 Rebellion der Jugend. Dokumentation einer Fernsehsendung, in: Frankfurter Hefte 23 (1968), Heft 7, S. 453-478, hier S. 455. Wie zentral dieser Gedanke für Matthias Walden war, zeigt die Tatsache, dass er ihn auch in seinem letzten Leitartikel für die „Welt“ kurz vor seinem Tod nochmals aufgreift; vgl. Matthias Walden: Demokratische Wert- und demokratische Weltordnung, in: Die Welt vom 3. November 1984.

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der freiheitlichen Grund- und Rechtsordnung bewegen müssten.51 Damit grenzte sich Walden von Demokratieskeptikern ab, doch im Laufe der Jahre kritisierte der Publizist auch die Forderungen der Neuen Linken nach einer weiteren inneren Liberalisierung der Gesellschaft. So sagte er in einer späten Rede 1982, die er bereits als Repräsentant des Springer-Verlages hielt und die somit laut Gudrun Kruip die Linie des Hauses widerspiegelte, dass die Freiheit, die sich weniger an Ordnung und mehr an Gleichheit orientiere und wie sie vor allem von linken Intellektuellen verwendet werden würde, „ordnungsfeindlich, leistungsscheu und verantwortungslos“ sei.52 Die Forderungen einer „linken Libertinage“ waren für ihn Gleichmacherei, die er als Bedrohung der Freiheit empfand.53 Matthias Walden sah sich als Hüter und Beschützer einer liberalen Demokratie der 1950er Jahre. „Staastsloyal“ handelte eben derjenige, der die freiheitliche Grundordnung der ersten Nachkriegsjahre verteidigte. Diese Haltung konnte in den 1960er Jahren als dezidiert „liberaldemokratischkonservativ“ 54 (Raymond Aron) gesehen werden. Matthias Walden selbst forderte dieser Terminologie folgend eine „Reform“ konservativer Ideale auf dem Boden einer liberal demokratischen Geisteshaltung. Und dazu gehörte eben auch die Bereitschaft staatsdienlichem, respektive „staatsloyalem“, Handelns.55 Waldens politisches Denken erinnert an die auf einem rigiden Antitotalitarismus basierende Verteidigung der liberalen Demokratie der amerikanischen Vital Center Liberals. Diese zeichneten sich ab Mitte der 1960er Jahre unter anderem durch die Kritik an der westlichen Détente-Politik aus.56 Die Vital Center Liberals können als Vertreter einer politischen Mitte gesehen werden, die sich gegen alle Arten der totalitären

51 Vgl. Rebellion der Jugend (wie Anm. 50), S. 455. 52 Vgl. Gudrun Kruip: „Welt“-„Bild“ (wie Anm. 28), S. 139. Siehe auch Matthias Walden: Ideologie, Freiheit und Gewalt – Rede beim Herrenabend im Bankhaus Lampe Bielefeld vom 18. März 1982. ASV-UA (NL Walden: Ordner: Reden ab 1980), S. 8. 53 Vgl. ebd., S. 9. 54 Siehe dazu die entsprechenden Aussagen Raymond Arons in: Matthias Oppermann (Hrsg.): Im Kampf gegen die modernen Tyranneien. Ein Raymond-AronBrevier, Zürich 2011, S. 34. 55 Vgl. Matthias Walden: Haltung (wie Anm. 20), passim. 56 John Ehrman: The Rise of Neoconservatism. Intellectuals and Foreign Affairs 1945-1994, New Haven 1995, S. 1-32; Matthias Oppermann: Ein transatlantisches Vital Center? Raymond Aron und der amerikanische Liberalismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), Heft 3/4, S. 161-176, hier passim.

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Bedrohung zu verteidigen wissen wollten und somit nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Anti-Faschismus um einen strikten Anti-Kommunismus erweiterten.57 In der wissenschaftlichen Literatur tauchen sie auch unter dem deskriptiven Begriff der Cold War Liberals auf. So etwa bei Jens Hacke, der den Cold War Liberalism als Obermenge eines deutschen Liberalkonservatismus definiert.58 Gleichwohl hatte Waldens Vorstellung einer „Freiheit in Ordnung“ Berührungspunkte zur Idee einer metapolitischen autoritären „post-liberal order“, die Marcus M. Payk traditionell konservativen Kreisen um Hans Zehrer in der frühen Bundesrepublik zuschreibt.59 Das eingangs zitierte Paradoxon in Waldens Haltung zum „Vaterland“ eröffnet zudem einen weiteren Zugang zum Demokratie- und Nationalismus-Verständnis des Publizisten im Nachkriegsdeutschland. In zahlreichen Artikeln und Fernsehsendungen setzte sich Walden seit Mitte der 1950er Jahre mit der jüngsten deutschen Vergangenheit auseinander und kam zu dem Schluss, dass deutsche Politik frei von nationalen Traditionen sein müsse und einzig auf der Verteidigung der parlamentarischen Demokratie und der politischen Freiheit ihrer Bürger beruhen dürfe. Waldens grundlegende Positionen zur Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik äußerten sich hauptsächlich in seiner Kritik an der öffentlichen Verdrängung der NS-Verbrechen sowie der personellen Kontinuität im öffentlichen Dienst und in der Bundeswehr.60 Diese Haltung verleitete ihn sicher nicht nur dazu, nach dem Wahlkampf 1965 den Kanzlerkandidaten der SPD und Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, der 1933

57 Vgl. ebd., S. 167. Zur geistigen Grundlage der Vital-Center-Liberals siehe Arthur M. Schlesinger Jr.: The Vital Center. The Politics of Freedom (1949), 6. Aufl., Boston 2009. 58 Vgl. Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 21. 59 Vgl. Marcus M. Payk: A post-liberal order? Hans Zehrer and conservative consensus building in 1950s West Germany, in: Modern Intellectual History 9 (2012), Heft 3, S. 681–698, hier passim; vgl. beispielsweise Matthias Walden: Rechts oder links?, in: Welt am Sonntag vom 7. Mai 1972. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage nach der Bewertung der hier aus Platzgründen ausgesparten intensiven Auseinandersetzung Waldens mit linksintellektuellen Kreisen über den deutschen Linksextremismus gestellt werden. Beides wird in der Dissertation des Verfassers über Walden erörtert. 60 Siehe exemplarisch Matthias Walden: Fernsehdokumentation: Vor unserer eigenen Tür – Überlegungen zur deutschen Vergangenheit und Gegenwart, Folge 2. Erstsendung 13. März 1962 im SFB (eingesehen im Archiv des Rundfunks BerlinBrandenburg, AdRBB), 5.-9. Minute.

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aus Deutschland emigriert war, gegen die Vorwürfe des Landesverrats aus Unionskreisen in Schutz zu nehmen.61 Sie war vielmehr bereits Grundlage seiner kritischen Betrachtung über die Traditionspflege der Bundeswehr in Bezug zur Wehrmacht in der umstrittenen Fernsehdokumentation „Die schönsten Jahre unseres Lebens?“ vom Januar 1960. Die einzige Tradition, an die die Bundeswehr aus Waldens Sicht anknüpfen durfte, war die „Gewissenstat“ der Männer des 20. Juli 1944.62 Als eine „schlimme Erfahrung“ empfand es Walden, dass ihn die Bundesministerien in Bonn im Zuge einer Dokumentation über die „nazistische Sauberkeit“ der Ministerien gesammelt informierten, dass es ihnen nicht „politisch opportun“ erscheine, zu seinen Fragen Stellung zu nehmen. Dies zeigte für den Publizisten einen Mangel an Zivilcourage, der den Staat, dem die Ministerien dienen, kompromittiere.63 Die freiheitliche Grundordnung der Bunderepublik müsse es laut Walden eben zulassen, dass über solche Missstände gesprochen werde. Das war auch ein Grund, weswegen Walden glaubte, durch seine Arbeit die deutsche Nachkriegsdemokratie zu stärken und nicht zu schwächen. Eben das hätte er getan, wenn er verzichtet hätte, über seine Erfahrungen zu berichten.64 Matthias Walden glaubte nicht daran, dass die Bundesrepublik durch die bestehenden Kontinuitäten zum „Dritten Reich“ diskreditiert sei. Die Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen empfand er als seine „staatsloyale“ Pflicht: „Es gibt nicht mehr viele Nazis bei uns. Aber es gibt zu wenige Anti-Nazis. Das ist es.“65 5. Fazit In diesen Betrachtungen über elementare Wesenszüge im politischen Denken Matthias Waldens zeichnet sich bereits das Bild eines nachdenklichen,

61 Vgl. ders.: Die Legende einer Niederlage, in: Quick – Illustrierte für Deutschland vom 21. November 1965. Siehe zu Brandts Zeit im Exil: Einhart Lorenz: Willy Brandt. Deutscher – Europäer – Weltbürger, Stuttgart 2012, S. 18–90; zur Diffamierungskampagne 1965 ebd., S. 130. 62 Vgl. Peter Schultze/Matthias Walden: Fernsehdokumentation: Die schönsten Jahre meines Lebens? Erstsendung 15. Januar 1960 im SFB (eingesehen im AdRBB), 12.-13. Minute. 63 Vgl. Matthias Walden: Vor unserer eigenen Tür (wie Anm. 60), 28.-29. Minute. 64 Vgl. ebd. 65 Ders.: ostblind – westblind, Berlin 1963, S. 104.

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unabhängigen und gewiss polarisierenden, teilweise drastisch polemisierenden Journalisten ab. Den Streit der Feder und auch öffentlichen Widerspruch scheute er nicht, verstand sich Walden doch selbst als einen überzeugten Gegner „jener zeittypischen Erscheinung einer Objektivitäts-Besessenheit“. Dabei würden – so schrieb er an den Pressesprecher des Bundesverteidigungsministeriums Oberst Gerd Schmückle im Januar 1962 – Meinungskonturen verwischt und Überzeugungen neutralisiert werden.66 In der Konsequenz zeigte sich Matthias Walden als ein kämpferischer Antikommunist, der von dieser Einstellung ausgehend Ideen einer Neudefinierung der Bonner Ost- und Deutschlandpolitik vehement ablehnte, teilweise gnadenlose Kritik an der Neuen Ostpolitik Willy Brandts sowie der Entspannungspolitik des Westens übte und sich an der Seite Axel Springers gesellschaftlichen Liberalisierungstendenzen seit den späten 1960er Jahren entschlossen entgegenstellte. Zugleich verteidigte er aus einer antitotalitären Grundhaltung heraus ebenso überzeugt die liberale parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik und ihre Gründungsordnung, die für ihn den Schutz vor politischem Extremismus gewährleiste, und kritisierte mit dieser Motivation auch den mangelhaften öffentlichen Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Der Zusammenhang dieser Geisteshaltungen, der schon in dem eingangs zitierten „Vaterlands-Paradoxon“ deutlich wird, bildet die große Herausforderung in der Charakterisierung von Matthias Waldens politischem Denken. An ihr sind bereits Zeitgenossen verzweifelt. So warf ihm der Chefredakteur der Zeitung Die Mahnung, die vom Bund der Verfolgten des Naziregimes herausgegeben wurde, vor, durch seine – beißende – Kritik am Berlin-Abkommen 1971, reaktionäre Kreise um die AKTION Widerstand indirekt zu unterstützen, schrieb aber auch: „Herr Walden! Wir haben gar nicht vergessen, wie Sie vor Jahren mit uns den Kampf gegen die Nazis führten! […] Desto schmerzhafter berührt es uns eben, Sie in einer Front zu sehen, die wir von Ihnen am allerwenigsten erwartet hätten […].“67 War Matthias Walden vielleicht doch mehr von Dogmatismus und Fanatismus getrieben als er selbst wahrhaben wollte, wie es der ehemalige Chefredakteur des Spiegels (1969-1973) Günter Gaus in seinen Erinnerun-

66 Vgl. Matthias Walden an Oberst Gerd Schmückle, 19. Januar 1962 (ASV-UA, NL Walden, Box 9b: 1962). 67 Max Köhler: Herr Matthias Walden und die „Pressefreiheit“, in: Die Mahnung vom 15. September 1971.

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gen andeutet?68 Oder war er eben der „aufrechte Moralist“, wie es Peter Merseburger schreibt?69 Eine intellektuellengeschichtliche Arbeit über den Publizisten und Meinungsjournalisten Matthias Walden muss sich nicht nur diesen Fragen stellen, sondern ebenfalls an der aktuellen Forschungsliteratur zur politischen Kultur in der Bundesrepublik und zu biographischen Arbeiten über Zeitgenossen aus seinem beruflichen Umfeld orientiert sein.70 Eine Analyse des politischen Denkens von Matthias Walden ergibt darüber hinaus nur als Teil einer Intellectual History der Bundesrepublik Deutschland Sinn und muss sich daher derer methodischen Anforderungen, wie zum Beispiel einer intellektuellen Kontextualisierung, verpflichten.71 In dieser Form kann sie gewiss zu einer Historisierung von Waldens Denken führen ohne der Versuchung zu erliegen, Waldens Ansichten aus ihrem intellektuellen und politischen Kontext zu lösen und Antworten auf aktuelle beziehungsweise überkommende politische Fragestellungen zu suchen. Matthias Walden war einer jener Protagonisten, die obwohl zeitgenössisch äußerst prominent, bald vergessen wurden, weil sie so in ihrer Epoche verhaftet blieben.72 Gerade deswegen kann eine intellektuellengeschichtliche Analyse seines politischen Denkens aber einen Beitrag zu der Frage leisten, „what people in the past meant by the things they said and what these things ‚meant‘ to them“.73

68 Vgl. Günter Gaus: Brief an Frau von Saß, in: Bettina von Saß (Hrsg.): „Er war ein guter Feind“ (wie Anm. 3), S. 87-90, hier passim. 69 Vgl. Peter Merseburger: Der aufrechte Moralist, in: Bettina von Saß (Hrsg.), „Er war ein guter Feind“ (wie Anm. 3), S. 107-110, hier passim. 70 Etwa: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann: „Geistige Gefahr“ (wie Anm. 33). Alexander Gallus: Heimat „Weltbühne“ (wie Anm. 17); Jürgen Peter Schmied: Haffner (wie Anm. 20); Susanne Peters: William S. Schlamm. Ideologischer Grenzgänger im 20. Jahrhundert, Berlin 2013; Christina von Hodenberg: Konsens (wie Anm. 6). 71 Ausführlich etwa: Richard Whatmore: What is Intellectual History?, Cambridge 2016; Darrin McMahon/Samuel Moyn (Hrsg.): Rethinking Modern European Intellectual History, Oxford 2014. 72 Ähnlich beschreibt es Marcus M. Payk in Bezug auf William S. Schlamm und Winfried Martini – vgl. Marcus M. Payk: Antikommunistische Mobilisierung und konservative Revolte. William S. Schlamm, Winfried Martini und der „Kalte Bürgerkrieg“ in der westdeutschen Publizistik der späten 1950er Jahre, in: Thomas Lindenberger (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 111-137, hier S. 113. 73 So formulierte es 1978 John Burrow, der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Intellectual History in Großbritannien; zitiert nach: Richard Whatmore: Intellectual History (wie Anm. 69), S. 13.

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Die bisherige Forschung bildet eine wichtige Anknüpfung für Waldens publizistischen Werdegang und eine erste ideelle Orientierung, doch lässt sich hier keine überzeugende und konsistente Charakterisierung des politischen Denkens des Journalisten finden. Einen Ansatz dafür liefert Waldens Kategorie des „staatsloyalen“ Handelns sowie seine geistige Nähe zu den Vital Center Liberals und dem kämpferischen Antikommunismus des CCF. Ohne selbst ein aktives Mitglied des Kongresses gewesen zu sein, verkörperte Matthias Walden bis in die 1980er Jahre hinein dessen Variante eines kämpferischen Antikommunismus der unmittelbaren Nachkriegszeit – in einer Ära, in der sich der Antikommunismus des CCF selbst gewandelt hatte, woran der Kongress schließlich (unter anderem) scheiterte, bevor er Ende der 1960er Jahre aufgelöst wurde. Diese Anhaltspunkte lassen Walden als einen liberaldemokratischen Konservativen erscheinen; eine vielschichtige Zuschreibung, die seinem unabhängigen Denken geschuldet ist.

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Eine Frage ‚nationaler Selbstbehauptung‘? Konservativer Antikommunismus im Jahrzehnt nach 1968 Martin G. Maier

1. Neue politische Konstellationen Die These vom tiefgreifenden Wandel im konservativen Antikommunismus der 1970er Jahre setzt eine extensive Auslegung dieses politischen Sammelbegriffs voraus. Das Verdikt, ‚kommunistisch‘ zu sein oder auch nur mit Auffassungen zu sympathisieren, die einer sozialistischen Umgestaltung des bestehenden politischen Systems das Wort reden, umfasst in den hier gewählten Beispielen eine Vielzahl von Personen und Organisationen, von Parteien und Bündnissen, die aus Sicht der konservativen Vertreter des Antikommunismus zumindest eines gemeinsam haben: zu mehr oder minder großen Konzessionen an eine bolschewistische, kulturrevolutionäre oder überhaupt links von der programmatischen Verfasstheit der Sozialdemokratie stehende Ideologie bereit zu sein. Mit anderen Worten bezieht sich das hier vorgeschlagene Verständnis von ‚Antikommunismus‘ auf die konservative Logik der Unterscheidung, mit der die Gegnerschaft bzw. das Bekenntnis zur herrschenden Ordnung, verstanden als implizit oder offen geäußerte Haltung zu den verfassungsmäßigen Grundlagen in ihrer konkreten Ausgestaltung, zum Prüfstein für die Loyalität politischer Gegner zur Bundesrepublik genommen wurde. Mit dieser Definition soll ein ideengeschichtlicher Zugang zum Konservatismus erschlossen werden, der dieses Konstrukt vor allem aus seinen antagonistischen Bezügen heraus zu verstehen versucht. Darüber hinaus ist aber auch die Randschärfe zu den mit ihm lediglich konkurrierenden Ideen – wie etwa dem Liberalismus oder jener Hauptströmung der deutschen Sozialdemokratie, die an der Sozialen Marktwirtschaft festhalten wollte – als Konstituens der konservativen Ideenlandschaft einzubeziehen, wobei die Abwehr von intransigenten Gegnern und Transformatoren der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates, vor allem also die ‚Neue Linke‘ und der wiederauferstandene Parteikommunismus, als überwiegender Anlass für die Erneuerung des Konservatismus nach 1968 anzusehen ist. Zwei der bislang angesprochenen Gruppen politischer Akteure tauschen jedoch im Verlauf des „schwarzen 195

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Jahrzehnts“1 der 1970er Jahre innerhalb dieser Konstellation ihren Platz: Der Liberalismus rückte im Zuge der weiter nach rechts erfolgenden Ausdifferenzierung konservativer Intellektueller für manche unter ihnen zur eigentlichen Bedrohung auf, weil die Nachgiebigkeit und Laissez-faireMentalität seiner Exponenten die Schleusen für eine schleichende Unterwanderung der Bundesrepublik weit geöffnet habe. Bis weit in die demokratische Linke hinein wird in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten der Bundesrepublik die Auffassung vertreten, „daß das ‚totalitäre Ostzonenregime‘ mit denselben Mitteln zu bekämpfen sei wie das nationalsozialistische“2. So finden sich beispielsweise zur Zeit des Mauerbaus bis hinein in die Frankfurter Studentenzeitschrift Diskus, einem der hiesigen Kritischen Theorie durchaus gewogenem Periodikum der studentischen Links-Avantgarde, umstandslose Gleichsetzungen des ‚Ulbricht-Regimes‘ mit der NS-Diktatur.3 Es erscheint daher schwierig, schon aus dieser Zeit eine relevante Zahl von Zuspitzungen aufzufinden, mit denen ein eigenes Profil konservativer Intellektueller als Warner auf verlorenem Posten vor dem Untergang des ‚Westens‘ erhärtet werden könnte. Eine solche Funktion des Antikommunismus als Signum, als von ihm behauptetem und mitunter tatsächlich auch zugestandenem Alleinstellungsmerkmal des Konservatismus sollte sich hingegen im Laufe der 1970er Jahre immer deutlicher erweisen. Denn nun verflüssigten sich die eingespielten Positionen in weiten Teilen der politischen Ideenlandschaft. Neue Akteure einer außerparlamentarischen Linken mit ihrem Vorhaben einer Politisierung der Schulen und Universitäten als Teilziel auf dem Weg zur revolutionären oder doch wenigstens radikalreformerischen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft traten auf den Plan und vermochten nach der akademisch und publizistisch abgesicherten Profilierung ihrer Positionen aus ihren marxistischen und radikallinken Lehrmeinungen vereinzelt feste Bastionen zu bilden. Spätestens mit diesen Versuchen eines Um-

1 Vgl. Massimiliano Livi/Daniel Schmidt/Michael Sturm (Hrsg.): Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt am Main und New York 2010. 2 Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991, S. 11. 3 Gepaart mit der Unterstellung von Unterwanderungsabsichten, etwa an jene neutralistischen Gruppen, die gegen eine Atombewaffnung der Bundesrepublik opponierten und Kontakte zur DDR dabei nicht scheuten. Vgl. exemplarisch dazu Oscar Strobel: Pankow über alles, in: Diskus. Frankfurter Studentenzeitschrift 9 (1959), Heft 1, S. 3.

