Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte 9783486702859, 9783486577143

Mehr als eine Kontroverse: Neue Bausteine für eine Biographie Hans Rothfels´ Hans Rothfels, charismatischer Hochschull

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Polecaj historie

Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte
 9783486702859, 9783486577143

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Geschichte als Gegenwartswissenschaft Eine Skizze zur intellektuellen Biographie von Hans Rothfels
Hans Rothfels und Ostmitteleuropa
Anpassung und Versuchung. Hans Rothfcls und der Nationalsozialismus
Hans Rothfels im amerikanischen Exil
Hans Rothfels, Gerhard Ritter und die Rezeption des 20. Juli 1944
Die „Rothfelsianer"
Hans Rothfels und die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Hans Rothfels und die Traditionen der deutschen Zeitgeschichte
Ein Historiker im Zeitalter der Extreme. Anmerkungen zur Debatte um Hans Rothfels
Hans Rothfels - Versuch einer Einordnung
Mitarbeiter dieses Sammelbandes

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J o h a n n e s H i i r t e r und H a n s W o l l e r H a n s R o t h f e l s und die deutsche Z e i t g e s c h i c h t e

Schriftenreihe der Viertel)ahrshefte für Zeitgeschichte Band 90

Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte Herausgegeben von Karl Dietrich Bracher, Hans-Peter Schwarz, H o r s t Möller Redaktion: Johannes H ü r t e r und Jürgen Zarusky

R. Oldenbourg Verlag München 2005

Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte

Herausgegeben von Johannes Hürter und Hans Woller

R. Oldenbourg Verlag München 2005

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek D i e D e u t s c h e B i b l i o t h e k v e r z e i c h n e t diese P u b l i k a t i o n in d e r D e u t s c h e n N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; detaillierte b i b l i o g r a f i s c h e D a t e n sind im I n t e r n e t über abrufbar.

© 2005 O l d e n b o u r g Wissenschaftsverlag G m b H , M ü n c h e n R o s e n h e i m e r S t r a ß e 145, D - 8 1 6 7 1 M ü n c h e n Internet: http://www.oldenbourg.de D a s W e r k einschließlich aller A b b i l d u n g e n ist u r h e b e r r e c h t l i c h g e s c h ü t z t . J e d e V e r w e r t u n g a u ß e r h a l b d e r G r e n z e n d e s U r h e b e r r e c h t s g e s e t z e s ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages u n z u lässig u n d s t r a f b a r . Dies gilt i n s b e s o n d e r e f ü r V e r v i e l f ä l t i g u n g e n , U b e r s e t z u n g e n , M i k r o v e r f i l m u n g e n u n d die E i n s p e i c h c r u n g u n d B e a r b e i t u n g in e l e k t r o n i s c h e n S y s t e m e n .

G e d r u c k t auf s ä u r e f r e i e m , a l t e r u n g s b e s t ä n d i g c m P a p i e r ( c h l o r f r e i gebleicht). Gesamtherstellung: R . O l d e n b o u r g Graphische Betriebe Druckerei G m b H , München ISBN 3-486-57714-X ISSN 0506-9408

Inhalt

Einleitung

Jan

7

Eckel

G e s c h i c h t e als Gegenwartswissenschaft. E i n e Skizze zur intellektuellen Biographie von H a n s Rothfels . . . .

Wolfgang

Neugebauer

H a n s Rothfels und O s t m i t t e l e u r o p a

Ingo

15

39

Haar

Anpassung und Versuchung. H a n s R o t h f c l s und der Nationalsozialismus

Peter

Th.

63

Walther

H a n s R o t h f c l s im amerikanischen Exil

Christoph

83

Cornelißen

H a n s Rothfels, G e r h a r d Ritter und die Rezeption des 20. Juli 1944. K o n z e p t i o n e n für ein „neues D e u t s c h l a n d " ?

Thomas

97

Etzemüller

Die „Rothfelsianer". Z u r H o m o l o g i e von Wissenschaft und Politik

Hermann

Graml

H a n s R o t h f e l s und die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

Mathias

121

145

Beer

H a n s R o t h f e l s und die Traditionen der deutschen Zeitgeschichte. E i n e Skizze

159

6 Heinrich

Inhalt

August

Winkler

Ein H i s t o r i k e r im Zeitalter der Extreme. A n m e r k u n g e n z u r D e b a t t e u m H a n s Rothfels

Horst

191

Möller

H a n s Rothfels - Versuch einer E i n o r d n u n g

201

Mitarbeiter dieses Sammelbandes

207

Einleitung Die Geschichte der Wissenschaften ist alles andere als ein neuer Zweig der historischen Forschung. Seit jeher haben Historiker versucht, die Entwicklung der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen nachzuzeichnen, den politischen wie sozialen Standort ihrer Protagonisten auszuloten und deren Mentalitäten zu bestimmen. Dabei kamen die unterschiedlichsten historiographischen Methoden zur Anwendung, ideengeschichtliche, sozialgeschichtliche und in jüngster Zeit verstärkt auch kulturgeschichtliche. Die jeweilige Rückschau auf die Wissenschaften, auf ihre Träger und ihre Institutionen, ihre Netzwerke und ihre Diskurse ist freilich nicht nur methodischen, sondern auch einschneidenden interpretatorischen Wandlungen unterworfen. Da sie über die Bewertung des Vergangenen und den aktuellen Kontext dieser Bewertung ebenso viel aussagt wie über das Vergangene selbst, ist sie, kaum geschrieben, schon selbst ein Stück Geistesgeschichte. Ein besonders brisantes Feld der Wissenschaftsgeschichte und bereits seit einigen Jahrzehnten en vogue ist die Zeitgeschichte der Wissenschaften. Das „kurze", „nervöse" und „extreme" 20. Jahrhundert war von einer beispiellosen Spezialisierung der Wissenschaften und einer ebenso beispiellosen Beschleunigung des technischen Fortschritts gekennzeichnet. Zugleich verengte sich durch die Konzentration auf ein Fachgebiet der Erfahrungshorizont der Forscher, die unter dem verabsolutierten Streben nach dem Machbaren häufig das ethische Fundament verloren; um so leichter ließen sie sich manipulieren und für politische Ziele einspannen. Verführt von den Möglichkeiten, die sich ihnen boten, nahmen sie freilich auch ihrerseits nur allzu bereitwillig Einfluss auf die große Politik; „kämpfende Wissenschaft" ist nur einer der Slogans, die man für diese Entwicklung gefunden hat. Varianten davon gab (und gibt) es in allen Staaten und Regierungsformen, vor allem aber und besonders verhängnisvolle in totalitären Systemen. Die Folgen waren teilweise katastrophal: Chemiker, Physiker und Ingenieure entwikkelten Massenvernichtungswaffen, Biologen und Mediziner sinnierten über die Klassifizierung und den „Wert" von Menschen, verstiegen sich zu grausamen Experimenten und verübten „Euthanasie"-Morde, Juristen begründeten und betrieben eine politische Rechtsprechung, Geisteswissenschaftler, Ökonomen und Theologen propagierten oder unterstützten radikale Gesellschaftsmodelle, in denen bestimmte Minderheiten und ethnische Gruppen keinen Platz mehr hatten. Die Wissenschaften wurden ebenso „total" und „totalitär" wie die Staaten, Gesellschaften und Kriege, denen sie dien-

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Hinleitung

ten. Nie zuvor haben Wissenschaftler zugleich so viel Nutzen gestiftet und so viel Schaden angerichtet wie in der jüngsten Geschichte. Das Phänomen der politischen Korrumpierung und Instrumentalisierung der akademischen Berufe und ihrer Exponenten wird in Deutschland vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus verbunden. Das Hauptaugenmerk der Forschung richtete sich deshalb bevorzugt auf die Rolle von Wissenschaftlern in der NS-Diktatur. Dabei gerieten vor den Geisteswissenschaftlern die Arzte, Naturwissenschaftler, Techniker, Juristen und Theologen ins Visier, maß man ihrem Wirken doch einen größeren Einfluss auf die Geschichte zu. Die Zeitgeschichte der Geschichtswissenschaften ist dagegen lange vernachlässigt worden. Die deutschen Historiker machten einen Bogen um die Frage, wie sie selbst bzw. ihre Lehrer oder deren Lehrer sich in diesem Zeitalter der Extreme verhalten haben, nicht nur als Forscher, sondern auch als politische Akteure. Diese Zurückhaltung gegenüber den brisanten Kapiteln der eigenen Vergangenheit ist oft kritisiert worden. Eine Reaktion auf diese Kritik ließ Jahrzehnte auf sich warten, doch heute ist die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte der eigenen „Zunft" im vollen Gange. Was die einen als notwendigen und längst überfälligen Akt der Selbstprüfung und als zentralen Teil der Wissenschafts- und Intellektuellengeschichte sehen, ist für die anderen freilich nach wie vor übertriebene N a belschau und Ausdruck überzogener Anklage durch eine zumeist jüngere Generation, die weder frei sei von ahistorischer Selbstgerechtigkeit, noch egoistische Karrieregründe als Ursache ihrer Kritik verhehlen könne. Auch die historische Relevanz solcher Forschungen wird mitunter in Frage gestellt. Doch welche dieser Positionen man je nach Einstellung, Generation und Gruppenzugehörigkeit auch vertreten mag: Außer Zweifel steht, dass heute beinahe jeder „kritische" Beitrag über die Einstellung von Historikern zum Nationalsozialismus mehr Aufmerksamkeit innerhalb und außerhalb des Faches findet als manche Kontroversen über grundsätzliche Fragen der deutschen Geschichte. In diesem anhaltenden Interesse spiegelt sich auch ein Nachholbedarf. Die Auseinandersetzung der Historiker mit der eigenen Vergangenheit verlief nach 1945 zunächst sehr zögerlich. Nachdem die eindeutig und schwer belasteten Kollegen recht bald ins Abseits gestellt waren, hielt man es nicht für opportun, weiter über die Rolle der Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich" zu diskutieren. Wie in anderen Eliten verhinderte auch in der Historikerzunft ein meist ebenso ungeplantes wie effizientes Kartell des Schweigens, Verharmlosens und der dezenten Rücksichtnahmen den offenen U m gang mit diesem Thema. Daran konnten selbst die Pionierstudien von Helmut Heiber und Karl Ferdinand Werner in den sechziger Jahren wenig ändern 1 . Erst nach der deutschen Einigung von 1990 erschienen, angeregt 1

Vgl. H e i m u t

H e i b e r , W a l t e r F r a n k u n d sein R e i c h s i n s t i t u t f ü r G e s c h i c h t e d e s

neuen

Einleitung

9

durch eine f r ü h e r e Studie des Briten Michael Burleigh 2 , m e h r e r e U n t e r s u chungen, die sich mit der unheilvollen Verflechtung der „ m o d e r n e n " u n d weit über das J a h r 1945 h i n a u s w i r k e n d e n Teildisziplinen „ O s t f o r s c h u n g " und „Volksgeschichte" mit der nationalsozialistischen Politik u n d Ideologie beschäftigten 3 . Dabei gerieten auch Historiker, die später f ü r die deutsche Geschichtswissenschaft über viele J a h r z e h n t e h i n w e g stilprägend u n d schulebildend w u r d e n , in den Verdacht, bis 1945 den verbrecherischen Plänen und Zielen der Nationalsozialisten gedient zu haben. A u s g e r e c h n e t solchen „Säulenheiligen" ( G ö t z A l y ) unter den N a c h k r i e g s h i s t o r i k e r n w i e den „Vätern" der neueren Sozialgeschichte Werner C o n z e u n d T h e o d o r Schieder w u r d e zur Last gelegt, dass sie die nationalsozialistische Politik der „völkischen N e u o r d n u n g " und „Entjudung" O s t m i t t e l e u r o p a s intellektuell u n terstützt hatten. Die Debatte erlebte einen H ö h e p u n k t u n d erhielt zugleich neuen Antrieb, als diesen Fragen im September 1998 auf d e m 42. H i s t o r i kertag in F r a n k f u r t am M a i n eine eigene Sektion g e w i d m e t w u r d e , die w e gen ihrer p r o v o k a n t e n Thesen und der d a d u r c h ausgelösten h o c h e m o t i o n a len Diskussion großes Aufsehen erregte. Die k o n t r o v e r s e n Beiträge u n d K o m m e n t a r e w u r d e n bald darauf in einem S a m m e l b a n d veröffentlicht 4 . Damit w a r man endgültig von den „ s c h w a r z e n Schafen", d . h . den u n zweifelhaften A n h ä n g e r n und S y m p a t h i s a n t e n des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s ' , zu den jüngeren H i s t o r i k e r n g e k o m m e n , denen es g e l u n g e n war, im „Dritten Reich", ehrgeizig, engagiert, aber nicht zu exponiert, eine erfolgreiche Karriere einzuschlagen, die sie dann in der B u n d e s r e p u b l i k bis in die einflussreichsten Positionen des Wissenschaftsbetriebs fortsetzen k o n n t e n : neben C o n z e u n d Schieder vor allem H e r m a n n A u b i n , O t t o Brunner, H e r m a n n H e i m p e l , F r a n z Petri und - in der NS-Zeit allerdings eher ein A u ß e n s e i t e r Karl Dietrich Erdmann. Bereits in der Debatte der n e u n z i g e r J a h r e tauchte außerdem am R a n d e i m m e r w i e d e r der N a m e eines Gelehrten auf, der als innovativer Forscher, charismatischer Lehrer und politischer Kopf an der

3

4

Deutschlands, Stuttgart 1966; Karl Ferdinand Werner, Das N S - G e s c h i c h t s b i l d und die d e u t sche Geschichtswissenschaft, Stuttgart u.a. 1967. Vgl. Michael Burleigh, G e r m a n y turns Eastwards. A S t u d y of O s t f o r s c h u n g in the Third Reich, C a m b r i d g e 1 9 8 8 . Vgl. z . B . A n g e l i k a Ebbinghaus/Karl H e i n z R o t h , V o r l ä u f e r des „ G e n e r a l p l a n s O s t " . Eine D o k u m e n t a t i o n ü b e r T h e o d o r Schieders P o l e n d e n k s c h r i f t v o m 7. O k t o b e r 1 9 3 9 , in: 1 9 9 9 7 (1992), Η. 1, S. 6 2 - 9 4 ; K a r e n Schönwälder, H i s t o r i k e r und Politik. G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t im Nationalsozialismus, F r a n k f u r t a.M./New Y o r k 1 9 9 2 ; Willi O b e r k r o m e , V o l k s g e schichte. M e t h o d i s c h e Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen G e schichtswissenschaft 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , G ö t t i n g e n 1 9 9 3 ; U r s u l a W o l f , Litteris et Patriae. Das J a n u s gesicht d e r Historie, Stuttgart 1996; Peter Schöttler (Hrsg.), G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g als Legitimationswissenschaft 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , F r a n k f u r t a.M. 1 9 9 7 ; G ö t z A l y , M a c h t - G e i s t - W a h n . K o n t i n u i t ä t e n deutschen Denkens, Berlin 1997; Michael Fahlbusch, W i s s e n s c h a f t im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen F o r s c h u n g s g e m e i n s c h a f t e n " v o n 1 9 3 1 - 1 9 4 5 , Baden-Baden 1999. Vgl. D e u t s c h e H i s t o r i k e r im Nationalsozialismus, hrsg. v o n W i n f r i e d Schulze u n d O t t o G e r h a r d O e x l e , F r a n k f u r t a.M. 1999.

10

Hans Rothfels (2. v. I.), in Königsberg;

Einleitung

Bundesarchiv

Kohlenz

Universität in Königsberg bis 1934 großen Einfluss auf eine ganze Riege von begabten Nachwuchswissenschaftlern und „Ostforschern", unter ihnen C o n z e und Schieder, ausgeübt hatte: Hans Rothfels. D e r 1891 geborene Sohn eines jüdischen Justizrats war 1910 zum Protestantismus übergetreten und 1914 als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden, ehe er 1918 von Friedrich Meinecke mit einer Studie über Clausewitz promoviert wurde. 1924 folgte die Habilitation bei Hermann O n c k e n über Bismarcks englische Bündnispolitik, und schon 1926 erhielt Rothfels, der mittlerweile zu den großen Hoffnungen des Faches zählte, einen Lehrstuhl in Königsberg, den er 1934 wegen seiner jüdischen Abstammung wieder verlor. Nachdem er lange versucht hatte, sich mit dem NS-Regime zu arrangieren, ging er 1939 ins Exil, zunächst nach England, dann in die U S A , wo er von 1940 bis 1946 an der Brown University in Providence und von 1946 bis 1956 an der Universität Chicago lehrte. Von 1951 bis 1959 hatte er außerdem an der Universität Tübingen einen Lehrstuhl inne. Rothfels war zweifellos einer der bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts und zudem der einzige, der vor und nach der Emigration Ordinarius an einer deutschen Universität werden konnte ein Wissenschaftler zwischen den Zeiten, der wegen seiner nationalkonservativen Haltung für das alte Deutschland und wegen seiner Annäherung an

Einleitung

11

die westliche D e m o k r a t i e im amerikanischen Exil zugleich auch für das neue Deutschland stand, außerdem ein Verfechter einer traditionellen Politik- und Ideengeschichte, der sich aber neueren sozialgeschichtlichen, osthistorischen und zeitgeschichtlichen Ansätzen nicht verschloss und gerade deshalb so großen A n k l a n g unter der jüngeren, kritischen G e n e r a t i o n fand 5 . D a Rothfels aufgrund seiner jüdischen A b s t a m m u n g von den N a t i o n a l s o zialisten diskriminiert, verfolgt und ins Exil gedrängt wurde, geriet er t r o t z der wiederholten H i n w e i s e auf seine Person in der S c h i e d e r - C o n z e - D e b a t t e lange Zeit nicht in den Verdacht einer zu großen N ä h e z u m N a t i o n a l s o z i a lismus. Das änderte sich im J a h r 2 0 0 0 mit der Studie von Ingo H a a r über die deutschen H i s t o r i k e r im Nationalsozialismus und den „ V o l k s t u m s k a m p f " im O s t e n 6 . H a a r w a r f R o t h f e l s vor, als H i s t o r i k e r und Publizist in K ö n i g s berg nationalistische und antidemokratische Positionen vertreten zu haben, die der nationalsozialistischen Aggressionspolitik gegen F r a n k r e i c h und mehr noch gegen Polen sowie der Radikalisierung seiner Schüler zu Vordenkern einer letztlich mörderischen „Volkstumspolitik" V o r s c h u b geleistet hätten. Diese T h e s e einer fragwürdigen Haltung, ja eines unheilvollen E i n flusses von R o t h f e l s bis in die A n f ä n g e der N S - D i k t a t u r hinein stieß auf die scharfe Kritik seines Schülers H e i n r i c h August Winkler 7 . F ü r W i n k l e r war Rothfels zunächst ein konservativer Vernunftrepublikaner, b e v o r er sich am E n d e der Weimarer R e p u b l i k dem G e d a n k e n g u t der „Konservativen R e v o l u t i o n " , keineswegs aber j e n e m der Nationalsozialisten genähert habe. D a gegen ging Karl H e i n z R o t h noch über die T h e s e n Haars hinaus, indem er Rothfels eine große Affinität zu faschistischen Ideen attestierte und ihm unterstellte, er hätte nach 1933 nur allzu gerne mitgemacht, wenn es ihm nur gestattet worden w ä r e 8 . N a c h dem Krieg, so R o t h weiter, habe R o t h f e l s dann als Präzeptor der deutschen Zeitgeschichtsforschung die F o r m u l i e rung entscheidender Fragen ü b e r den Nationalsozialismus verzögert, etwa die Frage nach den G r u n d l a g e n und dem Verlauf des J u d e n m o r d s . D i e s e r 5

6

7

8

Vgl. als besten U b e r b l i c k immer noch Hans Mommsen, Geschichtsschreibung und H u m a nität. Zum Gedenken an Hans Rothfels, in: Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Aufsätze Hans Rothfels zum Gedächtnis, hrsg. von Wolfgang B e n z und Hermann Graml, Stuttgart 1976, S. 9 - 2 7 . Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf" im O s t e n , Göttingen 2000. Vgl. Heinrich August Winkler, Hans Rothfels - ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars „Historiker im Nationalsozialismus", in: V f Z 4 9 (2001), S. 6 4 3 - 6 5 2 . Vgl. auch Ingo Haar, Quellenkritik oder Kritik der Quellen? Replik auf H e i n rich August Winkler, in: Ebenda 50 (2002), S. 4 9 7 - 5 0 5 ; Heinrich August Winkler, G e schichtswissenschaft oder Geschichtsklitterung? Ingo Haar und Hans Rothfels: Eine Erwiderung, in: Ebenda 50 (2002), S. 6 3 5 - 6 5 2 . Vgl. Karl Heinz R o t h , Hans Rothfels: Geschichtspolitische Doktrinen im Wandel der Zeiten. Weimar - N S - D i k t a t u r - Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 9 (2001), S. 1 0 6 1 - 1 0 7 3 ; ders., „Richtung halten": Hans Rothfels und die neo-konservative G e schichtsschreibung diesseits und jenseits des Atlantik, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), S. 4 1 - 7 1 .

12

Einleitung

Vorwurf wurde auch von Nicolas Berg erhoben, der Rothfels in die erste Reihe der Vertreter einer apologetischen Geschichtswissenschaft stellt 9 . Seit Anfang des Jahrzehnts schwelt also eine „Rothfels-Kontroverse" über die Haltung dieses deutsch-jüdischen Historikers zunächst zum N a tionalsozialismus bis etwa 1934 und dann zu dessen Aufarbeitung nach 1945. Diese Kontroverse fand nicht allein in der Fachwelt immer größere Beachtung und veranlasste im Februar 2003 das Internetportal H - S o z - u Kult, ein Diskussionsforum zur historischen Bewertung von Hans Rothfels einzurichten. Diese geschichtswissenschaftliche und zeitgeschichtliche D e batte sowie die Relevanz des Themas hätten es allein schon gerechtfertigt, dass sich auch das Institut für Zeitgeschichte dieser Frage annimmt. Etwas anderes kam noch hinzu: Hans Rothfels war nicht nur einer der Begründer der deutschen Zeitgeschichtsforschung, sondern auch langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts ( 1 9 5 9 - 1 9 7 4 ) und vor allem von 1953 bis zu seinem Tod 1976 Hauptherausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Kein zweiter hat über mehr als zwanzig Jahre hinweg diesem führenden zeitgeschichtlichen Organ so stark seinen Stempel aufgedrückt wie Rothfels 1 0 . So nahm das Institut für Zeitgeschichte das fünfzigjährige Bestehen seiner Zeitschrift zum Anlass, am 16./17. Juli 2003 eine wissenschaftliche Tagung über das kontrovers diskutierte Thema „Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte" durchzuführen. Selbstverständlich wurden alle Historiker zu dieser Konferenz eingeladen, die sich wissenschaftlich mit Hans Rothfels beschäftigen, auch die dezidierten Kritiker seines Wirkens, neben Ingo Haar namentlich Nicolas Berg und Karl Heinz Roth. Beide zogen es allerdings vor, an einer eilends einberufenen Veranstaltung des Centre Marc Bloch in Berlin zum selben Thema am 15. Juli 2003 teilzunehmen und nicht nach München zu kommen. Wir haben dies sehr bedauert. Der vorliegende Band dokumentiert den Ertrag der Münchner Tagung, alle Referate sind hier in überarbeiteter und erweiterter Fassung abgedruckt. Zugleich spiegelt er die Anlage dieser Konferenz wider, die einer unangemessenen sachthematischen Verengung der bis dahin geführten Diskussion entgegenwirken wollte. In der Debatte der letzten Jahre stand die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus eindeutig, ja einseitig im Mittelpunkt. Auch die Rothfels-Kontroverse legte das Schwergewicht auf die Frage nach seinem Denken und Verhalten am Ende der Weimarer Republik und am Anfang der NS-Diktatur. So bedeutsam diese Frage auch ist, so sehr verengt sie die Perspektive auf lediglich einen Abschnitt dieser exemplarischen Historikerbiographie, der so schwerlich gerecht zu werden ist. Intention der 9

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Nicolas Berg, D e r Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. Vgl. Hermann G r a m l / H a n s Woller, Fünfzig Jahre Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 9 5 3 - 2 0 0 3 , in: V f Z 51 (2003), S. 5 1 - 8 7 .

Einleitung

Hans Rothfels, April 1976;

13

Privatbesitz

Veranstalter der K o n f e r e n z und H e r a u s g e b e r dieses S a m m e l b a n d s war es daher, gewissermaßen „den ganzen R o t h f e l s " in den B l i c k zu n e h m e n , ihn zu kontextualisieren, statt zu skandalisieren, was fast unweigerlich geschieht, w e n n Einzelne oder G r u p p e n nicht vor dem H i n t e r g r u n d ihrer Zeit beurteilt, sondern an erst später vollgültigen M a ß s t ä b e n gemessen werden. N e b e n der, natürlich nach wie vor hochinteressanten, E n t w i c k l u n g von Rothfels bis zu seiner Zwangsemeritierung im J a h r 1934 werden daher auch seine bisher fast unbekannten E x i l j a h r e in den U S A sowie seine heute e b e n falls umstrittene Tätigkeit in der B u n d e s r e p u b l i k nach 1951 ausführlich behandelt. D i e s e drei großen K o m p l e x e werden eingeleitet durch die grundsätzlichen Überlegungen J a n E c k e l s zur G e s a m t b i o g r a p h i e von H a n s R o t h fels und abgeschlossen durch R ü c k b l i c k e von H e i n r i c h August W i n k l e r und H o r s t M ö l l e r auf die Tagung s o w i e auf die R o t h f e l s - K o n t r o v e r s e ü b e r haupt. Dieser B a n d wird die D i s s o n a n z e n nicht auflösen k ö n n e n , die in den letzten J a h r e n durch die konträren S t i m m e n über die historische B e d e u t u n g von H a n s Rothfels entstanden sind. Verlief sein nationalkonservatives D e n ken in den zeittypisch revisionistischen B a h n e n , oder näherte es sich nicht doch nationalsozialistischen Vorstellungen? Läuterte er sich zu einem liberaldemokratischen Atlantiker, o d e r erhielt seine alte konservativ-reaktionäre Einstellung im Kalten Krieg lediglich eine andere F ä r b u n g ? F ö r d e r t e er

14

Einleitung

gezielt die Exkulpation der Deutschen von der NS-Vergangenheit, oder schuf er als Erneuerer der Zeitgeschichtsforschung erst die Mittel, um den ganzen U m f a n g der deutschen Schuld aufzeigen zu können? Die Antworten auf solche und ähnliche Fragen sind unterschiedlich und von einem K o n sens noch weit entfernt. In diesem Band kann daher keine abschließende Bilanz geboten werden, sondern ein, allerdings umfassender, Zwischenstand der Diskussion. Ziel ist es, Bausteine zur Biographie eines deutschen Intellektuellen im 20. Jahrhundert zu liefern, einer Biographie, die symptomatisch für die Möglichkeiten, Widersprüche und Gefährdungen eines politischen Menschen und einflussreichen Wissenschaftlers zwischen Demokratie und Diktatur, Recht und Verbrechen, Opferrolle und Täternähe sein mag. Wie diese Bausteine sich zusammenfügen, bleibt abzuwarten und weiterer Forschung vorbehalten. Bei der Organisation der Tagung und bei der Vorbereitung dieses Sammelbands haben Renate Bihl und Barbara Grimm ebenso effizient wie unermüdlich mitgeholfen; dafür sei ihnen herzlich gedankt. Wir danken außerdem Petra Mörtl für ihre umsichtige Unterstützung bei der Drucklegung. München, im September 2004

Johannes Hürter

Hans Woller

Jan Eckel Geschichte als Gegenwartswissenschaft E i n e S k i z z e z u r intellektuellen B i o g r a p h i e v o n H a n s R o t h f e l s

Seit einigen Jahren zeichnet sich in der historischen F o r s c h u n g ein verstärktes Interesse an der deutschen Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts ab. Es ist befördert worden durch die Aufmerksamkeit für die Allianzen von Wissenschaftlern und Nationalsozialismus sowie deren N a c h w i r k u n gen in der frühen Bundesrepublik. Methodisch ist damit eine Neuperspektivierung der Wissenschaftshistoriographie unter vorwiegend kulturgeschichtlichen Fragestellungen einhergegangen 1 . D e r Gegenstand Wissenschaft fungiert hier als eine A r t Sonde, die Aufschluß über die systemischen, (wissenschafts-)kulturellen und mentalen Auswirkungen historisch-politischer Veränderungen geben soll. Die Wechselbeziehungen von geisteswissenschaftlicher Profession und politischem Systemwandel lassen sich dabei auf verschiedenen Ebenen in den Blick nehmen. So sind die institutionellen Rahmenbedingungen einzelner Disziplinen, die Forschungslandschaften und personellen Netzwerke ebenso untersucht worden wie methodologi-

1

Zu diesem Forschungszusammenhang vgl. Bernd Weisbrod (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002; G e org Bollenbeck/Clemens K n o b l o c h (Hrsg.), Semantischer U m b a u der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001; O t t o Gerhard O e x l e , „Zusammenarbeit mit Baal". U b e r die Mentalität deutscher Geisteswissenschaftler 1933 - und nach 1945, in: H i storische Anthropologie 8 (2000), S. 1 - 2 7 ; Mitchell G . Ash, Verordnete U m b r ü c h e - k o n struierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 9 0 3 - 9 2 3 . Stellvertretend für die Disziplingeschichte der Germanistik, in der diese Fragestellungen schon länger verfolgt werden als in der Geschichtswissenschaft, vgl. Wilfried Barner/Christoph König (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 1996. Dieses Forschungsfeld berührt sich zudem mit intellektuellengeschichtlichen U n tersuchungen zum 20. Jahrhundert. Vgl. dazu als neueren Literaturüberblick D i r k van Laak, Zur Soziologie der geistigen Umorientierung. Neuere Literatur zur intellektuellen Verarbeitung zeitgeschichtlicher Zäsuren, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), S. 422—440. F ü r den Bereich der deutschen Geschichtswissenschaft sind diese Prozesse bisher noch nicht detailliert und in einem zusammenhängenden Längsschnitt untersucht worden. Die bislang einzige Historikerbiographie, die den gesamten Zeitraum vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik der sechziger Jahre abdeckt, ist die Arbeit von Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001.

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J a n Eckel

sehe Entwicklungen oder der diskursive Bereich der Forschungsprogramme, Interpretationen und semantischen Bestände. Auf der Ebene der einzelnen Akteure läßt sich die wissenschaftliche Arbeit als ein Medium für intellektuelle Prozesse verstehen, mit denen Wissenschaftler auf die extremen Zeiterfahrungen des 20. Jahrhunderts, auf die zahlreichen historischen Brüche und den rasanten Wechsel gesellschaftlichpolitischer Ordnungsmodelle reagiert haben. In das Zentrum des Erkenntnisinteresses rücken damit die Fragen, wie wissenschaftliche Konzeptionen an veränderte historische und soziopolitische Rahmenbedingungen angepaßt werden, wieviel intellektuelle Umstellung historische Zäsuren erfordern und wieviel intellektuelle Kontinuität sie zulassen, mit welchen U m deutungsoperationen und mit welchen Fortschreibungsmechanismen Wissenschaftler auf neue Ausgangsbedingungen ihrer professionellen Arbeit reagieren, und welche Konsequenzen das für die Selbstwahrnehmungen und Selbstdarstellungen des wissenschaftlichen Personals hat. Fragt man nach der intellektuellen Verarbeitung des 20. Jahrhunderts, ist der Historiker Hans Rothfels, der seine ersten Prägungen in der Zeit des späten Kaiserreiches erfuhr und bis in die Bundesrepublik der siebziger Jahre hinein wissenschaftlich tätig war, eine aufschlußreiche Figur. Gerade an seinem Beispiel wird der Prozeß des Neuansetzens der wissenschaftlichen Arbeit besonders deutlich, läßt sich nachvollziehen, wie ein Wissenschaftler den Herausforderungen an das geschichtliche Verstehen begegnete, die von einschneidenden historischen Ereignissen, zumal für professionelle Geschichtsdeuter, ausgehen. Die mehrfachen Umwälzungen der politisch-sozialen Bedingungen, unter denen er schrieb, und die lebensgeschichtlichen Positionswechsel, die sich damit verknüpften und die seine Biographie von anderen unterscheiden, ließen es für ihn notwendig werden, die historischen Interpretationen immer wieder von einem veränderten Standort aus zu überprüfen und neu zu durchdenken. Der Zeithistoriker Rothfels versuchte dem nachzukommen, indem er sich stets von neuem um historische Anschlüsse für die veränderten Gegenwarten bemühte, die er miterlebte. In dieser Untersuchungsperspektive geht es folglich nicht um die moralische Beurteilung politisch-akademischer Verhaltensweisen. Das Ziel ist vielmehr, aufzuzeigen, wie die Geschichtswahrnehmung und -deutung eines Historikers von spezifischen Erfahrungen in der Gegenwart formiert wird, und, davon ausgehend, wie sich das intellektuelle Profil eines Wissenschaftlers in der stetigen Neuanpassung des historischen Denkens über Jahrzehnte hinweg wandelt. Eine Untersuchung über Hans Rothfels kann sich auf eine breite, dabei aber nicht lückenlose Materialbasis stützen. Sie besteht neben den veröffentlichten Texten, die den Zeitraum von 1918 bis zum Todesjahr 1976 umfassen, aus einem umfangreichen Nachlaß, der allerdings archivalisch noch relativ schlecht erschlossen ist. Abgesehen von Briefen existieren praktisch

G e s c h i c h t e als G e g e n w a r t s w i s s e n s c h a f t

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keinerlei Selbstzeugnisse des Historikers. Seine Korrespondenz ist insbesondere für die Zeit bis zu seiner Emigration 1939 nur unvollständig erhalten, was unter anderem daran liegt, daß Rothfels vor seiner Auswanderung nach eigener Aussage einen großen Teil seiner Unterlagen vernichtete 2 . Das Kernstück der Rothfels-Korrespondenz bildet der von den 1910er bis in die sechziger Jahre reichende Schriftwechsel mit seinem engsten Freund Siegfried A. Kaehler. Er ist in der bisherigen Literatur zu Hans Rothfels noch nicht systematisch ausgewertet worden und liegt den folgenden Ausführungen in wesentlichen Teilen zugrunde. U b e r den akademischen Werdegang des Historikers und seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit geben Fakultätsakten und die Unterlagen der betreffenden wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen Aufschluß 3 . Die Entwicklung der intellektuellen Biographie von Hans Rothfels soll im Folgenden anhand seiner Geschichtsschreibung nachvollzogen werden. Der Fokus ist dabei auf die Abfolge der Geschichtsbilder gerichtet, die seine Texte erzeugen, wie auch auf die Deutungsoperationen, mit denen sie immer wieder transformiert und den veränderten Umständen angeglichen werden. Die Textanalyse wird skizzenhaft an die Position zurückgebunden, die Rothfels in den einzelnen Phasen seiner geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit im Fach bzw. im Wissenschaftsbetrieb einnahm, und gleichzeitig auf zentrale biographische Erfahrungen bezogen. Die Darstellung setzt nach dem Ersten Weltkrieg ein und ist chronologisch in fünf Phasen unterteilt 4 .

