Zur Kulturgeschichte der Scham 9783787319794, 9783787319800

»Das Schamempfinden gehört zur menschlichen Grundausstattung. Es ist ein soziales Gefühl, das sich beim Gewahrwerden ein

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Zur Kulturgeschichte der Scham
 9783787319794, 9783787319800

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9

Archiv für Begriffsgeschichte Begründet von Erich Rothacker herausgegeben von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Michael Erler

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Michaela Bauks/Martin F. Meyer (Hg.)

Zur Kulturgeschichte der Scham

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: – – – – – – –

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Archiv für Begriffsgeschichte ISSN 1617- 4399 · Sonderheft 9

© Felix Meiner Verlag 2011. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: work :at:book / Martin Eberhardt, Berlin. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Münzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/afb

INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michaela Bauks Nacktheit und Scham in Genesis 2–3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin F. Meyer Scham im klassischen griechischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Jörn Müller Scham und menschliche Natur bei Augustinus und Thomas von Aquin . . .

55

Rudolf Lüthe Der diskrete Charme der Scham. Rhapsodische Anmerkungen zu Humes Lehre von »pride« und »humility« im »Treatise on Human Nature« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Michael Meyer Scham und Schande in der Frühen Neuzeit Englands . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Ulrike Bardt Der Begriff der Scham in der französischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . .

105

Werner Moskopp Ein Versuch über die Transzendentalität der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

Jürgen Boomgaarden Das Wissen in der Unwissenheit. Zum Schambegriff bei Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Eduard Zwierlein Scham und Menschsein. Zur Anthropologie der Scham bei Max Scheler . .

157

Clemens Albrecht Anthropologie der Verschiedenheit, Anthropologie der Gemeinsamkeit. Zur Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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Inhalt

Axel T. Paul Die Gewalt der Scham. Elias, Duerr und das Problem der Historizität menschlicher Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Christina-Maria Bammel »Unästhetisch ist im letzten Grunde immer auch unmoralisch …« Zur Relevanz der Scham im Theater und dramatischen Denken . . . . . . . .

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Einleitung

Travemünde, in Spätsommer 1845. Die Saison ist längst vorbei. Am verwaisten Strand liegt nur noch ein einziges Paar: Tony Buddenbrook und Morten Schwarzkopf starren, einander in verlegenen Gesprächen zugetan, auf die bewegte See: Sie antwortete nicht, sie sah ihn nicht einmal an, sie schob nur ganz leise ihren Oberkörper am Sandberg ein wenig näher zu ihm hin, und Morten küßte sie langsam und umständlich auf den Mund. Dann sahen sie nach verschiedenen Richtungen in den Sand und schämten sich über die Maße.1 Paris, ein Jahrhundert später: Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an die Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gucken. […] Jetzt habe ich Schritte im Flur gehört; man sieht mich. Der Autor liefert die Deutung der Szene gleich mit: Ich schäme mich dessen, was ich bin. Die Scham realisiert also eine intime Beziehung von mir zu mir: durch die Scham habe ich einen Aspekt meines Seins entdeckt. […] Die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben, nicht erkennen. […] So ist die Scham ein vereinigendes Erfassen dreier Dimensionen: Ich schäme mich über mich vor Anderen.2 Spätestens mit diesen Zeilen aus Jean-Paul Sartres L’Etre et le Néant (1943) rückt das Phänomen der Scham in den Fokus der akademischen Diskurse der westlichen Welt. Zwar hatte schon Sigmund Freud am Anfang des Jahrhunderts wichtige Andeutungen zu dem Thema gemacht;3 in explizit anthropologischen

1

Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie [zuerst 1901] (Frankfurt a. M. 1979) 118 bzw. 121. 2 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [zuerst 1943] (dt. Ausgabe Reinbek bei Hamburg 1991) 467, 469, 275, 471, 518 [Seitenangaben in der Reihenfolge der zitierten Textstellen]. 3 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900) [Studienausgabe Band II: Die Traumdeutung] (Frankfurt a. M. 1972) 245, 248-252, 370; ders.: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) [Studienausgabe Band IV: Psychologische Schriften] (Frankfurt 1970) 92–96, 126; ders.: Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia (1915) [Studienausgabe, Band VII: Zwang, Paranoia und Perversion] (Frankfurt 1970) 207–216; ders.: »Ein Kind wird geschlagen« – Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen (1919) [Studienausgabe, Band VII: Zwang, Paranoia und Perversion], 231–254. Insgesamt läßt sich festhalten, daß Freud das Schämen nur dann als Ursache von Neurosen ansieht, wenn mit der Scham auch das stärkere Gefühl der Schuld verbunden ist und dieses sich dann zu einem ›Schuldkomplex‹ verfestigt. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß Freud dem Thema keine eigene Abhandlung gewidmet hat. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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Einleitung

Kontexten hatten auch Max Scheler4 und Hans Lipps5 die Scham behandelt. Der Terror gegen die jüdischen Gelehrten und die Wirren des Zweiten Weltkrieges hatten eine weitere Vertiefung der Problematik aber zunächst blockiert. Nicht zufällig liegen einige Wurzeln dieser Diskurse in Frankreich und auf dem amerikanischen Kontinent. In den USA wurden sie durch eine Studie angeregt, die nach deutschen Begriffen eher in das Feld der Ethnologie fällt: Vom amerikanischen Verteidigungsministerium beauftragt, begann die Kulturanthropologin Ruth Benedict 1944 eine Untersuchung über die japanische Kultur. Kurz nach Kriegsende publizierte sie ihre Resultate unter dem Titel The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture.6 Eine ihrer zentralen Thesen war die Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen. Auch wenn das Buch eher umstritten war (Benedict war nicht aufgrund eigener Feldforschung, sondern durch Studien an japanischen Kriegsgefangenen zu ihren Resultaten gelangt), auch wenn die Thesen auf ein enges Wissensfeld begrenzt waren – durch die zunehmende Bedeutung von Kulturanthropologie, Soziologie, Psychologie und v.a. der Psychoanalyse avancierte die Rede von den sog. guiltcultures und shamecultures im anglo-amerikanischen Raum zu einem prominenten Topos. Daß die Thematik bald auch traditionell konservative Disziplinen wie die klassische Philologie erreichte, belegt das einflußreiche Buch von Eric R. Dodds The Greeks and the Irrational (1951/deutsch 1970). Das Werk des in Oxford lehrenden Gräzisten begünstigte die Tendenz, Fragen der menschlichen Emotionalität stärker ins Zentrum literaturwissenschaftlicher und historischer Forschungen zu stellen. Für die weitere Karriere des Schamthemas war es unerheblich, daß sich die Begriffsopposition von Schuld- und Schamkulturen methodisch als kaum tragfähig erwies. Im deutschsprachigen Raum setzt die akademische Debatte zum Thema Scham mit einiger Verspätung ein: Der Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias (obgleich schon 1939 erstmals publiziert) gewann erst in den siebziger Jahren an Attraktivität. Dann allerdings wurde das Werk rasch zu einem Klassiker der Soziologie.7 Elias hatte den mit der frühen

4

Vgl. dazu den Beitrag von Eduard Zwierlein in diesem Band. Vgl. Hans Lipps: Das Schamgefühl, in: ders.: Die menschliche Natur (Frankfurt a. Main 1941) 29–42. Vgl. dazu: Käte Meyer-Drawe: Der Ursprung des Selbstbewußtseins: Scham, in Alfred Schäfer/ Christiane Thompson (Hgg.): Scham, Paderborn 2009, 37-49. 6 Deutsche Übersetzung: Ruth Benedict: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur (Frankfurt a. Main 2006); vgl. dazu den Artikel von Clemens Albrecht in diesem Band. 7 Der Prozeß der Zivilisation erschien 1939 in Basel bei einem Schweizer Verlag, wurde indes kaum beachtet und auch nach dem Kriege eher für eine abseitige Kulturgeschichte gehalten. Das eigentliche Thema, der Wandel des Trieb- und Affekthaushaltes, die Veränderungen der Scham und Peinlichkeitsgrenzen, geht auch bei der zweiten Veröffentlichung 1969 bei Luchterhand in der allgemeinen Marx-Rezeption unter. Erst 1976, als das Werk bei Suhrkamp in Frankfurt am Main erscheint, wird es zum Bestseller: Im ersten Jahr verkauft es sich 20.000 mal, bis Ende der 80er Jahre gar 80.000 mal; vgl. dazu Hermann Korte: Über Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers (Frankfurt a.M. 1997 [zuerst: 1988]). 5