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baus der grundlegenden ideologischen Staatsapparate zu Arenen eines neuen Kulturkampfes sahen sich auch viele konservative Intellektuelle verstärkt dazu gezwungen, analog zu dem, was Pierre Bourdieu in seinem Werk Homo academicus über die zeitgenössischen Ereignisse in Frankreich feststellte, „in einen Kampf einzutreten, der als revolutionär insofern zu bezeichnen ist, als er darauf abzielt, neue Ziele und Einsätze festzulegen und auf diese Weise das ‚Spiel‘ sowie die darin geltenden Trümpfe mehr oder minder neu zu definieren.“4

2. ‚Systemüberwindung‘ auf Taubenfüßen In den Jahren des Protestes der Studierenden und Assistenten an den Universitäten wurde auch die politische Nachkriegskonstellation der Bundesrepublik in Form des gängigen Links-Rechts-Schemas erheblich erweitert. Neben eine alte, an der Arbeiterbewegung orientierte Linke trat eine Neue Linke, die etwa die Entfremdungskritik des westlichen Marxismus und die sozialpsychologischen Erkenntnispotentiale einer von autoritären, faschistoiden Belastungen befreiten jüngeren Generation miteinander zu verbinden versprach.5 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums zeigte sich ein Pendant zu dieser Entwicklung in Form einer auch dort sich thematisch auffächernden Polarisierung der politischen Positionen: zum einen durch das Erstarken der 1964 gegründeten NPD mit ihrem Einzug in diverse Landtage bis zum Ende der 1960er Jahre; zum anderen, nachdem der parlamentarische Erfolg der neofaschistischen Nationaldemokraten Episode blieb, durch die Neue Rechte, die sich linker Hegemonietheorie und gegenkultureller Aktionsformen bei ihren Einwirkungsversuchen auf die sich direktdemokratisch erneuernde Partizipationskultur und ihre lebensweltlichen Grundlagen bediente.6

4 Pierre Bourdieu: Homo academicus, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1998, S. 274. 5 Vgl. Alex Demirović: Die Konstitution der neuen Linken als Erneuerung der LinksRechts-Topik. Eine Fallstudie, in: kultuRRevolution 10 (1991), Heft 26, S. 35-41. 6 Vgl. Alain de Benoist: Kulturrevolution von rechts. Gramsci und die Nouvelle Droite, Krefeld 1985, S. 17ff.; Rainer Benthin: Angriffe aus der Nische. Die Bedeutung von „1968“ für den Kulturkampf der Neuen Rechten in Deutschland, in: Damir Skenderovic/Christina Späti (Hrsg.): 1968 – Revolution und Gegenrevolution. Neue Linke und Neue Rechte in Frankreich, der BRD und der Schweiz. Basel 2008, S. 81-92, hier S. 88f. In der Verwendung oder wenigstens Goutierung solcher kul-

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Anlässlich des Ein- und Durchsickerns der Neuen Linken in die Gesellschaft und ihre Institutionen sah sich der Konservatismus (vorerst verwendet als Catch-all-Begriff, der im Folgenden näher differenziert wird) im Laufe der 1970er Jahre vor die Aufgabe gestellt, einer Entwicklung entgegenzutreten, welche die junge Geschichte der Studentenbewegung und ihrer Nachfolger zu seinem Leidwesen als Erfolgsgeschichte erscheinen ließ. Die vormalige Überzeugung, dass es sich bei der Bundesrepublik um ein auf Dauer stabiles Gemeinwesen, um einen nach außen und innen wehrhaften Staat handle, weil seine zur Verfassung kristallisierte Gründungskonstellation hinreichend Freiheit und Ordnung verbürgen könne, begann für viele konservative Intellektuelle brüchig zu werden. Sie sahen ihre Zweifel bestätigt durch die immer weiter gehende Liberalisierung der akademischen Sitten und Routinen und durch die immer weiter reichende Akzeptanz, auf die die neuen, zur Systemüberwindung angetretenen Lehrstuhlinhaber stießen. Sie brandmarkten den scheinbaren Erfolg ihrer Zitationskartelle und die immer neuen Schübe der politischen Radikalisierung ihrer anwachsenden, um sie sich scharenden Hörerschaft. Der sich in der akademischen Selbstverwaltung festsetzende linke Gruppenproporz und die um sich greifende Neigung in den etablierten Medien, dessen Positionen Gehör zu verschaffen, wurden als weitere Krisensymptome benannt. Schleichende Konzessionen an eine aus Sicht der konservativen Intellektuellen aggressive, weil die traditions- und wertgebundenen Formen des Zusammenlebens traktierende und negierende Strömung, begründeten ihren langsam anschwellenden Widerstand zur maßgeblichen Verfasstheit der Bundesrepublik ebenso wie das ausdrückliche Verständnis, das diese Neue Linke insbesondere in der Bildungspolitik bei ihren liberalen und sozialdemokratischen ‚Fellow Travellern‘ zu finden schien. Wir werden daher mit den nachfolgenden Beispielen nicht weiter der Frage nachgehen, wie sich der auch noch in den 1970er Jahren weithin geteilte Antitotalitarismus7 sich über die Annäherung an die Warschauer Pakt-Staaten und den mit der DDR 1972 geschlossenen Grundlagenver-

turrevolutionärer Strategien zeichnet sich die Demarkationslinie eines neurechten Konservatismus zur Neuen Rechten ab. Die Positionen des Ersteren werden hier noch näher vorgestellt. 7 Bzw. als Synekdoche formuliert: jener ‚gegen Moskau‘ gerichtete Furor, anhand dessen gleichsam negativ der Geltungsanspruch und die Legitimität der eigenen Ordnung nach dem Motto konstruiert werden konnte: „Unsere Freiheit ist das, was die im Osten nicht haben.“

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trag hinweg tradieren konnte. Dies kann mit dem Hinweis abgehandelt werden, dass die Idee der totalitären Bedrohung sui generis, d. h. durch die unmittelbaren Infiltrierungs- und sonstigen Destabilisierungsabsichten des Sowjetreichs und seiner Satelliten, spätestens mit dem teilweisen Umschwenken der Unionsparteien auf den neuen Kurs der Bundesregierung in der Außenpolitik, stark an Überzeugungskraft eingebüßt hatte. Ein solcher Bedeutungsverlust des Antikommunismus aus der Hochzeit des Kalten Krieges für die Konturierung der politischen Ideen, und namentlich für den Konservatismus, änderte indes nichts daran, dass die Gefährlichkeit für den Bestand der Bundesrepublik, mit der die autoritären, realsozialistischen Regime assoziiert wurden, im konservativen Diskurs weiterhin präsent blieben. In den folgenden Beispielen wird nun eine Hauptlinie konservativer Argumentationen nachgezeichnet, die ein Junktim aus zwei unterschiedlichen Feindbildern bildet. 3. Dekadenz und Ordnung – beide von links Der Münchener Philosoph und Politologe Helmut Kuhn plädierte in dem von Gerd-Klaus Kaltenbrunner 1977 herausgegebenen Band „Die Strategie der Feigheit. Wie lange wird der Westen noch frei sein?“ für eine Überarbeitung des herkömmlichen Dekadenz-Begriffs angesichts der sich wandelnden Realität. So bemerkte Kuhn zu Beginn seines Aufsatzes: „Das melancholische Bild des Kulturzerfalls wurde durchsichtig auf eine uns konkret angehende Wirklichkeit: die Kulturzerstörung. In harter Schule erfuhren wir, daß der biologisch gefärbte Dekadenzbegriff, der von Vergreisung spricht und der Kultur eine natürliche Lebenszeit zuspricht, eine falsche Notwendigkeit suggeriert.“8

Worin bestanden für Kuhn die realen Gefahren, die von der weichen Nachgiebigkeit gegenüber den Zerstörern der kulturellen Grundlagen heraufbeschworen wurden? Wodurch wurde ihnen schon soweit vorgearbeitet, dass die kommunistischen Regime von der Neuen Linken profitierten konnten, ohne sich ihrem Einfluss öffnen zu müssen?

8 Helmut Kuhn: Dekadenz – konkret verstanden, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Die Strategie der Feigheit. Wie lange wird der Westen noch frei sein?, Freiburg im Breisgau 1977, S. 116-133, hier S. 116f.

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„Was sie [die Neue Linke] wirklich hervorrief, war nicht Revolution, sondern Revolutionismus – eine Grundstimmung, die sich über alle Parteigrenzen hinaus den Völkern mitteilte und die nach Reform, Reform und wieder nach Reform schrie. Der alte, durch marxistische Infusion wieder belebte Fortschrittsglaube feierte ungeahnte Triumphe. So läßt sich sagen, daß die Männer oder vielmehr die Knaben der ‚Neuen Linken‘ zu Kollaborateuren der Sowjetmacht wider ihren Willen wurden – sie selbst fühlten sich mehr zum Maoismus hingezogen als zum Bolschewismus. So machten sie die innere Schwäche der Gesellschaft sichtbar, die zwischen Angst und Bewunderung die jugendlichen Schreier erst tolerierte, um sie dann zu ihren Lehrmeistern zu machen; und dem an sich geschwächten Kulturkörper impften sie eine neue fatale Schwäche ein. Auf diese Weise ernteten sie, nachdem die Grenzen abgeriegelt und gesichert waren, ein beifälliges Kopfnicken von seiten des Herrn im Kreml und seines Vasallen in Ost-Berlin.“9

Zwar erwiesen sich für Kuhn die jungen Linksradikalen als bloße Indikatoren für eine ohnehin kaum mehr auf festen Fundamenten ruhende Ordnung. Doch ermangelte es den bisherigen Trägern dieser Ordnung in seinen Augen auch jeder ernsthaften Verteidigungsbereitschaft gegen jene ihnen gleichwohl wesensfremden, den Fortschritt verabsolutierenden Einflüssen. So stimmten mittlerweile auch die durch die fortwährenden Umbrüche herausgeforderten Bürger in diese Unruhe ein (man möchte fast sagen: in einer Form von „Angstlust“). Und es wuchs mit der neu hinzugekommenen Gefahr der Neuen Linken für Kuhn nicht das Rettende, sondern dräute verstärkt wieder die aus dem Kalten Krieg stammende Bedrohungslage: Der geschwächte Staat spornte den Osten an, machte sein Modell zu einer ernsthaften Alternative zur herrschenden Malaise und damit erneut attraktiv. Diese aus insgesamt vier Faktoren sich zusammensetzende Bedrohung des Westens – einem inneren und einem äußeren Feind sowie einer neuen und einer alten Linken – konstatiert auch ein weiteres Beispiel für eine konservative Intervention gegen die drohende staatliche Selbstaufgabe. Es handelt sich um den Essay „Das degenerierte Denken vom Kriege“ des österreichischen Schriftstellers Herbert Eisenreich. Er erschien im selben Jahr wie Kuhns Beitrag für Kaltenbrunners konservative Taschenbuchreihe „Herderbücherei Initiative“ und wurde in William S. Schlamms Zeitbühne10 abgedruckt. Eisenreich handelt das befürchtete Zusammenspiel der beiden Bedrohungslagen an den neu entstehenden Bürgerbewegungen 9 Ebd., S. 128. 10 Vgl. zu Schlamm die sehr akribische Dissertation von Susanne Peters: William S. Schlamm. Ideologischer Grenzgänger im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, in der die-

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mit ihrem erfolgreichen Antimilitarismus und der damit drohenden Wehrlosigkeit angesichts der militärischen Ambitionen Moskaus ab: „Eben da setzt der Kommunismus jene Waffen an, mit denen er sehr viel eher wird siegen können, als mit den zitierten Kanonen: die ideologischen Waffen. Natürlich arbeitet die kommunistische Propaganda auch ganz direkt, gewissermaßen mit Friedenstauben: indem sie etwa dem Westen vorrechnet, wie viele Schulen und Spitäler für das von der Rüstung verschlungene Geld gebaut werden könnten; oder indem sie suggeriert, die Soldaten der NATO würden in Wahrheit nur die Profite der großen Konzerne verteidigen; und so weiter und so fort. Das Schwergewicht in der jeweiligen Schlacht liegt aber jeweils dort, wo eine Möglichkeit sich abzeichnet, Freiheit in Anarchie zu verwandeln: die Verteufelung des Rechtsstaates als ein von ‚Bullen‘ dominiertes ‚Law and Order‘-Regime mag als ein besonders populäres Beispiel dafür stehen. Raffinierter ist schon die ständig wiederholte Forderung nach ‚mehr Demokratie‘, nach ‚direkter Demokratie‘, weil diese Demokratisierung in letzter Konsequenz die Entmachtung des Parlaments zur Folge hat; und wenn wegen jeder Pipeline-Trassierung, wegen jedes Garagenneubaues, wegen jedes Schularbeitsthemas, wegen jeder Sickergrube – von Atomkraftwerken einmal ganz zu schweigen – immer gleich eine ‚Bürgerinitiative‘ in Aktion tritt, hört sich jeder vernünftige Konsens, jede sachliche Planung bald auf.“11

Nicht nur diese am Erhalt der Grundlagen repräsentativer Demokratie interessierten Vordenker eines neuen Konservatismus, sondern auch seine Exponenten neurechter Färbung sahen in die gegen den Kommunismus zu verteidigende Festung überall Einfallstore verbaut, durch die jene gefährliche kommunistische Ideologie in Form regelrechter ‚trojanischer Reiterstaffeln‘ vorzudringen drohte – schon in ruhigen Zeiten und nicht erst in bedrohlichen weltpolitischen Lagen. Es wurde von den Vertretern beider Strömungen einer konservativen Renaissance die Selbstgefährdung einer „fundamental-liberalisierten Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) in den Vordergrund gespielt. Die bundesrepublikanische Ordnung zu schützen verlange vor allem, sie vor sich selbst zu schützen, denn eben die fortgesetzte Demokratisierung der politischen Institutionen, ihre Öffnung für neue Themen und Aktionsformen in Konkurrenz zur und gegen die hergebrach-

se letzte Phase seiner Publizistik vor seinem Tod allerdings zu stark unter dem Aspekt der Isolation betrachtet wird. Schlamm versammelte in der Monatszeitschrift die prominentesten Fürsprecher einer konservativen Erneuerung (außerhalb der CDU) hinter sich, konnte damit allerdings, anders als in seiner Zeit als Kolumnist beim Stern, keine durchschlagende Wirkung mehr auf eine breite Öffentlichkeit ausüben. 11 Herbert Eisenreich: Das degenerierte Denken vom Kriege, in: Zeitbühne 6 (1977), Heft 2, S. 32-38, hier S. 36.

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te Regierungspraxis, schaffe den eigentlichen Raum für eine autoritärkommunistische Ordnung. Es seien, so Eisenreich, die von der nach links gerückten Sozialdemokratie „initiierten gesellschaftsverändernden Reformen – im Bildungswesen, in der Justiz, in der Wirtschaft, in der Landesverteidigung etc. – [sie] bereiten zwar nicht den Boden für die Revolution (denn eine Revolution braucht es eben deswegen gar nicht zu geben), aber sie schaffen mit diesen Reformen das moralpolitische Klima, in dem die bürokratische Machtübernahme durch den Kommunismus als selbstverständlich, ja vielleicht sogar – infolge der Ersetzung der Anarchie durch ‚Law and Order‘ – als Erlösung empfunden wird.“12

4. Der Konservatismus als Garant für eine liberale politische Ordnung Die referierte Position Eisenreichs hebt sich vor allem in ihrer polemischen Schärfe von manchen liberal-konservativen Theorieanstrengungen in den ersten Jahren nach 1970 ab, mit denen über die Funktion des Konservatismus nachgedacht wurde, der zwar die Kontinuität der Ordnung verbürge, aber eben nur einen Teil des politischen Spektrums der Bundesrepublik und ihrer legitimen Werte abbilde. Aus dieser Sicht sollte ihm vor allem eine bremsende Funktion angesichts der neuen gesellschaftlichen Dynamiken zukommen. Im Hinblick auf die immer weiter die Nachkriegsordnung überformenden Radikalisierungen der in der Öffentlichkeit vertretenen politischen Positionen, die zum Teil bald auch von den nach links geöffneten staatlichen Institutionen mitgetragen wurden, sollten die erneuerten konservativen Ideen insbesondere auf den Liberalismus mäßigend einwirken. Die Antwort auf den neuen linken Gegner, so formulierte Gerd-Klaus Kaltenbrunner in der Zeitschrift Criticón programmatisch die Aufgaben eines nun erforderlichen „pragmatischen Konservatismus“, müsse „systembezogen sein, weil es dem Konservatismus nicht um die Bewahrung oder Restauration partikularer Privilegien gehen kann, sondern um ‚das Ganze‘: um die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Stabilität und nichtkatastrophischen Wandels.“13

12 Ebd., S. 38. 13 Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Schöpferischer Konservatismus und Konservative Aktion heute, in: Criticón (1973), Heft 20, S. 247-256, hier S. 253.

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Seinen Führungsanspruch in den geistigen Debatten löse der Konservatismus momentan nur unter der Bedingung ein, so Kaltenbrunner in einem anderen, in der Zeitbühne veröffentlichten Text aus demselben Jahr, „wenn er sich dialektisch versteht: als Kritiker und Erbe des Liberalismus. Es hängt in entscheidendem Maße von ihm ab, ob im nachliberalen Zeitalter, das bereits begonnen hat, die gelebte Erfahrung individueller Freiheit und Vielfalt von dem doppelten Sog technokratischer und sozialutopischer Ansprüche völlig verschlungen wird oder nicht.“14

Die Konservativen konnten nach Kaltenbrunners Vorstellung erst dann ihre Ansprüche auf geistige Führung zur Geltung bringen, wenn sie sozusagen die liberalen Eliten in ihren (vormaligen) Anliegen beim Wort nähmen. Es könnten ihre Ideen nur dadurch an Gestalt gewinnen, indem sie die Befreiung von jenen Vorgegebenheiten und Zwängen der Tradition, die Gesellschaften vor der technisierten Moderne noch kennzeichneten, akzeptierten. Dafür sei es aber auch nötig, den dadurch erreichten Konsens mit zentralen Inhalten des liberalen Denkens gegen neue Anfechtungen, diesmal von linker Seite, zu verteidigen. Kaltenbrunner vertrat damit zu dieser Zeit einen Konservatismus, mit dem die liberale Idee der Selbstbestimmung zu einem zentraleren Wert erhoben wurde, als durch die Liberalen selbst, die sich der Neuen Linken oder wenigstens dem geistigen Klima, das durch diese einzog, schon längst angepasst hätten. Die vom Liberalismus „inspirierte Emanzipation von allen Autoritäten führte dazu, daß Raum frei wurde für neue Formen von Fremdbestimmung und Abhängigkeit, die wir weniger denn je kontrollieren können. Der Liberalismus verkannte, wie wenig rationale Diskussion fruchtet, wenn sie sich nicht im Rahmen eines ihr schon vorgegebenen und undiskutiert bleibenden Konsensus vollzieht. Radikale Konflikte können durch herrschaftsfreien Dialog ebensowenig gelöst werden wie für die Zuteilung von Rettungsbooten auf einem sinkenden Schiff eine Auktion geeignet ist. Der Liberalismus ignorierte, daß eigenständige politische Autorität (und damit Macht, Zwang und gewisse Formen von Hierarchie) notwendig sind, um in der modernen Massengesellschaft wenigstens einige elementar liberale Errungenschaften zu sichern, die gerade von einem ungezügelten, Freiheit auf bloßes Sichbefreien reduzierten Liberalismus untergraben werden.“15

14 Ders.: Der Konservative und die Freiheit, in: Zeitbühne 2 (1973), Heft 12, S. 36-40, hier S. 37f., Hervorhebung im Original. 15 Ebd., S. 39, eigene Hervorhebung.

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Darin klingt wiederum eine an Carl Schmitt und Juan Donoso Cortés angelehnte Auffassung an, wonach der Liberalismus stets der Partei der Revolution und nicht der Partei der Ordnung zuneige. Sie grundiert Kaltenbrunners Auslegung der konservativen Rolle in der Geschichte nach dem katechontischen Prinzip, das dem Bündnis mit den jeweils herrschenden gemäßigten Kräften, hier also dem Liberalismus, dort Grenzen setze, wo diese allzu sehr auf eine neue, erst einzurichtende Legitimität des Staates bauten und das vorhandene Gemeinwesen leichtfertig der (nur scheinbar) freien Diskussion und ihren subtilen Zwängen auslieferten. Der Konservatismus müsse aber zur eigenen Theorieproduktion stets von außen Impulse empfangen, so Kaltenbrunner hier in Übereinstimmung mit unserer erkenntnistheoretischen Annahme von einer für seine Ideenentwicklung unerlässlichen agonalen Haltung des Konservatismus, die immer zulasten substanzieller Tradierungen seiner Theoriegehalte geht. Aufgrund dieser Impulse von außen also sei der stets schwierige Konservatismus (so der Titel des dritten hier zitierten Aufsatzes von Kaltenbrunner) „nur dann zu aktualisieren, wenn in einer tiefgreifenden geschichtlichen Krise fundamentale Institutionen angegriffen oder sonstwie gefährdet werden. Er ist definiert durch die jeweilige kritisch-revolutionäre Herausforderung.“16

Mit den vorangegangenen Ausführungen zum erneuerten Antikommunismus der 1970er Jahre wurde das Terrain der konservativen Positionen soweit vermessen, dass das Agieren des Konservatismus gegen systemoppositionelle Strömungen als seine selbstgestellte Aufgabe deutlich sichtbar wird. Dieser neue Antikommunismus sollte einem „Zeitgeist“ der Toleranz und des Verständnisses für kulturrevolutionäre, staatskritische und antimilitaristische Haltungen Einhalt gebieten. Die Bewahrung der normativen Prinzipien eines limitierten weltanschaulichen Pluralismus schien dafür grundlegend zu sein. Prinzipien, die nicht bloß – wie zum Teil bei Kuhn und Eisenreich – als unmittelbares Erfordernis für eine nationale Selbstbehauptung ausbuchstabiert wurden. Ein Konservatismus, wie ihn der Publizist Kaltenbrunner zu dieser Zeit vertrat, könnte daher ohne große Anstrengung auch als Teil eines europäischen oder ‚westlichen‘ Projektes fungiert haben, das im Verbund mit anderen Staaten und anderen freiheitlichen politischen Kulturen gegen totalitäre Auswucherungen politi-

16 Ders.: Der schwierige Konservatismus (1973), in: Ders.: Wege der Weltbewahrung. Sieben konservative Gedankengänge, Asendorf 1985, S. 175-228, hier S. 200.