I. Der Zeitraum vom letzten Kriegsjahr, in dem der 1891 geborene Rothfels mit einer Arbeit über den Militärtheoretiker Carl von Clausewitz promoviert wurde, bis zur Mitte der zwanziger Jahre stellte für den jungen Historiker eine Phase des noch ungesicherten akademischen Status dar. Die Wartezeit auf ein Ordinariat, das der 1923 habilitierte Meinecke-Schüler 1926 erhalten sollte, empfand er als lang und die Aussichten auf eine akademische Absicherung als äußerst ungewiß. Seit 1920 hatte Rothfels eine Anstellung am neugegründeten Potsdamer Reichsarchiv, dessen Aufgabe darin bestand,

2

3

4

Vgl. Staats- und Universitätsbibliothek (künftig: S U B ) Göttingen, Cod. Ms. S.A. Kaehler 1,144c, Rothfels an Kaehler, 28. 6. 1961. Der Nachlaß von Rothfels befindet sich im Bundesarchiv (künftig: B A ) Koblenz ( N 1213), der von Siegfried A. Kaehler in der S U B Göttingen (Cod. Ms. S. A. Kaehler). Die Untersuchung stützt sich auf eine Analyse aller Quellen, die für den Gegenstand zur Verfügung stehen. Die Belege sind dabei im Folgenden aus Platzgründen bewußt knapp gehalten. Ausführliche Nachweise finden sich in meiner demnächst erscheinenden Dissertation zum Thema.

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Jan Eckel

die Reichsgeschichte seit 1867/1871 zu erforschen. Nebenbei engagierte er sich im wissenschaftlich-publizistischen Kampf gegen die „Kriegsschuldthese", die von den beteiligten deutschen Historikern bewußt in den größeren diplomatiegeschichtlichen Zusammenhang seit 1870 gestellt wurde, um so die Aufmerksamkeit von der Julikrise von 1914 abzulenken. Zudem arbeitete Rothfels an verschiedenen Forschungsprojekten zur Geschichte der Bismarckzeit. Seine Arbeit wurde damit allein schon von den institutionellen Einbindungen her auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gelenkt, so daß er bereits zu Beginn seiner akademischen Laufbahn das Profil eines Zeithistorikers gewann. In den Texten der frühen zwanziger Jahre beschäftigte er sich überwiegend mit innen- und außenpolitischen Aspekten der Bismarckzeit sowie mit den Bündnisbeziehungen der europäischen Großmächte im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Das Movens seiner Geschichtsinterpretationen war dabei das Erklärungsbedürfnis, das aus der Kriegsniederlage und den politischen Umbrüchen des Kriegsendes resultierte. Die Niederlage von 1918 bestimmte darüber hinaus Rothfels' Blick auf den Gesamtgang der deutschen Geschichte und führte zur Ausbildung eines spezifischen Geschichtsbildes. So beschrieben seine Texte die immergleiche Ausgangssituation eines deutschen Staates, der von innen und von außen in seinem Bestand bedroht war. Diese Grunddeutung entwickelte der junge Historiker zunächst am Beispiel der Geschichte des Bismarckreiches. Demnach hatte der erste Reichskanzler, so lange er regierte, die drohenden Gefahren abgewendet, indem er zum einen ein virtuoses außenpolitisches Bündnissystem aufbaute, das die Sicherheit des Deutschen Reiches in idealer Weise gewährleistete, und indem er zum anderen eine damit korrelierende regulative Gesellschaftspolitik betrieb, die die Desintegration der Nation verhinderte und die „Autonomie des Staates" auch im Inneren zur Geltung brachte. Von Bismarcks politischer Gesamtkonzeption, die im Dienste der Stabilität und der Machtentfaltung des deutschen Staates gestanden hatte, war Rothfels' Deutung zufolge das Führungspersonal der wilhelminischen Ära abgewichen. Damit hatte es, mehr durch taktisches Mißgeschick als durch substantielle Fehler, das innere Gefüge und die äußere Stellung des Reiches geschwächt. Erst dadurch konnte in der Logik dieser Interpretation die aggressive Einkreisungspolitik der Entente einen Weltkrieg herbeiführen, der in der militärischen Niederlage und dem revolutionären Umsturz und damit im äußeren und inneren „Zusammenbruch" endete 5 . 5

Vgl. dazu folgende Texte von Rothfels: Zur Bismarck-Krise von 1890, in: Historische Zeitschrift 123 (1921), S. 267-296; Zur Geschichte des Rückversicherungsvertrages, in: Preußischejahrbücher 187 (1922), S. 265-292; Bismarcks Sturz als Forschungsproblem, in: Preußische Jahrbücher 191 (1923), S. 1-29; Bismarcks englische Bündnispolitik, Berlin 1924; Bismarcks Staatsanschauung. Eine akademische Antrittsvorlesung, in: Archiv für Politik und Geschichte 2 (1924), S. 119-134; Bismarcks Staatsanschauung, in: O t t o von Bismarck, Deut-

G e s c h i c h t e als G e g e n w a r t s w i s s e n s c h a f t

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In einer R e i h e weiterer Texte, die über den zeitgeschichtlichen R a h m e n hinausgingen, verlängerte R o t h f e l s die staatliche G r u n d s i t u a t i o n permanenter innerer und äußerer G e f ä h r d u n g in die ältere p r e u ß i s c h - d e u t s c h e G e schichte zurück. D e r kontinuierliche Versuch des deutschen Staates, sich in seiner prekären Lage zu behaupten, führte abwechselnd zu glorreichen Machtaufschwüngen (wie etwa unter Friedrich dem G r o ß e n , während der Befreiungskriege gegen N a p o l e o n o d e r im „August" 1914) und zu katastrophischen E i n b r ü c h e n (wie unter der napoleonischen B e s e t z u n g , in der Zeit nach 1815, teilweise in der E p o c h e des Wilhelminismus und schließlich 1918/19). S o unterlag dem Verlauf der deutschen G e s c h i c h t e in R o t h f e l s ' D e u t u n g eine zyklische B e w e g u n g von staatlichem Aufstieg und Z u s a m m e n b r u c h , ein periodischer Wechsel von „ . I m m e r wieder Z u r ü c k g e w o r f e n werden' und . I m m e r wieder A u f n e h m e n m ü s s e n ' " 6 . Dieses G e s c h i c h t s b i l d erfüllte in der G e g e n w a r t nach 1918 eine wichtige Sinnstiftungsfunktion, da sich das desaströse G e s c h e h e n der jüngsten Vergangenheit mit einer fast mechanischen G e s e t z m ä ß i g k e i t aus ihm ergab: D e n n es bildete nur das letzte G l i e d in einer Kette analoger und i m m e r wiederkehrender Vorgänge. Z u d e m m u ß t e nach diesem Interpretationsmuster auf den aktuellen A b s c h w u n g ein neuer A u f s c h w u n g folgen, so daß die Verunsicherung, die der „ Z u s a m m e n b r a c h " von 1 9 1 8 / 1 9 für das historische D e n k e n darstellte, intellektuell doppelt aufgefangen wurde. Als E r f a h rungshintergrund, der in diesem D e u t u n g s s c h e m a wissenschaftlich verarbeitet war, wird in den Texten der gesamte Zeitraum v o m Kriegsausbruch 1914 bis z u m A b k l i n g e n der akuten Nachkriegskrisen u m 1923 faßbar. D i e vermeintliche feindliche E i n k r e i s u n g und der „ E x i s t e n z k a m p f " des Krieges, die militärische Niederlage und die verfassungspolitische U m w ä l z u n g , die sich anschließende innenpolitische Ausnahmesituation bis zur U b e r w i n dung der Inflation - all dies bildete ein E r l e b n i s k o n t i n u u m äußerer B e d r o hung und innerer Destabilisierung des deutschen Staates, das R o t h f e l s selbst

6

scher Staat. Ausgewählte Dokumente, eingel. von Hans Rothfels, München 1925, S. X V X L V I I ; Das Problem der „Schuldfrage" und der „Neue Kurs", in: Die Kriegsschuldfrage 2 (1924), S. 196-199; Das Wesen des russisch-französischen Zweibundes, in: Archiv für Politik und Geschichte 4 (1925), S. 149-160; England und die „Aktivierung" der Entente im Jahre 1912, in: Die K r i e g s s c h u l d i g e 3 (1925), S. 2 0 1 - 2 1 1 ; Zur Beurteilung der englischen Vorkriegspolitik, in: Archiv für Politik und Geschichte 7 (1926), S. 5 9 9 - 6 1 5 ; Zur Beurteilung Greys, in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 3 5 0 - 3 5 4 . Vgl. dazu Hans Rothfels, Deutschlands Krise, in: Alfred Bozi/Alfred Niemann (Hrsg.), Die Einheit der nationalen Politik, Stuttgart 1925, S. 1-15; ders., Friedrich der Große in den Krisen des Siebenjährigen Krieges, in: Historische Zeitschrift 134 (1926), S. 14—30; ders., Der Osten, Preußen und das Reich, in: Ders., Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935, S. 1 - 1 4 ; ders., Geschichte als Schicksal, in: Europäische Revue 3 (1928), S. 734-749, hier das Zitat S. 748; ders., Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik. Rede gehalten bei der Reichsgrundungsfeier am 18. Januar 1929, Königsberg 1929; ders., Stein und der deutsche Staatsgedanke. Rede zum Jahrestag der Reichsverfassung gehalten am 23. Juli 1931, Königsberg 1931.

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Jan Eckel

durchlebt hatte und dann in seinen historiographischen Arbeiten gewissermaßen in die deutsche Geschichte zurückprojizierte.

II. 1926 erhielt Rothfels einen Ruf an die Universität Königsberg, mit dem er nicht gerechnet hatte, da er auf der Berufungsliste der Fakultät nicht geführt worden war 7 . Mit dem Ordinariat war das Ziel der akademischen Laufbahn erreicht, jedoch wurde die Aufbruchstimmung, die sich daraufhin einstellte, anfangs durch eine skeptische Beurteilung des „provinziellen" universitären Standorts getrübt 8 . Die Übersiedlung nach Ostpreußen brachte eine Reihe neuer Bedingungen für die wissenschaftliche Produktion mit sich. Erstens war der Forschungsbetrieb in Königsberg inhaltlich sehr stark auf Fragen der Grenzlandpolitik und des Auslandsdeutschtums ausgerichtet und vollzog sich in einem stark politisierten, nationalistischen Umfeld. Außerdem stellten die Probleme der „abgeschnittenen" Provinz Ostpreußen wie später die des Baltikums, von denen Rothfels durch Reisen eine unmittelbare Anschauung gewann, einen neuen lebensgeschichtlichen Erfahrungsbereich für den zuvor in Südwestdeutschland beheimateten Historiker dar. Zweitens eröffneten sich ihm in der Rolle des Ordinarius verschiedene Felder für die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit, bei der er ein beträchtliches Engagement entfaltete. Dabei entwickelte er den Habitus des jungen, aufstrebenden Professors, der ostentativ von der Peripherie der deutschen Wissenschaftslandschaft aus agierte und deren Belangen Geltung zu verschaffen suchte. Gerade das Engagement für die „Ostforschung" versprach in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren wissenschaftliche Profilierungsmöglichkeiten, und so setzte sich Rothfels auch in allen seinen Funktionen für die Förderung von Forschungen zu ostdeutschen und ostmitteleuropäischen Fragen ein 9 . Ein dritter neuer Faktor der Königsberger Tätigkeit war die sich relativ schnell entwickelnde „Gemeinschaft" mit den Ge7

8

9

Vgl. Geheimes Staatsarchiv Berlin, I. H A , Rep. 76 W, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, Bd. X X X I , Philosophische Fakultät an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksb i l d u n g , ^ 3. 1925. Vgl. etwa B A Koblenz, Ν 1213/142, „Erwiderung auf eine Rede Meineckes bei der uns gegebenen Abschiedsfeier vor meinem Abgang nach Königsberg", 27. 4. 1926. A m signifikantesten waren dabei Rothfels' maßgebliche Einflußnahme auf die Organisation des Göttinger Historikertages von 1932 und sein Versuch, den für 1934 vorgesehenen Historikertag in Königsberg auszurichten. Vgl. dazu u.a. den Briefwechsel zwischen Rothfels und dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Historiker, Karl Brandl ( S U B Göttingen, C o d . Ms. Brandl 47). N e b e n dem Engagement in organisatorischen Fragen des Historikerverbandes übte Rothfels weitere wissenschaftsorganisatorische Funktionen im Herausgeberstab der Historischen Zeitschrift, in der Historischen Kommission für das Reichsarchiv, der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und der Deutschen Akademie in München aus.

Geschichte als Gegenwartswissenschaft

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schichtsstudenten, die sich über die Seminararbeit e b e n s o wie über gemeinsame außeruniversitäre Aktivitäten entwickelte und auf das Idealbild einer Verschmelzung von „Wissenschaft und L e b e n " abzielte. So bildete sich eine akademische G r u p p e heraus, in der sich L e h r e r und Schüler wechselseitig in einer gegenwartsbezogenen und damit stark politisierten, auf G r e n z l a n d f r a gen konzentrierten und für die Beteiligten intellektuell faszinierenden F o r m von G e s c h i c h t s f o r s c h u n g bestärkten. In Rothfels' historiographischer Praxis bewirkten diese neuen P r o d u k t i onsbedingungen eine U m s t e l l u n g der Forschungsfelder, die sich einige J a h r e nach d e m Antritt des K ö n i g s b e r g e r O r d i n a r i a t s in seinen Texten niederschlug. E r beschäftigte sich nun mit T h e m e n

der ostpreußischen

Ge-

schichte, mit den P r o b l e m e n d e u t s c h e r Volksgruppen im B a l t i k u m und allgemeiner mit Nationalitätenfragen in der ostmitteleuropäischen Vielvölkerz o n e 1 0 . Seine Arbeiten aus dieser Phase, die etwa v o m E n d e der z w a n z i g e r bis zur Mitte der dreißiger J a h r e reichte, enthielten z u n ä c h s t eine politische Analyse. Diese diagnostizierte verschiedene schädliche A u s w i r k u n g e n der Versailler N a c h k r i e g s o r d n u n g , w e l c h e die ethnische „ M i s c h z o n e " O s t m i t teleuropas in der F o r m von N a t i o n a l s t a a t e n organisiert und d a d u r c h , der Auffassung des Historikers zufolge, die Nationalitätenkonflikte verschärft

,=

Vgl. zum Folgenden: Hans Rothfels, O s t - und Westpreußen zur Zeit der Reform und der Erhebung, in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, hrsg. v. Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, Königsberg 1931, S 415—437; ders., Z u m 18. Januar, in: Ostmärkische Akademische Rundschau. Nachrichtenblatt der Königsberger Studentenschaft. Zeitschrift des Bundes Deutscher Akademiker N o r d o s t , Nr. 6 / W S 1929/30, Königsberg 18.1.[1930], S. 49f.; ders., Die historische und politische Bedeutung O s t - und Westpreußens in Vergangenheit und Gegenwart, in: Ostpreußen - was es leidet, was es leistet. Ansprachen, Reden und Vorträge auf der Ostpreußen-Ausstellung in Berlin vom 8. bis 16. Januar 1933, hrsg. vom Reichsverband der heimattreuen O s t - und Westpreußen e.V., o . O . 1933, S. 13-21; ders., Staat und Nation in der Geschichte Dänemarks, in: Auslandsstudien, Bd. 3: Die nordischen Länder und Völker, hrsg. vom Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertus-Universität Königsberg, Königsberg 1928, S. 9 6 - 1 1 7 ; ders., Reich, Staat und Nation im deutsch-baltischen D e n k e n . Vortrag bei der öffentlichen Sitzung der Gelehrten Gesellschaft zu Königsberg am 12. Januar 1930, in: Schriften der K ö nigsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse, 7 (1930), S. 2 1 9 - 2 4 0 ; ders., Das baltische Deutschtum in Vergangenheit und Gegenwart, in: Auslandsstudien, Bd. 7: Das Auslandsdeutschtum des O s t e n s , hrsg. vom Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertus-Universität Königsberg, Königsberg 1932, S. 3 7 - 6 1 ; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens, in: Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 8 9 - 1 0 5 ; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens, in: ders., O s t r a u m , S. 6 5 - 9 2 . ; ders., Bismarck und der O s t e n . Eine Studie zum Problem des deutschen Nationalstaats, Leipzig 1934; ders., O s t r a u m ; hierin die zuvor ungedruckten Texte: D e r O s t e n , Preußen und das Reich; Universitäten und Auslandsdeutschtum; Deutschland und der Donauraum; Das Werden des Mitteleuropagedankens; ferner: Das Problem des Nationalismus im Osten, in: Albert Brackmann (Hrsg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen, M ü n c h e n / B e r l i n 1933, S. 2 5 9 - 2 7 0 ; ders., D e r Vertrag von Versailles und der deutsche Osten, in: Berliner Monatshefte 12 (1934), S. 3 - 2 4 ; ders., Bismarck, das Ansiedlungsgesetz und die deutsch-polnische Gegenwartslage, in: Deutsche Monatshefte in Polen 1 (1934/35), S. 214—218; ders., Selbstbestimmungsrecht und Saarabstimmung, in: Berliner Monatshefte 13 (1935), S. 3 2 - 4 8 .

22

Jan Eckel

und die Lebensbedingungen der ethnischen Minderheiten verschlechtert hatte. Mit diesen Befunden reagierte Rothfels auf eine spezifische Krisensituation der Zwischenkriegszeit, die insofern objektiv problematisch war, als sie von allen Akteuren als problematisch wahrgenommen wurde - von den minoritären ethnischen Gruppen bzw. ihren politischen Repräsentanten ebenso wie von den Regierungen und Verwaltungen der Herkunfts- und der „Titular" -Nationen 1 1 . Die Lösungsvorschläge, die der Königsberger Ordinarius in seinen historischen Untersuchungen entwickelte, stellten allerdings keine konstruktiven Konzepte für diese spannungsreiche und ressentimentgeladene Konstellation dar. Das lag zum einen an ihrer rein deutschtumszentrierten Perspektive - zum Problem wurden Minderheitenkonflikte für Rothfels nur insofern, als auslandsdeutsche Gruppen davon betroffen waren und ihr überkommener Status verloren zu gehen drohte. Z u m zweiten waren die Vorschläge untrennbar mit dem Programm einer geopolitischen „ N e u o r d n u n g " verbunden, nach dem der ostmitteleuropäische Raum von Deutschen hegemonial umgestaltet werden sollte. Diese Konzeption stützte sich auf chauvinistische Begründungsfiguren: Kriterien wie die volkliche „Qualität", vermeintlich historische Kategorien wie die „Leistung" und die „Reife der Volkskräfte" oder die Vorstellung eines „Kulturgefälles" verwiesen auf eine überzeitlich gedachte Überlegenheit des deutschen Volkes. Die politische Analyse beruhte auf einer bestimmten Auffassung von der strukturellen Beschaffenheit des „(Ost-) Raumes". Dieser war in den Augen von Rothfels durch eine „völkische Gemengelage" charakterisiert, welche die Stabilität des Raumes bedrohte, da sie eine großflächige Staatsbildung unmöglich machte. Diese innere Schwäche des Raumes korrespondierte mit einer äußeren Gefahr, die in den späteren Texten vor allem von der kommunistischen Sowjetunion, aber auch von der westlichen „Hegemonialmacht" Frankreich und ihren osteuropäischen Verbündeten ausging. Angesichts dieser inneren und äußeren Gefahr bedurfte der Raum einer spezifischen „Ordnung", um sich behaupten zu können. Insofern kreisten Rothfels' historische Betrachtungen auch in dieser Phase um die gleiche Grundfrage, die schon die früheren Texte strukturiert hatte, die Frage nämlich, wie eine stabile deutsche Staatsbildung möglich sei, die innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich eine tragfähige Ordnung schaffte. Es war nun lediglich die geopolitische Einheit verschoben, auf die sich diese Überlegungen bezogen, da nicht mehr Deutschland in seinen aktuellen Reichsgrenzen in Frage stand, sondern die gesamte ostmitteleuropäische „Zwischenzone". Die intellektuelle Funktion von Rothfels' Histo-

11

Vgl. dazu stellvertretend H a n s Lemberg (Hrsg.), Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918-1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten, Marburg 1997.

Geschichte als Gegenwartswissenschaft

23

riographie bestand nun w e n i g e r in d e r S i n n g e b u n g f ü r ein z u r ü c k l i e g e n d e s k a t a s t r o p h i s c h e s G e s c h e h e n , als v i e l m e h r in d e m g e d a n k l i c h e n

Bemühen

u m Z u k u n f t s l ö s u n g e n . „Was an den R ä n d e r n des D e u t s c h t u m s h ö c h s t e N o t i s t " , so verdichtete es R o t h f e l s in einer s e i n e r suggestiven F o r m u l i e r u n g e n , „das birgt zugleich die V e r h e i ß u n g d e r Z u k u n f t . " 1 2 D i e E u p h o r i e ü b e r n e u g e w o n n e n e intellektuelle G e s t a l t u n g s m ö g l i c h k e i t e n

ging dabei mit e i n e r

m a n i f e s t e n Politisierung und p o l i t i s c h e n R a d i k a l i s i e r u n g der g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n A r b e i t einher. R o t h f e l s e n t w i c k e l t e allerdings k e i n e detaillierte und s y s t e m a t i s c h e p o l i t i s c h e K o n z e p t i o n . S e i n e T e x t e b e s t a n d e n w e i terhin aus historischen A n a l y s e n , aus d e n e n d a n n e i n z e l n e p o l i t i s c h e F o r d e rungen abgeleitet w u r d e n . A u f g r u n d seiner h i s t o r i o g r a p h i s c h e n P r o d u k t i o n w i e auch seiner Initiativen als W i s s e n s c h a f t s o r g a n i s a t o r w u c h s R o t h f e l s in seiner

Königsberger

Zeit die R o l l e eines Spezialisten für „ O s t f r a g e n " in d e r n e u e r e n G e s c h i c h t e zu. G e r a d e im Z u g e des A u f s c h w u n g s d e r O s t f o r s c h u n g seit 1933 b e s t a n d B e d a r f nach e i n e m s o l c h e n E x p e r t e n w i s s e n , er k o n n t e es nun allerdings nicht m e h r e i n b r i n g e n , da seine S t e l l u n g als H i s t o r i k e r j ü d i s c h e r H e r k u n f t schon

bald

nach

der

nationalsozialistischen

Machtübernahme

w u r d e 1 3 . Sein A u s s c h e i d e n aus den einschlägigen

prekär

Forschungszusammen-

hängen w u r d e allgemein b e d a u e r t ; s o hielt e t w a d e r S D - H i s t o r i k e r E r n s t B i r k e R o t h f e l s ' N a t i o n a l i t ä t e n s t u d i e n a u c h u n t e r den g e w a n d e l t e n p o l i t i schen Rahmenbedingungen

n o c h für eine u n v e r z i c h t b a r e

Grundlagenar-

beit14.

III. H a n s Rothfels war 1933 der einzige deutsche H i s t o r i k e r jüdischer H e r k u n f t , d e r ein O r d i n a r i a t

für N e u e r e G e s c h i c h t e

bekleidete. M i t

dem

M a c h t w e c h s e l v o m J a n u a r 1 9 3 3 sah sich der z u m P r o t e s t a n t i s m u s k o n v e r tierte S o h n j ü d i s c h e r E l t e r n der d i s k r i m i n i e r e n d e n R a s s e n p o l i t i k des R e gimes ausgesetzt. D e r a k a d e m i s c h e A u s g r e n z u n g s p r o z e ß , der u m g e h e n d e i n s e t z t e , w a r bereits 1 9 3 4 / 3 5 a b g e s c h l o s s e n . N a c h d e m S o m m e r s e m e s t e r 1 9 3 4 d u r f t e R o t h f e l s nicht m e h r l e h r e n , im J a h r d a r a u f w u r d e er z w a n g s w e i s e e m e r i t i e r t , im selben Z e i t r a u m hatte er z u d e m fast alle a n d e r e n F u n k -

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Hans Rothfels, Das Werden des Mitteleuropagcdankens, in: Ders., Ostraum, S. 2 2 8 - 2 4 8 , hier S. 246. So war Rothfels etwa an der institutionellen Zusammenfassung der Ostforschung im R a h men der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft praktisch nicht mehr beteiligt. Vgl. dazu die Berichte über die Gründungstagung und die Folgetagungen der Forschungsgemeinschaft, in: B A Berlin, R 153/1269, 1278 und 1280, und den begleitenden Briefwechsel zwischen Albert Brackmann und T h e o d o r Oberländer, in: B A Berlin, R 153/1313.

'« S U B Göttingen, Cod. Ms. S.A. Kaehler l , 1 4 4 d , Kaehler an Rothfels, 30. 8. 1935.

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tionen im Wissenschaftsbetrieb verloren 1 5 . Unterstützung erfuhr er in dieser Phase von den Studenten des Historischen Seminars, wenn diese auch mehrheitlich dem nationalsozialistischen Regime positiv gegenüberstanden und sich daher in einem Loyalitätskonflikt sahen. D o c h machte diese Solidarisierung, ebenso wie Rothfels' Eigenschaft als „ O s t " - E x p e r t e , die Ausschaltung des Königsberger Historikers in den Augen des Wissenschafts ministeriums nur noch dringlicher. Bis etwa 1936/37 wurde der Emeritus von jeglichen Forschungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Ursprünglich sollte ihm ein nichtuniversitärer Forschungsauftrag gewährt werden, der aber nach einem langwierigen Hin und H e r schließlich zurückgezogen wurde, noch bevor die Forschung begonnen hatte. Retrospektiv erwies sich, daß dieses Manöver des Wissenschaftsministeriums nicht etwa eine wirkliche Konzession oder gar ein Kooperationsangebot gewesen war, sondern eine dürftig verschleierte schrittweise Kaltstellung 1 6 . Schließlich schied der Königsberger Historiker auch aus der sich nach 1933 neu formierenden Fachgemeinschaft aus. Überwiegend wurde in seinem Fall zwar die „Entjudung" bedauert, weil hier an der „nationalen Zuverlässigkeit", der wissenschaftlichen Bedeutung (vor allem für die „Ostarbeit") und der pädagogischen Qualität des Fachgenossen kein Zweifel bestand. Von Seiten seiner Kollegen wurden verschiedene Initiativen ergriffen, um Rothfels in seiner bedrängten Lage zu helfen, doch war das Vorgehen insgesamt zögerlich und halbherzig. Das zentrale Argument für diese Zurückhaltung war, daß ein Schritt der Kollegen praktisch aussichtslos sei oder dem Betroffenen sogar eher schade, da eine kollektive Unterstützung die Bedeutung dieses exemplarischen „Falles" aus Sicht der Behörden noch unterstreichen müßte. Beides traf höchstwahrscheinlich zu, änderte aber nichts daran, daß eine Geste der Solidarität, die in jedem Fall symbolische Bedeutung gehabt hätte, gar nicht erst zustande kam. Rothfels sah sich durch das Verhalten der Kollegen im Laufe der Jahre zunehmend im Stich gelassen. D e r nationalsozialistische Umschwung führte bei Rothfels zu einer tiefgreifenden Identitäts- und Statuskrise, bei der sich die lebensgeschichtliche, die politische und die historisch-wissenschaftliche Dimension durchdrangen. Seine Wahrnehmung des neuen Regimes war anfangs mehrschichtig und widersprüchlich. Bei strikter Ablehnung des rassistisch-antisemitischen Dogmas erklärte Rothfels in den ersten Monaten verschiedentlich, im politischen Umbruch auch positive Aspekte zu sehen 1 7 . Für diese Reaktion gaben verschiedene Faktoren den Ausschlag: Der Wille, auch unter den neuen Verhältnissen möglichst „dazuzugehören", eine Haltung demonstrativer Leidenschaftslosigkeit gegenüber der antisemitischen Diskriminierung so15 16

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Vgl. dazu vor allem die Unterlagen in BA Koblenz, Ν 1213/20. B A Berlin, Z B II 4538 A . l , Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Personalakte Hans Rothfels. B A Koblenz, Ν 1166/485, Rothfels an Ritter, 6. 5. 1933.

Geschichte als Gegenwartswissenschaft

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wie politische Affinitäten zum Nationalsozialismus. Die persönliche Verfolgung des Gelehrten verschärfte sich in den bekannten Etappen, die durch immer neue gesetzgeberische Vorstöße des Regimes markiert wurden. Seit Mitte 1933 finden sich keine affirmativen Äußerungen von Rothfels mehr über die nationalsozialistische Politik. Nach den Nürnberger Gesetzen empfand er vor allem die Vornamensverordnung vom August 1938 als tiefen Einschnitt und symbolische Degradierung. Ab dieser Zeit machte sich der emeritierte Historiker keine Illusionen mehr darüber, daß das Regime auf eine vollständige Entrechtung und Ausstoßung der Juden aus der deutschen Gesellschaft zielte. Der Möglichkeit der Emigration stand eine Reihe äußerer Hindernisse entgegen; ausschlaggebend für sein Zögern, Deutschland zu verlassen, war jedoch, zumal in den ersten Jahren, die innere Unmöglichkeit, den Lebensbezug zur eigenen „Nation" preiszugeben. Die Identifikation mit der Nation und dem „Vaterland" stellte im persönlichen Wertesystem des Historikers die oberste Bindung dar, die bis in die späten dreißiger Jahre hinein trotz Erniedrigung und Gefährdung durch die Maßnahmen des Regimes bestehen blieb. Rothfels wanderte erst im Sommer 1939 aus und siedelte zunächst nach England über. Zwischen dem Regierungswechsel von 1933 und Rothfels' Emigration entstanden nur noch wenige Texte. Mehrere der Arbeiten, die in diesem Zeitraum erschienen, waren bereits zuvor konzipiert oder fertiggestellt worden 1 8 . In seiner Geschichtsschreibung reagierte Rothfels auf die veränderten politischen Verhältnisse anfangs mit dem Versuch, an der Osteuropaund Nationalitätenthematik festzuhalten und seine aktuellen wie auch seine früheren Arbeiten als eine einheitliche Forschungskonzeption zu präsentieren, die den neuen wissenschaftlich-politischen Erfordernissen entsprach. In dem Maße allerdings, w i e ihm bewußt wurde, daß sein historiographischer Ansatz, der auf einer nicht-rassistischen Grundlage um eine Synthese von Staats- und Volksperspektive bemüht war, für einen „jüdischen" Historiker prekär wurde, wich er auf Nebengebiete aus und dachte auch daran, sich stärker international anschlußfähigen Themen zu widmen. Dafür erwog er verschiedene Projekte, die aber fast alle nicht mehr zur Ausführung kamen. Das einzige Vorhaben, das sich noch verwirklichen ließ, war eine Studie über Theodor von Schön, die gleichzeitig die letzte deutschsprachige Veröffentlichung vor der Emigration darstellte 1 9 . In der Untersuchung von Schöns Staatsauffassung betonte Rothfels gegenüber den (ethnisch verstandenen) nationalen nun wieder stärker die etatistischen Elemente und lenkte 1B

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Nach dem Machtwechsel entstanden vor allem die Texte: Der Vertrag von Versailles und der deutsche Osten, in: Berliner Monatshefte 12 (1934), S. 3-24, sowie Selbstbestimmungsrecht und Saarabstimmung, in: Berliner Monatshefte 13 (1935), S. 32-48. Vgl. Hans Rothfels, Theodor von Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848, in: Schriften der Königsberger Gelehnen Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 13 (1937), Heft 2.

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damit auf die Konzeption seiner Arbeiten aus der Zeit vor seiner Übersiedlung nach Königsberg zurück. U m das Verhältnis von Rothfels' intellektuell-wissenschaftlicher und politischer Ausrichtung zum Nationalsozialismus zu bestimmen, reicht es methodisch nicht aus, aus den historiographischen Texten - der Königsberger Historiker betätigte sich anders als etwa die „Konservativen Revolutionäre", aber auch anders als verschiedene Fachkollegen nicht als politischer Publizist - einzelne politische Forderungen herauszudestillieren und diese dann mit der NS-Politik abzugleichen, zumal mit Maßnahmen, die Jahre nach dem Erscheinen der historischen Arbeiten in einer stark veränderten innen- und außenpolitischen Situation ergriffen wurden. Im allgemeinen läßt sich keine direkte Linie von einem geschichtswissenschaftlichen Text zu einer politischen Maßnahme ziehen, im besonderen stellt die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Osteuropa nicht die Verwirklichung Rothfels'scher Konzeptionen dar. Weiter führt es hingegen, verschiedene Ebenen zu unterscheiden, die in den Forschungen über deutsche Historiker in der NS-Zeit bisher meist unabhängig voneinander untersucht wurden. So lassen sich in Rothfels' Texten der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre erstens politische Positionen erkennen, die voraussichtlich die Anschlußfähigkeit an die nach dem Januar 1933 gewandelte politische Konstellation gewährleistet hätten. Daraus würde sich vermutlich die im nationalen Bürgertum und damit auch unter Intellektuellen und Geisteswissenschaftlern verbreitete Gemengelage aus teilweiser Zustimmung und teilweiser Ablehnung ergeben haben, welche die allermeisten dazu bewog, sich auf eine „konstruktive" Mitarbeit am neuen Staat einzulassen. An der praktischen Politik der neuen Machthaber war Rothfels, zweitens, allerdings in keiner Weise beteiligt. Aufgrund der rassistischen Stigmatisierung war es für den K ö nigsberger Ordinarius, im Unterschied zu anderen Historikern und insbesondere zu historischen „Ostexperten", von vornherein unmöglich, sich beratend oder planend an einzelnen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes zu beteiligen und auf diese Weise praktisch in das NS-System involviert zu werden. Auf der Ebene der Denkmuster, die Rothfels' historiographische Arbeiten bis 1933/34 formierten, zeigen sich jedoch drittens bestimmte intellektuelle Dispositionen, die auf eine grundsätzliche Kompatibilität mit nationalsozialistischen Politik- und Herrschaftsvorstellungen verweisen. Diese reichte über einzelne politische Zielvorgaben wie Revisionismus oder Antiparlamentarismus hinaus und ergab sich aus einem Ordnungsdenken, das im innerstaatlichen wie im außenpolitischen Bereich auf umfassende antiliberale Lösungen abhob, mit denen eine als fundamental wahrgenommene Gesellschaftskrise überwunden werden sollte 2 0 . Die Überlegung, wie sich 20

Vgl. zu diesen Zusammenhängen Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Orga-

G e s c h i c h t e als G e g e n w a r t s w i s s e n s c h a f t

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die Haltung des Wissenschaftlers z u m N S - R e g i m e und seiner Politik in den Jahren ab 1934 angesichts dieser Berührungsflächen weiterentwickelt hätte, falls er nicht als „Jude" diskriminiert worden wäre, ist spekulativ. Welchen Einfluß etwa die kriegerische Expansionspolitik des Regimes, die auf viele Wissenschaftler radikalisierend wirkte, auf R o t h f e l s ' intellektuelle Arbeit gehabt hätte, läßt sich nicht ermessen. Vor allem m u ß eine solche B e t r a c h tung das ausblenden, was die Person Rothfels seit 1933 geradezu konstituierte: die Ausgrenzung, die für den H i s t o r i k e r eine zentrale Erfahrung dieser J a h r e war, welche auch für die nächsten J a h r z e h n t e ein biographischer Angelpunkt bleiben sollte.