Einleitung

9

Neuzeit anhebenden Zivilisationsprozeß als ambivalente Bewegung interpretiert: Bei zunehmender Zivilisierung korrespondiert eine abnehmende Aggressionsneigung mit einer Erhöhung der Schamgrenzen: Anders als im Mittelalter hätten sich die Europäer seit der Renaissance stetig mehr für Nacktheit und Sexualität geschämt. Den erst am französischen Königshof manifesten Schamkodex habe das aufstrebende Bürgertum adaptiert, dann aber so übertrieben, daß er im 19. Jahrhundert in eine allgemeine und sogar sprachliche Tabuisierung von Nacktheit und Sexualität eingemündet sei. Die enthusiastische Rezeption dieser Kulturtheorie hing u.a. damit zusammen, daß sich die (ihrem Selbstverständnis nach) freizügige westliche Jugend nun endgültig von den (noch in der Elterngeneration internalisierten) restriktiven Normvorstellungen des längst vergangenen Säkulums absetzen wollte. Das im Zivilisationsprozeß geborene Bürgertum galt als historisch zu überwindendes (mit stark repressiven Zügen ausgemaltes) Feindbild. Um so überraschender erscheint im Rückblick, daß der Angriff auf Elias ausgerechnet aus jenem Milieu kam, dem seine Thesen den meisten Zuspruch verdankten: In einer großangelegten (fünfbändigen!) Studie unter dem bezeichnenden Titel Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (1988) wies Hans Peter Duerr – wieder ein Ethnologe – Elias’ Thesen als bloße ›Mythologie‹ zurück.8 Duerr hatte u.a. den Blick auf die menschlichen Genitalien epochen- und kulturvergleichend untersucht. Er kam zu dem Schluß, der schamhafte Blick auf die Geschlechtsteile sei eine invariante, epochenübergreifende Konstante aller Kulturen. Die von Elias postulierte Verschiebung der Schamgrenzen sei ein bloß eurozentrisches Theoriekonstrukt. In der Folge von Duerrs Buch kam es zu einer teils lebhaft geführten Debatte pro und contra Elias.9 Die Kontroverse beförderte einerseits die theoretische Auseinandersetzung mit der Scham. Andererseits aber schien sie zumindest den deutschsprachigen Diskurs auf die sexuellen Aspekte dieser Emotion zu verengen. In jüngster Zeit ist das Thema Scham in der historischen Anthropologie10

8 Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Fünf Bände (Frankfurt am Main 2002 [zuerst 1988]). 9 Vgl. dazu Michael Hinz: Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität? Wissenschaftssoziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse (Opladen 2002). Siehe auch den entsprechenden Beitrag von Axel T. Paul in diesem Band. 10 Zum Konnex von Nacktheit und Scham Lukas Thommen: Antike Körpergeschichte (Zürich 2007) sowie Astrid Nunn: Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst, in: Andreas Wagner (Hg.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und Interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (Göttingen 2009) 119–150; zum Verhältnis von Scham und Schuld vgl. Paul A. Krüger: Gefühl und Gefühlsäußerungen im Alten Testament, in: Bernd Janowski / Kathrin Liess (Hgg.): Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (Freiburg 2009) 243–262. Zur Übernahme der Differenzierung in Scham- und Schuldkultur für antike Gesellschaften durch Eric R. Dodds äußert sich Jan Dietrich in diesem Band kritisch (Über Ehre und Ehrgefüht im Alten Testament, 419–452).

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Einleitung

wie in verschiedenen geisteswissenschaftlichen11 und theologischen12 Disziplinen breit aufgenommen worden. Einer Verengung auf die sexuellen Aspekte der Scham will der vorliegende Band zur Kulturgeschichte der Scham entgegenwirken. Ihm geht es nicht um eine vorgefertigte Kulturtheorie, die einen mehr oder weniger gefestigten Schambegriff bereits voraussetzt, der dann an die zu untersuchenden Gegenstände herangetragen wird. Natürlich aber soll der Band gleichwohl Material wie Anregungen zu einer solchen Kulturtheorie der Scham liefern. So ist seinen Beiträgen zu entnehmen, daß Schamempfindung keineswegs bloß sexuell motiviert ist. Das Spektrum der Anlässe ist weit gefächert: Man schämt sich, weil man glaubt, etwas nicht zu wissen, bei einer Lüge ertappt zu werden, jemand könne von einer intimen Krankheit erfahren, ein verborgener Makel könne ans Licht kommen, das eigene Handeln werde als eitel begriffen, man werde den Erwartungen der Gäste oder Gastgeber nicht gerecht usw. Die reine Feststellung, es gebe eine solche Vielfalt von Anlässen, macht für sich genommen noch keine Theorie. Bevor zu einer solchen Theorie angesetzt werden könnte, müßten die differenten Modi der Beschreibungen von schamhaften Situationen analysiert werden. Solche Beschreibungen sind oft verschnürt mit der Reflexion über die konkreten Anlässe und/oder die Adressaten der Schamempfindung. In anderen Fällen erscheint die Reflexion ganz abgelöst von jeder konkret szenischen Deskription. Sie dient der Erklärung, gelegentlich auch normativen Zielen. Eine Theorie der Scham müßte folglich differenzieren zwischen (i) den Formen der Beschreibung von Scham und (ii) den Reflexionen zu ihrem Begriff und ihrer Bedeutung. Beide Linien, die der Deskription und die der Reflexion, könnten je für sich verfolgt werden. Beide Linien verliefen teils parallel zueinander, teils existierten Kreuzungspunkte, an denen sich die Reflexion mehr oder weniger explizit auf konkrete Ereignisse zurückbeugt. Der Strom der Schilderungen wäre vermutlich breiter; seine Quellen lägen weiter in der Vergangenheit zurück. Der Fluß der Deskription, der Darstellungen, der Berichte und Schilderungen wäre dem der Reflexion stets schon voraus. Das in ihm schwimmende ›Material‹ bildete gewissermaßen den primären Gegenstand einer Geschichte der Scham. Die wissenschaftliche Analyse dieses Materials könnte sich von den traditionellen

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Vgl. z.B. Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schameffekten und Schamkonflikten (Berlin 1993); Hilge Landweer, Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls (Tübingen 1999) und den bereits oben erwähnten Aufsatzband mit pädagogischer Ausrichtung von A. Schäfer und C. Thompson (s. Anm. 5). 12 Vgl. z.B. die Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Basel von PD Dr. Regine Munz: Zur Theologie der Scham. Grenzgänge zwischen Dogmatik, Ethik und Anthropologie, TLZ 65 (2009) 129–147, oder die Dissertation von Christina-Maria Bammel: Aufgetane Augen – Aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch (Gütersloh 2005). Die Autorin bietet in diesem Band einen Beitrag zum Verhältnis von Scham und Theatralik.

