Leibhaftig : Doppelripp und Spitzentraum : Zur Kulturgeschichte der Unterwäsche 9783898765718

Kleine, gut illustrierte Kulturgeschichte der Alltags-Unterwäsche von 1800 bis heute auf der Grundlage der Textilsammlun

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Leibhaftig : Doppelripp und Spitzentraum : Zur Kulturgeschichte der Unterwäsche
 9783898765718

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A Leibhaftig Doppelripp und Spitzentraum

Husum

Leibhaftig Doppelripp und Spitzentraum Zur Kulturgeschichte der Unterwäsche

Husum

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Motiven aus dem Buch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Herausgegeben von Torkild Hinrichsen für das Altonaer Museum im Auftrag des FAM (Freunde des Altonaer Museums e.V.)

Mit Beiträgen von Andrea Borck, Torkild Hinrichsen, Burkhard Jodat, Sylvia Jodat, Dominique Loeding, Susanne Müller-Elsner, Birgit Staack, Nicole TiedemannBischop Materialanalysen, konservatorische Betreuung und Montierung: Dominique Loeding

Bildnachweis Sofern nicht anders angegeben Originalaufnahmen von Michaela Hegenbarth nach Objekten der Sammlung des Altonaer Museums im Rahmen der Elektronischen Neuinventarisierung nach Digi Cult. Forschungsprojekt Unterwäsche der Textil­ sammlung des Altonaer Museums. Projektleitung Dominique Loeding und Andrea Borck. Andere Bildquellen siehe Anmerkungen in den Aufsätzen und Bildunterschriften.

Digitale Bildbearbeitung und Gestaltung: Michaela Hegenbarth und Dominique Loeding 2011

© 2011 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum

Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft Postfach 1480, D-25804 Husum - www.verlagsgruppe.de ISBN 978-3-89876-571-8

Torkild Hinrichsen

Drüber und drunter und ganz untendrunter:

Leibwäsche und Nebenwirkungen Ein Vorwort Unterzeug ist etwas ganz Persönliches. Unter dem eigentlichen „Zeug“, der Oberkleidung, befindet es sich unmittelbar am Kör­ per. „Hautnah“ schmiegt es sich als „Leibwäsche“ an, wie eine in­ time zweite Haut. Vor der Entblößung eine künstliche, diskrete Oberfläche unserer Selbst, wie angewachsen. „Leibhaftig“ haben Dominique Loeding, Andrea Borck und Birgit Staack ihr For­ schungsprojekt am Altonaer Museum genannt. Und in der Tat das ist es. In doppeltem Sinne. Denn nicht nur ist diese innerste Kleidung dem Leib eigen, sondern die Verteufelei des bloßen Körpers und seiner unmittelbaren Textilien über Generationen scheint vom Bö­ sen an sich, vom Leibhaftigen, selbst inszeniert. Die diskrete Seite des Themas, die bis jüngst damit verbundenen „Peinlichkeiten“ haben lange verhindert, dass bedeutende Textil­ sammlungen, wie die des Altonaer Museums, sich mit dem Thema beschäftigten, sammelten, forschten oder gar ausstellten und publi­ zierten. Die prächtigen Oberflächen der Schichten darüber waren unmittelbar anschaulicher und problemlos präsentabel. So hat sich dieser diskrete Teil der Sammlung erst in den letzten Jahren gemehrt, oft aus Nachlässen gespeist, aber bisher nicht in Wert gesetzt oder systematisch ausgebaut, wie auf Initiative und mit dem Fleiß der Pro­ jektleiterinnen. Die vorige Dienstgeneration an Restauratorin­ nen umschiffte meist das Thema, obwohl sich gerade in den letzten

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Panel aus Tim & Struppi. „König Ottokars Zepter“. Farbversion 1947 © Herge/Moulinsart 2009

40 Jahren das Verhältnis zur Körper­ lichkeit, einhergehend mit der sexuel­ len Befreiung, grundlegend wandel­ te und jüngere Generationen die Sa­ che unverkrampfter sahen, während gleichzeitig der Bestand und das Wis­ sen um Trageweisen mit den Eltern und Großeltern, die den alten Tabus noch anhingen, weitgehend verloren ging. Es ist gelungen, Zeitzeugen zu ganz per­ sönlichen Erfahrungsberichten „aus dem Untergrund“ zu bewegen. Vor 30 Jahren habe ich unter heftigem Bedenken der damaligen Kollegin die Textilsammelstelle des Roten Kreuzes aufgesucht, wo in einer Baracke auf dem Fußboden wahre Berge an Wäsche der vergangenen Generationen sich häuften und nach Ge­ wicht auch zu erwerben waren, Leinen und Wolle, im letzten Au­ genblick vor der Fasermühle. Ich glaubte, etwas nachholen zu müssen, denn ein Jahrzehnt zuvor hatte ich auf dem Dachboden meiner Großmutter beim Auswerten des Nachlasses die Kommo­ de, die, wie ich unbefugt wühlend in Knabentagen gesehen, das ge­ samte Unterzeug meiner Urgroßmutter enthielt, nur noch leer ge­ funden. Mir das zu vererben und einen intimen Blick in so Persön­ liches zu erlauben, verboten Anstand und Scham ihrer Generation. Kein Wunder, wenn schon der Name „Unterhose“ durch die „Un­ aussprechlichen“ umschrieben werden musste und nicht nur im viktorianischen England das Wort „Bein“ ein Unwort war und so­ gar solche des auf öffentlichen Bühnen thronenden Konzertflügels mit schwarzen Samtstulpen diskret verhüllt wurden.

In früheren Zeiten hatte das Unterzeug zwei Funktionen. Warm­ halten des Körpers und Schonung der Oberbekleidung. Die zahl­ reichen Unterröcke der ländlichen Frauen, wie etwa unter den Trachtenröcken in den Vierlanden bei Hamburg, waren im Winter notwendig. Die heute kaum vorstellbaren Schwierigkeiten, die

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obere Bekleidung sauber zu halten, verlangten eine leichter wasch­ bare Zwischenschicht aus Leinen oder Wolle. Reinlichkeit des Körpers und Sauberkeit der Wäsche bedingten sich gegenseitig. Hatte man im Mittelalter noch selbstverständlich eine Badekultur gepflegt in Badstuben oder öffentlichen Badehäu­ sern, ja in den Zünften ausführliche Regeln zur regelmäßigen Kör­ perpflege festgeschrieben, als quasi religiösen Akt vor gottes­ dienstlichen Handlungen, wandelte sich das mit der grassierenden Syphilis seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert grundlegend. Die kommunikative Gemeinschaftswanne der städtischen Gesellschaft ist nun plötzlich verwerflicher Sündenpfuhl. Das Badehaus ein Ort käuflicher Lust. Wasser an den Körper fortan selten. Oft gar als medizinisch schädlich verschrien. Das Bad in der Säuglingswanne im Zustande der Unschuld war das letzte im Leben. Das folgende, die Waschung der Leiche, diente der Vorbereitung auf das Paradies. Die intime Diskretion erstreckte sich auch auf die Säuberung, das Waschen der Unterwäsche. Im bürgerlichen Bereich der Waschfrau anvertraut, kümmerte diese sich vor allem um Laken, Hemden und

Gemeinsames Bad mit Bewirtung und Musik. Holzschnitt aus Laurenius Phries, Traktat der Wild­ bäder, Straßburg 1509

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Der indiskrete Blick. Bildpostkarte Chromolitho, 1904 versendet an Herrn Charles Märtel. Altonaer Museum 1979-525,2

Tischdecken, während die inneren Schichten sich weder im Wasch­ haus noch im Spülbach oder auf der Bleichwiese exponieren durf­ ten, sondern, im Topf der Kochwäsche gesotten, im diskreten Be­ reich des Hintergartens flatterten. Der Hof des Mietshauses meiner Großeltern war an dem monatlichen Waschtag nahezu unpassier­ bar, obwohl die eng behängten Leinen mit Wäschepfählen himmel­ wärts gezwungen waren.

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Diese öffentliche Ausstellung der Leinenwäsche war Ziel kritischer, hämischer Augen und plap­ pernder Mäuler, wie für eine Provinzstadt ty­ pisch. Allzu Geflicktes durfte nicht hinaus zu die­ ser öffentlichen Ausstellung. Und die innersten Bedeckungen schon gar nicht. Man wäre zum Stadtgespräch geworden. Heute sind wir weiter. Wäscheleinen sind weitge­ hend ausgestorben. Das Unterzeug des Kochwä­ scheganges bleibt im Waschautomaten und Trockner unter sich. Wir wollen hoffen, dass dies Forschungs- und Buchprojekt mit seiner Objekt­ schau der Originale eine große Öffentlichkeit an­ zieht. Die darf gern schmunzeln, wenn sie hier ge­ lesen hat, was dahintersteckt, oder warum das Darunter daruntersteckt. Sie darf es auch gern weitererzählen.

DER KNOTEN BEDEUTET: "BITTE NICHT STÖREN!“

Unterwäsche auf der Leine. April 2011 Foto: Torkild Hinrichsen

4 DER CHEF HAT DAS GIGNAL"8IN BESCHÄFTIGT AUFGELOGEN.'

WIE DIE FLAGGENSIG­ NALE DER MARINE, DIENT DIE AVFGEWÄNGTE WÄSCHE NEAPELS 7URQEHEIMNACHRICHtenübermittiung !

Manfred Schmidt: Nick Knatterton. Panel aus der Geschichte „Der Stiftzahn des Caprifischers“, 9. Episode, 1950-59

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Sylvia Jodat

Kinderunterwäsche Entwicklungslinien im deutschsprachigen Raum (18. bis 21. Jahrhundert)

Stellenwert und Bedeutungswandel von Kindheit lassen sich gut an den Modewechseln in der Kinderoberbekleidung und -Unterwä­ sche im Laufe der Jahrhunderte ablesen. Ein Blick in die Geschich­ te der Kinderunterwäsche offenbart die sich ändernden Einstellun­ gen zu Geschlechterrollen, zu Erziehungsfragen, gibt Auskunft über den gesellschaftlichen Status und liefert Erkenntnisse zu wirt­ schaftlich-materiellen Lebensumständen.1 Gleichzeitig ist den Entwicklungslinien in der Erwachsenenwelt nachzuspüren, da sich Mädchen- und Jungenunterwäsche lange Zeit ausschließlich an der Erwachsenenmode orientierte. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, verschwanden überkommene Anschauungen zugunsten eines modernen Ver­ ständnisses von Kindheit.2 Im Zuge von Reformbewegungen führ­ ten diese zu einer kindgerechteren Unterbekleidung und neuen Tragegewohnheiten.3

18. Jahrhundert - Das formbare Kind: wickeln + schnüren = reformieren4 Einen eigenen Bereich bildet die Leibwäsche für Neugeborene und Säuglinge: Kleinstkinder zu „fatschen“5 war zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Europa eine traditionelle und allgemein übliche Praxis.6 Ein typisches Wickelkind-Motiv in der Kunst zeigt das in der Krippe liegende, stramm bandagierte Jesuskind.7

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Das in eine Decke eingewickelte Neugeborene wurde mithilfe breiter Fatschenbänder fixiert. Die Bewegungsfreiheit des Säug­ lings war auf ein Minimum reduziert, gleichzeitig zwang die starre Position Rücken und Gliedmaßen in eine kerzengerade Haltung.8 Der Unterleib wurde vermutlich mitsamt den Beinen in ein Win­ deltuch aus zumeist abgetragenem, weichem und saugfähigem Lei­ nen gewickelt, denn die Höschenwickeltechnik und die Verwen­ dung von Windelhosen, wie wir sie kennen, kamen erst im 19. Jahr­ hundert auf. Grundsätzlich gab es zwei Wickelvarianten: Das Band wurde entweder von der Brust abwärts in Spiralen um den Körper gewunden und am Fußende mit einer Nadel oder Bindebändern befestigt, oder man fing mit der Bandmitte im Rücken an und kreuzte im Wechsel die Bandenden von vorne nach hinten, bis die Füße erreicht waren. Diese Art des Einbindens verlieh den kleinen Kindern ein mumienähnliches Aussehen. Die erste Stufe zur Modellierung des Körpers dauerte lediglich ein paar Monate, dann wurden Jungen und Mädchen, vornehmlich der Aristokratie und des Großbürgertums, fischbeinverstärkte Schnürmieder angelegt. In dieser Phase gab es äußerlich kaum Un­ terschiede zwischen den Geschlechtern, da beide ein bodenlanges Kleid trugen.9 Im Alter von drei bis sieben Jahren tauschten Jungen Schnürbrust und Kleid schließlich gegen eine Hose und traten nicht nur optisch in die männli­ che Sphäre ein.10 Die Mädchen hingegen wurden strikt nach der Mode der erwachsenen Frau ge­ kleidet und hatten das Mode­ ideal der grazilen Silhouette mit sehr schlanker Taille durch massives Schnüren zu errei­ chen. Das gesundheitsschädi­ gende Miedertragen rief Ende des 18. Jahrhunderts deutliche Kritik hervor. Aus dem Jahr 1786 ist bei Johann Georg Krünitz zu lesen:

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Georges de la Tour (1593-1652): „Anbetung der Hirten“ (Ausschnitt), um 1644, Louvre, Paris

„Säugling nach eng­ lischer Art gekleidet und in seinen Bewegungen frei“. Illustration (Ausschnitt) aus Dr. E Königs „Rat­ geber in gesunden und kranken Tagen“, 1880er-Jahre

„ Man legt den Kindern, wenn sie einige Monate alt sind, eine Schnürbrust an. Man hatte sie schon durch das heftige Einwindeln auf die Tortur gebracht, und befreyet nunmehr Hände und Füße von der Strafe, um die Eingeweide noch stärker zu pressen, und die Knochen zu verstümmeln^ [...] Die Schnürbruste, die man Knaben anlegt, sind in den ersten Jahren nicht so sehr hart; man macht sie aber immer stärker, nach dem sie älter werden. In­ dessen sind sie zu allen Zei­ ten hart genug, ihnen zu schaden. Was die Mädchen betrifft, so sucht man ihnen nur eine schö­ ne Taille zu geben, und ihre Körper so zu bilden, daß man die Schul­ ternfast gar nicht sieht, und die Arme hinterwärts kommen, daß der Rückgrath völlig gerade, die Brust erhaben, die Taille schlank werde, daß die Hüften tief, und der Bauch eingedrückt sey. Was liegt daran, daß der Bau der Mädchen aufKosten der Gesundheit oder des Lebens so gekünstelt werde, wenn sie nur gefallen? [...] Das beste und wirk­ samste Mittel, solchen Verunstaltungen zuvor zu kommen, ist, dem Beyspiele derjenigen Völker zu folgen, die bey ihren Kindern weder Windeln noch Schnürbrüste gebrauchen, und doch unter sich weder Ungestaltete noch Krüppel haben. Ich sage noch mehr: das einzige Mittel, die Kinder von diesen Verunstaltungen zu heilen, ist, die Schnürbrüste zu verbannen [.. .]“n Erste Reformimpulse gingen von England aus: Zwischen 1760 und 1790 entwickelte sich eine kinderfreundlichere Kleidung, die in zeitgenössischen Modejournalen gezeigt und somit auch auf dem europäischen Festland rasch bekannt wurde.

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Erstmals zogen Jungen und Mädchen Unterhosen an, welche gleichsam wie Unterröcke am unteren Ende der Schnürbrust ge­ knöpft wurden, um ein Herunterrutschen zu verhindern. Kleine Knaben trugen entweder eine zweiteilige Kombination, welche aus einer langen, komfortablen Hose und einem taillenkurzen Rock bestand, oder sie wurden in einen „Skeleton Suit“, einen in der Taille zusammengeknöpften, einteiligen Anzug gesteckt, dessen großzügiger Schnitt Bewegungsfreiheit garantierte. Jüngere Mäd­ chen liefen in schlichten, bodenlangen, den Chemisen13 ähnlichen Kleidchen mit hoher Taille oder in knieumspielenden Kleidern mit knöchellangen Wäschehosen umher. Für die größeren waren ein leichtes, weit geschnittenes Kleid mit relativ schwach gesteiftem Mieder14 und bis zum 12. Lebensjahr Pantalettes mit Spitzen oder Rüschen modische Pflicht.15 Diese ersten, zaghaften Reforman­ sätze waren jedoch lediglich ein Intermezzo, denn ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kinder wieder wie kleine Erwachsene an­ gekleidet und mit dem Aufkommen der Krinolinenmode bereits ganz junge „Damen“ ins Korsett16 gezwängt.

19. Jahrhundert: „Gesund - Praktisch - Schön"?! Typisches Basiskleidungsstück für Kleinkinder bis zu einem Alter von vier bis fünf Jahren waren leinene Unterhemden, die im Regel­ fall mit Bändern über der Schulter fixiert wurden und die unters­ te Kleidungsschicht bildeten. Die Form erinnert an moderne T-Shirts. Durch eingearbeitete Schlitze im Schlüsselbeinbereich konnte der Hemdausschnitt flexibel gestaltet werden, sodass auch bei weit ausgeschnittener Oberbekleidung das Unterhemd ver­ deckt war. Die Chemise für Mädchen ab dem 4./5. Lebensjahr sah dem Frauenunterhemd sehr ähnlich. Der Ausschnitt war breit und rund mit langen oder kurzen Ärmeln, und eingenähte Seitenkeile sorgten für zusätzliche Weite. Zur Erstlingsgarnitur für Säuglinge gehörte die praktische Variante des vorne offenen Hemdchens, welches den direkten Zugriff auf das

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Baby-Leibchen zum Anknöpfen der Windelhöschen. Anfang 20. J ahrhundert, Baumwolle, Köperbindung K 2/1, gebleicht. Maschi­ nengenäht, mit rück­ wärtigem Durch­ steckschluss. Säume mit Köperband eingefasst. L = VM 13 cm, Altonaer Museum 2009-1244,40

Windelpaket ermöglich­ te. Vermutlich wurde die Windel zu diesem Zeit­ punkt bereits wie ein Höschen getragen, d. h., das Windeltuch wurde zwischen den Beinen hindurchgezogen. Ein weiteres die Kind­ heit begleitendes Wä­ schestück war das Leib­ chen, welches bis weit ins 20. Jahrhundert Ver­ wendung fand. Das Leibchen nahm im Unterwäschekosmos ei­ ne zentrale Funktion als multipler „Hosenträ­ ger“ ein: Dank Knöpfen in Zweierreihen konn­ ten Unterhose, Unter­ rock und Strümpfe be­ festigt werden. Zugleich wurde das darunter getragene Hemd ge­ gen mögliches Verrutschen fixiert. Die Leibchen wurden aus ver­ schiedenen Materialien angefertigt: aus robustem Stoff genäht, ge­ häkelt oder gestrickt. Das Selbstanfertigen von Leibchen stand un­ ter der Devise des sparsamen Materialverbrauchs bei gleichzeitiger Langlebigkeit der Leibwäsche, indem eine ausreichende Stoffreser­ ve eingeplant wurde. Dieser Leitspruch galt bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In Ratgebern und Handarbeitsbüchern Miniaturmodelle für eine Hemdhose, ein Springhöschen und zwei Hemden. Martha Kost, verh. Lippmann, Dresden vor 1915, Baumwoll-Futtergaze, Leinwandbindung 13/13 Fd./cm, gebleicht und gestärkt. Baumwollbatist, gebleicht. Handgenäht. L 9-13 cm. Eines der Modelle zeigt den für Kinderunterhemden beliebten variablen Ausschnitt - hier mit der Tragweise für weit ausgeschnittene Oberbekleidung. Altonaer Museum 1988-81 la,5; -21; -22; -23

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wurden dementsprechend noch in den 1950er-Jahren folgende „Kniffe“ empfohlen: „Wird das Kind größer und das Leibchen zu kurz, so 'versetzen wir einfach den Knopfan dem langen Träger wei­ ter nach unten. Ist das Leibchen anfänglich etwas weit, so nähen wir es an den seitlichen Nähten ein wenig ein und können dort dann spä­ ter auslassen. Reicht auch diese Weite nicht mehr aus, so können wir an den Seitennähten eine Stoffspange einfügen und auf diese Weise beliebig Weite gewinnen. Es ist sehr zweckmäßig, wenn das Leibchen in Weite und Länge rasch vergrößert werden kann, weil die Kinder erfahrungsgemäß diesem Kleidungsstück rasch entwachsen.“^7 Wol­ lene Leibchen hingegen boten den Vorteil, dass die Strickware dehn­ bar war und mit dem Kind „wuchs“; die Kinder wiederum waren die „Leidtragenden“, war das Leibchen wenig komfortabel, da die Wol­ le fürchterlich kratzte.

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Zogen kleine Mädchen bereits Anfang des 19. Jahrhunderts lange Beinkleider als Unterhose an (und waren damit den erwachsenen Damen weit voraus), kam in der zweiten Jahrhunderthälfte das kürzere Springhöschen mit geschlossenem Schritt und seitlicher Knopfung in Mode. Für die kühlere Jahreszeit gab es Unterhosen aus rotem Flanell.18 Kleine Jungen trugen unter ihrem Kleid gleich­ falls Spitzenhosen, es gab jedoch auch „Bubenunterhosen“ mit Trägern und Bindeband zum Verstellen der Hüftweite mit offenem Schritt.19 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen schließlich schlichte, einteilige Knabenhemdhosen mit angeschnittenen Är­ meln und knielanger Hose heraus. Luftige Spitzenhosen und be­ queme Einteiler markierten den Übergang in ein neues Zeitalter, mit der zweiten Kleiderreformbewegung um 1900 rückten auch kindliche Bedürfnisse wieder weiter in den Vordergrund. Doch noch dominierte die Pariser Mode, insbesondere die Frauenund Mädchenkleidung mit ihren beliebigen und extremen Model­ lierungsdiktaten. Ermutigt von erfolgreichen amerikanischen und

Korsett-Taille (links). Ende 19. bis Anfang 20. Jahrhundert. Baumwollgarn, 4-fach, gebleicht. Stabile Häkelarbeit über Schnureinlage. L = VM 26 cm, Altonaer Museum AB10102. Puppen-Korsettleibchen (rechts). Ende 19./Anfang 20. Jahr­ hundert. Baumwollgarn, gebleicht. Häkelarbeit. Mit verstellba­ ren Trägern und rückwärtigem Schnürschluss. L = VM 14,5 cm, Altonaer Museum 1966-272,3

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Unterrock zum Anknöpfen an ein Leibchen. 1920er-Jahre, Baumwollgarn, 4-fach, gebleicht. Handgestricktes „Messerspitzenmuster“ aus rechten und linken Maschen, Saum mit Durch­ bruchmuster. Taillenbund aus gebleichtem Baumwoll-Hemdentuch mit Zwirnknopf. L 32 cm, Museum für textile Techniken e. V. Hamburg

englischen Reforminitiativen20, griffen deutsche Lebensrefor­ mer eine zentrale Forderung damaliger Schnürleib-Kritiker aus dem Zeitalter der Aufklä­ rung auf und plädierten für eine Abschaffung des nunmehr „Korsett“ genannten Defor­ mierungswerkzeugs. Der 1896 in Berlin gegründete „Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung“ benannte mit den Schlagworten „Gesund Praktisch - Schön“ die neuen Anforderungen an moderne Frauen- und Kinderkleidung21 und forderte konkret das Tragen eines Leibchens anstelle des Kor­ setts, eine Reduzierung der Kleiderschichten durch das Weglassen der Unterröcke, an ihre Stelle sollte die Rockhose treten, sowie die Schwerpunktverlagerung des Gewichts auf die tragfähigeren Schul­ tern und Hüften mittels Anknüpfen der Unterwäsche und des Klei­ derrocks an das Leibchen.22 Die deutsche Kleiderreformbewegung wurde von Frauenrechtle­ rinnen, Medizinern, Pädagogen, Künstlern, Naturheilkundlern und Anhängern der Jugend- und Körperbewegung unterstützt. Vehemente Kritik zur nach wie vor ausgeübten Bandagierungsmethode bei Säuglingen kam von Anna Fischer-Dückelmann. Die le­ bensreformorientierte Ärztin schreibt in ihrem millionenfach ver­ kauften Nachschlagewerk „Die Frau als Hausärztin“ (1908): „Die breiten Wickelbänder, mit welchen man das bedauernswerte Men­ schenkind in der Leibesmitte fest umwickelt, um seinem Rückgrat Halt zu geben und den langen Tragrock zu befestigen, wie sie in vielen Gegenden noch üblich sind, bleiben für das Kind ebenso qualvoll wie schädlich [...] Eine hygienische Kinderpflege bannt sie in die Rumpelkammer, wo die veralteten Einrichtungen des Vorur­ teils und Aberglaubens aufbewahrt werden.“^

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Werbemarke für Benger Ribana Trikotunterwäsche. Um 1913,6,4x4,5 cm. Der abgebildete Knabe trägt einen Einteiler mit Vorder­ schluss und Gesäß­ klappe. Diese Trikot­ unterwäsche war auch in modischen Farbtönen oder geringelt sehr beliebt. Altonaer Museum 2009-510

Das neue Gesundheitsbe­ wusstsein spiegelte sich in Reform C. Kräftige, weiche Winter­ der Forderung nach ei­ qualität aus naturfarbener Wolle gestrickt, mit gleichfarbigem Satin­ nem unverkümmerten, ur­ bund und Trikotschinss. sprünglichen und natürlich Gr. 1 Seitenlange 45 cm, St. Mk. 2,— ., 2 „ 55.................... 2,80 gewachsenen Körper. Im „8 „ 65 „ ,, ,, 2,75 Bereich der Männer- und Reform Else. Aus grauem, innen gerauhtem, haltbarem Trikotstoff, Jungenunterwäsche waren weich und warm, Knieverschluss, zum die Reformbestrebungen zu Knöpfen. Länge 50 cm, St. Mk. 2,50 L. 55 cm,St. M.2,90, L.65cm,8t. M.8,80 diesem Zeitpunkt bereits Reform I>. Aus hellnaturfarbigem weiter fortgeschritten. Die Wolltrikot, angenehmes Tragen. Verwendung von waschba­ Grüsse......................... 0 2 4 Bund ca cm . . . 55 60 66 ren, anschmiegsamen, kör­ 70 perfreundlichen und luft­ Reform Elseu.R. Reform C. durchlässigen Materialien wie Leinen, Baumwolle und Angebot aus dem Wolle setzte sich durch. Der Mediziner Gustav Jäger hatte um 1880 Katalog Strickbekleidung aus reiner Wolle im Programm und bot einen ein­ der Mechanischen teiligen, elastischen Körperanzug für Männer und Jungen an. Jä­ Weberei Th. Zimmermann gers wollene Unterkleidung erfreute sich großer Beliebtheit, etab­ (Ausschnitt). lierte sich zu diesem Zeitpunkt doch ein Sport- und Freizeitsektor, Gnadenfrei in Schle­ welcher bewegungsfreundliche, dehnbare Ober- und Unterbeklei­ sien, 1912. Altonaer Museum dung erforderte und zu einer tendenziellen „Versportlichung“ der 2009-477,5 Kleidung führte.24 Galten Unterhosen für Frauen und Kinder bis ins 19. Jahrhundert in weiten Teilen der Bevölkerung als unschicklich, so kehrten An­ hänger der Lebensreformbewegung die moralischen Vorstellungen Anfang des 20. Jahrhunderts um. Anna Fischer-Dückelmann ver­ teidigte die Notwendigkeit des Tragens von Unterhosen mit der Begründung, sie diene zum Schutz vor Übergriffen gegen das weibliche Geschlecht: „Dagegen treten wir sehr entschieden für ge­ schlossene Höschen ein, welche kleine Mädchen bei den kurzen Kleidchen stets tragen sollten. Beim Spiel und im Verkehr mit ande­ ren Kindern macht es einen sehr schlechten Eindruck, wenn kleine Mädchen nach echter Kinderart ganz unbefangen bei 'verschiede­ nen Bewegungen den nackten Unterkörper sehen lassen. Es hat dies

Kinder- und Mädchen-Reform-Beinkleider.