IV. D i e z w ö l f J a h r e des Exils von 1939 bis 1951 stellen die wissenschaftlich unproduktivste Phase in der akademischen Laufbahn des Historikers dar. D a bei weist R o t h f e l s ' akademische Karriere in den U S A , im K o n t e x t der deutschen Wissenschaftsemigration betrachtet, zunächst einmal einen typischen Verlauf auf. Sie vollzog sich in zwei Phasen nach dem Muster einer fortgesetzten, aber verzögerten Karriere, das sich bei den meisten emigrierten H i storikern, aber auch in anderen Disziplinen beobachten läßt 2 1 . In der Regel folgte einem Zeitraum anfänglicher Statusunsicherheit mit kurzfristigen A r beitsverhältnissen an vorwiegend kleineren Universitäten und Colleges ab den fünfziger Jahren eine Phase der beruflichen Konsolidierung mit dauerhaften Anstellungen. Dieses Muster zeigt sich auch im Fall von R o t h f e l s , der seit 1940 eine jährlich verlängerte Gastprofessur an der B r o w n U n i v e r sity in Providence innehatte, bevor er 1946 an die Universität C h i c a g o berufen wurde. D e r ehemalige K ö n i g s b e r g e r Ordinarius gehörte damit zu den wenigen deutschen Historikern, die an eine der renommierten amerikanischen Universitäten gelangten. B e z i e h t man das späte Auswanderungsdatum, die Karriereunterbrechung in England und den vergleichsweise frühen Z e i t p u n k t der akademischen Etablierung im Ausland mit ein, so war R o t h fels' Exilkarriere wissenschaftssoziologisch gesehen ungewöhnlich erfolgreich. D i e s e Tatsache kann gleichwohl nicht den Blick darauf verstellen, daß R o t h f e l s im amerikanischen Exil insgesamt eine eher randständige Wissen-

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nisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im N S Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5—40; Thomas Etzemüller, Sozialgcschichte als politische Geschichte. Werner C o n z e und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 268-309; Oexle, Zusammenarbeit. Vgl. dazu für die deutschen Historiker Gabriela Ann Eakin-Thimme, Deutsche Nationalgeschichte und Aufbau Europas. Deutschsprachige jüdische Historiker im amerikanischen Exil, in: Exilforschung 19 (2001), S. 6 5 - 7 9 .

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schaftlerexistenz führte. Das traf insbesondere auf seine Tätigkeit in Providence zu, wo er akademisch weitgehend isoliert war. Die Berufung an die Universität Chicago bedeutete dann eine einschneidende Veränderung der Arbeitsbedingungen, da Rothfels hier optimale Voraussetzungen für die Fortführung seiner geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit fand. Neben den besseren Lehrmöglichkeiten bestanden sie zum einen in der stärkeren kollegialen Einbindung am neuen universitären Standort. In Chicago hatten sich infolge der Berufungspolitik des Rektors Robert Maynard Hutchins 2 2 mehrere konservative deutsche Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen versammelt, die einen wissenschaftlichen Zirkel bildeten, dem auch Rothfels angehörte. Da der Kreis vorwiegend Probleme der politisch-geistigen Situation in Deutschland nach 1945 diskutierte, fand sich hier ein wichtiges Element gedanklicher Kontinuität. Zum anderen konnte Rothfels, da er als Mitteleuropahistoriker berufen worden war, nahtlos an seine alten Forschungsgebiete anknüpfen, die er lediglich auf eine andere Wissenschaftskultur auszurichten hatte. Auf diese Weise gelang ihm in der Chicagoer Zeit auch die wissenschaftliche Integration in das amerikanische Fach. Sie vollzog sich allerdings gerade nicht als eine Verschmelzung mit dem neuen Wissenschaftsbetrieb und durch die Adaption neuer Forschungsstile. Vielmehr bestand sie darin, daß der emigrierte Historiker die Nischenexistenz eines Spezialisten fand, von dem es geradezu gefordert war, an seinen mitgebrachten wissenschaftlichen Qualifikationen festzuhalten, weil sie sein akademisches Kapital darstellten. Infolgedessen bewegte sich Rothfels, sowohl was die persönlichen Beziehungen als auch was die wissenschaftlichen Foren betraf, in einem relativ abgeschlossenen Segment, das von deutschen Emigranten und amerikanischen Europahistorikern gebildet wurde. Die eigentliche kommunikative Bezugsgruppe des emigrienen Historikers stellten nach Kriegsende ohnehin bald wieder die ehemaligen deutschen Schüler und Kollegen dar. Rothfels' Geschichtsschreibung der Emigrationsphase war weder thematisch noch methodisch neu konzipiert. Er publizierte Abhandlungen zur Umsiedlung der Baltendeutschen im „Dritten Reich", zu den Vertreibungen der Deutschen aus Ostmitteleuropa, später zur Revolution von 1848 in ihrem mitteleuropäischen Kontext, zum Freiherrn vom Stein sowie einmal mehr zu Bismarck 23 . Auch auf der Analyse- und Deutungsebene kam es

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Vgl. Joachim Radkau, Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluß auf die amerikanische Europapolitik 1933-1945, Düsseldorf 1971, S. 215-219. Vgl. dazu Russians and Germans in the Baltic, in: Contemporary Review 157 (1940), S. 320-326; The Baltic Provinces: Some historic Aspects and Perspectives, in: Journal of Central European Affairs 4 (1944), S. 117-146; Russia and Central Europe, in: Social Research 12 (1945), S. 304-327; Frontiers and Mass Migrations in Eastern Central Europe, in: The Review of Politics 8 (1946), S. 37-67; Stein und die Neugründung der Selbstverwaltung, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Uberlieferung 1 (1947), S. 154-167; Problems of a Bis-

G e s c h i c h t e als G e g e n w a r t s w i s s e n s c h a f t

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nicht zu fundamentalen U m o r i e n t i e r u n g e n . Seine Texte schrieben die alten Ergebnisse fort, waren nun allerdings an die neuen historischen und politischen Realitäten angepasst. D i e wesentlichen Veränderungen bestanden in Weglassungen (wie etwa der Volksperspektive), in manchen Passagen war die vormalige D e u t s c h t u m s z e n t r i e r u n g auf den „Westen" umcodiert. Allerdings lag etwa der 1946 erschienene Aufsatz „Frontiers and Mass Migrat i o n " , der eine historisch gestützte Kritik an den Potsdamer Beschlüssen enthielt, argumentativ ganz auf der Linie der revisionistischen Nationalitätenarbeiten aus der Zwischenkriegszeit; er wurde dementsprechend in Deutschland mit dankbarer Z u s t i m m u n g aufgenommen. R o t h f e l s ' H i s t o r i o g r a p h i e der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte vor allem eine R ü c k k e h r in den deutschen nationalpolitischen D e u t u n g s k o n sens dar. D e r C h i c a g o e r P r o f e s s o r entwarf hier Interpretationen, die die Selbstsicht der post-nationalsozialistischen Historikerschaft und breiterer Teile der westdeutschen Geschichtsöffentlichkeit artikulierten, und forderte von der amerikanischen Ö f f e n t l i c h k e i t die historische A n e r k e n n u n g dieser Selbstdeutungen ein. D a s Resultat war eine Geschichtsversion, die die vermeintlich positiven oder d o c h wenigstens tolerablen Züge der deutschen Nationalgeschichte herausfilterte und als ausschlaggebend wertete. D a s zeigte sich an der Verurteilung der Vertreibungen der deutschen B e v ö l k e rung aus dem O s t e n e b e n s o wie an R o t h f e l s ' Stellungnahme in der K o n tinuitätsdebatte, in der er B i s m a r c k s Politik und das deutsche Kaiserreich explizit und kategorisch v o m Nationalsozialismus absetzte 2 4 . A m wirkungsvollsten vollzog sich die Wiedereinpassung in die westdeutsche Interpretationsgemeinschaft aber über das T h e m a des deutschen W i derstands gegen das N S - R e g i m e . D i e Widerstandshistoriographie, an der der emigrierte H i s t o r i k e r vermutlich seit 1 9 4 6 / 4 7 arbeitete, blieb in den folgenden J a h r z e h n t e n die einzige F o r m , in der er über die N S - G e s c h i c h t e schrieb. R o t h f e l s forschte nie selbst über Aspekte des N S - H e r r s c h a f t s s y s tems oder gar über die N S - V e r b r e c h e n s p o l i t i k , die in seinen Texten jeweils nur die F o l i e des „anderen D e u t s c h l a n d s " darstellten. Das B u c h „ D i e D e u t sche O p p o s i t i o n gegen H i t l e r " , 1948 auf englisch, ein J a h r darauf in einer inhaltlich und konzeptionell nahezu unveränderten deutschen U b e r s e t z u n g e r s c h i e n e n 2 5 , lieferte zunächst eine apologetische D e u t u n g der z w ö l f J a h r e nationalsozialistischer H e r r s c h a f t und bewegte sich damit ganz auf der L i nie praktisch aller frühen Widerstandsdarstellungen 2 6 . D i e D e u t s c h e n er-

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marck Biography, in: The Review of Politics 9 (1947), S. 363-380; 1848 - O n e Hundred Years After, in: The Journal of Modern History 20 (1948), S. 2 9 1 - 3 1 9 . Vgl. dazu Hans Rothfels, Bismarck und das neunzehnte Jahrhundert, in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, Düsseldorf 1950, S. 233-248. The German Opposition to Hitler. An Appraisal, Hinsdale/Ill. 1948; Die Deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Krefeld 1949. Zu Rothfels' Position im Kontext der zeitgenössischen historischen und publizistischen Wi-

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schienen in dem B u c h als die eigentlichen O p f e r eines terroristischen R e gimes, nichtdeutsche Opfergruppen wurden explizit nicht erwähnt. D e r Nationalsozialismus stellte kein spezifisches Produkt der deutschen G e schichte, sondern das S y m p t o m einer gemeineuropäischen Krise der M o derne dar; insbesondere wurde auch der Antisemitismus der deutschen G e sellschaft als verschwindend gering veranschlagt. D e r konservative Widerstand fungierte als ein Gegenbild zum so gedeuteten Nationalsozialismus, und ihm kam die zentrale Rehabilitierungsfunktion für die nationalsozialistische Gewaltpolitik zu. D a m i t bot der Text ein entlastendes Geschichtsbild, das in den emphatischen Leserreaktionen des westdeutschen Publikums als „Befreiung" empfunden wurde. Seine große intellektuelle Wirkung entfaltete das B u c h aber nicht nur wegen seines N S - B i l d e s , das so oder so ähnlich in einer ganzen Reihe zeitgenössischer Schriften gezeichnet wurde, sondern vor allem wegen der Position des Sprechers: D e n n hier erklärte ein vom Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen H e r k u n f t vertriebener Historiker - dazu in der ersten geschichtswissenschaftlichen G e samtdarstellung zum T h e m a - die überwiegende Mehrheit seiner Landsleute für schuldlos. So vollzog sich über die Rezeption des Oppositionsbuches ein Verständigungsprozeß zwischen dem Emigranten und denen (insbesondere denjenigen Historikern), die während des „Dritten R e i c h e s " in Deutschland geblieben waren. D i e zahlreichen metakommunikativen Signale des Textes, in denen der A u t o r sein Verständnis für die deutsche Situation und eine bewußte Zurückhaltung im Urteil andeutete, wurden mit einem Sturm von Dankesbezeugungen beantwortet, in denen die „Gerechtigkeit" und „Milde" von Rothfels' historischer Analyse gerühmt wurden. „Sie verstehen die deutsche Welt eben doch von innen h e r " , befand etwa der Staatsrechtler Rudolf S m e n d 2 7 und bescheinigte dem Emigranten damit wie viele andere Leser seine unveränderte Zugehörigkeit zur historischen Deutungsgemeinschaft. In diesem Rezeptionsprozeß wurde aber ebenfalls deutlich, welche Voraussetzungen der nunmehrige amerikanische Staatsbürger dafür zu erfüllen hatte. D e n n die positive Aufnahme seiner Darstellung beruhte darauf, daß er jegliche Verbitterung über die eigene Verfolgung unterdrückte und zu den eigenen Leidenserfahrungen in der N S - Z e i t schwieg. Wurde das B u c h über den deutschen Widerstand für die deutschen Leser zu einer Nagelprobe auf die „Gesinnung" des Emigranten, so bedeutete die Arbeit an dem T h e m a auch für diesen eine Vorklärung. Rothfels verarbeitete die Erfahrung, von den eigenen Landsleuten diskriminiert und aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen worden zu sein, in der geschichtli-

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derstandsdarstellungen vgl. Jan Eckel, Intellektuelle Transformation im Spiegel der Widerstandsdeutungen, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 140-176. BA Koblenz, Ν 1213/28, Smend an Rothfels, 20. 3. 1949.

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chen Reflexion, indem er klarstellte, daß es nicht das „wahre" Deutschland gewesen sei, das ihn als „Untermenschen" stigmatisiert hatte. Das eigentliche historische Gesicht der deutschen Nation offenbarte sich auch in der autobiographischen Deutung des Historikers im „anderen Deutschland" des konservativen Widerstands, in dem sich die vermeintlich echten Traditionen der deutschen Geschichte verkörperten. Insofern hatte die historiographische Arbeit wie auch deren Rezeption für Rothfels eine lebensgeschichtliche Vergewisserungsfunktion, die die Remigration bereits anbahnte. Die Tatsache, daß der emigrierte Historiker in den ersten fünf Jahren nach Kriegsende drei Rufe an deutsche Universitäten erhielt 2 8 , ist ein Indiz dafür, daß er als ein Wissenschaftler wahrgenommen wurde, der sich der westdeutschen scientific community nicht entfremdet hatte. Der Entschluß zur Rückkehr nach Deutschland fiel dennoch schwer, wobei verschiedene Gründe zusammenspielten. Gegen die Rückkehr sprachen familiäre Aspekte, die mühsam errungene günstige Position in Chicago sowie die Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Deutschland fünf Jahre nach der NS- Herrschaft. Zudem schien der amerikanische Lehrstuhl, der Einschätzung des Emigranten wie seiner deutschen Kollegen zufolge, auch die Aussicht auf eine größere nationalpädagogische Wirksamkeit zu gewährleisten, konnte Rothfels in Chicago doch die deutschen geschichtspolitischen Anliegen von einer prestigereichen Stellung aus „vor der westlichen Öffentlichkeit" vertreten. Die Fachgenossen jedenfalls sahen ihn als einen deutschen „Außenposten" im Land der wichtigsten Besatzungsmacht 2 9 . Gerade in diesem Punkt hatte sich Rothfels' Urteil jedoch 1950, als er einen Ruf von der Universität Tübingen erhielt, gewandelt. Nachdem er den Universitätsbetrieb in Chicago zunehmend als „Leerlauf" empfand 3 0 , schienen sich die größeren pädagogischen Einflußmöglichkeiten nun in der Bundesrepublik zu eröffnen. Außerdem hatte Rothfels seine persönlichen Bedenken mittlerweile überwunden, nachdem die Wiederanknüpfung freundschaftlicher und akademischer Beziehungen in der brieflichen Kommunikation wie insbesondere auf einer mehrmonatigen Deutschlandreise im Sommer 1949 über Erwarten gut gelungen war. Was sich in den Überlegungen über die Rückkehr schließlich durchsetzte, war „das Empfinden des .natürlichen* Standorts" 3 1 . Mit diesem Entschluß stellte Hans Rothfels in doppelter Hinsicht einen Sonderfall dar. Zwar kehrte auch er, wie die meisten akademischen Remigranten, erst nach der Gründung der BundesrepuEine Berufung von Rothfels scheint ferner an der Berliner Universität erwogen worden zu sein. Vgl. dazu Staatsbibliothek (künftig: S B ) Berlin, N L Fritz Härtung L I X , 27, Härtung an Rothfels, 7. 12. 1948 [recte: 1947], ^ B A K o b l e n z , Ν 1213/186, Hans Herzfeld an Rothfels, 27. 1. 1947. 30 B A Koblenz, N 1 1 0 2 / 8 2 , Rothfels an Epstein, 30. 11. 1950. 31 S U B G ö t t i n g e n , C o d . Ms. S.A. Kaehler 1,144c, Rothfels an Kaehler, 20. 3. 1951. 28

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blik zurück, als sich die politische Situation weitgehend stabilisiert hatte. Doch gehörte er erstens zu den äußerst wenigen rassistisch verfolgten Emigranten, die den Weg zurück fanden, und zweitens zu den relativ wenigen Wissenschaftlern, die ihre Laufbahn in Deutschland fortsetzten. Unter den emigrierten Historikern war Rothfels der einzige, der wieder in die Bundesrepublik übersiedelte, um dort einen Lehrstuhl zu übernehmen. Inwiefern die Erfahrung des amerikanischen Exils dem deutschen Historiker Anstöße für eine politische Umorientierung gab, ist schwer zu bewerten, da die Zeugnisse aus dieser Zeit, vor allem bis Kriegsende, spärlich sind. Es bleibt so im wesentlichen nur die Möglichkeit, aus Rothfels' historiographischer Produktion der späten vierziger sowie der fünfziger und sechziger Jahre auf Wandlungsprozesse zurückzuschließen. Doch stellte das fraglos veränderte intellektuelle Profil des Historikers, das sich für diese Zeit abzeichnet, eben auch ein Resultat der Verarbeitung von Erfahrungen aus der Zeit nach der Emigration dar: in biographischer Hinsicht gilt dies für die Remigrationsvorgänge und die erst heikle, schließlich aber gelungene Reintegration in die deutsche Nachkriegsgesellschaft, in politischer Hinsicht für die Entwicklung der Bonner Republik mit ihrer gegenüber Weimar veränderten Demokratiekonzeption und in wissenschaftlicher Hinsicht für die neuen Ausgangsbedingungen einer deutschen Nationalhistorie, die durch die NS-Verbrechen und die Weltkriegsniederlage, die deutsche Teilung und die globale ideologische Konfrontation markiert waren. Habituell jedenfalls hatte sich der deutsch-amerikanische Historiker in der Exilzeit nicht verändert. So bemerkte etwa Fritz Härtung, mit dem Rothfels vor der Auswanderung in engerem Austausch gestanden hatte, nach dem ersten Wiedersehen: „Er ist von all den Emigrierten, die mich im Lauf der Jahre besucht haben, am deutschesten geblieben, in der Sprache und allem Äußerlichen, im Wesen wohl erst recht." 3 2

V. In den fünfziger und sechziger Jahren erlangte Rothfels durch seine Mitarbeit an dem Großprojekt der „Dokumentation der Vertreibung", seine Tätigkeit im Wissenschaftlichen Beirat des Münchener Instituts für Zeitgeschichte und als Herausgeber der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte", seine Rolle als deutscher Hauptherausgeber der „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik" und als Vorsitzender des Historikerverbandes eine herausragende Position. Spätestens seit Anfang der sechziger Jahre war er einer der einflußreichsten Wissenschaftsmanager des Faches 33 . Diese Häu32 33

SB Berlin, N L Fritz Härtung XLVI, 1, Härtung an Friedrich Baethgen, 18. 8. 1949. Zur Dokumentation der Vertreibung siehe die Arbeiten von Mathias Beer, zuerst: Im Span-

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fung von Funktionen war das Produkt einer spezifischen Außenwahrnehmung des Historikers, bei der seine Biographie, seine Geschichtsschreibung der frühen Nachkriegszeit und das damit verbundene fachinterne Auftreten zusammenwirkten: Als „jüdisches" NS-Opfer, das die Gesellschaft seiner Verfolger schon durch die physische Rückkehr rehabilitierte, genoß Rothfels hohes moralisches Ansehen; inhaltlich fügte er sich in den historischen Interpretationskonsens ein, formulierte ihn in manchen Aspekten sogar vor, und vertrat mit seinen Geschichtsdeutungen die deutsche Selbst- und Innensicht vor der internationalen Öffentlichkeit; persönlich bemühte er sich um fachinterne Integration und Versöhnung, wobei er den Kreis derjenigen, mit denen er wieder kooperierte und die er wieder als Kollegen akzeptierte, sehr weit zog. Es war diese Kombination von Faktoren, die dazu führte, daß ihm immer wieder herausgehobene akademische Posten offeriert wurden. Über seine einflußreiche Stellung im Forschungsbetrieb hinaus erlangte Rothfels damit für das Fach wie für einen Teil der historisch interessierten Öffentlichkeit auch eine singulare symbolische Bedeutung, die für die Wiederherstellung des verunsicherten westdeutschen Geschichtsbewußtseins hoch zu veranschlagen ist. Strategisch nutzte Rothfels seine akademische Position, um das Fach für seine geschichtswissenschaftlichen Ansätze wie auch die seiner engsten Kollegen Werner Conze und Theodor Schieder zu öffnen. Daneben faßte er seine offiziellen und repräsentativen Funktionen in Kontinuität zur Zwischenkriegszeit im Sinne einer wissenschaftspolitischen Flankierungsarbeit auf, mit der er, etwa während seiner Tätigkeit als Verbandsvorsitzender, den Westintegrationskurs der Regierung Adenauer und deren unnachgiebige Deutschlandpolitik zu unterstützen versuchte. Forschungskonzeptionell trug Rothfels, insbesondere durch sein Engagement für die Untersuchung der NS-Geschichte am Institut für Zeitgeschichte, zur Etablierung einer Geschichtsforschung bei, die die negativen Entwicklungen der deutschen Nationalgeschichte kritisch in den Blick nahm, was ein N o v u m der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 darstellte. Dieser Bruch in der wissenschaftlichen Praxis des Historikers ging freilich mit einer ostentativen wissenschaftlichen Rehabilitierungsarbeit wie auch mit interpretatorischen Ausblendungen und Blickverengungen einher. Zudem vollzog Rothfels diesen Bruch lediglich in seinen außeruniversitären organisatorischen n u n g s f e l d v o n Politik und Zeitgeschichte. Das G r o ß f o r s c h u n g s p r o j e k t „ D o k u m e n t a t i o n der V e r t r e i b u n g der Deutschen aus O s t - M i t t e l e u r o p a " , in: Vierteljahrshefte f ü r Zeitgeschichte 4 6 ( 1 9 9 8 ) , S. 3 4 5 - 3 8 9 . Zur Frühgeschichte des Instituts f ü r Zeitgeschichte vgl. die Passagen bei Sebastian C o n r a d , A u f der Suche nach der v e r l o r e n e n N a t i o n . G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g in W e s t d e u t s c h l a n d u n d Japan, G ö t t i n g e n 1 9 9 9 , S. 2 1 9 - 2 6 8 , u n d bei N i c o l a s Berg, D e r H o l o caust u n d die westdeutschen Historiker. E r f o r s c h u n g und Erinnerung, G ö t t i n g e n 2 0 0 3 , S. 2 7 0 - 3 2 2 . Z u m Editionsunternehmen der A k t e n z u r D e u t s c h e n A u s w ä r t i g e n Politik siehe R o l a n d T h i m m e , D a s politische A r c h i v des A u s w ä r t i g e n A m t s . R ü c k g a b e v e r h a n d l u n g e n u n d A k t e n e d i t i o n 1 9 4 5 - 1 9 9 5 , in: Vierteljahrshefte f ü r Zeitgeschichte 4 9 ( 2 0 0 1 ) , S. 3 1 7 - 3 6 2 .

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Jan Eckel

Aufgaben, während die eigenen historiographischen Texte davon kaum berührt wurden; hier blieb er weiter der Beschäftigung mit den positiven Tradition ^beständen der deutschen Geschichte verpflichtet. Auf den Zuschnitt seiner historiographischen Arbeit wirkte sich die neue institutionelle und organisatorische Verankerung insofern aus, als sie die zeitgeschichtliche Ausrichtung unterstützte, zu einer schon durch Zeitknappheit bedingten Abwendung von empirischer Detailforschung führte und den Zug zu grundsätzlich angelegten Deutungssynthesen und „Betrachtungen" (wie nun viele Aufsätze betitelt waren) verstärkte. In den rund zwei Dekaden nach seiner Rückkehr verfolgte Rothfels verschiedene thematische Stränge, von denen einige an seine alten Arbeitsfelder anknüpften, während andere neue Gegenstände behandelten. So setzte der Tübinger Historiker seine Studien über ostmitteleuropäische Nationalitätenfragen fort, wobei er mit seinen Betrachtungen auf die soziopolitischen und ethnographischen Veränderungen reagierte, die das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen für den ostmitteleuropäischen Raum mit sich gebracht hatte. Diese Texte bemühten sich auch um eine Neuinterpretation seiner eigenen wissenschaftlichen Grenzlandarbeit und seiner Nationalitätenkonzepte der Zwischenkriegszeit, in der die chauvinistischen Aspekte nun freilich ausgeblendet waren 3 4 . Zu den neuen Themenfeldern gehörte neben dem Widerstand eine Reihe von Arbeiten, die Rothfels selbst unter dem Rubrum „Zeitgeschichtliche Betrachtungen" faßte. In ihnen entwickelte er, in der F o r m einer universalgeschichtlichen Epochenkonzeption, noch einmal eine ausgreifende und in sich stimmige Gesamtdeutung. Diese bildete die inhaltliche Ausgestaltung der Rothfels'schen „Zeitgeschichte", wie er sie programmatisch im ersten Heft der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte skizziert hatte 3 5 . 34

35

Einer der frühen Texte war: Sprache, Nationalität und Völkergemeinschaft, in: J a h r b u c h der Albertus-Universität zu Königsberg 1 (1951), S. 1 0 8 - 1 2 2 , einer der späten: Religion und Nationalität, in: Fritz Hodeige (Hrsg.), Atlantische Begegnungen. Eine Freundesgabe für Arnold Bergstraesser, Freiburg 1964, S. 1 3 5 - 1 5 2 . Das Folgende stützt sich im wesentlichen auf die Texte: Bismarck und das 19. Jahrhundert; Vom Primat der Außenpolitik, in: Außenpolitik. Zeitschrift für internationale Fragen 1 (1950), S. 2 7 4 - 2 8 3 ; Gesellschaftsform und auswärtige Politik, Laupheim 1951; Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1 - 8 ; Zur Krise des Nationalstaats, in: Ebenda, S. 1 3 8 - 1 5 2 ; Sinn und G r e n z e n des Primats der Außenpolitik, in: Außenpolitik. Zeitschrift für internationale Fragen 6 (1955), S. 2 7 7 - 2 8 5 ; Gesellschaftsordnung und Koexistenz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1956), S. 3 3 3 - 3 4 5 ; Realpolitik als zeitgeschichtliches Problem, in: Matthijs Jolles (Hrsg.), Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung, Bern 1957, S. 1 8 3 - 1 9 8 ; Geschichtliche Betrachtungen zum Problem der Wiedervereinigung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 3 2 7 - 3 3 9 ; Das 19. Jahrhundert, in: Vorträge, gehalten anläßlich der Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung 3 0 . 6 . bis 10. 7. 1957, Bad H o m b u r g 1958, S. 1 0 2 - 1 2 3 ; Einleitung, in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1959, S. 9 - 1 6 ; Geschichtliche Betrachtungen zur weltpolitischen Lage, in: Bericht über die 25.Versammlung deutscher Historiker in Duisburg 17. bis 20. 10. 1962, Stuttgart 1963, S. 1 1 4 - 1 2 6 ; Gleichgewicht als regulierendes Prinzip im europäischen und Weltstaatensystem, in: Saecu-

Geschichte als Gegenwartswissenschaft

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D a b e i d a t i e r t e der H i s t o r i k e r in einer ersten D e u t u n g s o p e r a t i o n

das

„19. J a h r h u n d e r t " als das nationalstaatliche J a h r h u n d e r t auf den Z e i t r a u m v o n 1 8 4 8 bis 1 9 1 7 u n d interpretierte es als ein „ a n o r m a l e s Z w i s c h e n j a h r h u n d e r t " . D a s B e s t i m m u n g s k r i t e r i u m dafür war, wie es R o t h f e l s in R a n k e s c h e r T e r m i n o l o g i e f o r m u l i e r t e , das V o r h e r r s c h e n d e r „ V e r t i k a l e n " ü b e r die „ H o r i z o n t a l e n " . E s bestanden d e m n a c h die p r i m ä r e n w e l t p o l i t i s c h e n A n t a g o n i s m e n z w i s c h e n den e i n z e l n e n , u n t e r e i n a n d e r isolierten Staaten

und

V ö l k e r n , u n d es bildeten sich k e i n e K o a l i t i o n e n ü b e r sie h i n w e g . D e r a r t i g e „universale F r o n t b i l d u n g e n " , die das G e g e n p r i n z i p zu d e n

„Vertikalen"

darstellten, schälten sich erst 1 9 1 7 , mit d e m E i n t r i t t d e r U S A in den W e l t krieg und d e r russischen O k t o b e r r e v o l u t i o n , w i e d e r heraus. S e i t d e m w u r d e die W e l t p o l i t i k d u r c h soziale und i d e o l o g i s c h e „ Q u e r s t r ö m u n g e n "

domi-

niert, die v e r s c h i e d e n e N a t i o n e n u m f a ß t e n o d e r auch e i n z e l n e N a t i o n e n d u r c h z o g e n . S o m i t existierten in diesem E p o c h e n m o d e l l

„seit 1 9 1 8 u n d

nicht erst seit 1 9 4 5 zwei prinzipiell v e r s c h i e d e n e g e s e l l s c h a f t l i c h e S y s t e m e in der Welt d e r g r o ß e n M ä c h t e n e b e n e i n a n d e r " 3 6 . M i t diesen K o o r d i n a t e n w a r d e r Z e i t r a u m der „ G e g e n w a r t " a b g e s t e c k t . I n d e m R o t h f e l s die b i p o l a r e O s t - W e s t - K o n f r o n t a t i o n z u m S i g n u m dieser E p o c h e e r h o b , hatte er den B e g i n n des K a l t e n K r i e g e s g e w i s s e r m a ß e n auf 1 9 1 7 z u r ü c k d a t i e r t . In e i n e m w e i t e r e n i n t e r p r e t a t o r i s c h e n S c h r i t t v e r l ä n g e r t e d e r T ü b i n g e r H i s t o r i k e r diese K o n s t e l l a t i o n bis in die f r ü h e N e u z e i t z u r ü c k . E i n e P a r a l l e l e p o c h e z u r G e g e n w a r t der „ Z e i t g e s c h i c h t e " v e r o r t e t e er im k o n f e s s i o n e l len Zeitalter. H i e r w a r e n es die religiösen B e w e g u n g e n u n d s o m i t w i e d e r u m , g a n z wie in der G e g e n w a r t , „ i d e o l o g i s c h e " P a r t e i u n g e n , die die einz e l n e n Staaten gespalten und überstaatliche Solidaritäten hergestellt h a t t e n . E i n e z w e i t e A n a l o g i e stellte das Z e i t a l t e r der F r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n dar, in d e m eine r e v o l u t i o n ä r e „ Q u e r s t r ö m u n g " ü b e r die Staaten h i n w e g g e l a u fen w a r u n d sie im I n n e r e n polarisiert hatte. D u r c h diese B e t r a c h t u n g e n v e r s c h a f f t e R o t h f e l s der Z e i t g e s c h i c h t e ein weit z u r ü c k r e i c h e n d e s F u n d a m e n t , das aus e i n e m S y s t e m v o n A n a l o g i e e p o c h e n b e s t a n d . D e n w e l t p o l i t i s c h e n B e w e g u n g e n seit 1 9 1 7 w i d m e t e d e r H i s t o r i k e r eine R e i h e v o n E i n z e l a n a l y s e n . D a b e i b e s t i m m t e er den C h a r a k t e r d e r E p o c h e d a d u r c h näher, d a ß er v e r s c h i e d e n e T h e o r e m e b i l d e t e , die er ü b e r die ges a m t e Z e i t s p a n n e verfolgte. E i n e s d a v o n w a r der „ P r i m a t der I n n e n p o l i t i k " , in d e m R o t h f e l s ein K e n n z e i c h e n d e r G e g e n w a r t seit 1 9 1 7 e r b l i c k t e . D a m i t w a r ein gesteigerter E i n f l u ß i n n e n - u n d g e s e l l s c h a f t s p o l i t i s c h e r K o n z e p t i o nen

auf

die

Außenpolitik

gemeint

-

während

im

nationalstaatlichen

19. J a h r h u n d e r t der „ P r i m a t der A u ß e n p o l i t i k " g e h e r r s c h t habe. M i t d e r F o r m e l v o m „ P r i m a t der I n n e n p o l i t i k " b r a c h t e d e r H i s t o r i k e r das P h ä n o -

36

lum 19 (1968), S. 4 0 6 - 4 1 3 ; Sozialstruktur und Außenpolitik, in: Rudolf v. Thadden u.a. (Hrsg.), Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. G e burtstag, Göttingen 1973, S. 13-22. Rothfels, Gesellschaftsform und auswärtige Politik, S. 9.