Einleitung

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Methoden der Literaturwissenschaften kaum freisprechen: In welcher Sprache liegen solche Schilderungen vor? Aus welchen etymologischen oder metaphorischen Quellen speisen sich Ausdrücke, die diese Empfindung anzeigen? Verraten bereits die grammatischen Kategorien Differenzen bei der Beobachtung des Phänomens? Ist es vergleichbar, wenn sich Hektor in der Ilias »auf Griechisch« oder Jessica bei Shakespeare »in Englisch« schämen? Ist es überhaupt legitim, von demselben Phänomen zu reden? Aus welcher Perspektive werden die Geschehnisse erzählt? Berichtet ein Ich-Erzähler? Läßt der Autor seine Figuren Scham in der ersten Person vorbringen oder wird sie von Dritten geschildert? Handelt es sich überhaupt um einen Autor, oder liegen (wie etwa im Falle der Genesis) dicht verklebte anonyme Textschichten in Form von Traditionsliteratur vor? Welche Rolle spielt die zeitliche Distanz des Textes zu den vorgeführten dramatischen Personen? Vor allem: Verfolgt die Schilderung der Schamempfindung ein bestimmtes Ziel? Wie ist diese Darstellung in das intentionale Gebilde des Textes eingewoben? Läßt die Darstellung diese Intention erkennen? Kurzum: Ist sie als Funktion im Text beschreibbar? Erst wenn solche hermeneutischen Vorarbeiten geleistet wären, bestünde die Chance zur Rekonstruktion einer ›Geschichte‹ der Scham. Dieser historische Anspruch forderte gegenüber der strukturalistischen Analyse ein Surplus an Erklärung: Der Historiker der Scham müßte zeigen, inwiefern die Schilderungen aufeinander verweisen, daß das Spätere vom Früheren beeinflußt ist, die Rezeption der Quellen neue Quellen der Rezeption hervorbringt, Verformungen und Transformationen am Werke sind, kurzum überhaupt ein diachroner Zusammenhang der Schilderungen besteht. Erst wo sich ein solch diachroner Zusammenhang überhaupt rekonstruieren läßt, könnte die historische Explanation beginnen. Selbst wenn all diese Belege gesammelt wären, läge allenfalls eine Synopsis vor, kaum mehr als eine Anthologie der Schamempfindung. Die Theorie wäre auf halbem Wege stehengeblieben. Kulturgeschichte ohne Begriffsgeschichte wäre positivistische Naivität. Sie vernachlässigte das Faktum, daß die Reflexion den Blick auf das ›Material‹ verändert; daß dieser Blick das zu Untersuchende kategorial selektiert und Standards vorgibt, mit denen der epistemische Jäger seine Netze knüpft. Deshalb sind zugleich die Linie der Reflexionen über Scham, Versuche zu ihrer Definition, die reflexive Kontextualisierung und ihre Anbindung an korrespondierende Begriffe zu verfolgen. Auch auf diesem Feld müßte sich der Theoretiker Fragen nach seinem methodischen Instrumentarium gefallen lassen: Wo bezieht sich die Reflexion auf welches Material? Was wird in diesen Diskursen begrifflich selektiert? Fügen sich die Definitionen einem bestimmten theoretischen Setting? Sind sie Funktionen in einem größer angelegten Sprachspiel? Lassen sich hier Entwicklungslinien zeichnen? Bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. insistiert Hesiod, der Mensch unterscheide sich durch »Scham und Recht« von den Tieren. Der Konnex der Termini ›Scham‹ und ›Recht‹ blieb nicht folgenlos. Mit Aristoteles beginnt die lange Serie von

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Einleitung

Definitionsversuchen: Scham sei eine Art von Schmerz oder Beunruhigung über diejenigen Übel, die einem ein schlechtes Ansehen einzubringen scheinen. Aristoteles hatte ebenfalls gesehen, daß die Schamempfindung nicht von den jeweiligen Adressaten entkoppelt werden kann; daß Scham (modern gesagt) stets sozial dimensioniert ist: Wir schämen uns mehr vor solchen Personen, denen wir Hochachtung entgegenbringen, bzw. vor solchen, von denen wir besondere Achtung erwarten oder wünschen.13 Für die weitere Begriffsgenese war prägend, daß die Griechen die Scham dem Reich der (von den Lateinern sogenannten) Affekte zugeschlagen hatten. Diese kategoriale Subsumption erscheint in der weiteren Reflexion als stabiler Rahmen, innerhalb dessen sich neue Sprachspiele formieren. Mit dem Einfluß des jüdisch-christlichen Denkens verändert sich der theoretische Zugriff auf die antiken Vorgaben: Gleich zu Anfang des Primärdokuments dieser Religionen war jenes Bild von Adam und Eva aufgestellt, die sich im paradiesischen Urzustand ihrer Nacktheit noch nicht schämen, dann aber nach dem ›Sündenfall‹ eines Feigenblatts bedürftig sind.14 Nicht zufällig wurde die (von Augustinus erfundene) Lesart des Textes als Erbsündenlehre maßgeblich für die Geburt einer ›systematischen‹ Theologie, jener Leitwissenschaft des lateinisch-christlichen Mittelalters. Es ist dieses Bild, das sich übermächtig in das kollektive Gedächtnis des Mittelalters einprägt hat. Noch in Kants Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) dient es zur Selbstdeutung des Menschen. Schon im Mittelalter fügen sich die definitorischen Zuschreibungen den jeweiligen theoretischen Problemlagen: So steht etwa die Deutung der Paradiesszene bei Thomas von Aquin im Zeichen der theologischen Frage nach der Willensfreiheit.15 In den Passions de l’âme des René Descartes muß die Definition der Scham in ein Begriffsschema passen, das alle Leidenschaften auf sechs Basisaffekte reduziert. Die terminologischen Schwankungen verändern den Begriffsapparat auch da, wo, wie in der angelsächsischen Moral-Sense-Philosophy, die ›moralischen Gefühle‹ signifikante Orientierungspunkte für normative Begründungen abgeben.16 Ebenfalls die (im englischen Puritanismus beobachtbaren) Verschiebungen in der Bewertung ästhetischer und literarischer Werke begünstigen Wandlungen und neue Interpretationen.17 Ähnliches gilt für die französische Aufklärung, in der neue anthropologische Leitbilder (wie etwa das vom edlen Wilden) die Diskussionen lenken.18 Sowohl in der englischen wie in der französischen Aufklärung sind Prozesse zunehmender sozialer Differenzierung beobachtbar: Schamanforderungen werden jetzt geschlechts- oder schicht-

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Vgl. dazu den Beitrag von Martin F. Meyer. Vgl. dazu den Beitrag von Michaela Bauks. Vgl. dazu den Beitrag von Jörn Müller. Vgl. dazu den Beitrag von Rudolf Lüthe. Vgl. dazu den Beitrag von Michael Meyer. Vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Bardt.

Einleitung

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spezifisch adressiert: Frauen sollen sich niedrigschwelliger schämen als Männer; sozial Depriviligierten billigt man weniger Scham zu als jenen lesenden Eliten, an die diese Normkonvolute vornehmlich adressiert sind. Wie die Reflexion stets vor dem Horizont spezifischer Theorieentwürfe erscheint, läßt sich paradigmatisch an Kant studieren, der die Scham als plötzlich auftretenden Affekt infolge der Angst aus der besorgten Verachtung definiert.19 Daß das Ensemble der begrifflichen Reflexion nicht losgelöst von den je philosophischen Intentionen betrachtet werden kann, wird sich ebenfalls an den eingehenden Analysen zu Kierkegaard20, Scheler21 oder Sartre22 erweisen. All diese Punkte markieren freilich nur einzelne Stationen einer kulturübergreifenden Reflexion auf Scham. An eine Kulturgeschichte der Scham darf die Erwartung gerichtet sein, daß Verbindungslinien zwischen diesen Punkten sichtbar werden. Gibt es solche Linien? Mindestens zwei Antworten kristallisieren sich aus der Synopsis der Beiträge heraus: Erstens wird die Scham seit Aristoteles den ›Widerfahrnissen‹ zugerechnet; ›Zuständen‹, die der Mensch nicht aktiv lenkt, sondern die ihm passiv (ohne sein Zutun) widerfahren. Diese kategoriale Subsumption begründet eine Linie der westlichen Tradition, die von dem griechischen Begriff pathos über das lateinische affectus hin zur französischen passion, den englischen Begriffen passion bzw. emotion und den deutschen Leidenschaft, Empfindung oder Gefühl führt. Diese Ausdrücke akzentuieren nicht allein das passive Moment einer fehlenden Steuerung dieses Zustands. Sie verorten die Scham zugleich im Gegenlicht zu logos, ratio, raison oder Vernunft. Dieser anfänglich noch schwache Kontrast verfestigt sich im Laufe der Zeit zu einer festen Achse, auf der Vernunft und Sinnlichkeit zwei antagonistische Pole bilden. Je nachdem, ob der Gegenspieler der Vernunft stärker oder schwächer ins Licht rückt, ändern sich definitorische Zuschreibungen und explanative Erwartungen. Während die Stoiker eine gänzliche Überwindung der Emotionen anstreben, ist etwa für die deutsche Romantik die Idealisierung der sinnlichen Sphäre kennzeichnend. Es wundert nicht, wenn hiervon ausgehende (etwa existentialistische oder lebensphilosophische) Strömungen, die in der Vernunft eine Hemmung ursprünglicher Lebensregungen sehen, der Scham einen hohen Stellenwert zubilligen. Mit den explanativen Erwartungen fallen zugleich theoretische Vorentscheidungen, die selektiv auf den Begriffsapparat wirken: So geht schon im Mittelalter die in der Antike gewonnene Einsicht verloren, daß Emotionen stets mit kognitiven Gehalten korrespondieren, die sich (um es in der Sprache der analytischen Philosophie zu sagen) als propositionale und also wahrheitsfähige

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Vgl. dazu den Beitrag von Werner Moskopp. Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Boomgaarden. Vgl. dazu den Beitrag von Eduard Zwierlein. Vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Bardt.