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leider nur zu oft schon zu traurigen Verirrungen seitens des anderen Geschlechts Veranlassung gegeben. Die geschlossene Hose ist also in erster Linie ein Schutzmittel für das Kind; in zweiter Linie hält sie den Unterleib warm [.. .J“2i

1. Hälfte 20. Jahrhundert: „Erste Wäsche für kleine Weltbürger"26 Etablierten sich bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Pio­ nier-Unternehmen wie die Radolfzeller Firma „Schiesser“ mit der industriellen Anfertigung von Trikotagen, so lag doch üblicher­ weise die Herstellung und Erhaltung des Weißzeugs27 bis weit ins 20. Jahrhundert in den Händen der Hausfrau. Im Vorwort des Rat­ gebers „Das Buch der Wäsche“, welches erstmals um 1900 er­ schien, wurde die Wichtigkeit des Erlernens von Handarbeiten für Mädchen mit den kulturellen Fähigkeiten des Lesens und Schrei­ bens gleichgesetzt, denn komplizierte Schnitt- und Nähtechniken verlangten der angehenden Schneiderin ein hohes Maß an Können und bezüglich der Materialien Wissen ab. Für den Bereich der Leibwäsche „tritt das schwierige Moment verschiedenartig ge­ schweifter und geschwungener Formen hinzu; daher genügen hier auch nicht mehr gerade Linien mit einfachen Längenangaben, son­ dern es handelt sich dabei um genau ausgeprobte, dem Alter und Geschlecht, der Größe und Gestalt angepasste Schnittformen.“2* Bei der „Klein-Kinderwäsche“ galt jedoch das Motto „vernünftige Einfachheit im Ausputz der Kinderwäsche [...] lieber ein Dutzend einfacher Stücke mehr, als ein einziges mit Garnitur beladenes.“2"’ Die Veränderung im Umgang mit Kindern wird deutlich, als die beiden Autorinnen des Wäschebuchs die Zartheit und Zerbrech­ lichkeit des „Menschenkindleins“ betonen, „ denn die Gliedmaßen des Neulings entbehren noch der Beweglichkeit, Ärmchen und Bein­ chen schmiegen sich an den Körper, die kleinen Fäustchen sind ge­ ballt, und die Zumutung, durch Hemdärmel fahren zu wollen, ge­ fällt dem Kind durchaus nicht [...] Bequem in der Form: hinten offen, damit die nach vorn gebogenen Ärmchen zu keiner Rückbewegung

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Säuglingshemd. Frederikshavn 1916, Baumwolle, Köper­ bindung K 2/2, gebleicht. Maschi­ nengenäht, mit appli­ ziertem Köperband für Tunnelzug. Handgeklöppelter Spitzenbesatz. Gewebtes Wäsche­ zeichen G.H. L 35 cm. Das Hemd wurde für Gunver Ida Ragnhild Sörensen, verh. Hinrichsen (1916-2010), genäht. Es wurde ab 1948 auch von ihren Söhnen Torkild und Rolf Christian Hinrichsen getragen. Altonaer Museum 2010-729,15

gezwungen werden, mit weiten Armlö­ chern, damit die Hand der Mutter oder Wärterin das Händchen umfas­ sen und durchholen kann. Weichste Lei­ nenwindel, weichs­ tes Flanelltuch; kein hartes Leinenband, nur weiche Baumwollitze darf als Band dienen. Knöp­ fe dürfen nirgends angebracht sein. Sti­ ckereien mit harten Stellen sind •verpönt; Häkeleien noch mehr; höchstens weiche Spitze sollten den Schmuck an den Wäscheteilen Neugeborener bilden. “30

Puppen-Windelhöschen (links). 1. Viertel 20. Jahrhundert. Baumwolle, Leinwandbin­ dung, gebleicht. Maschinengenäht, mit Tunnelzug und Knopfschluss. L 16 cm, Altonaer Museum 1978-1207,27 Puppen-Windel in Dreieckform (rechts). 1920er-1930er-Jahre. Baumwolle, Leinwand­ bindung, gebleicht. Knopfloch handgenäht, Saum mit Languettenstichen verziert. L 12 cm, Altonaer Museum 2003-755,7

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Die Erstlingsgarderobe bestand aus dem zweiteiligen Ensemble Hemd und Windelhose. Das am Rücken offene, einfach geschnit­ tene Hemd und Falten auf der Vorderseite sorgten für eine großzü­ gige Weite, die Länge reichte in der Regel nur bis zur Leistenge­ gend, damit der Stoff nicht feucht wurde, wenn die Windel nass war. Andere Hemden-Modelle verbargen pfiffige Details: Durch einen Zugsaum im Halsbereich ließ sich die Weite rasch regulieren oder gerade geschnittene, lange Ärmel konnten im ausgeklappten Zu­ stand die Hände des Kindes wärmen.31 Unverzichtbarer Bestandteil der Babyausstattung waren Windel­ höschen als Auslaufschutz: Sie bildeten gleichsam die Hülle für Win­ deltücher aus reißfestem Leinen oder Flanell. Die Windelüberhosen wurden üblicherweise aus einem Stück geschnitten, als Stoffe be­ währten sich aufgrund des hohen Feuchtigkeitsaufnahmevermö­ gens insbesondere Köperbarchent und Shirting.32 Für den unkomplizierten Zugriff auf die Stoffwindel waren die Höschen mit Knöpfen versehen. Eine modern anmutende Vari­ ante besaß durchgehende Knopfreihen im Schritt hinauf bis

Windelhose. Illustration (Ausschnitt) aus Fischer-Dückelmann, 1908

„Unterkleid für Kinder mit Rockträgern. Nach Frl. Hardt“. Illustration (Ausschnitt) aus Fischer-Dückelmann, 1908

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Werbung für elasti­ sche Strumpfhalter­ leibchen aus einem der frühen „Burda Moden“-Hefte (Ausschnitt). Anfang 1950er-Jahre

zum „Latz“, das rückwärtige Stoifteil war etwas nach vorne gezo­ gen, sodass ein komplettes Aufklappen der Windelhose möglich war. Die Windeln, im Idealfall aus feinem Baumwolltrikotstoff, „kreuzt man zwischen den Beinen und legt die Enden so unter das Gesäß, daß sie möglichst viel Feuchtigkeit aufzusaugen vermögen [...] Um auch das Durchsickern der Feuchtigkeit zu verhüten, legt man un­ ter diese Windel ein kleines Gummituch, Bettuch oder Guttaperchastoff2, und gibt dann erst das Flanelltuch, das man um das gan­ ze Kind herum schlägt, von der Achselgrube an bis über die ge­ streckten Beinchen. Es hat darin volle Beweglichkeit und ist doch bedeckt.“34 Zur Fixierung der Windelhose wurden entweder Ach­ selbänder angebracht oder an einem Rockträger befestigt, welcher flexibel und luftdurchlässig sein sollte, damit „freieste Beweglich­ keit“ gewährleistet wird. „Niemals dürfen diese , Träger' für Strümpfe, Hose und Kleid aus undurchlässigen Stoffen und un­ nachgiebig geschnitten werden; denn sonst ziehen wir Schmalbrust und Hochrücken systematisch heran.“2,5 Modisches Vorbild für Mädchenunterwäsche blieb weiterhin die Frauenleibwäsche, wenngleich die Schnitte insgesamt ein wenig schlichter ausfielen und die Säume auf Wachstum ausgerichtet wa­ ren. Ein am Leibchen fixierter Strumpfhalter aus Gummi ersetzte die übliche Verwen­ dung von Strumpfbän­ dern, nunmehr wur­ den Strümpfe „engli­ scher“ Länge, d. h. bis über die Knie, mit Klammern befestigt. „ Die kleinen Mädchen ziehen also erst Strümpfe an, dann Hemd und Leibchen, klammern die Strümp­ fe fest, ziehen das Bein­ kleid über und lassen

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dann die Röcke und das Kleid fol­ gen. “36 Kleine Jungen trugen knielange Beinkleider und, wie die Mädchen, ein Leibchen mit Gummiträgern und Strümpfen. Ungefähr ab dem 7. Lebensjahr änderte sich das Er­ scheinungsbild der Jungen: „Die Strümpfe weichen den Socken, das Unterbeinkleid [...] wird lang und deckt das Bein, das Hemd [...] steigt mit Bündchen hoch an den Hals, und die Aermel verlängern sich bis herab zum Handgelenk. Das Leibchen wird durch die Tragriemen ersetzt, der Schluß der Beinkleider von den Seiten nach vorne ge­ legt.“” Gewannen durch die Aufnahme von Elementen der Reformunter­ kleidung in die bürgerliche Mode gesundheitliche Aspekte an Ein­ fluss, so wurde ein weiterer Entwicklungsschub durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Technologische Fortschritte in den Herstel­ lungsverfahren, die Verwendung neuer Gewebe und Materialien machten die Leibwäsche pflegeleichter und komfortabler, doch die Dauer des Krieges und die damit verbundene zunehmende Roh­ stoffverknappung sowie Entwicklung der Stoff- und Wollpreise zwangen Industrie wie Hausfrauen zu neuen Lösungen. Zwar wurde Kinderunterwäsche von jeher auch aus abgetragenen Stof­ fen angefertigt, umgearbeitet, verlängert und häufig von einer Geschwistergeneration zur nächsten weitergegeben, in Notzeiten nahm diese Form der Sparsamkeit eine neue Dimension an. Darüber hinaus fand ein Modewechsel statt: Ober- und Unter­ kleidung wurden funktionaler und schlichter. Die Mädchen tru­ gen bequeme einteilige, kurze Hemdhosen mit Trägern und Klap­ penschluss oder einen „Prinzessrock“ mit Stickerei oder Spitzen­ besatz. Unterrock, geschlossene Beinkleider, Springhöschen, Schlupfhemden und Miederleibchen komplettierten die Unterwä-

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Strumpfhalter-Leibchen zweier Kinder. 1940er-Jahre. Wolle, S-gedreht, grau me­ liert. Tunesisch gehäkelt. Saum und Knopfleiste aus festen Maschen gehäkelt, Knopfleiste mit schwarzem Vis­ koseköper unterlegt. Maschinengenähte Strapse aus khaki­ farbenem Viskosege­ webe, durch Knoten gekürzt. Handgenäh­ te, reparierte Knopf­ löcher und Ösen. Mit Webetikett A.T. und gesticktem Mono­ gramm MF. L ohne Strapse 22,5 cm. Museum für Ham­ burgische Geschichte 1996,10-17

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WAS DU ERERBT VON

Vaters ausgediente Unterwäsche (Ausschnitt). Arbeitsanleitung aus Heft 20. „Deutsche Moden­ zeitung“ 1931

Strickleibchen mit Vorderschluss. 1930er- bis 1950er-Jahre, Baumwollgarn, gebleicht. RR-Fang Strickware mit Zierstreifen aus versetztem Fang. Zierkanten aus zweifach bogig angenähten Wirkfransen. Maschinengenähte Konfektions­ ware. L 22,5 cm. Altonaer Museum AB 10067

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DEINEN VÄTERN HAST

Unterkleid mit dekorativer Passe. 1920er- bis 1930er-Jahre, Baumwolle, Leinwandbin­ dung, gebleicht und lachsrosa. Maschinenge­ näht, mit gehä­ keltem Spitzen­ ansatz aus merce risiertem Baum­ wollgarn. L = VM 49 cm. Altonaer Muse­ um 2009-873

schegarderobe junger Da­ men. Die Unterkleidung der Knaben entsprach im Grunde der Herrenwä­ sche: Hosen mit Beinan­ satz und kurze Unterbein­ kleider mit breitem Bund und kurvenförmiger Passe ähnelten bereits modernen Formen. Auch hatte sich der mittig eingepasste Ho­ senschlitz mit rechter Knopfleiste und linker Knopflochplatte durchge­ setzt.38 Ende der 1920erJahre konnte auf seitliche Zubindebänder am Bund, Gürtel und Knöpfe zum Befestigen der Unterhosen an Leibchen verzichtet werden, da mit dem Mate­ rial „Lastex“39 der Taillen­ bund mit eingearbeitetem Gummiband elastisch und rutschfest zugleich wurde. Unternehmen wie „Petit Bateau“ aus Frankreich boten kurze Unterhosen, Slips genannt, aus unge­ bleichter, weißer Baum­ wolle mit dehnbarem Bund an.40 Ärmellose Un­ terhemden, teils mit V-Ausschnitt, vereinfach­ ten das Anziehen.

ABC-Schnittmusterkarte fü Mädchenunter wasche. 1940er-Jahre Privatbesitz

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Höschen aus der Nachkriegszeit. 1945-1955, Zellu­ loseregeneratfaser, Dreherbindung, rot umgefärbt (Zweitver­ wendung). Maschi­ nengenäht, handge­ säumt. Tunnelzug mit Gummiband. In der Erinnerung der Schenkerin soll es sich bei dem für diese Unterhose verwende­ ten Stoff um Fall­ schirmseide gehan­ delt haben. Die Ver­ mutung kann zwar nicht aufrechterhal­ ten werden, veran­ schaulicht aber die damalige Bedeutung von Fallschirmseide. L 30 cm. Museum der Arbeit 0.1993.043.008

Strickhöschen, Anna Wischhusen, Mittelsbühren, 1952-1956. Baumwollgarn, Z-gedreht, gebleicht. In drei Teilen kraus rechts handgestrickt mit 2:2 Rippenbünd­ chen und Viereck­ zwickel. Handge­ näht. Mit gehäkelten Ösen für Gummi­ band-Durchzug. Ausgeleierte Gummi­ litze durch Knoten „nachgespannt“. L 19 cm. Altonaer Museum 2009-749

Seit den 1930er-Jahren wur­ den die Stoffe dank Wollmi­ schungen und dem Einsatz von Kunstseide (Rayon) leichter. Das 1934 in den USA auf den Markt gebrachte Patentmodell „Jockey“, eng anliegende Männer-Shorts mit Gummizug und dreieckigem, zweilagigem Zwickel, fand viele Nachahmer und wurde vier Jahre später ohne Eingriff und in Kombination mit ärmellosen Unterhemden in Kin­ dergrößen angeboten.41 Das zweiteilige Set ist heute noch in seiner Grundform modern und wird von Jungen wie Mädchen getragen. Die vorherrschende Materialknappheit während und nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete für viele Haushalte jedoch eher die Umarbeitung aufgetragener Textilien anstelle eines Neukaufs. Das Sonderheft „Reste im neuen Gewand“ empfahl aufgeribbelte Wollgarne für die Wiederverwendung zu glätten und „kleinste Wollreste“ als Norwegerbordüren oder bunte Streifenmuster zu verwerten.42 Strickhöschen aus reiner Wolle, mit Rayonanteil oder aus Zellwolle dienten als Uber-, Kriech- oder Spielhosen, darunter trugen die Kinder, wenn möglich, eine Baumwollunterhose. In den 1950er-Jahren wurde die Wäsche dank Synthetikfasern wie Nylon, Lycra und Poly­ ester formstabil, knitter­ frei und schnell trock­ nend. Mit dem Wirt­ schaftsaufschwung zum Ende der Dekade voll­ zog sich ein sukzessiver Wandel: Das Selbstan­ fertigen der Unterwä­ sche verlor an Bedeu­ tung, der Kauf konfek­ tionierter Massenware

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wurde zur alltäglichen Gewohnheit. „Früher haben sich die Frauen die Ausstattung für ihr Kind selbst hergestellt. Sie vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht. Wenn es so weit war, wurden nur die Tru­ hen geöffnet und Hemdchen und Jäckchen und das sonstige 'Zube­ hör, das Vater, ja Großvater schon trug, herausgeholt. Wie hätten sie sich entsetzt, wenn man ihnen zugemutet hätte, diese zierlichen, so leicht herzustellenden Jäckchen, Höschen, Röckchen fertig im Ge­ schäft zu kaufen. Heute ist dies ganz anders [...] Die Frauen von heute haben auch kaum mehr so viel Zeit, sich die Ausstattung für das Kind selbst herzurichten. Und die wenigen, die noch Zeit dazu hätten, überlegen es sich auch, weil es so vielpraktischer ist und auch billiger kommt, einfach in einem Fachgeschäft oder auch in der Spe­ zialabteilung eines Kaufhauses alles fertig zu kaufen.“^

2. Hälfte 20. Jahrhundert: „Sogar wenn sie naß sind, sind sie schön trocken"44 Technologie auf dem Wickeltisch Als Charles Goodyear 1839 das Verfahren der Vulkanisation entwi­ ckelte, um irreversibel verformbaren Naturkautschuk in widerstands­ fähigen Gummi zu transformieren, bot sich das elastische, wasserun­ durchlässige Material für eine neue Windelhosen-Generation gerade­ zu an. Die Stoffwindel-Gummischutzhosen-Kombination wurde ab dem späten 19. Jahrhundert verwendet und war bis zur Markteinfüh­ rung der Einwegwindel in den 1970er-Jahren in Westdeutschland eine bevorzugte Wickelmethode, zumal mit dem Einsatz von Polyvinyl­ chlorid (PVC) und Polyethylen (PE) die Flüssigkeitsundurchlässig­ keit noch gesteigert werden konnte. Die Firma „Carl Hahn“ bot Kunststoffhosen mit der Bezeichnung „Mölny“ in vier verschiedenen Größen in „extra Qualität“ an: „besonders weich und hautfreundlich. Perfekt in Sitz und Verarbeitung. Kochfest, öl- und salbenbeständig. “ Unter dem Namen „Schwedenhose“ wurde der Schutzschlüpfer hier­ zulande bekannt, dessen milchig-gelbliche Farbe und wachsähnliche Oberfläche charakteristisch waren.45 Da weder das Windelinnere (Pa-

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„Camelia-Windel“, Ausschnitt (Rück­ seite). Werbebeilage einer Warenver­ packung für „Camelia“-Binden, 1930er-Jahre. Altona­ er Museum 2009-517

piereinlagen oder Stoffwindeln) noch die Gummihose miteinander fixiert waren und bei Bewegungen des Kindes leicht gegeneinander verrutschen konnten, war der Rei­ nigungsaufwand erheblich, muss­ te die Windelhose insbesondere an den faltenreichen Hüft- und Bein­ bündchen sorgfältig gesäubert so­ wie die benutzten Mulltücher und Die neue Windeimethode. Einlagen aus Molton penibel aus­ Der Säugling liegt nicht mehr im feuchten Verband und ist gespült, ausgekocht und getrock­ gegen Erkältung und Wund­ net werden.46 sein geschützt. Kein Windel­ waschen mehr! In einem Ratgeber zur Säuglings­ Beutel (10 St.) Mk. -.95 pflege aus dem Jahr 1963 ist zu le­ sen: „Wer es sich leisten kann, legt in die Windelverpackung eine Lage Zellstoff, oder auch eine fertige Zellstoffwindel, wie man sie durch die Cameliawerke bekommt. Sie hat nicht nur den Vorteil, dass der Stuhl abgefangen wird und mitsamt der Windel weggeworfen werden kann: Zellstoffsaugt auch ganz vor­ züglich die Feuchtigkeit auf und schützt so unser Kleines vor dem Wundliegen47 [...] Als Puder nehmen wir nie Mehl, es säuert zu stark in der Haut und macht das Kind wund. Reines Talkum geht auch, ist aber etwas trocken [...] Als Öl können wirjedes milde Öl verwenden, wie Salatöl oder Olivenöl. Sehr gut ist auch Lebertran, der aber wegen seines unangenehmen Geruches nicht gern genommen wird. “48 Ein Vorgängermodell zu modernen Windelsystemen entwickelte die US-Amerikanerin Marion Donovan bereits in den 1940er-Jahren. Ihre Erstlingswerke, die wie Gummihosen über die Stoffwindel gezogen wurden, nähte sie aus Duschvorhängen, später experimen­ tierte sie mit Fallschirm-Nylon.49 Als Donovan 1951 das Patent für ihre „Boater“ bekam, versuchte sie sich zudem an der Entwicklung einer Papierwindel, scheiterte jedoch, da sie keinen geeigneten Pa­ pierhersteller fand, der bereit war, eine flüssigkeitsaufsaugende Pa­ piersorte zu produzieren. Lediglich Victor Mills, Chemie-Ingenieur beim konsumgüterproduzierenden Unternehmen „Procter &

-windel

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Gamble“, erkannte das Potenzial von Donovans Erfindung und entwickelte eine chancenreiche Alternative zu dem unpraktischen, mehrteiligen Windel-Gummihosen-System. Zehn Jahre nach der Patentierung der „Boater“ kam schließlich die eckig geschnittene Kunststoff-Pionierversion der „Pampers“50 mit Sicherheitsnadeln auf den amerikanischen Markt, doch erst 1973 wurden die West­ deutschen mit den fortschrittlichen Windeln aus den USA „ver­ wöhnt“. Trotz der relativ hohen Anschaffungskosten war die Ein­ führung der Wegwerfwindel aufgrund der enormen Arbeitserleich­ terung und verbesserten Hygiene in der Bundesrepublik derart er­ folgreich, dass der Markenname zu einem Begriffsmonopol wurde und in die deutsche Umgangssprache als Synonym für „Windel“ eingegangen ist. Trotz aufkeimender kontroverser Diskussionen hinsichtlich Rohstoffgewinnung, Produktion und Entsorgung so­ wie gesundheitlicher Bedenken (insbesondere Allergien und Win­ deldermatitis) ist die Marke „Pampers“ Marktführer51 und das Un­ ternehmen investiert kontinuierlich in die Optimierung seiner Win­ delprodukte. Bedeutende Weiterentwicklungen waren die Ein­ führung elastischer Bündchen und des „Superabsorbers“52 in den 1980er-Jahren sowie die Verwendung von wiederverschließbaren Verschlüssen Mitte der 1990er-Jahre. Seit der Jahrtausendwende liegt der Schwerpunkt in einer passgenauen Differenzierung der Windel je nach Lebensalter und Entwicklungsstand des Kleinkin­ des.55

Kinder-Puder ärztlich und klinisch anerkannt als mildester und zuverlässigster

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Dr. R. REISS, Rheumasan- und Lenicet-Fabrik, Berlin NW87. / Mod.