36

Jan Eckel

men auf den Begriff, daß in der globalen Auseinandersetzung der Gegenwart sowohl der Westen als auch der Osten ihr jeweiliges Gesellschaftsmodell in der Welt durchzusetzen suchten. In diesem Sinne interpretierte Rothfels dann den Versailler Vertrag - als Versuch, eine bürgerlich-kapitalistische und demokratische O r d n u n g in Europa zu verankern - wie auch die sowjetische Außenpolitik der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Einsicht in den „Primat der Innenpolitik" ermöglichte aber auch Ableitungen für die aktuelle politische Lage der Bundesrepublik, die ja dem zeitgeschichtlichen Ansatz gemäß unter den gleichen strukturellen Bedingungen stand, und bewies dabei insbesondere die Notwendigkeit einer Gesellschaftspolitik, die vor der Gefahr einer kommunistischen Penetration schützte. Mit derartigen Denkfiguren interpretierte Rothfels die Epoche der „Zeitgeschichte" als einen in sich einheitlichen Zeitraum, in dem die weltpolitischen Vorgänge denselben Regeln gehorchten. Der Nationalsozialismus fiel als historisches Phänomen aus diesem epochalen Modell heraus. Für die Grundinterpretation einer globalen Zweiteilung seit 1917 war sein Erscheinen ein Irritationsfaktor, was Rothfels dadurch auffing, daß er für die dreißiger und vierziger Jahre die Ausnahmephase einer weltpolitischen „Dreiecks"-Konstellation einführte. Da der Nationalsozialismus dem Interpreten als eine Ubersteigerung des Nationalstaatsgedankens galt, erschien er im ideologischen Zeitalter zudem als ein Anachronismus. Auf diese Weise entwickelte Rothfels in dem „zeitgeschichtlichen" Strang seiner Historiographie nach 1951 noch einmal ein umfassendes und kohärentes Geschichtsbild, wobei er wiederum eine aktuell erlebte historische Konstellation in die Geschichte zurückprojizierte. Es erfüllte erneut eine spezifische Sinnstiftungsfunktion, da in der Stringenz und Geschlossenheit der historischen Erklärungen die real erlebten Diskontinuitäten und Brüche des „Zeitalters der Extreme" praktisch zum Verschwinden gebracht waren. Das Denkschema einer notwendigen staatlichen Stabilisierung nach innen und außen, das Rothfels' Historiographie in den vorherigen Phasen strukturiert hatte, wirkte auch in den fünfziger und sechziger Jahren fort, wobei sich das Schwergewicht auf die Innenseite verschob. Gerade angesichts der Bedrohungen im Systemkonflikt des Kalten Krieges erschien dem Tübinger Historiker das „In-Ordnung-Bringen eines erschütterten sozialen Gefüges" als besonders dringlich 37 . Die Außenseite dieser Denkfigur bezog sich nun nicht mehr auf ein deutsch geführtes „Mitteleuropa", sondern war auf ein „abendländisches", europäisch integriertes Ostmitteleuropa übertragen, das eine Verteidigungsgemeinschaft gegen den Sowjetkommunismus bilden sollte.

37

Ders., Vom Primat der Außenpolitik, S. 283.

Geschichte als Gegenwartswissenschaft

37

Resümee D i e intellektuelle B i o g r a p h i e von H a n s Rothfels setzt sich aus einem Bündel paradigmatischer E r f a h r u n g e n des 20. J a h r h u n d e r t s z u s a m m e n , die in einer spezifischen F o r m verarbeitet und in wissenschaftliche D e u t u n g e n umgesetzt wurden. D i e E n t w i c k l u n g des politischen Profils dieses H i s t o r i k e r s , die in diesem Beitrag nicht eingehend thematisiert wurde, ist dabei repräsentativ für die T r a n s f o r m a t i o n e n eines breiten Segments des konservativen D e n k e n s in D e u t s c h l a n d : von der Republikskepsis nach 1918 über die neokonservative Radikalisierung am E n d e der zwanziger J a h r e mit ihren U b e r schneidungsflächen zum Nationalsozialismus bis hin zur Integration in die Bundesrepublik, gegenüber deren Demokratieverständnis eine gewisse D i stanz bestehen blieb, deren außenpolitische Positionierung insbesondere während der „Ära A d e n a u e r " aber vorbehaltlos unterstützt wurde. Richtet man den B l i c k hingegen auf die Ausstrahlung von R o t h f e l s ' Figur, so treten die biographischen Spezifika hervor, die ihn von anderen Vertretern dieses politisch-weltanschaulichen Lagers unterscheiden. Infolge des lebensgeschichtlichen B r u c h s von 1 9 3 3 / 3 9 k o n n t e der H i s t o r i k e r anders als andere rechtskonservative D e n k e r nicht mit dem N S - R e g i m e kollaborieren und m u ß t e nach 1945 nicht aus der Defensive des k o m p r o m i t t i e r t e n Mitläufers argumentieren, sondern besaß vielmehr eine moralisch unanfechtbare Posit i o n 3 8 . A u f diese Weise wuchs ihm eine zentrale R o l l e für die intellektuelle R e k o n s t r u k t i o n der Geschichtswissenschaft zu. Wissenschaftlich reagierte R o t h f e l s auf die rapide A b f o l g e lebensgeschichtlicher wie politisch-historischer Zäsuren und K a t a s t r o p h e n mit einer Serie historischer Reinterpretationen: zunächst eine G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g der Niederlage als Verarbeitung der krisenhaften Erfahrungseinheit der J a h r e von 1914 bis 1923; dann der U m s c h l a g des fatalistisch-resignativen G e s c h i c h t s b i l d e s in einen radikalen historiographischen A u f b r u c h , in dem die G e s c h i c h t s b e t r a c h t u n g z u m M e d i u m für politische Z u k u n f t s l ö s u n g e n wurde; nach dem Zweiten Weltkrieg die entlastende U m d e u t u n g der j ü n g sten Vergangenheit, die den Nationalsozialismus aus den historischen K o n tinuitäten der deutschen G e s c h i c h t e verbannte; schließlich eine H i s t o r i e des Kalten Krieges, indem die bipolare K o n f r o n t a t i o n der beiden Weltideologien der „ Z e i t g e s c h i c h t e " als M u s t e r unterlegt wurde. D i e U m d e u t u n g s o p e rationen, die R o t h f e l s ' G e s c h i c h t s b i l d e r stets aufs neue anschlußfähig machten, dienten dem Ziel, der jeweiligen G e g e n w a r t einen Sinn zu geben, indem ihr i m m e r wieder eine k o h ä r e n t e Vorgeschichte verschafft wurde.

38

Vgl. als Kontrast: Jerry Z. Muller: T h e O t h e r G o d that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Convervatism, Princeton 1987, sowie die Lebensläufe des klassischerweise in diesem Zusammenhang genannten „Dreigestirns" Martin Heidegger, Ernst Jünger und Carl Schmitt.

38

Jan Eckel

Getragen wurde dieser kontinuierliche Neuorientierungsprozeß von einem Denkschema, das über die Jahrzehnte hinweg konstant blieb und die Historiographie in allen Phasen prägte. Es bestand in einer spezifischen Perzeption der Bedrohung des Staates, deren Kehrseite ein Ordnungs- und Stabilisierungsdenken bildete. Die Genese dieses Denkmusters, das nicht auf Rothfels oder die Geschichtswissenschaft beschränkt war, läßt sich bis zur Jahrhundertwende und damit bis zum Durchbruch der Moderne zurückverfolgen, der im Deutschen Reich um diese Zeit einsetzte 39 . Der wissenschaftliche Lebensweg von Hans Rothfels ist folglich nicht so sehr repräsentativ für ein bestimmtes inhaltliches Konzept und dessen Veränderungen im Verlauf der Jahrzehnte oder für einen bestimmten inhaltlich definierbaren Intellektuellentypus. Sein Beispiel illustriert vielmehr ein spezifisches Verhältnis von gedanklicher Kontinuität und Transformation. Rothfels repräsentiert eine bestimmte Variante der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts, die in dem Prozeß der fortgesetzten Umdeutung von Geschichte bestand. An seiner akademischen Biographie läßt sich der Versuch exemplifizieren, gedanklich „auf der Höhe" zu bleiben und sich das aktuelle Geschehen (auf der Basis eines unveränderten Denkschemas) stets aufs Neue wissenschaftlich anzueignen. Dabei konnten zumindest einzelne inhaltliche Positionen und wissenschaftliche Analysekategorien aufgegeben werden, und kein Gegenstand avancierte zu einem dominierenden Lebensthema, dessen eigendynamische Beharrungskraft „zeitgemäße" Fortentwicklungen blockiert hätte. Rothfels' wissenschaftliche Produktion weist, parallel dazu, auf das lebensgeschichtliche Substrat historiographischer Arbeit hin. Diese läßt sich nicht im Sinne eines biographischen Reduktionismus auf einzelne Erlebnisse zurückrechnen, in ihr wurden aber bestimmte Erfahrungen bewußt reflektiert und unbewußt in historische Deutungen überführt. Sie verdeutlicht damit auch die Sinngebungsfunktion, die der geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit bei dem Bemühen zukommt, die historische Wahrnehmung gegen jede Art von Desorientierung abzusichern, die aus realgeschichtlichen wie subjektiv erfahrenen Brüchen und Diskontinuitäten resultiert.

39

Vgl. zu diesen Überlegungen Gunther Mai, Europa 1 9 1 8 - 1 9 3 9 . Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001, insbes. Kap. I und II; Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. D i e Bundesrepublik in der deutschen Geschichte - eine Skizze, in: Ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse, S. 7—49.

Wolfgang

Neugebauer

Hans Rothfels und Ostmitteleuropa N a t u r g e m ä ß gehen P e r s o n u n d W e r k v o n H a n s R o t h f e l s im

besonderen

M a ß e die Zeithistoriker an - aber d o c h nicht ausschließlich. D e n n

wenn

auch wesentliche S c h w e r p u n k t e im W e r k v o n H a n s R o t h f e l s der jüngsten Vergangenheit gewidmet sind und w e n n auch Rothfels

bekanntermaßen

u n d b e k e n n e n d e r m a ß e n 1 d a s w a r , w a s in j ü n g e r e n Z e i t e n w o h l ein „ e n g a gierter" und e l f e n b e i n t u r m a b g e w a n d t e r Wissenschaftler genannt

worden

w ä r e , s o h a t e r d o c h in s e i n e r K ö n i g s b e r g e r P h a s e a u c h d i e z e i t l i c h e n D i m e n s i o n e n s e i n e r A r b e i t e n e r w e i t e r t . D e s h a l b m a g es g e r e c h t f e r t i g t e r s c h e i nen, w e n n die Debatte ü b e r R o t h f e l s aus einem eigentlich f r ü h n e u z e i t l i c h e n Forschungsinteresse2 heraus u m eine - n o t w e n d i g e r w e i s e k n a p p e - A n a l y s e derjenigen Forschungsstrategien, theoretischen Grundlagen und politischpraktischen Resultate ergänzt w i r d , die die Beschäftigung mit demjenigen Teil E u r o p a s b e t r e f f e n , w e l c h e n d i e i n t e r n a t i o n a l e , g e r a d e a u c h d i e d e u t s c h e und die polnische F o r s c h u n g u n t e r d e m Begriff O s t m i t t e l e u r o p a zu erfassen sucht3. 1

2

3

Siehe Hans Rothfels, Vorwort, in: Ders., Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935, S. V-X, hier S. V; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens. Ein Beitrag zur geschichtlichen Auffassung des Reichs. Vortrag auf dem deutschen Historikertag 1932, zuerst erschienen 1932/33, in: Ebenda, S. 65-92, hier S. 89; vgl. schon Werner Conze, Hans Rothfels, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 311-360, hier S. 317 („bleibende Verbindung von Geschichte und Gegenwartspolitik"). Vgl. Wolfgang Neugebauer, Hans Rothfels' Weg zur vergleichenden Geschichte Ostmitteleuropas, besonders im Ubergang von früher Neuzeit zur Moderne, in: Michael G. Müller (Hrsg.), Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht, Berlin 1996, S. 333-378. Vgl. Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, bes. S. 33—41 u. S. 70-72; zur geographischen Eingrenzung siehe Oskar Halecki, Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas, Salzburg 1956, S. 20-24 und passim; Jenö Szücs, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt a.M. 1990, bes. S. 16 ff., Rußland in seinem Verhältnis zu Ostmitteleuropa S. 54-89, Stände und Absolutismus S. 79; vgl. auch das bis zur Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert führende Nachlaßfragment von Werner Conze, Ostmitteleuropa von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, München 1992, bes. S. 1-11; aus der speziellen Literatur sei verwiesen auf Orest Subtelny, Domination of Eastern Europe. Native Nobilities and Foreign Absolutism, 1500-1715, Kingston/Montreal 1986, S. 14-35, ferner auf den Sammelband, hervorgegangen aus einer Berliner Tagung einschlägig forschender Kollegen aus Polen, Tschechien, Ungarn und Deutschland; Joachim Bahlcke u.a. (Hrsg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Ubernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.-18. Jahrhundert, Leipzig 1996, jeweils mit

40

W o l f g a n g Neugebauer

Als Hans Rothfels 1926 im Alter von 35 Jahren auf den Königsberger Lehrstuhl kam, waren die Distanzen zu seinen liberaleren Lehrern Friedrich Meinecke und Hermann Oncken schon gewachsen 4 , wenngleich Meineckes Ansatz, wie er in „Weltbürgertum und Nationalstaat" niedergelegt worden war, für Rothfels prägend blieb. Vielleicht ist Meineckes Differenzierung von Kulturnation und Staatsnation 5 auch noch in der Hochschätzung kulturnationaler Autonomiekonzepte wiederzufinden, mit denen sich Rothfels um 1930 beschäftigte. Bis dahin, bis zur Habilitation 6 und zum Ruf nach Königsberg 7 , hatte Rothfels mehr nach dem Westen, etwa auf die Englandpolitik Bismarcks, als auf den Osten Europas geblickt. Nach Ostpreußen ist Rothfels nicht gerne gegangen 8 . Will man Inhalt und Stil der Arbeiten Rothfels' analysieren, so ist es nötig, einige Stichworte zum politischen Kontext seines Königsberger Amts zu geben, das er bis zu seiner - sagen wir - Abdrängung durch die Nationalsozialisten 1934/35 innehatte 9 . Denn seine in der Tat deutlichen politischen

4

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7 8

9

Nachweis der spezifischen Literatur; in diesem Band auch Wolfgang Neugebauer, Raumtypologie und Ständeverfassung. Betrachtungen zur vergleichenden Verfassungsgeschichte am ostmitteleuropäischen Beispiel, S. 283-310; zum Ausgangsfeld des eigenen Forschungsinteresses vgl. noch Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen, Goldbach 1995. Soweit zustimmungsfähig Karl Heinz Roth, Hans Rothfels. Geschichtspolitische Doktrinen im Wandel der Zeiten. Weimar - NS-Diktatur - Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 1061-1073, hier S. 1062; siehe weiter Hans Mommsen, Hans Rothfels, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. IX, Göttingen 1982, S. 127-147, hier S. 130 f.; Conze, Hans Rothfels, S. 313 f.; Theodor Schieder, Hans Rothfels zum 70. Geburtstag am 12. April 1961, in: VfZ 9 (1961), S. 117-125, hier S. 117; Hans Mommsen, Geschichtsschreibung und Humanität. Zum Gedenken an Hans Rothfels, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hrsg.), Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Aufsätze Hans Rothfels zum Gedächtnis, Stuttgart 1976, S. 9-27, hier S. 9 - auch schon zu „sachlichen und politischen Meinungsverschiedenheiten" zwischen Rothfels und Meinecke in den zwanziger Jahren. Spannungen waren bereits 1919 und dann wieder 1924 und 1927 erkennbar: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStAPK), I. Hauptabteilung (jetzt: VI. HA), Rep. 92, NL Meinecke, Nr. 39. Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München 1908, S. 3. Vgl. Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv, Habilitationen der Phil. Fak., Lit. Η, Nr. 1, Vol. 43 (neue Nr. 1240); Hans Rothfels, Bismarcks englische Bündnispolitik, Berlin 1924, zu den Akten siehe S. 8; vgl. ebenso Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871-1918, München 1989, S. 63, und das Register S. 150. Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 76 V', Sekt. 11, Tit. 4, Nr. 21, Bd. 31; Bundesarchiv (künftig: BA) Koblenz, N L 2 1 3 , Nr. 20. Vgl. Conze, Hans Rothfels, S. 321 mit Anm. 30; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms., S.A. Kaehler 1, 144a, zu 1926 und 1929 (Integrationsprobleme); Peter Thomas Walther, Von Meinecke zu Beard? Die nach 1933 in die USA emigrierten deutschen Neuhistoriker, Diss. Phil., Buffalo/NY 1989, S. 48 f. Vgl. Neugebauer, Hans Rothfels' Weg, in: Müller (Hrsg.), Osteuropäische Geschichte, S. 340 ff., mit den dort angegebenen Quellen; vgl. auch Karl Olaf Petters, Hans Rothfels. Ein Historiker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Magisterarbeit Universität Hamburg 1994, Mikrofiche-Ausgabe: Egelsbach-Frankfurt a.M. 1995, S. 13; wichtige Ergänzungen jetzt aus den Akten bei Martin Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil 1:

H a n s R o t h f e l s und O s t m i t t e l e u r o p a

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Aussagen gegen den Vertrag von Versailles und die aus ihm resultierenden ökonomischen Folgen und großflächigen Bevölkerungsverschiebungen 1 0 , die Forderung, daß Versailles nicht das letzte W o r t der Weltgeschichte sein dürfe, waren in den zwanziger Jahren - was heute nicht immer in Rechnung gestellt wird - denkbar weit verbreitet. Die Frontstellung gegen Versailles und alles, was damit zusammenhing, war kein Reservat der militanten deutschen Rechten 1 1 , sie war fast ein politischer Gemeinplatz in den Weimarer Jahren. Sogar die K P D sprach vom „Raubfrieden", der Deutschland zu einem „ u n t e r d r ü c k t e ^ ] " Land gemacht habe. Die F o r d e r u n g nach G r e n z revisionen im Osten gehörte selbst in den besten Weimarer Jahren zum Standardrepertoire politischer Zielvorstellungen, auch zu den Maximen eines Gustav Stresemann 1 -. D a ß der polnische K o r r i d o r nicht bleiben dürfe, war nicht allein P r o g r a m m der Rechten, es war die Meinung der amtlichen Politik der Weimarer Reichskabinette, die freilich daran glaubten, daß man dazu auch auf nicht-militärischem Wege gelangen könne 1 3 . D e r deutsche

I=

Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939, Wiesbaden 2000, S. 173, S. 285 u. S. 553. Vgl. ζ. B. Hans Rothfels, Der Vertrag von Versailles und der deutsche Osten. Sonderabdruck aus „Berliner Monatshefte" 12 (1934), Berlin 1934, S. 18 f., S. 21 f. u. S. 9, Anm. 14: großflächige „Austreibung der Deutschen in Westpreußen"; ders., Selbstbestimmungsrecht und Saarabstimmung, in: Berliner Monatshefte 13 (1935), S. 32—48, bes. S. 45—48; ders., Der Osten, Preußen und das Reich. Rede auf dem „Preußentag" der nationalen Verbände 1927, in: Ders., Ostraum, S. 1 - 1 4 , hier S. 1 f. Zur politischen Position Rothfels' ist die Korrespondenz aus dem Jahre 1929 erhellend, die er mit Hans Delbrück geführt hat, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, N L Hans Delbrück; aus der sekundären Literatur vgl. Gottfried Niedhart, Deutsch-jüdische Neuhistoriker in der Weimarer Republik, in: Walter Grab (Hrsg.), Juden in der deutschen Wissenschaft. Internationales Symposium April 1985, Tel-Aviv 1986, S. 147-176, hier S. 161; Mommsen, Hans Rothfels, in: Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, S. 137; Walther, Von Meinecke zu Beard?, S. 5 4 - 5 8 , und auch schon Clarence W. Pate, The Historical Writing of Hans Rothfels from 1914 to 1945, Diss. Phil., B u f f a l o / N Y 1973, S. 247 ff.; Wolfgang Benz, Hans Rothfels und das Problem der deutschen Ostgrenze nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Ders. (Hrsg.), Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1980, S. 192-213, hier S. 197.

11

Vgl. Wolfgang Neugebauer, Wissenschaftskonkurrenz und politische Mission. Beziehungsgeschichtliche Konstellationen der Königsberger Geisteswissenschaften in der Zeit der Weimarer Republik, in: Bernhart Jähnig/Georg Michels (Hrsg.), Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen, Lüneburg 2000, S. 741-759, hier S. 744; vgl. jüngst Heinrich August Winkler, Hans Rothfels - Ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus", in: VfZ 49 (2001), S. 643-652, hier S. 643 f.

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Aus der Literatur: Andreas Hillgruber, „Revisionismus" - Kontinuität und Wandel in der Außenpolitik der Weimarer Republik, in: H Z 237 (1983), S. 5 9 7 - 6 2 1 , hier S. 611; Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 177f., S. 180; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart u.a. 1984, S. 2 0 f . (Ebert), S. 552f.; Wolfgang Wippermann, Der „deutsche Drang nach O s t e n " . Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981, S. 105f. (u.a. zur SPD); siehe auch Eduard Mühle, „Ostforschung". Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 46 (1997), S. 3 1 7 - 3 5 0 , hier S. 328 f.

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Siehe schon Ludwig Zimmermann, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Repu-

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Wolfgang Neugebauer

Revisionsvorbehalt hinsichtlich der Grenzen im Osten war schließlich auch eine gemeinsame Basis der deutsch-sowjetischen Beziehungen in dieser Zeit, wie denn ja auch Rußland die gemeinsame Grenze zu Polen in der damaligen Form nicht akzeptierte 14 . Der - um mit Klaus Zernack zu sprechen - „undifferenzierte, nationaldemokratische Integrationsnationalismus" des polnischen Staates brachte Polen in schärfste Konflikte mit seinen Nachbarn 1 5 . Die Kriege mit Rußland, aber auch mit dem jungen litauischen Staat (Uberfall Polens auf Wilna) widerlegen das gängige Bild einer osteuropäischen Zwischenkriegsidylle, zunächst allein gestört von ein paar revisionswütigen Königsberger Geschichtsprofessoren. Die gegenseitigen Grenzforderungen und Gebietsansprüche - offizielle und halbamtliche - belegen, daß sich die Grenzlinien der Pariser Vorortverträge nicht jener selbstverständlichen Akzeptanz erfreuten, die man im Lichte folgender Katastrophen erwarten oder wünschen sollte 16 . Die osteuropahistorische Spezialforschung hat denn auch gezeigt, wie real die Hintergründe jener Bedrohungsängste waren, die auch die A r beit an der „Grenzlanduniversität" Königsberg prägten. Daß ausgerechnet im „Kreis um Pilsudski Hitlers Machtergreifung als Chance eines Neubeginns im polnisch-deutschen Verhältnis begrüßt" worden ist, daß man auch in Warschau der Meinung war, mit einem gebürtigen Österreicher als deutschem Reichskanzler würde man politisch besser fahren, zeigt den Grad makabrer Verirrungen, zu der die Lage im Osten Mitteleuropas führte 1 7 .

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blik, Göttingen 1958, S. 337-341; und H e r b e n Heibig, Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958, S. 166, S. 173 f. u. S. 206. Vgl. Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 1992, S. 377-448, hier S. 442 u. S. 444ff.; wichtig jetzt Martin Schulze Wessel, Die Epochen der russisch-preußischen Beziehungen, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 3: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 2001, S. 713-787, hier S. 783 f.; Horst Günther Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 1972, S. 108 u. S. 113. Zernack, Polen, in: Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 446; Zum Thema Litauen vgl. Manfred Hellmann, Grundzüge der Geschichte Litauens und des litauischen Volkes, Darmstadt Μ 986, S. 145ff. u. S. 165. Vgl. Hellmann, Litauen, S. 157; Zernack, Polen, in: Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 446; Andreas I.awaty, Das Ende Preußens in polnischer Sicht. Zur Kontinuität negativer Wirkungen der preußischen Geschichte auf die deutsch-polnischen Beziehungen, Berlin/New York 1986, S. 74 ff.; Jörg Hackmann, Die Landesgeschichte Ostpreußens und Westpreußens in der deutschen und polnischen Geschichtswissenschaft als beziehungsgeschichtliches Problem, Diss. Phil., Berlin 1993, wichtig in der maschinenschriftlichen Version: Bd. 2, S. 277; vgl. ders., Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem, Wiesbaden 1996, S. 12, S. 226 u. S. 245 f. Vgl. Zernack, Polen, in: Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 446, zu offensiven polnischen Planungen in den frühen dreißiger Jahren in Ausnutzung der Krise des Deutschen Reiches; vgl. auch Hans Roos, Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik 1931-1939, Tübingen 1965, S. 37^*4.

Hans Rothfels und Ostmitteleuropa

43

Die Akten des preußischen Kultusministeriums beweisen, daß Rothfels 1926 gerade deshalb nach Königsberg berufen w o r d e n ist, weil m a n sich v o n ihm „die Verstärkung der geistigen Z u s a m m e n h ä n g e mit d e m M u t t e r l a n d e " v e r s p r a c h 1 8 . Das P r o g r a m m engagiert-kämpferischer Wissenschaftspraxis in den verschiedensten F ä c h e r n und Disziplinen an der A l b e r t u s - U n i v e r s i t ä t entsprach lange v o r 1933 der Politik der W e i m a r e r Reichskabinette; Stresemann wird im K o n t e x t dieser Politik ausdrücklich in den A k t e n erwähnt, ebenso

der

sozialdemokratische

Ministerpräsident

von

Preußen

Otto

B r a u n 1 9 . Will man der Versuchung entgehen, v o n d e r bekannten nationalkonservativen 2 0 Position Rothfels' im K o n t e x t seines K ö n i g s b e r g e r E n g a g e ments zu plakativen, aber schon seit sieben J a h r z e h n t e n beliebten Verortungen zu gelangen, ist eine Analyse des o s t m i t t e l e u r o p ä i s c h e n S c h w e r p u n k t s

18

23

Marginal des Universitäts-Kurators H o f m a n n am Bericht des Dekans vom 9. März 1925, in: G S t A P K , I. H A , Rep. 76 V», Sekt. 11, Tit. 4, Nr. 21, Bd. 31. Vgl. Neugebauer, Wissenschaftskonkurrenz, in: Jähnig/Michels (Hrsg.), Das Preußenland, S. 754 f.; wichtige Quellenmitteilungen zur Königsberger Wissenschaftsgeschichte in der Folgezeit bei Christian Tilitzki, Von der Grenzland-Universität zum Zentrum der nationalsozialistischen „Neuordnung des O s t r a u m s " ? Aspekte der Königsberger Universitätsgeschichte im Dritten Reich, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 46 (2000), S. 2 3 3 - 2 6 9 , hier S. 236ff. u. S. 2 4 7 f f . , mit kräftigen Korrekturen am - nicht erst neuerdings! - in Umlauf gesetzten Bild der Albertina als einer „betont nationalsozialistischen Universität", so etwa schon Wilhelm Treue, Entwurf zu einem N e k r o l o g oder Materialien für eine gute wissenschaftliche Nachrede, in: Kurt Mauel (Hrsg.), Wege zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 2, Wiesbaden 1982, S. 1 1 1 - 1 3 9 , hier S. 120. Wäre es so gewesen, wäre dies glcichwohl heute eben keine neue Entdeckung. So schon die ältere Literatur, siehe Schieder, Rothfels, S. 121; übrigens auch ganz klar der informative Artikel des Rothfels-Schülers aus Königsberger Tagen Roland Seeberg-Elverfeldt, Rothfels, Hans, in: Altpreußische Biographie, Bd. 4, 3. Lieferung, hrsg. von Ernst Bahr u.a., Marburg/Lahn 1995, S. 1479f.; Mommsen, Geschichtsschreibung, in: B e n z / G r a m l (Hrsg.), Aspekte deutscher Außenpolitik, S. 11 u. S. 18; Winkler, Lobredner, S. 643: „bekennender Konservativer"; vgl. dann in radikalisierter Kritik Ingo Haar, „Revisionistische" Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Frankfurt a.M. 1997, S. 5 2 - 1 0 3 , hier S. 53 (zum Ansatz dieser Argumentation vgl. Neugebauer, Wissenschaftskonkurrenz, in: Jähnig/Michels (Hrsg.), Das Preußenland, S. 759, A n m . 76); Michael H . Kater, Refugee H i storians in America: Preemigration Germany to 1939, in: Hartmut Lehmann/James J . Sheehan (Hrsg.), An Interrupted Past. German-Speaking Refugee Historians in the United States after 1933, W a s h i n g t o n / D C 1991, S. 7 3 - 9 3 , hier S. 87f.; und natürlich Hans Schleier, D i e bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975, S. 526, Anm. 146: „profaschistisch"; freilich war nicht einmal diese Klassifikation ganz originell, siehe schon um 1933 Eckart Kehr, Neuere deutsche Geschichtsschreibung, in: Ders., D e r Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, mit einem Vorwort von Hans H e r z feld, Berlin 2 1970, S. 2 5 4 - 2 6 8 u. S. 266: Rothfels versuche, eine „neue faschistische G e schichtsinterpretation zu schaffen". Deshalb auch nicht originell, aber gewiß nützlich Peter T h o m a s Walther, Die deutschen Historiker in der Emigration und ihr Einfluß in der N a c h kriegszeit, in: Heinz Duchhardt/Gerhard May (Hrsg.), Geschichtswissenschaft um 1950, Mainz 2002, S. 3 7 - 4 7 , hier S. 47: Rothfels als „ M ö c h t e g e r n - N a z i " . - Verwunderung erregte es, als bei der Diskussion im Institut für Zeitgeschichte die Exponenten einer Maximal-Kritik sich auf die Aussage zurückzogen, daß es auf das Verhältnis von Rothfels zum Nationalsozialismus eigentlich gar nicht ankomme!

44

Wolfgang Neugebauer

in seinem Werk geboten, den er in seinen acht Königsberger Jahren entwikkelt hat. Zu fragen ist nach dem Forschungsprofil jenseits des Engagements von „Frontgesinnung" und universitärer „Vorposten" -Mission mit überstark akzentuiertem Kampfcharakter 2 1 , der sich freilich aus dem politischen Umfeld der zwanziger Jahre ergab. Das Problem des Verhältnisses von Westen und Osten in der deutschen 2 · 2 - und nicht nur in der deutschen 23 - Geschichte rückte in Königsberg in das Zentrum der Arbeit von Rothfels. E r konnte dabei an die Bismarck-Studien seiner jüngeren Jahre anknüpfen. Mit seiner Schilderung der Osteuropa-Politik Bismarcks und ihrer Konzeptionen verwob sich aktuelle Zeitkritik, vor allem Kritik am Diktat-Vertrag und „Schuldspruch" von Versailles 24 , indem die prinzipielle Unvereinbarkeit westeuropäischer Nationenvorstellungen mit den Strukturen im östlichen (Mittel-) Europa in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wurde. Gegen die damals dominante nationallibcrale Bismarck-Interpretation 2 5 betonte Rothfels die Staatsfixierung von Bismarcks Politik, in der die Nation nicht die primäre programmatische Kategorie gewesen sei 26 . Die Politik Bismarcks gegenüber dem europäischen Nordosten, da, „wo der »Nationalstaat', nicht mehr fortschrittliches Prinzip, sondern reaktionäre Theorie ist" 2 7 , sei eigenen Gesetzen gefolgt. Rothfels faßte diese These in der Formel von der „autonomen Ostseite des Rei21

Vgl. etwa Hans Rothfels, D i e historische und politische Bedeutung O s t - und Westpreußens in Vergangenheit und Gegenwart, in: Ostpreußen - was es leidet, was es leistet. Ansprachen, Reden und Vorträge auf der Ostpreußen-Ausstellung in Berlin vom 8. bis 16. Januar 1933, hrsg. vom Reichsverband der heimattreuen O s t - und Westpreußen e.V., o . O . 1933, S. 1 3 - 2 1 , hier S. 19; Hans Rothfels, U b e r die Aufgaben Ostpreußens in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1930, S. 4, S. 7 f. u. S. 12.

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Vgl. Benz, Rothfels, in: Ders. (Hrsg.), Miscellanea, S. 198. Vgl. Anm. 39. Hans Rothfels, D e r O s t e n , in: Ders., Ostraum, S. 12 f.; ders., Versailles, S. 1 f.; ders., Probleme einer Bismarck-Biographie, zuerst engl. 1947, dt. in: Hans Hallmann (Hrsg.), Revision des Bismarckbildes. D i e Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1 9 4 5 - 1 9 5 5 , Darmstadt 1972, S. 4 5 - 7 2 , hier S. 48; vgl. Walther, Von Meinecke zu Beard?, S. 5 0 f f . Vgl. Anm. 27 und 28; Näheres bei C o n z e , Hans Rothfels, S. 321 u. S. 326 f.; vgl. schon Hans Rothfels, Bismarcks Staatsanschauung, in: O t t o von Bismarck, Deutscher Staat. Ausgewählte D o k u m e n t e , eingel. von Hans Rothfels, München 1925, S. X V - X L V I I , hier S. X L I I I - wohl in Grundzügen schon in seinem Habilitationsvortrag von 1924; ders., in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Jahresheft 1958/59, Heidelberg 1960, S. 2 7 - 3 0 , hier S. 29; ders., Z u m Geleit, in: Arnold O s k a r Meyer, Bismarck. D e r Mensch und der Staatsmann, Stuttgart 1949, S. 3 - 6 , hier S. 5f.; Peter Schumann, D i e deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. D i e Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse, Göttingen 1975, S. 4 0 2 f.; T h e o d o r Schieder, D i e deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: H Z 189 (1959), S. 1 - 1 0 4 , hier S. 61.

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Zusammenfassend Hans Rothfels, Bismarck und das neunzehnte Jahrhundert, in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, Düsseldorf 1950, S. 2 3 3 - 2 4 8 , hier S. 243 f. (gegen A . O . Meyer). H a n s Rothfels, Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens, in: Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 8 9 - 1 0 3 , hier S. 89f., in Auseinandersetzung mit Meineckes „Weltbürgertum".

H a n s R o t h f e l s und O s t m i t t e l e u r o p a

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c h e s " 2 8 ; Bismarcks Politik sei nur zu verstehen, wenn man die spezifischen politischen Traditionsbestände des „deutschkolonialen R a u m e s " im Auge behalte 2 9 , worunter er unter anderem die Strukturen der (ostelbischen) Gutsherrschaft verstand 3 0 . Nicht die Nation, der von östlichen Traditionen geprägte Staat bestimmte Bismarcks Politik. E r war es, der Rothfels' Interesse fesselte. Etatismus, so hat er 1947 die argumentativen Linien fortgezogen, stand bei Bismarck strikt gegen „Pangermanismus" 3 1 . Die konsequente Enthaltsamkeit Bismarcks, den unter immer stärkerem Russifizierungsdruck stehenden Baltendeutschen in irgendeiner Weise zu Hilfe zu k o m m e n , galt als Beleg dafür, daß sich Bismarck im Osten Europas der (westeuropäisch geprägten) N a tionenkonzeption entzog 3 2 . Seit längerem ist freilich bekannt, daß Rothfels' These, Bismarck habe eine „planmäßige Germanisierung" prinzipiell abgelehnt, die Position des Reichskanzlers doch verzerrte. Jedenfalls lagen schon um 1930 Quellenstücke vor, die dieser Interpretation widersprachen 3 3 . Rothfels faßte die Bismarckschen Maßnahmen - etwa im Kulturkampf allein als Ausdruck der politischen, der nationalpolitischen Defensive a u P 4 ; auch die berüchtigte Ausweisungspolitik war in den Augen Rothfels' nur eine Reaktion auf die akute Gefährdung für „Preußen-Deutschland". D a ß die spätere Schulpolitik freilich sehr wohl „germanisierende" Ziele ver-

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Ebenda, S. 89; vgl. ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ders., Ostraum, S. 6 5 - 9 2 , hier S. 68, und ders., Bismarck und der Osten. Eine Studie zum Problem des deutschen Nationalstaats, Leipzig 1934, S. III. Rothfels, Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ders., Ostraum, S. 68. Vgl. ebenda, S. 87 f.; vgl. auch die Arbeit seines Schülers Konrad Hoffmann, Volkstum und ständische Ordnung in Livland. Die Tätigkeit des Generalsuperintendenten Sonntag zur Zeit der ersten Bauernreformen, Königsberg (Pr.) 1939, S. 11. Rothfels, Probleme, in: Hallmann (Hrsg.), Revision des Bismarckbildes, S. 68 (1947); siehe auch ders., Der Osten, in: Ders., Ostraum, S. 10. Vgl. Rothfels, Bismarck und der Osten, S. 70, in der Neuauflage, in: Ders., Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 2 1962, S. 1 - 1 1 6 , S. 2 9 1 - 2 9 3 , hier S. 115 (dazu Pate, T h e Historical Writing, S. 71 f.); Hans Rothfels, The Baltic Provinces. Some Historie Aspects and Perspectives, in: Journal of Central European Affairs 4 (1944), S. 117-146, hier S. 131 (kein Pangermanismus); vgl. ders., Bismarcks Staatsanschauung, in: Bismarck, Deutscher Staat, S. X X X I - X X X I V ; ders., Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Bismarck und der Staat. Ausgewählte Dokumente, Darmstadt 1969, S. X L ; vgl. auch die Arbeit seines (baltischen Lieblings-) Schülers Heinrich Schaudinn, Das baltische Deutschtum und Bismarcks Reichsgründung, Leipzig 1932, S. 67 f., S. 128-136 u. S. 201.