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Einleitung

Gehalte darstellen lassen. Eine vergleichende Kulturtheorie der Scham müßte ferner eruieren, ob in außereuropäischen Sprachkontexten analoge Subsumptionsmuster greifen, ob sich auch hier Traditionsverweise ausgebildet haben, die der Reflexion jene terminologischen Profile einschärfen, in denen das je konkrete Denken dann verhaftet wäre. Eine zweite Antwort auf die Frage nach den Verbindungslinien liegt in der geistigen Lokalisierung des Themas auf dem Gebiet der Anthropologie: Zweifellos hat die Schamerfahrung Reflexionen darüber angestoßen, daß es für den Menschen geradezu typisch ist, sich mit den Augen von Andern zu sehen, daß die Blicke der Andern gewissermaßen sogar dem je eignen Blick vorhergehen. Die Scham liegt in den Augen, heißt es schon in einem altgriechischen Sprichwort. Im Moment der Scham offenbart sich das Gewicht des fremden Blickes, die Schwere und Bedeutung, die die andern für uns haben. Es ist erstaunlich, wie konstant diese Beobachtung von so unterschiedlichen Köpfen wie Aristoteles, Descartes, Hume, Kant oder Sartre akzentuiert wird. Es scheint, als deute sich in der Konstanz dieser Erfahrung eine noch stringentere Linie an als auf dem Feld der terminologischen Subordination. Es ist nur eine kühne Vermutung, vielleicht aber würde ein kulturvergleichendes Studium erweisen, daß diese Beobachtung jenseits des sprachlichen Instrumentariums zu den invarianten (oder nur minimal variablen) Formen der Beschreibung gehört. Es mag sein, daß sich Japaner23 aus andern Gründen schämen als z.B. Franzosen. Daß jedoch die Erfahrung der Scham nicht von den realen oder antizipierten Blicken der andern abgelöst werden kann, daß Prozesse der permanenten Ästimation bzw. erwarteter Ästimation überall die Individuen dominieren, scheint in der Sphäre des Menschlichen schon lange und durativ angelegt. Bei alledem bliebe eine Kulturgeschichte der Scham nur bloß formal abstrakt, integrierte sie nicht in ihre Überlegungen jenes Moment, das der Scham so vorzüglich eignet: Stets verweist Scham auf einen Kodex des je individuell internalisierten Normbewußtseins. Die Analyse der Scham liefert der Theorie einen Schlüssel zur Codierung von normativen Kontexten. Scham ist eine reiche Quelle besonders für solche Normvorstellungen, die nicht schriftlich oder gar juristisch fixiert sind. Ob sich jemand für seine Nacktheit schämt oder weil er durch ein Schlüsselloch guckt oder einen Fleck auf der Krawatte trägt, stets verweist diese Empfindung auf das Bewußtsein oder den Glauben, eine entsprechende Norm verletzt zu haben, einer normativen Erwartung nicht gerecht zu werden, etwas zu tun, das zumindest in den Augen der Beobachter nicht comme il faut ist. Der subjektive Geist tritt mit dem objektiven Geist (oder dem, was er dafür hält) in einen Konflikt: Es offenbart sich ein Antagonismus, dessen bloßes Aufblitzen als Bedrohung der eigenen Position im sozialen Ranking empfunden wird. Im Rekurs auf

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Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Albrecht.

Einleitung

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die konkreten Schamsituationen lassen sich daher verborgene oder unbewußte normative Gehalte rekonstruieren. Die Rekonstruktion dieser Normvorstellungen bereichert erstens das historische Wissen über die realen normativen Wirkkräfte in sozialen Systemen. Sie informiert zweitens darüber, in welchem Grade gesellschaftliche Normen im Bewußtsein der Individuen angekommen und verankert sind. Eine solche Lesart der Scham liefert mithin auch einen Beitrag zur Aufklärung über unsichtbare Herrschaftsmechanismen. Sie könnte zeigen, inwiefern die Macht der Normen Macht über die Subjekte gewonnen hat; wann, wo und wie normative Vorstellungen adaptiert und internalisiert werden; kurzum: in welchen normativen Räumen das Individuum sich glaubt bewegen zu dürfen. Sie würde verstehen helfen, weshalb normative Vorstellungen greifen – und endlich, ob es gelingen könnte, sich von illegitimen (nicht rational gerechtfertigten) Zwängen zu emanzipieren. Diese einleitenden Bemerkungen galten der Frage, auf welche methodischen Fundamente eine Kulturtheorie der Scham gestellt werden könnte, wie eine solche Theorie der Scham aussehen könnte, auch der Aussicht auf den explanatorischen Nutzen und die praktischen Gewinne einer solch anvisierten Theorie. Zugleich wird deutlich, wie komplex eine solche Theorie vielleicht sein müßte. Wie gesagt, der vorliegende Band zur Kulturgeschichte der Scham will keine fertige Theorie liefern. Seine Beiträge sollen Anregungen geben, den Leser mit Material ausstatten sowohl zu den konkreten Anlässen von Schamerfahrungen wie auch zu den theoretischen Reflexionen, die diese Emotion betreffen. Es ist fast tautologisch, zu sagen, daß eine Auswahl immer eine Selektion darstellt. Gerade deshalb ist es für den Leser nützlich zu wissen, was ihn in dem vorliegenden Buch konkret erwartet. Die meisten der in diesem Band zusammengestellten Beiträge sind auf der Basis einer interdisziplinären Vortragsreihe zum Thema »Kulturgeschichte der Scham« entstanden, die im Sommersemester 2009 an der Universität Koblenz im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Kolloquiums stattgefunden hat. Den Referentinnen und Referenten sei an dieser Stelle nochmals gedankt. Weiterer Dank geht an Frau Ruth Rehfisch, die den Band technisch eingerichtet hat, Herrn Marcel Simon-Gadhof, der ihn redaktionell betreut hat, den Vizepräsidenten des Campus Koblenz, Prof. Dr. Peter Ulrich, der ihn bezuschußt hat, und an Prof. Dr. Christian Bermes und Prof. Dr. Michael Erler, die ihn in die Reihe der Sonderhefte des Archivs für Begriffsgeschichte aufgenommen haben. Koblenz im Oktober 2010

Die Herausgeber

Michaela Bauks

Nacktheit und Scham in Genesis 2–3

Körperliche Scham war schon in Ägypten und im Vorderen Orient verbreitet. Gänzliche Nacktheit war unschicklich und kam höchstens im Kult oder aber als Demütigung besiegter Feinde sowie bei einfachen Arbeitern vor. Im Alten Orient galt Entblößung als persönliche Bloßstellung und betraf eher die untersten gesellschaftlichen Schichten als Zeichen der Demut vor den Göttern, Toten oder Siegern. Auf die Darstellung nackter Körper wurde daher weitgehend verzichtet.1

Der vorliegende Beitrag will unter Berücksichtigung dieser Feststellung untersuchen, wie das Verhältnis von Nacktheit und Scham, und zwar an prominenter Stelle, in Gen 2,25, zu verstehen ist: »Und es ergab sich, daß die zwei nackt waren, der Mann und seine Frau, aber sie schämten sich nicht«, so lesen wir in Gen 2,25 am Ende des zweiten Schöpfungsberichts. Wirkungsgeschichtlich ist dieser Vers mit seinem weiteren Kontext kaum zu überschätzen, da er gemeinsam mit Röm 5,12 u.a. die theologische Rede vom Sündenfall und daran anhängig die Erbsündenlehre vorbereitet (s. den Beitrag von J. Müller). Letztere stellt eine Synthese von Scham und Schuld her, welche die menschliche Scham kausal mit der Übertretung des göttlichen Gebots verknüpft.2 Doch ist diese Verbindung im Sinne einer historischen Anthropologie angemessen?