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„Lenicet KinderPuder“ (Ausschnitt). Deutsche Moden­ zeitung, Heft 23,36. Jahrgang, 1926/1927

Anfang 21. Jahrhundert: „Bodys für Ihren Liebling"54

Hemdhose mit praktischer Klappe. 1930er- bis 1940erJahre. Baumwolltri­ kot, RL-Strickware mit 1:1 Feinripp­ bündchen, gebleicht. Vorderschluss mit Knopfleiste. Maschi­ nengenähte Konfek­ tionsunterwäsche. L 62 cm. Altonaer Museum 2008-891

Galt in Erziehung und Kinderpflege lange Zeit das eingewickelte, passive und immobile Kleinkind als Leitmotiv, hat sich diese „starre Haltung“ grundlegend geändert. Durch rechtzeitiges Schulen der Feinmotorik soll frühkindliches Lernen gefördert werden, denn nach heutigem Erkenntnisstand sind die ersten Umwelteindrücke prägend und werden am besten durch großflächigen, direkten Haut­ kontakt erfahren. Damit das Baby während seiner bewegungsinten­ siven Unternehmungen nicht auskühlt, ist ein Mindestmaß an be­ quemer Unterkleidung erforderlich. Vor einigen Jahren hat sich der eng anliegende Body(suit) als die Unterwäsche für Krabbelkinder durchgesetzt. Der Clou an dem Einteiler ist die hohe Funktionalität: Druckknöpfe im Schritt ermöglichen einen raschen, unkomplizier­ ten Windelwechsel, ohne den kompletten Ober­ körper freilegen zu müs­ sen, der Rundhalsaus­ schnitt ist dehnbar und zuweilen mit weiteren Druckknöpfen im Schul­ terbereich versehen, die das An- und Ausziehen insbesondere von „Dick­ köpfen“ zusätzlich er­ leichtern. Eine sehr prak­ tische Lösung für Kinder im Säuglingsalter ist der Wickelbody, bei dem das oftmals als störend emp­ fundene An- und Auszie­ hen über den Kopf ent­ fällt. Dank einer durchge­ henden Druckknopfleis­ te, die vom Hals abwärts

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bis zum Schritt führt, kann die Vor­ derseite des Bodys komplett ausge­ klappt und das Baby daraufgelegt werden. Anschließend werden die Sei­ tenteile übereinandergeschlagen und zugeknöpft. Der Schnitt des Oberteils erinnert an das heute noch geläufige Flügelhemd, das untere Segment an die Windel­ höschen um 1900. Weitere histo­ rische Vorbilder sind die einteili­ gen, kurzen Hemdhosen-Kombinationen, Turnerhemden55 sowie der amerikanische „Union Suit“56 als knöchellange Ganzkörpervariante. Im Handel wird der Einteiler im farbneutralen Weiß als hygieni­ sche Kochwäsche-Variante angeboten. Sehr beliebt, aber schwerer zu pflegen sind farbenfroh gemusterte und geringelte Modelle oder bunte Brustdrucke mit Tier- und Comicmotiven, Applikationen und Stickereien. Dunklere Farbgebungen sind ebenso angesagt wie klassische, „geschlechtsspezifische“ Pastelltöne in Hellblau für Jungen und Rosa für Mäd­ chen. Der Stoff ist zumeist elastisch, bevorzugtes Mate­ rial ist Baumwolle in verschie­ denen Qualitäten, die schad­ stofffrei sein muss, da es für Kinderkleidung strenge Auf­ lagen gibt. Die Unterwäschemode für Mädchen und Jungen folgt auch im 20. und 21. Jahrhun­ dert überwiegend den Ent­ wicklungen im Erwachsenen­ bereich. Waren in den 1960erJahren Herrenunterhosen mit niedrigerer Leibhöhe und ho­

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J ungen-Unterwäsche, 1978, Garnitur ohne Markenetikett. 50 % Baumwolle, 50 % Viskose, Dop­ pelripp-Strickware, orange. Schiesser „tausendsassa“. 100 % Baumwolle, Doppelripp-Strick­ ware mit Feinripp­ bündchen, grün. Maschinengenähte Konfektionsunter­ wäsche Gr. 80. Altonaer Museum 2010-738

Cooles Spiderman Hemd TM & © Mar­ vel 2009, Baumwoll­ trikot, RL-Strickware mit 1:1 FeinrippBündchen, schwarz und bedruckt. Chine­ sische Konfektions­ ware für H&M. Gr. 86/92. Privatbesitz

hem Beinausschnitt en vogue oder, ein Jahrzehnt später, grelle Farb­ kombinationen und Kontraste, so wurden die neuen Trendfarben und Formen im verkleinerten Maßstab für Kinder angeboten. Als sich die Produktpalette in der Erwachsenenwelt um Boxer­ und Retroshorts, Unterhemden mit Knopfleiste, Pantys und Tank­ tops erweiterte, wurden diese Kreationen leicht modifiziert für den Kindersektor übernommen. Lediglich ein allzu niedliches Stoffdessin, bunte Farben oder mus­ kelprotzende Comic-Superhelden auf Unterhose und Unterhemd „verraten“, dass es sich um Kinderwäsche handeln könnte, wobei aktuelle Trends wie Unisex-Mode und „Infantilisierung“ in Teilbe­ reichen der Erwachsenenmode die ohnehin fragile Grenze zwi­ schen Kinder- und Erwachsenenunterkleidung verwischen.

Designer-Mädchen­ unterwäsche, Eva Soysal2008. Baumwolltrikots mit und ohne ElastanAnteil, RL-Strickware, bedruckt. Vis­ kosetrikot, bedruckt („... halt alles, was der Stoffvorrat so hergibt...“). „Label“ aus bro­ schiertem Bändchen „Vergißmeinnicht“ geschnitten und mit Zierstich appliziert. Maschinengenäht. Gr. 142. „ Die verrückteste Unterhose der Welt! sagte mein Sprössling milde lächelnd, als ich ihr stolz diese Creati­ on unter die Nase hielt. “ Privatbesitz

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Burkhard Jodat

„Wohin damit? Wohin damit? Immer sitzt man darauf!"'

Eine Plauderei über männliche Unterwäsche Die Männer, die ich kenne, reden nicht sonderlich viel über ihre Unterwäsche. Das ist nicht unbedingt repräsentativ, die Gründe sind mir auch nicht immer bekannt - es gibt andere Männer und an­ dere Gründe. In der Fachliteratur2 heißt es häufiger, dass Männerunterwäsche (zum Unterschied zwischen „Herr“ und „Mann“ später) nüch­ tern und zweckmäßig ausgelegt sei, und darüber muss man dann auch nicht viel reden. Was direkt auf der Haut getragen wird, wird ja meist nur wahrgenommen, wenn es sich nicht so anfühlt, wie es soll, es kneift, kratzt, piekt oder ist nass. Die Zweckmäßigkeit männlicher Unterwäsche überzeugt mittlerweile auch Frauen, so­ dass inzwischen Frauenunterwäsche nach männlichen „Vorbil­ dern“ hergestellt wird, Vorreiter war hier der Modedesigner Cal­ vin Klein in den 1980er-Jahren.3 Im Sport- und Freizeitbereich entwickelt sich konsequenterweise so benannte „Funktionsun­ terwäsche“ aus hochentwickelten Verfahren (Beimischung von Silberionen) und speziellen Materialien unter dem Vorzeichen der Praktikabilität: niedriges Gewicht, leichte Waschbarkeit, Schweißgeruchsbindung, nahtloser Schnitt zur Vermeidung von Reibung.4 Neben dem Trend zur „Uni-Sex“-Unterwäsche hat die Outdoor-Industrie das Zwiebelprinzip beinahe zur Vollkommen­ heit fortgeführt: Der ständige Wechsel zwischen kühler Außen­ temperatur und beheizten Innenräumen erfordert, sich durch Ab­ legen und Anziehen von Kleidungsschichten der Temperatur op­ timal anzupassen. Früher war durch die eingeschränkten Heiz­

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Panel aus der Tim & Struppi Geschichte „Die Zigarren des Pharao“. Farbversion 1955 ©Herge/Moulinsart 2009

möglichkeiten wärmende Unterwäsche eine Notwendigkeit und damit in historischer Rückschau Geschlechtsunterscheidungs­ merkmal: „until modern times women have usually worn more underclothes than men, [...] because their lives were less active.“5 Wenn Wäsche kommentiert wird, ist es meistens das T-Shirt, wel­ ches zwischen Unter- und Oberwäsche, wahrscheinlich aber eher bei Letzterer anzusiedeln ist - die Gestaltung durch gedruckte Ab­ bildungen und Text erklärt beides (andererseits wird es auch unter Hemden, Pullovern und anderen Bekleidungsstücken gern „unter­ gezwiebelt“). Ursprünglich Armeebekleidung - da ist sie wieder, die Zweckmäßigkeit - wurde das T-Shirt von Jugendlichen ähnlich wie die Jeanshose zur bevorzugten Kleidung und Ausdruck „rebelli­ scher“ Protesthaltung.6 Ansonsten ist das Thema Unterwäsche noch allenfalls im Kalauer Teil des Gesprächs und somit in ehrwürdiger Tradition - bereits im Mittelalter waren Bauern und Narren Ziel des Spotts wegen ihrer (wirklich ?) fehlenden Unterwäsche. Ob Hel­ ge Schneider {„und außen rum Peters Unterbuchse!“), das magische Auf-den-Kopf-Stellen und die Zurschaustellung der unter den Um­ hängen verborgenen Unterwäsche bei Harry Potter oder die Scherz­ bauernregeln auf der Humor­ seite des Sterns {„Verliert im Auguste der Bauer die Hose, war schon im Juli das Gum­ miband lose“)7, über Unter­ hosen lässt sich trefflich schenkelklopfend - lachen, „bei Merlins Unterhose“'? Das Unterhemd, besonders die ärmellose Variante, die ursprünglich unliebsame Textilballungen im Schulterund Achselbereich verhin­ dern sollte, scheint auf dem Rückzug zu sein. In meiner Kindheit in den 1970ern gab es Garnituren (in merkwür-

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digen Farben, in der Fachliteratur findet man bloß herrlich bunte9, die beige-braune Variante brachte mich wahrscheinlich früher zum eigenhändigen Unterhosenkauf) aus ärmellosem Unterhemd und -hose (Slip mit Eingriff, der für einen Linkshänder rätselhaft und überflüssig war). Auch ein wenig blödsinnig, konnte man das Unterhemd mehrere Tage tragen,10 die Unterhose musste täglich gewechselt werden:11 gemischte Garnituren in noch schlimmeren Farbkombinationen, hoffentlich heute kein Turnunterricht. Das Hemd wurde spätes­ tens mit dem Erscheinen der Achselbehaarung schamhaft ausge­ mustert und durch das T-Shirt ersetzt (so soll das T-Shirt ja auch entstanden sein, weil ein britischer Marineoffizier seiner Königin (Victoria?) den Anblick behaarter Männerachseln ersparen woll­ te - eine schöne Legende).12 Lediglich bei klirrendem Frost holen harte Männer ihre Unterhemden und langen Unterhosen (oder Wollstrumpfhosen - „men in tights“ mit Eingriff) hervor und kommentieren dies entsprechend (es ist so kalt, dass sogar harter Mann XY mit langer Unterhose... also ist XY nicht nur hart, son­ dern härter). Andererseits hat die Sport- und Fitnessbewegung auch dafür ge­ sorgt, dass das ärmellose Unterhemd (diese sogenannte A-ShirtVariante wird in den USA auch „wifebeater“ - Frauenschläger ge­ nannt)13 ebenfalls als Oberkleidung vielleicht nicht salon-, aber wenigstens biergartenfähig ist - der Mann zeigt seine (hoffentlich) muskulösen Oberarme. Der darin latent vorhandene Drang vor­ nehmlich junger Männer zur Freizügigkeit (exhibitionistisch klingt ein wenig übertrieben) äußert sich auch in Erscheinungen wie dem Hervorblitzen der Unterwäsche durch die Löcherjeans14 oder Modenarreteien wie der hängenden Hose - leider kenne ich keine Fachbegriffe für dieses Phänomen, wie sie für die Weiblichkeit mit „whale tail“ (die an eine Walfluke erinnende hinten hervorblit­ zende Unterhose) und Arschgeweih (die darüber befindliche, neu­ deutsch leider „ Tattoo “ geheißene Tätowierung) bestehen. Die männ­ liche Hängehose wurde in den US-amerikanischen Ghettos populär, kommt eigentlich aber aus den Gefängnissen, wo die Insassen wegen Suizidgefahr keine Gürtel tragen dürfen.15 Wer mag, kann im betont

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coolen Ghetto-Style ein kulturelles Erbe der Zeiten erkennen, als Un­ terwäsche auch Standesmerkmal sein konnte: du gehörst nicht dazu. Interessant ist das an den Garnituren „1 Unterhemd - 1 Unterhose“ bereits erwähnte Missverhältnis. Bis weit in das 19. Jahrhundert hi­ nein war es gerade umgekehrt, pflegte der Mann, besser der „Herr“, in seiner Garderobe mehr Hemden als Unterhosen zu haben, sofern er sich dies leisten konnte. Der mehrmals am Tag vorgenommene Hemdenwechsel schuf einen hygienischen Ausgleich in Zeiten, in denen der Hautkontakt mit Wasser als schädlich (angesichts der Wasserqualität vielleicht auch nicht ganz unberechtigt) angesehen wurde. Dass die Reinigung der Hemden natürlich ungleich viel mühsamer war, förderte das Aufkommen von separaten Kragen, Manschetten und Hemdbrüsten.16

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.ICH BIN MIT pEM VERKÄUFER ZUR SCHULE GEGANGEN, UNp ICH WOLLTE nicht, pass er denkt, ich hätte einen zwerg geheiratet

Der feine Herr konnte an seinem tadellos weißen Hemd erkannt werden. Während die körperlich arbeitende Bevölkerung, also der Mann, die nicht so leicht verschmutzenden bunten Hemden trug: Noch heute wird in Großbritannien zwischen „white-collar-jobs“ und „blue-collar-jobs“ unterschieden. Das Hemd zählte je nach Klassenzugehörigkeit also zur Unterwäsche oder zur OberbekleiSommerunterhose aus Netztrikot Schiesser, um 1930, Ägyptische Mako-Baumwolle, halbgebleicht. Kettenwirkware „Schiesser’s Knüpftrikot D. R. Patent 302724“ mit Feinrippbündchen. Sattel aus Baumwollatlas mit Perlmutterknopf- und Schnürschluss. Mit Schlitz und zwei Querriegeln für die Hosenträger. Maschinengenäht. L 102 cm. Altonaer Museum AB 10100 Herrenunterhose „Modem Line“ „Nur die eigene Haut sitzt besser“. Baumhüter, 1970er-Jahre, Baumwolle, Doppel­ ripp-Rundstrickware mit Feinripp-Bündchcn, gebleicht. Maschinengenähte Konfektionsware mit Dorlastan®-Bund. Gr. 7. Altonaer Museum 2008-818

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Reg Smythe: Willi Wacker, 1967 ©2010M.G.N./ Distr. by NAS/Bulls

Bräutigamshemd aus Altenwerder. 1840, Leinen, Lein­ wandbindung, 26/20 Fd./cm, gebleicht. Leinengarn, 3-fach, gebleicht und 2-fach, rot. Schlitz, Schultern und Manschetten mit Plattstichstickerei verziert. Schlitz mit Schlingstichen, Kra­ genkante mit festonnierten Bögen ausge­ näht. Initialen, Jah­ reszahl und Schiff in Kreuzstichstickerei. Das Hemd wurde von der Braut hand­ genäht und war ein Geschenk zur Hochzeit. L 109 cm. Altonaer Museum Y962

düng, wobei Letzteres diskutabel ist: Ist ein Kleidungsstück noch Oberbe­ kleidung, wenn es unter Weste, Ja­ ckett, Krawatte oder Binder größten­ teils verborgen ist, ohne die der „Herr“ sich in der Öffentlichkeit nie­ mals zeigt?17 Die Redewendungen vom „letzten Hemd“ belegen den symbolträchti­ gen Wert des Hemdes über lange Jahrhunderte als Inbegriff der abso­ lut notwendigen Bekleidung, ja als „letzten, elementarsten und lebens­ notwendigen Minimalbesitz“.lfi Ge­ meint ist nicht das „garantiert knitter­ freie gegen Aufpreis“ (Bestattcrwitzklassiker), das Leichenhemd, sondern geradezu archetypisch als pars pro toto die Bekleidung, die der Mensch benötigt, wie etwa Nahrung (Brot) und Wohnung (Dach/Haus).19 Ganz so gefühlsbeladen wie das letzte Hemd ist die Unterklei­ dung der unteren Körperhälfte nicht. Über Form, Herkunft, Ver­ breitung, Bezeichnung, Entwicklung, Funktion, Material findet sich allerlei in der Literatur, allein, vieles widerspricht sich und wird mangels eindeutiger Quellen nie so ganz geklärt werden können. Da ich außer dem Blick in die eigene Hose nicht wirklich Neues hinzufügen kann, folgt eine Aufzählung interessanter Ein­ zelaspekte, die dem geneigten Leser zur Weiterverfolgung nahe­ gelegt seien: antike Zivilisation und germanische Hose als Inbe­ griff des Barbarentums;20 Beinlinge und „bruoch“ bzw. englisch „breeches“-,1' der Zusammenhang von kürzeren Hemden und dem Aufkommen der Plattenrüstung;22 die Landsknechtmode der zerhauenen Beinkleider und der überdimensionierten und zum Blickfang verzierten Schamkapsel;23 die Pluderhosen des Ba­ rock; die engere Hosenmode der höfischen „culotte“ - fünf Jahr­ hunderte lang zeigt der Mann mal mehr, mal weniger Wade, und

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dennoch ist dies die einzige Erwähnung von Strümpfen; das Auf­ kommen der Röhrenhosen oder auch „Pantalons“, die als Bezeich­ nung „pants“ noch im heutigen Englisch präsent, aber sehr ent­ fernt vom heiligen Pantaleon, Märtyrer im 4. Jahrhundert, sind;24 Körpermodellierung durch Strumpfeinlagen und Schnürkor­ setts; Netzunterwäsche, in Norwegen aus Fischfangnetzen ent­ wickelt;25 Reformunterwäsche und die Abneigung des Herrn Jae­ ger gegen pflanzliche Textilmaterialien; spannende Einteilermo­ de; Seidenunterwäsche der kämpfenden Truppen: Schutz gegen Ungeziefer und platzsparend im U-Boot-Spind; Seidenunterwä­ sche der gut Betuchten: die empfindliche Haut von Winston Churchill26 und die Verurteilung des Steuerhinterziehers ohne festes Einkommen Al Capone;27 der Einfluss von Badekleidung28 und Sportbekleidung auf die Entwicklung der Unterwäsche -

Miniaturmuster für ein Herrenoberhemd. Teil der Examensarbeiten von Christel Kopf (f 1903) für die Ausbildung zur Gewerbe­ lehrerin. Hamburg oder Altona, 2. Hälfte 19. Jahrhundert. Baumwollbatist, Leinwandbindung, gebleicht und gestärkt. Kragen- und Manschetten­ knöpfchen aus schwarzem Kunststoff. Zwei Wäscheknöpfe. Maschinengenäht. L 50 cm. Altonaer Museum 1969-477,10

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hat der Altonaer Fußball-Club von 1893 seine Vereinsfarben J^emtfZXTSe. Schwarz-Weiß-Rot von der Un­ 4 » terwäsche der kaiserlichen Ar­ ANFERTIGUNG FÜR ALLE mee übernommen?29 - Ist der FIGUREN PASSEND Y-Eingriff nach dem Chromo­ Mit langen und kurzen Beinen Mit langen, kurzen und ohne Armel som benannt oder umgekehrt In Sommer- und Winter-Qualitäten (oder gar nicht)? Als Urvater der männlichen Unterhose ist der Lendenschurz anzusehen, der auch von den al­ ten Römern und anderen anti­ ken Kulturvölkern getragen Werbekarte der wurde. Der Lendenschurz bedeckt kaum das Gesäß, vielmehr Firma Sander aber die Genitalien und sorgt so für einen Schutz vor Blicken und in Stade. Stößen. „Bedingt durch die Entwicklung des ,aufrechten Ganges' Um 1930. Privatbesitz gerieten die männlichen Geschlechtsteile aus einer relativ geborge­ nen in eine ausgesprochen exponierte Lage. Als die Menschen be­ gannen, sich durch Kleidungsfragmente zu schmücken und zu schützen [...], scheint zumindest bei der Bedeckung der männli­ chen Blöße das Schutzmotiv vorrangig zu sein. In fast allen Kulturkreisen sind die Männer bestrebt, ihr Fortpflanzungsor­ gan zu schützen, sei es durch einen Lendenschurz, eine Schambin­ Jaeger’sche Normalde oder -tasche, ein Penis­ Unterhose. futteral oder eine Ho­ Benger Söhne, Stutt­ gart Anfang 20. Jh. se.“30 Unzweifelhaft ist Schurwolltrikot, die wichtigste Funktion RL-Maschenware mit 1:1 Feinripp­ der männlichen Unterklei­ bündchen, naturfar­ dung (das kann sich auch ben meliert. Eingriff auf das zwischen den Bei­ mit Wollköperband versäubert, Taillen­ nen hindurchgeführte und bund mit Gummizug. verknotete Hemd bezie­ Maschinengenähte hen), „das zwischen den Reformunterwäsche mit Gütesiegel. Beinen“3' durch eine lose L 66 cm. Fixierung ruhig zu stellen Altonaer Museum 2009-877d und somit für Komfort

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und verbesserte Beweg­ lichkeit zu sorgen, mithin die eines modern so be­ nannten Suspensoriums. Im Unterschied zu Kälte, Sonnenstrahlung oder mechanisch beigefügten Verletzungen, vor denen man sich beispielsweise mit Kleidung, Panzerung oder Kopfbedeckung schützt, kann sich ein Mann durch unwillkürliche Bewegungen auch selbst Schmer­ zen zufügen — die Unterhose als Folge einer anatomischen Abson­ derlichkeit. W. Brückners Aussage, „daß Männer schon immer die Bruoch oder ähnliches gebraucht haben“, steht in dieser Ein­ deutigkeit singulär in der Literatur, wird von mir un­ ter demselben „Gesichts­ punkt männlicher Selbster­ fahrung“ herzlich unter­ stützt.32 Schlussendlich bleibt den Männern in un­ serem Kulturkreis die Wahl zwischen Slip und Shorts, wobei die wenigsten auf eine Sorte festgelegt sein dürften - das wird auch von Faktoren wie Wetter und Art der Oberkleidung mit­ bestimmt. Früher diente Unterwäsche auch dazu, die Haut vor den gröberen Materialien der Oberbe­ kleidung zu schützen, die

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Unterhose zur Turnkleidung des Eimsbütteler TV. Hamburg, 1920erJahre. Leinen, Leinwand­ bindung, gebleicht. Bund mit Baumwoll­ schnur regulierbar. Maschinengenäht für das Sporthaus Ortlcpp, Mönckebergstraße 8. Gr. 6. Altonaer Museum 2008-843

Netzunterhemd. Um 1960. Baumwoll-Netztri­ kot, Kettenwirkware mit 1:1 Feinripp-Einfassung, gebleicht. Maschinengenähte Konfektionsunter­ wäsche. L 73 cm. Altonaer Museum 2010-72

Herren-Tanga. Um 2000. Baumwolle, 1:1 Feinripp-Rundstrickware, rot. Bund und Beinausschnitte mit Gummi­ zug. Maschinengenähte Konfektionsunterwä­ sche. Gr. 8. Altonaer Museum 2010-741,2

Pant in Beutegreifer-Optik. Angelo Litrico at C&A 2009. Polyestertrikot mit 12 % Elastan, RL-Maschenware, bedruckt. Maschinengenäht und schadstoffgeprüft. Gr. M. Altonaer Museum 2009-886

„Sanarilla-first“-Unterhose. „2 Jahre Garantie“ Maute®, um 1980. Baumwolle, Doppelripp-Rundstrickware, gebleicht. Maschinengenähte Konfektions­ ware mit Eingriff und Weichgummibund. Gr. 7. Altonaer Museum 2008-819

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Pant, Türkei 2010. 95 % Baumwolle, 5 % Lycra®, RL-Maschenware, digital be­ druckt. Maschinen­ genähte Konfektions­ unterhose für H&M. Gr. M. Altonaer Museum 2010-755

wiederum aber auch gegen den Körperschmutz, da sie aufwendiger zu reinigen war. In unserer Gesellschaft ist Bekleidung hauptsächlich zum Massenartikel geworden, der preisgünstig produziert und ver­ marktet wird und eher ersetzt als repariert wird - Waschbarkeit und Pflege sind oft den modischen Aspekten nachgeordnet. Natürlich ist auch der Mann, besonders seit einigen Jahrzehnten, in einer be­ stimmten Lebensphase als Lust- und Sexualobjekt anzusehen, wel­ ches sich der Unterbekleidung unter dem erotischen Aspekt bedient. Sicherlich ist der Ausspruch Bruno Bananis Ausdruck eines ande­ ren männlichen Verhältnisses zu Körper und Unterwäsche: „ Wa­ rum sollte ein Mann in seiner Unterwäsche wie ein Clown ausse­ hen? [...] Ein Mann sollte in seiner Unterwäsche mit ebensoviel Sorgfalt gekleidet sein wie eine Frau. “33 Nein, die Männer, die ich kenne, geben durchweg pragmatische Auskünfte, sofern zum Reden gebracht: „Ich trage Unterhosen, damit meine 501 keine Bremsspuren bekommt. “ Danke, B. Schö­ ner hat es keiner auf den Punkt gebracht.

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Dominique Loeding

Vielversprechend:

Weibliche Wäsche „Anfangs war ich mir noch nicht sicher. Ich blickte noch einmal genau­ er hin [...] Da war entweder gar kein Höschen - oder ein String. Und ich hoffte auf einen String, denn den würde ich Nacktheit immer vor­ ziehen. Nackt können alle. String ist eine Aussage. Und eine verdammt gute noch dazu“, erklärte ein Mann mit entsprechender Präferenz.1

Postkarte. © André Sedlaczek 2010 Altonaer Museum 2010-1262

Frauenunterwäsche inspi­ riert und verführt. Sie zeigt sich nur selten vollkommen anspruchslos. Europäisch ge­ prägte Damenmoden erfor­ derten fast immer ein ent­ sprechendes .Darunter“. Im erotischen Rollenspiel wer­ den bestimmte Dessous ver­ schiedenen weiblichen Facet­ ten, um nicht zu sagen: zwei bis vier Klischees mit teils ty­ pischer Farbgebung zuge­ ordnet. „ Wir alle schauspie­ lern. Wer es weiß, ist klug“, warnte Laurence Olivier.2 Die Kulturgeschichte weib­ licher Wäsche hält sich na-

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türlich nicht an Idealvorstellungen. Viele Frauen tragen aus guten Gründen Männerunterhosen oder auch mal zwei BHs übereinan­ der? Die Mehrheit kann sich hochwertige Dessous gar nicht leis­ ten. Jenseits der Hochglanzbilder musste schon immer improvi­ siert werden. Frauenunterwäsche wurde, genau wie alles andere, auch aus Stoffresten genäht, abgeändert und bis zur Untragbarkeit ausgebessert. Aussortierte Wäsche hat man verschenkt, weiterver­ kauft oder vererbt. Die individuelle Herstellung und Nutzung vie­ ler Stücke lässt sich oft kaum mit zeitgleichen Moden in Einklang bringen? Auch das Altonaer Museum hat viele aus dem Rahmen fallende Objekte in die Sammlung aufgenommen. Deren Datie­ rung war, wenn biografische Angaben fehlten, auch mithilfe textil-

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Reg Smythe: Willi Wacker 1967 ©2010 M.G.N./Distr.by NAS/Bulls

Nellerhemd aus Ostenfeld. Ende 18. Jh. bis 1. Hälfte 19. Jh. Leinen, Leinwand­ bindung 20/18 Fd./cm, gebleicht. Leinengarn, 3-fach, rot und 2-fach, gebleicht. Handgenäht, mit Kreuzstich-Mono­ gramm C.P. und Krone. Schlitz mit einfachen Schlingstichcn ausgenäht. L 106 cm. Altonaer Museum 1970-1207,1

technischer Analysen nur eingeschränkt möglich. So wird an jeder Bekleidungs,geschichte‘ die Problematik linearer Denkmodelle deutlich. Die nachfolgend aufgezeigten, historischen Formen­ wechsel weiblicher Wäsche entspringen der Notwendigkeit einer Gliederung, sind jedoch keine Darstellung allgemeingültiger Ver­ hältnisse. Die unter illustrativen Gesichtspunkten getroffene Aus­ wahl der Abbildungen beschränkt sich auf einige zwischen 1800 und 2000 getragene Stücke, die bereits publizierte Beispiele ande­ rer Sammlungen ergänzen können. Das besondere Augenmerk galt hausgemachter Unterwäsche.