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Vgl. zunächst Rothfels, Bismarck und der Osten (1934), S. 70; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ders., Ostraum, S. 70ff. u. S. 75 f.; ders., Das Problem des Nationalismus im Osten, in: Albert Brackmann (Hrsg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen, München/Berlin 1933, S. 2 5 9 - 2 7 0 , hier S. 265 f.; dagegen Neugebauer, Hans Rothfels' Weg, in: Müller (Hrsg.), Osteuropäische Geschichte, S. 355, und Wolfgang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhundens, in: Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 6 0 5 - 7 9 8 , hier S. 742; nicht originell: Roth, Hans Rothfels, S. 1067.

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Vgl. Rothfels, Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 266; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ders., Ostraum, S. 8 0 - 8 3 .

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Wolfgang Neugebauer

folgte, hat Rothfels nicht verschwiegen 35 , aber er unterschätzte den Erosionsprozeß einer übernationalen preußischen Staatsidentität 36 nach 1871. Wichtiger aber scheint ein anderer Aspekt zu sein: die Erweiterung des Themenspektrums über die Epoche und den geographischen Bezugsraum des Bismarckreiches hinaus, unter Beibehaltung der Fragestellung nach den spezifischen Bedingungen solcher Regionen Europas, die anderen als westeuropäischen Verlaufstypen folgten. Die Arbeit in Königsberg legte daher eine Konzentration auf diejenigen Teile Europas nahe, die von der jüngeren Osteuropaforschung als Ostmitteleuropa 37 gefaßt werden, wobei hier besonders auf die Namen von Klaus Zernack und Oskar Halecki verwiesen werden kann. Aber Rothfels bezog die Frage nach eigenen politischen Traditionen, Strukturen und - wie heute ergänzt werden könnte - politischen Kulturen durchaus nicht nur auf Europa. In Vortragsreihen an der Albertus-Universität wurde neben der europäischen Welt auch der „vordere Orient" behandelt 38 , wobei Rothfels hier ebenfalls nach den besonderen Charakteristika etwa des „vorderen Orients als eines eigenen politisch-kulturellen Raumes" fragte. Dort faszinierten ihn 1929 vor allem die „Selbständigkeitsbewegung[en]" in Ägypten und überhaupt in der „jüdisch-arabische[n] Welt". „Dieser Drang zur Autonomie gipfelt", so schreibt er weiter, „in der modernen Türkei. Sie hat in erstaunlichem Maße sich gegenüber den Diktaten Westeuropas zu behaupten gewußt, wenn auch freilich im Wege stärkster zivilisatorischer Angleichung" 39 . Der starke anti-westliche Aspekt bei Rothfels 40 war also nicht ausschließlich auf Europa beschränkt und begrenzt. Da, wo er aber in der Königsberger Zeit und auch danach von den spezifischen Verhältnissen des Ostens 35

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Vgl. ebenda, S. 85; ders., Bismarck, der Osten und das Reich, S. 88, 1960/62 und in der Erstauflage von 1934: ders., Bismarck und der Osten, S. 52: „Verdeutschungspolitik" im Kulturkampf. Rothfels, Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 267: „Wohl aber erwuchs, sei es aus gemeinsamem Erleben, aus dem Dienst am Staat und H e e r und namentlich aus dem heimatlichen Zusammenhang ein wurzelhaft deutsches (!) Bewußtsein". Als Beleg verwies er auf den Kampf westpreußischer Regimenter im Ersten Weltkrieg. Vgl. A n m . 3; Kritik Haleckis: Ubersetzung der Dahlemer Publikationsstelle in: B A K o blenz, N L 213, Nr. 66, gegen Rothfels. Vgl. z . B . : Auslandsstudien, hrsg. vom Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertina, 1. Bd.: Die romanischen Völker, Königsberg i. Pr. 1925; 2. Bd.: R u ß land, Königsberg i. Pr. 1926 (mit Beiträgen u.a. von Karl Stählin, O t t o Krauske); 3. Bd.: Die nordischen Länder und Völker, Königsberg i. Pr. 1928; von Hans Rothfels, Staat und Nation in der Geschichte Dänemarks, in: Auslandsstudien, Bd. 3, S. 9 6 - 1 1 7 , vgl. Anm. 39. Hans Rothfels, Zur Einführung, in: Auslandsstudien, B d . 4: D e r vordere Orient, Königsberg i. Pr. 1929, S. 5 - 8 , das Zitat S. 7; Rothfels unterzeichnet seine Ausführungen als Vorsitzender für den „Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertus-Universität" (S. 8). Vgl. ζ. B. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Göttingen 1993, S. 134; Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a . M . / N e w York 1992, S. 56.

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sprach, da meinte er diejenigen R ä u m e , die v o r allem im h o h e n und späten Mittelalter im Zuge v o n K o l o n i s a t i o n bzw. O s t b e w e g u n g 4 1 v o m deutschen Element (mit) geprägt w o r d e n w a r e n 4 2 , w a s freilich - eine Binsenweisheit der auf diesem G e b i e t intensiven S p e z i a l f o r s c h u n g - in O s t m i t t e l - u n d O s t e u r o p a in sehr verschiedener Intensität der Fall war. Jedenfalls w a r R o t h f e l s damit in z e i t t y p i s c h e r W e i s e einer dezidiert deutschtumszentrierten D e f i n i tion seines F o r s c h u n g s o b j e k t e s v e r h a f t e t , die hierzulande erst nach d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g v o n d e r mediävistischen Forschung z u r ü c k g e d r ä n g t wurde43. In der D e u t s c h t u m s z e n t r i e r u n g - die die deutsche Forschung der z w a n z i ger und f r ü h e n dreißiger J a h r e ü b e r h a u p t charakterisierte - lag also eine p r o g r a m m a t i s c h e G r e n z e , die auch R o t h f e l s nicht ü b e r w a n d . U n t e r dieser Prämisse ging er dann allerdings v o n seinen ostpreußischen Forschungen seinen eigenen u n d denen seiner Schüler, v o n denen z . B . grundlegende und aus den A k t e n gearbeitete M o n o g r a p h i e n z u r preußischen R e f o r m z e i t , z u r E n t w i c k l u n g d e r S t ä d t e o r d n u n g e n und der städtischen Partizipation ζ. T. in A n l e h n u n g an die n o r d o s t d e u t s c h e Forschungsgemeinschaft erarbeitet w u r d e n 4 4 , - zu weiteren P r o b l e m e n in O s t m i t t e l e u r o p a über. A b e r immer, auch nach 1 9 4 5 , w a r d e r R a u m z w i s c h e n Reval und H e r m a n n s t a d t f ü r ihn „in e r h e b l i c h e m M a ß e d u r c h deutsche L e b e n s f o r m e n bestimmt". „In der A u s der L i t e r a t u r vgl. insbesondere W a l t e r Schlesinger, Die geschichtliche Stellung der mittelalterlichen deutschen O s t b e w e g u n g , w i e d e r in: Ders., Mitteldeutsche Beiträge z u r d e u t schen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1961, S. 447—469, bes. S. 450ff. u. S. 458 ff.; w i c h t i g e internationale F o r s c h u n g s b i l a n z : Ders. (Hrsg.), Die deutsche O s t s i e d l u n g des M i t t e l a l t e r s als P r o b l e m der e u r o p ä i s c h e n Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970-1972, S i g m a r i n g e n 1975, mit der Einleitung des H e r a u s g e b e r s : Zur P r o b l e m a t i k der E r f o r s c h u n g der d e u t s c h e n O s t s i e d l u n g , S. 11-30, bes. S. 14, S. 16 u. S. 22 ff.; Walter Schlesinger, Die mittelalterliche d e u t s c h e O s t b e w e g u n g u n d die deutsche O s t f o r s c h u n g , zuerst 1963/64, publiziert in: Zeitschrift für O s t m i t t e l e u r o p a f o r s c h u n g 46 (1997), S. 4 2 7 - 4 5 7 , ein Text, der auch z w i s c h e n Entstehung, Vortrag u n d Vollpublikation die Diskussionen entscheidend geprägt hat u n d in d e m - schon in den f r ü h e n 60er J a h r e n - die Diskussionen eröffnet w o r d e n sind, die seit M i t t e d e r n e u n z i g e r J a h r e als g a n z neu k r e d e n z t w e r d e n , e t w a S. 432—436, z u r „Volksgeschichte" S. 441 ff., mit schroffer Kritik S. 443 ff. Vgl. d a z u auch A n m . 46, B o o c k m a n n - dessen h i s t o r i o g r a p h i s c h e Einleitung überhaupt für das U m f e l d dieses T h e m a s in h o h e m G r a d e einschlägig ist! 4 - Vgl. R o t h f e l s , Versailles, S. 3; ders., Der O s t e n , in: Ders., O s t r a u m , S. 14; ders., B i s m a r c k u n d der O s t e n (1934), S. 7 u. S. 10f., u n d in der 2. A u f l . (1960/62), S. 26 u. S. 4 0 - 4 3 , S. 78; S c h a u d i n n , Das baltische D e u t s c h t u m , S. 35 u. S. 42; Benz, Rothfels, in: Ders. ( H r s g . ) , M i s cellanea, S. 197 f. 41

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V g l . z . B . die Literatur in A n m . 41; N e u g e b a u e r , H a n s Rothfels' Weg, in: M ü l l e r (Hrsg.), O s t e u r o p ä i s c h e Geschichte, S. 357 mit A n m . 89. D a z u alles w e i t e r e bei N e u g e b a u e r , H a n s R o t h f e l s ' Weg, in: Müller (Hrsg.), O s t e u r o p ä i s c h e Geschichte, S. 3 6 2 - 3 7 0 ; vgl. die P r o j e k t ü b e r s i c h t von 1934, in: BA Koblenz, N L 213, Nr. 66; vgl. C o n z e , H a n s Rothfels, S. 323 f., u n d O b e r k r o m e , Volksgeschichte, S. 172; Klaus Zernack, P r e u ß e n als P r o b l e m d e r o s t e u r o p ä i s c h e n Geschichte, zuerst 1965, in: Ders., P r e u ß e n D e u t s c h l a n d - Polen. A u f s ä t z e z u r Geschichte der deutsch-polnischen B e z i e h u n g e n , Berlin 1991, S. 8 7 - 1 0 4 , hier S. 101; z u s a m m e n f a s s e n d Rothfels, Bedeutung, in: O s t p r e u ß e n - w a s es leidet, w a s es leistet, S. 17f.; u n d seine Vorlesung (1968) in: B A Koblenz, N L 213, Nr. 120, S. 14.

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Durchsetzung", so Rothfels 1955, „mit einem deutsch-kolonisatorischen Element, teils dichter, teils lockerer, aber überall vorhanden, spricht sich bis in unsere Tage die Einheit Ostmitteleuropas historisch bedeutsam und höchst sinnfällig aus" - auch dies im Unterschied zu den westeuropäischen Strukturen. Es war nach Rothfels (und der älteren Ostforschung) bei aller „innere[n] Vielfalt" in Ostmitteleuropa jeweils das deutsch-westslawische oder auch das deutsch-magyarische Verhältnis, das diese Regionen, ohne Rücksicht auf Grenzen, charakterisierte 45 . Darin l a g - u n d auch das ist nicht erst in den letzten Jahren von der Spezialforschung gerügt worden - eine für die spezifischen Probleme Ostmitteleuropas unangemessene perspektivische, deutsch-zentristische Verengung, was zur Unterschätzung des slawischen Elements im preußischen Osten beitrug 46 . Die neuere Ostmitteleuropaforschung, die deutsche wie auch die in Polen und Ungarn, hebt die Bedeutung ständischer und überhaupt aristokratischkorporativer Träger für den historischen Wandel stark hervor 4 7 . Das Interesse an der spezifisch ostmitteleuropäischen Libertaskultur hat sich vor und nach 1933/45 als fruchtbarer Ansatz bewährt und z.B. das deutsch-polnische Wissenschaftsgespräch ungemein befruchtet. Rothfels ist schon in seinen Studien zur (ost-)preußischen Geschichte auf das Gewicht ständischer Traditionen und Innovationen aufmerksam geworden, nicht zuletzt in seiner wichtigen Monographie zu Theodor von Schön und die frühe Zeit Friedrich Wilhelms IV 4 8 . Neben der siedlungsgeschichtlich bedingten spe45

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Hans Rothfels, Zur Einführung. Eröffnungsansprache, in: Ders./Werner M a r k e n (Hrsg.), Deutscher Osten und slawischer Westen, Tübingen 1955, S. 1-4, hier S. 2. Vgl. Hartmut Boockmann, Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992, S. 60f., mit dem Vorwurf „völkischer Geschichtsauffassung"; Traditionen polnischer Historiographie im Sinne eines Volkstumskampfes, S. 67f.; scharfe Abrechnung mit älteren historiographischen Positionen, S. 71 ff., auch zum in Anm. 41 nachgewiesenen Vortrag Schlesingers. - Zur Position Rothfels' vgl. noch dessen Essay: Ostdeutschland und die abendländische politische Tradition. (Eine Antwort an Prof. Toynbee), in: Hermann Aubin (Hrsg.), Der deutsche Osten und das Abendland, München 1953, S. 193-208, hierS. 206, w o er das slawische Element für die „Untertanengesinnung" in „Ostdeutschland" verantwortlich machen will. Vgl. schon Zernack, Osteuropa, S. 38 ff. u. S. 71 f., ferner seinen Aufsatzband in Anm. 44 sowie Klaus Zernack, Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, darin insbesondere: Ständeausgleich und Adelskonservativismus in Nordosteuropa, S. 245-256; ferner die oben in Anm. 2 und 3 zitierten Sammelbände; außerdem z . B . H u g o Weczerka (Hrsg.), Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit, Marburg 1995, dazu meine Rezension in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 20 (1998), S. 311-314. In der polnischen Historiographie insbesondere der Nachkriegszeit spielt die Rolle ständischer Partizipation in großen Editionen, Gesamtdarstellungen und Spezialmonographien eine wesentliche Rolle. Als ein Beispiel sei auf das Werk von Janusz Mattek verwiesen, etwa seine Sammlung: Dwie cz^ici Prus. Studia ζ dziejöw Prus Ksi^zfcych i Prus Krölewskich w XVI i XVII wieku, Olsztyn 1987, etwa S. 67-81; wichtige Studien zur bäuerlichen Partizipation in Nord- und Ostmitteleuropa in Antoni Czacharowski (Red.), Samorz^dy i reprezentaeje chlopskie w Europie pölnoenej u progu nowozytnosci ( X V - X V I I I wiek), Τοηιή 1990; vgl. schon Halecki, Grenzraum, etwa S. 242ff. Vgl. 1958/60 Rothfels, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, S. 28; Hans Rothfels, Theodor v. Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848

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zifischen S t r u k t u r Ostmitteleuropas, die Rothfels im „ D u r c h e i n a n d e r w o h nen v o n V ö l k e r n " in der „östlichen Randzone" Europas erkannte 4 9 , w a r es dieses ständisch-korporative, nicht völkische, sondern aristokratische Element, das den ostmitteleuropäischen Geschichtsraum als strukturelle Einheit konstituierte. Allerdings engte er diesen erst später erschlossenen, gerade f ü r die Frühe Neuzeit interessanten Zugang in der Forschungspraxis dadurch ein, daß er ihn als „ostdeutsch-mitteleuropäischen" Zusammenhang akzentuierte und dabei insbesondere die Beziehungen der jeweiligen deutschen Volksgruppen beachtete 5 0 . Erst im Gegensatz zu diesen hätten sich dann seit dem 13. und H . J a h r h u n d e r t das polnische und das tschechische Nationenbewußtsein entwickelt. Strukturelle Gemeinsamkeiten im europäischen O s t e n haben nicht nur Rothfels interessiert. A u c h in den Monographien seiner Schülerinnen und Schüler gibt es Belege f ü r diesen Ansatz, etwa zu einer Zusammenschau Preußens, Polens und gar Rußlands, wie etwa K o n r a d H o f f m a n n sie geboten hat 5 1 . Selten, aber immerhin noch 1 9 3 3 , hat Rothfels auch gesehen, daß ständische Schichtungen sehr w o h l nationale Gliederungen zu scheiden vermochten, beide also nicht deckungsgleich sein mußten. Die S t r u k t u r des böhmischen A d e l s bis - wie er meinte - 1 6 2 0 w a r ihm d a f ü r ein Exempel 5 2 . Wenn es darum geht zu rekonstruieren, w i e Rothfels seine K o n z e p t i o n ostmitteleuropäischer Geschichte e n t w o r f e n hat, die es ihm dann erlaubte, die östlichen „Adelsnationen" 5 3 , die ungarische und auch die polnische, als (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, 13. Jahr, Geisteswissenschaftliche Klasse, Heft 2), Halle (Saale) 1937, S. 62 (152); vgl. S. 5 (95) zu den Königsberger Arbeitsplänen; Hans Brinkmann, Die ostpreußischen Liberalen im Vormärz 1840-1848, Diss. Phil., Graz 1969 (Masch.), Vorwort (unpag.); wichtiges Arbeitsmaterial des Königsberger Rothfels-Kreises zu diesem Forschungsschwerpunkt in: GStAPK, XX. H A , N L Lotte Esau; von Rothfels selbst noch: Ein auslands-deutsches Glückwunschschreiben an Theodor von Schön aus dem Jahre 1844, in: Altpreußische Forschungen 12(1935), S. 87-92, hier S. 87; ders., Ostund Westpreußen zur Zeit der Reform und Erhebung, zuerst 1931, wieder in: Ders., Bismarck, der Osten und das Reich, S. 223-254, hier S. 236 f., vgl. S. 18 f.; ders., Siebenhundert Jahre Königsberg, in: Ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1959, S. 17-39, hier S. 32 f. 4 9 Ζ. B. Hans Rothfels, Das Auslandsdeutschtum des Ostens. Eine Begrüßungsansprache 1931, in: Ders., Ostraum, S. 121-123, hier S. 122; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ebenda, S. 66; ders., Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 264; Pate, The Historical Writing, S. 152-212: als großdeutsche Konzeption. 50 Vgl. Rothfels, Ostraum, S. V u. S. X; 1933 ders., Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 259f., mit der Aussage eines west-östlichen „Kulturgefälles". 51 Vgl. Hoffmann, Volkstum, S. 11. 52 Vgl. Rothfels, Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 263. 53 Vgl. Hans Rothfels, Nationalität und Grenze im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: VfZ 9 (1961), S. 225-233, hier S. 227; enger ders., Ostdeutschland, in: Aubin (Hrsg.), Der deutsche Osten, S. 205 (einschließlich des preußischen Adels); ders., Bedeutung, in: Ostpreußen - was es leidet, was es leistet, S. 18 (Selbstverwaltung erklärt aus dem „Druck fremden Volkstums"), was späteren Thesen Theodor Schieders schon unangenehm nahe kommt. Für Polen, Ungarn und auch den westpreußischen Adel greift diese Erklärung auf keinen Fall.

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einen Typus zu betrachten (so 1961), dann reicht der Hinweis auf das Erbe seiner unmittelbaren akademischen Väter nicht mehr aus. Man wird überhaupt sehr viel stärker als bisher diejenigen Hinweise beachten müssen, die von einer offenbar recht ausgreifenden Theoriearbeit und -rezeption Rothfels' zeugen, und zwar jenseits aktueller Lesefunde aus jungkonservativer Tagesproduktion. Die Aussagen aus dem Schülerkreis, daß Rothfels sich mit Ferdinand Lassalle beschäftigt habe, daß für die Seminarbibliothek die „sozialistische und marxistische Literatur angeschafft" worden sei, sind sehr plausibel. Er befaßte sich auch mit Franz Mehring und äußerte sich durchaus positiv zu seiner Geschichte der Sozialdemokratie; es steht fest, daß er sich mit Max Weber und Robert Michels auseinandersetzte, mit Eduard Bernstein und mit „Geschichte und Klassenbewußtsein" von Georg Lucasz, ferner sowohl mit Carl Schmitt als auch mit Rudolf Smend 54 . Wenn also behauptet worden ist, daß etwa „soziologische" Fragestellungen bei Rothfels keine Rolle gespielt hätten, so gehört auch das in den Blütenkranz von Behauptungen, mit denen man das Thema seit gut einem Jahrzehnt dominieren möchte 55 . War diese Theoriearbeit in der Königsberger Zeit dem Interesse an der Sozialpolitik der Bismarckzeit und an der jüngeren Parteiengeschichte geschuldet, so sind für die Analyse der „östlichen Randzone" Europas 56 neben Indizien auch positive Zeugnisse vorhanden, daß Rothfels hier auf die in Bruchstücken vorhandenen Ergebnisse aufbaute, die Otto Hintze gerade um 1930 nach jahrzehntelanger Arbeit an einer allgemeinen und vergleichenden Verfassungsgeschichte der neueren Staaten vorlegte. Die ersten Kontakte zwischen Rothfels und Hintze datierten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; Rothfels hatte bei Hintze studiert. Er saß noch 1918 in einem der letzten Seminare des soziologisch-staatswissenschaftlich geschulten Komparatisten und gehörte auch zu den Teilnehmern der legendären Teenachmittage in der Wohnung von Otto und Hedwig Hintze. Im Hause Friedrich Meineckes am Dahlemer Hirschsprung wurden diese Beziehun-

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BA Koblenz, N L 213, Rothfels, Nr. 142, S. 55; Mehring, Hans Rothfels, Ideengeschichte und Parteigeschichte. Ein Forschungsbericht, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930), S. 753-786, hier S. 756, zur marxistischen Literatur weiter S. 768 f., S. 770 f.: Smend und Schmitt; zu Weber noch Rothfels, Bismarck und der Osten (1934), S. 60; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ders., Ostraum, S. 86 u. S. 91; Marx: (1925) Rothfels, Bismarcks Staatsanschauung, in: Bismarck, Deutscher Staat, S. X X V I I I f. u. S. X X X I I . Vgl. Petters, Hans Rothfels, S. 27. Zitat von Rothfels wie Anm. 49; zur Herkunft des Begriffs der europäischen Randzone(n) (Hintze, Ratzel) sei nur verwiesen auf Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze und seine Konzeption der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten", zuerst 1993, erweitert in: Otto Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten. Fragmente, Bd. 1, hrsg. von Giuseppe Di Costanzo/Michael Erbe/Wolfgang Neugebauer, Neapel 1998, S. 3 5 - 8 3 , hier S. 45 f. u. S. 71 ff., zur Kategorie der Zone: S. 73 Anm. 66.

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gen vertieft 5 7 , ehe sie 1 9 3 9 abgebrochen w e r d e n m u ß t e n . H i n t z e hatte, etwa in seinen Studien z u m Feudalismus und z u r ständischen Struktur A l t e u r o pas, ein r a u m t y p o l o g i s c h e s Z o n e n m o d e l l e n t w o r f e n 5 8 , das, w i e w o h l strittig diskutiert, an Faszination bis heute nicht verloren hat, weil in ihm europäische G e s c h i c h t e nicht aus N o r m a l - und Sonderfällen konstruiert wird, s o n dern als gefügtes großregionales G a n z e s 5 9 . E s erlaubt die E i n f ü g u n g und den Abgleich der einzelnen Quellenbefunde in eine europäische T y p o l o g i e der „ Z o n e n " und Regionen, g r o b gegliedert in ein vormals karolingisches K e r n e u r o p a und große, d a r u m herumgelagerte Z o n e n mit auffälligen strukturellen Parallelen. Diese Typologie hat Rothfels als einer der ersten nicht nur rezipiert, sondern auch vorsichtig weiterentwickelt und modifiziert. N i c h t zufällig griff Rothfels sie 1 9 3 0 in seiner A b h a n d l u n g über „Reich, Staat und N a t i o n im deutsch-baltischen D e n k e n " auf 6 0 , einem Büchlein, das zugleich als Bogenschlag von Meinecke zu H i n t z e gelesen werden kann. 57

Siehe Hans Rothfels, „Erinnerungen an O t t o H i n t z e " , Manuskript, Juli 1965 (gerichtet an Gerhard Oestreich), in: B A Koblenz, N L 1213, Nr. 36; zum persönlichen Umgang von Rothfels und Hintze in den Jahren vor 1930 vgl. noch Friedrich Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, hrsg. und eingel. von Ludwig D e h i o und Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 392 f.; Siegfried A. Kaehler, Briefe 1 9 0 0 - 1 9 6 3 , hrsg. von Walter Bußmann und G ü n t h e r Grünthal, Boppard am Rhein 1993, S. 178 (1926), dazu S. 64; vgl. auch Rothfels in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1958/60, S. 27.

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Vgl. schon O t t o Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus, zuerst 1929, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 3 1 9 7 0 , S. 8 4 - 1 1 9 , hier S. 102; ders., Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, zuerst 1930, in: Ebenda., S. 1 2 0 - 1 3 9 , hier bes. S. 124 u. S. 135f.; vgl. auch aus dem Jahre 1931 ders., Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, in: Ebenda., S. 1 4 0 - 1 8 5 , hier S. 184 f.; aus der Literatur vgl. Volker Press, F o r m e n des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. J a h r hunderts, in: Peter Baumgart/Jürgen Schmädeke (Hrsg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, B e r l i n / N e w York 1983, S. 2 8 0 - 3 1 8 , hier S. 284 f.; i m i l e Lousse, Assemblies d' etats, in: L'Organisation corporative du M o y e n Age ä la fin de PAncien Regime, (Vol. 3), Louvain 1943, S. 2 3 1 - 2 6 6 , hier S. 255 u. S. 265; zur Kritik vgl. Helmut G . Koenigsberger, D o m i n i u m regale or dominium politicum et regale? Monarchies and Parliaments in Early Modern Europe, in: Karl Bosl (Hrsg.), D e r moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 4 3 - 6 8 , hier S. 4 9 f., und dazu Richard Löwenthal, Kontinuität und Diskontinuität, in: Ebenda, S. 3 4 1 - 3 5 6 , hier S. 343; zur raumtypologischen Unterscheidung in Zonen vgl. noch O t t o Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats, zuerst 1931, in: Ders., Staat, S. 4 7 0 - 4 9 6 , hier S. 492; vgl. schon ders., Die schwedische Verfassung und das Problem der konstitutionellen Regierung, in: Zeitschrift für Politik 6 (1913), S. 483—497, hier S. 486 f. (Schweden, Polen, Ungarn).

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Vgl. neben den Studien in Anm. 3 Wolfgang Neugebauer, Landstände im Heiligen R ö m i schen Reich an der Schwelle der Moderne. Z u m Problem von Kontinuität und Diskontinuität um 1800, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), Reich oder N a t i o n ? Mitteleuropa 1 7 8 0 - 1 8 1 5 , Mainz 1998, S. 5 1 - 8 6 . Hans Rothfels, Reich, Staat und Nation im deutsch-baltischen Denken. Vortrag bei der öffentlichen Sitzung der Gelehrten Gesellschaft zu Königsberg am 12. Januar 1930 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, 7. Jahr, Geisteswissenschaftliche Klasse, Heft 4), Halle (Saale) 1930, S. 5 (223); ders., Bismarck, der O s t e n und das Reich, S. 186 u. S. 190; ders., O s t r a u m , S. 104; ferner der Verweis auf O t t o H i n t z e in der 1. Aufl. von Rothfels' Schrift, Reich, Staat und Nation, S. 8 (226): „extensive staatliche Betriebsform".

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Rothfels weist darin den livländischen „Staatsbegriff" einer größeren europäischen Raumtypologie zu: Er gehe „zurück in ungebrochener Tradition auf das 15. und 16. Jahrhundert, auf den selbständigen livländischen ,Föderativstaat' und seine Verfassungseinrichtungen. Diese tragen ein Gepräge, das im Spätmittelalter gemeineuropäisch ist, sie gehören zum Typus der landständischen Verfassung, jener Vorform der modernen Verfassungen, die sich dadurch charakterisiert, daß die politisch und wirtschaftlich leistungsfähigsten Schichten das Land vertreten oder gar das Land .sind', daß der Staat einen dualistischen Aufbau zeigt, daß er förmlich in Fürst und Land, in eine fürstliche und eine ständische Hälfte zerfällt. Aber diese gemeinsame Durchgangsform der abendländischen Staatenwelt teilt sich in zwei speziellere Typen: die dualistische Verfassung gravitiert entweder zum herrschaftlichen oder zum genossenschaftlichen Pol, sie ist je nachdem Vorstufe des Absolutismus oder des Parlamentarismus. In sehr präziser Weise hat neuerdings Otto Hintze gezeigt, daß diese begriffliche Scheidung institutionell bis ins einzelne geht und einen bestimmten zeitlichen und örtlichen Charakter trägt. Geographisch gesehen findet sich der genossenschaftliche Spezialtypus im wesentlichen an der Peripherie, d.h. außerhalb der Grenzen des alten Karolingerreiches: so in England, in Skandinavien, im ostelbischen Deutschland und in der östlichen Randzone, in Böhmen, Polen und Ungarn. Auch der livländische Föderativstaat gehört hierher," 61 freilich mit einigen charakteristischen Abweichungen. Dieses aufschlußreiche Beispiel zeigt, daß sich Rothfels in diesen Jahren übrigens auch da, wo er keine Nachweise seiner Referenzen gab - der Hintzeschen Instrumente komparatistischer Praxis bediente. Dies gilt nicht nur für die Differenzierung der randzonalen Regionen bzw. Staaten, sondern auch für die typologischen Analysen in Rothfels' Abhandlung über „Staat und Nation in der Geschichte Dänemarks", die 1928 unmittelbar nach den intensiven persönlichen Kontakten zu Hintze erschien 62 . Die Anregungen und Einflüsse aus dieser Richtung sind nicht zu übersehen, offenbar hat Rothfels von einer der großen vergleichenden Abhandlungen Hintzes schon vor deren Veröffentlichung Gebrauch machen können 63 . 61

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Rothfels, Reich, Staat und Nation, 1. Aufl., S. 5, mit Verweis auf zwei Abhandlungen Hintzes von 1930 und 1931. Zum typologischen Verfahren bei Hintze sei nur verwiesen auf Neugebauer, O t t o Hintze, S. 44 f. u. S. 70 mit den dort gegebenen weiterführenden Nachweisen; Rothfels, Geschichte Dänemarks, S. 98, S. 100; zur (rand-)zonalen Einordnung der ostmitteleuropäischen Phänomene bei Rothfels (vgl. Anm. 56 und 59 zu Hintze), außer Anm. 49 und der dortigen Quellenstelle ζ. B. Rothfels, Auslandsdeutschtum, in: Ders., Ostraum, S. 122; ders., Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ebenda, S. 66; ders., Bismarck und der Osten (I960), S. 68; vgl. auch S. 16; vgl. Anm. 57. Vgl. die Erscheinungsdaten seiner Abhandlung in Anm. 60 mit dem Nachweis bei Hintze, Staat, Bd. 1, S. 573 (Nr. 111). Nach alledem scheint mir nicht mehr bestritten werden zu können, daß in der Theoriearbeit von Rothfels vor und nach 1930 auch Hintze eine Rolle spielt; zu den persönlichen, offenbar sehr intensiven Kontakten bei den Teenachmittagen bei Hint-

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D i e in diesen weiteren K o n t e x t e n s t e h e n d e Detailarbeit d e r S c h ü l e r R o t h fels', v o r allem derjenigen, die sich in einem eigenen baltischen A r b e i t s k r e i s im Hause R o t h f e l s ' versammelten, kann hier nicht in allen Einzelheiten geschildert w e r d e n 6 4 . R o t h f e l s selbst hat die A r c h i v a l i e n - u n d N a c h l a ß b e stände in Mitau und Riga v e r w e n d e t ; eine K o o p e r a t i o n mit d e m H e r d e r - I n stitut in Riga und der Universität D o r p a t schuf f ü r S t u d e n t e n institutionelle Möglichkeiten der Vertiefung. In diesem A r b e i t s k r e i s sind eine ganze Serie, z.T. inzwischen nachgedruckter M o n o g r a p h i e n e n t s t a n d e n 6 5 , die u . a . das Ziel v e r f o l g t e n , den „Nationalismus des Westens zu ü b e r w i n d e n " , w i e ein R o t h f e l s - S c h ü l e r aus diesen J a h r e n 1 9 5 1 n o t i e r t e 6 6 . A u c h W e r n e r C o n z e gehörte zu diesem Arbeitskreis, der in V e r b i n d u n g z u m H e r d e r i n s t i t u t in Riga und z u r U n i v e r s i t ä t D o r p a t stand. Freilich w a r auch im R o t h f e l s - K r e i s die Bereitschaft, die nichtdeutsche U m g e b u n g w a h r z u n e h m e n , begrenzt. Baltische Sprachkenntnisse w a r e n i m m e r h i n v o r h a n d e n , ein jüdisch-litauisches Seminarmitglied w a r jedoch das einzige, das des P o l n i s c h e n mächtig war. R u s s i s c h - K u r s e w u r d e n an der U n i v e r s i t ä t angeboten. D i e ständischen G r u n d l a g e n livländischer Landesstaatlichkeit, die hier in d e r Tat an die deutschen Führungsschichten gebunden w a r e n , spielten auch bei Studien zu baltischen Literaten o d e r z u r Bildungsgeschichte eine m e h r als nebensächliche Rolle, w o b e i R o t h f e l s den Bezug, sei es z u D a n z i g e r V e r f a s s u n g s k ä m p fen o d e r sei es z u r Holsteinischen Ritterschaft, als „ K a m p f f ü r das V o l k s -

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zes, u n d z w a r in den Jahren 1920 bis 1926, also u n m i t t e l b a r vor d e m K ö n i g s b e r g e r R u f , siehe expressis verbis die in A n m . 57 n a c h g e w i e s e n e N i e d e r s c h r i f t in: B A K o b l e n z , N L 1213, Nr. 36. Vielleicht darf aus der vorzeitigen K e n n t n i s R o t h f e l s ' von der erst 1931 erschienenen A b h a n d l u n g H i n t z e s z u r R e p r ä s e n t a t i v v e r f a s s u n g (s. o.) auf einen K o n t a k t auch in den K ö n i g s berger J a h r e n geschlossen w e r d e n . D a z u m u ß verwiesen w e r d e n auf N e u g e b a u e r , H a n s R o t h f e l s ' Weg, in: M ü l l e r ( H r s g . ) , O s t e u r o p ä i s c h e Geschichte, S. 3 7 0 - 3 7 5 . Z u m baltischen A r b e i t s k r e i s habe ich 1996 R o t h f e l s ' Schüler K o n r a d H o f f m a n n sprechen k ö n n e n ; Briefe H o f f m a n n s aus den J a h r e n 1996 u n d 1997 an den Verfasser; w i c h t i g d i e M a terialien in: B A Koblenz, N L 213, Nr. 39 u n d Nr. 142; in Nr. 39 eine m a s c h i n e n s c h r i f t l i c h e A u f z e i c h n u n g über eine E x k u r s i o n nach Polen, „um d e n g r o ß e n u n d m ä c h t i g s t e n N a c h b a r n O s t p r e u ß e n s k e n n e n zu lernen". A u s d e r L i t e r a t u r vgl. C o n z e , H a n s R o t h f e l s , S. 3 2 5 f . u. S. 329f.; ders., Nationalstaat oder M i t t e l e u r o p a ? Die D e u t s c h e n des R e i c h s u n d die N a t i o n a litätenfragen O s t m i t t e l e u r o p a s im ersten W e l t k r i e g , in: Ders. ( H r s g . ) , D e u t s c h l a n d u n d E u ropa. H i s t o r i s c h e Studien z u r Völker- u n d S t a a t e n o r d n u n g des A b e n d l a n d e s . Festschrift f ü r H a n s Rothfels, Düsseldorf 1951, S. 2 0 1 - 2 3 0 , hier S. 201 f.; Rothfels, R e i c h , Staat u n d N a t i o n , S. 1, A n m . 1; ferner O b e r k r o m e , Volksgeschichte, S. 137ff.; w i c h t i g G e o r g von R a u c h , Vorw o r t , in: H e i n r i c h Schaudinn, Deutsche B i l d u n g s a r b e i t am lettischen V o l k s t u m des 18. J a h r h u n d e r t s , H a n n o v e r 1975, S. 3f., zuerst M ü n c h e n 1937; G e o r g von R a u c h , D i e d e u t s c h b a l t i sche G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g nach 1945, in: Ders. ( H r s g . ) , G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h b a l t i s c h e n G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , Köln/Wien 1986, S. 3 9 9 - 4 3 5 , hier S. 402. Z u m H e r d e r i n s t i t u t in R i g a vgl. jetzt a b g e w o g e n u n d gegen vorschnelle E t i k e t t i e r u n g e n n ü t z l i c h R o l a n d G e h r k e , D e u t s c h b a l t e n an der Reichsuniversität Posen, in: M i c h a e l Garleff ( H r s g . ) , D e u t s c h b a l t e n , W e i m a r e r R e p u b l i k und Drittes Reich, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3 8 9 - 4 2 6 , hier S. 3 9 4 f . B A K o b l e n z , N L 213, Nr. 142, S. 61 ( H e i d e n r e i c h ) . Z u m F o l g e n d e n die in A n m . 65 e r w ä h n ten b r i e f l i c h e n M i t t e i l u n g e n von Konrad H o f f m a n n . Z u den G r e n z e n d e r Sicht R o t h f e l s ' vgl. M o m m s e n , H a n s Rothfels, in: Wehler ( H r s g . ) , D e u t s c h e H i s t o r i k e r , S. 136.