I. Die Semantik der Scham Theologisch wurde die Aussage des Nichtschämens in Gen 2,25 häufig als Ignoranz der Körper- und Geschlechtlichkeit vor dem Sündenfall gewertet. Scham und Körperlichkeit sind also traditionell eng zusammengedacht. Stellvertretend mögen hier die Überlegungen von M. Klopfenstein stehen, der folgendermaßen übersetzt: »Und sie beide, der Mensch und sein Weib, waren nackt, ohne sich voreinander zu schämen«. Er ergänzt das »voreinander« aufgrund des Verbstamms bœ¬ hitpolal, der einmalig im AT belegt ist und dessen spezifischer Sinn »hier nicht

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Lukas Thommen: Antike Körpergeschichte (Zürich 2007) 59. Dorothea Baudy definiert Scham als ein »soziales Gefühl, das sich beim Gewahrwerden eines Defizits einstellt«, und grenzt es vom Schuldgefühl ab, »da es kein konkretes Vergehen voraus[setzt]«; s. dies.: Art. Scham, I. Religionswissenschaftlich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (=RGG 4). Bd. 7 (Tübingen 2004) 861. 2

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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nur ein reflexiver, sondern ein reziproker« sei.3 Des weiteren merkt er die Betonung durch die Apposition »sie beide, der Mensch und sein Weib« an. Es geht hier s.E. um die Ignoranz der eigenen Sexualität. Die semantische Zusammengehörigkeit von Scham und Geschlechtlichkeit mit Schuldbezug leitet er aus Gen 2,25 und prophetischen Texten wie Hos 2,7 und Mi 1,11 ab.4 Kulturgeschichtlich betrachtet ist die Aussage, daß die (ersten) Menschen sich ihrer Nacktheit nicht schämten, nicht individual-anthropologisch, sondern sozial konnotiert bzw. relational zu verstehen. Die Rede von der Scham ist in Gen 2–3 nicht auf die Körperlichkeit menschlicher Existenz bezogen, sondern auf ihr Verhaftetsein in Bezugssystemen, wie es die semantische und literarische Analyse einschlägiger Stellen eindrucksvoll zeigt. Wenn von Scham die Rede ist, verwendet die hebräische Sprache zumeist bœ¬æt in der Bedeutung »Schande, Beschämung« oder verbal bœ¬ »sich schämen« im Sinne von »entehrt oder geschändet worden sein«. Letzteres liegt auch in Gen 2,25 in reflexiver Verwendung vor. Erst im Mittelhebräischen, also in der rabbinischen Literatur, findet die uns im Deutschen sehr vertraute Sinnverschiebung statt: »Schande, Beschämung« wird zu »Schamhaftigkeit« sowie z.B. zu dem terminus technicus für pekunäre Ersatzleistungen in Folge der zugefügten Beschämung eines anderen. In dieser Zeit dürfte sich auch die Bezeichnung der geschlechtlichen Scham herausbilden, die wir im Deutschen in der Doppeldeutigkeit von weiblicher Scham und Scham als Gefühl kennen.5 In der alttestamentlichen und antik jüdischen Literatur ist die Vorstellung von Scham im Bezug auf Nacktheit und Sexualität nicht belegbar.

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Martin A. Klopfenstein: Scham und Schande nach dem Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu den hebräischen Wurzeln bôs, klm und hpr (Zürich 1972) bes. 31– 33. 48f. (mit Hinweisen auf die ältere Kommentarliteratur); vgl. Jack M. Sasson: w®lœ’ yitbœ¬¹¬û (Gen 2,25) and Its Implications. In: Biblica 66 (1985) 418–421: The »translation implies the pair did not have the potential to find blemishes with each other because they did not perceive anatomical, sexual, or role distinctions within the species« (420; s.u. Anm. 17). Dem reziproken Verständnis widersprach aber schon mit gewichtigen philologischen Argumenten Paul Joüon: Notes de lexicographie hébraïque. In: Biblica 6 (1926) 74f. und plädierte für ein reflexives Verständnis. 4 M. Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 87; zur Kritik vgl. Erhard Blum: Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung. In: Gottes Nähe im Alten Testament, hg. von Gönke Eberhardt und Kathrin Liess (Stuttgart 2004) 9–29, hier: 11 Anm. 12; Alexandra Grund: »Und sie schämten sich nicht …« (Genesis 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Genesis 2–3. In: Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. FS Bernd Janowski, hg. von Michaela Bauks, Katrin Liess und Peter Riede (Neukirchen-Vluyn 2008) 115–122, bes. 119f. 5 So ist in Lev r.s. 14,157d von mqwm b¬th, dem »Ort der Scham« als Umschreibung der weiblichen Scham die Rede. – Vgl. Horst Seebaß: Art. bœ¬ etc. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament [= ThWAT]. Bd. 1 (Stuttgart 1973) 568–580, hier: 568f., neben dem einmalig‘ belegten meb¥¬£m »männliche Scham« (Dtn 25,11); weitere Belege bei Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 22ff.

Nacktheit und Scham in Genesis 2–3

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Für das akkadische Nomen bä¬tu (m) belegen die beiden großen assyriologischen Wörterbücher einen Dissens. Während CAD, Bd. 2, 5f, die sexuelle Konnotation gänzlich ausschließt, gibt das AHw, Bd. 1, 112 als Bedeutung 1. »Scham von Mann und Frau«, 2. Potenz, 3. »Lebenskraft« wieder. Besonders die ersteren Bedeutungen hält Klopfenstein für ausschlaggebend, da sich aus ihnen die dritte folgerichtig ableitet. Das Nomen ist zudem von b¥¬tu (m) mit seinen Bedeutungen »Scham, Scheu« und »Beschämung, Schande« zu unterscheiden.6 Gern wird auf das Schicksal des wild mit den Tieren lebenden Enkidu rekurriert, vor dem nach seinem Beischlaf mit der Dirne Schamchat die Gazellen davonlaufen (Gilg I, 195–198).7 Im Gegenzug für die verlorene Angepaßtheit an das Leben der wilden Tiere erhält er Erkenntnis (I,199–205).8 W. Sallaberger unterstreicht: »Der Beischlaf mit der Dirne Schamchat entfremdet ihn den Tieren, die körperliche Nähe der Frau schärft seine Wahrnehmung (I 195–200). Sie kleidet ihn und führt ihn aus der Wildnis«.9 Doch funktioniert die Analogiesetzung zu Gen 2–3 vor allem durch die Atomisierung mythologischer Pattern, während die Erzählkompositionen formal und in ihren Intentionen grundverschieden sind. Neben fehlenden semantischen Parallelen zum Wortfeld »Scham« unterscheidet sich die Erzählhandlung darin, daß im Gilgameschepos explizit und ausführlich von der Entdeckung der Sexualität erzählt wird. Die Dirne öffnet Enkidu die Augen und entfremdet ihn von den Tieren. Dabei handelt es sich aber um ein rein weltliches Geschehen, das die erzählerische Voraussetzung dafür bietet, dass Enkidu aus der Wildnis an den Hof des halbgöttlichen Königs Gilgamesch kommt.10 Die auf das »Sich-Schämen« reduzierte, reflexive Bedeutung begegnet vor allem in der Schriftprophetie und den Psalmen, wo 141 der 167 alttestamentlichen

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Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 26f ; vgl. Seebaß: ThWAT [Anm. 5] 570, der unterstreicht, daß »die Bedeutung von b¹¬tu (m) im Hebr. nicht belegt« ist. 7 »Als er sich an ihrer Lust gesättigt, wandte er sein Gesicht seiner Herde zu. Es sahen Enkidu und stürmten davon die Gazellen, die Herde der Steppe wich zurück vor seiner Gestalt.« Übersetzung von Stefan M. Maul: Gilgamesch (München 2005) 15. 8 »Beschmutzt hatte Enkidu seinen ganz reinen Körper, still standen da seine Knie, die sonst gewohnt, mit der Herde zu laufen. Geschwächt war da Enkidu, sein Laufen war nicht mehr so wie zuvor. Doch (mit einem Male) besaß er Verstand [wie zuvor], und tief war seine Einsicht.« (ebd.) 9 Walther Sallaberger: Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition (München 2008) 27 – Zu Beginn der Taf. II, 32–35 ist konstatiert: »Wissend war (nun) sein Herz, [ ], Der Schamchat [ ]. Das erste Gewand streifte sie sich über, doch das zweite legte sie ihm an«, bevor sie den frisch Initiierten zu Gilgamesch bringt – Übersetzung von S. Maul: Gilgamesch, 20; vgl. zur ninivitischen Version auch Benjamin Foster: Gilgamesh, Sex, Love, and the Ascent of Knowledge. In: Love and Death in the Ancient Near East (FS Marvin H. Pope), ed. by John H. Marks/Robert M. Good (Guilfort 1987) 21–42. 10 Weitaus stichhaltiger als die Parallele zu dem Themenfeld Nacktheit – Scham ist die zu Nacktheit – Schlange – Baum/Pflanze des ewigen Lebens; vgl. dazu Friedhelm Hartenstein: »Und sie erkannten, daß sie nackt waren …« (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung. In: Evangelische Theologie 65 (2005) 277–293, hier: 285. 291f.