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scher Herrschaft nach beiden Seiten des politischen Spektrums hin geschützt werden sollte. Er leitete, anders als das folgende Beispiel, die fortgesetzte Bedrohung durch den Sozialismus nicht aus Systemeigenschaften einer liberalen Demokratie ab, die seit ihren Gründungstagen, wie sich erst später herausgestellt habe, systematisch ihrer Wehrhaftigkeit ermangle. Den Umriss des Antikommunismus der 1970er Jahre gilt es nun noch durch eine solche rechtskonservative Position der hierzu erforderlichen Überwindung der bürgerlich-liberalen Konstitution der Bundesrepublik samt ihren durch Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Kontrolle abgefederten Zwängen zu vervollständigen. 5. Antiliberalismus als Form der ‚nationalen Selbstbehauptung‘ Das Erfordernis einer militanten Erlösung durch den Katechon, d. h. eine die Katastrophe aufhaltende Instanz, die den Schrecklichkeiten der Anomie durch die Schrecken der Autorität begegne, klingt bereits in der zitierten Behauptung Eisenreichs an: Bei weiter fortschreitendem Zerfall des Gemeinwesens durch die gesellschaftlichen Radikalreformen werde das Herrschaftssystem des Ostblocks bald als akzeptable Alternative erscheinen, könne sich ohne großen Widerstand aus der Bevölkerung als Ordnungsmacht etablieren und würde dadurch zum neuen Leviathan mutieren. Wurde hier zweifellos auch zu kalkulierten Übertreibungen gegriffen, um eine „Rückkehr zur Vernunft“ zu predigen, so wurde auch einer notwendigen Formierung der bestehenden Gesellschaft von Oben das Wort geredet, wenn mit der Beschwörung latenter Legitimationskrisen stets das Bild vom Kippen der Machtverhältnisse in Anarchie und Rechtlosigkeit aufgerufen wurde – deren Bewältigung wiederum die harte Hand der Tyrannis erfordere. Dieser Vorwurf der gesellschaftlichen Dekadenz angesichts sozialutopischer Auflösungstendenzen des Staates, wie er gegen die von der Neuen Linken, den Neuen Sozialen Bewegungen oder der auch von manchen linkssozialdemokratischen Bildungsplanern mitbestimmten politischen Kultur der Bundesrepublik erhoben wurde, erfuhr außerhalb des liberalkonservativen Spektrums im Laufe der 1970er Jahre noch entscheidende Verschärfungen. Im durch die Konservative Revolution und später auch die französische Nouvelle Droite beeinflussten Strang des Konservatismus wurden nicht nur die aktuellen Ausprägungen der Verfassungswirklichkeit, sondern ebenso die verfassungsmäßigen Grundlagen als zur Gefah205

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renabwehr ungeeignet abgewiesen: „Die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist seit einigen Jahren ein Gemenge aus anarchischen und halbtotalitären Elementen“, schrieb der Publizist Hans-Dietrich Sander 1976 in der vor allem für den antidemokratischen Konservatismus und für die nationalrevolutionäre Rechte maßgeblichen Zeitschrift Criticón. Diese Verfassungswirklichkeit sei indes „überwölbt von einer parakollektivistischen Aura. Das widerspricht der Verfassungsinauguration von 1948/49 so kraß, daß wohl die Frage gestattet ist: was ist falsch gewesen? Richtig ist, daß alles in der Absicht bestimmt und ausgeführt wurde, dem Individuum den größtmöglichen Spielraum zu gewähren. In dieser Absicht sind auch die Reste staatlicher Elemente abgebaut worden, die uns noch verblieben waren. Damit hat man allerdings dann den Raum angetastet, den das Individuum zu seiner Entfaltung braucht. / Es ist eine der wesentlichen Ursachen für den politischen Niedergang, daß man sich angewöhnt hatte, Individuum und Staat als etwas Entgegengesetztes zu betrachten.“17

Wurde das Auskonkurrieren des Staates durch die Individualrechte noch als schleichender Prozess aufgefasst, der ursprünglich nicht durch das Grundgesetz intendiert gewesen war, so konstatierte Sander zwei Jahre später angesichts des Terrors der RAF eine „Inkompatibilität von Staatsraison und Verfassungsstaat“ überhaupt18. In seinen Ausführungen zur Gefahrenlage, in der sich die Bundesrepublik befinde, führte Sander diese Gefährdungen durch einen latenten Kollektivismus, der nun vollends ausgebrochen sei, auf die „Hypotheken“ der „Schuldfrage“ zurück, die bereits am Anfang „der neuen Ordnung“19 des westdeutschen Staates gestanden hätten. „Unter ihrer Fuchtel entstand das Dogma von der mutwilligen Zerstörung der Weimarer Republik durch antidemokratisches Denken. So wurde alles, was die strukturellen Schwächen des Systems hervorgehoben hatte, an denen es schließlich zugrundegegangen ist, noch nachträglich mit dem Odium behaftet, der nationalsozialistischen Diktatur Schrittmacherdienste geleistet zu haben, und alles, was ähnliche Defekte der Bonner Republik bloßlegen würde, von

17 Hans-Dietrich Sander: In der Zwickmühle der Restauration. Gedanken zu Gestalt und Gefahren der Bonner Republik, in: Criticón 7 (1976), Heft 37, S. 213-220, hier S. 215. 18 Ders.: Absolutismus, Revolution und – dann? Impulse für die Geschichtsschreibung aus der Agonie des liberalen Geistes, in: Criticón 9 (1978), Heft 48, S. 201-203, hier S. 203. 19 Ders.: In der Zwickmühle der Restauration (wie Anm. 17), S. 217.

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vornherein verdächtigt, neofaschistische Tendenzen begünstigen zu wollen.“20

Hinter seiner Auffassung, die herrschende Verfassung sei den Deutschen oktroyiert worden, ihnen im Grunde jedoch „wesensfremd“ geblieben, steht die Vorstellung einer fortwährenden Demokratieunverträglichkeit seines mit dem Substrat der deutschen Geschichte identifizierten Volksund Staatsbegriffs. Sie mündet in die Ansicht, jede funktionierende politische Ordnung, auch die autoritärste, sei jener der Bundesrepublik noch vorzuziehen, da diese (nicht zuletzt durch die Totalitarismustheorie) ihre Immunität gegen ihre inneren und äußeren Feinde längst eingebüßt habe. „Was die Grundsätze der ‚freiheitlich-demokratischen Politik‘ nebst Pluralismus, Marktwirtschaft etc. angeht, so sind sie im Laufe der Jahre zu einer Ideologie erstarrt, deren Leerformeln, sich der Aussagekraft des MarxismusLeninismus in der DDR annähern [Zeichensetzung wie i. O.; d. V.]. Natürlich gibt es Unterschiede. Aber unter ihnen […] gibt es die vertrackte Differenz, daß der ungleich verstocktere Marxismus-Leninismus in der DDR als Herrschaftsideologie funktioniert, während die freiheitlich-demokratische Politik in der BRD das Gebälk ihres Systems wurmstichig macht und die Ratten zum Tanz auf der Tenne einlädt. Einen gerüttelten Scheffel Schuld daran hat die Kommunismus- bzw. Faschismus-Kritik der neoliberalen Schule, die mit ihrer Fehleinschätzung der totalitären Diktatur als totalitären Staat Elemente in Verruf brachte, ohne die keine politische Ordnung existieren kann.“21

6. Funktionaler Antikommunismus An der Radikalisierung durch Sander wird deutlich, dass der konservative Antikommunismus, der nach dem Abflauen des Kalten Krieges und nach den Ostverträgen der sozial-liberalen Bundesregierung gepflegt wurde, wenigstens zum Teil als „funktionaler Antikommunismus“ gelten kann. Diesen Begriff entwickelte Andreas Wirsching aus den Debatten der antiliberalen Rechten in der Weimarer Republik, in denen „eine hemmungslose Perhorreszierung der kommunistischen Gefahr“, die „stets gegen die als schwächlich deklarierte liberale Demokratie“22 gerichtet war, zum Beweg-

20 Ebd. 21 Ebd., S. 219. Dagegen stehen bei Sander die Kabinette Adenauers noch für eine Phase relativer Befriedung, weil „sein Regierungsstil verdeckt autoritär gewesen ist“ (ebd., S. 220). 22 Andreas Wirsching: Antikommunismus als Querschnittsphänomen politischer Kultur, 1917-1945, in: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hrsg.): „Geistige Ge-

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grund für einen Abwehrkampf stilisiert wurde, der vor allem den tatsächlichen oder imaginierten Verbündeten des Bolschewismus und nicht nur seinen offensichtlichen Wegbegleitern und Parteigängern gegolten habe. Die Konfrontation galt vielmehr dem liberal-demokratischen Staat selbst, weniger seinen Gegnern, wenngleich sie als sein mehr oder weniger offensichtlicher Bestandteil angesehen und mit ihm in eins gesetzt wurden. Am stärksten fand sich dazu bei Sander – jedoch nicht nur bei ihm – das erstaunliche Ansinnen, dem Marxismus-Leninismus doch wenigstens zugutehalten zu wollen, ein dauerhaftes Ordnungssystem errichtet zu haben, das von konkurrierenden Entwürfen und geistiger Opposition freigehalten werden konnte. Bei den anderen vorgestellten Beiträgen zur konservativen Staatsdiskussion blieb der Antikommunismus in seiner hergebrachten Form entweder als Teil eines Dreiecksverhältnisses im Spiel, worin die Neue Linke dem orthodoxen Marxismus Moskauer bzw. Ost-Berliner Prägung zusätzliche Legitimation verschaffen könnte, oder er blieb als Conditio sine qua non eines Konsenses über die Grundlagen des Staates präsent: Er bildete das Negativ für einen Konsens, der gerade zur Wahrung eben dieser freiheitlichen Grundlagen unantastbar bleiben müsse. Mit dem erweiterten Spektrum des politisch Denk- und Sagbaren nach 1968 ist damit die Bedeutung des Antikommunismus ebenfalls stark ins Flottieren geraten. Seine Virulenz für das konservative Denken, abseits einer vor allem weltpolitisch darstellbaren Bedrohungslage, die einstmals auf einen äußeren Gegner verwies, der gleichwohl im Inneren schon lange tätig war, wurde nun verstärkt mit den immanenten Selbstzerstörungstendenzen einer ihrer eigenen Permissivität erliegenden Gesellschaft begründet, die sich dem Primat des Staates über der Gesellschaft längst entfremdet habe.

fahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014, S. 15-28.

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Sprache und Ideologie des Konservatismus. Zur Differenz vom moderaten und radikalen konservativen politischen Denken in der Bundesrepublik Deutschland Tobias Bartels

1. Einführung Die Vorstellung eines kohärenten Ideenzusammenhangs namens Konservatismus wird mit Verweis auf die Konjunkturen des Begriffes selbst sowie die Kontroversen um seinen Gehalt immer wieder infrage gestellt. Gegenwärtig erlebt dieser seit dem 19. Jahrhundert zentrale politische „Bewegungsbegriff“ (Reinhart Koselleck) in einer „nationalkonservativen“ Prägung in weiten Teilen Europas eine scheinbar ungeahnte Renaissance. Gleichzeitig entstehen in der Bundesrepublik noch vor wenigen Dekaden undenkbare grün-schwarze Koalitionen, die sich auf eine gemeinsame „wertkonservative“ Programmatik berufen. Diese beiden aktuellen Beispiele belegen die tatsächliche Vitalität konservativen politischen Denkens, das stets durch Kontroversen über den heterogenen und umstrittenen Charakter seines eigenen Gegenstandes gekennzeichnet war und ist. Die vielfältigen und kaum überschaubaren Selbst- und Fremdzuschreibungen des Konservatismus sind nicht nur ein Phänomen der (partei-)politischen Rhetorik und öffentlichen Debatten, sondern wurden auch durch die akademischen Diskurse in der Bundesrepublik reproduziert. Das eklektische Bild des Konservatismus ist in Teilen auch auf eine politische Wissenschaft zurückzuführen, welche ihren Gegenstand entweder unter grundsätzlich polemischen oder apologetischen Vorzeichen betrachtete. So wurde der Konservatismus einerseits als „die dem historischen Prozeß der Demokratisierung immanente Gegenbewegung“ definiert oder andererseits die Konservatismusforschung „als vergangenheitspolitisches Korrektiv zur Teleologie der ‚68er-Geschichtsschreibung‘“ verstanden.1 Eine für

1 Für erstere Definition, siehe Helga Grebing: Positionen des Konservatismus in der Bundesrepublik, in: Dies. u. a. (Hrsg.): Konservatismus. Eine deutsche Bilanz, München 1971, S. 33-66, hier S. 33. Die zweite Vorstellung findet sich bei Clemens

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die historischen Entwicklungen und gegenwärtigen Konstellationen sensible und selbstreflektive Politikwissenschaft sollte aber keine diffuse Ideenpolitik und -geschichte betreiben. Im Folgenden soll daher der Vorschlag unterbreitet werden, die sprachlichen Zeugnisse des konservativen Denkens als Ausgangspunkt für eine politisch-programmatische Untersuchung zu betrachten. Der Konservatismus soll hier als eine Ideologie beschrieben werden, welche sich in der Bundesrepublik nach 1945 in zwei markanten Weisen beschreiben lässt: als moderater und als radikaler Konservatismus. Diese Überlegungen erfolgen in Anschluss an die von John G. A. Pocock entwickelte Untersuchung von politischen „Sprachen“ und verbinden diese mit dem „morphologischen Ansatz“ in der Ideologieforschung von Michael Freeden. Dieser methodische Zugang erscheint der Dynamik des Gegenstandes angemessener als die immer noch zahlreichen „globalen“ Konservatismus-Konzeptionen, welche in der Vorstellung eines „Konservatismus als Lebensform“ ihren exemplarischen Ausdruck finden.2 2. Die „wesentliche Umstrittenheit“ des Konservatismus Die Diskussionen über methodische Zugänge zum Konservatismus sind eng mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert verbunden und fanden in den wissenssoziologischen Untersuchungen Karl Mannheims einen ersten Referenzpunkt. Die etablierten, aber umstrittenen Vorstellungen des Konservatismus als historisch abgeschlossenem Epochenbegriff der societas civilis (Panajotis Kondylis), als analytischem Strukturbegriff, der die soziale Position der Verteidigung des Status Quo beschreibt (Samuel Huntington) oder als essentielle menschliche Disposition, welche sich u. a. in einer Bevorzugung des Bewährten gegenüber dem Neuen zeige (Michael Oakeshott), haben neben

Albrecht: Konservatismus und Bundesrepublik. Wie muß eine Wirkungsgeschichte konzipiert sein?, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, Berlin 2005, S. 25-34, hier S. 28. 2 In einem Band zu Staatsverständnissen (!) des konservativen Denkens heißt es einleitend: „Konservative pflegen eher eine Lebenshaltung als eine Doktrin und betrachten im Gegensatz zu Vertretern anderer Denkströmungen politische Auseinandersetzungen nicht unbedingt als die wichtigste Angelegenheit des Lebens“ (Michael Großheim/Hans Jörg Hennecke: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Staat und Ordnung im konservativen Denken, Baden-Baden 2013, S. 9-15, hier S. 12).

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ihrer je disziplinären Perspektive gemein, dass sie den Gegenstand bewusst in einer nicht-ideologischen Weise beschreiben.3 Die historische und gegenwärtige Pluralität konservativer Selbst- und Fremdzuschreibungen legt dagegen nahe, die konkrete ideologisch-programmatische Dimension und ihre sprachlichen Erscheinungen als Ausgangspunkt eines besseren Verständnisses des Konservatismus zu betrachten. Im Folgenden wird daher zuerst kurz der „Sprachen“-Ansatz von John G. A. Pocock (2.1) und dann die Ideologie-Konzeption von Michael Freeden (2.2) vorgestellt, ehe anschließend der spezifische Mehrwert einer Synthese dieser beiden Ansätze für die Erforschung des Konservatismus herausgestellt wird (2.3). 2.1 John G. A. Pocock: Vom politischen Denken zum politischen Diskurs John G. A. Pocock hat zusammen mit Quentin Skinner maßgeblich die „sprachkritische Wende“ des politischen Denkens im 20. Jahrhundert eingeleitet. Entgegen den von ihnen kritisierten Vorstellungen einer neo-platonischen Ideengeschichte à la Arthur Lovejoy sowie der marxistischen Determination des politischen Denkens durch die sozio-strukturelle Formation der Gesellschaft, setzten die Protagonisten der Cambridge School mit Bezug auf die Sprachphilosophie des späten Wittgenstein und die Sprechakttheorie John Searles und John Austins auf einen sprachlichen Kontextualismus. Pocock kommt dabei das Verdienst zu, die Erforschung politischer „Sprachen“ als Potential einer sprachkritischen politischen Ideengeschichte maßgeblich entwickelt und mit seinen eigenen Forschungen vorangetrieben zu haben.

3 Vgl. Andrew Vincent: Modern political Ideologies, 2. Aufl., Oxford 1995, S. 56-58. Die Differenz der disziplinären Zugänge der Konservatismusforschung veranlassten Jan-Werner Müller in einem „multidimensionalen Ansatz“ zwischen einer soziologischen, methodologischen, ästhetischen und philosophisch-anthropologischen Ebene des Konservatismus zu unterscheiden. Somit kann Müller zwar verschiedene Perspektiven integrieren, allerdings erscheint seine Erfüllungsbedingung in Bezug auf die programmatische Inhaltsebene beliebig („The main point of the argument is that for us properly to speak of a political conservatism, at least two of the four dimensions outlined earlier need to be present.“); vgl. Jan-Werner Müller: Comprehending Conservatism. A new framework for analysis, in: Journal of Political Ideologies 11 (2006), Heft 3, S. 359-365. Zur Kritik aus philosophischer Perspektive siehe: Geoffrey Brennan/Alan Hamlin: Comprehending Conservatism. Framework and Analysis, in: Journal of Political Ideologies 19 (2014), Heft 2, S. 227-239.

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„Sprachen“ sind hier nicht im linguistischen Sinne zu verstehen, sondern der Begriff bezeichnet nach Pocock viel mehr bestimmte Idiome, eine spezifische Rhetorik oder Formen politischer Rede, welche durch ihre Pluralität, Flexibilität und Unabgeschlossenheit gekennzeichnet sind.4 Mit Bezug auf den Strukturalismus Ferdinand de Saussures unterscheidet Pocock zwischen der allgemeinen Sprachkonvention (langue) und dem konkreten individuellen Sprechakt (parole). Um eine sprachliche Äußerung verstehen oder einordnen zu können, muss der Historiker des politischen Denkens die sprachlichen Konventionen einer Zeit „erlernen“, d. h. die Bandbreite der Texte einer Sprache intensiv zur Kenntnis nehmen und somit den konkreten diskursiven Kontext rekonstruieren. Eine neue „Sprache“ ist gefunden, wenn verschiedene Autoren unterschiedliche Sprechakte in diesem gemeinsamen Diskursmodus vollziehen und eine Reflektion der eigenen Sprach-Verwendung erkennbar ist.5 Somit wird aus der Geschichte des politischen Denkens nach Pocock eine Geschichte der politischen Diskurse, in der ein Historiker die impliziten politischen „Sprachen“ expliziert und kartographiert. In seiner Frühphase hat Pocock die „Sprachen“ noch in Anlehnung an Thomas S. Kuhn als „Paradigmen“ beschrieben.6 Durch die Kritik an dem dadurch potentiell determinierenden Charakter der „Sprachen“ verzichtete Pocock später auf diese Analogie7, ohne den paradigmatischen Charakter grundsätzlich zu revidieren. Der Historiker des politischen Denkens müsse

4 Vgl. John G. A. Pocock: The Reconstruction of Discourse. Towards the Historiography of Political Thought, in: Ders.: Political Thought and History. Essays on Theory and Method, Cambridge 2009, S. 67-86, hier S. 74. 5 Daneben benennt Pocock auf Seiten des Historikers noch einen „Experimentaltest“, in dem dieser die ‚Sprache‘ durch hypothetische Annahmen in bestimmten Situationen voraussagen kann, einen „Zufallstext“, d. h. die Identifikation der ‚Sprache‘ an Orten, an denen sie nicht vermutet wurde und einen „Anachronismustest“, der die historische Plausibilität der ‚Sprache‘ überprüft. Vgl. John G. A. Pocock: The Concept of a Language and the métier d’historien. Some Considerations on practice, in: Ders.: Political Thought and History (wie Anm. 4), S. 87-105, hier S. 94. 6 Vgl. ders.: Languages and their Implications. The Transformation of the Study of Political Thought, in: Ders.: Politics, Language, and Time. Essays on Political Thought and History, Chicago u. a. 1989, S. 3-41, hier S. 13-19. 7 Zur Kritik der paradigmatischen ‚Sprachen’ als „Metatexte“, siehe Günther Lottes: ‚The State of the Art‘. Stand und Perspektiven der ‚intellectual history‘, in: FrankLothar Kroll (Hrsg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 27-45, hier S. 42. Eine Zusammenfassung der Kritik an der Cambridge School im Allgemeinen und an Pocock im Speziellen

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sich viel mehr über den idealtypischen Charakter der von ihm entwickelten „Sprachen“ bewusst sein, die als „Metasprache“ durchaus erzählen, was hypothetisch gesagt werden konnte, ohne dass es konkret gesagt worden ist.8 Der vermeintlich paradigmatisch-determinierende Charakter der politischen „Sprachen“ wurde in der Folge immer wieder kritisiert, jedoch soll hier mit Pocock deren möglichkeitsgenerierende Funktion betont werden: „To know a language is to know the things which may be done with it, so that to study a thinker is to see what he attempted to do with it“.9 Mit der breit angelegten Untersuchung von politischen Debatten und Diskursen ist daher notwendig auch eine Ausweitung der Forschungsperspektive der politischen Ideengeschichte über die kanonisierten Denker hinaus verbunden. Diese breite Konzeption von Ideengeschichte ist ein nicht zu unterschätzender Mehrwert von Pococks Ansatz, der die „Identifizierung der praktischen, innovativen Rolle politischen Denkens“ in der alltäglichen „Sprache“ betont.10 Zwar hat sich Pocock im Gegensatz zu Skinner nicht ausführlich zum Zusammenhang der „Sprachen“ und dem Konzept der Ideologie geäußert. Mit Marcus Llanque lässt sich jedoch das für beide Forscher bestimmende Ideologie-Konzept „im Sinne der sich

bieten: Eckhart Hellmuth/Christoph von Ehrenstein: Intellectual History Made in Britain. Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), Heft 1, S. 149-172, hier S. 161-172. 8 „It does not make the historian an idealist to say that he regularly, though not invariably, presents the language in the form of an ideal type: a model by means of which he carries on explorations and experiments“ (John G. A. Pocock: Introduction: The State of the Art, in: Ders.: Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge u. a. 1985, S. 1-34, hier S. 11). 9 John G. A. Pocock: Languages and their Implications (wie Anm. 6), S. 28. 10 „Die Untersuchung der politischen ‚Sprachen‘ oder ‚Ideologien‘ ist somit keine des bloß legitimationsstiftenden Überbaus, sondern sie dient der Aufklärung über unverzichtbare Elemente des historischen Entwicklungsprozesses, der Konstitution, Legitimation und Weiterführung oder der sukzessiven Delegitimierung, Veränderung oder Umwälzung politischer und sozialer Einrichtungen und Beziehungen.“ Olaf Asbach: Von der Geschichte politischer Ideen zur ‚History of Political Discourse‘? Skinner, Pocock und die ‚Cambridge School‘, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12 (2002), Heft 2, S. 637-667, hier S. 653f. Dieses praxisorientierte kritische Potential eines weiten Verständnisses politischen Denkens ist auch von Henning Ottmann und Michael Th. Greven begründet worden; vgl. Henning Ottmann: In eigener Sache: Politisches Denken. Oder: Warum der Begriff ‚politisches Denken‘ konkurrierenden Begriffen vorzuziehen ist, in: Jahrbuch Politisches Denken 96 (1995), S. 1-8.