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tum" interpretierte und verengte 6 7 . Daß es sich dabei in den baltischen Landesstaaten um eine herrschende deutsche „Minorität" handelte, w u r d e nicht verschwiegen 6 8 . Die politische Mission dieser Forschungen ist durchaus greifbar, etwa wenn in einer bei Rothfels entstandenen, aber erst nach seiner Entlassung in Riga publizierten Dissertation über den K a m p f um die Verfassung eben dieser Stadt im 19. J a h r h u n d e r t die „national-politische" und die „ideengeschichtliche" Dimension des Themas betont w u r d e , ein Thema, bei dem es um die „ständische aristokratische Verfassung" und deren Liberalisierung im städtischen Zusammenhang ging 6 9 , und zwar unter teilweiser A n l e h nung an die preußische Städteordnung v o n 1808. Die G r e n z e n des „Volkstums"-Bezugs sind von den Schülern Rothfels', w e n n der A k t e n b e f u n d es gebot, aber durchaus betont und herausgearbeitet w o r d e n 7 0 . N o c h 1935 bezeugte Jürgen von Hehn das Anliegen des Rothfels-Kreises, „zu einer Verständigung zweier V ö l k e r in dem ihnen von der Vorsehung angewiesenen Raum" zu kommen, und z w a r in einer Dissertation über die lettische N a tionalbewegung im 19. J a h r h u n d e r t 7 1 , die nicht einmal Spuren der Idyllisierung aufweist. A u c h die Leibeigenschaft in den baltischen Landesstaaten w u r d e in die Analysen einbezogen, ebenso die Folgen der A g r a r r e f o r m e n f ü r die politischen Strukturen 7 2 . Das zeigt: Jede A n a l y s e des ostmitteleuropäischen Schwerpunkts, den Rothfels in seinen Königsberger Jahren setzte, greift zu kurz, solange sie in diesen Arbeiten nicht mehr als einen Reflex politischen Engagements ver67

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Vgl. Rothfels, Der Osten, in: Ders., Ostraum, S. 3; das Zitat: ders., Reich, Staat und Nation, S. 14f.; Schaudinn, Bildungsarbeit, S. 11; ders., Das baltische Deutschtum, S. 2; Hoffmann, Volkstum, S. 19. Hans Rothfels, Die preußisch-deutsche Geschichte des Ostens, in: Werner-Rades (Hrsg.), Der Riß im Osten. Stimmen zur Korridorfrage. The Rent in the East, Berlin 1930, S. 3-8, hier S. 3. Gerhard Masing, Der Kampf um die Reform der Rigaer Stadtverfassung 1860-1870, Riga 1936, Vorwort und S. 11, S. 17, S. 34f. u. S. 119f. Vgl. Hoffmann, Volkstum, S. 10; Volkstums-Frage: Jürgen von Hehn, Die lettisch-literarische Gesellschaft und das Lettentum, Diss, phil., Königsberg (Pr.) (1935), bes. S. V (Zitat), Archivbasis: S. 5 u. S. 157; ders., Die deutschbaltische Geschichtsschreibung 1918-1939/45 in Lettland, in: Rauch (Hrsg.), Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, S. 371-398, hier S. 378f. u. S. 394. Hehn, Gesellschaft, S. 147-151 u. S. 153, zur Rolle deutscher Pastoren; gerade diese Arbeit belegt aber die erstaunliche Distanz zu völkischen Interpretationen und zur Gefahr aggressiver Aktualisierung. Vgl. Hehn, Gesellschaft, S. 1 ff.; ferner die in Anm. 65 nachgewiesenen Akten; zu weiteren baltischen Schülerarbeiten vgl. Anm. 64, besonders Karl Christoph von Stritzky, Garlieb Merkel und „Die Letten am Ende des philosophischen Jahrhunderts", Riga 1939 (Nachdruck Hannover 1975), bes. S. 1-9, (diese Arbeit zuletzt betreut von R . Wittram: S. Illf.); Rothfels, Baltic Provinces, S. 123 f.; ders., Reich, Staat und Nation, S. 9 f.; ders., Das baltische Deutschtum in Vergangenheit und Gegenwart, in: Auslandsstudien, Bd. 7: Das Auslandsdeutschtum des Ostens, hrsg. vom Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertus-Universität Königsberg, Königsberg 1932, S. 37-61, hier S. 41-43; BA Koblenz, N L 213, Nr. 39 (aus der Königsberger Zeit).

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mutet. D a s gilt auch dann, wenn die „ E n t s t e h u n g und A r t der nationalen Ideologie im 19. J a h r h u n d e r t " und die „geistigen Z u s a m m e n h ä n g e mit D e u t s c h l a n d " sehr entschieden im Z e n t r u m der Arbeit standen 7 3 . In der Emigration hat R o t h f e l s dann auch Werke polnischer A u t o r e n , etwa die Arbeiten O s k a r Haleckis, b e a c h t e t 7 4 . E r hat später die Perspektive weiter europäisiert 7 5 , was ihm aus der D D R den V o r w u r f einbrachte, ein „antinationales G e s c h i c h t s b i l d " zu propagieren 7 6 . D i e politische Mission war für den P r o f e s s o r H a n s R o t h f e l s in K ö n i g s b e r g und Riga jedenfalls nicht der alleinige B e z u g s p u n k t 7 7 . D e n n o c h hat er aus der reichlich naiven Absicht, die deutsche K u l t u r im B a l t i k u m auf diese Weise stärken zu wollen, kein G e heimnis g e m a c h t 7 8 . Das, was ihm als praktische L ö s u n g der P r o b l e m e vors c h w e b t e 7 9 , hat er - noch 1932 - mit H i n w e i s auf die in Estland seit 1925 gut verankerte K u l t u r a u t o n o m i e der dortigen Minderheiten angedeutet, die auf bestimmten Feldern sehr weitgehende Selbstverwaltungsrechte hatten. Diese basierten auf dem „Personalitätsprinzip", das schon im Mährischen Ausgleich von 1905, einige J a h r e später, 1910, in der B u k o w i n a und sodann in der U k r a i n e , dort zugunsten der jüdischen M i n o r i t ä t , in A n w e n d u n g gek o m m e n war. Diejenigen M e n s c h e n , die von b e s t i m m t e n A u t o n o m i e r e c h ten G e b r a u c h machen wollten, k o n n t e n sich in Kataster eintragen lassen. Vor allem handelte es sich dabei um Sonderrechte im Sinne einer Kulturautonomie. D i e s e sollte durch eigene Verwaltungsorgane getragen und gewährleistet werden; in Estland wurde in den zwanziger J a h r e n sogar die Kirche in diese Regelungen einbezogen. D o r t ergaben sich aus diesen P r o blemlösungen auch E f f e k t e der Stabilisierung und der produktiven Integration der verschiedenen ethnisch-kulturellen G r u p p e n , die dort seit J a h r hunderten miteinander und nebeneinander lebten, in den neuen Staat. Auch andere B e r e i c h e des Wohlfahrtswesens wurden in die H ä n d e der Volksgrup-

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N o t i z R o t h f c l s ' zu seinen baltischen Übungen (aus den Königsberger Jahren stammend), in: Ebenda. B A K o b l e n z , N L 213, Nr. 62; vgl. Hans Rothfels, Frontiers and Mass Migrations in Eastern Central Europa, in: T h e Review of Politics 8 (1946), S. 3 7 - 6 7 , hier S. 58. Z . B . Hans Rothfels, Das Baltikum als Problem internationaler Politik, in: Ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, S. 2 1 7 - 2 3 5 u. S. 2 6 0 - 2 6 3 , hier S. 219ff.; B A Koblenz, N L 213, Nr. 62; M o m m s e n , Geschichtsschreibung, in: B e n z / G r a m l (Hrsg.), Aspekte deutscher Außenpolitik, S. 26. Horst Syrbe, Revanchismus unter dem Banner der Europaideologie. Hans Rothfels und die „abendländische N e u o r d n u n g E u r o p a s " , in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11 (1963), S. 6 7 9 - 7 0 3 , hier S. 681 f.; in dieser Arbeit aus bester D D R - P r o d u k t i o n sind schon alle wesentlichen Elemente der radikalen Kritik an Rothfels enthalten, die späterhin als neu in Umlauf gebracht worden sind. Z u m Herderinstitut siehe A n m . 65; zur Gastprofessur in Riga vgl. Rauch, Vorwort, in: Schaudinn, Bildungsarbeit, S. 3. Vgl. Hans Rothfels, Universität und Auslandsdeutschtum. Eine akademische Rede 1932, in: Ders., O s t r a u m , S. 1 2 4 - 1 2 8 , hier S. 124 f.; ders., Bismarck, der Osten und das Reich, S. V I I f. Näheres bei Neugebauer, Hans Rothfels' Weg, in: Müller (Hrsg.), Osteuropäische G e schichte, S. 3 7 4 f . , mit Literatur.

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pen gelegt, die aus denen bestanden, die zu den jeweiligen nationalen S o n dergemeinschaften im Staat gezählt w e r d e n w o l l t e n . F ü r diese G r u p p e n , e t w a f ü r die Deutschen in Estland, w u r d e ein eigenes „ K u l t u r p a r l a m e n t " geschaffen, das v o r allem in der Bildungspolitik beträchtliche K o m p e t e n z e n besaß. Diese K u l t u r a u t o n o m i e reduzierte Spannungen, die sonst einige S p r e n g k r a f t hätten g e w i n n e n k ö n n e n , und sie b o t den G r u p p e n im ethnisch i n h o mogenen O s t m i t t e l e u r o p a potentiellen Bestandsschutz gegen b e f ü r c h t e t e o d e r d r o h e n d e Zwangsassimilation. Eine solche L ö s u n g b e r u h t e auf ö f f e n t lich-rechtlichen G r u n d l a g e n , aus denen sich bestimmte Besteuerungs- und V e r o r d n u n g s r e c h t e ergaben 8 0 . Die Deutschen w a r e n - nach R o t h f e l s - eine der G r u p p e n 8 1 , die auf der Basis eines „Erbe(s) an Q u a l i t ä t e n " 8 2 u n d v o n „geistigen u n d kulturellen Werten" diese Politik k u l t u r a u t o n o m e r Integration in den neuen Staaten tragen u n d d o r t v o r a n t r e i b e n müßten. D i e „baltischen Deutschen" seien „die Vorstreiter eines Prinzips [...], das auch dem Interesse des M e h r h e i t s v o l k e s und des Staates", also doch w o h l der neuen baltischen Nachkriegsstaaten, „entspricht"; v o n deren Existenz ging R o t h fels 1 9 3 2 ganz selbstverständlich aus. A u s d r ü c k l i c h hat er den Verzicht auf jede „Germanisierungspolitik" als integralen Bestandteil dieser K o n z e p t i o n bezeichnet. Eine solche Politik beruhte f ü r ihn auf „gemeinbaltische(r) Tra-

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Vgl. Michael Garleff, Deutschbaltische Politik z w i s c h e n den Weltkriegen. Die p a r l a m e n t a r i sche Tätigkeit der deutschbaltischen Parteien in Lettland u n d Estland, B o n n - B a d G o d e s b e r g 1976, S. 104 („Personalitätsprinzip", Kataster), auch zu den (österreichischen) Vorbildern, S. 106-113; J ü r g e n von H e h n , Die U m s i e d l u n g der baltischen Deutschen - das letzte Kapitel baltischdeutscher Geschichte, M a r b u r g / L a h n 1984, S. 11 f.; Michael Garleff, Die kulturelle S e l b s t v e r w a l t u n g der nationalen M i n d e r h e i t e n in den baltischen Staaten, in: Boris M e i s s n e r (Hrsg.), Die baltischen N a t i o n e n . Estland, Lettland, Litauen, Köln 2 1991, S. 8 7 - 1 0 7 , hier S. 94 f. u. S. 99f.; Michael Garleff, Die Baltendeutschen als nationale M i n d e r h e i t in den u n a b h ä n g i g e n Staaten Estland u n d Lettland, in: W e r n e r C o n z e u . a . ( H r s g . ) , Deutsche Geschichte im O s t e n Europas, Bd. 4: Baltische Länder, hrsg. von Gert von Pistohlkors, Berlin 1994, S. 4 5 1 - 5 5 0 u. S. 5 6 4 - 5 6 6 - mit den dortigen Belegen, hier S. 498 f.; vgl. noch verschiedene Beiträge in: N o r d o s t - A r c h i v . Zeitschrift für Regionalgeschichte 5 (1996), Heft 2: Von der Oberschicht z u r M i n d e r h e i t . Die deutsche M i n d e r h e i t in Lettland 1917-1940; Dietrich A . Loeber, Die M i n d e r h e i t e n s c h u t z v e r t r ä g e - Entstehung, Inhalt u n d W i r k u n g , in: O s t m i t teleuropa z w i s c h e n den beiden Weltkriegen (1918-1939). Stärke und S c h w ä c h e d e r neuen Staaten, nationale M i n d e r h e i t e n , hrsg. von H a n s L e m b e r g , M a r b u r g 1997, S. 189-200, hier: S. 195 ff. Vgl. jetzt auch Klaus H o r n u n g , H a n s R o t h f e l s u n d die N a t i o n a l i t ä t e n f r a g e n in Ostmitteleuropa 1926-1934, Bonn 2001, S. 39.

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D i e Kategorie der Q u a l i t ä t ist bei Rothfels, der sich freilich, w i e e r w ä h n t , primär d e m deutschen Element in O s t m i t t e l e u r o p a z u w a n d t e , nicht auf dieses beschränkt. Die Kategorie der Qualität ist prinzipiell plural gedacht, w i e auch im f o l g e n d e n Zitat („Fülle" der ethnischkulturellen Elemente als zu k o n s e r v i e r e n d e m Z u s t a n d ) e r k e n n b a r ist. N o c h 1933 spricht Rothfels von der „ A n e r k e n n u n g eines qualitativen u n d selbstverantwortlichen N e b e n e i n a n ders der V o l k s t ü m e r im Staat", ders., P r o b l e m des N a t i o n a l i s m u s , in: B r a c k m a n n (Hrsg.), Deutschland, S. 264. H a n s Rothfels, Das baltische D e u t s c h t u m , in: A u s l a n d s s t u d i e n , Bd. 7, Zitat S. 57, die folgenden Zitate S. 57 f.

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d i t i o n " , die „die G r u n d l a g e a b g e g e b e n hat zur V e r s t ä n d i g u n g ü b e r die sogenannte Kulturautonomie". D i e s e V e r w u r z e l u n g der k o r p o r a t i v fundierten A u t o n o m i e p o l i t i k in der h i s t o r i s c h e n T r a d i t i o n war es nun, die R o t h f e l s ex p r o f e s s i o thematisierte u n d die ihn a u c h politisch faszinierte. „ M a n k ö n n t e die V o r g e s c h i c h t e dieses G e d a n k e n s g r u n d s ä t z l i c h e r nationaler T o l e r a n z " , s o R o t h f e l s 1932, „weit z u r ü c k v e r f o l g e n . M a n k ö n n t e erinnern an die Zeit, da in F r a n k r e i c h die religiöse T o l e r a n z zuerst errungen w u r d e , an jene E d i k t e , die den H u g e n o t t e n S i c h e r h e i t s p l ä t z e g e w ä h r t e n , in denen sie aus staatlich ü b e r t r a g e n e m R e c h t ihrem G l a u b e n leben durften. W i e damals das cuius regio eius religio d u r c h b r o c h e n w u r d e , s o heute das cuius regio eius natio. N u r d a ß es dazu keines Staates m e h r bedarf. Träger der K u l t u r a u t o n o m i e ist keine G e b i e t s k ö r p e r s c h a f t , s o n d e r n ein reiner P e r s o n a l v e r b a n d mit ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e m C h a r a k t e r " , u m g r e n z t in einem N a t i o n a l i t ä t e n - K a t a s t e r . In E s t l a n d ruhte diese, in E u r o p a also d u r c h a u s s c h o n e r p r o b t e L ö s u n g z u d e m auf eigenen h i s t o r i s c h e n F u n d a m e n t e n : „ D i e kulturelle A u t o n o m i e ist nahe v e r w a n d t mit d e m s t ä n d i s c h e n P r i n z i p der baltischen Vergangenheit. A u c h sie stellt Q u a l i t ä t s u n t e r s c h i e d gegen E i n e r l e i h e i t , eigene E n t f a l t u n g gegen künstliches

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c h e n , auch sie will gestufte F ü l l e und o r g a n i s c h e G l i e d e r u n g . I h r F u n k t i o nieren hängt ab v o n j e n e m G e i s t g e n o s s e n s c h a f t l i c h e r Solidarität, wie er in J a h r h u n d e r t e n e r w a c h s e n ist. S o handelt es sich hier g e w i ß nicht u m ein beliebig ü b e r t r a g b a r e s S c h e m a . " R o t h f e l s w o l l t e also die k u l t u r e l l - e t h n i s c h e „ F ü l l e " b e w u ß t k o n s e r v i e r e n und nicht eliminieren. E r verwies dabei auf die j e w e i l i g e n L a n d e s t r a d i t i o n e n , die - wie er es in weiteren Details b e s c h r i e b - s c h o n im Vergleich z w i s c h e n Estland und L e t t l a n d zu D i f f e r e n z i e r u n g e n f ü h r t e n . M a g dieser G e d a n k e , auf den R o t h f e l s u m 1 9 3 0 und später i m m e r w i e d e r B e z u g n a h m 8 3 und der auf die k o r p o r a t i v e n L a n d e s t r a d i t i o 83

V g l . auch R o t h f e l s , R e i c h , Staat u n d N a t i o n , S. 22; ders., P r o b l e m des N a t i o n a l i s m u s , in: B r a c k m a n n ( H r s g . ) , D e u t s c h l a n d , S. 2 6 4 ; ders., D a s W e r d e n des M i t t e l e u r o p a g e d a n k e n s . E i n V o r t r a g 1 9 3 3 , in: D e r s . , O s t r a u m , S. 2 2 8 - 2 4 8 , hier S. 2 4 5 f.; a l l g e m e i n e r ders., U n i v e r s i t ä t , in: E b e n d a , S. 128. In seiner V o r l e s u n g aus den s e c h z i g e r J a h r e n : B A K o b l e n z , N L 2 1 3 , N r . 120, S. 12, S. 2 5 f. ( a u c h z u r R o l l e des ö s t e r r e i c h i s c h e n M a r x i s m u s ) ; ders., G r u n d s ä t z l i c h e s z u m P r o b l e m d e r N a t i o n a l i t ä t , in: H i s t o r i s c h e Z e i t s c h r i f t 174 ( 1 9 5 2 / 5 3 ) , S. 3 3 9 - 3 5 8 , hier S. 3 4 9 , vgl. a u c h S. 3 4 0 f.; ders., D i e N a t i o n s i d e e in w e s t l i c h e r und ö s t l i c h e r S i c h t , K ö l n - B r a u n s f e l d 1 9 5 6 , S. 7 - 1 8 , hier S. 17; s c h o n 1944 ders., B a l t i c P r o v i n c e s , S. 138. V g l . auch ders., D a s erste S c h e i t e r n des N a t i o n a l s t a a t s in O s t - M i t t e l - E u r o p a 1 8 4 8 / 4 9 , in: D e r s . / M a r k e r t ( H r s g . ) , D e u t s c h e r O s t e n , S. 5 - 1 6 , hier S. 15. In den A r b e i t e n des K ö n i g s b e r g e r R o t h f e l s - K r e i s e s ist dieser p r o g r a m m a t i s c h e H i n t e r g r u n d b i s w e i l e n drastisch zu s p ü r e n . E s sei die letzte Seite aus der D i s s e r t a t i o n des ( n e b e n S c h a u d i n n ) engsten M i t a r b e i t e r s v o n R o t h f e l s aus diesen J a h r e n , K o n r a d H o f f m a n n , zitiert, aus seiner n o c h 1 9 3 9 in K ö n i g s b e r g e r s c h i e n e n e n S c h r i f t : V o l k s t u m u n d s t ä n d i s c h e O r d n u n g , s. o. A n m . 3 0 , S. 150: „ E s liegt u n s n i c h t o b , V e r m u t u n gen ü b e r die H a l t b a r k e i t der s o gestalteten G e m e i n s c h a f t d e r V o l k s g r u p p e n bei e i n e m a n d e ren G a n g d e r D i n g e aufzustellen, aber die A r b e i t sollte zeigen, daß in d e m L a n d e s s t a a t und u n t e r seinen M e n s c h e n P r i n z i p i e n lebendig w a r e n , die ü b e r eine b e g r e n z t e Z e i t s p a n n e hinaus geeignet w a r e n , das Z u s a m m e n l e b e n von V o l k s g r u p p e n in einer festen O r d n u n g f r u c h t b a r zu gestalten u n d s o d e m C h a o s zu w e h r e n , in d e m w i r sie h e u t e in d e r G e m e n g e l a g e O s t m i t t e l e u r o p a s s e h e n . Sie v e r b a n d e n sich mit einer G e s i n n u n g , die sich an ü b e r d a u e r n d e

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nen u n d p r a k t i s c h e E r f a h r u n g e n aus der H a b s b u r g e r m o n a r c h i e (und d o r t auf s o z i a l d e m o k r a t i s c h e E n t w ü r f e ) z u r ü c k g i n g 8 4 , aus der Perspektive k o m m e n d e r E n t w i c k l u n g e n geradezu naiv, ja vielleicht hilflos erscheinen, so w a r damit d o c h ein v o n D e u t s c h b a l t e n u n d J u d e n - Russen und S c h w e d e n machten keinen G e b r a u c h v o n diesem Instrument - bereits praktiziertes M o d e l l aufgezeigt, in dessen R a h m e n Bestandsschutz f ü r die eigene M i n o r i tät g e w o n n e n u n d neue W e g e f r i e d l i c h e r Integration beschritten w e r d e n k o n n t e n . D i e aktuelle v ö l k e r r e c h t l i c h e E n t w i c k l u n g des Instruments d e r K u l t u r a u t o n o m i e v e r w e i s t auch heute noch auf A k t u a l i t ä t und Realitätsgehalt s o l c h e r K o n z e p t i o n e n 8 5 . A l l e r d i n g s : So w i e der o s t m i t t e l e u r o p ä i s c h - k o r p o r a t i s t i s c h e A n s a t z R o t h f e l s ' in S p a n n u n g stand zu seiner letztlich stark d e u t s c h t u m s z e n t r i e r ten Perspektive, so kollidierte die S u c h e nach praktischen L ö s u n g e n mit eskalierender Kampfesrhetorik und dem wachsendem Einfluß national-nationalistischer D e n k f o r m e n , die auch R o t h f e l s erfaßten. Bekanntlich hat d e r H i s t o r i k e r aus g u t b ü r g e r l i c h - j ü d i s c h e m H a u s 1 9 6 5 selbst zugegeben, daß er „eine Zeitlang mitbefangen" gewesen sei in A f f i n i t ä t e n z u m - w i e er sagte „Rassegedanken" 8 6 . M a n c h e „Entdeckungen" der letzten Zeit sind also keine. In d e r Tat hat R o t h f e l s in den J a h r e n 1931 bis 1 9 3 4 nicht n u r die A u f gabe d e u t s c h e r K u l t u r , „Sperre gegen den barbarischen Osten" z u sein, in i m m e r neuen W e n d u n g e n stark a k z e n t u i e r t , sondern auch v o n der „ Ü b e r l e genheit d e r w i r t s c h a f t l i c h e n , der geistigen und religiösen K u l t u r " der D e u t schen g e s p r o c h e n 8 7 . Freilich hat er auch hinzugefügt, daß im preußischen O s t e n gerade nicht die „völkische Zugehörigkeit" f ü r politisches H a n d e l n Werte g e b u n d e n glaubte, u n d die nicht d a r a n dachte, sich den b e q u e m s t e n , den k a m p f l o s e n W e g a u s z u s u c h e n , w i e es in den W o r t e n des u n s bekannten Landrats L. A. Graf Mellin, eines f ü h r e n d e n u n d deutsch b e w u ß t e n E d e l m a n n e s , z u m A u s d r u c k k o m m t : ,Ich m u ß mich mit B e s t i m m t h e i t gegen alles e r k l ä r e n , w a s d a z u beitragen kann, der lettischen Sprache E i n d r a n g z u tun [ . . . ] Ich halte dafür, d a ß keine S p r a c h e ausgerottet w e r d e n darf, u m es d e m herrschenden Teil k o m m o d e zu m a c h e n , o d e r u m die Beherrschten zu heben oder zu veredlen.' ,Für die Sprache u n d das E i g e n t ü m l i c h e jeder N a t i o n hege ich große A c h t u n g , insofern nichts off e n b a r S c h ä d l i c h e s d a r i n liegt.' , M a n b e g e g n e unsre Ernährer, die Bauern, nur mit g e b ü h r e n d e m A n s t ä n d e u n d A c h t u n g , so w e r d e n sie auch A c h t u n g für sich selbst fassen, und keine D e u t s c h e n zu w e r d e n verlangen. D i e g e r m a n i s i e r t e n Letten k o m m e n mir vor, w i e die unter d e r f r a n z ö s i s c h e n A n m a ß l i c h k e i t sich s c h m i e g e n d e n französischen D e u t s c h e n . ' " U n d er schließt mit d e r A u f f o r d e r u n g : „Der Lette bleibe also ein Lette, und der Este ein Este u n d w e r d e in k e i n e n Z w i t t e r u m g e s c h a f f e n . " 84

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Vgl. Garleff, D e u t s c h b a l t i s c h e Politik, S. 104, auch zu den österreichischen S o z i a l d e m o k r a ten u n d K a u t s k y . V g l . Dieter B l u m e n w i t z , V o l k s g r u p p e n u n d M i n d e r h e i t e n . Politische Vertretung und Kult u r a u t o n o m i e , Berlin 1995, S. 41. H a n s R o t h f e l s , D i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t in d e n dreißiger J a h r e n , in: A n d r e a s Elitner ( H r s g . ) , D e u t s c h e s Geistesleben u n d N a t i o n a l s o z i a l i s m u s . Eine Vortragsreihe d e r U n i v e r s i tät T ü b i n g e n , T ü b i n g e n 1965, S. 9 0 - 1 0 7 , hier S. 95 f. Rothfels, Die p r e u ß i s c h - d e u t s c h e Geschichte, in: W e r n e r - R a d e s (Hrsg.), Der Riß, S. 3, S. 7 u. S. 5: „Eine G e r m a n i s i e r u n g im rassischen Sinne hat nirgends s t a t t g e f u n d e n " ; z u r Zeit nach 1772 ders., D e r O s t e n , in: Ders., O s t r a u m , S. 6 f.; M i s s i o n der A b w e h r des K o m m u n i s m u s : ders., Das baltische D e u t s c h t u m , in: A u s l a n d s s t u d i e n , Bd. 7, S. 54.