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Belege in einem vorzugsweise theologischen Kontext zu verzeichnen sind. Belege für Scham/Schämen im profanen Sinne sind indes rar.11 Profanes Vorkommen ist vorzugsweise für das Synonym μapar mit insgesamt 17 Belegen (Prophetische Bücher, Psalter, Weisheit) gegeben, von denen 13 in Parallele zu bœ¬ stehen, bis auf einen Beleg (Jes 24,23) stets an zweiter Stelle. Die Bedeutung reicht von »beschämend handeln« (Prv 19,26) bis zu »beschämt, verlegen sein« (Hi 6,20 qal; Spr 13,5; 19,26 hif.).12 Etwas häufiger und oft im profanen – zumeist rechtsterminologischen – Gebrauch belegt ist klm hif./hof. »zeigen auf jem., jem. als schuldig herausstellen«13 (vgl. 1 Sam 20,34), das ebenfalls häufig in Parallele zu bœ¬ steht. Es bedeutet im Nifal »diffamiert/bloßgestellt/entehrt werden« (2 Sam 10,514) bzw. »sich eine Blöße geben« (2 Sam 19,4). Das Verb bezeichnet das Auf-sich-Nehmen der mit Schuld verbundenen Schande. Ähnlich wie bœ¬ ist klm ein sozialer Verhältnisbegriff, der »eine den Fehlbaren anzeigende Handlung« zum Ausdruck bringt.15 bœ¬ bringt im Hebräischen zum Ausdruck, daß eine Person, ein Volk, ein Berufstand in seiner »ehemals angesehene[n] Geltung oder Stellung gestürzt ist«16. bœ¬ hängt einer Person an, man erleidet es. Ein Mensch ist in seinem »Sich-Hervorwagen getroffen, so daß er ins Gegenteil, in Schande gerät«. Gen 2,25 (»Und es ergab sich, daß die zwei nackt waren, der Mann und seine Frau, aber sie schämten sich nicht.«) könnte demnach aussagen, daß der Mensch »sich im Bezug auf seine Blöße nicht im Status der Schande« befindet.17 Der Begriff bœ¬æt »Schande« ist in der Regel reserviert für die großen Vergehen wie den Fremdgötterkult (Hos 9,10) oder andere Frevel an Gott durch Israel (Jes 30,1–5). Der Psalmbeter bittet um Gebetserhörung, um vor den Augen der Gemeinde nicht zu Schanden zu werden (Ps 25,2). Ähnliches gilt für die bewußten Falschankündigungen eines Propheten (Mi 3,5–8) oder auch für einen Dieb, der auf frischer Tat ertappt wird (z.B. Jer 2,26). Der Begriff ist stets

11 M. Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 33ff. nennt 23 Beispiele. Zu zwei aus den Geschichtsbüchern stammenden Belegen (1 Sam 20,30 und 2 Sam 19,6) s. unten. 12 M. Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 170–183. 13 Ebd. 116ff. 137f. Klopfenstein leitet das hebräische Verb von akk. kullumu »sehen lassen, zeigen« ab. Diese Bedeutung findet sich auch im theologischen Kontext (insbesondere als Rechtsterminus des prophetischen Scheltworts). 14 M. Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 124ff.; vgl. Fritz Stolz: Das erste und zweite Buch Samuel (Zürich 1981) 231. 233. 15 M. Klopfenstein: Scham [Anm. 3] 139. 16 H. Seebaß: ThWAT [Anm. 5] 571. 17 Ebd. 571. Anders F. Hartenstein: Und sie erkannten [Anm. 10] 286 (Hervorhebung im Original): Im Sinne »ihrer Hinfälligkeit und Sterblichkeit erkennen sich die Menschen in Gen 3,7 als ›nackt‹. … Das ›sich nicht voreinander Schämen‹ ist also nicht primär ein Gefühl des einzelnen Menschen, sondern vor allem Ausdruck ungestörter Gemeinschaft … (auch im Blick auf die Gottesbeziehung)«.

Nacktheit und Scham in Genesis 2–3

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relational konnotiert und bezieht sich auf das Verhältnis eines Menschen zu dem, was ihn kultisch oder sozial umgibt. Das Charakteristische des bœ¬-Seins ist anhand von literarischen Beispielen zu erläutern: Im Aufstand Davids gegen Saul (1 Sam 20,30f.) kommt es zu einer Kumulierung von Scham-Schande-Aussagen. Als Sauls Sohn Jonathan sich für seinen Freund David bei seinem Vater entschuldigt, daß dieser in seine Heimatstadt zog, anstatt sich bei Hofe zu zeigen, beschimpft Saul seinen Sohn wie folgt: 30 Da entbrannte der Zorn Sauls über Jonathan, und er sagte zu ihm: »Hurensohn, ich weiß doch, daß du dich mit dem Sohn Isais verbündet hast! Schande über dich und Schande über die Scham [oder Blöße; hebr.‘arevah] deiner Mutter. 31 Wahrhaftig, solange der Sohn Isais auf Erden lebt, wirst weder du Bestand haben noch dein Königtum. Wohlan, sende hin und hole ihn zu mir, denn er ist des Todes.18 Hier kritisiert Saul seinen Sohn erstaunlicherweise nicht für seine Treue gegenüber dem Freund David und dem Verrat am Vater. Denn Jonathan hatte ja den Freund bei seiner Revolte gegen den eigenen Vater unterstützt. Nein, der König kritisiert seine Unbedachtheit: Jonathan scheint nicht zu sehen, daß er nicht nur sich um die Thronnachfolge bringt, indem er die Revolte seines Freundes stützt, sondern auch seine Mutter mitsamt dem königlichen Harem dem Usurpator ausliefert, wie es damals im Falle einer Niederlage üblich war. »Das Schlimmste war also nicht das begangene Unrecht, sondern der Umstand, daß dies auch noch schlecht durchdacht und damit lächerlich war, kurz: eine Blamage für den angesehenen Königssohn«.19 Wichtig für unser Thema ist die Phrase »Schande über dich und Schande über die Scham/Blöße deiner Mutter«.20 Das Wort für Scham oder Blöße ist im Hebräischen durch das Nomen ‘arevah wiedergegeben.21 Die hebräische Wendung läßt sich folgendermaßen darstellen: »Zu deiner bœ¬æt und für die bœ¬æt der Scham/Blöße (‘arevah) deiner Mutter« – d.h. dass bœ¬æt lediglich in der zweiten Wendung sexuell konnotiert ist.22 Die Passage ist im Kontext eines für selbstverständlich erachteten Kriegsrechts zu verstehen, nach dem die nackte

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In der Übersetzung von F. Stolz: Samuel [Anm. 14] 134; unklar bleibt mir die Analyse von Herbert Niehr, ‘arah. In: ThWAT [Anm. 5]. Bd. 6. 369–380, hier: 372; s.E. bezeichnet das Nomen den Mutterschoß, um anzuzeigen, daß Jonathan von Anfang an in Schande lebt. 19 So die Auslegung von H. Seebaß: ThWAT [Anm. 5] 572. In diesem Sinne auch F. Stolz: Samuel [Anm. 14] 138. 20 Vgl. P. Kyle McCarter: I Samuel. A Commentary with Introduction and Commentary (New York 1980) 334: »to the disgrace of your mother’s nakedness you are in league with the son of Jesse«. 21 Vgl. Herbert Niehr: ThWAT [Anm. 18] 371f. 22 Ludwig Koehler/Walter Baumgartner: Hebräisch Aramaäisches Lexikon [= HAL]. Bd. 3 (Leiden 1983) 835. S. auch Gen 9,22.