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diskursiv entwickelnden sprachlichen Topoi und Argumentationsmuster [verstehen], in welchen die politische Welt nach Begriffen geordnet und so für bestimmte Gesprächspartner kommunikabel wird.“11 Somit kann der „Sprachen“-Ansatz von Pocock auch als ein früher Beitrag zur neueren Ideologieforschung verstanden werden. 2.2 Michael Freeden: Ideologien als sprachliche Phänomene Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der anglophonen Ideologieforschung (die in der deutschsprachigen Politikwissenschaft bisher kaum rezipiert wird) ist auf das Engste mit Michael Freeden verbunden, der sich zuvor in zahlreichen Studien mit dem britischen Liberalismus beschäftigte und Mitte der 1990er Jahre einen „morphologischen Ansatz“ entwickelt hat.12 Ideologien sind bei Freeden im Sinne eines in Großbritannien und den USA vorherrschenden pragmatischeren Verständnisses als allgegenwärtige Formen des politischen Denkens (thinking about politics) zu verstehen, welche das Handeln und Denken der politischen Akteure bewusst oder unbewusst beeinflussen oder ermöglichen.13 In der Konsequenz bedeutet dies bei Freeden – analog zu Pocock – ein weites Verständnis des politischen Denkens,14 in welchem aber gleichzeitig die elaborierten Unternehmungen der politischen Philosophie grundsätzlich unter ideologi-

11 Marcus Llanque: Alte und neue Wege der politischen Ideengeschichte, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), Heft 1, S. 34-51, hier S. 35. 12 Vgl. Michael Freeden: Ideologies and Political Theory. A Conceptual Approach, New York 1996. Eine konzise Zusammenfassung des „morphologischen Ansatzes“ findet sich in: Michael Freeden: The Morphological Analysis of Ideology, in: Ders./Marc Stears (Hrsg.): The Oxford Handbook of Political Ideologies, Oxford 2013, S. 115-137. Für einen Überblick über die zunehmende Fragmentierung der Ideologieforschung in begriffszentrierte, diskurstheoretische/(post-)strukturalistische und quantitative Ansätze siehe: Jonathan Leader Maynard: A map of the field of ideological analysis, in: Journal of Political Ideologies 18 (2013), Heft 3, S. 299-327. 13 „Ideologies may be power structures that manipulate human action, but they are also ideational systems that enable us to choose to become what we want to become“ (Michael Freeden: Ideologies (wie Anm. 12), S. 553). 14 „Ideological texts are therefore increasingly to be found among the mass media, or through the participation of intellectuals in the bulk dissemination of ideas“ (Michael Freeden: Editorial: What is special about Ideologies?, in: Journal of Political Ideologies 6 (2001), Heft 1, S. 5-12, hier S. 8).

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schem Vorbehalt betrachtet werden. Die Akteure im ideologischen Wettbewerb sind durch den Willen gekennzeichnet, ihre Einflussgewinnung und -ausübung in der politischen Sprache zu festigen und streben daher durch autoritative Setzungen oder Definitionen von (politischen) Begriffen eine quasi-hermetische Anordnung ihres ideologischen „Gebäudes“ mit dem Ziel einer zumindest temporären „Unanfechtbarkeit“ (decontestation) an.15 Die marxistische Idee einer hegemonialen Ideologie wird somit zugunsten der Vorstellung des stetigen Wettbewerbs mehrerer Ideologien um die Dominanz über die politische Sprache abgelöst. Methodologisch betont Freeden hierzu die Notwendigkeit der über die politischen und kulturellen Kontexte hinaus ergänzenden Fokussierung auf die morphologisch-begriffliche Strukturanalyse von Ideologien, die „wesentlich umstrittene“, markante politische Begriffe beinhalten.16 Nach Freeden lassen sich Ideologien also als spezifisch sprachlich konstituierte Deutungsrahmen im politischen Raum zusammenfassen, welche jeweils die Deutungs- und Interpretationshoheit über politische Begriffe beanspruchen – „[j]ust as concepts can be contested, they can also be decontested, in that they achieve a stable meaning within a given framework“17. Folglich muss die Erforschung die konkrete Gestalt („Morphologie“) dieser Begriffsanordnungen rekonstruieren. Hierzu entwickelt Freeden ein heuristisches Kreismodell, in dem die Anordnung der Begriffe innerhalb der konkreten Ideologie auf drei Ebenen veranschaulicht wird: Im Zentrum (core) stehen die elementaren Kernbegriffe jeder Ideologie, welche von einer unmittelbar angrenzenden Ebene (adjacent) umgeben ist, in der diese Kernbegriffe durch weitere er-

15 Vgl. Michael Freeden: What should the ‚Political‘ in Political Theory explore?, in: Journal of Political Philosophy 13 (2005), Heft 2, S. 113-134, hier S. 119-122. 16 Die „essentially contested concepts“ sind gekennzeichnet durch „endless disputes about their proper uses on the part of their users“; siehe: Walter Bryce Gallie: Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), S. 167-198, hier S. 169. Nach Freeden ist die Polysemie dieser politischen Begriffe in deren grundsätzlicher Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Unabgeschlossenheit und generellen Unschärfe erkennbar. Vgl. Michael Freeden: What should the ‚Political‘ (wie Anm. 15), S. 117. Zur neueren Rezeptionsgeschichte und zu weiteren Adaptionen von Gallies Konzept, siehe: David Collier/Fernando Daniel Hidalgo/Andra Olivia Maciuceanu: Essentially Contested Concepts. Debates and Applications, in: Journal of Political Ideologies 11 (2006), Heft 3, S. 211-246. 17 Ebd., S. 218. Entgegen der Betrachtung singulärer Grundbegriffe in der Begriffsgeschichte rückt der ‚morphologische Ansatz‘ die Beziehungen und Struktur der Begriffe (im Plural) ins Zentrum.

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gänzt oder notwendig ausgedeutet werden (bspw. als Komposita). Die dritte Ebene (periphery) dieses Modells ist am durchlässigsten und beinhaltet situative und kontextgebundene Begriffe, welche kurzfristig in den Begriffshaushalt integriert werden können. Um die Diskussion um die inhaltliche Dimension der Ideologien nicht zu einer geometrischen Debatte um Anordnungen im Raum verkommen zu lassen, wird hier vorgeschlagen, von einer konstitutiven, komplementären und kontingenten Ebene zu sprechen. Die konkrete Zuordnung der Begriffe ist nach Freeden keineswegs willkürlich, sondern findet ihre Grenzen einerseits in den sprach-logischen und andererseits in den jeweiligen lokalen, regionalen oder nationalen kulturellen Konventionen des Sprachraumes. Die Grundbegriffe des politischen Denkens (Freiheit, Gleichheit, Macht, Gerechtigkeit usw.) sind wie alle anderen Begriffe nicht exklusiv auf eine Ideologie beschränkt, sondern vielmehr Bestandteil jeder Ideologie, auch wenn die Begriffe auf verschiedenen Ebenen vorkommen können. Mit diesem „morphologischen Ansatz“ ist sowohl die historische Konstanz von Ideologien durch deren konstitutive Grundbegriffe als auch die ideologische Dynamik durch die Aneignung von komplementären und kontingenten Begriffskonstellationen erklärbar. 2.3 „Sprache“ und Ideologie des Konservatismus In Anbetracht der Parallelen zwischen den beiden hier vorgestellten Konzeptionen politischer „Sprachen“ und Ideologien muss die auffällige Nicht-Rezeption Pococks in Freedens Werk fast verwundern. Wird der Begriff der langue bei Pocock durch „Ideologie“ ersetzt, dann wird die Nähe zu Freedens morphologischem Ansatz deutlich, wie sich in folgender Passage zeigt: „A complex plural society will speak a complex plural language; or rather, a plurality of specialized languages, each carrying its own biases as to the definition and distribution of authority, will be seen converging to form a highly complex language, in which many paradigmatic structures exists simultaneously, debate goes on as between them, individual terms and concepts migrate from one structure to another, altering some of their implications and

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retaining others, and the processes of change within language considered as a social instrument can be imagined as beginning.“18

Die Betonung der Pluralität von „Sprachen“, die „Migration“ von Wörtern und Begriffen innerhalb dieser Paradigmen und der Anspruch, „Autorität“ durch eigene Setzungen zu generieren sind Phänomene, die sich ebenso in der Ideologiekonzeption Freedens identifizieren lassen. Pocock betont auch an einer Stelle explizit, dass die politischen Intentionen, die mit einer „Sprache“ verbunden sind, soweit reichen, dass sie als Weltanschauung oder Ideologie bezeichnet werden können.19 Allerdings muss das vorrangig historische Erkenntnisinteresse dieses Ansatzes betont werden, welches sich in der Präferenz für synchrone Untersuchungen von „Sprachen“ in ihrer konkreten Zeit ausdrückt.20 Freedens „morphologischer Ansatz“ ist hingegen durch die notwendig diachrone Perspektive als Beitrag sowohl zur historischen als auch zeitgenössischen Ideologieforschung zu verstehen, in dem immer auch die Relevanz und Kontinuität ideologischer Beschreibungskategorien hinterfragt wird. Eine Synthese dieser beiden Ansätze betont mit Pocock die plurale, dynamische und programmatische Funktion einer politischen „Sprache“ und fragt „ideologiekritisch“ mit Freeden nach der Interdependenz von unbewusster „Sprache“ und bewusstem Begriff.21 Mit dieser Synthese erscheint es also möglich, die begrifflich-inhaltliche Ebene von Ideologien zu beschreiben und ihre spezifischen Veränderungen oder Ausdifferenzierungen in der „Sprache“ nachzuvollziehen. Dieser ideologisch-sprachpolitische Ansatz kann somit gerade in Bezug auf den Konservatismus helfen, die Diskrepanz zwischen der internen Per18 John G. A. Pocock: Languages and their Implications (wie Anm. 6), S. 22 (Hervorhebung vom Verfasser). Auch in Bezug auf den Begriff der ‚Morphologie‘ wird die Ähnlichkeit deutlich: „We need both the morphology of langue and the dynamics of parole.“ Siehe ders.: The Concept of a Language (wie Anm. 4), S. 100. 19 Siehe John G. A. Pocock: Concepts and Discourses. A Difference in Culture? Comment on a Paper by Melvin Richter, in: Hartmut Lehmann/Melvin Richter (Hrsg.): The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996, S. 47-58, hier S. 47. 20 Vgl. ebd., S. 49. 21 Somit ist hier ein Verständnis des methodologischen Zugangs zum politischen Denken impliziert, das nicht streng zwischen einer historischen und einer politiktheoretischen Disziplin unterscheidet, sondern vielmehr deren spezifische Qualitäten zu verbinden sucht. Vgl. hierzu Jeffrey Edward Green: Political Theory as both Philosophy and History. A Defense against methodological Militancy, in: Annual Review of Political Science 18 (2015), S. 425-441.

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spektive der konservativen Akteure (welche oftmals die Existenz einer konservativen Ideologie vehement bestreiten) und der externen analytischen Sicht des Beobachters des Konservatismus als Ideologie (im Sinne einer „Sprache“ mit konkret identifizierbarem Vokabular) aufzulösen. Um jedoch die konservative „Sprache“ und ihre Subsprachen in der Bundesrepublik nach 1945 beschreiben zu können, muss in einem ersten Schritt der konstitutive Kern der konservativen Ideologie beschrieben werden, was im Rahmen dieses Beitrages unter Rückgriff auf Freeden und Andrew Heywood geschieht.22 Die nachfolgende Beschreibung ist als eine heuristische, idealtypische Konstruktion zu verstehen und soll die Basis bilden, um dann die historisch bedingten Konturen eines Konservatismus sichtbar zu machen, an die im bundesrepublikanischen Diskurs nach 1945 angeknüpft werden konnte. Nach Freeden lassen sich beim Konservatismus zwei zentrale Elemente identifizieren: Einerseits die Vorstellung, dass der geschichtliche Wandel als „natürlich“ und somit nicht (menschlich) planbar zu verstehen ist und andererseits der Glaube an den übermenschlichen (extra-human) Ursprung der sozialen und politischen Ordnung.23 Über diese beiden konservativen Kernpunkte hinaus lassen sich nach Freeden keine weiteren (allgemeinen) Aussagen treffen: „Beyond conservatism‘s core concepts (...) its ideological details display no consistency. (...) While the conceptual units of conservatism were quasi-contingent, its consistency lay in its morphology as a whole.“24 Diese minimalistische Konzeption des Konservatismus ist demnach auf dessen grundlegende Differenz zu anderen Ideologien zurückzuführen: Das Paradox des Konservatismus liegt in seinem reaktiven Charakter, d. h. eine Selbstvergewisserung über zentrale konservative Kernelemente erfolgt immer nur in Zeiten eines (radikalen) Wandels, wenn die Ideologie durch andere Ideologien zu einer Reaktion herausgefordert wird: „When conservatism perceives change as unproblematic it remains intel-

22 Freeden hat in seinem Hauptwerk die Begriffsstruktur aller ‚großen‘ Ideologien selbst expliziert und zwischen Makro-Ideologien (Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, Faschismus und Kommunismus) und einer Reihe weiterer ‚kleiner‘, sog. Mikro-Ideologien, unterschieden, welche zwar auch einen identifizierbaren Kern haben, allerdings in ihrem Geltungsbereich auf einzelne Politik-Felder beschränkt sind (z. B. Nationalismus oder Feminismus). Vgl. Michael Freeden: Ideology. A very short Introduction, New York 2003, S. 94-100. 23 Vgl. Michael Freeden: Ideologies (wie Anm. 12), S. 333f. und ders.: Ideology (wie Anm. 22), S. 88. 24 Ders.: Ideologies (wie Anm. 12), S. 382.

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lectually dormant, and its principles or theoretical stances are only elicited when it is forced to mirror its opponents arguments.“25 Somit ist der Konservatismus in der politischen Auseinandersetzung grundsätzlich durch eine reaktive Tendenz gekennzeichnet, d. h., die inhaltliche (strukturellbegriffliche) Positionierung entsteht v. a. in Abgrenzung zu anderen Ideologien (bspw. als Gegenaufklärung, Antiliberalismus, Irrationalismus) und es ist somit ein bekanntes konservatives Paradoxon, dass der Konservatismus als politische Kraft der Bewahrung notwendig auf den Wandel angewiesen ist.26 Entgegen dieser Minimaldefinition hat Andrew Heywood die Bedeutung der Tradition, die menschliche Fehlbarkeit, die Vorstellung einer „organischen“ Gesellschaft, die Präferenz für Hierarchie und Autorität sowie einen spezifischen (aus dem britischen Verständnis extrahierten) Eigentumsbegriff als Kern des Konservatismus herausgestellt.27 Die Ergänzung um ein pessimistisches Menschenbild als anthropologischen Kern des Konservatismus erscheint überzeugend, wird doch der Mensch im konservativen Denken immer wieder als grundsätzlich fehlbares und unvollkommenes Wesen beschrieben, welches daher auf eine soziale und institutionelle Ordnung oder Erziehung angewiesen ist.28 Die historische Bedeutung der „organischen“ Rhetorik findet in der konservativen Präferenz des „Wachsens“ gegenüber dem „Machen“ sowie einer spezifischen Metaphorik (Vorstellung des Staates als „Körper“ oder „Familie“, Geschichte als

25 Ebd., S. 337. 26 Martin Greiffenhagen sprach von einem „Dilemma“ des Konservatismus, der in seiner Kritik am Rationalismus selber ‚rational‘ argumentieren müsse. Vgl. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971. Konsequent zu Ende gedacht, opponiert der Konservatismus demnach bewusst gegen die eigenen Bedingungen der Möglichkeit: „It [Conservatism; TB] conspires not only against other ideologies, but also against the revolution which made those ideologies relevant in the first place. If it had its way, it would like to make itself unnecessary. It seeks to unwind the dialectic of the enlightenment so far back that conservatism itself, along with liberalism and socialism, can be forgotten“ (James Alexander: The Contradictions of Conservatism, in: Government and Opposition 48 (2013), Heft 4, S. 594-615, hier S. 610). 27 Vgl. Andrew Heywood: Political Ideologies. An Introduction, 5. Aufl., Basingstoke u. a. 2012, S. 65-95, hier S. 68-78. 28 Vgl. Gerhard Göhler: Konservatismus im 19. Jahrhundert. Ein Überblick, in: Bernd Heidenreich (Hrsg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 19-32.

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„natürliche“ Entwicklung) ihren Ausdruck.29 Begriffsgeschichtlich ist jedoch die konstitutive Rolle der „Organologie“ ein historisches Phänomen, da die (konservative) „Organismus“-Konzeption, die als „Leitbegriff der staatstheoretischen und verfassungspolitischen Diskussion“ fungierte, im 20. Jahrhundert von dem „juristisch-dogmatischen Fachbegriff“ des „Organs“ abgelöst wurde.30 Der Traditionsbegriff erscheint mit Verweis auf die von Karl Mannheim betonte vorpolitische Funktion des „Traditionalismus“ ebenso problematisch wie die psychologisierende Betonung des autoritären Charakters des Konservatismus. Während somit der konstitutive Kern des Konservatismus konstruktiv durch eine Anthropologie der Fehlbarkeit und Ungleichheit sowie der Hervorhebung der Bedeutung vorpolitischer Werte und Institutionen beschrieben werden kann, verweist die Ablehnung eines teleologischen Geschichts- und Fortschrittverständnisses auf die konstitutive Relevanz einer negativen Kritik von bestimmten Konzepten. Somit ist es gerade für den Konservatismus notwendig, sich auch der negativen Leitbegriffe von Ideologien und „Sprachen“ zu vergewissern, welche in den Worten Tilman Mayers als „Abwehr-Ideologien“ beschrieben werden können.31 Die Inkorporierung der „Feindbilder“ in den „Sprachhaushalt“ der Ideologien muss sich mit Bezug auf den reaktiven Modus des Konservatismus und dessen historisch rekonstruierbaren antiliberalen, antidemokratischen oder auch antisemitischen und antiamerikanischen Ressentiments daher auch in den inhaltlichen Bestimmungen der Konservatismus-Konzeptionen widerspiegeln: „Konservatismus als Programm ist eine Reaktion auf Innovationen, eine Bewegung gegen die sich selbst als Fortschritt verstehenden Änderungen und Neuerungen“32.

29 Vgl. hierzu Martin Greiffenhagen: Dilemma (wie Anm. 26), S. 200-218. 30 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper (2. Teil: Der Übergang von der Corpus-/Mechanismusvorstellung zu Organisation und Organismus), in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, S. 561-622, hier S. 614-622. 31 Vgl. Tilman Mayer: Abwehr-Ideologie, in: Karl-Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Politik, Geschichte und Kultur. Wissenschaft in Verantwortung für die res publica. Festschrift für Manfred Funke zum 70. Geburtstag, Bonn 2009, S. 33-40. 32 Kurt Lenk: Konservative Kontinuität, in: Ders.: Rechts wo die Mitte ist. Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservatismus, Baden-Baden 1994, 171-179, hier S. 176.