Hans Rothfels und Ostmitteleuropa

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b e s t i m m e n d sei. In d e m b e r ü h m t e n B a n d , d e n d e u t s c h e H i s t o r i k e r z u m W a r s c h a u e r H i s t o r i k e r t a g des J a h r e s 1933 lieferten u n d d e r in sicherer E r w a r t u n g p o l n i s c h - f r a n z ö s i s c h e r S c h r i f t e n mit p o l n i s c h e n A n s p r ü c h e n s o w o h l auf Schlesien als auch auf P o m m e r n a b g e f a ß t w u r d e 8 8 , hat R o t h f e l s d a n n seinerseits mit der b e s o n d e r e n „ Q u a l i t ä t " u n d d e r A r b e i t eines V o l k e s a r g u m e n t i e r t , die A n s p r ü c h e auf L a n d b e g r ü n d e t e n 8 9 . S c h o n 1996 habe ich auf d e n Text einer R e d e h i n g e w i e s e n , d i e R o t h f e l s a m 8. J a n u a r 1933 gehalten hat, in d e r er nicht nur die „ B e s e i t i g u n g d e r w i d e r n a t ü r l i c h e n G r e n z e n " f o r d e r t e , s o n d e r n d e m „ D e u t s c h t u m " A u f g a b e n a u c h g e g e n ü b e r d e n „kleinen östlichen V ö l k e r n " z u w i e s . „ L o k a l e G r e n z r e v i s i o n e n " allein reichten in seinen A u g e n nicht aus; das „ d e u t s c h e V o l k " sei a u f g e r u f e n z u r „ O r d n u n g z w i s c h e n den V ö l k e r n " u n d z u r E r h a l t u n g d e s „ b ä u e r l i c h e n S i e d l u n g s r a u m e s bis nach S o w j e t r u ß l a n d " , a u c h g e g e n den „ k u r z s i c h t i g e n E g o i s m u s P o lens"90. Was sollte d a s heißen? M a n c h e A u t o r e n h a b e n d a r a u s die P r o p a g i e r u n g v o n „ Z u g r i f f s r e c h t e n " D e u t s c h l a n d s a u f d i e Staaten in O s t e u r o p a g e m a c h t , w a s d u r c h a u s nicht z w i n g e n d ist 9 1 . R o t h f e l s h a b e P o l e n d e m n a c h ein eigenes S t a a t s g e b i e t ü b e r h a u p t b e s t r i t t e n 9 2 . D i e fast g l e i c h z e i t i g e n u n d d i e e t w a s späteren Postulate Rothfels', die nahezu unlösbaren Nationalitätenprob l e m e in O s t m i t t e l e u r o p a mit d e n M i t t e l n k o r p o r a t i v a n g e l e g t e r A u t o n o m i e m o d e l l e zu e n t s c h ä r f e n 9 3 , d e u t e n a b e r in eine a n d e r e R i c h t u n g . A m 15. J a n u a r 1933 hat R o t h f e l s j e d e n f a l l s mit B l i c k auf d i e im „ W e s e n national W o r a u f die wichtige Studie von B u r k c r t , O s t w i s s e n s c h a f t e n , S. 106 f. u. S. 138, A n m . 98, hingewiesen hat; danach haben die Arbeiten an d e m von A l b e r t B r a c k m a n n h e r a u s g e g e b e n e n B a n d (vgl. A n m . 33) schon 1931 b e g o n n e n ; z u r H a l t u n g von R o t h f e l s b e m e r k e n s w e r t B u r kert, O s t w i s s e n s c h a f t e n , S. 107ff. u. S. 137 f., w o r a u f hier nur s u m m a r i s c h verwiesen werden kann. D e s h a l b überholt Ingo H a a r , H i s t o r i k e r im N a t i o n a l s o z i a l i s m u s . D e u t s c h e G e schichtswissenschaft und der „ V o l k s t u m s k a m p f " im O s t e n , G ö t t i n g e n 2000, S. 116 ff., S. 145 f.; Michael Burleigh, G e r m a n y turns e a s t w a r d s . A S t u d y of O s t f o r s c h u n g in the T h i r d Reich, C a m b r i d g e 1988, S. 62 ff.; Kater, R e f u g e e H i s t o r i a n s , in: L e h m a n n / S h e e h a n ( H r s g . ) , Interrupted Past, S. 88 f.; b e m e r k e n s w e r t auch d a s Material in d e r N i e d e r s ä c h s i s c h e n Staatsund U n i v e r s i t ä t s - B i b l i o t h e k G ö t t i n g e n , C o d . M s . K . Brandl, 2 b. 119 Vgl. A n m . 81 und 82; R o t h f e l s , P r o b l e m des N a t i o n a l i s m u s , in: B r a c k m a n n ( H r s g . ) , D e u t s c h l a n d , S. 268 f.: es stelle sich „ d i e tiefer greifende F r a g e , o b nicht ein Volk über die arithmetischen Verhältnisse hinaus auf G r u n d v o n L e i s t u n g u n d Q u a l i t ä t A n s p r u c h auf ein L a n d besitzt, d a s d u r c h seine Arbeit v o r allem zur Blüte gebracht w o r d e n ist." Kritische R e a k t i o n e n der polnischen H i s t o r i o g r a p h i e ( H a l e c k i , J . F e l d m a n n ) in U b e r s e t z u n g e n in: B A K o b l e n z , N L 213, N r . 66, u.a. mit d e m V o r w u r f der V e r n a c h l ä s s i g u n g d e s polnischen Elem e n t s in der preußischen Geschichte. Vgl. auch R o t h f e l s , Versailles, S. 11 (Zitat w i e o b e n ! ) . 9 C Vgl. N e u g e b a u e r , H a n s R o t h f e l s ' Weg, in: Müller ( H r s g . ) , O s t e u r o p ä i s c h e Geschichte, S. 348 ff.; R o t h f e l s , B e d e u t u n g , in: O s t p r e u ß e n - w a s es leidet, w a s es leistet, bes. S. 20; d a z u d a s V o r w o r t , S. 3; vgl. zu dieser Schrift A n m . 21. 9 1 H a a r , Historiker, S. 124, vgl. S. 200; vgl. ders., Q u e l l e n k r i t i k o d e r K r i t i k d e r Q u e l l e n ? Replik auf H e i n r i c h A u g u s t Winkler, in: V f Z 50 (2002), S. 4 9 7 - 5 0 5 , hier S. 502 f.; d a g e g e n Heinrich A u g u s t Winkler, G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t o d e r G e s c h i c h t s k l i t t e r u n g ? I n g o H a a r und H a n s R o t h f e l s : Eine E r w i d e r u n g , in: E b e n d a , S. 6 3 5 - 6 5 2 , bes. S. 643 ff. W Vgl. Petters, H a n s R o t h f e l s , S. 55. w Vgl. A n m . 8 0 - 8 4 . ss

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gemischtefn] Gebiete" von der „berechtigten Selbständigkeit der Völker" gesprochen 9 4 . Diejenigen Aufgaben in Osteuropa, die er dem „deutschen Volke" bzw. unscharf „Deutschland" - nicht einem großdeutschen Staat zuschrieb, ließen also noch Platz für die „Selbständigkeit" der anderen Völker. Der Hinweis auf Rothfels' Revisionismus und Expansionismus hilft also noch nicht weiter 9 5 . Die Frage ist, ob mit der offensiv begründeten O s t mission die Schwelle von der Weimarer zur nationalsozialistischen Programmatik überschritten wurde. Dafür ist der Befund entscheidend, daß Rothfels noch in der Hochphase seiner argumentativen Radikalisierung, selbst 1934, die Existenz eines polnischen Staates, wohlgemerkt eines selbständigen Staates, nicht negierte. Die Wiederherstellung Polens nach dem Ersten Weltkrieg war seiner Einschätzung nach das Ergebnis anerkennenswerter und ausdrücklich anerkannter „Zähigkeit und Opferbereitschaft", die das polnische Volk durch eineinhalb Jahrhunderte bewiesen habe. „Eine ganz andere Frage aber ist", so Rothfels weiter, ob die gegenwärtige „Ausdehnung" des polnischen Staates erforderlich sei 9 6 . Damit war die polnische Eigenstaatlichkeit nicht bestritten; es ging auch Rothfels um die Revision derjenigen Grenzen, die in dieser Sicht zu einer „Zerreißung des ganzen östlichen Raumes" geführt hatten. In den dortigen Staaten bedürfe es eines geordneten „Nebeneinanders der Volkstümer" mit gesichertem Minoritätenschutz 9 7 . Rothfels' Forderung nach einer politischen Neuordnung 9 8 in O s t mitteleuropa - der nach Jörg Hackmann 9 9 auch parallele polnische Forderungen entsprachen - ging von einer ostmitteleuropäischen Staatenvielfalt bei revidierten Grenzen aus, wobei die „Prinzipien des Zusammenwohnens mit anderen Völkern im Osten" durchaus gewahrt werden sollten (1932/35) 1 0 0 . Ganz ausdrücklich verwarf er deshalb - noch 1933 und an exponierter Stelle - jede „gewalttätige Ausdehnungs- und Verdrängungspolitik" 1 0 1 . Von Lust auf Vertreibungen war nicht die Rede, auch nicht von

Rothfels, Mitteleuropagedanke, in: Ders., Ostraum, S. 232. (S. 256: Vortrag vom 15. Januar 1933, wenige Tage später wiederholt). 9 * Vgl. Roth, Hans Rothfels, S. 1066ff. 9 6 Rothfels, Versailles, S. 4; vgl. ders., „Korridorhistorie". Einige Glossen zu dem Buch „La Pologne et la Baltique", in: Historische Zeitschrift 148 (1933), S. 2 9 4 - 3 0 0 , hier S. 294. 9 7 So 1933 Rothfels, Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 264; daß Rothfels nie einer Vertreibung der polnischen Bevölkerung das Wort geredet hat, betont ganz zu Recht Winkler, Lobredner, S. 649 f., ebenso wie den Unterschied des staatsbezogen argumentierenden Rothfels' zu den Positionen Schieders und Conzes. 9 8 Vgl. Rothfels, Ostraum, S. X ; ders., Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 2 6 9 f . ; Neuordnung nach „Grad kultureller Leistung" der Völker - was freilich eine Radikalisierung in der Argumentation Rothfels' in Richtung einer Hierarchisierung anzeigt; ders., Universität, in: Ders., Ostraum, S. 128: Neuordnung, die „jedem Volke das seine gibt"; vgl. Anm. 101. 94

99 100 101

Vgl. Hackmann, Landesgeschichte, (Manuskript, wie Anm. 16), S. 324 f. Rothfels, Bismarck und die Nationalitätenfragen, in: Ders., Ostraum, S. 89 f. S o Rothfels, Problem des Nationalismus, in: Brackmann (Hrsg.), Deutschland, S. 269, im Jahre 1933: „Nicht eine gewalttätige Ausdehnungs- und Verdrängungspolitik oder ein na-

Hans Rothfels und Ostmitteleuropa

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einer Negation der neuen Eigenstaatlichkeiten in Ostmitteleuropa, die mit korporativen, traditionsgestützten Verfassungselementen unter den spezifischen ethnischen Verhältnissen - eben ohne Venreibungen - erst möglich gemacht werden sollten. Die Suche nach Lösungen in Anlehnung an das estländische Gesetzeswerk von 192 5 1 0 2 bedeutete zugleich die explizite A n e r kennung auch der neuen Staaten im baltischen Raum. So hielt sich Rothfels auch nach 1931 noch innerhalb traditioneller Grenzen politischer P r o gramme, Grenzen der Staatlichkeit und ständischer Korporationen. A b e r der verbale Radikalismus kam diesen Grenzen gefährlich nahe, gefährlich für den Uberschritt hin zu neuen, zu katastrophal „modernen" Wegen.

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tionaler Partikularismus und Autarkismus [...], sondern nur eine organische Neuordnung nach der Reife der Volkskräfte und nach dem Grad kultureller Leistung kann den östlichen Raum vor dem Chaos bewahren, das in ihm selbst lauert und das ihm von außen droht." In diesem Text (S. 264) zu den Autonomiemodellen, von denen die Rede war. Organische Neuordnung war also durch eine gewalt- und vertreibungslose Politik gekennzeichnet. Diese Politik war in besonderem Maße Aufgabe des deutschen „Volkes" (vgl. die Andeutung S. 290). Die betreffenden nationalen Gruppen (nicht nur eine!) waren durch historische Qualität dazu prädestiniert. Wie Rothfels sich diese Neuordnung dachte und woran er bis in die Forschungen seiner Schüler hinein arbeitete, wird bei Anm. 80-84 gezeigt. Dazu besonders die Studien von Garleff in Anm. 80.

Ingo

Haar

Anpassung und Versuchung H a n s Rothfels und der Nationalsozialismus

Hans Rothfels zählte 1965 in seiner Schrift über die „Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren" die politischen Dispositionen auf, die seiner Meinung nach eine Verständigung von bürgerlichen Eliten und dem Nationalsozialismus ermöglicht hatten: der Großdeutsche Gedanke, der die Vereinigung von Deutschland und Osterreich forderte, die Jugendbewegung und ihr Engagement für die deutschen Volksgruppen jenseits der Reichsgrenzen, der Mitteleuropagedanke, der eine Integration der Staaten Ostmitteleuropas in den deutschen Wirtschaftsraum anstrebte, und die Erinnerung an die Kriegsziele des Ersten Weltkrieges. Als letzten „Brückenschlag" nannte er den „Rassegedanken". Dabei räumte er ein, dass er „eine Zeitlang mitbefangen" gewesen sei 1 , was sich auch daran zeigte, dass er Kontakte zu Hermann Rauschning, dem NS-Senatspräsidenten unterhielt. Hans Rothfels wies aber auch auf eine Minderheit unter den deutschen Historikern hin, die vor 1933 dem neuen Geschichtsverständnis entgegentrat, das Konservative und Nationalsozialisten einte. Er nannte Friedrich Meinecke und seine Historische Reichskommission. Da Rothfels, selbst ein Schüler Meineckes, der Kommission angehört hatte, ergeben sich Widersprüche. Ist Rothfels zusammen mit Meinecke dem völkisch-nationalistischen Geschichtsverständnis entgegengetreten und hat danach zugleich mit einem NS-Vertreter kooperiert? Gab es einen „Brückenschlag" zwischen ihm und den Nationalsozialisten, der im Widerspruch zu Rothfels' Verfolgtenschicksal steht? Rothfels war kein Freund der Nationalsozialisten. Seine anscheinend widersprüchliche Haltung regt aber einige Fragen über die Kooperation von konservativen und nationalsozialistischen Eliten an: Welche Position nahm er ein, als sein Lehrer Friedrich Meinecke ab 1930 als Präsident der Historischen Reichskommission dem Rechtsruck in der „Zunft" entgegentrat? Wie dachte Rothfels im Wendejahr 1932/33 über eine Kooperation von Jung'

Hans Rothfels, D i e Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Andreas Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965, S. 9 0 - 1 0 7 , besonders S. 93 f., Zitate S. 95.

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konservativen und Nationalsozialisten? Welche Ordnungsvorstellungen leiteten ihn in der deutsch-polnischen Grenz- und Minderheitenpolitik? Und schließlich: Welche Handlungsspielräume nutzte er im NS-Regime, um seine Emigration vorzubereiten?

Hans Rothfels und die Geschichtswissenschaft in der Weimarer Republik Es ist bekannt, dass die Weimarer Republik von den alten akademischen Eliten und den politischen Akteuren der Rechtsparteien mehr als N o t denn als Notwendigkeit begriffen wurde 2 . N u r wenige Historiker, die sich der Mitarbeit an der neuen Reichsverfassung und in demokratischen Gremien nicht versagten, begriffen sich wie Friedrich Meinecke als „Vernunftrepublikaner", obwohl auch sie dem preußischen Machtstaat nachtrauerten 3 . Es war Meineckes Absicht, dem neuen sozialdemokratischen und liberalen akademischen Nachwuchs den Weg in die Historikerkommission des Reiches und auf die Lehrstühle zu bahnen. Demokratische oder liberale Historiker wie Wilhelm Mommsen in Marburg, Walter Goetz in Leipzig oder O t t o Hoetzsch in Berlin waren bis dahin Ausnahmen gewesen. Ihnen stand eine Mehrheit von Historikern gegenüber, der es um zweierlei ging: das Ende des Parlamentarismus und machtpolitische Handlungsfreiheit nach außen. Unter den Nachwuchshistorikern, die von Meinecke gefördert und in der Weimarer Republik tonangebend wurden, nahm Hans Rothfels eine Position am rechten Rand ein. Das zeigt auch seine Themenwahl. Er arbeitete weder wie H a j o Holborn an einer Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, noch ging er wie Hans Rosenberg der Frage nach dem frühzeitigen Scheitern des deutschen Liberalismus nach. Einer Aufarbeitung der Sozialistengesetze durch Gustav Mayer stand er nicht nur ablehnend gegenüber 4 , sondern er verhinderte 1930 sogar dessen Vorhaben einer Geschichte der Verfolgung der Sozialdemokratie im Kaiserreich, obwohl es sich um ein Projekt handelte, das die kurz zuvor gescheiterte Regierung der Großen Koalition der Historischen Kommission für das Reichsarchiv, einer Unter-

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Vgl. Bernd Faulenbach, Nach der Niederlage. Zeitgeschichtliche Fragen und apologetische Tendenzen in der Historiographie der Weimarer Zeit, in: Peter Schöttler (Hrsg.), G e schichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Frankfurt a . M . 1997, S. 3 1 - 5 1 , bes. S. 44. Friedrich Meinecke, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik (Januar 1919), in: Ders., Werke, B d . 2: Politische Schriften und Reden, hrsg. und eingel. von G e o r g Kotowski, Darmstadt 1958, S. 2 8 0 - 2 9 8 , hier S. 281. Vgl. Lothar Machtan, Hans Rothfels und die sozialpolitische Geschichtsschreibung in der Weimarer Republik, in: Ders., Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung, Frankfurt a . M . 1994, S. 3 1 0 - 3 8 4 , bes. S. 366 ff.

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kommission der Historischen Reichskommission, übertragen hatte. Als ordentliches Mitglied der Unterkommission behielt Rothfels sich das Recht auf Akteneinsicht für sein eigenes Forschungsvorhaben vor, das die G e schichte des Bismarckschen Sozialstaates behandelte. An Mayers Projekt, das der sozialdemokratische preußische Ministerpräsident O t t o Braun persönlich protegierte, bemängelte er den „parteipolitischen Z w e c k c h a r a k ter" 5 . Auch die kulturpolitischen Versöhnungsgesten von Außenminister Gustav Stresemann gegenüber der Sowjetunion lehnte er ab, o b w o h l der deutsch-sowjetische Kulturaustausch ein wichtiges I n s t r u m e n t der damaligen Außenpolitik war, um die Isolation gegenüber Westeuropa zu d u r c h brechen und Polen im Bündnis mit der Sowjetunion einzukreisen. So feindete Rothfels beispielsweise die Initiative des Berliner Osteuropahistorikers O t t o Hoetzsch an, sowjetischen Historikern den Zugang zu den A k t e n über die Sozialistenverfolgung zu ermöglichen, die im Geheimen Preußischen Staatsarchiv aufbewahrt wurden. D e n damaligen Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, Albert Brackmann, bezeichnete er als „Verwaltungsmann und Braunianer", obwohl dieser die Politik Stresemanns selbst nur widerwillig unterstützte 6 . Rothfels' Oppositionsrolle in der Historischen Kommission f ü r das Reichsarchiv war ungewöhnlich, weil sie in erster Linie seine beiden Lehrer traf, nämlich Friedrich Meinecke und H e r m a n n O n c k e n . Als erklärte „Vernunftrepublikaner" standen beide der 1930 erfolgten B e r u f u n g von Rothfels in die Historische Kommission für das Reichsarchiv skeptisch gegenüber. H a n s Rothfels verdankte seine A u f n a h m e ausschließlich d e m Z e n t r u m s a b geordneten G e o r g Schreiber, der den jungen Historiker aus Königsberg u n terstützte. Schreiber übte als Mitglied im Hauptausschuss der N o t g e m e i n schaft der Deutschen Wissenschaft und als Vertreter der Budgetkommission des Reichsinnenministeriums größten Einfluss auf die Besetzungen der H i s torischen Reichskommission aus 7 . A u ß e r d e m zählte er zu den einflussreichsten U n t e r s t ü t z e r n der neuen Subdisziplin der Volksgeschichte, die Rothfels in Königsberg vertrat 8 . Als Rothfels sich weigerte, sein Recht auf A k t e n n u t z u n g mit Mayer zu teilen, eskalierte der Streit, der schließlich z u gunsten Rothfels' entschieden wurde. D e m sozialdemokratischen H i s t o r i -

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Rothfels an Siegfried A. Kaehler vom 5. 3. 1930, in: Niedersächsische Staats- u n d Universitätsbibliothek (künftig: SUB) Göttingen, N L Siegfried A. Kaehler, N r . 144b, Brief 147, fol. 36r. Rothfels an Kaehler vom 8. 6. 1930, in: Ebenda, Brief 154, fol. 53r. Vgl. Rudolf Morsey, G e o r g Schreiber, in: Wolfgang Ribbe u.a. (Hrsg), Berlinische Lebensbilder, Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1987, S. 269-284, hier S. 276ff. Vgl. I n g o Haar, H i s t o r i k e r im Nationalsozialismus. D e u t s c h e Geschichtswissenschaft u n d der „Volkstumskampf" im O s t e n , 2. durchges. u n d verbesserte Ausgabe, G ö t t i n g e n 2002, S. 128.

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kcr Gustav Mayer den Aktenzugang verwehrt zu haben, rechnete er sich als persönliches Verdienst an. Ro...'cls erklärte am S . M ä r z 1930 seinem Freund Siegfried A. Kaehler, der in Breslau lehrte, dass er sich für den Geist der Wissenschaft im Sinne Meineckes nicht interessiere. E r sprach von einer „Lust zur historia militans" 9 . Wohin Rothfels strebte und welchen Disput er mit Meinecke austrug, geht aus dem Brief an Kaehler vom 21. Dezember 1930 hervor. D e m zufolge diskutierten Rothfels und Meinecke unter vier Augen in Berlin die zwei wichtigsten Ereignisse vor und nach Brünings Regierungsantritt am 30. März 1930. Das eine war die Kampagne gegen den Young-Plan, der auf eine Neuregelung der deutschen Reparationslasten zielte 1 0 . Im November 1929 hatten 53 von 72 Abgeordneten der D N V P für den „Zuchthausparagraph" gestimmt, womit sie Reichspräsident Hindenburg Haft androhten, falls er weitere „Tributverträge" abzeichnen sollte. Das Bündnis aus Stahlhelm, N S D A P und den studentischen Rechtsbünden denunzierte die Sozialdemokratie und Außenminister Stresemann als Volksverräter 1 1 . Das zweite Ereignis war der Wahlerfolg der N S D A P vom 14. September 1930. Die N S D A P erhielt damals 18,3 Prozent der Stimmen und steigerte ihre Präsenz im Reichstag von 12 auf 107 Abgeordnete, wovon das Kabinett Brüning indirekt profitierte, weil dieses Ergebnis das parlamentarische System destabilisierte. Während Rothfels seinen Lehrer als resignierten Historiker wahrnahm, der sich für den Aufklärer Montesquieu interessierte und verpassten Chancen nachtrauerte, kritisierte Meinecke Rothfels' Sympathie für den Präsidialkurs Brünings als politische Romantik 1 2 . Die distanzierte Haltung Meineckes war begründet: Rothfels hatte sich längst abgenabelt und unterstützte fortan, zu Meineckes Arger, die Berufungspolitik der Historikergruppe um Siegfried A. Kaehler und Hans Herzfeld, Gustaf Adolf Rein und Percy Ε. Schramm, die zwischen 1931 und 1932 alle Bestrebungen abwehrten, sozialdemokratische oder linksliberale Nachwuchshistoriker auf Lehrstühle zu berufen oder auch nur in ihre Gremienarbeit einzubeziehen. Wie sich Rothfels die Zukunft der Geschichtswissenschaft vorstellte, geht aus dem Sitzungsprotokoll des Historikerverbandes hervor, der sich im Juni 1931 traf, um die Teilnahme der deutschen Delegation für den Internationalen Historikertag in Warschau im August 1933 zu planen. Hans Rothfels war der Meinung, dass allen „Mitläufern, Eigenbrötlern [und] Kongresswanzen" der Zugang zum Kongress zu untersagen sei. 9

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Rothfels an Kaehler vom 5. 3. 1930, in: S U B Göttingen, N L Kaehler, Nr. 144b, Brief 147, fol. 36v. Rothfels an Kaehler vom 21. 12. 1930, in: S U B Göttingen, N L Kaehler, Nr. 144b, Brief 158, fol. 59v. Vgl. Heinrich August Winkler, Weimar 1 9 1 8 - 1 9 3 3 . Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 3 4 6 - 3 5 5 . Rothfels an Kaehler vom 21. 12. 1930, in: S U B Göttingen, N L Kaehler, Nr. 144b, Brief 158, fol. 60r.

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Innerhalb des Verbandes setzte er sich dafür ein, der deutschen G r u p p e den C h a r a k t e r „einer geschlossenen Delegation [zu geben] - vergleichbar der faschistischen O r g a n i s a t i o n der I t a l i e n e r " 1 3 . Wer ausgeschlossen werden sollte, zeigten der misslungene Versuch von E c k a r t Kehr, sich 1931 in K ö nigsberg zu habilitieren, und die vergeblichen B e m ü h u n g e n von H a j o H o l b o r n , 1932 eine Professur in Halle zu erhalten 1 4 . Beide waren M e i n e c k e Schüler und erklärte D e m o k r a t e n . F ü r das Scheitern K e h r s ü b e r n a h m R o t h fels die V e r a n t w o r t u n g 1 5 . D a s Z e r w ü r f n i s mit M e i n e c k e ging so weit, dass R o t h f e l s am 2. M ä r z 1932 die Mitarbeit in der H i s t o r i s c h e n R e i c h s k o m m i s s i o n mit der B e g r ü n dung aufkündigte, es gebe wichtigere Aufgaben als eine G e s c h i c h t e der Weimarer R e p u b l i k , an der M e i n e c k e s Schüler schrieben. E r denunzierte Veit Valentin als H i s t o r i k e r mit mangelnder Q u a l i f i k a t i o n und protestierte dagegen, dass es „fast u n m ö g l i c h " sei, „diejenigen P r o b l e m e in A n g r i f f zu nehmen [ . . . ] , die von aktueller außenpolitischer B e d e u t u n g im Sinne des geistigen A b w e h r k a m p f e s sind und nationaleinigende F u n k t i o n h a b e n " , nämlich Auslandsdeutschtum und neue K o l o n i s a t i o n s g e s c h i c h t e des O s t e n s 1 6 . R o t h f e l s ' Austritt aus der H i s t o r i s c h e n R e i c h s k o m m i s s i o n war nicht nur ein Fanal gegen die republikanische Geschichtswissenschaft. D a s Paradigma, für das er sich auf d e m G ö t t i n g e r Historikertag von 1932 - in V o r b e reitung auf den Internationalen Historikertag von 1933 - einsetzte, r ü c k t e das „ V o l k " in den M i t t e l p u n k t der G e s c h i c h t s b e t r a c h t u n g . D a r u n t e r verstand R o t h f e l s die A k t i v i e r u n g der Auslandsdeutschen, u m der slawischen Vorherrschaft in O s t m i t t e l e u r o p a entgegenzuwirken und diesen R a u m für deutsche Interessen zu ö f f n e n 1 7 . R o t h f e l s war überzeugt davon, dass D e u t sche und Slawen unterschiedlichen Rassen angehörten und einen „ K a m p f der V ö l k e r " austrügen. Allerdings glaubte er an die sittliche A u f g a b e des Staates, diese N a t i o n a l i t ä t e n k o n f l i k t e zu bändigen, w o f ü r sein Idealbild des B i s m a r c k - S t a a t e s stand. Sein erklärter Feind war das N a t i o n a l s t a a t s p r o j e k t Polens, das die Selbstverwaltung der deutschen M i n d e r h e i t verhinderte und H. Oncken, Bericht vom 19./20. 6. 1931, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (künftig: G S t A P K ) , Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. X I I , Teil 14, Nr. 13, Bd. 3, Bl. 2ff. >·» Kaehler an Rothfels vom 24. 4. 1932, in: S U B Göttingen, N L Kaehler, Nr. 144b, Brief 176, fol. lOOv. In diesem Brief legte Kaehler die negative Haltung der Hallenser Fakultät gegenüber Holborn dar. Hans Herzfeld erhielt den Zuschlag. 15 Vgl. Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hrsg. von Klaus Schwabe, Boppard 1984, S. 236; George W. F. Hallgarten, Das Schicksal des Imperialismus im 20. Jahrhundert. Drei Abhandlungen über Kriegsursachen in Vergangenheit und Gegenwart, Frankfurt a.M. 1969, S. 93 f., und Eckart Kehr, D e r Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. und eingel. von Hans-Ulrich Wehler, Berlin 1965, S. 11 ff. Siehe auch Hans-Ulrich Wehler, Eckart Kehr, in: Ders. (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. I, Göttingen 1971, S. 100-113, bes. S. 104. 16 Rothfels an Meinecke vom 2. 3. 1932, in: Bundesarchiv (künftig: B A ) Koblenz, R 15.06, 249, 68. 17 Vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993, S. 96 f. 13

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Ostpreußen vom Reich abschnitt. 18 Aus diesem Grund unterstützte er 1932 die Bestrebungen von Hermann Rauschning, dem 1926 von Posen nach Danzig geflüchteten nationalsozialistischen Minderheitenpolitiker, und von Erich Keyser, dem Stadt- und Landeshistoriker für Danzig und Westpreußen, neue Forschungsstellen für die Geschichte des Grenzkampfes aufzubauen. Dieser Kreis nutzte die historiographische Konstruktion von „völkisch" begründeten Gruppenzugehörigkeiten für den Zweck, das wirtschaftliche Autarkiestreben und die kulturellen Abschottungstendenzen der deutschen Minderheiten gegenüber ihrer slawischen Nachbarschaft zu stärken. Außerdem richtete er sich darauf ein, die polnischen und litauischen Gebietsansprüche auf Westpreußen und Danzig, Oberschlesien und Memel mit historiographischen Argumenten zurückzuweisen 1 9 . Rothfels nahm das Projekt von Ostpreußen aus in Angriff, indem er am 23. Juni 1932 das Protektorat der Akademischen Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland übernahm. Er berief sich ausdrücklich auf den „stärksten Aktivposten unserer Weltkriegsbilanz", womit er das Bewusstsein um die „verschüttete Gemeinschaft" von Reichsdeutschen und „Auslandsdeutschen" meinte. Gleichzeitig setzte er sich für das Ende der „wilden" Forschungsreisen seiner Schüler nach Polen und in die baltischen Staaten ein, wo diese ohne jede amtliche Unterstützung damit begonnen hatten, eigene Feldforschungen zu betreiben. Rothfels wollte diese jungen Historiker lenken und ihre Arbeit institutionalisieren 20 . Es handelte sich bei den Studenten und Dozenten, die Rothfels protegierte, um hoch motivierte Aktivisten aus dem Milieu der rechtsradikalen Jugend- und Studentenbewegung.

H a n s Rothfels und der Kampf gegen die Weimarer Republik Rothfels stimmte der Kampfansage der „nationalen Opposition" gegen Sozialdemokratie und Parlamentarismus zwar zu, teilte aber den elitären Vorbehalt gegenüber Massenbewegungen. Studentischen Aktivitäten stand er bis 1929 daher fern. Sein Engagement galt dem „Deutschen Herrenklub", der ihn 1925 dazu einlud, sein historisch-politisches Grundverständnis in einer eigenen Schrift darzulegen. Dem Herrenklub gehörten einflussreiche 18

Vgl. Hans Rothfels, Bismarck und die Nationalitätenfragen des O s t e n s , in: Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 8 9 - 1 0 5 , bes. S. 92, S. 97 u. S. 104; vgl. auch Ingo Haar, „Volksgeschichte" und Königsberger Milieu. Forschungsprogramme zwischen Weimarer Revisionspolitik und nationalsozialistischer Vernichtungsplanung, in: Hartmut L e h m a n n / O t t o G e r hard O e x l e (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Göttingen 2004, S. 1 7 0 - 2 0 9 , bes. S. 187 ff.

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Vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 9 7 f f . u. S. 103. Hans Rothfels, Universität und Auslandsdeutschtum, in: Ders., O s t r a u m , Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935, S. 124—128, insbes. S. 125 f., und Punkt 9 auf S. 259.

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A b g e o r d n e t e der bürgerlich-nationalistischen Rechtsopposition wie F r e i herr Wilhelm von G a y l , F r a n z von Papen und Martin Spahn, aber auch die V o r d e n k e r der jungkonservativen Bewegung A r t h u r Moeller van den B r u c k , M a x H i l d e b e r t B o e h m und Heinrich von Gleichen an 2 1 . R o t h f e l s suchte nach einem G e g e n m o d e l l zur parlamentarischen D e m o k r a t i e . Sein Idealbild war der B i s m a r c k - S t a a t . E r schwärmte davon, wie dieser die M a c h t der A r b e i t e r b e w e g u n g durch soziale R e f o r m e n gebrochen und dadurch die alte O r d n u n g stabilisiert habe. Die Sozialdemokratie, das parlamentarische S y s t e m und europäische Verständigungsbestrebungen lehnte er u n i s o n o ab: „Parlamentarismus und Unitarismus sind F i k t i o n e n " . Statt dessen plädierte er für eine S a m m l u n g s b e w e g u n g der bürgerlichen R e c h t e n , „um die S p a n n u n g auf ein im Staat geeinigtes und nach außen a u t o n o m dargestelltes V o l k s t u m zu e r h a l t e n " 2 2 . R o t h f e l s setzte außerdem auf eine föderative Reichsidee, welche die neuen osteuropäischen Nationalstaaten unter deutscher F ü h r u n g z u s a m m e n s c h l i e ß e n sollte, und auf das neu geordnete deutsche „ V o l k s t u m " , das den Befreiungskampf gegen die Versailler N a c h kriegsordnung anführte. R o t h f e l s wurde 1927 im H e r r e n k l u b selbst aktiv, indem e r d e r „jungpreußischen B e w e g u n g " in Königsberg beitrat. In diesem Milieu trat R o t h f e l s , wie er Siegfried A. Kaehler schrieb, als „commis v o y a geur in geistigen K u r z w a r e n " auf. Ironisch skizzierte er sein Zielpublikum als „die G r o ß a g r a r i e r , die im Stande sind mit Hilfe eines bequemen Sofas und einer guten Zigarre zwei Vorträge am Tag o h n e ernsten Schaden ü b e r sich ergehen zu l a s s e n " 2 3 . Als die M a c h t p r o b e zwischen der nationalen Bewegung und den d e m o kratischen Regierungen unter O t t o Braun in Preußen und H e r m a n n M ü l l e r im R e i c h nahte, ging R o t h f e l s ' E n g a g e m e n t über Salonreden hinaus. W o f ü r er sich begeisterte, war die G e m e i n s c h a f t von alten F r o n t k ä m p f e r n und studentischer Protestgeneration. R o t h f e l s , selbst hochdekorierter F r o n t o f f i zier, hielt am 2 8 . J u n i 1929 in K ö n i g s b e r g den Festvortrag zum 10. Jahrestag der U n t e r z e i c h u n g des Versailler Vertrags. Seine Rede war ein Bestandteil der K a m p a g n e der „nationalen O p p o s i t i o n " gegen den Y o u n g - P l a n . Z u R e c h t stufte die preußische Sozialdemokratie die Anti-Versailles-Kundgebung, zu der in K ö n i g s b e r g der „Stahlhelm", der „Jungdeutsche O r d e n " und die Studentenschaft aufriefen, als B e d r o h u n g für die D e m o k r a t i e ein. Tatsächlich kam es an den g r o ß e n Universitätsstandorten, so etwa in B e r l i n , w o die R e c h t s v e r b ä n d e die Studenten zu Tausenden mobilisierten, zu Straßenkrawallen. D a s K a b i n e t t H e r m a n n Müller und die preußische R e g i e r u n g

Vgl. Yuji Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Frankfurt a.M. 1988, S. 155. 2 2 Hans Rothfels, Deutschlands Krise, in: Alfred Bozi/Alfred Niemann (Hrsg.), Die Einheit der Nationalen Politik, Stuttgart 1925, S. 1 - 1 5 , S. 6, S. lOf. und Zitate S. 14f. 2 3 Rothfels an Kaehler vom 12. 11. 1927, in: S U B Göttingen, N L Kaehler, Nr. 144b, Brief 115, fol. 158v. 21

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verboten daraufhin alle weiteren geplanten Kundgebungen an den preußischen Universitäten 2 4 . O b w o h l es Beamten untersagt war, an den nationalistischen A k t i o n e n teilzunehmen, sprach Rothfels über den „Schuldspruch im Versailler Frieden". E r stimmte dem Tenor der R e c h t s b ü n d e zu, wies die Alleinkriegsschuldthese zurück und trat für die nationale Einheit ein 2 5 . Als die „nationale O p p o s i t i o n " im M ä r z 1931 das zweite Volksbegehren zur Auflösung des Preußischen Landtages ankündigte, marschierten die Königsberger Studenten erneut auf. H i n t e r dieser Initiative standen zahlreiche bürgerliche Vereine, Bünde und Parteien, darunter die D N V P und die D V P 2 6 . O b w o h l auch diese Kampagne scheiterte, bildete sie den Auftakt für erbitterte Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese verbot die AntiVersailles-Kundgebung vom 7. Juli 1931, welche die „Verneinung des Staates" symbolisierte 2 7 . Als die Kundgebung trotzdem stattfand, kam es zu Ausschreitungen auf dem Campus der Universität, bei denen sozialdemokratische und jüdische Studentenvereine dem Zorn rechter Studenten ausgeliefert waren. Zu diesem Zeitpunkt unterstützte der R e k t o r der Königsberger Universität bereits die illegalen Wehrübungen von Studentenbünden und Schwarzer Reichswehr 2 8 , während der republikanische Studentenbund vor den Rechtsbünden warnte und sich präventiv mit dem Reichsbanner zusammenschloss 2 9 . Rothfels ergriff dabei für die militanten Rechtsbünde Partei. Als die Polizei am 7. Juli 1931 den Campus unter Einsatz von Knüppeln räumte 3 0 , stellte er sich demonstrativ zwischen die Gewalttäter und die Polizei, worauf sich der NS-Studentenführer und Initiator des Protestes, Horst Krutschinna, zwischen Rothfels und die Gendarmen warf und dafür einen Straf24

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„An das deutsche Volk" von „Reichspräsident und Reichsregierung zum Zehnjahrestag von Versailles" und „Der Trauertag von Versailles, Kundgebung des deutschen Volkes", in: K ö nigsberger Allgemeine Zeitung vom 28. 6. 1929. Hans Rothfels, D e r Schuldspruch im Versailler Frieden, in: Königsberger Allgemeine Zeitung vom 28. 6. 1929; ders., Die Universitäten und der Schuldspruch von Versailles. Eine ungehaltene akademische Rede (Königsberger Universitätsreden V), Königsberg 1929. Vgl. Volksbegehren „Landtagsauflösung" vom 13. März 1931, in: G S t A P K , Rep. 77, Abt. 4 0 4 3 , Nr. 9. Zu den Unterstützern zählten u.a. Alldeutsche, Ostmarkenverein, Deutsche Adelsgenossenschaft, Turnerbund, Heimatbund Ostpreußen, Werwolf, B i s m a r c k - G e sellschaft, N S D A P , D N V P , DVP, Reichslandbund, Arbeitsausschuß deutschnationaler Industrieller, Reichsgrundbesitzerverband und Deutsche Studentenschaft. Vgl. „Studentenkundgebung in der Stadthalle", in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 9. 7. 1931. Vgl. Alfred E. Mitscherlich, Ü b e r 35 Jahre Professor ( 1 9 0 6 - 1 9 4 1 ) , in: B A Koblenz, N L Schieder, Nr. 88. Vgl. „Studentischer Aufruf zur Vernunft. Gegen verantwortungslose Demagogie und Katastrophenpolitik", in: Berliner Tageblatt vom 17. 11. 1930, und etwas später „Studenten und R e i c h b a n n e r " , in: G S t A P K , Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 9, Bl. 167. Vgl. „Die Polizei zu der Studentenkundgebung", in: Königsberger Allgemeine Zeitung vom 18. 11. 1930, und „ D e r Protest der Studentenschaft vor der Universität. Zusammenstöße auf dem Paradeplatz. Vier Bereitschaften der Polizei gegen die D e m o n s t r a n t e n " , in: Ebenda vom 21. 11. 1930.