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Zurschaustellung von Gefangenen wie auch die Vergewaltigung von Frauen als Gestus der Erniedrigung zelebriert wurde.23 Dasselbe Wort »Scham, Blöße (‘arevah)« begegnet auch in Gen 9,2224: 18 Die Söhne Noahs, die aus der Arche gingen, waren Sem, Ham und Jafet. Ham, das ist der Vater Kanaans. 19 Diese drei waren die Söhne Noahs, und von ihnen aus wurde die ganze Erde bevölkert. 20 Und Noah, der Ackerbauer, war der Erste, der einen Weinberg pflanzte. 21 Und er trank von dem Wein und wurde betrunken, und er entblößte sich im Innern seines Zelts. 22 Da sah Ham, der Vater Kanaans, die Blöße seines Vaters, und er sagte es seinen beiden Brüdern draußen. 23 Sem und Jafet aber nahmen einen Überwurf, legten ihn auf ihre Schultern und deckten, rückwärts gehend, die Blöße ihres Vaters zu. Ihr Gesicht hielten sie abgewandt, so daß sie die Blöße ihres Vaters nicht sahen. 24 Und Noah erwachte aus seinem Rausch und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte. 25 Da sprach er: Verflucht sei Kanaan. Diener der Diener sei er seinen Brüdern. Der Effekt der Schande oder Beschämung ist hier umgedeutet in das Handlungsmuster des Fluchs25, durch den sich der Vater seiner Schmach zu entledigen sucht.26 Unterschwellig dienen Blöße/Nacktheit und Schande (bzw. Tabubruch)27 auch hier zur Kennzeichnung sozialen Versagens, ohne daß der Begriff der Scham fällt. Es ist nicht etwa gesagt, daß Noah sich schämt, weil er getrunken hat und sich nackt seinen Kindern exponiert – darüber geht der Text stillschweigend hinweg. Es ist aber die Untätigkeit bzw. Geschwätzigkeit des Sohnes Ham, die ihm

23 S. in diesem Kontext Jes 47,3; Jes 20,4; Mi 1,11 (H. Niehr: ThWAT [Anm. 18] 372). Als eine Steigerung der Strafe wird erachtet, daß sie durch Frauen an Männern vollzogen ist und somit eine verschärfte Form der Erniedrigung vorliegt. 24 Vgl. zu der literarischen und theologischen Zuordnung des Texts zuletzt Martin Arneth: Durch Adams Fall ist ganz verderbt … Studien zur Entstehung der alttestamentlichen Urgeschichte (Göttingen 2007) 200–211; Andreas Schüle: Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1–11) (Zürich 2006) 355–367. Die Übersetzung ist der Neuen Zürcher Bibel [= NZB]. (Zürich 2009) entnommen. 25 Kompositorisch stellt dieser Fluch auch das tragende Element für die Interpretation dieses Textes dar und nicht etwa das Faktum des betrunkenen Noah; vgl. dazu M. Arneth: Adam [Anm. 24] 207ff.; vgl. A. Schüle: Prolog [Anm. 24] 360. 26 Vgl. J.S. Bergsma/S.W. Hahn, Noah’s Nakedness and the Curse on Canaan (Genesis 9.20– 27). In: Journal of Biblical Literature 124 (2005) 25–40, die unter Rekurs auf Lev 20,17 die Formulierung als Euphemismus für (mütterlichen) Inzest als mögliche Motivation des Fluchs ansehen; zur Kritik Schüle: Prolog [Anm. 24] 357, der betont, daß die Bestimmung auf die Frau des Vaters abzielt, die nicht notwendigerweise identisch mit der Mutter ist. Chr. Levin: Der Jahwist (Göttingen 1993) 118–120, sieht in der Wendung »die Blöße sehen« einen Euphemismus zur Bezeichnung eines sexuellen Übergriffs auf den Vater (vgl. Lev 20,17: hier allerdings »die Blöße aufdecken«). 27 Dazu A. Schüle: Prolog [Anm. 24] 356ff.

Nacktheit und Scham in Genesis 2–3

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zur Schande gerät.28 Den drei Erzählungen ist gemeinsam, daß ein Sohn seiner Funktion nicht gerecht wird – und daraus resultiert implizit oder explizit die Beschämung.29 Interessant ist noch folgender Beleg in Ez 16, der sowohl im weiteren Wortfeld von Sexualität angesiedelt ist als auch in einer statusgeprägten bœ¬-Aussage mündet30: Ez 16,7.22.39: bes. 36: So spricht Gott der Herr: Weil deine Monatsblutung (neμo¬aet) sich ergossen hat und bei deiner Hurerei deine Scham (‘arevah) aufgedeckt wurde … 39 Und ich werde dich in ihre [der Liebhaber; Feinde] Hand geben …, und sie werden dir deine Kleider ausziehen und dir deine Schmuckstücke nehmen und dich nackt und bloß (‘eyrôm we‘eyreyah) liegen lassen. Dieses prophetische Gerichtswort beschließt den langen Bericht, wie Jahwe das die Stadt Jerusalem symbolisierende Mädchen als Findelkind nackt auffindet (V. 7.22), einkleidet und aufzieht, um es schließlich als Strafe für sein unloyales Verhalten in die anfängliche Mittellosigkeit zurückzustoßen. Der Sexualbezug dieser Stelle ist offensichtlich. Die Wortwahl zeigt aber, daß zur Beschreibung des ehebrecherischen Verhaltens nicht auf ein Derivat von ‘eyrôm (vgl. Gen 2,25 u.ö.) zurückgegriffen wird, sondern zwei synonym gebrauchte Nomina für die weibliche Scham, das schon erwähnte (‘arevah) und neμo¬aet 31 verwendet werden. Das in Gen 2 belegte Adjektiv ‘eyrôm dient der Kennzeichnung der Folge ihrer schamlosen Zurschaustellung (V. 39). Es bezeichnet auch in Ez 16 Statusverlust. Dieser wird am Ende des Kapitels in einen Zusammenhang gestellt mit bœ¬, in der Aufforderung zum Sich-Schämen bzw. die eigene Schande zu tragen (V. 52). Im Zentrum dieser Passage geht »Nacktheit« wiederum einher mit In-SchandeSein als Konsequenz unloyalen Verhaltens gegenüber Gott.

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Vgl. Claus Westermann: Genesis 1–11 (Neukirchen-Vluyn 1984) 653 mit Hinweis auf das ugaritische Aqhat-Epos, in welchem die Sohnespflicht folgendermaßen charakterisiert ist: KTU 1.17 I,30 »der seine Hand ergreift bei Trunkenheit, der ihn trägt 31 [bei] Sättigung mit Wein …« vgl. Otto Kaiser (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Bd. III/6 (Gütersloh 2005) 1258 (Übersetzung M. Dietrich/O. Loretz). 29 Eine Steigerung erfährt der Zusammenhang von Wein, Blöße und Schande in Hab 2,15: »Wehe dem, der seinen Gefährten einschenkt, sie aus ‚seinem Giftkrug‘ trunken machte, um sich ihre Blöße anzusehen. Du hast dich gesättigt an Schande statt an Ehre …«; vgl. zur Übersetzung Lothar Perlitt: Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja (Göttingen 2004) 76. 30 Übersetzung der NZB [Anm. 24]. S. auch Hos 2,5: Sonst ziehe ich sie [die Ehebrecherin] nackend aus und setze sie aus, wie am Tage ihrer Geburt. Vgl. F. Hartenstein, »Und sie erkannten« [Anm. 10] 291 mit Anm. 59. 31 neμo¬aet II ist von akkad. naμ¬atu «Menstruation» (AHw 715b) abzuleiten und hat etymologisch mit naμa¬ »Schlange« oder neμo¬aet I »Kupfer« (vgl. Nechustan, das bronzende Schlangenidol in Num 21,9; 2 Kön 18,4) nichts gemein; vgl. HAL [Anm. 22] 653; Hans-Walter Fabry: Art. neμo¬aet. In: ThWAT [Anm. 5]. Bd. 5, 398.

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Ich komme nun zu dem bereits zitierten Vers Gen 2,25. Am Ende des zweiten Berichts vom Schöpfungshandeln Gottes schließt eine kurze Notiz den Bericht ab: »Und es ergab sich, daß die zwei nackt waren, der Mann und seine Frau – aber sie schämten sich nicht.« Die Nacktheit32 der ersten Menschen wird in Gen 2 erstaunlicher Weise verknüpft mit dem Gedanken des Sich-Nicht-Schämens. Das Motiv wird insofern zu einem Schlüsselbegriff der Erzählung, als sich der Zustand von Nacktheit und Nicht-Schämen im Laufe des Berichts ändert, als nämlich das Menschenpaar seine Nacktheit erkennt und sich bekleiden will (3,7) und am Ende der Paradieserzählung – im Kontext von den Strafsprüchen und der Vertreibung – Gott selbst Mann und Frau einen Rock macht, um sie einzukleiden. In diesem Vers hat der jüdische Rabbi und Exeget Benno Jacob den Schlüssel des gesamten zweiten Schöpfungsberichts in Gen 2–3 gesehen. Seiner Meinung nach ist die »Bekleidung mehr als Schutz gegen Kälte oder eine Zier. Sie ist das erste und unerläßliche Merkmal einer menschlichen Gesellschaft und für das sittliche Gefühl das Zeichen, das den Menschen äußerlich vom Tier unterscheidet«.33 Und auf dieses Zusammenspiel von Nacktheit, Scham und Relationalität kommt es mir im Folgenden an.