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In seiner Einleitung zu Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France“ hatte Pocock erklärt: „A general history of ‚conservative‘ doctrine cannot be written; too many minds have been trying to ‚conserve‘ too many things for too many reasons.“33 Ein Ausweg aus der „wesentlichen Umstrittenheit“ des Konservatismus liegt demnach in der Anerkennung seiner Heterogenität. Die Ausdifferenzierung zweier prägnanter konservativer „Sprachen“ in der Bundesrepublik nach 1945 soll dies im Folgenden veranschaulichen. 3. Der moderate und radikale Konservatismus in der Bundesrepublik Soll der sprachideologische Ansatz auf die bundesrepublikanische Geschichte des Konservatismus nach 1945 angewendet werden, ist der oben erwähnte idealtypische Charakter der herausgestellten „Sprachen“ zu betonen. Die Identifizierung der konstitutiven, komplementären und kontingenten Ebenen des Konservatismus erfolgt im Sinne eines „hermeneutischen Zirkels“, in dem die explizierten Aussagen und Beschreibungen in einem wechselseitigen Prozess stetig mit der „konservativen Realgeschichte“ abgeglichen werden.34 In der politischen Semantik der Bundesrepublik der unmittelbaren Nachkriegszeit ist wegen der von Axel Schildt beschriebenen „konservativen Selbstaufgabe […] auf Basis einer Teilidentität der Ziele mit dem Nationalsozialismus“35 der Begriff Konservatismus fast nicht existent gewesen und fristete ein kümmerliches Dasein. Dies hing auch damit zusam-

33 Siehe John G. A. Pocock: Introduction, in: Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France (hrsg. von John G. A. Pocock), Indianopolis 1987, S. 7-56, hier S. 49 (Anm. 1). 34 Da die hier vorgestellten Beispiele v. a. zur Veranschaulichung des methodologischen Zugangs dienen, kann die Explizierung nur skizzenhaft erfolgen. Aus den vorangegangen Erörterungen sollte ebenfalls deutlich sein, dass die Einordnung eines Sprechers in einen konservativen Sprachzusammenhang nicht ausschließt, dass dieser daneben in weiteren ‚Sprachen‘ spricht – schon die alltägliche Erfahrung belegt, dass der Mensch ein polyglottes Wesen ist und in Gegenwart vertrauter Freunde am Kneipentisch eine andere ‚Sprache‘ spricht als etwa in einem Seminar für Politikwissenschaft. 35 Axel Schildt: Anpassung und Lernprozesse. Wiederaufstieg und Erneuerung des deutschen Konservatismus nach 1945, in: Michael Großheim/Hans Jörg Hennecke: Staat und Ordnung im konservativen Denken (wie Anm. 2), S. 189-209, hier S. 190.

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men, dass der parteipolitische Konservatismus – mit markanter Ausnahme der CSU unter Franz Josef Strauß – auf die Selbstbezeichnung „konservativ“ weitgehend verzichtete und sich vielmehr auf seine „christdemokratischen“ und „abendländischen“ Wurzeln berief.36 Dieser Zustand hielt bis in die 1960er Jahre an und erfuhr dann im Zuge der Studentenbewegung einen dramatischen Wandel: Als idiosynkratrische Leerformel und politischer Vorwurf kam es zu einer beachtlichen Extension des Begriffes. Diese ging jedoch zulasten seiner Intension, sodass der Vorwurf „konservativ“ zu sein von den rebellierenden Studenten gegen (fast) jeden politischen Gegner erhoben werden konnte. Die politisch unruhigen 1960er und 70er Jahre der alten Bundesrepublik sind in der Zeitgeschichtsforschung als Ära der Liberalisierung oder Demokratisierung beschrieben worden, was sich durch eine bemerkenswerte Veränderung des politischen Vokabulars belegen lässt: „Die anderthalb Jahrzehnte zwischen 1958 und 1973 waren geprägt von jenem vielbeschriebenen Wertewandel, der – orientiert an den Leitbegriffen ‚Fortschritt‘, ‚Reform‘, ‚Emanzipation‘, ‚Modernisierung‘ und ‚Demokratisierung‘ – spezifisch konservative Deutungsmodelle – repräsentiert durch die Gegenbegriffe ‚Tradition‘, ‚Ordnung‘, ‚Autorität‘, ‚Hierarchie‘ und ‚Elite‘ – nun eindeutig in die Defensive drängte und auf nahezu allen Gebieten des öffentlichen Lebens einen Perspektivenwechsel mit sich brachte.“37

In den 1970ern setzte quasi in Reaktion auf die Emanzipationsbestrebungen weiter Teile der Gesellschaft eine selbstbewusste und weitreichende Auseinandersetzung mit dem Konservatismus ein. Das Thema wurde nun nicht mehr nur „an extremen politischen Rändern, sondern in seriösen

36 Vgl. Rainer Barzel: „Mit dem Wort konservativ weiß ich nicht viel anzufangen. (...) Ich bin nämlich Christlich-Sozialer, und deshalb bin ich in die Christlich-Demokratische Union eingetreten“ (zitiert nach: Jürgen Bolten: Zum Umgang mit dem Begriff ‚konservativ‘ in der politischen Diskussion der Bundesrepublik, in: Josef Klein (Hrsg.): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung, Opladen 1989, S. 277-296, hier S. 283). 37 Siehe Frank-Lothar Kroll: Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, in: Ders. (Hrsg.): Die kupierte Alternative (wie Anm. 1), S. 3-24, hier S. 18. Ausführlich zum Komplex der Liberalisierung der frühen Bundesrepublik, vgl. Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 7-49.

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Zeitschriften diskutiert“38. Im Folgenden wird die These vertreten, dass es in dieser Zeit in der Bundesrepublik zu einer Ausdifferenzierung innerhalb des Konservatismus kam, sodass seitdem von einem moderaten und einem radikalen Konservatismus gesprochen werden kann.39 Für beide dieser „Sprachen“ gilt hier die Prämisse, dass die oben genannten Merkmale des Konservatismus konstitutiv sind, jedoch dieser „Kern“ von den jeweiligen Vertretern spezifisch erweitert wird. Die divergente Ideenpolitik in Bezug auf die konservative Ideengeschichte ist hier offensichtlich und erklärt die oftmals identischen Referenzautoren.40 Dieser „Sprachwandel“ und die Ausdifferenzierung des Konservatismus soll im Folgenden anhand des markanten Vokabulars und der bewussten Begriffsadaptionen sowie von relevanten Personen und markanten publizistischen „Sprachrohren“ skizziert werden. 3.1 Die „Sprache“ des moderaten Konservatismus Konstitutiv für den moderaten Konservatismus ist der Begriff der Ordnung.41 Die Errungenschaften und Kompetenzen der bewährten demokra-

38 Martin Greiffenhagen: Neokonservatismus in der Bundesrepublik, in: Ders. (Hrsg.): Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 7-22, hier S. 9. 39 Diese begriffliche Differenzierung nimmt Anleihen bei Noel O’Sullivan: Conservatism, in: Michael Freeden/Lyman Tower Sargent/Marc Stears (Hrsg.): The Oxford Handbook of Political Ideologies, Oxford 2013, S. 293-311. Mit spezifischem Bezug auf die amerikanische und britische Tradition des Konservatismus hat Andrew Heywood eine ähnliche Binnendifferenzierung zwischen einem ‚traditionellen Konservatismus‘ und der ‚Neuen Rechten‘ vorgenommen. Allerdings bezieht sich die ‚Neue Rechte‘ hier auf die paradoxe Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, welche die neoliberale Privilegierung des freien Marktes mit einem Appell für traditionelle Moralvorstellungen und Familienbilder verbanden; vgl. Andrew Heywood: Political Ideologies (wie Anm. 27), S. 65. 40 So gilt für den Konservatismus im allgemeinen Edmund Burke als Stichwortgeber und ‚Ahnherr‘. Eine Rezeptionsgeschichte von Burkes Schriften verdeutlicht jedoch dessen ambivalenten Charakter. Für die anti- bzw. vordemokratischen Aspekte seines Werkes, die u. a. im radikalkonservativen Denken aufgegriffen werden – siehe: Dirk Jörke: Kritik demokratischer Praxis. Eine ideengeschichtliche Studie, Baden-Baden 2011, S. 128-152. 41 „Ordnung und Staat, der Staat als Statthalter des Prinzips Ordnung, allein fähig, die sprengenden Kräfte zu bändigen, die der Konservative, der in der Geschichte Lebende, deutlicher fühlt und ängstlicher fürchtet“ (Ernst Klett: Konservativ. Ein

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tischen Institutionen werden betont und das aus der katholischen Soziallehre übertragene Ordnungsprinzip der Subsidiarität soll einer ausufernden staatlichen Kompetenzaneignung Grenzen setzen. Die Trennung der Sphären Staat und Gesellschaft ist für den moderaten Konservatismus notwendig – gegen die „allesverschlingende Göttin der Gesellschaft“ wird der „Sinn für Staatlichkeit, für die notwendige Funktion, die Würde und Legitimität staatlicher Ordnung“ betont.42 Gegen die aufgeklärte „Naturrechtsfiktion“ wird ein konservatives Institutionenverständnis in Stellung gebracht, das die soziale Ordnung als einen Prozess organischen Wachstums betrachtet und die Bedeutung des Common Sense betont. Politische Institutionen erfüllen im konservativen Denken wesentliche Funktionen, wie die Unterscheidung von „natürlich“ und „künstlich“ mit eindeutiger Präferenz für die traditionale bzw. gewachsene Ordnung, die Garantie von Autorität und Konstanz sowie einer unentbehrlichen und notwendigen Vermittlungsfunktion im politischen Prozess.43 Das Ordnungsdenken des moderaten Konservatismus ist statisch und gegenwartsorientiert, indem im Sinne der „Beweislastverteilungsregel“ (Hermann Lübbe) die Begründungspflicht zur Veränderung immer beim Reformakteur verortet wird. Die Etymologie des Moderaten verweist weiterhin auf den hier zentralen konservativen Topos der Mäßigung, der sich in Tugendappellen oder dem Ruf nach Autoritäten in der politischen Auseinandersetzung manifestiert. Vielfach finden sich in den Schriften dieser Akteure explizite oder implizite Bezüge zur konservativen Ideengeschichte, v. a. zu den „Klassikern“ wie Edmund Burke und dem britischen Konservatismus des 20. Jahrhunderts (Michael Oakeshott), den Denkern der deutschen (politischen) Romantik oder des preußischen Konservatismus. Das Politikverständnis des moderaten Konservatismus lässt sich durchaus mit dem Begriff der Realpolitik beschreiben, indem es die funktionalen Zwänge des demokratischen Wettbewerbs anerkennt und in dessen Rahmen agiert. In Bezug auf die komplementäre Ebene innerhalb des moderaten Konservatismus ist die Integration des Fortschritts und der Tech-

Vortrag, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 25 (1971), Heft 281, S. 841-854, hier S. 844). 42 Vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Vorwort des Herausgebers, in: Ders. (Hrsg.): Die Herausforderung der Konservativen. Absage an Illusionen, München 1974, S. 7-16, hier S. 15. 43 Vgl. Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2008, S. 135-255.

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nik für die Vertreter des „technokratischen Konservatismus“ wesentlich.44 Ebenso ist die Mitte ein wichtiges ergänzendes Motiv des moderaten Konservatismus,45 wie es sich bspw. prominent in Helmut Schelskys Konzept einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ findet oder in den Überlegungen Günter Rohrmosers zur „radikalen Mitte“, welche die nationalkonservativen, ordoliberalen und christlichen Kräfte des „bürgerlichen Lagers“ vereinen soll.46 Auf der Ebene der historisch kontingenten Entwicklungen finden sich die Kritik der Demokratisierungs- und Emanzipationsbestrebungen der Studentenbewegung bzw. Neuen Sozialen Bewegungen, die Rezeption der ökologischen Krise, prominent in der Debatte um den Begriff des „Wertkonservatismus“ (Erhard Eppler), sowie die deutsche Vereinigung und anschließende Diskussion über das neue Selbstverständnis der „Berliner Republik“ (Johannes Groß). Bedeutende Vertreter dieses Konservatismus sind die „liberalkonservativen“ Protagonisten des Münsteraner Collegium Philosophicum des Philosophen Joachim Ritter (neben Lübbe sind hier bspw. Odo Marquard oder Ernst-Wolfgang Böckenförde zu nennen), die als wichtige Stichwortgeber für die Herausbildung eines „demokratischen Normalkonservatismus“ betrachtet werden.47 Weiterhin lassen sich bekannte Namen der altbundesrepublikanischen Hochschullandschaft nennen, wie die Politikwissenschaftler Manfred Hättich, Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmansegg, die Juristen Ernst Forsthoff und Udo Di Fabio sowie bekennende konservative

44 Die Rekonstruktion der Integration eines „eingeschränkten Fortschrittsbegriffs“ durch die Vertreter des ‚technokratischen Konservatismus‘ skizziert u. a. Richard Saage: Staat, Technik und Gesellschaft im Neokonservatismus, in: Ders.: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, Frankfurt am Main 1987, S. 232-251, hier S. 237. 45 Vgl. Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Reinbek bei Hamburg 2012, S. 108-111. Die Relevanz der ‚Mitte‘ für das konservative Denken stellte Kurt Sontheimer bereits 1971 fest: „Die willkommenste Formel, die Konservative heutzutage benutzen, ist die von der Mitte“ (Kurt Sontheimer: Verstohlener Konservatismus, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 25 (1971), S. 700-703, hier S. 700). 46 Vgl. Günter Rohrmoser: Kampf um die Mitte. Der Moderne Konservatismus nach dem Scheitern der Ideologien, München 1999, S. 22-25. 47 Vgl. Jens Hacke: Die Verteidigung des Unvollkommenen. Zur Aktualität des altbundesrepublikanischen Liberalkonservatismus, in: Undine Ruge/Daniel Morat (Hrsg.). Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden 2005, S. 97-110, hier S. 102. Zur Ritter-Schule insgesamt siehe: Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit (wie Anm. 43).

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Publizisten wie Johannes Groß oder Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Die Mitgliedschaft vieler dieser Akteure im „Bund Freiheit der Wissenschaft“ verdeutlicht die prägende Erfahrung der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren. Publikationsorte dieses moderaten Konservatismus sind bspw. die Monatsschrift Merkur, die CDU-nahe Die Politische Meinung, das Deutschland-Magazin oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie die von Kaltenbrunner herausgegebene Buchreihe Initiative im Herder-Verlag. Ein markantes Beispiel für diesen moderaten Konservatismus sind die Ideen von Kaltenbrunner zum „schöpferischen Konservatismus“, welche er vor dem Hintergrund der damals breit diskutierten ökologischen Krise entwickelte, in der er „Aporien einer einseitig an Wachstum, Neuerung, Progreß orientierten Denkweise und Daseinsgestaltung“48 erkannte. Im sowjetischen Imperialismus sowie den linksradikalen Studenten seiner Zeit sieht er die wahren „Feinde“ des konservativen Denkens und entwickelt daher die Idee einer Allianz mit dem Liberalismus – allerdings unter konservativer Suprematie.49 Zwar lässt sich in Kaltenbrunners Rhetorik ein schmittianischer Einschlag kaum übersehen („Zeitalter des Weltbürgerkriegs“, „Haltung des Partisanen“, Feindanalyse usw.), jedoch bleiben seine explizit als „konservative Theorie“ bezeichneten Vorstellungen auf die bundesrepublikanische demokratische Ordnung bezogen. In einer bemerkenswerten Begriffsadaption definiert Kaltenbrunner den Konservatismus gar als „emanzipatorische Potenz, insofern er trachtet, das erreichte Maß an Emanzipation – Gewaltenteilung, Grundrechte, Verfassungsgerichtsbarkeit, Pluralismus von Parteien, allgemeines Wahlrecht usw. – gegenüber allen Versuchen politischer Entmündigung zu bestrafen.“50 3.2 Die „Sprache“ des radikalen Konservatismus Die „Sprache“ des radikalen Konservatismus ist demgegenüber von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der politischen Moderne gekennzeich-

48 Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Schöpferischer Konservatismus und konservative Aktion heute, in: Ders. (Hrsg.): Konservatismus international, Stuttgart 1973, S. 255-274, hier S. 266. 49 Vgl. ebd., S. 255-274. 50 Ebd., S. 268.

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net und der Tradition der Gegenaufklärung verhaftet.51 „Radikal“ ist diese konservative „Sprache“ in zweierlei Hinsicht: Zum einen erfolgt explizit der Rückgriff auf die vorhandenen antiliberalen und antidemokratischen Wurzeln in der konservativen Ideengeschichte, welche von der Gegenaufklärung bis zur „Konservativen Revolution“ reichen und in Vertretern wie Joseph de Maistre, Arthur Moeller van den Bruck oder Donoso Cortés ihren prominenten Ausdruck fanden. Zum anderen offenbart das radikalkonservative Denken eine systemüberwindende oder -transformierende Strategie, welche nicht mit einem expliziten Aufruf zur gewalttätigen revolutionären Tat verbunden wird, sondern vielmehr explizit der Idee einer „kulturellen Hegemonie“ im Sinne Antonio Gramscis verhaftet ist. In Bezug auf die Geschichte der Bundesrepublik wurde v. a. gegen die politische und kulturelle Dominanz der westlichen Besatzungsmächte vehement polemisiert und immer wieder der lediglich „provisorische“ Charakter der Bundesrepublik sowie die vermeintliche Drangsalierung durch die „Siegermächte“ kritisiert.52 Konstitutives Merkmal des radikalen Konservatismus ist seine Frontstellung gegenüber dem moderaten Konservatismus und dem Liberalismus.53 Die im Deutschen Reich besonders heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Kräften des Fortschritts und der Reaktion ließen beide Strömungen unversöhnlich nebeneinander stehen, sodass liberal-konservative Allianzen im Gegensatz zu anderen Ländern erst nach 1945 möglich wur-

51 Siehe etwa Karlheinz Weißmann: GegenAufklärung. Gedankensplitter, Notate, Sentenzen, Berlin 2013. 52 Siehe als Beispiel für diese häufig auch mit antiamerikanischen Klischees drapierten revanchistischen Vorwürfe gegen die ‚Re-Education‘: Caspar von SchrenckNotzing: Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965; mit Bezug auf die Entstehung der Politikwissenschaft: Hans-Joachim Arndt: Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978. 53 Zur Polemik Mohlers gegen den ‚Gärtner-, Demuts-, Salon- und Liberalkonservatismus‘, siehe: Armin Pfahl-Traughber: Konservative Revolution und neue Rechte. Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat, Opladen 1998, S. 164. Die aktive und intensive Auseinandersetzung mit dem ‚inner-konservativen Feind‘ ist ein markantes Merkmal der Radikalkonservativen, hingegen verhalten sich die moderaten Konservativen – mit Ausnahmen, wie Friedbert Pflüger: Deutschland driftet. Die Konservative Revolution entdeckt ihre Kinder, Düsseldorf u. a. 1994 – eher passiv gegenüber dem konservativen Kontrahenten.

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den.54 Der Antiliberalismus steht somit als Negativbegriff im Zentrum des radikalkonservativen Denkens und äußert sich abstrakt durch die Betonung der Anthropologie der Ungleichheit sowie konkret in der konsequenten Ablehnung der universellen Gültigkeit der Menschenrechte.55 Verbunden ist dies in der bundesrepublikanischen Geschichte mit antiamerikanischen Ressentiments und Reflexen, die keineswegs neu sind, wie ein Blick auf Autoren wie Carl Schmitt, Oswald Spengler oder Ernst Jünger zeigt.56 Der hier positiv konnotierte Begriff der Reaktion erscheint ebenfalls konstitutiv: „Ein Konservativer ist nicht unbedingt reaktionär oder restaurativ gesinnt, aber er darf sich nicht davor fürchten, auch einmal reaktionär oder restaurativ aufzutreten, wenn es nicht anders geht.“57 In der konservativen Begriffsgeschichte entwickelte sich der Begriff „Reaktion“ im 19. Jahrhundert als Pendant zum Fortschritt, wurde jedoch im 20. Jahrhundert als beliebiger Vorwurf durch die linken Bewegungen an konservative und restaurative Akteure inhaltsleer.58 Kann der pragmatischen Gegenwartsorientierung des moderaten Konservatismus das Burke-Credo „Erhalten und verbessern“ zugeschrieben werden, beruft sich der Radikalkonservatismus in seiner dynamischen Zukunftsorientierung demnach vielmehr auf die für die „Konservative Revolution“ programmatische Parole Moeller van den Brucks: „Konservativ ist, Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt.“ Zwar argumentieren auch Radikalkonservative mit Verweis auf die realpolitische Lage, allerdings wird diese durch das Konzept der Metapolitik ergänzt. Diese vormals „linke“ Idee einer von den Zwängen des Partei-

54 „Germany was to wait a long time for the emergence of a bourgeois or capitalistorientated ‚liberal conservatism‘ comparable to that of American Federalists or de Tocqueville. By inclination, German conservatism remained anti-liberal, very largely anti-bourgeois and initially, in its rhetoric at least, often even anti-capitalist“ (Hans-Jürgen Puhle: Conservatism in Modern German History, in: Journal of Contemporary History 13 (1978), Heft 4, S. 689-720, hier S. 698f.). 55 Das berüchtigte Diktum „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, München u. a. 1932, S. 55) steht stellvertretend für diese antiliberalen Vorstellungen. 56 Vgl. Sebastian Schwark: Zur Genealogie des modernen Antiamerikanismus in Deutschland, Baden-Baden 2008, S. 104-134. 57 Hans-Dietrich Sander: Ex Progressione Perfugium. Zur Phänomenologie der konservativen Konversion, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Konservatismus international, Stuttgart 1973, S. 199-211, hier S. 210. 58 Vgl. Panajotis Kondylis: Reaktion, Restauration, in: Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 179-230.