Von den „Nider"- und „riedderhembden" Auf dem Lande trugen die meisten Frauen noch im beginnenden 20. Jahrhundert ein waden- bis knöchellanges Hemd als einziges Wäschestück. „[Es] war Unterhemd wie Oberhemd, es ersetzte die Unterhosen und [...] häufig auch den Unterrock, und es wurde als Nachthemd benutzt.“5 Arme Frauen wie Mägde und Tagelöhne­ rinnen besaßen oft nur ein einziges Hemd.6 Die „Nider“-, „Neller“-, „Nerr“- und „Nedderhemden“7 norddeutscher Landschaften zei­ gen bis ins 20. Jahrhundert meist noch mittelalterliche Schnitte. Sie richteten sich nach den Webbrei­ ten, waren auf minimalen Material­ verlust ausgerichtet und wurden mithilfe der beim Zuschnitt übrig gebliebenen Keile seitlich ausge­ stellt.8 Der auch andernorts übliche Grundschnitt variierte vor allem durch die Breite der Schulterpartie und das Anfügen oder Aussparen

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von Ärmeln. Eine andere Form zeigt das „ Hemdschört“ der Probstei: Es bestand aus einem ärmello­ sen Oberteil mit fast vollständig offenen Seitennähten, an das auf Hüfthöhe ein gefältelter Rockteil angesetzt war.9 An vielen Hemden kennzeichneten eingestickte Ini­ tialen die Besitzerin1 °, während zu­ sätzliche Nummern besagten, wie viele gleichartige Stücke sie besaß. An den im Volksmund auch „ Floh­ fenster“1' genannten Schlitzenden verhinderten genähte Spitzenein­ sätze das Einreißen. Hemden nähte man noch bis ins 19. Jahrhundert fast immer aus Leinen, d. h. aus Flachs- oder Hanfgeweben.12 Zu Werktags­ hemden für niedere Schichten wurde oft minderwertiges Leinen aus Werg13 oder Rupfen verarbeitet - dasselbe Material, aus dem auch Säcke genäht wurden.14 Wo das Geld knapp war, rangierte meist der äußere Schein vor eventuellem Komfort - Unterzeug bestand grundsätzlich aus weniger wertvollen Stoffen.15 Vierländer Nedderhemden wurden „in der Regel [...] aus hänfenem“, die Ober­ hemden „aus flächsenem Leinen“ genäht.16 Helm erwähnt Hem­ den, deren sichtbare Partien aus feinem Gewebe geschneidert wa­ ren. Für den verdeckten Teil musste Gröberes ausreichen.17 Nach diesem Prinzip gab es im Kirchspiel Ostenfeld Frauenhemden, de­ ren Oberteil man aus feinem Leinen oder appretiertem Baumwoll­ stoff nähte, während für die untere Hälfte Einfacheres „langte“. Ober- und Unterteil dieser Konstruktion unterschied man demge­ mäß in „ Böwerhemd“ und „ Nellerschört 18 Auf Föhr wurde für die Ärmel Halbleinen verwendet, während das Hemd selbst aus „He­ deleinen“, d. h. aus einer Werg-Leinwand genäht war, die auch holzhaltige Stängelbestandteile enthalten konnte.19 Bürgerliche

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Frauenunterhemd aus Breitenburg bei Kellinghusen. Um 1875. Leinen, Leinwand­ bindung, ungebleicht. Leinengarn, ge­ bleicht, und Seiden­ garn, schwarz. Handgenäht, mit Kreuzstich-Mono­ gramm IG MG und Stückzahl 8. Schlitz mit Festonund Hexenstichen gesichert. L 112 cm. Altonaer Museum Y 303e

Unterhemd einer Puppendame. Um 1850. Baumwollbatist, Leinwandbindung, gebleicht. Handgenäht. L 30 cm, VM 23 cm. Altonaer Museum 1966-275,44

Frauenhemden lassen derart grundsätzliche Sparmaßnah­ men nicht erkennen. Ihre For­ men richteten sich nach den städtischen Moden, wurden im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ver­ mehrt mit Abnähern, formge­ nähten Passen und Achsel­ schluss „auf Fasson“ gearbei­ tet und galten spätestens um 1900 als „ die von den besseren Kreisen Deutschlands ange­ nommene Kleidung“.2: In den Städten hatten zu dieser Zeit verschiedene Baumwollstoffe die Lei­ nengewebe weitgehend ersetzt. Die unzureichende Bekleidung der ärmeren Stadtbevölkerung war durchaus ein Problem. Bedürftige Frauen der Hamburger St.-Jakobi-Kirchengemeinde konnten min­ destens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu Weihnachten ein Hemd erhalten, was sie Johanna Margaretha Eding (J 1762) zu ver­ danken hatten. Mit einer Stiftung verfügte sie, dass auch nach ihrem Tode „auf ewige Zeiten“ jährlich etwa 15 linnene Unterhemden an Arme zu verteilen seien. Bis heute erfüllt die Stiftung diesen Auf­ trag, obwohl es nicht immer einfach war, den Leinenhemden „mitt­ lerer Art und Güte“ im finanziellen Rahmen des Nachlasses mit zeitgemäßer Unterwäsche zu entsprechen.

Unterröcke: Oft „Zweite Garnitur" Unterröcke wärmten, sie bestimmten die Silhouette und garantier­ ten den sogenannten „Anstand“ der Trägerin. Ihre Materialvielfalt war vor allem in der städtischen Mode eine erstaunliche. „[...]petti­ coats displayed a greater diversity of materials than gowns, but were much less valuable. Woolen and worstedfabrics, [...]flannel and [...] linsey-woolsey, figured prominently alongside linens and, in London,

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cottons and silks. “2I Im ländlichen Norddeutschland wurden Unter­ röcke gern aus Woll- und Beiderwandgeweben genäht. Auch mehre­ re Exemplare übereinander boten vorzüglichen Kälteschutz. Quali­ tät und Anzahl der Unterröcke galten in vielen europäischen Land­ schaften als sichtbares Zeichen für den Wohlstand und die soziale Stellung einer Frau. Wertvollere oder besonders dekorative Stoffe kamen, übrigens auch in den Städten, dort zum Einsatz, wo sie am ehesten sichtbar wurden, d. h. im unteren Drittel und vor allem am Saum. Die Verzierung der Säume ermöglichte oft das Abschätzen der Anzahl der Röcke und damit des Vermögens der Trägerin und ihrer Familie. „ Für geringe Leute machte der Schneider auch ein oder zwei Doppelte Röcke, an die aus Sparsamkeitsgründen ein breites Stück eingefasste Beiderwand angesetzt wurde, um zwei Röcke vor­ zutäuschen. “n Auch in bürgerlichen Kreisen wurden Unterröcke gern aus abgelegten Kleiderröcken geschneidert.23 „Jede Hausfrau arbeitet sich wohl die Unterröcke für den gewöhnlichen Bedarfgern selbst und freut sich der Ersparnis, die Fleiß und Geschicklichkeit ihr einbringen, wenn sie praktisch allerlei Stoff- und Besatzreste zu ver­ wenden weiß“, riet das 1909 erschienene Hausbuch „Ich kann schneidern“.24 Unterröcke hat man auch wattiert oder aus mehreren Lagen gearbeitet und ebenso aufwendig wie dekorativ gesteppt. Vie­ le hatten versteckt eingearbeitete Taschen, die meist zwischen Rock und Volant eingesetzt wurden. Rcifröcke und allerlei Polster zum Umbinden konnten die Unterröcke ergänzen und die Silhouette ver­ ändern. Zur Leibwäsche gehörte nur der unterste dieser Unterröcke, der sogenannte Anstandsrock, der aus waschbaren Stoffen genäht oder gestrickt wurde. Die gewöhnliche Frauenunterwäsche war mit einem Hemd und den Unterröcken komplett.

Meistens entbehrlich: Beinkleider Man vermutet, dass noch bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrheit der Frauen ohne Unterhosen ging. „Der Rock [der Vier­ länderinnen] verbirgt sehr wenig. Dazu kommt noch, dass er sich wie ein Fallschirm öffnet und dass er nach den Gesetzen der Waage

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Bergmädchen in der Borinage. Gemälde von Constantin Meunier, um 1890. Privatbesitz

beim Vorbeugen des Ober­ körpers hinten entsprechend in die Höhe geht. Wenn man keinen Wert darauf legt, die Natur der Vierländerinnen kennenzulernen, ist es sehr ratsam, die Augen zu schlie­ ßen“ riet Jacob Gallois (1793-1872).25 Aus Großbri­ tannien wird berichtet, dass Arbeiterinnen und Reiterin­ nen die Säume der Röcke zwischen den Beinen durch­ zogen und die derart behelfs­ mäßige „Hose“ mit Nadeln und Bändern fixierten.26 Noch den Frauen des 18. Jahrhunderts waren Bein­ kleider ebenso unbekannt wie Unterhosen, heißt es oft. Die bis in die 1970er-Jahre bevorzugte Erforschung re­ präsentativer Kleidung mag zu dieser Annahme geführt haben. Nicht nur Reiterin­ nen, Marketenderinnen, Land- und Bergarbeiterinnen, Fischerin­ nen und Muschelsammlerinnen waren aus praktischen Gründen zeitweise in Hosen unterwegs.27 Zu deren Beinkleidern gab es, wie für Männerhosen, Unterbeinkleider.28 Ansonsten fungierte - wie auch bei vielen Männern - das Hemd als Unterhose: Wenn es groß­ zügig geschnitten war, konnte man sich die Enden in den Schritt le­ gen. „ Das Durchziehen des Hinterstückes vom Hemd zwischen den Beinen und seine Befestigung am Vorderstück übe auch ich seit Jah­ ren. Nur habe ich keine besonderen Vorrichtungen am Hemd ange­ bracht, sondern bediene mich einer Sicherheitsnadel“, bekannte Gus­ tav Jaeger.29

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Bei der Arbeit, beim Reiten oder auf Reisen wurden Beinkleider manchmal auch unter Röcken angelegt. In seinen Lebenserinne­ rungen beschreibt Casanova eine junge Reisende, die unter ihrem Kleid mit einer schwarzseidenen Kniebundhose ausgerüstet warein Anblick, mit dem er nicht gerechnet hatte.30 Bürgerliche Mäd­ chen trugen bereits im frühen 19. Jahrhundert knöchellange Panta­ lons, deren kürzere Versionen später als „Springhöschen“ bekannt waren. Auch für Schauspielerinnen und Tänzerinnen waren (ge­ schlossene) Beinkleider Pflicht. Die Frage, ob sie tatsächlich etwas „drunter“ trügen, war fantasieanregend und sorgte unter anderem für die elektrisierende Wirkung des Cancan.31 Gewöhnliche „Damen“-Beinkleider waren im 19. Jahrhundert knie- bis wadenlang und an strategischer Stelle meist offen, was sehr praktisch sein konnte. Obwohl der geschlossene Schritt spä­ testens um 1900 als fortschrittlich galt, wurden die geteilten Mo­ delle auch im 20. Jahrhundert noch lange getragen. Geschlossene

Unterbeinkleid. Nach 1860. Veloursleder, ungefärbt. Baumwolle, Atlasbindung, apricot­ farben. Maschinengenäht. Diagonal­ verschluss mit Wäscheknöpfen. Schritt nachträglich mit einem klei­ nen, gebleichten Baumwollflicken ge­ füttert. Bei diesem ledernen Beinkleid handelt es sich wahrscheinlich um eine Frauenunterhose, die evtl, zum Radfahren oder Reiten gedacht war. (Letzteres, wenn die Trägerin im Da­ mensattel gesessen hätte oder die In­ nennähte sie nicht störten.)32 Die Hose zeigt keine Gebrauchsspuren, an denen ihre Verwendung abzulesen wäre. L 66 cm. Altonaer Museum 1992-704

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Puppen-Beinkleid mit offenem Schritt. Um 1900. Baumwolle, Lein­ wandbindung, ge­ bleicht. Taillenbund mit Tun­ nelzug. Beinabschlüs­ se mit Borten und Falbeln garniert. Borten: Baumwolle, Taffetas broché, gebleicht und rot. Spitzenbesatz: Schifflimaschinenstickerei mit Bohreffekten auf Baumwollbatist. Maschinengenäht. L 32 cm. Altonaer Museum 1968-496

Hosen waren mit Ge­ säßklappe als Re­ formbeinkleid be­ kannt. Für diese Un­ terhosen gab es ein­ knöpfbare „Schutz­ beinkleider“ oder „Sauberkeitsstreifen“, die sich separat wa­ schen ließen. Cd c/u fäöseroichf; geb roeg das schickt sieb nicht!

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Bildpostkarte „O du Bösewicht Verlag Bürger & Ottillie, Lithographi­ sche Anstalt Leipzig, versendet 1902. Altonaer Museum 1980-475-145

's» Schon Christian Tobias E. Reinhard berichtete 1757 „Von den üblen Zufällen, welche darum an dem Unterleibe entstehen, weil die Frauenspersonen die Unterkleider unten offen zu tragen in Ge­ wohnheit haben ....im Sommer müssen sich es auch unsere Schön­ heiten gefallen lassen, wenn Ameisen und Flöhe ihre Zuflucht unter diese Kleidung nehmen, und darunter ihren Aufenthalt suchen, ih­ nen aber auch zugleich mit ihren Stichen und Bissen viele Unlust und Mißvergnügen zuwege bringen [...] Winterszeit aber ist diese Kleidung weit mehr unnütze, indem sie nicht einmal im Stande ist, den Unterleib und die daran befindlichen Fheile wider die Macht der Kälte zu beschützen. “J3

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Die Beschaffung der Leibwäsche Die historischen Zeugnisse textiler Kunstfertigkeit täuschen oft darüber hinweg, dass auch im 18. und 19. Jahrhundert nicht alle Frauen nähen konnten. Kloster-, Industrie- und Arbeitsschulen waren vielen Mädchen ebenso wenig zugänglich wie der Privatun­ terricht. Auch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts scheiterte der eigentlich obligatorische Handarbeitsunterricht an Volks- und Landschulen oft an deren finanzieller Ausstattung. Während die Ausbildung in der Bekleidungstechnik heute mithilfe von Abschnitten in Originalgröße erfolgt, nähten angehende Weißnäherinnen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft Minia­ turausgaben kompletter Wäschestücke. So wurde unnötiger Stoff­ verbrauch vermieden und gleichzeitig die Geschicklichkeit im Umgang mit Nadel und Faden trainiert. Das Ausnähen der Hem­ denschlitze und Festonnieren von Knopflöchern, das Zeichnen und Stopfen der Wäsche übte man mindestens seit dem 18. Jahr­ hundert auch an Mustertüchern und „Merklappen“.34 Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Unterwäsche meist aus Baumwollgeweben genäht, die zwar nicht so dauerhaft wie Lei­ nen, dafür aber schmiegsam und zudem preiswerter waren. Elegante Damenwäsche wurde möglichst handgefertigt35 und reich mit Zier­ nähten, Fältchen, Stickereien und Spitzen „garniert“. Die Anferti­ gung und Pflege dieser feinen Leibwäsche erforderte einen erhebli­ chen Arbeitsaufwand, der im Glätten zarter Spitzengarnituren mit erwärmten Silberlöffeln seine Krönung fand. Mechanische Innova­ tionen36 und die Hungerlöhne in der Heimarbeit ermöglichten auch die Herstellung relativ preiswerter Maschinenspitzen, Stickereikan­ ten und Garniturteile aller Art, die größtenteils unter den unsäglichen Bedingungen hergestellt wurden, die heute aus den Textilindustrien der sogenannten Billiglohnländer bekannt sind. So berichtete Adel­ heid Popp: ..] bei '¿wölfstündiger fleißiger Arbeit verdiente ich 20 bis 25 Kreuzer am Tage. Wenn ich noch Arbeit für die Nacht nach Hause mitnahm, so wurden es einige Kreuzer mehr. Wenn ich früh morgens um 6 Uhr in die Arbeit laufen musste, dann schliefen andere Kinder meines Alters noch. [...] Während ich gebückt bei meiner Ar-

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Miniaturmodelle für Nacht- und Tag­ hemden. Genäht und vor­ schriftsmäßig gelegt von Emma Koch, verh. Todtmann (1869-1960). Altonaer Gewerbe­ schule 1885 Baumwollbatist, Lcinwandbindung, gebleicht. Maschinengenäht, mit Puppenknöpfen aus weißem Glas. 11 x 10 und 18,5 x 12 cm. Altonaer Museum 1977-703

Mustertuch für Knopflöcher, Schnurlöcher und Hemdenschlitze. Gearbeitet von D. Becker, Ottensen 1869. Leinen, Leinwand­ bindung, gebleicht. Leinengarn, gebleicht, und Seidengarn, rot. Handgenäht. Weiß­ stickerei aus Stepp-, Ketten-, Knötchenund Schlingstichen. Name, Ort und Jahreszahl in rotem Kreuzstich. 23 x 18 cm. Altonaer Museum 1965-200

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beit saß und Masche an Masche reihte, spielten sie, gingen spazieren oder saßen in der Schule. [...] Wie oft an kalten Wintertagen, wenn ich abends die Finger schon so erstarrt hatte, dass ich die Nadel nicht mehr führen konnte, ging ich zu Bett in dem Bewusstsein, dass ich morgens um so früher aufstehen müsse. Da gab mir die Mutter, nachdem sie mich geweckt, einen Stuhl in das Bett, damit ich die Füße warm halten konnte, und ich häkelte weiter, wo ich abends aufgehört hatte. “37 In der städtischen Oberschicht überließ man das Nähen und Flicken der Wäsche gern den Hausmädchen, um den Lohn für professionelle Weißnäherinnen zu sparen.M Die Tatsache, dass sich vor allem Weißwäsche besserer Haushalte bis heute erhalten hat, lässt nicht vermuten, dass vieles auch aus farbigen und gemusterten Stoffen genäht wurde. Zu Unterzeug und Arbei­ terhemden verarbeitete man gefärbte oder bedruckte Stoffe schon deshalb gern, weil sie nicht so leicht „anschmutzten“, d. h. länger ei-

Miniaturmodelle für Frauenunterwäsche. Martha Kost, verh. Lippmann, Dresden vor 1915. Baumwoll-Futter­ gaze, Leinwandbin­ dung 13/13 Fd./cm, gebleicht und gestärkt. Handgenäht, L 13-26 cm. Altonaer Museum 1988-81 la

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Flickmustertuch. I. Hacker, Hamburg. Um 1890. Leinen, Leinwand­ bindung, gebleicht. Baumwollkattun, Leinwandbindung, bedruckt, und Woll­ köper K. 2/1, grünlich. Vier eingesetzte Flicken und Kreuz­ stichmonogramm I.H. Aus dem Hand­ arbeitsunterricht der Volksschule. Altonaer Museum 1983-723

nen sauberen Eindruck erweckten. In der kalten Jahreszeit ergänzte Trikot-Unter­ zeug die Leibwäsche.39 Über die gesund­ heitlichen Vorteile verschiedener Textilfa­ sern waren Experten unterschiedlicher Ansicht. Während Hieke für Rohseidenes, Heinrich Lahmann für ungestärkte Baum­ wolle und Pfarrer Kneipp für leinene „Ab­ härtungswäsche“ plädierte, hielt Gustav Jaeger sowohl pflanzliche Fasern als auch Seide für ungesund. Viele Ärzte und Klei­ derreformer empfahlen atmungsaktive, die sogenannte „poröse“ Unterwäsche aus „ventilierenden“ Gazestoffen. Leibwäsche konnte man in Wäschege­ schäften kaufen und auf Bestellung anfertigen lassen. Auch die Kauf­ häuser führten bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hervorra­ gend sortierte Wäscheabteilungen und hielten bis zu drei konfektio­ nierte Standardgrößen vorrätig. Wer knapp bei Kasse war, kaufte ge­ brauchte Kleidung beim Flickschneider oder im Altkleiderhandel, wie ihn Dickens 1836 in der Monmouth Street beobachtet hat.40 In Hamburg konnte man an der „Judenbörse“ in der zweiten Elbstraße „ Zeugreste jeglicher Art, [...] Kleidungsstücke für jung und alt bei­ derlei Geschlechts, [...] und weiß Gott wasfür hunderterlei Artikel in neuen Schundwaren und altem Trödelkram “4I kaufen - wie heute im Secondhand-Laden und auf den Flohmärkten.

Die Aufhebung der Schwerkraft In einem Punkte war Mann sich immer einig: „ Unter sonst gleich­ wertigen Modellen verdienen die mit höher angesetzter Brust den Vorzug. “42 Die repräsentativen Moden des europäischen Adels erforderten mindestens seit dem 16. Jahrhundert modellierende Schnürleiber,

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„Concours de Beaute“. Kolorierte Fotopostkarte E.L.D., Frankreich, um 1900. Altonaer Museum 1966-113-5

die mit Stäben aus Fischbein, Horn, Holz oder Rohr versteift wur­ den. Der Nachahmung adliger Silhouetten durch niedere Stände war mittels detaillierter Kleiderordnungen und entsprechender Strafen jahrhundertelang ein Riegel vorgeschoben. Nach 1789 konnten auch Bürgertum und bäuerliche Oberschichten den Klei­ deraufwand im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten steigern. Städtische Damenmoden übernahmen spätestens ab 1830 verschie­ dene Korsetts mit rückwärtigem Schnürschluss. Das Anziehen der Korsettsenkel war eine Prozedur, die mithilfe einer zweiten Person oder auch einer der Kugeln an den Bettpfosten bewerkstelligt wur­ de, bis Patentschnürungen und der „Mechanik“ genannte Vorder­ schluss diese Hilfe entbehrlich machte. Während erotische Fotografien die Schnürleiber auf nackter Haut zeigten, wurden sie im täglichen Leben aus hygienischen Gründen über dem Hemd getragen, denn ihre Reinigung war nicht ein­ fach. Frauen, die sich ein maßgeschneidertes Korsett nicht leis­ ten konnten, kauften Konfektionsware, trugen Korsetts aus zweiter Hand, strickten korsettartige Mieder oder schnürten sich mit Bän­ dern ein. Gerade die behelfsmäßigen Lösungen konnten die nachtei­ ligsten gesundheitlichen Auswirkungen haben.4’ Gesündere Alter­ nativen wie die sogenannten Reformleibchen hätten die Umstellung

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der gesamten Garderobe erfordert - ein Schritt, zu dem nur wenige Frauen bereit waren. Erst modische Neuerungen ersetzten ab 1910 viele Korsetts durch Brustleibchen und Hüftformer.