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befehl bekam. Rothfels bezeugte später, dass nicht K r u t s c h i n n a die berittene Polizei angegriffen habe, sondern die Polizei ihn, den Kriegsversehrten 3 1 . K r u t s c h i n n a habe nur versucht, ihn zu schützen, indem er dem attackierenden Polizisten in die Zügel griff. „[M]angels hinreichender B e w e i s e " wurde K r u t s c h i n n a dann freigesprochen 3 2 . K u r z bevor das zweite Kabinett Brüning am 9. O k t o b e r 1931 die R e g i e rungsgeschäfte übernahm, waren Rothfels und seine beiden Assistenten, E r i c h M a s c h k e und R u d o l f Craemer, der Ringbewegung beigetreten. D i e s e B e w e g u n g verstand sich als Nachfolgerin des H e r r e n k l u b s und war zu diesem Zeitpunkt in ein jungkonservatives und ein nationalsozialistisches L a ger gespalten. Rothfels nannte als weitere Unterstützer den O s t p r e u ß i s c h e n H e i m a t b u n d 3 3 , der in Königsberg eng mit Freiherr von G a y l und dem G r o ß g r u n d b e s i t z kooperierte. D i e Universität Leipzig war mit G u n t h e r Ipsen und H a n s Freyer vertreten 3 4 . Beide setzten sich für eine „ R e v o l u t i o n von R e c h t s " ein. D i e G r u p p e der Ringbewegung, die sich an H a n s R o t h f e l s mit der Bitte um aktive U n t e r s t ü t z u n g wandte, suchte den „Rückfall in das S y s t e m der Parlamentsregierung" zu verhindern. Sie w a r b u m „Verständnis für Möglichkeit und N o t w e n d i g k e i t autoritärer Staatsführung" und u m Mitstreiter, die für dieses Ziel öffentlich eintraten. D a s Strategiepapier, das im O k t o b e r 1931 neben H a n s R o t h f e l s auch Arnold Bergstraesser, E r n s t R u d o l f H u b e r und Max Hildebert B o e h m , Karl T h i e m e , H a n s G r i m m und C a r l Schmitt zuging, erläuterte die Frage, wie die bürgerliche R e c h t s b e w e gung - analog zur N S D A P - eine eigene Massenbasis erlangen k ö n n t e . D i e R i n g b e w e g u n g plante ein plebiszitär gestütztes Präsidialregime - unter Ausschluss des Parlaments. Letztlich verließ sie sich aber auf die radikalen B ü n d e der nationalen O p p o s i t i o n , quasi als Substitut für eine breite M a s senbasis. Ihre Absage an den Parteienstaat begründete die R i n g b e w e g u n g so: „Schon heute leben die überhaupt noch ernstzunehmenden Parteien aus anderen als eigentlich parteilichen Kräften, wie vor allem das Beispiel der N S D A P deutlich zeigt. Diese bewegungsmäßigen Kräfte müssen in die F r o n t des Politischen geführt w e r d e n . " 3 5 U m den Pakt von „ F r o n t k ä m p f e r n " und „ J u g e n d b e w e g u n g " , also z w i schen alten und jungen R e c h t e n , zu festigen, kam H o c h s c h u l p r o f e s s o r e n wie H a n s Rothfels, die zwar parteilich noch nicht hervorgetreten waren, 31

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D e r Rektor und Senat der Albertus-Universität an den Polizeipräsidenten Königsbergs vom 8. 7. 1931, in: G S t A P K , Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 9, Bl. 138. D e r Königsberger Regierungspräsident an den Preußischen Minister des Innern vom 27. 5. 1932, in: Ebenda, Bl. 210. Rothfels an Morsbach vom 4. 11. 1931, in: Stadtarchiv Mönchengladbach (künftig: StaMgl), N L Brauweiler, 101. Expose für die Zeitschrift „Das Deutsche Reich" vom 20. 9. 1931, in: StaMgl, N L Brauweiler, 151. Programm zur Gründung der außerparlamentarischen Bewegung von O k t o b e r 1931, in: StaMgl, N L Brauweiler, 101.

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aber unter den rechtsradikalen Studenten großes Ansehen genossen, eine wichtige Funktion zu. Mit seinem 1931 publizierten Artikel über den „deutsche[n] Staatsgedanke[n] von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart" lieferte Rothfels der Rechtsopposition willkommene Argumente, die beweisen sollten, dass der republikanische Verfassungsstaat dem Ende entgegenging. In Rothfels' Augen war weder durch die Ausrufung der Republik noch durch die Weimarer Nationalversammlung eine ernstzunehmende staatliche Autorität konstituiert worden. Als Garanten staatlicher Ordnung stellten sich ihm lediglich das „Beamtentum und die Freikorps" dar. E r lobte zwar Friedrich Eberts Einsatz, die innere Ordnung nach dem Chaos von 1918 wiederhergestellt zu haben. Letztlich ging es ihm aber darum, Reichspräsident Hindenburg als „Brücke" von der Vergangenheit in die Zukunft zu stärken 3 6 . Zu den grundlegenden Voraussetzungen einer besseren Zukunft jenseits des Weimarer „Notstaat[es]" gehörte für ihn auch die „Abwehr der slawischen Gefahr" und - in Abgrenzung zum westlichen Parlamentarismus - der Aufbau einer Ständeordnung in einem starken Staat 3 7 . Rothfels' dezidierter Ablehnung der Republik lag ein autoritäres O r d nungsverständnis zugrunde, das keineswegs neu war. Rothfels war zwar kein Sympathisant rechter Putschisten, aber er lehnte die Verfassungsordnung der Weimarer Republik ab. Das kam bereits 1922 zum Ausdruck, als er Wolfgang Kapp und dessen politische Ziele würdigte: „K. hat nie hinter Fiktionen sich versteckt, er hat nie behauptet, die Verfassung bloß .ausführen' zu wollen, sondern sich unverhohlen zu ihrem Sturze bekannt." 3 8 Mit welcher Gruppierung innerhalb der Ringbewegung Rothfels sympathisierte, geht aus der Korrespondenz mit Heinz Brauweiler hervor. Rothfels wurde im O k t o b e r 1931 angeworben, um die „Bildung einer überparteilichen nationalen Bewegung" zu unterstützen 3 9 . Er reagierte zunächst abwartend, weil ihm die Absichten der Ringbewegung zu wenig korrekt waren 4 0 . Erst nachdem er am 4. November 1931 den programmatischen Text von Johann Wilhelm Mannhardt gelesen hatte, erklärte er sich „weitgehend d'accord" 4 1 . Mannhardt, Direktor des Instituts für Grenz- und Auslandsdeutschtum in Marburg, war auf Distanz zu Heinrich Brüning gegan36

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Vgl. Hans Rothfels, D e r deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem G r o ß e n bis zur Gegenwart, in: Arbeitsgemeinschaft Hochschule und höhere Schule für Niederschlesien und Oberschlesien (Hrsg.), Staatsbürgerkunde und höhere Schule. Eine Vortragsreihe, Breslau 1931, S. 8 7 - 1 0 3 u. S. 103. Ebenda, S. 87 u. S. 99. Rothfels erkannte als Notwendigkeit des Reiches die „Bildung einer Schranke gegen die slawische Völkerflut" ebenso an wie die „Durchgliederung des Volkes, ein Ersatz, oder eine Ergänzung des Reichstages mit seinem allgemeinen Stimmrecht durch eine pyramidenförmig aufsteigende berufsstandige Vertretung". Hans Rothfels, Wolfgang Kapp, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch, Bd. 4, Stuttgart 1922, S. 1 3 2 - 1 4 3 , S. 142. J . M. Wehner an Friedrich Vorwerk vom 27. 10. 1931, in: StaMgl, N L Brauweiler, 101. Rothfels an Dr. Haupt vom 29. 10. 1931, in: Ebenda. Rothfels an Brauweiler vom 6. 11. 1931, in: Ebenda.

A n p a s s u n g und V e r s u c h u n g

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gen, den er offen als „Fehlschlag" bezeichnete 4 2 . Ihm erschien stattdessen der Artikel 4 8 der Reichsverfassung als das eigentliche I n s t r u m e n t , die Macht innerhalb des Reiches zugunsten eines autoritären R e g i m e s zu verschieben. D i e s e Vorstellung wurde auf Initiative von Carl S c h m i t t im R i n g Kreis diskutiert. H i n d e n b u r g sollte ein Präsidialregime gegen das Veto des Parlaments durchsetzen und sich auf eine Massenbasis aus b ü n d i s c h e r B e wegung und Heimatverbänden stützen 4 3 . A b e r welche Rolle fiel dabei der N S D A P zu? D i e R i n g b e w e g u n g stand den Nationalsozialisten zwischen Januar und Mai 1932 z w a r nicht ablehnend, im G r u n d s a t z aber skeptisch gegenüber. U m g e k e h r t nahm die N S D A P die R i n g b e w e g u n g nicht ernst, weil ihr die entscheidende Basis fehlte. Aufs G a n z e gesehen aber hat die bürgerliche radikale R e c h t e , als deren S p r a c h r o h r die Ringbewegung sich verstand, die parlamentarische D e mokratie ausgehöhlt, was Brauweiler und andere als E r f o l g verbuchten. N i c h t wenige Anhänger der „Konservativen R e v o l u t i o n " , w o z u die M i t glieder der R i n g b e w e g u n g ebenso wie die des Tat-Kreises gehörten, übersahen dabei den Preis des Erfolgs, den sie im K a m p f gegen den Parlamentarismus und die Versailler Nachkriegsordnung erzielten, nämlich den Aufstieg der N S D A P 4 4 . Dieses P r o b l e m erkannte Siegfried A. Kaehler viel früher als Rothfels. K a e h l e r identifizierte sich zwar mit dem E r f o l g der „nationalen O p p o s i t i o n " , sah aber auch die Gefahren. S o distanzierte er sich ausdrücklich von der „Anschauung vom V o l k s t u m " , wie sie M a n n h a r d t , Friedrich Weber und Karl H a u s h o f e r im „Bund O b e r l a n d " propagierten 4 5 . Als R e i c h s k a n z l e r F r a n z von Papen im Juli 1932 die preußische R e g i e rung staatsstreichartig absetzte, vollzog sich im politischen D e n k e n der R i n g b e w e g u n g ein Wandel; sie akzeptierte nun die N S D A P als Massenbasis für die D u r c h s e t z u n g des Präsidialregimes. D i e alte Strategie, sich im K a m p f gegen die preußische Sozialdemokratie allein auf die bürgerliche J u g e n d b e wegung und militant rechte K a m p f b ü n d e zu verlassen, hatte sich als illusionär erwiesen. W ä h r e n d ein Teil der Ringbewegung offen für ein B ü n d n i s zwischen H i t l e r und Papen eintrat, unterstützte der andere Teil K u r t von

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Johann Wilhelm Mannhardt, Drei Gruppen mühen sich um den Staat, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 4. 11. 1931. Rundbrief vom 21. 11. 1931. Die Ringbewegung wollte die Stellung des Reichspräsidenten nicht von der Verfassung, sondern von der konkreten Lage aus neu bestimmen. Danach bliebe „von der ganzen Weimarer Verfassung anscheinend nur der Artikel 48 übrig", weshalb die „Anschauung, die dem Reichspräsidenten auf Grund dieses Artikels die Befugnis zur .Diktatur' zuspricht", sich „weitgehend durchgesetzt" habe, in: StaMgl, N L Brauweiler, 101 . Hans Mommsen, Regierung ohne Parteien. Konservative Pläne zum Verfassungsumbau am Ende der Weimarer Republik, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 1 - 1 8 , besonders S. 16 f. Kaehler an Mannhardt vom 7. 7. 1932, in: Siegfried A. Kaehler, Briefe 1900-1963, hrsg. von Walter Bußmann und Günther Grünthal, Boppard 1993, S. 206.

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Schleicher 4 6 . In dieser Situation plädierte Hans Rothfels im Januar 1933 dafür, die Nationalsozialisten in die Regierung einzubeziehen, und zwar unter der Kuratel eines starken Reichspräsidenten. In seiner Radiorede über den „Staatsgedanken von Friedrich d[em] Großen bis zur Gegenwart" hielt Rothfels im Januar 1933 folgendes fest: „Das Notverordnungsregiment ist in seiner Weise eine Wiederbelebung des alten Obrigkeitsstaates, der Ministerialbürokratie, die gewiß nur Ubergang sein kann, aber zunächst einmal den Staat vom Regiment der Interessenten löst und ihn fähig macht, die nationale Bewegung, die gegen ihn läuft, in sich aufzunehmen. Wir hoffen, dass das geschieht und daß die Opfer, die täglich gebracht werden, eine Bürgschaft dafür sind." 4 7 Dieser Appell zielte eindeutig darauf ab, die N a tionalsozialisten nicht zu zähmen, wie das Kurt von Schleicher vorhatte, sondern „aufzunehmen", also zu integrieren.

H a n s Rothfels und der Nationalsozialismus nach 1933 Als Siegfried A. Kaehler seinem Freund Rothfels am 22. Februar 1933 schrieb, ahnte er bereits, dass man sich, falls die Nationalsozialisten die Märzwahl gewinnen sollten, „ja wohl auf einen stattlichen Verbrauch von Maulkörben gefaßt" machen könne. Kaehler zweifelte inzwischen daran, ob der „Gedanke der autoritären Staatsregierung, für den wir uns erwärmt hab e n " , noch immer gelte. Er erwog sogar, im März für eine bürgerlich-sozialdemokratische Alternative zu votieren 4 8 . Rothfels reagierte auf diesen Brief erst zwei Monate später, weil er bereits im März 1933 mit den Problemen zu kämpfen hatte, vor denen Kaehler im Februar gewarnt hatte. Nachdem in Königsberg bekannt geworden war, dass Rothfels aus einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie kam, denunzierten ihn die NS-Studenten als Sohn eines „Oberrabbiners" und warfen ihm vor, seinen Militärdienst im „Proviantamt" abgeleistet zu haben 4 9 . Tatsächlich war Rothfels aber - wie erwähnt - ein dekorierter Frontoffizier, der im Krieg ein Bein verloren hatte. Als seine beiden Assistenten öffentlich erklärten, dass ihr Lehrer ein „Vorkämpfer für den neuen Geist" sei und die Studentenbewegung an „sämtliche Volkstumsfragen des Volks- und Reichsdeutschen G e bietes" herangeführt habe, beruhigte sich die Lage 5 0 . In eine ähnliche Kerbe 46

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Bericht der Politischen Gesellschaft vom 14. und 28. 1. 1933, in: StaMgl, N L Brauweiler, Nr. 100. Hans Rothfels, D e r deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem G r o ß e n bis zur Gegenwart, [Januar] 1933, in: B A Koblenz, N L Rothfels, 12. Kaehler an Rothfels vom 22. 2. 1933, in: Kaehler, Briefe, S. 224. Rothfels an H o f f m a n n vom 4. 4. 1933, in: G S t A P K , Rep. 76 Va, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, B d . X X X I V , Bl. 100. Resolution von Craemer und Maschke an die Deutsche Studentenschaft vom 3. 4. 1933, in: Ebenda, Bl. 117ff.

Anpassung und Versuchung

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schlug F r i e d r i c h H o f f m a n n , der U n i v e r s i t ä t s k u r a t o r . E r b e z e i c h n e t e R o t h fels g e g e n ü b e r d e m nationalsozialistischen W i s s e n s c h a f t s m i n i s t e r P r e u ß e n s , B e r n h a r d R u s t , als „ W e g b e r e i t e r des neuen D e u t s c h l a n d ^ ] " 5 1 . W a s R o t h f e l s ü b e r die s t u d e n t i s c h e n D e n u n z i a t i o n e n u n d die n a c h d e m E r l a s s des „ G e s e t z e s z u r W i e d e r h e r s t e l l u n g des B e r u f s b e a m t e n t u m s " 7. A p r i l

vom

1933 d r o h e n d e A m t s e n t h e b u n g d a c h t e , geht aus d e m B r i e f an

K a e h l e r v o m 2 2 . A p r i l 1933 hervor. D e m z u f o l g e l e h n t e er den W e g des G ö t tinger P h y s i k p r o f e s s o r s und N o b e l p r e i s t r ä g e r s J a m e s F r a n c k ab, d e r 1 9 3 3 aus P r o s t e s t gegen die D i s k r i m i n i e r u n g j ü d i s c h e r B e a m t e r seinen L e h r s t u h l a u f g a b und emigrierte. R o t h f e l s w o l l t e stattdessen z e i g e n , „daß es das P r i n zip des willens- u n d leistungsmäßigen

( w e n n auch n i c h t

blutsmäßigen)

D e u t s c h e n g i b t " . E r r ä u m t e ein, dass f ü r ihn ein V e r b l e i b an d e r U n i v e r s i t ä t erst dann u n m ö g l i c h sei, w e n n seine „ K i n d e r v o n d e r S c h u l e f l ö g e n " o d e r ihnen der Z u g a n g z u r U n i v e r s i t ä t v e r b o t e n w e r d e , u n d ä u ß e r t e z u g l e i c h die H o f f n u n g , dass die D i s k r i m i n i e r u n g s e i n e r P e r s o n n u r ein v o r ü b e r g e h e n des, der nationalen R e v o l u t i o n g e s c h u l d e t e s P h ä n o m e n sei: „ D e r d o k t r i n ä r e A n t i s e m i t i s m u s (den realen teile ich w e i t e r h i n ) ist n u n mal d e r ä u ß e r s t e V o r p o s t e n all der Z ü g e , die als t r ü b e r B o d e n s a t z in den u n z w e i f e l h a f t [ . . . ] idealistischen A u f b r u c h sich m i s c h e n . " R o t h f e l s gab sich der I l l u s i o n h i n , dass der Staat, der i h m als „ o r d n e n d e r u n d o b j e k t i v e r G e i s t " e r s c h i e n , d e n T e r r o r der N S - B e w e g u n g bändigen w e r d e 5 2 . R o t h f e l s ' C h a n c e , seine P o s i t i o n g r u n d l e g e n d zu v e r b e s s e r n , k a m m i t d e m I n t e r n a t i o n a l e n H i s t o r i k e r t a g in W a r s c h a u . D a er seit 1931 in die P l a n u n g e n der d e u t s c h e n D e l e g a t i o n e i n g e b u n d e n war, b e f a n d er sich in k e i n e r s c h l e c h t e n V e r h a n d l u n g s p o s i t i o n . E r b o t R u s t v o n sich aus an, seine j ü d i s c h e H e r k u n f t auf d e m K o n g r e s s für P r o p a g a n d a z w e c k e zu f u n k t i o n a l i s i e ren. Seine Strategie zielte darauf ab, d e m W i s s e n s c h a f t s m i n i s t e r im G e g e n zug das Z u g e s t ä n d n i s a b z u r i n g e n , ihn im A m t zu belassen. K a r l B r a n d l , d e m L e i t e r der D e l e g a t i o n und V o r s i t z e n d e n des H i s t o r i k e r v e r b a n d e s , teilte er mit: „ M j e i n e s ] E [ r a c h t e n s ] b e r u h t die L e g i t i m a t i o n in W a r s c h a u zu s p r e c h e n , auf der Q u a l i f i k a t i o n als . d e u t s c h e r H i s t o r i k e r ' . W i r d diese d u r c h B e u r l a u b u n g a u f g e h o b e n , so entfällt jene. D a m i t k o m m e ich zu m e i n e r P e r s o n . M i r ist die L e g i t i m a t i o n b i s h e r ja n u r t h e o r e t i s c h b e s t r i t t e n , p r a k t i s c h b i n ich u n a n g e f o c h t e n geblieben. [ . . . ] I c h k ö n n t e m i r a u c h d u r c h a u s d e n k e n , d a ß es a u ß e n p o l i t i s c h e r w ü n s c h t ist, m i c h in W a r s c h a u zu z e i g e n , weil mein F e h l e n etwas auffallen k ö n n t e und u m g e k e h r t m e i n E r s c h e i n e n als B e leg dienen w ü r d e , d a ß es ,ja gar nicht s o s c h l i m m ist'. I c h w ü r d e u m d e u t s c h e r Interessen bereit sein, die etwaige S c h i e f h e i t e i n e r s o l c h e n S t e l l u n g und die K o n g r e ß b e l a s t u n g auf m i c h zu n e h m e n , n u r m u ß m a n m i r das a m t -

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"

Hoffmann an Rust vom 8. 4. 1933, in: Ebenda, Bl. 112. Rothfels an Kaehler vom 22. 4. 1933, in: S U B G ö t t i n g e n , N L Kaehler, Nr. 144b, Brief 191, fol. 131 r-134r.

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lieh sagen und mich dabei amtlich decken." 5 3 Rothfels' Strategie ging auf. Nachdem Albert Brackmann, inzwischen graue Eminenz der neu institutionalisierten NS-Ostforschung, Rothfels zum Gebietsführer für Ostpreußen ernannt hatte, zog Karl Brandl als »Reichsbeauftragter" der Historikerkommission nach: Rothfels durfte reisen 54 . Warum das so war, lag auf der Hand. Rothfels hatte sich bereits Anfang 1933 in enger Kooperation mit österreichischen Historikern für den Mitteleuropagedanken und dessen Verbreitung unter den deutschen Eliten in Ostpreußen und den baltischen Staaten eingesetzt 55 . Während er auf dem Göttinger Historikertag von 1932 Bismarck noch dafür gelobt hatte, dass er die Reichseinigung auf Kosten der großdeutschen Lösung forciert und damit den Ausschluss der Baltendeutschen besiegelt habe 56 , kritisierte er im Januar 1933 diese Lösung der deutschen Frage. N u n erschien ihm die kleindeutsche Lösung als Verzicht auf eine grundsätzliche Neugestaltung Europas. Diese Neuordnung sollte nun von den zwei Krisenzonen des künftigen Reiches ausgehen, nämlich von Osterreich und Ostpreußen: „Beide sind als rein deutsche Außenposten weit vorgeschoben in eine gemischt-nationale oder fremd-nationale Umwelt hinein; beiden ist daher nicht mit lokalen Grenzrevisionen oder provinziellen Lösungen gedient, so notwendig die Bereinigung der Anschluß- wie der Korridorfrage an und für sich auch sein mag. Zusammen weisen sie auf neue politische Lebensformen hin. D.h. die wirkliche N o t und die wirkliche Aufgabe der Grenzmarken kann nur gelöst werden im Zuge einer sinnvollen Neuordnung des östlichen Europa überhaupt; für sie zu kämpfen, darin liegt die österreichische und ostpreußische Sendung." 57 In seiner Schrift über die „Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren" sprach Hans Rothfels gerade in der Frage der „Reichsidee" das Problem der mangelnden Abgrenzung zwischen autoritär-konservativem und nationalsozialistischem Denken sehr offen an. Seiner Selbstkritik von 1965 fügte er aber noch einen weiteren Aspekt hinzu. Er rechnete sich selbst der Mehrheit der Historiker zu, die 1933/34 mit dem NS-Regime sympathisierte. Er meinte damit auch die partielle Ubereinstimmung in grundlegenden Axiomen wie dem „Rassengedanken" 58 . Was Rothfels in dieser Hinsicht bewegte, war ein Paradigma, das Max Hildebert Boehm 1933 anlässlich des europäischen Nationalitätenkongresses in Bern vorstellte. Dort sag53 54 55

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Rothfels an Brandi vom 4. 7. 1933, in: SUB Göttingen, N L Karl Brandi, Nr. 44, Brief 89. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 139 u. S. 200. Hans Rothfels, Deutschland und der Donauraum, in: Königsberger Allgemeine Zeitung vom 13. 1. 1933. Vgl. Rothfels, Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens, S. 90 f. Hans Rothfels, Deutschland und der Donauraum, in: Ders., Ostraum, S. 223-227, hier S. 227. Rothfels, Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben, S. 95.

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ten die jüdischen Abgeordneten im Sommer 1933 ihre Teilnahme ab, um gegen die Judenverfolgung im Deutschen Reich zu protestieren 5 9 . Bereits vor dem Skandal feierte Max Hildebert Boehm die nationalsozialistische Judenpolitik nicht nur als positives Ergebnis der deutschen „Revolution", sondern auch als Resultat einer neuen Minderheitentheorie. Er erklärte den jüdischen Minderheitenvertretern, sie könnten sich gar nicht auf Minderheitenschutzrechte berufen, wenn es um judenfeindliche Maßnahmen des Dritten Reiches gehe. Schließlich handele es sich bei den deutschen Juden nicht um ein „eigenständiges Volk", sondern um eine fremde Bevölkerungsgruppe, die sich dem deutschen Volkstum nur assimiliert habe 6 0 . In Anlehnung an Boehm nutzte auch Werner Hasselblatt die Denkfigur der Dissimilation, um als Rechtsvertreter der deutschen Volksgruppen in Europa den Nationalitätenkongress dazu aufzustacheln, die jüdische Bevölkerung auszugrenzen. Diese Aufrufe dienten dem Zweck, die Assimilation der jüdischen Bevölkerungsgruppen innerhalb der jeweiligen Mehrheitsvölker O s t mitteleuropas rückgängig zu machen, und zwar durch die Renationalisierung der einzelnen Volksgruppen 6 1 . Gewiss, in der „Vielvölkerzone O s t mitteleuropas", auf die Hans Rothfels 1933 das Szenario der Denationalisierung bezog, ging es nicht um die Juden, sondern um die Trennung von deutschem und polnischem „Volkstum". Die auf Andersartigkeit beruhende Differenz zwischen Deutschen und Polen sollte in den strittigen Minderheitengebieten entweder durch zwischenstaatliche Verträge oder, unter Wegfall des polnischen Staates, durch einen föderalen Ausgleich von deutschen und polnischen Interessen von Volk zu Volk geregelt werden. Natürlich stand Rothfels dem Theorem vom „eigenständigen Volk" mit Blick auf die „Judenfrage" ablehnend gegenüber 6 2 . Was allerdings die Trennung zwischen Deutschen und Slawen sowie ihre Segregation untereinander anbelangte, stimmte Rothfels mit den Dissimilationstheoretikern überein. Tatsächlich war Rothfels der einzige, der in dem offiziellen Sammelband der deutschen Historikerdelegation „Deutschland und Polen" direkt und unverblümt für eine Neuordnung Ostmitteleuropas plädierte 63 . D e r fragliche Band unterlag in Polen der Zensur. Die stärkste Kritik, die der polnische Historiker Josef Feldman gegen solche Überlegungen erhob, traf Rothfels. Feldmans Vorwurf lautete, Rothfels plane eine Germanisierung Polens. Tat-

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Vgl. Sabine Bamberger-Stemmann, D e r Europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen, Marburg 2000, S. 274 ff. Max Hildebert B o e h m , Minderheiten, Judenfrage und das neue Deutschland, in: D e r Ring, H . 17 (1933), S. 2 7 0 - 2 7 1 , zur kritischen Rezeption Boehms vgl. die „Central-Vereins-Zeitung", Bd. 12 (1933), S. 169. Vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 2 0 9 - 2 1 3 . Hans Rothfels, Der deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem G r o ß e n bis zur Gegenwart. [Januar] 1933, in: B A K o b l e n z , N L Rothfels, 12. Vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 124f.

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sächlich forderte Rothfels aber etwas anderes als die Assimilation von Slawen an das deutsche Volk, nämlich die „organische Neuordnung nach der Reife der Volkskräfte und nach dem Grad kultureller Leistung" 64 . Was er damit meinte, legte er im Januar 1934 in seinem Artikel über „Versailles und die Ehre der Nation" in den Berliner Monatsheften dar. Nach dem Vorwort des Herausgebers geschah dies ganz in Übereinstimmung mit der Regierung Hitlers 65 . Es komme darauf an, schrieb Rothfels, die Kräfte „zu einer O r d nung zwischen den Völkern" zu mobilisieren. An welche Ordnungskräfte unter den Entente-Mächten sich der Artikel richtete, sagte Rothfels klar und deutlich. Er berief sich auf die Position des englischen Premiers Lloyd George, der dem polnischen Staat, entgegen den Plänen von Woodrow Wilson, weder große Teile des Korridors noch Oberschlesien und Danzig zuordnen wollte. Rothfels hob insbesondere auf das Zitat von Lloyd George ab, einem Staat wie Polen, der wiederholt seine Unfähigkeit zur staatlichen Selbstorganisation bewiesen habe, eine dominante Position auf Kosten Deutschlands zuzubilligen, führe geradewegs in einen Krieg. Weiterhin vertrat Rothfels die Meinung, dass nicht England, sondern Frankreich und Polen einer Neuordnung im Osten entgegenstünden 66 . Hans Rothfels begriff das Modell der Sonderung konkurrierender Bevölkerungsgruppen prinzipiell als eine Alternative zur Nationalstaatsbildung nach westlichem Vorbild. Dieser Weg musste nicht notwendig nationalsozialistisch sein, weil das Ordnungsmodell theoretischer Provenienz war. Rothfels plädierte, in Anlehnung an Boehm, für die Verwirklichung des Ziels einer „völkischen" Eigenständigkeit der großen Völker. Indem er sich für den Weg einer „Fruchtbarmachung der Spannungen, die zwischen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit liegen", entschied, wies Rothfels einen neuen Weg jenseits des westeuropäischen Nationalstaatgedankens und des alten deutschen Nationalismus 67 . Es war ganz selbstverständlich, dass, wenn Rothfels von Polen redete, hauptsächlich die ehemaligen preußischen Provinzen und Regionen gemeint waren, die Polen nach dem Versailler Vertrag erhalten hatte. An dem Modell der polnischen Nationalstaatsbildung kritisierte er vor allem, dass es nur auf die Assimilationen von Fremden abziele, um latente oder offene ethnische Konflikte beizulegen. Im Fall Polens sprach Rothfels der dortigen Mehrheitsbevölkerung ferner die Fähigkeit ab, die notwendigen Strukturreformen in der Siedlungs- und 64

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Hans Rothfels, Das Problem des Nationalismus im Osten, in: Albert Brackmann (Hrsg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen, München/Berlin 1933, S. 259-270, hier S. 269. Vgl. Alfred von Wegerer, Versailles und die Ehre der Nation, in: Berliner Monatshefte 12 (1934), S. 1-2. Hans Rothfels, Der Vertrag von Versailles und der deutsche Osten, in: Ebenda, S. 3-24, bes. S. 15-17, Zitat S. 24. Hans Rothfels, Bismarck, das Ansiedlungsgesetz und die deutsch-polnische Gegenwartslage, in: Deutsche Monatshefte in Polen 11 (1934/35), S. 214-218, hier S. 218.

Anpassung und Versuchung

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Agrarpolitik durchführen zu können. E r kam in diesem Z u s a m m e n h a n g auch auf das „Kulturgefälle" zwischen D e u t s c h e n und Polen zu sprechen. S o griff er im R e k u r s auf die Agrar- und Siedlungspolitik im Bismarck-Staat zwar die alte Idee auf, ethnische K o n f l i k t e durch eine Modernisierung der Landwirtschaft zu bereinigen, fügte dem aber die Idee einer Sonderung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen hinzu. D e s h a l b plädierte er im R a h men der Siedlungspolitik für die G r ü n d u n g staatlicher D o m ä n e n , also agrarischer G r o ß b e t r i e b e , welche die Integration der polnischen Landarbeiter fördern sollten. Dieses Modell implizierte s o w o h l die Zurückdrängung des polnischen Nationalstaates in den strittigen G r e n z r e g i o n e n als auch den Verzicht der Polen auf eine Selbstbestimmung in Minderheitenfragen. Rothfels wollte mit seinen provokativen P o l e n - und M i t t e l e u r o p a - S c h r i f ten nicht in die D e b a t t e um den deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag eingreifen, der im September 1934 von H i t l e r und Pilsudski unterzeichnet wurde. Weil er aber auf langfristige L ö s u n g e n in der „ N e u o r d n u n g s f r a g e " abzielte, gewann er letztlich doch nicht allein die U n t e r s t ü t z u n g von N a t i o nalsozialisten wie H e r m a n n Rauschning, der im N o v e m b e r 1934 als N S - S e natspräsident von D a n z i g scheiterte. A u c h J o a c h i m von R i b b e n t r o p , der im N a m e n Hitlers in L o n d o n über Abrüstungsfragen verhandelte und R u d o l f H e ß in Minderheitenfragen beriet, gab R o t h f e l s bis 1936 R ü c k e n d e c k u n g gegenüber den letztlich doch erfolgreichen Versuchen anderer N S - P a r t e i stcllen, ihn aus dem A m t zu verjagen 6 8 . R i b b e n t r o p sprach sich für R o t h fels' Versetzung nach Berlin aus, nachdem dessen Lehrbefugnis für K ö n i g s berg zurückgezogen worden w a r 6 9 ; damit k o n n t e immerhin das noch immer drohende Amtsenthebungsverfahren abgewendet werden. Bernhard Rust schließlich befürwortete das A n g e b o t aus Historikerkreisen, R o t h f e l s „mit W i r k u n g v o m 1. April 1935 ab einen Forschungsauftrag [ . . . ] an der Preußischen Staatsbibliothek B e r l i n " zu erteilen, damit er wenigstens wissenschaftlich arbeiten k o n n t e 7 0 . Erst später, nämlich am 18. Februar 1936, wurde Rothfels aufgrund von § 3 des Reichsbürgergesetzes die für Berlin bereits bewilligte Lehrbefugnis entzogen. Dass R o t h f e l s nicht aufgab, eine Sonderstellung zu erhalten, zeigt sein gescheiterter „Antrag auf Befreiung vom Ausschluß vom R e i c h s b ü r g e r r e c h t " von 1 9 3 6 7 1 . N a c h diesem misslungenen Versuch betrieb Rothfels im G e h e i m e n Staatsarchiv Quellenstudien,