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und Parlamentsbetriebes befreiten Arbeit an der politisch-kulturellen Hegemonie ist notwendig, um die „Konstruktion“ einer spezifisch deutschen nationalen Identität mit uneingeschränkter Souveränität und ein positives Geschichtsverständnis zu etablieren.59 In Bezug auf die Europäisierung betonen die Radikalkonservativen die Idee eines „Europa der Vaterländer“, in welchem die Nationalstaaten dominant bleiben und polemisieren gegen die „EUdSSR“. Das Konzept des „Ethnopluralismus“ (Alain de Benoist) ist in der Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft oftmals implizit eine Leitidee. Die Kritik der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ sowie der Studentenbewegung als Ausdruck eines „radikalliberale[n] Propaganda-Feldzug[s]“60 bieten wichtige Stichworte auf der Ebene der kontingenten Entwicklungen. Das Ziel einer „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten führte nach dessen Vollzug in den 1990er zu einer Diskussion über das neue Selbstverständnis und die Identität der „selbstbewussten Nation“ (Heimo Schwilk/Ulrich Schacht). Bedeutende Akteure des Radikalkonservatismus sind bspw. die Publizisten und Politiker Armin Mohler, Caspar von Schrenck-Notzing, die Gebrüder Marcel und Robert Hepp, Hans-Dietrich Sander oder Karlheinz Weißmann.61 In Publikationen wie Criticón, der Jungen Freiheit oder gegenwärtig den Erträgen (Schriftenreihe der nach Schrenck-Notzings Tod gegründeten Bibliothek des Konservatismus) und der Sezession finden diese Autoren einen Platz. Die Machtvergessenheit und mangelnde Feindbestimmung in der bundesrepublikanischen Politik kritisiert Armin Mohler in seinem Aufsatz „Deutsche Außenpolitik“ und lotet darin die Potentiale des Konservatis-

59 Vgl. den Sammelband von Caspar von Schrenck-Notzing/Armin Mohler (Hrsg.): Deutsche Identität, Krefeld 1982. 60 Armin Mohler: Gegen die Liberalen, Schnellroda 2010, S. 66. 61 Einige dieser Autoren werden in der Sozialwissenschaft im Zusammenhang mit der ‚Neuen Rechten‘ auch als offen gegenüber rechtsextremen oder rechtsradikalen Positionen beschrieben. Hier soll deutlich werden, dass eine präzisere Beschreibung dieser Akteure als radikalkonservativ inhaltlich aufschlussreicher sein kann, als die komplexe und einem Median-Denken verhaftete Beschreibungstradition „rechts“ intendiert. Um der Heterogenität des ‚rechten‘ Denkens und den markanten ‚Querfront‘-Phänomenen gerecht zu werden, sind daher weitere ideologische und ideengeschichtliche Untersuchungen dringend notwendig. „The left-right scalar rhetoric of democratic party systems is also misleading on a morphological account of ideologies, because the diverse components of any ideological grouping are never all unequivocally to the ‚left‘ or ‚right‘ of a neighbouring ideology“ (Michael Freeden: The Morphological Analysis (wie Anm. 12), S. 131).

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mus aus. In den beiden Blockmächten USA und Sowjetunion sieht Mohler die Antagonisten einer nationalen und selbstbewussten Außenpolitik: „Feind ist, wer die deutsche Spaltung durchgeführt hat und aufrechterhält und den Deutschen siebenunddreißig Jahre nach Kriegsende immer noch jene Souveränität vorenthält, die man weder Simbabwe noch den FidschiInseln zu verweigern wagt.“62 Mohler diagnostiziert in der Gesellschaft einen weit verbreiteten Antiamerikanismus, den er mit einem grundsätzlich „heuchlerische[n] Grundzug der US-Außenpolitik“ und der Re-Education in der Nachkriegszeit begründet. Eine konservative Gegenöffentlichkeit könne erst Erfolg haben, wenn „sie freien Zugang zu den Medien erhalten und nicht mehr auf Weisung von Monopolgruppen durch den Verwaltungsapparat behindert werden können“. Es gelte auch die „Regungen eines neuen Nationalbewußtseins auf der deutschen Linken“ zur Kenntnis zu nehmen, schließlich könne man „mit dieser Linken zusammen jene träge Mitte aufschrecken [...], die sich auch in der nationalen Frage hinter die Wenn und Abers verschanzt“. 4. Fazit Mit der hier vorgenommenen produktiven Verbindung der „Sprachen“Konzeption und des „morphologischen Ansatzes“ ist es möglich, die Heterogenität und Komplexität des Konservatismus angemessen in den Griff zu kriegen. Allzu häufig ist eine Kapitulation feststellbar, die sich in einer „schleichenden Anthropologisierung des Konservatismusverständnisses“ und der damit einhergehenden „Entpolitisierung des Begriffs“63 offenbart. Eine Rekonstruktion der konservativen „Sprachen“ kann hingegen die historische Entwicklung dieser Ideologie kritisch nachzeichnen und somit helfen, gegenwärtige Entwicklungen einzuordnen. Neben der Untersuchung der synchronen „Sprachen“ gilt es somit auch, immer die diachrone Perspektive des konservativen ideologischen Zusammenhangs im Blick zu

62 Alle Zitate in diesem Absatz entstammen Armin Mohler: Deutsche Außenpolitik. Oder: die Bundesrepublik hat Gliederzehren, in: Ders./Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.): Deutsche Identität (wie Anm. 59), S. 59-73 (Hervorhebung im Original). 63 Jens Hacke: Auf der Strecke geblieben? Über das Verschwinden des Konservatismus als politische Ideologie, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2015), Heft 3, S. 21-28, hier S. 27.

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behalten. Eine ideologiekritische Perspektive würde die Fokussierung auf „Sprachen“ sicherlich mit dem Vorwurf einer Entpolitisierung verknüpfen, jedoch sollte eine kritische politische Sprachforschung immer die Frage nach den hinter den konkreten Äußerungen intendierten Handlungen der Akteure ins Zentrum der Analyse rücken und deren impliziten Interessen explizieren. So verfolgen die moderaten und radikalen Konservativen in ihrer Einstellung zur Bundesrepublik und der bundesrepublikanischen Gesellschaft grundlegend unterschiedliche Ambitionen. Während moderate Konservative in den Institutionen der freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik ihre Ideen bereits verwirklicht sehen und somit die bestehende Ordnung gegen die Demokratisierungs- und Emanzipationsbestrebungen der politischen Gegner von innen her verteidigen, entwerfen die Radikalkonservativen eine Vorstellung von Konservatismus, welche die „Befreiung“ des Volkes von äußeren Zwängen und eine Transformation von Staat und Gesellschaft anstrebt. Während dem Konservatismus allgemein eine kulturkritische und -pessimistische Begleitung der modernen Massenmedien und des Kulturbetriebes immanent ist, setzen die radikalen Konservativen auf eine „rechte“ Gegenöffentlichkeit, um das „deutsche Volk“ gegen den fortwährenden Wandel durch liberale und westliche Ideen zu mobilisieren. Die hier identifizierten „Sprachen“ des moderaten und radikalen Konservatismus sind jedoch nicht zwangsläufig identisch mit politischen Bewegungen oder Parteien, sondern bieten vielmehr ein Artikulationspotential im konservativen Diskurs. Die Vorzüge einer Bündelung der Begriffs- und Ideengeschichte sowie der Ideologieforschung in einem sprachideologischen Zugang konnten im Rahmen dieses Beitrages nur angedeutet werden; in Bezug auf die „Sprachen“ des deutschen Konservatismus sind noch viele Fragen offen: So stellten in den 1980er Jahren die „alternativen“ Kritiker der Wachstumsgesellschaft sowie die konservativen „Naturbewahrer“ relativ erstaunt fest, dass sie in gewisser Weise die gleiche „Sprache“ sprechen. Ob sich hier eine eigene ökologische „Sprache“ entwickelt oder sich der moderate Konservatismus seines „nachhaltigen“ Vokabulars (bspw. des Nießbrauchs bei Adam Müller) erinnert, bleibt noch herauszustellen. Wird die vermeintliche „Radikalisierung“ zeitgenössischer konservativer Akteure als ein „Sprachwandel“ betrachtet, so ist dieser nur vordergründig ein „rhetorisches“ Phänomen. Vielmehr kann dieser auch als die Übernahme einer in der Bundesrepublik seit den 1970ern etablierten radikalkonservativen „Sprache“ beschrieben und eingeordnet werden. Dieses nachzuzeichnen 231

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und den „Wandel“ erkennbar zu machen, erscheint als eine drängende Aufgabe.64 Als der Schriftsteller Friedrich Christian Delius Ende der 1980er Jahre allenthalben den Wunsch diagnostizierte, „konservativ“ zu leben, entwarf er ein „Lehrbuch für eine zügige Aneignung des konservativen Denkens“. Auf Grundlage einer einjährigen detaillierten Auswertung der Leitartikel und Kommentare der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – „Katalysator des neoliberalen wie des altkonservativen, des nationalen wie des neokonservativen Gedankenguts“ – identifizierte Delius typische Argumentationsweisen und ein spezifisches konservatives Vokabular, welches er in 30 Lektionen „für die Anfänger als auch die Fortgeschrittenen“ aufbereitete. Dieses halb-ironische, jedoch mit penibler Akribie geschriebene „Lehrbuch“ bietet eine facettenreiche Darstellung der „Sprache“ des moderaten Konservatismus der alten Bundesrepublik. Die Sensibilität des Schriftstellers Delius für die „Sprache“ ist eindrucksvoll und die Betonung der politischen Relevanz des konservativen Denkens kann als kritisches Imperativ jede zukünftige Konservatismusforschung leiten: „Konservativ ist kein Zauberwort, an das zu klammern dem einzelnen Erlösung von allen Übeln verspricht. Ebenso liefert es keinen Deckmantel für Opportunisten. Konservativ, das ist ein Programm, ja, ein offensives gesellschaftspolitisches Programm.“65

64 Im Rahmen des Kieler DFG-Projektes „Zeitgenössisches politisches Denken in Deutschland“ (Leitung: Tine Stein) untersucht der Autor derzeit Entwicklungen des konservativen politischen Denkens nach 1989. 65 Friedrich Christian Delius: Konservativ in 30 Tagen. Ein Hand- und Wörterbuch Frankfurter Allgemeinplätze, Reinbek bei Hamburg 1988.

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Perspektiven

Neugründung auf alten Werten? Intellektuelle Abgrenzungen, Ideenformationen und Perspektiven Sebastian Liebold

„Sie werden kommen mit jenem Bilde, das sie im Herzen tragen, und die alten Lettern des Buches so ordnen, wie es der neue Sinn verlangt.“1 Antoine de Saint-Exupéry

1. Realität und Sprache Selten hat sich die bürgerliche Weltsicht in Deutschland einer so radikalen Modernisierung ergeben, in kaum einer Zeit so energisch selbst an ihrer Erneuerung gewerkelt wie nach dem Zweiten Weltkrieg, einem – zunächst oft uneingestandenen – harten Zivilisationsbruch. Manche gleichbleibende Haltung und Wertvorstellung umwandeten Konservative indes mit einer anderen Sprache – es existiert nicht nur eine Sprache der Diktatur, sondern auch eine der Demokratie. Dies ist der Ausgangspunkt für Martina Stebers Beitrag zu Ansichten in der Deutschen Partei wie für Tobias Bartels’ klare Unterscheidung moderaten und konservativen Denkens in der Zeit nach 1968. Die Klammer um diesen Band bildet so ein Paradox der Realität und der Sprache: Einerseits ist die liberale Lesart zu einem Grundpfeiler des „mittleren“ Konservatismus geworden, manifest etwa an der programmatischen Schrift von Wilhelm Röpke aus dem Jahr 1947, welche das überdauernde „Wesen abendländischer Kultur“ mit der im 20. Jahrhundert entstandenen antiautoritären Grundhaltung zusammenbringt (daneben sei der „unvergängliche Liberalismus“ humanistisch, personalistisch und rationalistisch). Indem der – wegen Garantie von Eigentum und „staatsfreien Sphären“ bürgerlich grundierte – Liberalismus „jeder Machthäufung“ stets misstraue, wende er sich gegen „jene zerstörenden Kräfte“ des „Kollektivismus, Totalitarismus oder Nationalsozialismus“ und damit gegen das „Kolossale“, Monopole, gegen „Vermassung, Riesenstädte, Akkumulation

1 Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste – Citadelle, Stuttgart 1954, S. 53.

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des Reichtums und Imperialismus“.2 Mithin strebe er nach Mäßigung und der „kleinen Form“ von Wirtschaft (Mittelstand) wie Politik (Subsidiarität). Andererseits bewahrte dieser Reform-Konservatismus unter dem Mantel seiner – angesichts der NS-Verbrechen präzisierten – Prinzipien vielfach Werte einer bürgerlichen Lebensführung, deren Ambivalenz3 während der Zwischenkriegszeit zur fehlenden Abgrenzung von Konservativen gegenüber dem Nationalsozialismus beigetragen hatte. Die „neue“ Sprache konnte die Modernisierung wie unterliegende Kontinuitäten ausdrücken – heute augenfällige Unterschiede zwischen der Neugründung der Bundesrepublik auf demokratischen und der Neugründung auf antidemokratischen Werten wurden vielfach verwischt.4 Publizisten wie Matthias Walden bildeten eine Ausnahme, wenn sie, wie Nils Lange darlegt, einerseits konservative Werte im demokratischen Staat propagierten, andererseits Kritik an Nachkriegskarrieren von früheren Nationalsozialisten übten. Ein weiterer, auf sein Medienecho bedachter Kopf, der in diese Reihe gehört, ist Dolf Sternberger. Über ihn sagte Hans Maier am 11. November 2016, er habe den Deutschen nach 1945 – vor allem durch Zeitungsbeiträge – eine „demokratische Rhetorik“ beigebracht, die in Form einer „gedämpften“ Alltagssprache daher kam.5 Ein wesentlicher Grund für die Wirkmacht dieser Sprache, die Modernisierung durch Einordnen in bisherige Wertemuster „erträglich“ machte und das Weiterleben von bestimmten Ideen zugleich durch Ummantelung

2 Wilhelm Röpke: Das Kulturideal des Liberalismus, Frankfurt am Main 1947, S. 11, 15 und 18. 3 „Die schweren Fehler eines wirtschaftlichen Liberalismus hervorzuheben“, unternimmt Wilhelm Röpke ebd., S. 26, indem er etwa auf die Rolle des älteren Liberalismus als Feindbild für das NS-Reich, Italien unter Mussolini wie die stalinistische Sowjetunion hinweist. 4 Beispiele für die zweite Kategorie sind die frühen Urteile von Richtern, die zuvor dem NS-Staat gedient hatten, die Namensgebung für Kasernen und Schulen (bestimmt durch das damalige Ehrgefühl) sowie die Persistenz bestimmter Themen in fast allen akademischen Feldern, wie sie sich etwa anhand der bei Frank-Rutger Hausmann porträtierten Gebiete darstellt: Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 2011; vgl. Philipp Gassert: Zwischen „Beschweigen“ und „Bewältigen“ – die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Ära Adenauer, in: Michael Hochgeschwender (Hrsg.): Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011, S. 183-205. 5 Hans Maier: Wie das Volk zur Sprache kommt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 2017, S. 13; Jörg Pannier: Das Vexierbild des Politischen. Dolf Sternberger als politischer Aristoteliker, Berlin 1996.

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mit einem „modernen“ Gewand ermöglichte, liegt in der Kontinuität von Biographien. Menschen sind eitel.6 Wenn sich die Zeiten ändern, versuchen sie, die Ordnung ihrer Umgebung so zu gestalten, dass ihr Dasein seinen Sinn nicht verliert. Meist schließen sie Kompromisse. Sind sie nicht in der Lage, an der Aufstellung neuer Regeln mitzuwirken, verfallen sie oft einem Weltschmerz, der in düsteren Prognosen, manchmal aber auch in rastloser Tätigkeit für ein alternatives Arrangement der Verhältnisse zum Vorschein kommt.7 Antoine de Saint-Exupéry legte diese Erkenntnis einem jungen Prinzen in den Mund, der in Erinnerung an seinen verstorbenen Vater Regeln erkennt, wie die „Stadt in der Wüste“ am besten zu regieren sei.8 Obgleich Konservative sich mitunter ob der „späten Geburt“ grämen, kommen sie selten „zu spät“ – in ihrer Zeit mischen sie sich ein, sie zählen Verantwortung in der konkreten Umwelt und vor Gott zu ihren wichtigsten Aufgaben. Konservative streben nach dem „guten Leben“9, das entweder transzendenten Regeln gehorcht oder eine diesseitig begründete Ethik zur Grundlage hat – dann entspricht die Versöhnung zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos (nach Platon) ihrer Natur am ehesten. 10 Oder sie denken über die „gute Ordnung“ nach, wenn ihnen die Staatspraxis prekär erscheint, wie Frank Schale etwa im späten Werk Carl Joachim Friedrichs zu „Tradition und Autorität“ nachweist. Ein Blick über Deutschland hinaus bietet für diese „Linie“ eines Staatsdenkens mit Skepsis gegen die Moderne vielfältige Anknüpfungsbeispiele – etwa

6 Menschen zeichnen sich durch ein Bewusstsein um ihre Existenz aus, wenngleich „oft von Selbstüberhebung, Stolz und unglücklichen Erfahrungen durchkreuzt“, so Jacques Maritain: Erziehung am Scheidewege, Berlin und Hamburg 1951, S. 54. 7 Die pessimistische Sicht der 1950er Jahre verkörpern etwa Friedrich Sieburg: Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, oder Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Ein Radiovortrag, München 1957. 8 Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste (wie Anm. 1) zeugt von der Suche nach alternativen Gestaltungsmöglichkeiten von Gesellschaften in der Moderne. 9 Vgl. Sebastian Liebold: Was ist konservativ?, in: Jürgen Bellers und Markus Porsche-Ludwig (Hrsg.): Was ist konservativ? Eine Spurensuche in Politik, Philosophie, Wissenschaft und Literatur, Nordhausen 2013, S. 139. 10 Platon als Vordenker einer geschlossenen, totalitären Gesellschaft beschrieb (neben Karl Popper) John Daniel Wild: Plato’s modern enemies and the theory of natural law, Chicago 1953.

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Bertrand de Jouvenels These vom „konservativen Ausschluss“ radikaler Kritik.11 Konservative mit Sinn für common sense sind seltener fatalistisch als vielmehr tätig – das zeigt sich an den in diesem Band präsentierten Köpfen: bei den Protagonisten der Abendländischen Bewegung, bei öffentlichen Interventionen der Wissenschaftler Arnold Bergstraesser und Carl Joachim Friedrich wie des Publizisten Matthias Walden. Der tätige Mensch erscheint als Sinnbild für das gelingende Leben. Der Einzelne hat eine Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen, die nicht delegiert werden kann.12 Antikommunistisch waren daher nicht nur Konservative gesinnt – die Haltung zählt zu einem breit unterstützten Gründungskonsens der Bundesrepublik.13 Die Systemkonfrontation zwischen Ost und West führte zu einer moralischen Aufladung fast aller gesellschaftlichen Fragen: Eine Neubestimmung von Werten konnte daher der Frage nicht ausweichen, ob Tradition und Überlieferung eine gewisse Rolle spielen, ob die Einsichten von Klassikern des politischen Denkens noch von Belang sein sollten und ob die stetige Modernisierung durch den allgemeinen Fortschritt als „Neuheit“ oder eingebunden in gewachsene Strukturen angesehen werden sollte. Bei Andreas Hermes etwa zeigt sich ein besonders strukturkonservativer Zug, dem – bei klarer Ablehnung kollektivistischer Ideen – eine differenzierte Position etwa zur Bodenreform eigen war, wie Peter Becker belegt. Anhand des Personentableaus und der in den neun Beiträgen untersuchten Themenkreise sollen ideologiegeschichtliche Abgrenzungen skizziert, Ideenformationen der präsentierten Köpfe und Gruppen verglichen sowie Perspektiven des Forschungsfeldes angedeutet werden. Die Historisierung der frühen Bundesrepublik macht eine neue

11 Vgl. Bertrand de Jouvenel: Reine Theorie der Politik, Neuwied 1967, S. 136-146. 12 Vgl. Arnold Bergstraesser: Der Einzelne, die Vielen und die Ordnung (1963), in: Ders.: Weltpolitik als Wissenschaft. Geschichtliches Bewusstsein und politische Entscheidung, Köln und Opladen 1965, S. 194-205; eine ähnliche Haltung bei Karl Jaspers – etwa zur Frage der Atomkraft – konstatiert Friedrich Kießling: Die vielen intellektuellen Gründungen der alten Bundesrepublik. Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden, in: Einsichten und Perspektiven 2011, Heft 2, S. 76-91, hier S. 84. 13 Vgl. Stefan Creuzberger und Dierk Hoffmann (Hrsg.): „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“ – Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014; Kritiker dieser Haltung in den 1950er und 1960er Jahren beschreibt Jan Korte: Instrument Antikommunismus – der Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009.