Die Lingerie der „neuen Frau"

Postkarte von Arthur Schürer & Co, Berlin-Schöne­ berg 1918. Altonaer Museum 2010-11,2242

Die Vereinfachung der städtischen Frauenklei­ dung sollte sich durch den Ausbruch des Ersten Welt­ krieges rasant beschleuni­ gen. Weibliche Arbeits­ kräfte, die kriegstaugliche Männer ersetzten44, trugen fußfreie Röcke, Hosenrö­ cke oder auch Hosen und verzichteten sicherlich auf ein Korsett. „Allein an­ hand der Geschichte der Frauenunterkleidung könnte dargetan werden, dass der Erste Weltkrieg an sich eine Epoche war [...] und dass sie wie ein Krieg eine Revoluti­ on bedeutete. “45 Materialknappheit, Ersatzstoffe46, Hunger und Mangelzustände aller Art prägten die Jahre ab 1915. Die während des Krieges erhältliche Papierunterwäsche hinterließ einen so nachhaltig negativen Eindruck, dass die Textilindustrie das Wort „Ersatz“ zukünftig sorgfältig vermied. Einfachere Kleider sparten Kosten und erforderten einen sehr viel geringeren Pflegeaufwand. Die neuen Schnitte kamen den Be­ dürfnissen berufstätiger Frauen entgegen, vereinfachten das Selbstschneidern und ermöglichten den endgültigen Aufstieg der Damen-Konfektion. Weniger figurbetonte Kleider machten das Taillenkorsett überflüssig und auch die Modellierung einer „Büste“

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nicht mehr zwingend notwendig. Viele Frauen tragen in den 1920er-Jahren fast zweidimensional geschnittene Unter- oder Brustleibchen aus weichen Stoffen, Trikots und Tüll oder verzich­ teten auch darauf. Nur „starke Damen“ wählten versteifte Büsten­ halter, die teilweise noch über dem Hemd angelegt wurden. Aufga­ be dieser spöttisch „Plätter“ genannten Modelle war, den Busen abzuflachen, denn der Idealtyp der neuen Zeit war die sportliche, mädchenhafte Frau. Spangenhemden mit geometrischen Hohl­ saumstickereien47 oder Tüllblenden sollten zum typischen Unter­ hemd der Zwanziger- und Dreißigerjahre werden. Mit angeschnit­ tenem Beinansatz und Steg versehene Kombinationen aus Hemd und Unterhose wurden oft sogar am Strand und zum Sonnenbaden getragen. Gegen Ende des Jahrzehnts wurden die seidigen Wirkwaren aus Zelluloseregeneraten preiswerter. Kunstseidene Schlupfhosen mit Gummibündchen galten, vermutlich aufgrund ihrer schmiegsa­ men Textur, als sehr erotisch. Mit dem Nachlass dreier Schwestern aus bescheidenen Verhältnissen konnte das Altonaer Museum al­ lerdings Gehäkeltes und Selbstgestricktes erwerben, das nur erah­ nen lässt, was man in den 1920er-Jahren noch alles trug. „ Ungeeignete Unterwäsche kann die Wirkung des hübschesten Kleides verderben“4*, warnte das Sunlicht-Institut für Haushal­ tungskunde, als sich um 1928 eine stärkere Betonung weiblicher Formen ankündigte. An der Idealfigur der 1930er-Jahre durfte Un-

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„Kombinaise“ mit Unterkleid. Um 1925. Baumwollbatist, blass gelbgrün. Stickgarn: Seide oder merceri­ sierte Baumwolle, S-gedreht, grün, violett und lachsrot. Maschinengenäht. Mit „Mausezähn­ chen“ umhäkelte Säume und Kreuz­ stichstickerei. Schritt mit Knopfschluss durch drei Perlmut­ terknöpfe. L(ohne Träger) 73 und 81,5 cm. Altonaer Museum, 2009-1267,1 und 2

Handgestrickte Hemden. Altona, 1920er- bis 40er-Jahre. Baumwollgarn, 4-fach, hellblau. Glatt rechts handgestrickt mit Saum aus linken Maschen. Gehäkelte Passe und Achsel­ träger mit Perlmutter-Knopf­ schluss. L 77 cm, VM 55 cm. Altonaer Museum AB 10526

Zclluloseregeneratgarn, 4-fach, blau. In zwei Teilen handgestrickt mit Querstrei­ fen aus abwechselnden Dop­ pelreihen rechter und linker Maschen. Saum angchäkclt. Gehäkelte Trägerpartie mit Perl mutter-Knopfschluss. L 75 cm, VM 54 cm. Altonaer Museum AB 10525

Baumwollgarn, 4-fach, gebleicht. Glatt rechts handgestrickt. Trägerpartie und Saum gehäkelt. Achselschluss mit Wäscheknöp­ fen und handgenähten Ösen. Am Ausschnitt nachträglich angenähte Druckknöpfe, um das Dekollete zu verkleinern. L 66,5 cm, VM 40,5 cm. Altonaer Museum AB 10531 t

terkleidung keinesfalls „auftragen“. Trikotagen und im schrägen Fadenlauf gearbeitete Seiden- oder Kunstseidenwäsche kamen die­ sem Anspruch entgegen. Für gertenschlanke Silhouetten sorgten Hüftgürtel mit elastischen Einsätzen oder leichte Korsetts. Um­ sponnene Rundgummifäden ermöglichten jetzt auch die Herstel­ lungvollelastischer „Schlankformer“. Nach der offiziellen Richtli­ nie „ Wir deutschen Frauen wollen auch hei der kleinsten Arbeit da­ rauf bedacht sein, nicht nur unser Wirtschaftsgeld gut einzuteilen, sondern auch der deutschen Volkswirtschaft die Sorge um neue Rohstoffe abzunehmen“44 war es nicht einfach, internationalen Standards zu folgen. „Die sparsame Hausfrau näht die Wäsche selbst“, hieß es.50 Besonders bei Büstenhaltern war das schwierig:

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Deutlich separierte, zu­ nehmend spitzer werden­ de Körbchen erforderten anspruchsvollere Schnitt­ techniken.51 Die Unzu­ länglichkeit von Konfek­ tionsgrößen52 könnte an dieser Stelle und über­ haupt ein eigenes Kapitel füllen. Standardausfüh­ rungen passen nicht jeder Frau. Noch heute trägt jede Zweite den falschen BH, heißt es in Fachkrei­ sen.53 Wer auf preiswerte Modelle angewiesen ist, ärgert sich über Büstenhalter, die nicht wirklich passen, vorn entwe­ der nicht anliegen oder einschneiden und hinten nach oben wandern. Zum Trost sei gesagt: Sogar „ r/ze Dietrich kaufte jede Marke und je­ des Modell eines jeden Büstenhalters, der jemals entworfen wurde. Wenn sie meinte, genau den richtigen gefunden zu haben, bestellte sie gleich Dutzende, die dann doch nur in irgendwelchen Kisten ende­ ten, weil auch sie letztlich nicht das gewünschte Resultat erbracht hatten. “54 Ab etwa 1935 dominier­ ten Viskose-Wirkwaren und Zellwollmischungen das An­ gebot an preiswerter Da­ menunterwäsche. Der Be­ ginn des Zweiten Weltkrie­ ges erforderte die erneute Rationierung von Texti­ lien. Dass viele Frauen ex­ travagante Unterwäsche­ garnituren in Farbtönen

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Unterhemd mit Achselspangen. Altona, 1920er- bis 40er-Jahre. Zelluloseregeneratgarn, 2-fach, weiß, und Baumwollgarn, 4-fach, gebleicht. Häkelarbeit aus zwei Teilen, mit seitlich angehäkelten Keilen und Spangenträgern aus BaumwollPerkai. L 50 cm, VM 35 cm. Altonaer Museum AB10530

„Cortesca“ Schlupfhose. 1925-30. Viskosetrikot, RL-Rundwirkware, schwarz. Beinab­ schlüsse mit Streifen­ dessin aus gleichem Material in Gelb, Hellgrün und Violett. Maschinengenähte Konfektionsware mit Gummizug. Label „ This is a , Cortesca ‘ Garment and will he replaced if colour fades“ L 45 cm. Altonaer Museum 1992-843,104

Betty Boop 1932-39 ©2010 KFS/FS/TM

Unterkleid mit Tüllspitzeninkrustationen. 1930er-Jahre. Seidentrikot, RL-Rundstrickware, schwarz. Handge­ näht. Spitzeneinsätze: Maschinenstickerei auf ekrüfarbenem Baumwolltüll, in Handarbeit intarsiert. Zahlreiche Stopf­ stellen. L 106 cm. Altonaer Museum 2006-871

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wie Amethyst oder Rosé mit Schwarz tragen konnten, darf mit Recht bezweifelt werden. Die Verarbeitung von Polyamiden und Maulbeerseide war den militärischen Zwecken der kriegführenden Länder vorbehalten.55 Ab 1943 waren grundsätzlich nur noch Stoffabschnitte erhältlich, die nicht länger als 80 Zentimeter waren. Jetzt hieß es: irgendwie durchhalten! Die aus Resten entstandenen „ Verwandlungskleider “ und „Aus-zwei-mach-eins-Modelle“,’, schrieb das Sonderheft „Reste im neuen Gewand“ noch drei Jahre nach Kriegsende. Auch freige-

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Hausgeschneiderte Büstenhalter. Margret Jachens, Mittelsbührcn, 1943-1949. Schantung-Seide, Leinwandbindung, lachsrot (Zweitver­ wendung). Maschi­ nengenäht, mit hand­ genähten Verände­ rungen am Rücken­ teil. Unterbrustweite per Wäschebändchen und Tunnelzug regu­ lierbar. L = VM 18 cm. Altonaer Museum 2009-742 Leinen oder Ramie, Leinwandbindung, gebleicht (Zweitver­ wendung). Maschi­ nengenäht, handbe­ stickt und gestopft. Mit languettierten Bogenkanten. Körb­ chenhöhe 16,5 cm. Altonaer Museum 2009-744

Damenunterhosen. 1948 Zelluloscregeneratgarn, 4-fach, weiß. Handgestricktes Durchbruchmuster mit Bündchen und Gummizug. Bein­ linge nachträglich umgeschlagen, Zwickel mit Teil eines handgestrickten Babyjäckchens geflickt. L 53 cm. Altonaer Museum 1991-732

1945-49 Zelluloseregencratgarn, 4-fach, weiß. Glatt rechts handge­ strickt mit durchbro­ chenen Längsstreifen und gehäkelten Bein­ abschlüssen. Gehä­ kelter Bund mit Schlaufen für Gum­ mizug. Schlaufen mit Wollgarn ausgebes­ sert. L 52 cm. Altonaer Museum AB10727

gebene US-amerikanische Militärbestände sorgten ab 1947 für das eine oder andere Wäschestück. Amerikanische Fallschirme bestan­ den aus strapazierfähigem Nylontaft und waren daher für die Wei­ terverarbeitung äußerst begehrt.60

Aufwärts! Synthetische Träume hüben und drüben Auch klare Rollenverteilungen hatten nach dem Kriege anschei­ nend etwas Beruhigendes. Die Beschützerinstinkte weckende Mode der 1950er-Jahre begründete Dior 1947 mit einer bereits vor Kriegsausbruch entwickelten Silhouette, für deren Wespentaille die „Guepiere“, ein zierliches, versteiftes Korsett mit Strumpfhal­ tern, sorgte.61 Mit etwa 14 Jahren gab es den ersten BH - auch wenn der noch mit Watte aufgepolstert werden musste.62 Für die Büste im „Hollywood-Format“ waren bald „Schaumgummi-Brusteinlagen, kurz genannt Kunstbusen, [...] ein [...] nicht mehr wegzuden­ kendes Requisit. “6J

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Hüfthalter gehörten auch für viele schlanke Frauen und Mäd­ chen - von denen sich später viele fragten, warum eigentlich - zur Grundausstattung, weil sie unter anderem, oft mithilfe von Knöpf­ chen oder Pfennigen, die Strümpfe am Platze hielten. Zeitgenössi­ sche Fotografien belegen, dass die meisten Frauen den New Look nicht verwirklichen konnten. Die Damenmode der 1950er-Jahre betörte unter anderem mit wei­ ten Röcken, unter denen mehrere „halbe“ Unterröcke mit Stufen oder Volants getragen wurden: die sogenannten „Petticoats“ oder „Schwingröcke“. Für deren Standvermögen sorgte ersatzweise warmes Zuckerwasser so erfolgreich, dass die quasi kandierten Nahtzugaben die Strümpfe zerschnitten und deshalb mit Schräg­ band eingefasst werden mussten. Ab Mitte des Jahrzehnts konnte „Steifperlon“ alles, was man hätte stärken müssen, ersetzen. Per­ lon-Unterwäsche fand man zu dieser Zeit „für die gutangezogene Dame unentbehrlich“.64 „Ehemänner, deren Frauen den baum­ wollenen Unterrock mit der spitzenbesetzten Hemdhose und den dicken blauen Schlüpfer mit einem transparenten Slip aus Nylon und Spitzen vertauschen, bleiben öfter und länger zu Hause“6f hieß es hinter vorgehaltener Hand. Sonderwünsche erfüllte das „Fachgeschäft für Ehehygiene“ der Stunt-Pilotin Beate Uhse mit neutral verpackten Paketen aus Flensburg. „Wenn die moderne Frau auch selbst die größte Freude an kostbarer Wäsche und ele­ ganten Dessous hat, so weiß sie auch außerdem, daß der Herr Gemahl nichts lieber sieht, als seine kleine Frau in einen Hauch von Spit­ zen und Seide gehüllt, undfür derartige Anbli­ cke opfert er gerne einen Hundertmarkschein “66, versicherte Jupont. Auch „hinter dem Ei­ sernen Vorhang“ folgte man der Haute Cou­ ture, produzierte für

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Umgearbeiteter Büstenhalter „Isabelle“. Hamburg-Altona, 1950er-Jahre. Perlon®-Taft, Lein­ wandbindung, lachs­ rose. Nähte mit Baumwollschräg­ band verstärkt. Träger aus rosefarbe­ nem Chemiefaser­ damast mit Würfel­ dessin. Konfektions­ ware. Vordere Mitte nachträglich mit einem Keil und zwei Gummilitzen erwei­ tert, Rückenschluss durch Gummiband verlängert (Verände­ rungen handgenäht). Altonaer Museum 1996-1571

Etikett einer Verpa­ ckung Schiesser-Damenwäsche, zweitverwendet als Illustration zur Materialkunde in den Ausbildungsunterlagen einer Wäsche­ schneiderin. 1950er-Jahre. Altonaer Museum 2009-1200,1

den Export, verzichtete jedoch für den Binnenmarkt auf größere Raffinesse. Schneiderinnen, die im Nebenerwerb Privataufträge annahmen, konnten entsprechende Wünsche oft trotzdem erfül­ len.67 „Stoff und Häkelgarn kauften wir neben anderem in West­ berlin, dann mußten wir diese Luxusartikel noch durch die Kon­ trollen an der Grenze, am Bahnhof, im Zug [...] bringen, dann konnte genäht werden“68, erzählt eine Mecklenburgerin aus der Zeit um 1950. Perlon-, Nylon- und Dederon-Wirkwaren zeigten sich gegen Ende des Jahrzehnts zunehmend bunter und erstmals großgemustert. „ Mein Gott, was hat man darin geschwitzt!“, erin­ nern sich Zeitzeuginnen und erzählen mit Schaudern von der Pil­ lingbildung und bleibenden Flecken. Weder tägliche Kurzwäschen noch optische Aufheller konnten Verfärbungen, Grauschleier und Gilb beseitigen.69 Perlon-Unterwäsche unterschied sich in nichts vom berüchtigten Nyltesthemd.70 Hausgeschneiderte Unterwäsche scheint in Westeuropa schon ab Mitte der 1950er-Jahre zu den Ausnahmen zu gehö­ ren. Gestiegene Löhne und ein zufriedenstellendes An­ gebot machten das Selbst­ schneidern überflüssig — wenn man nichts Ausge­ fallenes wollte. Aus Freude am Luxus wurden indivi­ duelle Dessous nach wie vor oft handgenäht. So konnten auch Flockdruck­ motive wie Schmetterlinge und Blüten aus Meterware geschnitten und auf Unika­ te oder Konfektionswäsche appliziert werden.71 Die Infragestellung des Le­ bensstils der 1950er-Jahre äußerte sich, was die Unter-

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wäsche betraf, ab etwa 1964 in der Rückbesinnung auf Baumwolle72, in Pop-Art-Drucken und oft in der völligen Ablehnung von allem, was einengte. Auf BHs verzichteten al­ lerdings die wenigsten Frauen: de­ ren viel zitierter Flammentod be­ ruht auf der Fehlinterpretation ei­ ner für die Presse veranstalteten In­ szenierung. Ältere Damen blieben meist den Miederwaren treu und fühlten sich ohne Korselett „nicht richtig angezogen“. Zum T-Shirt boten gemoldete Cups73 jetzt im­ merhin ein „paar Gramm vorgeformte Freiheit“. 4

Feminine „performance" Durch geschicktes Marketing haben Wäschehersteller ihre Pro­ dukte in den 1980er-Jahren neu definiert. Bald provozierten Cou­ turiers mit Oberbekleidung aus abgewandelten Korsagen und Netzhemdchen im Lingerie-Stil oder Bondage-Look. Die soge­ nannte zweite Haut vieler Frauen war nach der Jahrtausend wende als String zur Hüftjeans allgegenwärtiger Blickfang. Raffinierte Wäsche hebt das Selbstbewusstsein ihrer Trägerin, auch wenn sie nicht zu sehen ist. Die heutige Auswahl umfasst dekorative Hös­ chen für einen Euro75, Designerwäsche für das 100-fache, textil­ technische Innovationen mit Spezialeigenschaften und einige seit fast 40 Jahren unveränderte Klassiker. Häufige Färb- und Formen­ wechsel bei eingebautem Verschleiß76 garantieren den stetigen Ab­ satz, führen aber auch dazu, dass Wäsche wieder selbst genäht77 oder Konfektionsware nach eigenen Bedürfnissen verändert wird. Oft sogar auf Kosten des Tragekomforts präsentiert sich Damen­ wäsche vor allem dekorativ und verspielt. „[...] sie war nicht

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Perlon®-Slip „Inter­ national Poesie Fee“. Triumph, frühe 1960er-Jahre. Polyamid-Ketten­ wirkware, bedruckt. Beinausschnitte mit weißer Raschelspitze garniert. Maschinen­ genähte Konfektions­ unterwäsche. Gr. 44. Altonaer Museum 1992-730

Panty BIXTRA No. 50610. Wahrscheinlich China, 2007-2008. 80 % Polyamid, 15 % Elastan, 5 % Baumwolle, lind­ grün. Durchbrochene Kettenwirkware mit rosa Elastiklitze und Bändchen. Schnitt­ kanten gekettelt, Schritt mit lindgrü­ nem Baumwolltrikot gefüttert. Preis: 1 Euro. Size M. Altonaer Museum 2008-851

Emergency String „ Always expect everything “. Pussy Deluxe Fresh Collection, China 2009. Baumwolltrikot, RL-Rundstrickware, schwarz mit weißem Aufdruck. In bedruckter Weiß­ blechdose. One Size. Altonaer Museum 2009-1202

nackt, sondern trug eine himbeerfar­ bene Unterhose mit Spitzen und Rüschen und einen Büstenhalter derselben Machart. [...] Ich kannte das von schlechten Farbpro­ spekten, die morgens manchmal aus der "Zeitung rutschen [...][und dachte] über die [...] seltsame Tatsache [nach], dass derlei Reizwä­ sche mit ihren eingestickten Rosetten und Schmetterlingen eine muttihafte und durchaus spießige Komponente hat, dass also der Mann im Angesicht solcher Unterwäsche an die gerafften Stores und die sonntäglichen Spitzendecken seines kleinbürgerlichen El­ ternhauses und an Mutters Wäscheschrank denken muss“, schrieb ein nüchterner Beobachter.7* Dessous spiegeln überindividuelle Definitionen dessen, was weiblich sei, viel deutlicher als die Da­ menoberbekleidung. Ihr Design steht für Idealbilder und weckt vielfach illusorische Sehnsüchte. Manche„Männer[...]tunen da­ mit Frauen, wie ihren Golf mit einem neuen Auspuffrohr“ ,7' Das Ausmaß menschlicher Mühe und manchmal auch ihr Scheitern ist es wahrscheinlich, was weibliche Wäsche zu etwas Besonderem macht. Spezialisten beiderlei Geschlechts behaupten übrigens, Frauenunterwäsche entfalte ihre Wirkung auch vollkommen ohne Frau, wenn nicht sogar besser als mit ihr. Das wahre Leben wird unseren Ansprüchen nur selten gerecht.

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Dominique Loeding

Hauptsache warm:

Wolle In den 1567 geplünderten Dörfern Warza und Bufleben war unter anderem der Verlust eines „ww/Zen Hembde“ zu beklagen.1 Bei Käl­ te sind Pflanzenfasern allen Haaren und Wollen klar unterlegen. Am Januarmorgen seiner Hinrichtung soll auch Charles I. von England nach einem gestrickten Hemd verlangt haben, „ damit sein Zittern wegen der Kälte nicht als Furcht vor dem Tode ausgelegt werde 2 Wollenes isoliert sowohl gegen kalte als auch gegen warme Tempe­ raturen - eine Eigenschaft, die die auf dem Lande überlieferte Er­ kenntnis erklärt, was gut bei Kälte sei, Wolle nämlich, sei auch gut bei Hitze? Das Isolierungsvermögen ist umso höher, je lockerer das Garn verarbeitet wird, d. h. je mehr Luft ein daraus hergestelltes Kleidungsstück einschließt. Schurwolle nimmt bis zu einem Drittel ihres Trockengewichtes an Feuchtigkeit auf, ohne sich auch nur feucht anzufühlen.4 Selbst durchnässte Wolle wärmt. „Fischer, Schif­ fer, überhaupt die Küstenbewohner tragen mit großer Vorliebe wol­ lene Ober- und Unterkleider [...][da]pflanzenfaserige Kleidung der leichten Erkältungsmöglichkeit halber für sie nichts taugt [..be­ merkte Platen 1896? Seestreitkräfte nördlicher Breiten waren noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges mit Wollunterwäsche ausgerüstet und empfinden sie heute wieder als Privileg. Um Wollkleidung kom­ plett wasserabweisend zu machen, tränkte man sie früher hin und wieder mit Öl oder Leim-Emulsionen.6 Ob derartige Imprägnierun­ gen auch an Unterwäsche zur Anwendung kamen, wissen wir nicht. Abgelegte Wollunterwäsche gehörte sicherlich nicht zu den bevor­ zugten Sammlungsobjekten, bevor man sich auch für die Konser-

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vierung von Alltagsklcidung interessier­ te. Auch weil das Regenerieren von Wol­ werden gegen schöne Damen- und Herrenstoffe. Teppiche. Läufer. Di­ le in der Textilindustrie eine bedeutende vandecken. Schlaf- und Reise­ decken bei mäßiger Nachzahlung Rolle spielt, hat sich vor allem Maschen­ eingetauscht bexw. verarbeitet. Viele Anerkennungen I Man verlange ware nur ausnahmsweise erhalten.7 zuerst Muster und Preise mit An­ gabe des Gewünschten von der Moseltaler Wollweberei, Die Erforschung historischen Wollunter­ Enkirdi (Mosel) 6 zeugs ist aufgrund fehlender Belegstücke schwierig. Uber die Beschaffenheit vor­ industrieller und hausgefertigter Unter­ wäsche können wir nur Mutmaßungen anstellen. Als gesichert gilt, dass nicht zu­ Für 3‘/2 Pfd. alte Wollsachen wird Stoff z. Buckskin-Anzug, f 3 Pfd. Stoff z. Kleid, f. 1 ■ -.»Pfd Stoff z. Unterrock, letzt veränderte Hygienevorstellungen8 I. 3 Pfd- eine Schlaf od. Pferdedecke gegen dementsprechend billige Nach zur Bevorzugung des Leinens führten, Zahlung geliefert. Desgl. auch Tep piche.Läuferstoffe.Strumpfgarne usw. Muster fr-bitteaiig-eb-.v welcher Art. das sich unkompliziert waschen ließ. Auch in England hatte sich während des 18. Jahrhunderts Leinenunterwäsche durchgesetzt. Wollenes wur­ de als altmodisch und ungesund betrachtet, im „rückständigen“ Wales jedoch nach wie vor getragen.9 Wollunterwäsche konnte aus allen einigermaßen schmiegsamen Geweben geschneidert werden. Das Buch der Wäsche empfahl noch um 1900 die Verwendung von Flanellen zu Winterunterzeu­ gen. Auch die Herstellung gesteppter Kleidung aus mindestens zwei Gewebelagen, zwischen die man Faservlies einarbeitete, sorg­ te für gute Isolierung.10 Beste Wärmeeigenschaften bei optimaler Passform bot Maschenware.11 Nicht nur Hirten, Bauern, Markt­ frauen und Soldaten haben die Zeit, in der sie die Hände frei hatten, auch zum Stricken genutzt.12 Für Frauen und Mädchen bot das Handstricken eine der wenigen Möglichkeiten, sich einen gering­ fügigen (Neben-)verdienst zu verschaffen.13 Es ist anzunehmen, dass auch im ländlichen Norddeutschland vor allem die Wolle einheimischer Schafe verstrickt wurde.14 Stand nicht genügend Schurwolle zur Verfügung, wurden Mischgarne aus Reiß- und Sterblingswollen, allen anderen Haaren, den übli­ chen Pflanzenfasern und sogar Pappelsamenhärchen verarbeitet.15 Man kann davon ausgehen, dass auch bei der Anfertigung warmer Unterwäsche notfalls improvisiert wurde. Die Verwertung von

Sei sparsam!!

Annoncen aus der „Deutschen Moden­ zeitung“, Heft 20, 1931

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unterschiedlichen Farbpartien und Garnresten für alles, was unter der Oberkleidung verdeckt bleibt, kommt heute noch vor.16 Woll­ te man alle bekleidungsphysiologischen Vorteile der Wolle nutzen, trug man sie direkt auf der Haut, dafür musste man eventuelle Irri­ tationen in Kauf nehmen. Einheimische Wollqualitäten konnten aufgrund ihrer robusten Faserstruktur oder eingesponnener Pflan­ zenreste sehr kratzig sein. „Dieser Kleiderkampf ging schon ganz lange. Ich habe, bis ich ungefähr zehn war, braune, lange Strick­ strümpfe getragen mit Strapsen und darüber lange Unterhosen aus Wolle, die ich gehasst habe, weil sie kratzten. Ich durfte dann schon immer unten drunter etwas Baumwollenes ziehen“, erinnert sich eine 1949 in Nordfriesland geborene Zeitzeugin.17 Genau so hat es der 1845 im ewigen Eis bestattete Vollmatrose John Hartnell ge­ macht: Er trug unter dem Hemd „ein Wollsweater-ähnlich es Un­ terhemd und darunter noch ein Baumwollhemd“. Wollenes war nicht zwangsläufig voluminös oder kratzig. Aus dem 17. und 18. Jahrhundert erhaltene Strickkleidung der gesellschaftli­ chen Oberschichten zeigt Qualitäten, die heutige Produkte bei Weitem übertreffen. Die Lehrzeit professioneller Stricker und Wirker betrug nicht umsonst bis zu sieben Jahre. Seit dem ausge­ henden 17. Jahrhundert gewann die Herstellung von Unterzeugen auf mechanischen Wirkstühlen an Bedeutung. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts weiterentwickelten Strick- und Wirkmaschinen, deren handlichere Modelle auch in der Hausindustrie zum Einsatz kamen19, könnten in diesem Rahmen nicht einmal ansatzweise dar­ gestellt werden. Bereits um 1788 produzierte man in England Anfrage einer Leserin an „Frau und Plüschgestricke, die als „eingekämmte Ware“ oder Pelz bekannt wa­ Mutter“. ren und besonders warme Unterkleider ergaben20 - eine Technik, die 39.Jahrgang,1950 kürzlich auch im Wollsektor „Es kratzt!“ wieder aufgegriffen wurde. Ich habe drei liebe Enkelbuben von 12, 10 und 5 Jahren, Vor allem Dr. Gustav Jaeger die gesund, frisch und natürlich auch mitunter schlimm sind. Eine Eigenheit der Kinder macht mich jedoch ver­ (1832-1917), dessen Lebens­ drossen und auch besorgt: Sie sind gegen manche Kleidungs­ stücke (warme Wäsche, Strümpfe, Pullover) überempfind­ werk in der Erforschung des lich und wollen sie nicht anziehen, weil sie — Im Chor — behaupten: „Es kratzt!“ Ist das mm eine Unart oder eine Einflusses der Kleidung auf nervöse Erscheinung? Wer hat mit seinen Kleinen Ähnliches erlebt und kann mir raten, was mar. t’in soll? den menschlichen Stoffwech­ Di eier-Großmutter sel besteht, propagierte die

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Jaeger-Unterwäsche in Originalkarton. Wilhelm Benger Söhne, Stuttgart, Anfang 20. Jh. Schurwolle, natur­ weiß. RL-Rundwirkware mit 1:1 Rippen­ bündchen. Maschi­ nengenähte Reform­ unterwäsche mit Pcrlmutterknöpfen. Altonaer Museum 2009-877

Vorteile wollener Bekleidung. Mit der fachkundigen Überlegung: „ als beste Webart schwebt mir ein strumpfartiges Machwerk vor“21 entschied er sich, was die Wäsche betraf, für Maschenware. Die von ihm entwickelte „Normal-Unterkleidung“ wurde ab 1879 exklu­ siv von Benger gewirkt und war seit 1883 in London ebenso erhält­ lich wie in Paris und New York. Beste Merinoqualitäten ergaben die legendäre, leicht melierte Jaeger-Unterwäsche, die Polarfor­ scher wie Tropenreisende begleitete. Sie scheint sich bewährt zu haben, auch wenn die Mitglieder der Nordabteilung unter Robert F. Scott (Südpolexpedition 1910-1913) sie gezwungenermaßen neun Monate und länger trugen.22 Auch Platen outete sich als „Wollener“: „Von den gesundheitlichen Nachteilen, die man dem beständigen Tragen wollener Bekleidung

nachsagt, hat er an seinem eignen Körper noch nichts be­ merkt, wohl aber hat er im Laufe der Jahre, seit Annah­ me der reinwollenen Klei­ dung und Bettung, ein gestei­ gertes physisches Wohlbefin­ den und vermehrte körperli­ che und geistige Leistungsfä­ higkeit an sich wahrgenommen“a Dr. Jaegers Wollregime war teuer. „So kostete ein Frauenhemd 1882. zwi­ schen 6,50 und 10 Mark, mehr als der Wochenlohn ei­ ner Fabrikarbeiterin.“24 Für den schmalen Geldbeutel gab es Kopien und preiswer­ te Unterzeuge aus Wollmi­ schungen. Vieles wurde selbst gestrickt. Das Handstricken gehörte fast durchgehend zum Schulunterricht für Mädchen und wurde durch das Erlernen verschiedener Techniken zum Aus­ bessern von Maschenware ergänzt.

Im Ersten Weltkrieg gehörte warmes Unterzeug nicht nur in den elenden Schützengräben zu den besonders geschätzten Liebesga­ ben. „Ein Leibwärmer mit Oberschenkelschutz, wie eine Badehose gearbeitet, wird als sehr praktisch gerühmt, besonders für die Ka­ vallerie und Artillerie sowie die Radfahrer usw., deren Oberschen­ kel der Nässe und Kälte besonders ausgesetzt sind“, berichtete „Vobachs Frauen- und Moden-Zeitung“ im ersten Kriegsjahr.25 Auch Schulmädchen strickten im Nadelarbeitsunterricht warme Sachen für die Front.26 „Erst in den Jahren des Krieges wurde wieder er­ kannt, wie jede Art gestrickter Kleidung von anderer Wirkung und

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Arbeitsproben für das Ausbessern von Strickkleidung. Schularbeit von Fernanda Sippel, Hamburg, um 1900. Baumwollgarn, gebleicht. Hand­ gestrickt mit Maschenstopf­ proben, auf rosa Karton geheftet. 6,5 x 8 cm. Altonaer Museum AB07184

größerer Haltbarkeit ist [...] Die immer zunehmende Teuerung lehrte uns sparen, und was im Reich der Möglichkeit lag, musste mit eigener Hand hergestellt werden. Wir heizten unsere Zimmer nicht mehr wie früher, also galt es, wärmere Kleidung zu schaffen, auch legten wir zum Arbeiten derselben Wert darauf, nur echte Wolle zu verwenden [..notierte Mallin zu Beginn der 1920er-Jahre.27 Im Winter trugen viele Frauen unter ihren Seiden- und Kunstseiden­ strümpfen Wollstrümpfe. Im Dritten Reich wurde verstärkt versucht, die heimische Schaf­ zucht auszuweiten28 und ausländische Wollqualitäten auch durch

Mädchenunterhemd aus Anthroposophen-Familie. Stuttgart, Anfang 20. Jh. Schafwollgarne, 4-fach und 3-fach, naturweiß. 2:2 Rippen­ muster, in Runden handgestrickt. Ausschnitt mit gerippter Schlitz­ blende und Kordeldurchzug. Ärmelsäume mit gehäkelten Mäusezähnchen verziert. Nachträglich durch Anstricken verlängert. L = HM 43 cm. Altonaer Museum 2009-747

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Besonders warmes Kindertrikot aus dem Katalog der Mechanischen Weberei Th. Zimmermann. Gnadenfrei in Schlesien, 1912. Altonaer Museum 2009-477,5

*W 120 Besonders warmes Kinder­ trikot, kräftige, innen ge rauhte Qualität, hellbraun meliert, gut in der Wäsche, im Sehritt offen. Lg. 50 60 70 80 90 100 cm s k.0,SO0.95 I 101.251,40X55"

Stapelfasern aus Zelluloseregeneraten zu ersetzen, für die 1935 der Gattungsname „Zellwolle“ gefunden wurde. Nassfeste Texturie­ rungen sorgten ab 1937 für die verbesserte Bauschfähigkeit dieser Garne.29 Auch die seit 1934 geführte „Zellwolloffensive“ konnte Gerüchte nicht widerlegen, Zellwolle verursache Hautausschläge oder enthalte sogar Holzsplitter.30 Ihre Trageeigenschaften ent­ täuschten, weil aus reiner Zellwolle gesponnene Garne kaum elas­ tisch waren. Man war deshalb bemüht, Fasermischungen mit 50% Wollanteil wie „Wollstra“ und „Wollflox“ zu verarbeiten.31 Für die kalte Jahreszeit wurde Kunstseidentrikot mit Wolle oder Zellwol­ le plattiert und innen geraut. In der Hausschneiderei fertigte man Unterwäsche auch aus vorhandenen Trikotstoffen. „Jedes alte ge­ strickte Kleidungsstück läßt sich wie Stoff behandeln, wenn man das gestrickte Stück zuvor durch Zucker- oder Stärkewasser zieht. Es laufen dann keine Maschen mehr, man kann das gestrickte Stück ruhig zerschneiden, mit der Maschine neue Nähte nähen und so noch manches Brauchbare herstellen“, lautete ein guter Rat.32 Die Sicherung der Nahtzugaben erfolgte mit Überfangstichen und Schrägstreifen.

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KinderUnterhemden. Altona, um 1915. Schafwollgarn, 3-fach, gebleicht. Glatt rechts hand­ gestrickt mit Längsstreifenmuster durch sog. Lauf- oder Fall­ maschen. In zwei Teilen gefertigt und zusammengenäht. Achselspangen aus blassrosa Kunstseiden-Atlasband. L = VM27cm. Altonaer Museum AB 10093 Um 1950. Schafwollgarn, 4-fach, naturweiß. Handgestricktes 2:2 Rippenmustcr. Träger mit Quer­ streifenstruktur aus je zwei rechts und links gestrickten Reihen. Ausschnitt umhäkelt. L 37 cm. Altonaer Museum 2010-782

Frauen-Unterkleid. Um 1940. Schafwollgarn, 2-fach, zart hellblau. 4:2 Rippenmuster, tailliert durch 1:1 Rippen, handgestrickt. Saum umhäkelt. Achselspangen: hell­ blaues Atlasband aus Maulbeerseide mit Baumwollschuss, anknöpfbar. Zahlreiche Stopfstellen. L 80 cm. Altonaer Museum 2003-832

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Spätestens 1945 wurde alles, „ was Fäden jedweder Art hatte, [.. ,]aufgerebbelt - aus zerschlissenen Wolldecken entstanden Pullover, aus zerlumpten, nicht mehr zu stopfenden Strümpfen neue in zuweilen abenteuerlichen Mustern und Farben. “33 Babysachen nähte man aus alter Trikotwäsche und strickte Bündchen an. Ergab sich die Mög­ lichkeit, wie beispielsweise im Hamburger Freihafen, leere Zuckersä­ cke US-amerikanischer Hilfslieferungen zu ergattern, konnte auch deren Garn zum Stricken verwendet werden.14 Analog zur gestückelten Kleidermode dieser Zeit boten „ Norweger­ bordüren“ und bunte Streifenmuster die Möglichkeit, auch „die kleinsten Wollreste“ zu verwerten.35 Das „Hamburger Echo“ melde­ te am 11. Februar 1947, dass die Pullover zweier Mädchen beim An­ zünden einer Zigarette in Flammen aufgingen, weil sie aus Schieß­ baumwolle36 gefertigt waren, die aus Heeresbeständen stammte. Nach der Währungsreform konnte man wieder Wollenes, Plattiertes und baumwollene Futter- oder Plüschtrikots als sogenannte „WinWarmes Unterhemd. Olderup-Feld bei Olderup, Nordfriesland, um 1915-20. Schafwollgarn, 2-fach, naturweiß (drei verschiedene Qualitäten). 2:2 Rippenmuster, handgestrickt. Zahlreiche Stopfstellen. Flicken aus grau meliertem Baumwolltrikot und einem Flalblcincngewebe in Gersten­ kornbindung mit roten und blauen Köperstreifen (aus altem Handtuch geschnitten). L = HM 69 cm. Altonaer Museum 1999-713,3b

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Spangenhemd. Altona, 1920er- bis 30er-Jahrc. Schafwollgarn, 2-fach, lachsrosa. 3:3 Rippenmuster, in zwei Teilen handgestrickt und zusammen­ genäht. Achselspangen aus rose­ farbenem Viskose-Köperband. I. 45 cm. Altonaer Museum 2006-866

Hüftwärmeraus Garnresten. 1930er- bis 40er-Jahre. Schafwollgarn, 4-fach, naturweiß. Zelluloseregeneratgarn, 4-fach, weiß. Häkelarbeit. Separat gefertigte Blen­ de, mit Uberfangstichen angenäht. Die beschnittenen Seitenkanten wurden mit Baumwoll-Köperband gesichert und mit rosa Batist verstärkt. Seitenschluss mit Messing­ haken und -Ösen. Zahlreiche kleine Stopfstellen. 25,5 x 84 cm. Altonaer Museum ABI0092

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Spangenhemd mit Streifen und „Fischgrätchenmuster“ Altona, um 1920. Schafwollgarn, S-gedreht, naturweiß. Handgestrickt. Ausschnittkante und Saum umhäkelt, mit Schnurdurchzug zur Weitenregulierung. Träger aus weißem Viskose-Atlasband. L = VM 44 cm. Altonaer Museum 2006-869

tcrwarc“ kaufen. Die Beimischung von Polyamiden konnte jetzt die Scheuerbeständigkeit der Garne erheblich verbessern. Sparsames Wirtschaften war für die Mehrheit der Bevölkerung noch lange eine Selbstverständlichkeit. So wurden schadhafte Perlonstrümpfe nicht nur zu Teppichen verwebt, sondern auch aufgeribbelt, um die Fäden mit Wolle neu zu verstricken. Für Kinder galt wie eh und je: „Strickkleidung ist unglaublich prak­ tisch! Genähte Kleidung muß man viel früher ändern als gestrickte. Diese wächst mit, in der Breite und sogar in der Länge. “37 Die Herstellung von Windel- und Schlupfhöschen, Spielhöschen und Überziehschlüpfern wurde oft schon im Handarbeitsunterricht

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Überziehschlüpfer aus der Wolle eigener Schafe. Mittelsbühren, 1943-44. Schafwollgarn, 2-fach handge­ sponnen, naturweiß. Auf dem Hof der ehemaligen Besitzerin befand sich ein histo­ risches Spinnrad, auf dem eine alte Nachbarin das Garn her­ stellen konnte. Glatt rechts handgestrickt mit 2:2 Rippenbündchen und Vier­ eckzwickel. Gehäkelte Kante für Gummi­ banddurchzug. L 60 cm. Altonaer Museum 2009-852

Kniewärmer aus farbigen Wollresten

Strickanleitung aus der Zeitschrift „Frau und Mutter“, Heft 11,1949

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Material: Etwa 80 g mit­ telstarke Wolle, i Strick­ nadeln Nr. 3. Ausführung: Man beginnt mit einem Anschlag von 70 Maschen und strickt darüber 10 cm hoch, abwechselnd 2 rechte Maschen, 2 linke Maschen. Die rechten Ma­ schen müssen stets auf die rechten, die linken auf die linken treffen. Hierauf strickt man nur rechte Maschen, wobei am Ende jeder Reihe i Masche ungestrickt zu las­ sen ist. In dieser Art wird solange gearbeitet, bis an je­ der Seite 28 ungestrickte Maschen, in der Mitte 14 Maschen sind. In der letzten Reihe strickt man die an­ schließenden ungestrickten 28 Maschen ebenfalls ab und arbeitet dann wieder über alle 70 Maschen. Zuerst sind t cm abwechselnd 2 rechte Maschen, 2 linke Maschen zu stricken. Da dieser Teil um den Schenkel kommt, ist er breiter zu arbeiten, wofür man in der nächsten Reihe aus jeder zweiten linken Masche 2 Maschen strickt. In dem nun erhaltenen Muster werden noch j cm in gleicher Breite ge­ arbeitet. Danach sind alle Maschen in einer Reihe sehr locker ab­ zuketten oder mit festen Maschen abzuhäkeln, d. h. in jede Striaknadel zu geben. Die beiden Längskanten der Strickerei werden zusammengenäht.

vermittelt und ge­ hörte in jedes bes­ sere Werkbuch für Mädchen. Als All­ zweckmodelle wa­ ren sie gleicherma­ ßen „als Unterhös­ chen, als Spiel- oder Badehöschen, ja auch als Überhös­ chen“ beliebt38 und werden auch heute noch gestrickt. Gut gemeinte Spen­ zer, Wollschlüpfer und Hemdhöschen waren Wäschestü­ cke, an die sich die meisten Zeitzeugen nicht gern erinnern. „Für den Herrn“ wurde auch Netzwäsche, die den Lufteinschluss und damit das Isola­ tionsvermögen steigerte, selbst gefertigt. „Ein Mann, von seiner Frau bestrickt, ist der Versuchung meist entrückt - er sieht dann keine an­ dren mehr, umgarnen sie ihn noch so sehr“, versicherte die „Constan­ ze“.39 Für die zeitsparende Herstellung hausgefertigter Strickklei­ dung schafften viele Familien in den 1950er-Jahren moderne Hand­ strickmaschinen an, für die es nach dem Motto „Jederzeit strickbe­ reit“ auch Spezial-Versenkmöbel gab. Wollunterwäsche für die Damenwelt zeigte sich vor allem pastell­ farben mit Achselspangen aus glänzendem Atlasband, Durch­ bruchmustern und aufgestickten Blüten. Auch Mädchengarnitu­ ren aus weißer oder hellblauer, rosa und seegrüner „Babywolle“40 gehörten in den 1950er-Jahren noch selbstverständlich zum Stan­ dardrepertoire der Handarbeitszeitschriften. Wer sich etwas Gutes gönnte, kaufte konfektionierte Kammgarn-Wäsche von Benger

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Unterhemd mit Guipure-Dekor. Hamburg-Altona, 1940er-Jahre. Schafwollgarn, 2-fach, gebleicht (zwei Qualitäten). Häkelarbeit. Die Blüten und Blätter wurden lange, bevor sie zu diesem dekorativen Unter­ hemd inspirierten, gehäkelt. Die ehe­ maligen Achsel­ spangen aus creme­ farbenem Viskose­ band waren abge­ schnitten. Sie wurden in der Textilrestau­ rierung rekonstruiert und sind im Rücken an den noch erhal­ tenen Perlmutter­ knöpfen fixiert. L (ohne Träger) 40 cm. Altonaer Museum AB10539

Ribana, Kübler-Hanna oder Bleyle. Deren Modelle überzeugten mit ihrem Kundenservice: Wenn man Schadhaftes beim Hersteller einschickte, konnte man es kunststopfen oder auch vollständige Zwickel neu einsetzen lassen. „ Diese Hosen waren es wert, von der Fabrik mit neuen Bündchen und neuem Schritt versehen zu wer­ den“, bestätigte eine Zeitzeugin.41 Ab 1954 wurde Polyacryl in Westdeutschland unter dem Marken­ namen „Dralon“ zu einer der Alternativen für Wolle und ließ beim Ausziehen im Dunkeln die Funken sprühen.42 DDR-Bürger trugen das „wollige Wunder aus der Retorte“ ab 1959.43 Nach 1964 konnten Strumpfhosen warme Unterhosen ersetzen. Auch diese wurden je­ doch oft mit darübergezogenen Höschen getragen und lagen da­ durch im Schritt besser an. In jedweder Ausführung trugen jetzt auch Männer heimlich mit Socken getarnte Feinstrumpfhosen.44 Als das Stricken später wieder in Mode kam, dann nicht mehr deshalb, weil man darauf angewiesen war. In kaum einer der einschlägigen Zeitschriften fanden sich nach 1970 noch Anleitungen für Unterwä­ sche. ■, die früher gut und gern ein Unterhemd abgegeben hätten, wurden jetzt aus bunten Baumwollgarnen gestrickt und präsentier­ ten sich als modisches „lop . Insbesondere die Nach­ teile verschwitzter Baumwolltrikots führten zur Entwicklung syntheti­ scher Funktionswäsche. Die erste Unterwäsche, Puppen-Wollschlüpfer Wollhöschen. aus einem Strumpf. 1950er-Jahre. die Feuchtigkeit vom 1940er- bis 50er-Jahre. Wollgarn, S-gedreht, naturweiß. Körper ableitete, wurde Wollgarn, 2-fach, hellbraun. Glatt rechts handgestrickt mit ab 1953 aus der Mod1:1 Fcinripp-Rundstrickware, 1:1 Rippenbündchen und Viereck­ maschinengenäht. zwickel. In drei Teilen gearbeitet, acrylfaser „ThermolacBund und Beinabschlüsse mit mit Maschinen-Kettenstich zusam­ tyl“ hergestellt. 45 Vor al­ Gummizug. L 13 cm. mengenäht. Bund mit Gummizug. Altonaer Museum 2009-652,3 L 26 cm. lem im Sportsektor wur­ Altonaer Museum AB 10098 de während der 1970er-

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Puppen-Wollhose. 1965-1980. Schafwollgarn, 4-fach, violett mit Farbverlauf. In einem Stück glatt rechts handgestrickt mit 2:2 Rippenbund. Handvernäht, angehexte Gummi­ litze. L 12 cm. Altonaer Museum AB10146

Jahre in die Entwicklung von 2-Lagen-Kompositionen investiert, bei denen Chemiefasern wie Acetate, Polyester, Polypropylen oder Polyamide Schweiß von der Haut weg in außenliegende Baumwollschichten ableiteten. Synthetische Funktionswäsche bietet gegenüber den Naturfasern die Vorteile restlosen FeuchteAbtransports, unkomplizierter Waschbarkeit und rasanten Trock­ nens. Was im Leistungssport von Vorteil ist, kann bei mittlerer Be­ lastung jedoch eine erhöhte Erwärmung des Körpers bewirken, die vorzeitige Erschöpfung zur Folge hat.46 Bei Wassermangel oder fehlenden Waschgelegenheiten hat Wollunterwäsche bedeutende Vorteile, weil Polyamide und Polyester täglich gewaschen werden müssen.47 Filzfrei-Ausrüstungen, die die Schuppen der Wollfasern durch Kunstharze verkleben, ihre Wasseraufnahmefähigkeit je­ doch nicht einschränken, führten 1987 zur Einführung des Superwash-Etiketts für waschmaschinenfeste Garne48, die auch 60°-Wäschen ertragen. Die Verarbeitung veredelter Merinogarne verhin­ dert heute das Kratzen warmen Unterzeugs. Durch Mischungen mit Seide, Polyamiden oder Polyestern werden die Trageeigen­ schaften von Wolle für unterschiedliche Ansprüche modifiziert. Was man nicht nur im Norden schon früh entdeckte, wird von heu­ tigen Outdoor-Spezialisten49 bestätigt: Woll-Unterzeug ist alles andere als uncool. „ Wer diese Wäsche mal getragen hat möchte nichts andres mehr. “w

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1 löschen für einjährigen Jungen. Hamburg, um 2002. Mischgarn aus Poly­ acryl, 2-fach, violett, und Baumwolle, 2fach, gebleicht, mit Polyester-Effekt­ faden. Glatt rechts handgestrickt. Rhombendessin aus linken Maschen und 1:1 Rippenbündchen. In zwei Teilen gefer­ tigt, handgenäht. Bund mit eingezo­ gener Gummilitze. L21 cm. Altonaer Museum 2009-1247

Nicole Tiedemann-Bischop

Formend:

Körper-Modellierung „Jede Figur besitzt natürliche Schönheit ... wenn sie so geformt wird, daß ihre besten Linien betont werden“, heißt es im Reklame­ heft für Spirella-Figurenhalter.1 Der menschliche Körper wird bis heute empfunden als Skulptur, die je nach Mode und dem jeweili­ gen Schönheitsideal einer Zeit geschmückt und geformt werden kann. Wer in Form und attraktiv sein will, der tut etwas für seinen Körper - sei es, dass er ihn in Bewegung hält, sei es, dass er an ihm Manipulationen vornehmen lässt, die seine Förmlichkeit von innen oder außen sicherstellen. Im Folgenden soll es um Körpermodellierung insgesamt und um das wohl bekannteste Instrument zur Formung des menschlichen Kör­ pers gehen - um das Korsett als symbolischen und kulturellen Bedeutungsträger und zugleich normierendes und ästhetisches Ausdrucksmittel. Dabei sei vorausgeschickt, dass nur grobe Mode-

Herren-Leibbinde. Mazdaznan, Leipzig, 1950er-Jahre. Baumwolle, Dreherbindung, ge­ bleicht. Senkrecht und dia­ gonal eingearbeitete Stäbe. Ma­ schinengenäht. Mit seitlich ver­ setztem Hakenverschluss und rückwärtiger Patent-Schnürung. Altonaer Museum 2010-727,33

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„Brutto - Netto Tara“ Bildpostkarte. Mit Gruß von Wil­ helm, Albert, Adolf und Ernst an Fräulein Anna Lienemann in Geestemünde. Versendet 1899. Altonaer Museum 1965-258,273

Strömungen bezüglich des Korsetts aufgezeigt werden können. Na­ türlich wurde neben der innovativen U nterwäsche der jeweiligen Zeit auch immer das bis dato Bekannte getragen. Das Anlegen von Korsetts hat eine lange Tradition. Bereits seit dem Mittelalter ist die Leibbinde bekannt. Hier nun geht es um die Zeit nach der Industrialisierung, als beinahe alle bürgerlichen Frauen und auch Männer der oberen Schichten ein Korsett trugen. Beispielswei­ se war das Korsett für den Herrn eine beliebte Unterbekleidung für Uniformträger oder Dandys, die besonderen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legten. Auch Kinder und Jugendliche im Konfirmandenalter trugen Kor-

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Puppen-Korsetts. Um 1900 Baumwoll-Drell, Köperbindung, rot-weiß. Baumwollatlas mit Broschierschüssen aus gelbgrünem Seidengarn. Baum­ wollköper, lachsfar­ ben und blaugrau. Baumwollatlas, gelb. Alle Korsetts mit eingearbeiteten Stäben und Schnür­ schluss durch Mes­ singösen. Saum­ kanten mit Köper­ bändchen eingefasst. Maschinengenäht, mit MaschinenKlöppelspitzen gar­ niert. Korsettsenkel sämtlich ersetzt. L 10-16,5 cm. Altonaer Museum 1965-633, 1957-79, AB10072, 1993-435

Korsett mit Mechanik und Schnürschluss. England 1875-1900. Baumwoll-Denim, Köperbindung, schwarz-weiß. Mit eingearbeiteten Stäben verstärkt. Maschinengenäht. Besatz: Leinen, Taffetas broche, schwarz mit weißem Seidenschuss. L 37,5 cm. Altonaer Museum 1992-843,98

setts.2 Freilich besaßen nicht alle Menschen im 19. Jahrhundert die­ se Art der Unterbekleidung, da die Produktion eines Korsetts in Handarbeit teuer war. Zudem behinderte es bei der Arbeit, wes­ halb Frauen auf dem Lande eher auf das viel weichere Mieder zu­ rückgriffen, das nicht mit Stangen versteift wurde. Ein Korsett hin­ gegen formte - eben durch die eingenähten Stangen, die meist aus Fischbein, aber auch aus Stahlfedern oder Horn bestanden - den Körper auf unterschiedliche Weise. Zwischen 1840 und 1870 ent­ wickelte sich die Sanduhrform, was relativ große Ober- und Hüft­ weite bei möglichst kleiner Taillenweite bedeutet. Sie gilt heute noch als die klassische Korsettform. Bis um 1870-85 waren die Korsetts nach unten hin länger geschnitten, d. h. sie formten folg­ lich auch die Hüfte und den Bauch. In den 1890ern modellierte die Mode ganz besonders kleine Taillen. Gegen 1900 entwickelte sich eine neue Korsettform: das S-Korsett, das den Bauch rein-, die Brust rausdrückte und damit eine unnatürliche Haltung er­ zeugte. Besonderen Wert wurde auf die Modellierung und Betonung des Podexes gelegt. Um 1910 lösten Un­ terbrustkorsetts diese S-Korsettmode ab. Seit ca. 1900 war eine regelrechte Kor­ settindustrie entstanden, die wieder­ um dazu beitrug, dass sich auch viele Frauen ein Korsett leisten konnten. Aber nicht jedermann begrüßte diese Entwicklung. Aufgrund des gewissen Zwitterdaseins der Korsetts kritisier­ ten Moralisten die Mode auf das Hef­ tigste: Einerseits verhüllt sie den menschlichen Leib, andererseits hebt sie bestimmte Körperpartien hervor, wie Taille und Brüste. Die relative Nähe des Korsetts zum