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Sicht auf diese Zeit zur lohnenden Aufgabe – nicht, weil diese Ära einhellig restaurative Züge trägt, sondern weil Aufbrüche und Beharrungskräfte in fruchtbare Konkurrenz gerieten.14 2. Abgrenzungen Abgrenzungen konservativer Köpfe und Themen sind nicht „trennscharf“ möglich, weil die meisten Liberalkonservativen, politische Pragmatiker wie Konrad Adenauer ebenso wie Unnachgiebige (etwa Thomas Dehler, der wegen der internen Mehrheiten in der FPD 1950 gegen die von CDU und SPD verlangte Regelung zur Entnazifizierung stimmte) den Begriff kaum nutzten. Die totale Niederlage hat zu einer Pause in der Verwendung der Selbstbezeichnung geführt, bis vor allem Nationalkonservative erneut begannen, sich „konservativ“ zu nennen. Mit Hans-Joachim von Merkatz und Hans Mühlenfeld stellt Martina Steber zwei öffentlich präsente Vertreter dieser Richtung vor, deren Programm gleichwohl später auf den gemäßigten CDU-Kurs einschwenkte. Abgrenzungen nahmen die Protagonisten eher im eigenen Lager vor: Angesichts des öffentlichen Vorwurfs, verfassungsfeindlich zu sein, sagten Merkatz und Fürst Waldburg-Zeil 1956, es gebe einen Unterschied zwischen der (radikalen) Abendländischen Aktion und der (gemäßigten) Abendländischen Akademie, wie Johannes Großmann darlegt. Martin G. Maier und Tobias Bartels verfolgen diese oft gezogene Scheidelinie zwischen gemäßigtem und radikalem Denken über die Zeit: Maier sieht im Antikommunismus eher ein Mittel der Abgrenzung als der Integration (vor allem wegen des Ziels der „Selbstbehauptung“), Bartels erkennt in den radikaleren Köpfen eine Art europäische Gemeinsamkeit – den Ethnopluralismus. Es wäre interessant, inwieweit die „Abendländischen“ der 1950er Jahre, so sie es erlebten, diese antiliberale Ordnungsidee mittrugen. Mit Jouvenel lässt sich indes ein Paradox der zweiten Strömung beschreiben: Wenn ein Staat in der Lage sein muss, radikale Kritik abzuwehren, kann radikalkonservative Kritik am modernen Rechtsstaat schwerlich zulässig sein. Matthias Walden hat, wie um dies zu untermauern, 1965 den Begriff des notwendig „staatsloya-

14 Vgl. Friedrich Kießling: Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945-1972, Paderborn 2012.

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len Handelns“ geprägt, den Axel Springer begeistert aufgriff. Sogar Max Horkheimer war, wie Magnus Klaue postuliert, um Staatsnähe bemüht. Die „innere“ Unterscheidung zwischen gemäßigten und radikalen Konservativen, ebenso biographisch wie sozialgeschichtlich begründet, kann nicht beidseits der Linie vom Weimarer Kulturpessimismus zum skeptischen „technokratischen Konservatismus“ der Bundesrepublik erfolgen, die jeweils Befürworter und Gegner der Demokratie trennte (etwa Thomas Mann versus Oswald Spengler, Helmut Schelsky versus Carl Schmitt). Wie Peter Becker nachweist, hat etwa Andreas Hermes ideengeschichtliche Grundannahmen des späten Kaiserreiches nie aufgegeben, so dass er in der frühen Bundesrepublik geistig drei Systeme zuvor beheimatet war. In den mit Verve vorgetragenen Einwürfen Matthias Waldens zeigt sich die Dynamik konstruktiv mit der Gegenwart umgehender Ideen: Mediengeschichtlich betrachtet mündete diese Position im bürgerlichen Mainstream – vor allem durch den damals unabsehbaren Umstand der Einheit Deutschlands und des damit einhergehenden Bedeutungsgewinns nationaler Diskurse (und den Fahnen im Fußball).15 Nicht außen vor bleiben kann im sozialgeschichtlichen Vergleich die prägende Exilerfahrung: Horkheimer holte etwa Bergstraesser 1950 nach Frankfurt, Friedrich lehrte wie Bergstraesser eine Zeitlang stets ein Semester in den USA und eines in Deutschland – alle drei betonten die Relevanz von Grundrechten, die Amerika für alle Emigranten während des Krieges so anziehend machte. Bezeichnenderweise konnten auch all jene, die sich als nationalkonservativ verstanden, also den Kurs der Westintegration nicht mitmachten und den Wertewandel hin zum Liberalkonservatismus verabscheuten, mit der Existenz allgemein verbindlicher Rechte leben – nicht zuletzt, weil in theoretischen Gesellschaftsentwürfen das Naturrecht eine hohe Zeit erlebte, während der Positivismus diskreditiert war. Damit lässt sich festhalten: Die schnelle Modernisierung der Gesellschaft brachte fast dialektisch nach der Identitätskrise des Konservatismus eine Wandlung seiner Ideen hervor. Wenn Begriffe neue Verwendungen erfahren, erhalten sie oft schillernden Charakter. Überspitzt gesagt: Adenauer gebrauchte das Reden über eine „konservative Auffassung“ (meist ohne Nennung dieses Begriffs) nur als Mittel zum Zweck der effizienten Durchsetzung sozialpolitischer Neuerungen (wie die dynamische Rente). Wie in der Geschichte oft geschehen

15 Vgl. Irene Götz: Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln 2011.

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kleidete sich die rasante Mittelstandsnivellierung – überall in Europa – noch lange in „alte“ bürgerliche, das meint: bourgeoise Werte.16 Umgekehrt machte der technische und soziale Wandel viele Forderungen obsolet, die früheren Trennlinien zwischen konservativem Denken, Liberalismus und Sozialismus Tiefe gaben. Klar ist indessen: Die Nähe von Liberalismus und einem (verwaschenen) Konservatismus hatte in der westlichen Welt mit dem gemeinsamen Gegner, dem real existierenden Sozialismus zu tun. Über lange Jahre waren die meisten Konservativen in den Staaten Europas dem Projekt der europäischen Einigung positiv gegenüber eingestellt. Wie sich etwa an den „Abendländischen“ zeigt, war die Kritik am fortschrittlichen Europa lange ein Randphänomen, zumal Ideenkonglomerate wie jenes vom „Europa der Vaterländer“ auch auf Regierungsebene das Fortleben alter Bilder erlaubten, die nationale Köpfe einzubinden halfen: „Wir müssen uns daran erinnern, dass [...] die Idee des Nationalstaats nicht mehr die unseres Jahrhunderts ist. [...] Wenn wir [den Zusammenschluss Europas] heute haben könnten, dann machen wir mit dem westlichen Deutschland und dem westlichen Europa zuerst eine Föderation, in die das östliche Deutschland und das östliche Europa hineinfinden können. Es mag manchem als Umweg erscheinen, aber es ist kein Umweg, denn in der Politik muss man vom Vorhanden und Möglichen ausgehen.“17 Über viele Jahre lehnten Politiker und Intellektuelle aus dem sozialistischen bzw. kommunistischen Lager deswegen eine konkrete Einigungspolitik ab.18 Der Abstand von nationalkonservativen Köpfen zu Extremisten bemaß sich in jener Periode hingegen nicht an der Einstellung zur europäischen Frage.19

16 Vgl. Martin Kaufhold: Europäische Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen. Ein historischer Essay, Paderborn 2013. 17 Konservative Haltung in der politischen Existenz. Vorträge und Gespräche der 5. Jahrestagung der Abendländischen Akademie in Eichstätt, München 1956, S. 86 (Festrede des Bundestagsvizepräsidenten Richard Jaeger). 18 Vgl. u. a. Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), Köln u. a. 2007. 19 Vgl. den knappen Aufriss bei Constantin Goschler: Radikalkonservative Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik, in: Erhard Schütz und Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009, S. 23-33.

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3. Ideenformationen Was macht den Nachkriegskonservatismus aus, nachdem das Feld „abgesteckt“ ist? Der Standort erscheint je in anderem Licht, wenn man das Selbst- und Fremdbild als Beleuchtungsgerät nutzt: Hier möchte ich nicht beim Eindruck verweilen, dass der Konservatismus zerfaserte (das tat er im 19. Jahrhundert bereits kräftig, ebenfalls in einer Modernisierungsphase).20 Eine schlichte Begründung lautet: Weil die gesellschaftliche Pluralisierung auch vor dem konservativen Milieu nicht Halt machte. Als die Leute nach entbehrungsreichen Jahren rasch vielerlei Produkte erwerben konnten (die Kaufkraft stieg mit den Reallöhnen), spielte „Ideologie“ eine geringere Rolle als die soziale Beschaffenheit der Gesellschaft. Das Meistern von Alltagsveränderungen wurde zum Sport, Intellektuelle maßen sich bei Auftritten im Rundfunk und – die Verwegensten – im Fernsehen. Zwischen den Stühlen: Viele Konservative, die sich treu geblieben sind, standen in den 1950er Jahren nicht mehr in der Mitte des früher bestimmenden konservativen Lagers – dieses hatte inzwischen einer bürgerlichpragmatischen Gruppe Platz gemacht – sondern gesellschaftlich weit rechts. Unterdessen wahrten die hier vorgestellten Intellektuellen und Politiker gehörigen Abstand zu rechtsextremen und „gestrigen“ Kreisen, die keine konstruktive Mitarbeit am demokratischen Staatsaufbau leisten wollten. Der wohl am einfachsten zu charakterisierende Kopf ist Andreas Hermes: Er stand nicht erst in der frühen Bundesrepublik „zwischen den Stühlen“; seine Position hatte bereits in der Weimarer Zeit teils als zu wenig fortschrittlich herbe Kritik erfahren. Andere, wie Arnold Bergstraesser und Carl Joachim Friedrich, schwenkten auf den Liberalkonservatismus mit starker Orientierung am westlichen Werte- und Staatsdenken ein, oft grundiert mit ausgeprägtem Antikommunismus, der ihnen die Möglichkeit zur Mitgestaltung der politischen Verhältnisse und ihrer kulturellen wie

20 Die Facetten des Konservatismus in der Zeit der Weimarer Republik zeigten sich parteipolitisch in den Animositäten zwischen Deutscher Volkspartei und Deutschnationaler Volkspartei. Vielen konservativen Intellektuellen war damals die Imitation des adeligen Habitus als einer „tragenden“ Schicht gemeinsam, wie er vor 1918 den Konservatismus prägte; vgl. Volker Weiß: Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn 2012; zum Fortleben bestimmter Muster in der Bundesrepublik bei neuerlicher Radikalisierung Armin Pfahl-Traughber: „Konservative Revolution“ und „neue Rechte“. Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat, Opladen 1998.

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bildungspolitischen Basis gab. Bergstraesser engagierte sich stärker in der Breitenbildung als Friedrich; als Journalist hatte sicher Walden „in Zahlen“ noch mehr Aufmerksamkeit – vor allem zu deutschlandpolitischen Themen (wie die Bewertung des Grundlagenvertrages von 1972). Ein alter „Wert“ fand keinen Eingang in konservative Orientierungsmuster der Nachkriegszeit: jene Drohung, die Existenz zur Disposition zu stellen, wenn bestimmte gesellschaftliche Gruppen sich den Forderungen der Mehrheit nicht beugen wollten, und das Einkalkulieren von Militärschlägen.21 Wie lautet der Minimalkonsens, auf den sich die meisten Konservativen auf dieser Basis einigen konnten? Eine sicher unvollständige Liste mit Elementen dieses – nie wie ein Credo von den jeweiligen Köpfen abverlangten – „Prinzips“ nannte Hans Mühlenfeld 1952: mit einem als „Wirtschaftshumanismus“ verstandenen Liberalismus, einer dezentralisierten Wirtschaft, mit politischem Föderalismus und der Verwirklichung eines „konkreten Gegengewichts und Ausgleichs“, einer „Umkehrung der inneren Bewegungstendenzen des zivilisatorischen Fortschritts“, der Entproletarisierung der Gesellschaft und mit strikter Ablehnung des Kollektivismus bzw. jeder Art der Planwirtschaft. Für Gemäßigte und Pragmatiker lag der (in gewisser Weise utopische) Eingriffsgedanke in den „Zivilisationsprozess“ hingegen bereits extra muros.22 Das Chaos des Krieges hat viele Ideologiedebatten der frühen Bundesrepublik zu ordnungspolitischen Auseinandersetzungen gemacht, wie etwa der Blick auf die Werke von Carl Joachim Friedrich zeigt. In diesem Band spielen Ordoliberale wie der eingangs zitierte Wilhelm Röpke daher – indirekt – eine wichtige Rolle, nicht nur, weil sich die entscheidenden „Freiburger Kreise“23 um Walter Eucken (und Dietrich Bonhoeffer) in vehementer Gegnerschaft zum antikirchlichen Zentralismus des Nationalsozialismus bildeten, weil Arnold Bergstraesser eng mit Alexander Rüstow zusammenarbeitete oder weil Carl Joachim Friedrich, Andreas Hermes

21 Eine hitzige Debatte entbrannte hingegen um die Einschränkung von Grundrechten im Falle von Extremisten; vgl. Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland – von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013. Für den zweiten Bereich mag der Hinweis genügen: Sämtliche NATO-Staaten verpflichteten sich zur einer rein defensiven Strategie, um deren gemeinsames Wertefundament sich Intellektuelle wie Arnold Bergstraesser sorgten. 22 Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952, S. 58-65. 23 Vgl. Hans Maier (Hrsg.): Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014.

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und die bei Großmann beschriebenen „abendländischen“ Denker ihre Ideen auf christliche Grundsätze zurückführten. Vielmehr kann in der Verknüpfung von ökonomischer Prosperität und demokratischer Konsolidierung eine erwünschte Kohäsionskraft in der Gesellschaft gesehen werden, die mit den ordoliberalen Vorgaben umsetzbar war.24 Die Kulturphilosophie des Nationalökonomen Röpke zeigt, wie der Gegensatz25 zwischen christlichen Konservativen und dem (oft antiklerikalen) Liberalismus überbrückbar wurde. Als Vertreter kulturkritischer Positionen in der Weimarer Republik war er kein Nationalist, als viele nach Autarkie und Isolation riefen, vielmehr ein bürgerlicher Liberaler (den die amerikanischen Liberalen als Konservativen ansahen) avant-la-lettre, der die spätere Entwicklung Deutschlands pessimistisch begleitete – das weiter modernisierte Land rückte Röpkes Standpunkt etwa relativ zu den sozial-liberalen Denkern der 1960er und 1970er Jahre nach rechts: So ist er heute vorrangig als konservativer Kopf in Erinnerung. An diesem Beispiel lässt sich das Personentableau des Bandes auf die spätere Würdigung prüfen: Die führenden Politiker der (1961 aufgelösten) Deutschen Partei und die Köpfe um das (1958 eingestellte) Neue Abendland ernteten bereits in den aktiven Jahren Kritik. Andreas Hermes wurde von Adenauer als eines Ministeramts nicht fähig angesehen (jener ließ sich beständig mit „Herr Reichsminister“ anreden); sein von der Betriebsgröße ausgehendes Denken hat zwar eine Renaissance erfahren, doch die Verankerung im christlichen Menschenbild scheint unzeitgemäß. Bei Bergstraesser – stärker als bei dem wegen der Totalitarismustheorie kanonisierten Friedrich – folgte auf lobende Nachrufe ein rasches Vergessen, bevor in den 1980er Jahren heftige Kritik an Heidelberger Rolle 1932/1933 u. a. beim Verfahren gegen Emil Gumbel aufkam. Am tagespolitischen Charakter seiner Texte mag es liegen, dass Matthias Walden kaum mehr öffentlich rezipiert wird. Großmann weist auf die Nicht-Beziehung zwischen Köpfen der Abendland-Bewegung und heutigen (vermeintlichen) Abendland-Verteidigern hin, deren Einwürfe kaum historische Rückgriffe auf die 1950er Jahre enthalten.

24 Vgl. Friedrich Kießling: Wohlstand, Soziale Marktwirtschaft und Konsum. Ökonomische und soziale Kohäsionskräfte in der alten Bundesrepublik, in: Jörg Zedler (Hrsg.): „Was die Welt im Innersten zusammenhält“. Gesellschaftlich-staatliche Kohäsionskräfte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2014, S. 165-178. 25 Heute – bei allgemein schwächerer Kirchenbindung – erscheint diese Differenz völlig unwichtig, wenn man den Blick etwa nach Amerika ausspart.

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Am interessantesten ist wohl der Fall von Max Horkheimer: Ihn als Konservativen zu bezeichnen, verwundert nach der Argumentation von Magnus Klaue keineswegs. Es geht nicht um Religion, auch nicht um Vorwürfe gegen bestimmte Personen, antisemitisch aufzutreten, sondern um das Menschliche im Allgemeinen („Existentialontologie“), was Klaue – wie den intensiven Kontakt zu den einflussreichen ordoliberalen Denkern Franz Böhm und Walter Eucken, die 1946 mit für Heideggers Lehrverbot in Freiburg sorgten – biographisch begründet. Horkheimers Rede in Wiesbaden 1950, „staatstragend“ publiziert im Hessischen Staatsanzeiger, zeigt den Einfluss kritisch-bürgerlichen Denkens eines Sozialphilosophen, der jahrelang in den USA gelehrt hatte. Es ging um den Kampf zwischen zwei Arten der „jungen“ Generation: einer kritischen (mit Wurzeln im 19. Jahrhundert) und einer, die sich (zunächst) nicht von NS-Ideen verabschiedete. Die Vertreter der Kritischen Theorie gehörten für Klaue eher zur Elite des Adenauer-Staats als zur Opposition.26 Sie hätten indes nicht die Gründungsphilosophie der Bundesrepublik geliefert, da sie Anspruch und Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Demokratie beständig geißelten. Das Bejahen von parlamentarischer Demokratie und bürgerlicher Verfassung stelle, aus dem Munde Horkheimers, keine „bloße Restauration“ früherer Ideen, sondern eine „neue erfahrungsgeschichtliche Begründung und Notwendigkeit“ dar, die jedem Bürger „formale Freiheit“ sichern sollte. Während der Nationalsozialismus millionenfach Menschen vernichtet hat, vermochte es „die“ westliche Demokratie, das „Menschliche“ zu retten (dies betonte Bergstraesser auf ähnliche Art). Die NS-Verbrechen haben Horkheimer kritisch gegen alles „Moderne“ gemacht, wie sich – unter anderen Vorzeichen – in den 1960er Jahren verdeutlichte. Er kann daher verglichen werden mit Philosophen, deren Kritik an technischen Entwicklungen einherging mit Rückblicken in die Menschheitsgeschichte. So ist etwa Karl Jaspers̕ Band „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“, der im Begriff der „Achsenzeit“ nicht zuletzt die Möglichkeit sah, das Aufkommen allgemein menschlicher Regeln systematisch zu betrachten, als Versuch zu deuten, einen zeitgemäßen Humanismus zu begründen.27 Klassiker wie Goethe hatten – ausweislich von Reden u.a. im Jubiläumsjahr 1949 und

26 Eine ähnliche Sicht über die Position der Frankfurter Schule im Staat hat Friedrich Kießling: Die vielen intellektuellen Gründungen (wie Anm. 12), S. 81. 27 Vgl. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München und Zürich 1949; vgl. Karl-Heinz Breier/Alexander Gantschow (Hrsg.): Vom Ethos der Freiheit zur Ordnung der Freiheit. Staatlichkeit bei Karl Jaspers, Baden-Baden 2017.

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der Einrichtung von hiesigen und auswärtigen Goethe-Häusern – Konjunktur, weil sie in ihrer Zeit für aufklärerische Reformen eintraten, aber nicht für die spätere Perversion der westlichen Welt in totalitärer Form standen.28 Insofern, und weil der Konservative dem Revolutionär näher sei als dem Faschisten, könne das Einrichten bürgerlicher Rechte in Deutschland nach dem Krieg als eine Art „konservative Revolution“ gedeutet werden. Statt blinden Fortschritts wollte Horkheimer bewährte Kulturformen beibehalten (etwa die westlichen Menschen- und Bürgerrechte, die eigenständige Rolle des Individuums, die hervorgehobene Position der Familie in der Gesellschaft), was ihm von Klaue das Etikett eines Vertreters der Gegenaufklärung einbringt. Die Thesen Horkheimers könne man nämlich so verstehen, dass nicht das „Überholte“ bewahrt werden sollte, sondern „im historischen Prozess liquidierte Erfahrungsreste ins Bewusstsein“ zurückkommen sollten (dabei geht es vor allem um die eigene Familie und Haltungen des 19. Jahrhunderts). So erscheint der „Sonderweg“ der deutschen Geschichte nicht als Problem – vielmehr als Möglichkeit, sich selbst zu überwinden. 4. Perspektiven Während der Konservatismus in der Gründungsphase der Bundesrepublik meist als Integrationsmittel wirkte, indem er Spannungen eines unscharfen Begriffsfelds überdeckte, mussten Differenzierungen, wie sie nicht nur Horkheimer vornahm, zur einer „Schärfung“ und damit zu Konflikten führen. Diese Rolle nahmen – auf anderen Gebieten, mit anderem Ziel – auch Nationalkonservative wie Merkatz und Mühlenfeld ein. Mit Verweis auf Gefährdungen der Verfassungsordnung lässt Carl Joachim Friedrich sich ebenfalls – bei erheblichen Unterschieden – als Subskribent dieser These fassen. Während Andreas Hermes und Matthias Walden zugunsten der

28 Es ging nicht immer glimpflich zu, wie der Streit zwischen Karl Jaspers und Ernst Robert Curtius über die „richtige“ Lesart Goethes belegt; vgl. Helmut Fuhrmann: Sechs Studien zur Goethe-Rezeption, Würzburg 2002, S. 83-122; Friedrich Kießling: Goethe und der amerikanische Militärpolizist. „National“ und „international“ in der intellektuellen Geschichte Westdeutschlands nach 1945, in: Friedrich Kießling/Bernhard Rieger (Hrsg.): Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln u.a. 2011, S. 129-155.