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nackten Körper - meist wurde das Korsett über dem Hemd getragen - und den damit möglichen Assoziationen zu Erotik und Se­ xualität ließen den Umgang mit der Leib­ binde zum Spiegel für Anstand und Moral werden. Ärzte lehnten den Figurenhalter ebenfalls ab und verwiesen auf die körperli­ chen Schäden, die durch das Tragen einer Körperstütze und der vielen Textilschich­ ten, die um die Jahrhundertwende ca. 2,5 kg wogen,3 entstehen könnten: von Kopf­ schmerzen, Hitze, Atembeklemmung, Ap­ petitlosigkeit, Ohnmachtsanfällen und Schäden an allen Organen wie Herz, Lunge und Magen bis hin zu Fehlgeburten. Die Mediziner Gustav Jäger4 und Heinrich Lahmann,5 einer der Begründer der Natur­ heilkunde, lieferten bereits um 1870 erste wissenschaftliche Grundlagen zur Refor­ mierung der Frauenkleider. Während die Be­ fürworter des Korsetts der Auffassung wa­ ren, der Körper der Frau hätte ohne Korsett keinen Halt, argumentierten die Kleiderre­ former konträr. Durch die ständige Stütze seien Muskeln erschlafft, die Frau ohne Hal­ tung, außerdem führe das Korsett zu Fettan­ sätzen in Hüft- und Gesäßgegend. Wenn auch mit gegensätzlichen Intentionen, ope­ rierten beide Parteien diskursiv mit dem Bild eines aus der Form ge­ ratenen, massigen, der regulativ-plastischen Formung bedürftigen weiblichen Körpers. Da es nicht länger die Kleidung sein sollte, die den weiblichen Rundungen die Form aufdiktierte, sondern diese fortan der sogenannten natürlichen Form des Leibes folgen sollte, stand ein neues Begreifen des körperlichen Prinzips im Mittelpunkt der Reformbestrebungen. Vereinfachung der Unterbekleidung, Er­ haltung der natürlichen Form des Körpers, freie Gestaltung des

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Schachtel für ein Sans-VentreKorsett. Um 1907. Altonaer Museum 1991-734,12

Statuette einer Frauenrechtlerin. Anfang 20. Jh. Gefasste HolzSchnitzarbeit, wahr­ scheinlich aus Großbritannien. H 14 cm. Altonaer Museum 1980-517,17

Obergewandes in Anlehnung an die Mode, Ver­ kürzung des Straßenkleides sollten Körperbe­ wegung erlauben und zum Ausdruck bringen. Sport und Diätik stellten nun wichtige Tech­ niken dar, über die die Körperformung und das zunehmende Lebensalter reguliert wer­ den sollten. Daneben tauchten im 19. Jahr­ hundert vor allem geschlechtsspezifische Argumentationsstränge gegen die Korsett­ mode auf. Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf meinte im Hinblick auf den Schnürleib: „Ohne ein gutes Abend­ essen kann eine Frau nicht ordentlich ar­ beiten und schon gar nicht gut lieben. “ Sie lehnte das Tragen eines Korsetts - als Sym­ bol des viktorianischen Lebensstils - strikt ab.6 Für Woolf galt es als Sinnbild der starren Gesellschaftsstruktur mit den festen Rollenverteilungen von Mann und Frau. Die Abschaffung des Korsetts wurde aber nicht ersatzlos verord­ net. Reformleibchen und Brusthalter fluteten den Markt.7 Vergli­ chen mit dem Korsett waren diese Erfindungen zwar gesünder, aber noch immer überließ man unförmige Brüste oder Bäuche nicht der Natur - nur Mannweiber konnten so etwas tragen, wie Karikaturisten fanden: Korsettlosigkeit war unweiblich, korsettlo­ se Frauen waren Furien. Der Erste Weltkrieg ließ Gedanken um Mode und Kleidung zweit­ rangig werden. Frauen mussten die Männer, die an der Front waren, in den Munitionsfabriken, Lazaretts und auf den Feldern ersetzen. Diese körperliche Arbeit zollte ihren modischen Tribut: Die Kor­ setts mussten Bewegungsfreiheit bieten und zugleich den Rücken stützen,8 die Röcke wurden kürzer. Berufliche Erfahrungen und die Selbstständigkeit in Notzeiten riefen bei der Frau ein neues Selbst­ verständnis hervor. Dies drückte sich nachhaltig in einer knaben­ haften Modelinie aus, die auf die Überbetonung der weiblichen Ge­ schlechtsmerkmale verzichtete. Büstenhalter und Hüftgürtel soll­ ten jetzt den Körper möglichst kurvenfrei modellieren. Zu diesem

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Zweck wurde auch ein Büstenhaltertypus entwickelt, der die weib­ liche Brust plattdrückte und den die Frau zum ersten Mal auf der nackten Haut unter dem Hemd trug. Freilich gefiel das nicht jeder Frau, vor allem nicht den Damen mit großer Oberweite, die es vor­ zogen, den Stoff des BHs nicht direkt auf der Haut zu spüren. Die Zeit der Hochkonjunktur des Korsetts schien langsam ein Ende zu nehmen. Folgender Ausblick wurde um 1930 in der „Sit­ tengeschichte des Intimen“, herausgegeben von Leo Schidrowitz, gewagt: „Das Korsett blickt auf eine lange Geschichte zurück. Die­ se Geschichte ist heute abgeschlossen. In seiner Entwicklung war es ein Instrument der Körperplastik und als solches existiert es nicht mehr. Unsere ganze Zeit strebt danach, dem Körper der Frau Be­ wegungsfreiheit zu geben, alles, was in früherer Mode Fessel und Zwang war, abzustreifen. Doch parallel dazu machte sich bereits in den ausgehenden 1920erJahren in der Frauenmode wieder eine neue Richtung bemerkbar. Konfektionen ließen erneut weibliche Formen erahnen. Die ideale Figur der Frau sollte natürlich, weiblich proportioniert, aber insge-

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Büstenhalter für die flache Silhouette. Frankreich, 1920er-Jahre. Maulbeerseide, Atlasbindung, champagnerfarben. Eingearbeitete Stäbe und Schnürschluss mit seidener Flecht­ litze. Maschinen­ genäht. Justierbare Träger aus je zwei seidenen Atlasbändern. Stempelauf­ druck „Made in France“. L ohne Träger 13 cm. Altonaer Museum 1992-843,99

samt schlank sein. Obwohl bereits jetzt eine Vielzahl von Schlank­ heitspräparaten den Markt flutete,10 bildeten der formende und be­ tonende Büstenhalter, der Hüftgürtel und das leichte Korsett die Ba­ sis für die Oberbekleidung, wobei der Büstenhalter der 1930er-Jahre die weibliche Brust trennte und etwas spitzer modellierte. Zudem kam ein Wäschestück auf den Markt, das aus Büstenhalter und Hüftgürtel zusammengewachsen schien - das sogenannte Korselett.11 Die Gründe für die Wahl eines Figurenhalters waren ähnlich jenen aus dem 19. Jahrhundert: Den Organen sollte leichte Stütze gegeben werden, auch würde die Entwicklung von Figur und Haltung posi­ tiv unterstützt werden. Zudem sollte ein Korsett vor übermäßiger Unzucht schützen. Diese äußerliche Wandlung war Symbol für die wieder positiveren Einstellungen zu Familie und Haushalt - eine Tendenz, die später von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurde. Die 1940er-Jahre waren bestimmt vom Zweiten Weltkrieg. Frauen mussten erneut in eine männliche Rolle schlüpfen, was sich auch in Anzeige in der der Kleidung widerspiegelte, die praktisch daherkam. „Deutschen Moden­ Nach dem Krieg wollten Frauen feminin und schön sein - die „un­ zeitung“, Heft 23/1927 praktischen Kleider und Schuhe, die empfindlichsten Hüte und Strümpfe sind die elegan­ testen “, schrieb Simone „Reduzierender Büstenhalter.“ g.m' deBeauvoir 1951 über die Starke Damen reduzieren auf die|e einfadiffe und beMode der Nachkriegs­ quemffe Weife ihren Büffenumfang. Diefer Selbffma|fage-Bü|lenhalfer macht nicht nur Ihre Figur augen­ frau. 12 Der 1947 von Dior blicklich fchlank, fondern vermindert gleichzeitig al mählich das überflü||ige Fett. Die Wirkung befiehl kreierte „New Look“ mit darin. daf> un|er Büftenhaller ein neues elaffifches Ma||age-Spezialgewebe hat, welches (auf der seiner Wespentaille wäre bloßen Haut getragen) mit jeder Körperbewegung, die Sie ausführen, |elb|tläfig eine fetfreduzierende ohne ein figurformendes Maffage ausübt. Der Selb|fma||age-Bü[lenhalfer koftet mit Porto und Verpackung M. 6.80. Das Bru|fHilfsmittel nicht denk­ mafs in Zentimetern (unter den Armen herum über die Brufl an der |tärk|len Stelle gemeffen) muh bei bar gewesen: Das Kor­ Beflellung angegeben werden. Lieferung erfolgt um­ gehend, garantiert paffend, im Päckchen durch den sett war wieder angesagt Poftbrieflräger. Wir unterhalten keine Verkaujsflellen, deshalb jchreibe man foforl an d. Fabrik med. Apparate und sorgte vor allem für und Bandagen Dr. Ballowitz Ä Co., Berlindie Modellierung des Pankow 25, Arkonaftrafie 3. Be|lell|cheinl Fa. Dr. Ballowitz & Co., BerlinBusens und der Taille. Pankow 25, Arkonaftr. 3. Senden Sie mir 1 „Selb|fma||age-Bü|fenhalter" zum Preife von M. 6.80 per Nachnahme. Bruflmah....................... cm. Trichterförmige Halter Name:......... zeigten die Brüste in äu­ Ort:............................................. Strafse:................................................................ ßerstem Maß.

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Das sogenannte „Waist-Band“ kon­ Lilli zentrierte sich zudem auf die Reduzie­ rung des Taillenumfangs der Frau. Der Petticoat verlieh der Silhouette ge­ bauschte Hüften. Die Sanduhrfigur war wieder in Mode und mit ihr der Frauentypus, der auf Gleichberechti­ gung, Berufstätigkeit und Selbststän­ digkeit nicht viel hielt. Die weibliche Attraktivität reduzierte sich auf die äu­ ßere Erscheinung, was massiv von der Kleiderbranche forciert wurde. Die Mode Mitte der 1960er-Jahre zur Zeit des „Wirtschaftswunders“ ver­ sprühte vor allem eines: Fortschritt. Inzwischen war das Tragen von Hosen bei Frauen genauso üblich gewor­ den wie das Tragen von Röcken, da der Zeitgeist die Gleichheit der Ge­ schlechter begünstigte. Die Frauen der Studentenbewegung verbannten ihre Taillenweite geht ja — BHs und ebneten den Weg, das ge­ „Dio aber hier die Hüfte — viel­ leicht «eilte ich in Zukunft nur dankliche und konkrete Reich an Kor­ noch ganz mageren Schinken essen — I" setts und Hüftgürteln erneut zu verlas­ sen. In den ausgehenden 1960er-Jahren wurde das Model „Twiggy“ zur Modeikone. Mit ihrer knabenhaften Figur war sie die Verkörpe­ rung der vorpubertären Jugendlichkeit und wegen ihrer Maße 78-55-80 wurde sie zur „teuersten Bohnenstange der Welt“ er­ klärt. Der Twiggy-Stil erzeugte die kindliche Körpersilhouette durch modische Verkürzung des Oberkörpers und optische Ver­ längerung der Beine, hervorgerufen durch das Tragen der Miniklei­ der mit hochgezogener Taille. Der Triumph der Minimode war nicht nur eine Glorifizierung der Jugendlichkeit, sondern auch der Weiblichkeit und veranlasste Mütter, sich wie ihre Töchter anzu­ ziehen und die Töchter, sich wie kleine Schulmädchen zu kleiden.

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Reinhard Beuthin: Lilli. Kolorierter Aus­ schnitt aus der Bild-Zeitung, 1950er-Jahre

Hüftgürtel. Um 1960. Viskoseatlas mit Baumwollschuss, weiß. Mit elastischen Einsätzen, seitlich versetztem Haken­ schluss und angenäh­ ten Strumpfhaltern. Vordere Mitte mit Automaten­ stickerei garniert. Altonaer Museum 1999-702,10

Aber: Auch jetzt gab es natürlich noch Frauen, die Mieder trugen, vornehmlich ältere Damen. Wenn nicht Mieder, dann BH, der über das Hemd gestreift wur­ de, unabhängig da­ von, ob der Busen die einstige Körb­ chengröße noch aus­ füllen konnte. Schon bald darauf entdeckte man wie­ der die langen fließenden Gewänder, unter denen der Körper ge­ schützt genug war, um beinahe ohne Unterwäsche auszukommen. Die Haut ersetzte den Bodystocking und der Busen blieb ohne Halter. Die Antibabypille, das erste zuverlässige Verhütungsmit­ tel, machte die freie Liebe „risikolos“, Aufklärungsbücher von Os­ walt Kolle und Filme mit Erotikszenen wurden zu Kinohits, bis schließlich im „Schulmädchen-Report“ unter dem fadenscheini­ gen Etikett „Aufklärung“ Softpornografie produziert wurde. In dem sozialen und kulturpolitischen Klima dieser Jahre war kein Platz mehr für einengende Mieder. „ Mein Hüfthalter bringt mich um“, hieß es in einem Werbespruch von „Playtex“ Ende der 1960er-Jahre. Gar als Sinnbild weiblicher Unterdrückung galten in den 1970erJahren BH und Leibbinde und wurden von der Frauenbewegung boykottiert. In den 1980er-/1990er-Jahren feierte das architektonisch wirkende Korsett mit den konischen Brüsten ein Comeback. Madonna und Jean Paul Gaultier machten es gesellschaftsfähig, indem sie das, was als Drunter gedacht war, als Teil der Oberbekleidung trugen. Gleichzeitig entwickelte sich eine Tanz- und Gesundheitseupho­ rie. Obwohl Fitness ein „Must“ war, entdeckten die Frauen der

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ausgehenden 1980er-Jahre, dass ein straffer Körper auch mit dem richtigen Hilfsmittel erzielt werden kann. Das Korsett hatte sich zum Bodyshaper entwickelt. Seit den 1990ern galt der „Wonderbra“ als Garant für formschöne Brüste sowie als Symbol der weiblichen Sinnlichkeit und Verfüh­ rung. Insbesondere die damals noch unbekannte Eva Herzigovä sorgte 1994 als „Miss Wonderbra“ für Furore. Mit dem Push-upBH konnte jede Frau mit einem schönen Dekollete selbstbewusst auftreten. Ansonsten verlor die Damenunterwäsche ihre üppige Dimension bis zur Miniaturisierung von heute. Jedoch besteht die Unterwäsche auch in der heutigen Zeit nicht nur Manfred Schmidt: aus Tanga und BH. Es ist inzwischen alltäglich geworden, sich mit Nick Knatterton. Hightech-Wäsche in Tagesform zu bringen. Via BHs schnallen Panel aus der sich die Frauen die Brüste hoch, schlüpfen in Poformer oder in Geschichte „Der indische Diamanten­ Unterhosen, die den Bauch flach halten. Dass „Schummelwäsche“ koffer“, 5. Episode, zur Unterstützung des Selbstbildes benutzt wird, ist historisch 1950-59 nichts Neues. Kurios ist nur, dass unter ande­ PORTIER MIT rem Frauen, die in den FORMGEFÜHL 1960er-/ 1970er-Jahren ihre BHs verbannten, jawohl, y jetzt auf die High­ i SECHS! JS tech-Wäsche zurück­ greifen. Ungeniert wer­ den Fleischformteile als das getragen, was sie sind - reine Kunst.13 'M Die Auswahl an Pushups für Männerpos und • A*. j Schönheitsoperationen war beim männlichen Geschlecht bis Ende HICK TRABT VON des 20. Jahrhundertsge­ H0TEL2U HOTEL. ringer als bei Frauen. ENDLICH FINPET Es macht sich jedoch ER EINE SPUR: ein deutlicher Wandel

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Ski-Mieder. Um 1950. Baumwollatlas mit Viskoseschussfäden, Satin façonné, lachsrosé. Bauchpartie mit eingcarbeiteten Stäben versteift, Nähte durch lachs­ rosa Köperband stabilisiert, Träger und Verschlussleiste mit Baumwollsamt abgefüttert. Mit elas­ tischen Einsätzen und angenähten Strumpfhaltern. Oberkörbchen aus doppelter Lage Maschinenspitze ge­ arbeitet. Maschinen­ genäht. Seitlich ver­ setzter Hakenschluss. Rückwärtiger Schnürschluss mit lachsrosa Korsett­ senkeln. Altonaer Museum 2011-702

bemerkbar. Mittlerweile stehen bei Männern die Behandlungen zur Ver­ kleinerung der Brüste, das künstliche Aufbauen der Muskeln - per Training oder mit Implantaten und das Fettabsaugen auf der Tagesordnung. So wird der Körper im 21. Jahrhundert vorrangig oh­ nehin nicht mehr nur mit Hilfsmitteln von außen modelliert, sondern durch Manipulation des Körpers selbst. Es ist das Zeitalter von Botox und Fettsab­ saugen. In Deutschland unterziehen sich jährlich eine halbe Million Frauen und Männer einer Schön­ heitsoperation.14 Dem Zeitgeist entspre­ chend stellte Pro 7 im Jahre 2007 acht Folgen lang in der OP-Show „The Swan“ die Frage: „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ In der umstrittenen Realitysoap sorgte der Fernsehsender für die Ver­ wandlung von 16 „hässlichen Entlein“ in stolze Schwäne. WerbeIkone Verona Pooth (vormalig Feldbusch) moderierte die Sen­ dung.15 2008 ließ sich der 44-jährige Erotikstar Brigitte Nielsen ihren Kör­ per runderneuern. „Ich will wieder wie 30 aussehen“, erklärte sich die Exfrau von Sylvester Stallone. Unter dem Motto „Aus alt mach neu“ wurde Nielsen daher - immer begleitet von RTL-Kameras - in einer Schönheitsklinik generalüberholt. „Ich breche ein Tabu und bin stolz darauf“, verkündete Nielsen im „Focus“ vom 26.6.2008. Jüngst trauerten Tausende via Facebook um die 23-jährige Erotik­

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darstellerin und Big-Brother-Kanditatin „Sexy Cora“, die nach ei­ ner missglückten Brustvergrößerung gestorben war. Medienwis­ senschaftler Dr. Steffen Burkhardt von der Universität Hamburg ordnete das seltsame Phänomen der Massenbetroffenheit ein: „ Cora ist für die Gruppenmitglieder nicht in erster Linie Pornostar, sondern eine Identifikationsfigur, eine Heldin der Populärkultur wie Lady Di oder Michael Jackson. Und als solche löst ihr Schicksal kollektive Gefühle aus, die für einen Beobachter vielleicht surreal erscheinen, für diese Menschen aber real sind. “lfi

Sängerinnen, Schauspielerinnen, Schauspieler und Models sind es also, die uns das Bild eines schönen Menschen diktieren. Medien verbreiten das Schönheitsideal. Um diesem nachzueifern, laufen schon Pubertierende zum Schönheitschirurgen und verlangen kleinere Hintern und größere Brüste. Oft im Gepäck das Foto ih­ res Idols - welches allerdings auch schon operiert wurde. Aktuelle Ergebnisse einer weltweiten Studie mit 3300 Frauen und Mädchen zeigen, dass viele Mädchen aufgrund ihrer Unzufrieden­ heit mit dem eigenen Äußeren ein geringes Selbstwertgefühl entwi­ ckeln.17 Als Reaktion auf diese Tendenz hatte die Körperpflege­ marke „Dove“ bereits 2006 die „Dove Aktion für mehr Selbst­ wertgefühl“ gegründet. Unter deren Dach werden bis heute ver­ schiedene pädagogische Projekte unterstützt, die dazu beitragen sollen, das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen im Umgang mit ihrem eigenen Äußeren zu stärken. Ein Gegenzug zum Schönheits- und vor allem zum Schlankheits­ wahn18 ist das Aufkommen der Plus-Size-Linie. Übergewichtige Models bekamen in den letzten Jahren etliche Auftritte auf dem Laufsteg. Das sorgte für große Aufmerksamkeit, weil es eine augen­ fällige Abweichung vom Ideal darstellte. Karl Lagerfeld hatte im Ja­ nuar 2010 anlässlich der „Brigitte“-Initiative „Ohne Models“ sämtliche Fotostrecken in Brigitte werden seither nicht mehr mit Models produziert, sondern mit Frauen von der Straße - erklärt, runde Modelle wolle niemand sehen, die ganze Debatte um Mager­ models sei ohnehin absurd. Brigitte feierte indes in der Januarausga­ be 2011 das einjährige Bestehen ohne Models: Das klassische Schön-

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Retuschierter Ausschnitt des Titelblattes der Zeitschrift „Alles für die Frau“, Heft 10, 2011

heitsideal der Makellosigkeit sei, glaubt man der beliebten Frauen­ zeitschrift, neuer naturkindhafter Authentizität gewichen. Aber der alte Illusionismus der Fleischlosigkeit wird letztendlich lediglich er­ setzt durch die neue Illusion des Echten und Spontanen. Schlank sind die meisten dieser Naturmodelle immer noch. Nur sind sie im Unterschied zu den professionellen Models von früher heute mit Ansätzen von Falten, Familienumfeld und Berufsangabe versehen. Von einem neuen Schönheitsideal kann also kaum die Rede sein.19 Zusammenfassend sei gesagt, dass die Modegeschichte des 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert eine tief greifende Entwicklung durchzieht: weg von der Kleidermode, hin zur Körpermode. Ein zentraler Ausgangspunkt jenes Prozesses ist die Kleiderreformbe­ wegung um 1900. Dabei markiert das Ablegen des Korsetts, von der Reformbewegung als Befreiung von einem modernen Folterin­ strument propagiert, eine zentrale historische Wende. Allerdings ist diese Phase der Moderne weniger von Befreiung geprägt als eben von einem Wandel: Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das Korsett von außen auferlegt, bereits in den 20er-Jahren kamen die Diätmittel massenhaft auf den Markt, heute sind Korsett und Schlankheitspille ideologisch und gedanklich fest im Kopf instal­ liert. Das Außen ist quasi nach Innen gedrungen. Erinnern wir uns: „Jede Figur besitzt natürliche Schönheit... wenn sie so geformt wird, dass ihre besten Linien betont werden “20 - der Körper wurde scheinbar immer, zumindest vom 19. Jahrhundert bis heute, als Skulptur begriffen, die korrigiert oder reguliert werden muss. Es scheint, als gäbe ein schöner Körper Halt in der modernen

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Welt, in der Kirche, Familie und Staat immer weniger Vorgaben ma­ chen. Vielleicht managen wir unseren Körper, weil wir ihn besser unter Kontrolle bekommen als andere Lebensbereiche und uns da­ durch sicher fühlen. Denn mit einem perfekten Körper sind wir „normal“, fallen nicht weiter auf, erscheinen erfolgreich, anerkannt, begehrt. Der Körper kann als Eigenleistung hergezeigt werden. Die funktionale Bedeutung des Körpers weicht gänzlich der symboli­ schen: Der Körper wird zum Zeugnis der für ihn aufgewendeten Energie, belohnt durch gesellschaftliche Anerkennung.’1 Egal mit welchen Mitteln der Mensch den eigenen Körper zu stylen, verändern, chirurgisch zum Robotik oder Cyborg22 oder gänzlich zu einem Avatar zu perfektionieren versucht, ob mit der Ideologie eines Bio-Körpers oder mit jener seiner künstlichen Gestaltbarkeit, in der sogenannten „Multioptionsgesellschaft“23 des 20./21. Jahr­ hunderts ist das jeweilige Körper-Design nur eine Möglichkeit un­ ter vielen.24 Denn was ist schon authentisch oder natürlich auf der Schwelle zur virtuellen Welt? Die Welt heute ist ein Spiegelkabinett. „ Wer stets gefordert ist, sich neu zu erfinden, braucht Requisiten, um glatt über die Bühne des Lebens zu gehen“, so Karina Lübke.25

Folglich ist der Körper ein Gestaltungsphänomen, an dem sich ganz nach dem Motto „Mein Körper gehört mir“ mehr und mehr der Wille zur Selbstgestaltung und Selbstkontrolle des Menschen zeigt. Die kulturelle Haltung des Menschen gegenüber seiner Kör­ perlichkeit wird zunehmend durch ein tief gehendes Motiv der De­ naturierung gesteuert, sodass das Phänomen des manischen Kör­ perkultes eigentlich als Indiz einer Negation des natürlichen Kör­ pers zu sehen gilt und dass, je weiter fortgeschritten die Verneinung des Körperlichen als Natürlichkeit ist, die Formen des Körperkul­ tes umso intensiver zelebriert werden.26 Schlankheitswahn, Body­ building bis zur Erschöpfung und Schönheits-OPs sind extreme Formen der Körpermodellierung, die eines gemeinsam haben - sie sind Versuche, dem Körper gleichwie in „The black Swan“27 gänz­ lich zu entfliehen: „In gottloser Zeit, so könnte man Nietzsche fol­ gend sagen, versucht der Mensch, sich selbst zum Gott zu machen, sich zu vollenden“, so Peter Gross.28

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Susanne Müller-Elsner

Akademie Mode 8c Design

„Hautnah" Frauen tragen Wäsche aus Scham, als Schutz oder aus Lust, Letzte­ res um zu gefallen und einen intimen Teil ihres Körpers zu betonen. Brust, Bauch, Taille und Po, aber auch Fesseln wurden im Laufe der Zeit, je nach Schönheitsideal, verdeckt, hervorgehoben, verziert, zusammengepresst oder mit Wäsche bedeckt, die einer zweiten Haut gleicht.1