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deutschen Einheit Gegner einer vorbehaltlosen „Verwestlichung“ blieben, erscheint Arnold Bergstraesser als Interpret einer „atlantischen“ Gemeinschaft, die Bildung und Eigenverantwortung zur Grundlage hatte, hingegen die DDR und das östliche Europa aus dem Blick verlor. Je näher der Leser der Gegenwart kommt, hat die Unterscheidung von gemäßigten und radikalen Konservativen – wie sie Tobias Bartels vornimmt –, eine neue Bedeutung: Die für die frühen Jahre vorgestellten Elemente des gemäßigten Konservatismus teilen heute kaum noch Intellektuelle (ein Beispiel ist der Antikommunismus, wie ihn Martin G. Maier für die Zeit nach 1968 geschildert hat). Eine Historisierung ist erkennbar. Mit wertkonservativen und technik-kritischen Einwürfen erscheint etwa Hermann Lübbe als Vertreter des „alten“ Liberalkonservatismus.29 Bei ihm zeigt sich allerdings, ähnlich wie bei Ralf Dahrendorf30, auch der Weg in die „neuere“ Lesart: Nicht zuletzt die wirkungsbedingte Transnationalität (und damit Transkulturalität) beider Denker bietet ein Podium für diachrone wie länderübergreifende Vergleiche. Wer den Vergleich mit Konservativen in anderen europäischen Staaten wagt, wird viele Ähnlichkeiten feststellen (Werte „abendländischen“ Charakters und Hervorhebung individueller Rechte, Bindung an christliche Ethik), aber einen wichtigen Unterschied: Dagebliebene deutsche Intellektuelle mussten mit dem Umstand einer lange durch das eigene Volk verteidigten Diktatur klarkommen – der NS-Staat war nicht zusammengebrochen, sondern durch militärische Übermacht niedergekämpft worden. Die Gegenwartsfrage „Was ist konservativ?“ muss indes vor allem Gemeinsamkeiten in Europa griffig beantworten: Welche Werte wollen konservative Parteien heute propagieren? Wie gehen konservative Denker mit dem Wandel in Richtung einer digitalisierten Welt um? Werfen alltagsrelevante Probleme eine neue soziale Frage auf, die mit bisherigen Gerechtigkeitsentwürfen vielleicht nicht lösbar ist? Die im Entstehungsort dieses Bandes geborene Schriftstellerin Irmtraud Morgner riet: „Niemand, der sich müht, 29 Vgl. Norbert Hilger: Deutscher Neokonservatismus. Das Beispiel Hermann Lübbes, Baden-Baden 1995; Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, vor allem S. 220-256; Hannah Bethke: Hermann Lübbe, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Staatsdenken. Zum Stand der Staatstheorie heute, Baden-Baden 2016, S. 166-170. 30 Vgl. Jens Hacke: Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers. Ralf Dahrendorf und die FPD, in: Thomas Kroll und Tilman Reitz (Hrsg.): Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013, S. 123-137.

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etwas Größeres zu wollen, kann den Beistand der Geschichte entbehren. Diese Gewissheit der Verwurzelung. Selbstbewusstsein schaffendes Traditionsbewusstsein. Stolz. Ein Adeliger, der sich an einen Stammbaum lehnen kann, ist beispielsweise gegenüber Arbeitern und Frauen, die allein zu stehen glauben, im Vorteil.“31 So lohnt vielleicht der Vergleich zwischen Machtpragmatikern wie Konrad Adenauer, dessen Schreibtisch den Einband ziert, einem geschichtsbewussten Kopf der 1980er Jahre wie Helmut Kohl und heutigen Politikern? Gibt es überhaupt noch so etwas wie einen Standpunkt, in dem heimatliche Besonderheiten von Belang sind? Was macht das Symbolhafte in der Gesellschaft aus? Welche Zukunft hat regionales Liedgut außerhalb von Abenden in der Kirche, bei der Feuerwehr oder bei Brauchtumsvereinen? Können verstärkt wahrgenommene Fliehkräfte ein neues Nachdenken über Ordnungspolitik rechtfertigen? Wie lässt sich nachhaltiges Wirtschaften, ein altes Haushaltungsprinzip, zur Erhaltung der Erde einsetzen? Alles Handeln sollte dann beherzigen: Pflanze einen neuen Baum, sobald du einen fällst. Ein Bild aus dem Gedicht „Ziehende Landschaft“ von Hilde Domin passt zum Wunsch nach Stabilität: „Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum: als bliebe die Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest.“32 Mit anderen Worten: Der bürgerliche Mainstream ist nicht mehr dort zu finden, wo es um traditionelle Gesellschaftsstrukturen geht, um Autorität, um eine religiös verwurzelte Lebensauffassung, sondern zu allererst beim wirtschaftlichen Aufschwung, neuen Autos, einer technisierten und konsumorientierten Alltagswelt, beim Ich, das auf seine Fitness bedacht ist. Eine fundamentale Liberalisierung – Abbild der zwischenmenschlichen Beziehungen – ist bereits in den 1950er Jahren keine Überraschung mehr gewesen, als sich Emigranten und Dagebliebene um die richtige Deutung der Zeit stritten. Während sie die westliche Welt zusammenrücken ließ, vergrößerten sich Unterschiede der Werthaltungen zu nicht-westlichen Gegenden. Zwischen Narrativ und Realität klafft stets eine Lücke: Wie beschreiben Konservative heute kulturelle Grundlagen des Staates als der – noch immer – wichtigsten Regelungsebene? Spielen nationale Eigenarten damals oder heute eine größere Rolle, vor allem wenn man pro-westliche Intellek-

31 Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974), Darmstadt/Neuwied 1983, S. 194. 32 Hilde Domin: Ziehende Landschaft (1955), in: Dies.: Gesammelte Gedichte, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1987, S. 13.

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Neugründung auf alten Werten?

tuelle damals und heute vergleicht?33 Woher kommt die neue Spaltung von gemäßigten und nationalkonservativen Köpfen? Verschwindet mit dem Liberalkonservatismus der frühen Bundesrepublik eine „undeutsche“ Haltung?34 Erhält Hans Mühlenfelds Unterscheidung von zwei Arten konservativen Denkens – einer echten (programmlos, antirational, konkret) und einer unechten („Quasi-Ideologie“)35 Aufwind? Konflikte können zu einem Aufleben undifferenzierter Freund-FeindSchemata führen. Wenn nun, so mein abschließendes Gedankenspiel, die erste Art, der Mühlenfeld zuneigte, notwendig konkret ist, ein „Programm“, zumindest aber „Prinzipien“ und „Elemente“ aufweist, wird sie „unecht“. Er wollte aber in der Mehrheit der Bevölkerung eine unbewusste „echte“ Haltung bewahrt sehen, deren Substanz von der Politik nur abgerufen werden müsse. Für das 19. Jahrhundert beschrieb er das – kritische – Einlassen auf die konkrete Politik, die zu Kompromissen geführt habe (hier ließe sich neu über die Vorzüge der Figur einer „guten Ordnung“36 nachdenken). Das Dilemma, bei jedem Tun in die Gefahr zu geraten, die „reine Lehre“ aufzugeben, zeigt einerseits Mühlenfelds argumentative Grenze, andererseits die bis heute gegebene Brisanz seines Themas. Angesichts vieler antiliberaler Positionierungen mit teils apodiktischem Ton kann ein Blick auf die frühen Nachkriegskonservativen nicht schaden, die ihre eigene Fehlbarkeit ebenso betonten wie Privatheit, Distanz und das unabdingbare Friedensgebot. Es sei an andere Zeiten in Europa erinnert, die wie ein kalter Hauch aus der Vergangenheit zu uns herüberwehen: „Wir kamen in ein Café, in dem die Gläser noch halbvoll auf den Marmortischen standen. [...] Dann in der Gendarmeriestation; Steckbriefe, Pässe und eine Schreibmaschine, in der ein Brief im Worte unterbrochen war.“37 Lakonisch beschrieb Ernst Jünger, an diesem Kriegstag vor allem mit der Ordnung im Weinkeller seines Quartiers befasst, seinen nächtlichen Platz auf der Zitadelle von Laon:

33 Vgl. Jens Hacke: Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen. Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg als Nestoren der deutschen Politikwissenschaft, in: Friedrich Kießling/Bernhard Rieger (Hrsg.): Mit dem Wandel leben (wie Anm. 28), S. 209-228. 34 Vgl. Friedrich Kießling: Die undeutschen Deutschen (wie Anm. 14). 35 Hans Mühlenfeld: Politik ohne Wunschbilder (wie Anm. 22), S. 182-184. 36 Vgl. Michael Großheim/Hans Jörg Hennecke (Hrsg.): Staat und Ordnung im konservativen Denken, Baden-Baden 2013. 37 Ernst Jünger: Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940, 2. Aufl., Berlin/Paris 1942, S. 157.

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„Der Tag war heiß, und ich verbrachte mit Sp. einen Teil der Nacht in Liegestühlen, die wir uns auf das flache Dach der Zitadelle hatten schaffen lassen, um den üblichen Fliegerangriff zu beobachten. Doch blieb er gerade diesmal aus.“38

38 Ebd., S. 160.

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Angaben zu den Autoren

Tobias Bartels erforscht im Rahmen des DFG-Projekts „Zeitgenössisches politisches Denken in Deutschland“ an der Universität Kiel konservatives politisches Denken nach 1989. Dr. Peter Karl Becker, Leiter des Center for Risk Management an der Universität Paderborn, forscht zu landwirtschaftlichen Reformprojekten in der frühen Bundesrepublik. Dr. Johannes Großmann arbeitet als Juniorprofessor für Geschichte Westeuropas am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen im Studienjahr 2016/2017 an einem Projekt in Paris. Dr. Magnus Klaue, Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur der Universität Leipzig, schreibt eine Biographie Max Horkheimers. Nils Lange schreibt an der Universität Potsdam eine Biographie Matthias Waldens. Dr. Sebastian Liebold, Mitarbeiter im Projekt „Intellectual History der Bundesrepublik“ an der TU Chemnitz, schreibt eine Biographie Arnold Bergstraessers. Martin G. Maier erforscht als freier Mitarbeiter beim Portal Ideengeschichte an der Universität Marburg die „Konservative Renaissance im intellektuellen Feld der BRD nach 1968“. Dr. Frank Schale erforscht als Mitarbeiter im Projekt „Intellectual History der Bundesrepublik“ an der TU Chemnitz die „Verwissenschaftlichung der Politik zwischen Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft“. PD Dr. Martina Steber ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsabteilung des Instituts für Zeitgeschichte in München und vertritt im Wintersemester 2016/2017 den Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz.

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Personenverzeichnis

Abendroth, Wolfgang 126 Adenauer, Konrad 13-15, 20, 24, 26f., 36, 40, 51, 56f., 68, 71, 79, 88f., 91, 93, 95, 105, 111, 159f., 164f., 172, 185, 239f., 244f., 248 Adorno, Theodor W. 156, 160, 162, 165 Ahlberg, Alf 63 Ahlers, Conrad 178 Althusius, Johannes 26, 135, 143f. Altmann, Rüdiger 27 Angelloz, Joseph-François 62 Aristoteles 114, 136 Aron, Raymond 188 Artajo, Alberto Martín 65f. Asmussen, Hans 62 Asselbergs, Wilhelmus 63 Augstein, Rudolf 156, 159f. Austin, John Langshaw 211 Bahr, Egon 177, 183, 185 Bauhofer, Oskar 63 Beale, Howard K. 121 Becker von Sothen, Hans 180 Benoist, Alain de 229 Bergstraesser, Arnold 26, 101-127, 238, 242-245, 247 Bernstorff, Dagmar Gräfin 123 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 225 Böhm, Franz 164f., 245 Bölling, Klaus 181 Bonhoeffer, Dietrich 243 Bourdieu, Pierre 197 Brandt, Willy 185f., 189, 191 Brecht, Arnold 119 Brennhovd, Olav 63 Brentano, Heinrich von 62, 68f.

Brzenzinski, Zbigniew 121 Burke, Edmund 42, 46, 48, 148, 221, 224, 228 Burnham, James 184 Caetano, Marcelo 67 Canaval, Gustav 64 Carstens, Karl 74 Caspari, Fritz 110 Cecil, Hugh 39 Chaloner, John S. 159 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 179,185 Clay, Lucius D. 130, 140 Collini, Stefan 12 Conze, Vanessa 54 Cornides, Wilhelm 113, 122 Cortés, Juan Donoso 204, 227 Cuno, Wilhelm 81 Curtius, Ernst Robert 107 Dahrendorf, Ralf 247 Dauphin-Meunier, Achille 62 Dehler, Thomas 239 Delius, Friedrich Christian 232 Di Fabio, Udo 225 Dietze, Constantin von 107 Dillon, Myles 63 Dilthey, Wilhelm 12 Dirks, Walter 164 Dönhoff, Marion Gräfin 120, 178 Ehrich, Emil 37 Eisenreich, Herbert 28, 200, 202, 204f. Eppler, Erhard 225 Eschenburg, Theodor 101, 116, 120, 123

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Personenverzeichnis Escobar y Kirkpatrick, José Ingnacio (Marqués de Valdeiglesias) 63, 66 Eucken, Walter 164, 243, 245 Fehling, Wilhelm 106 Fehrenbach, Constantin 80 Forsthoff, Ernst 225 Fraenkel, Ernst 126 Franco, Francisco 55, 57, 63, 65f., 71, 75 Fredborg, Arvid 74 Freeden, Michael 29, 210f., 214-218 Freud, Sigmund 171 Friedrich, Carl Joachim 26f., 106, 121, 123, 129-152, 237f., 240, 242-244, 246 Gaulle, Charles de 73, 111 Gaupp-Berghausen, Georg von 53, 64, 66 Gaus, Günter 191 Gehlen, Arnold 16 Geiler, Karl 164 Gerlich, Fritz 58f. Gillessen, Günther 50 Goethe, Johann Wolfgang von 26, 103, 107-111, 119, 123, 125f., 245f. Greiffenhagen, Martin 16f. Grubbe, Peter 182 Gumnior, Helmut 155, 157 Habermas, Jürgen 28, 201 Habib-Deloncle, Michel 73 Habsburg, Otto von 64-66, 71 Hachmeister, Lutz 159 Hacke, Jens 189 Haffner, Sebastian 181 Hamm-Brücher, Hildegard 119 Hansen, Johannes 80 Harcourt, Robert d’ 63 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich 141 Heidegger, Martin 111, 115, 155-158, 160-162, 164, 245

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Heydte, Friedrich August Freiherr von der 61, 69 Hellwege, Heinrich 37, 39, 49 Hennis, Wilhelm 15, 225 Hepp, Marcel 229 Hepp, Robert 229 Hermens, Ferdinand 116 Hermes, Andreas 25f., 77-97, 238, 240, 242-244, 246 Hermes, Peter 95 Herzog, Dagmar 171-173 Heywood, Andrew 218f., 223 Hofmannsthal, Hugo von 109f., 119 Hogg, Quentin (Lord Hailsham) 39 Horkheimer, Max 27, 107, 155-158, 160-174, 240, 245f. Huch, Ricarda 164 Hugenberg, Alfred 183 Hummel, Johannes 96 Hundhammer, Alois 62 Huntington, Samuel 210 Hutchins, Robert M. 105, 123 Ibach, Helmut 62 Jaeger, Richard 67, 69, 75 Jaspers, Karl 245 Jouvenel, Bertrand de 238f. Jünger, Ernst 228, 249 Kaltenbrunner, Gerd-Klaus 16f, 28, 199f., 202-204, 226 Kamitz, Reinhard 74 Kant, Immanuel 94, 111, 143 Kielmansegg, Peter Graf 225 Kiesinger, Kurt-Georg 123, 185f. Kindermann, Gottfried-Karl 122 Kirk, Russel 14, 152 Kissinger, Henry 121 Kjær, Holger 63 Klemperer, Victor 34 Kogon, Eugen 164 Kohl, Helmut 186, 248

Personenverzeichnis Kondylis, Panajotis 9, 11, 210 Koselleck, Reinhart 209 Kraske, Konrad 74 Kroll, Gerhard 59-61, 70 Kruip, Gudrun 182f., 188 Kuhn, Helmut 199f., 204 Kuhn, Thomas S. 212 Leibniz, Gottfried Wilhelm 111 Lemmer, Ernst 97 Lenk, Kurt 18f. Lietzmann, Hans J. 132 Llanque, Marcus 213 Lovejoy, Arthur 12, 211 Löwenthal, Gerhard 186 Lübbe, Hermann 224f., 247 Lübke, Heinrich 26, 89f., 92, 95 Luhmann, Niklas 10 Machiavelli, Niccolò 141 Mahnke, Horst 159 Maier, Hans 119, 236 Maistre, Joseph de 227 Mann, Thomas 240 Mannheim, Karl 210, 220 Marcel, Gabriel 62 Margue, Nicolas 67 Maritain, Jacques 109 Marquard, Odo 225 Martini, Winfried 180 Marx, Karl 115 Mayer, Tilman 220 McCloy, John J. 159 Mende, Erich 179 Merkatz, Hans-Joachim von 25, 35, 38f., 42-44, 46-49, 51, 67, 69, 73, 74f., 123, 239, 246 Merseburger, Peter 192 Messerschmid, Felix 118 Michelet, Edmond 72 Michels, Robert 132 Moeller van den Bruck, Arthur 227f.

Mohler, Armin 180, 229f. Morgner, Irmtraud 247 Möser, Justus 16, 42 Mühlenfeld, Hans 25, 35f., 38-44, 239, 243, 246, 249 Müller, Adam 231 Müller, Hermann 80 Müller, Jan-Werner 101 Naumann, Wilhelm 59 Nedelmann, Carl 15 Nicholl, Donald 63 Niklas, Wilhelm 26 Nixon, Richard 88f, 149 Nothomb, Pierre 63 Oakshott, Michael 210, 224 Oberndörfer, Dieter 107,110, 113, 116, 119, 122, 124 Ormond, Henry 159 Ortega y Gasset, José 107, 110 Papadakes, Basileios 67 Pauck, Wilhelm 106 Payk, Marcus M. 189 Picard, Max 63 Platon 102, 237 Pocock, John G. A. 29, 210-214, 216f., 221 Rathenau, Walther 111 Reagan, Ronald 186 Reuter, Ernst 184 Revers, Georges 67 Rheinstein, Max 106 Ribhegge, Wilhelm 19 Richter, Werner 106 Ringguth, Rudolf 155 Rippon, Geoffrey 74 Ritter, Gerhard 113 Ritter, Joachim 18, 225 Ritter, Karl Bernhard 62 Rohrmoser, Günter 225 Romoser, George A. 119

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Personenverzeichnis Röpke, Wilhelm 235, 243f. Rothfels, Hans 106 Ruge, Gerd 178 Ruiz-Giménez, Joaquín 66 Rüstow, Alexander 243 Saint-Exupéry, Antoine de 235, 237 Salin, Edgar 121 Sánchez Bella, Alfredo 65f. Sander, Hans-Dietrich 28, 180, 206-208, 229 Saussure, Ferdinand de 212 Schacht, Ulrich 229 Schacht, Hjalmar 131 Schäfer, Gert 15 Schaller, Anna Maria 81 Scharpf, Fritz 123 Schäuble, Wolfgang 120 Schelsky, Helmut 15, 123, 225, 240 Schrenck-Notzing, Caspar von 229 Schildt, Axel 54, 221 Schiller, Friedrich 112, 117 Schlamm, William S. 180, 200 Schmidt, Helmut 69, 181, 186 Schmitt, Carl 27, 130-134, 136, 204, 228, 240 Schmückle, Gerd 191 Schröder, Gerhard 69, 120 Schuberth, Hans 62 Schulze-Delitzsch, Hermann 87 Schütz, Paul Wilhelm 62 Schwane, Daniel 179f. Schwarz, Hans-Peter 21, 178 Schwarzenbach, James 67 Schweitzer, Albert 107 Schwilk, Heimo 229 Searle, John 211 Seebohm, Christoph 46 Sethe, Paul 33f. Shuster, George N. 106, 121

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Six, Franz Alfred 159 Solemacher-Antweiler, Friedrich Freiherr von 79 Söllner, Alfons 125 Sontheimer, Kurt 107, 119, 123, 127 Spengler, Oswald 58, 228, 240 Springer, Axel 28, 178f., 182f., 191, 240 Stadtmüller, Georg 62 Stählin, Wilhelm 62 Stalin, Josef Wissarionowitsch 162 Sternberger, Dolf 121, 236 Stifter, Adalbert 119 Strauß, Franz Josef 222 Strauss, Leo 109, 141 Stresemann, Gustav 79 Studnitz, Hans Georg von 180 Tejada y Spínola, Francisco Elías de 63 Tenbruck, Friedrich 119 Terrenoire, Louis 73 Tomberg, Valentin 63 Urach, Eberhard Fürst von 61,121 Vedovato, Guiseppe 63 Voegelin, Eric 116, 141 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Alois Graf von 73, 75 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Erich Fürst von 58f., 61, 73 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Georg Fürst von 61, 69, 239 Walden, Matthias (Saß, Eugen Wilhelm Otto Baron von) 28, 179-193, 236, 238-240, 243f., 246 Weinkauff, Hermann 62 Weißmann, Karlheinz 229 Winckler, Stefan 186 Wirth, Joseph 80f., 91 Zehrer, Hans 180, 186, 189 Ziesel, Kurt 33