Formende Blicke der Kleiderreformbewegung Die Mode des 20. und 21. Jahrhunderts macht eine eindeutige Ent­ wicklung sichtbar: weg von der Kleider-Mode hin zur Körper-Mode. Ein zentraler Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die Kleiderreform­ bewegung um 1900 mit ihren neuen Konzeptionen des weiblichen Körpers und dessen Bekleidung. Schon zu dieser Zeit bemerkte der Mediziner Heinrich Pudor: „Unter dem Kleid sitzt immer Fleisch.“2 Nur der nackte Mensch sei der wahre Mensch, der möglichst natür­ lich zur Geltung gebracht werden soll. Die Bekleidung sollte nicht die Form des weiblichen Körpers diktieren, sondern die Bekleidung soll­ te der natürlichen Form des Körpers folgen. „Pudor riet Frauen und Kostümkünstlern, es den Malern und Bildhauern gleich zu tun: sich ein Modell zu nehmen, um am lebenden, unbekleideten Körper ihre Ideen zu erproben, nur so könne individuelle und organische Klei­ dung geschaffen werden. “3 Aus der Reformbewegung, die eine Be­ freiung vom Korsett hervorbrachte, entwickelte sich ein neues Ver­ ständnis von Kleidung, Körper, Weiblichkeit und Identität.4

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Der Körper als Bild Die Auseinandersetzung mit dem nackten Körper des Menschen blickt in der Kunst auf eine lange Tradition. Der Künstler René Ma­ gritte setzte sich in seinem Werk „Homage to Mack Sennett“ von 1934 mit der Intimität von Kleidung auseinander. Er stellte dabei je­ doch die Sehgewohnheiten auf den Kopf, indem er durch einen Trompe-l’ceil-Effekt den sonst durch das Kleid verdeckten Busen bewusst in seiner natürlichen Form auf diesem sichtbar macht.5 In ihrem 1994 veröffentlichten Werk „11 sarto immortale“, zu Deutsch „Hautnah“, nutzte die italienische Künstlerin und Philosophin Alba d’Urbano Nacktheit als modische Inszenierung und als Aufforde­ rung zum Hinschauen. Sie ließ ihren nackten Körper von vorne und hinten abfotografieren und druckte diese Bilder auf Blazer, Blusen, Röcke, Hosen, Kleider und Mäntel. Das sieht täuschend echt aus. Damit bietet sie den Trägerinnen dieser Kleidung die Möglichkeit, einen fremden nackten Körper als zweite Haut überzuziehen.6

Plastische Körper in der Mode Eine Reihe von Modedesignern stellen sich den gleichen Herausfor­ derungen wie ihre Künstler-Kollegen. Sie hinterfragen die traditio­ nellen Vorstellungen von Verhüllen und Enthüllen des Körpers durch Kleidung. Mit realistisch nachgeformten nackten Körperteilen wie Bustiers oder Körperkleidern hinterfragen sie dabei unsere Vor­ stellungen von Kleidung als schamvoller Verhüllung des Körpers. Der Designer Yves Saint Laurent verwandelte 1969 Nacktheit in ein modisches Statement. In seiner Kollektion ließ er ein sogenanntes Brustharnisch wieder aufleben. In einer zeitgenössischen Überset­ zung replizierte er in Zusammenarbeit mit Claude Lalanne einen nackten Busen zu einer Goldbüste und kombinierte diese mit einem fließenden Abendkleid.7 Issey Miyake modellierte 1983 wie ein Bild­ hauer den weiblichen Körper und entwarf ein Bustier aus Plastik, das eine weibliche nackte Brust imitiert. Es ist eine Reproduktion des menschlichen Körpers, die, verwendet als Bekleidung, einer zweiten

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Haut gleicht.8 Hussein Chalayan verwies auf den versehrten Körper in seiner Früh)ahr/Sommer-Kollektion von 1996, die den Titel „Nothing, Interscope“ trägt. Er schickte ein Stützkorsett auf den Laufsteg, das den natürlichen Körperrundungen nachempfunden war und die Verletzlichkeit des Körpers zeigte.9 In der Frühjahr/ Sommer-Kollektion 2007 von Martin Margiela verschmolzen Kör­ per und eng anliegender Body zu einer Einheit. Er kreierte einen elas­ tischen hautfarbenen Body mit modellierten Schultern. Form und Farbe dieses Bodys entsprechen seiner Strategie des Verbergens.10 Auch Designer beschäftigen sich mit der Haut des menschlichen Körpers. Die Design-Künstlerin Freddie Robins stellte 2002 die Haut als Hülle dar, die dem Körper abhandengekommen zu sein schien. Sie kreierte einen wollenen Ganzkörperbody und betitelte ihn „Skin-a Good Thing to Live in“. Mit ihrem Entwurf wollte sie Konformität und Normalität hinterfragen." Die Designer Peter Allen & Carla Ross Allen entwickelten 2007 in New York in einem Designprojekt die Serie BrandX. Hier entstand ein Duplikat der Haut in Form eines künstlichen Ganzkörperbodys mit Logoprä­ gungen zeitgenössischer Ready-to-Wear-Kollektionen. Die Un­ versehrtheit des Körpers wurde durch dekorative Prägungen ge­ brochen, die einem krankhaften Ausschlag ähnelten und die Er­ krankung an Markensucht suggerieren sollten.12

Transformation Katinka Horn, Mode Design Absolventin der AMD, Akademie Mode & Design Hamburg, 2009, greift mit ihrer Abschlusskollekti­ on „Hautnah“ die Tradition der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Körperkleid auf. Ausgehend von dem Vergleich der Klei­ dung als zweite Haut suchte sie nach einem neuen Blickwinkel. Da­ bei stieß sie auf die Veröffentlichung der deutschen Hohenstein-Rei­ henmessung 2009. Die Messungen ergaben, dass im Vergleich zu der früheren Messung 1994 der Brustumfang bei deutschen Frauen deutlich angestiegenen ist. Katinka Horn zieht hieraus den Schluss, dass künstliche Brusterweiterungen stark zugenommenen haben

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und Brustoperationen inzwi­ schen weite gesellschaftliche Akzeptanz finden. Dies lässt auf eine Neubewertung un­ seres Verhältnisses zum Kör­ per schließen. Das aktuelle Bedürfnis nach Natürlich­ keit und Authentizität steht dabei im deutlichen Kontrast zu den gleichzeitig zuneh­ menden Körpermanipulatio­ nen durch Schönheitsopera­ tionen. „ Der Mensch probiert sich in einer Schöpferrolle aus und nutzt die sich ihm neu erschließenden Möglichkeiten zur wil­ lentlichen Manipulation des Gegebenen, zum Formen der Umstände nach eigenem Wunsch“, kommentiert Katinka Horn.13 Die Grundlage von Katinka Horns Arbeit ist die Verbindung von überpersönlichen Bekleidungsklassikern wie Body oder Blazer mit einem sehr persönlichen Körperschnitt. In diesem Spannungsfeld entstehen reizvolle Kontraste. Gerade Linien überkreuzen orga­ nisch gerundete Linien, ebene Flächen überschneiden sich mit in den Raum greifenden Elementen, innere Formen durchdringen die äu­ ßere Hülle und zeigen Reminiszenzen an das Darunterliegende. Wichtig dabei ist, dass nicht die natürliche Haut in Szene gesetzt wird, sondern deren textile Adaption. Während bei d’Urbano das Arbeiten mit dem Computer und das Übersetzen von Realität durch binäre Zahlen eine große Rolle spielen, konzentriert sich Katinka Horn auf die Übersetzung des Körpers in verschiedene Wahrneh­ mungsmodi. Als Basis dient der Gipsabdruck ihres eigenen Körpers. Aus dieser 3-D-Körpervorlage entwickelt Katinka Horn einen 2-D-Schnitt. Das 3-D-Duplikat ihres Körpers überführt sie durch Einschnitte zu den höchsten Punkten und durch intuitiv gesetzte Teilungsschnitte in eine 2-D-Version ihres Körpers. Das sich daraus ergebene Schnittbild wird auf Stoff übertragen. Wie bei konventionellen Kleidungsstücken wird mit der Hilfe von

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Gipsabdruck. Schnittentwicklung und Foto: Katinka Horn

F Katinka Horn

Abnähern und Teilungsnähten eine dreidimensionale Form mo­ delliert. Das Zusammennähen der einzelnen Teile ergibt jedoch keine gewöhnliche Kleidung, sondern die plastische Formung ei­ nes Kleidungsstückes, das aussieht wie ihr Körper. Bei d’Urbanos 2-D-Fotoreplik wurde der Blick auf den Körper in ein anderes Medium verpflanzt. Das Auge der Kamera übernimmt die Rolle des Betrachters. Durch das Hinzunehmen der räumli­ chen Komponente erweitert Katinka Horn diese Idee des Körper­ kleids um eine wichtige Nuance. Während bei d’Urbanos Werk der Wiedererkennungswert wahrscheinlich höher ist, nähert sich Ka­ tinka Horns Übersetzung über die bildhauerische Form stärker der ursprünglichen Vorlage. „Was beiden Arbeiten gemein ist, dass über einen hoch persönlichen Ansatz gearbeitet wird und der Autor direkt in den Ausdruck des Werks mit einbezogen ist“, so Katinka Horns Interpretation.14 Anders als bei bisher gestalteten Körperklcidern begnügt sich Katin­ ka Horn nicht mit dem bloßen Körperabdruck, sondern transfor­ miert diesen. Sie lässt zwei Körperorganisationen, nämlich den orga­ nischen Körper und die geschneiderte Körperhülle, miteinander in Beziehung treten und experimentiert mit deren Zusammentreffen. Sie selektiert, seziert und isoliert. Die Körperoberfläche wird trans­ formiert, indem sie diese nach außen trägt, aber nicht als diese selbst, sondern als textile Repräsentation der Körperoberfläche. In ihrem dekonstruktivistischen Ansatz wird durch die Verfremdung Neues sichtbar. „ Die Kollektion spielt mit dem amphoteren Charakter der heutigen Bekleidungssituation, indem einerseits auf die altbe­ kannten Looks aufgesattelt wird, andererseits aber ein Bruch mit den Sehgewohnheiten evoziert wird, indem an ausgewählten Details das Altbekannte gebro­ chen wird durch Unerwartetes, siehe z. B. den Po auf dem Kra­ gen oder Revers eines Trench­ coats, das in einem organischen

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Bogen direkt in den Ärmel übergeht“, erläutert Katinka Horn ihre Arbeit.15 Eine plakative Darstellung des Körperabdrucks ist ihr fremd, subtil wird Körperliches übersetzt und mit Formen gespielt. Auch in Katinka Horns Kol­ lektion werden intime und in diesem Fall sogar ihre eigenen Körperteile hervorgehoben, sie spielt jedoch nicht mit den demonstrativen Einblicken, sondern mit den Teilen des Körpers, die erst auf den zweiten Blick wahrgenommen werden. Die Design-Elemen­ te leben durch ihre Plastizität und die daraus resultie­ renden Licht- und Schattenspiele. Ähnlich wie bei Martin Margiela in seiner Frühjahr/ Sommer-Kollektion 2001 wählt Katinka Horn für ihre Kollektion Farben und Materialien, die dem Charakter der Haut nahestehen. Anders als bei Mar­ tin Margiela jedoch geht es ihr dabei nicht um die Strategie des Ver­ bergens, sondern um eine möglichst genaue Adaption der Haut. Ent­ standen ist eine sehr persönliche und individuelle Kollektion. Ihre Nacktheit wird als Instrument genutzt, um andere zu verhüllen. Zi­ tat: „Die Kollektion zeigt meine Realität unter der Verkleidung, hin­ ter der Maske, sie geht eben: hautnah. “16 Katinka Horn produziert mit ihrer Kollektion Vergänglichkeit, ähnlich der Vergänglichkeit des eigenen Körpers, Mode selbst ist jedoch ein unsterbliches Prinzip.17

Foto: Katinka Horn

Technische Zeichnung: Katinka Horn

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Andrea Borck

Sauber:

Frauenhygiene In Deutschlands Drogerien und Supermärkten ist heute alles zu finden, was Frauen für ihre monatliche Hygiene1 während der Menstruation2 brauchen. Groß ist die Auswahl an Binden, Slipein­ lagen und Tampons unterschiedlicher Hersteller in verschiedenen Größen und Ausführungen. Jedes dieser Produkte ist einfach zu handhaben, hygienisch und leicht zu entsorgen. Ein Mädchen oder eine Frau des 21. Jahrhunderts wählt aus dem vielfältigen Angebot das Produkt aus, das sie nutzen möchte. Ein Traum für unsere Großmütter und Urgroßmütter, die wenige Alternativen hatten. Noch in den 1950er-Jahren, bevor der Tampon in Deutschland auf den Markt kam, hatten Frauen nur die Wahl zwischen den damals äußerst dicken Einmalbinden und der Stoffbinde zum Auswa­ schen? Auch der Umgang mit der Menstruation, der Monatsblu­ tung der Frau, und die Kenntnisse um dieses spezifisch weibliche Körperereignis haben sich im Laufe der Jahrhunderte, besonders aber im 20. Jahrhundert, in europäisch geprägten Ländern ent­ scheidend verändert. Doch wie ging es den Frauen in Deutschland in der Zeit um 1900, die im Umgang mit der Periode geprägt war von Verunsiche­ rung, Scham, Minderwertigkeitsgefühlen, Tabus und Aberglau­ ben? Zum Ende des 19. Jahrhunderts war es für Frauen der ärmeren Schichten und in ländlichen Gebieten üblich, ein Hemd vier bis acht Tage zu tragen. Es handelte sich dabei um ein waden- bis knö-

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chellanges Wäschestück aus Leinen, das vielfältige Funktionen er­ füllen musste. Es war zugleich Unterhemd, Oberhemd, Unter­ rock, wurde als Nachthemd genutzt4 und bei Bedarf entstand durch das Hindurchziehen der Enden zwischen den Beinen so et­ was wie eine „Unterhose“. Arme Landfrauen und Tagelöhnerin­ nen besaßen oftmals nur ein einziges Hemd? Dieses wurde auch während der Menstruation getragen, ohne wei­ tere Schutzmaßnahmen. Das heißt, das Menstrualblut wurde vom Textil des Hemdes aufgefangen. Lange hielt sich der Irrglaube, dass es gesundheitsgefährdend sei, sich während der Menstruation zu waschen und die Wäsche zu wechseln, weil eine Stockung oder Verstärkung der Blutung befürchtet wurde? Ein Irrglaube, der so­ wohl in Frauenkreisen als auch bei Ärzten herrschte, aber für fort­ schrittliche Mediziner bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein un­ haltbarer Zustand war. Allein die publizierten hygienischen Vor­ schriften und Maßnahmen waren alles andere als klar und über­ einstimmend. Weder über die Temperatur des Waschwassers noch über die Häufigkeit und den Sinn des Waschens bestand in den

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Werbeanzeige für „Hartmann’s Gesundheitsbinden mit Patent-Holz­ wollwatte-Füllung“ Ausschnitt aus: „Daheim“-Kalender 1908, S.88

Schriften Übereinkunft.7 Einer der auf­ geklärteren Mediziner, M. Platen, gibt 1899 folgende Belehrungen: „ Zunächst (fflteiifltuat touSbiiibeii) ist die Unreinheit mancher Frauen folteu: 3aQre«bebarf 60 €tihf iuCl «Pih'icl strengstens zu rügen, die während der SU. 8— fraiifo fliiitiibnufl. wmiiltjclidj« Menstruation so gut wie keine Maßre­ »¡iiiiuiice Ijierübei in Dit 2 beâ XVI. Jaljtfl, eeite «a b 'Haut«. Xiiefter Striant» von geln treffen, um ihre Leib- und Bettwä­ tDi. fll/anucbt, 9/eiiftabt»îHbue. (vami.) sche vor dem den Geschlechtsteilen entfließenden Blut zu schützen. [Eine] Unsauberkeit, mit der nicht selten mehr oder minder schwere gesund­ Werbeanzeige für „Marwedes Moosheitliche Störungen verbunden sind. Bei dieser Gelegenheit sei auch Binden“, Ausschnitt gleich des weitverbreiteten, unsinnigen Vorurteils gedacht, das darin aus: „Dies Blatt ge­ hört der Hausfrau“ besteht, dass sich die Frauen während der Menstruation keine frische 1904/05, 19. Jg. Leibwäsche anzulegen getrauen. Durch nichts ist dieser Aberglauben gerechtfertigt. “ Die Bedingungen, die Platen an eine Binde stellte, klingen sehr modern: „Sie müssen sich genau den Körperformen an­ schmiegen, sicher sitzen, leicht, elastisch und weich sein, dürfen also nirgendwo drücken und reiben, müssen sich stets trocken anfühlen, bequem und schnell angelegt und abgenommen werden können, und vor allem eine gehörige Aufsaugungsfähigkeit besitzen. “8 Diese Be­ dingungen erfüllten seiner Meinung nach Bindengürtel mit einem auswechselbaren Mittelkissen, dessen Füllung aus saugfähigem Ma­ terial wie Holzwolle9, Moos10 oder Verbandwatte bestand, die nach Gebrauch entsorgt werden konnte.

¿Ihiviucbe’îï gll o o 0 i il b e il

„Hygienisches Bein­ kleid für Frauen“ nach Vorschlag des Frauenarztes J. Großmann. Großmann 1888, S. 187, in: Junker/ Stille 1988, S. 341

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Damit wurden zwei we­ oSanga“ Ein praktisches Monatsbeinkleid. sentliche Aspekte vorgege­ ,,Sanga“ schützt vor Erkältung. ben: Zum einen sollte ein „Sanga“ ist wie Wäsche zu reinigen, da der Gummi abknöpfbar ist. Beckengurt aus einem fes­ ,.Sanga“ ist hygienisch der beste und im Gebrauch der billigste ten Stoff, z. B. Leinwand, Mooatsverband. „Sanga" ist gesetzlich geschützt. Trikotstoff, oder ein eng „Snnga“ Prospekte gratis und franko. anliegendes Beinkleid aus Bezugsquellen werden angegeben Alfred Sachs, Berlin NW. Bachstrasse 2. Baumwolle, Wolle oder Seidentrikot einen siche­ ren Sitz der Binde ermöglichen. Dies sollte ein Verschmutzen der Wäsche verhindern und den Frauen, bei sicherem Halt und Schutz vor Druck und Erkältung, eine große Bewegungsfreiheit bieten ohne „aufzutragen“. Zum anderen sollte die Binde aus Wegwerfmaterial gefertigt, ohne Mühe entfernt und verbrannt werden können, um eine Infektions­ gefahr auszuschließen. Das auswechselbare Mittelstück, am Be­ ckengurt angeknöpft oder mit kleinen Schnallen am „Hygieni­ schen Beinkleid“ befestigt, war jeweils mit einer Gummiunterlage versehen, sodass kein Blut durchsickern konnte. Die Binden wur­ den entweder durch Schlingen oder durch kleine Metallringe sicher auf der Unterlage oder dem Gummituch befestigt.11 Diese neuarti­ gen Vorschläge stellten eine Verbindung aus „Sauberkeit und Zweckmäßigkeit“ dar, die der bürgerlichen Hausfrau ihre Reprä­ sentationspflichten, vor allem aber der berufstätigen Frau die Ar­ beit erleichtern sollte.12 Bis ins frühe 20. Jahrhundert konnte man sich die biologischen Vorgänge im weiblichen Körper medizinisch nicht erklären, und noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Menstruation unterschiedlich gedeutet und als ein pathologisches Ereignis ge­ wertet. Man war der Ansicht, „die Menstruation disponiere zu den 'verschiedensten Erkrankungen der Frau. Blutarmut und nervöse Hysterie, typische Diagnosen bei Frauen des 19. Jahrhunderts, tru­ gen so zum Bild von der Mangelhaftigkeit des weiblichen Organis­ mus bei“ M Ein Status, dem das Zeichen eines Fehlers, einer Krank­ heit anhaftete, wie auch schon dadurch belegt ist, dass um 1800 die Regel als „monatliche Reinigung“ bezeichnet wurde.14 Aufgrund

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Werbeanzeige für „Sanga. Ein praktisches Monatsbeinkleid“ Ausschnitt aus: „Vorbachs Frauenund Moden-Zcitung“ 1917/18, Heft 474, S.6

dieser seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen müsse sich eine Frau schonen und „so viel als möglich in bequemer Lage auf dem Sofa oder Chaiselongue verbringen und Anstrengungen [...] vermeiden. “15 Platcn schrieb dazu: „ Heftige, erschütternde körper­ liche Bewegungen wie Tanzen, Laufen, Springen, Reiten, anstren­ gendes Marschieren, Treten der Nähmaschine usw. sollen bis zur Beendigung der menstrualen Vorgänge gänzlich vermieden wer­ den. Auch das Tragen eines Korsetts, das an und für sich schon schädlich ist, wirkt bei der Menstruation noch ganz besonders nach­ teilig ein. “16 Galt es doch im 19. Jahrhundert als Hauptaufgabe der Frau, Hausfrau und Mutter gesunder Kinder zu sein, und diese „vornehmste Pflicht“ sollte nicht durch Krankheit und Infektio­ nen gefährdet werden. Aber nur wenige Frauen konnten sich die hauptsächlich von männlichen Medizinern dringend empfohlene Schonung leisten und während der Periode im Bett liegen. Die täg­ liche Arbeit im Haushalt, in der Landwirtschaft oder in den Fabri­ ken musste verrichtet werden, und eine Näherin saß selbstver­ ständlich an der Nähmaschine. Insofern gingen diese medizini­ schen Empfehlungen an der Realität vieler Frauen vorbei.17 Daher verwundert es auch nicht, dass sich der Mythos der Unrein­ heit und der damit verknüpfte Aberglaube bis ins 20. Jahrhundert hielt.18 So die Vorstellung, dass das Menstrualblut giftig sei, und auch dem Schweiß einer menstruierenden Frau wurden schädliche Wirkungen zugeschrieben. Es hieß, dass in Gegenwart Menstruie­ render Most und Wein sauer würden, Milch gerinne, Hefe nicht aufgehe, deshalb sollten die Frauen dann keinen Teig machen oder Brot backen; Eingemachtes, Fleischwaren, Butter und Mayonnai­ se verderbe, Pflanzen oder Setzlinge verdorrten und Spiegel wür­ den matt.17 Auch Sahne würde beim Schlagen nicht steif werden.20 Unvorstellbar für uns heute erscheint auch, dass noch 1920 der Wiener Arzt Bela Schick aufgrund seiner Forschungsergebnisse die Existenz eines Giftes als bewiesen ansah, das eine menstruie­ rende Frau über die Haut ausscheiden würde. Er nannte es Menotoxin.21 Er untermauerte damit die überlieferten abergläubischen Vorstellungen. Daraus folgte, dass sich Frauen während der Peri­ ode nach wie vor von vielem fernzuhalten hatten, besonders im Le-

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T

Links oben: Monatsbinde. 1920er- bis 50er-Jahre. Baumwollflancll, Doppelgewebe in Köperbindung, rosa-weiß (Zweitverwendung). Textile Zwischen­ schicht. Maschinengenäht, zwei Wäscheknöpfe. L 30,5 cm x B 17cm. Altonaer Museum 1993-2779 Links Mitte: Monatsbinde. 1920er- bis 50er-Jahre. Baumwolle, Doppelripp-Strickware, gebleicht (Zweitverwendung). Textile Zwischenlage. Handgenäht. L 34 cm x B 17cm. Altonaer Museum 1993-2778

Faltvorlage für Periodenbinde mit Taillenband. Fischer-Dückelmann 1908, S. 239

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Nähanleitung mit Abbildung für eine Monatsbinde aus alten Fenstervor­ hängen. „ Zerrissene Vorhänge werden durch Waschen und Kochen von jeglicher Stärke befreit, so daß sie möglichst weich und schmiegsam sind.“ Binde aus zwei Teilen mit 3-4 Lagen Stoff dazwischen. Ausschnitt aus: Niedncr/Brandt 1921: „Beyers großes Lehr­ buch der Wäsche“

bensmittelbereich. Obwohl 1958 be­ wiesen wurde, dass Menotoxin nicht existiert, blieben tradierte Glaubens­ muster und Verhaltensweisen noch lan­ ge fest verankert. So ist es nicht verwunderlich, dass der körperliche Vorgang der Menstruation zumeist ein negatives Image hatte. Posi­ tive Gefühle und Einstellungen zur Mo­ natsblutung, wie zum Beispiel Stolz am Frausein, wurden hingegen selten be­ schrieben.22 Um die Jahrhundertwende erschienen die ersten medizinischen Schriften von weiblichen Ärzten wie Anna Fischer-Dückelmann, die einen gegensätzlichen Standpunkt vertraten. In ihrem als Jubilä­ umsband 1908 erschienenen Buch „Die Frau als Hausärztin“ schrieb sie: „/...] die monatliche Blutung [ist] nicht als ein Zustand der Krankheit aufzufassen; sie steht in Verbindung mit einem phy­ siologischen Vorgang. [...] Diese [Frauen] können arbeiten, ausge­ hen, auch baden, ohne sich gestört zu fühlen, wie es ja tatsächlich die Landarbeiterinnen und der größere Teil der Dienstmädchen tun. “2i Ähnliches schrieb die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Eugenie von Soden, die es als Aberglauben bezeichnete, „ daß die Periode et­ was Krankhaftes ist und [...] die gesunde Frau [...] besondere Scho­ nung nötig hat, womöglich tagelang im Bett liegen soll“ u Die in medizinischen Aufklärungsschriften propagierten und empfohlenen modernen Hygieneartikel waren sehr teuer und da­ mit für viele Frauen unerschwinglich. Sie nähten sich daher ihre Binden selbst. Ausgediente Handtücher, Textilreste, Leinwandlap ­ pen oder alte Laken wurden zu der notwendigen Anzahl Lappen verarbeitet, bei Bedarf mit einem Band um den Leib gebunden und als auswaschbare Dauerbinde genutzt. Es gab dazu Näh- und Falt­ vorlagen.25 Später mit Knöpfen oder Knopflöchern versehen, konnten diese Lappen in spezielle Gürtel, Höschen oder Hemdhosen einge­ knöpft werden. Nur waren diese Lappen in der Regel nicht der

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Strickvorlagen für Damenbinden mit Knopf oder Schlaufe. Ausschnitt aus: „Vobachs Hand­ arbeitsbücher“, No. 10, Gestrickte Kleidung o. J., S. 4 (1920er-Jahre)

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