II. Nacktheit und Scham in der jüdischen Antike Schon das kurze Zitat von Benno Jacob zeigt an, daß Nacktheit und Scham in Gen 2–3 etwas mit »sittlichem Gefühl« oder auch Moral zu tun haben soll, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Nacktheit und Scham avancieren demnach zu einer anthropologischen Bestimmung. Wir hätten es dann in Gen 2 zu tun mit einem Urmenschen, der insofern unkultiviert oder unfertig ist, als seine Entwicklung sich noch in einem frühen, tierähnlichen Stadium befindet. Dieser Ansatz findet sich z.B. in dem im 2. Jh. v. Chr. entstandenen Jubiläenbuch. Dieses Werk hellenistischer Auseinandersetzungsliteratur hat das Thema der Nacktheit in freier und theologisch interpretierender Weise aufgegriffen und pointiert ist (s. bes. Jub 3). 26 Und er [Gott] machte ihnen Kleider von Fell, und er kleidete sie und schickte sie hinaus aus dem Garten Eden. 27 Und an diesem Tag, als Adam herausging aus dem Garten Eden, opferte er zu schönem Wohlgeruch ein Rauchopfer: Weihrauch, Galbanum, Styrax und Narden am Morgen mit dem Aufsteigen der Sonne, von dem Tag an, da er seine Blöße bedeckte. 28 Und an diesem Tage verstummte der Mund aller Tiere und des Viehs und der Vögel

Das Adjektiv ‘arûm ist in der Bedeutung »nackt« andernorts im Kontext der Geburt belegt (Hi 1,21; Koh 5,14), in Hos 2,5 als Strafhandlung sowie in 1 Sam 19,24 in einer Schilderung von prophetischer Ekstase (Sauls). 33 Das Buch Genesis (Stuttgart 2000) 125. 32

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und derer, die gehen und sich bewegen vom Reden. Denn sie hatten alle geredet, einer mit dem anderen, eine Lippe und eine Zunge. 29 Und er schickte aus dem Garten Eden alles Fleisch … 30 Und den Adam, ihm allein gab er, daß er seine Blöße bedeckte, von allen Tieren und Vieh. 31 Deswegen ist geboten auf den Tafeln für alle, die kennen Recht und Gesetz: Sie sollen ihre Scham bedekken, und sie sollen sich nicht entblößen, wie die Heiden sich entblößen.34 Einige wichtige Regeln für das Menschsein nach jüdischer Sicht sind hier eingeführt: 1. Nacktheit und Kult: Für den rituellen Vollzug bzw. das Opfer muß der Mensch bekleidet sein (V. 27; vgl. Ex 20,26; 28,42). Das Konzept distanziert sich damit deutlich von den hellenistischen Ritualen in den Gymnasien.35 2. Die Tiere verstummen, verlieren die gemeinsame Sprache des Paradieses, was einige Ausleger als Kollektivstrafe der Tiere in Folge des Übergriffs der Schlange interpretiert haben (vgl. Gen 11,7–8).36 3. Die Vertreibung aller Lebewesen zieht für Adam eine Sonderstellung nach sich, die bedeutet, daß er sich durch die Kleidung und die Befähigung zum Opferdienst von den Tieren unterscheidet (vgl. Gen 9,4ff.). Die Darstellung ist geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus, der das Phänomen der kultischen Nacktheit kannte. Davon setzt sich Jub 3 ab, indem hier – im Anschluß an ein Zitat von Gen 2,25 in sehr freier Auslegung des zweiten Schöpfungsberichts – Bekleidung infolge des Auszugs aus dem Gottesgarten als Bedingung für die Begegnung von Gott und Mensch vorausgesetzt ist. Interessant ist, daß es auch hier um Relation und nicht um Körperempfinden geht. In der kanonischen alttestamentlichen Literatur ist auffällig, daß im Kontext eindeutig erotischer Szenen Nacktheit und Scham keine Rolle spielen. Schlüpfrige Szenen in der hebräischen Bibel sind eng verwoben mit dem Motiv der Bekleidung. Von Tamar ist gesagt, daß sie sich als Prostituierte verkleidet und verschleiert, um ihren Schwiegervater Juda zu verführen (Gen 38,14). Josephs Attraktivität gegenüber Potiphars Frau entfaltet voll bekleidet ihre Wirkung. Erst als er sich vor ihr rettet, muß er sein Gewand zurücklassen. Und das ist narrativ insofern auch nötig, damit die Frau gegen ihn etwas »in der Hand hat«, wenn sie ihn bei ihrem Mann als des versuchten Ehebruchs bezichtigt. Auch Tamar trug eine Tunika, als ihr Halbbruder Ammon sie vergewaltigte, die übrigens als königliches Gewand besondere Aufmerksamkeit erfährt und ausführlich beschrieben ist

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In der Übersetzung von Klaus Berger: Das Buch der Jubiläen. In: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Bd. II/3, hg. von Hermann Lichtenberger (Gütersloh 1981) 337f. 35 Vgl. die Hinweise von K. Berger: Jubiläen [Anm. 34] 336 ad 16a ; 337f. ad 27c. 36 Vgl. Flavius Josephus, Ant. 1,41 ; Vit.Ad. 1,18 ; Philo, Quaest in Gen 1,32 in Anlehnung an Gen 11,7–8 (Turmbauerzählung).

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(2 Sam 13,8). Und selbst die Nacktheit von Batseba, in die David sich verliebt (2 Sam 11,2), oder auch von Susanna, der von zwei alten Männern nachgestellt wird, beide beim Bade geschildert, verhandeln mit keiner Silbe das Thema Scham oder Unzucht37, sondern benutzen das Motiv der Nacktheit als Metapher für die Verletzlichkeit der beiden Frauen, wie sie im Voyeurismus der Männer evoziert ist.38 So ist es nicht verwunderlich, daß in den Quellen Nacktheit sehr situationsbezogen zu interpretieren ist.39 Denn Nacktheit ist nicht gleich Nacktheit. Auch in der modernen Gesellschaft assoziiert man mit der Nacktheit von Menschen Unterschiedliches wie z.B. neben Erotik auch Armut, Prostitution, ein bestimmtes Naturverständnis, unberührtes Kindsein usw. Anhand von drei Beispielen möchte ich die Bedeutung von Nacktheit im antiken Judentum aufzeigen.

1. Nacktheit in den Gymnasien der hellenistischen Zeit Mit der Nacktheit von Männern ist in den Augen antiker Juden zumeist die Zurschaustellung des Penis gemeint, welche, vor allem im religiösen Kontext, als ein Sakrileg verstanden wurde.40 In dieser Anschauung dürfte sich das Judentum sehr bewußt von dem seit dem Aufkommen des Hellenismus bekannten Betrieb der Gymnasien sowie der Darstellung von nackten Göttern auf Statuen absetzen (vgl. 1 Makk 1,14ff.). 14 Und einige aus dem Volk entschlossen sich, zum König zu gehen; der gestattete ihnen, heidnische Lebensweise einzuführen. 15 Da richteten sie in Jerusalem eine Kampfbahn her, wie sie auch die Heiden hatten, 16 stellten künstlich ihre Vorhaut wieder her und fielen vom heiligen Bund ab, paßten sich den andern Völkern an und gaben sich dazu her, allen Lastern zu frönen. In der Kritik an den Gymnasien des 2. Jh., wie sie in 1 Makk 1 hervorgehoben ist,

37 Wenn auch mit Urs Winter: Frau und Göttin (Fribourg/Göttingen, 1983) davon auszugehen ist, »daß das Bild einer nackten Frau immer in Beziehung zur Sexualität und … zur weiblichen ›Fruchtbarkeit‹ steht« (95), ist der Gehalt in den zitierten Erzählkontexten differenzierter zu beurteilen. 38 Erst in hellenistischer Zeit werden diese und ähnliche Bibelstellen von jüdischen Schriftstellern im Sinne eines bewußten Exponierens weiblicher Nacktheit zum Zwecke der Verführung des Mannes ausgelegt, so z.B. Pseudo-Philo Lib. Ant. 18,13 zu Num 25; Test. Ruben 3,11–15. 39 S. dazu ausführlich Michael L. Satlow: Jewish Constructions of Nakedness in Late Antiquity. In: Journal of Biblical Literature 116 (1997) 429–454. Allerdings sind davon abzugrenzen die Sexualgesetze, z.T. im Horizont der Großsippe (z.B. Lev 18,7–23; 20,10–21 zu sexuellen Tabus und Blutschande durch Ehebruch u.a. – zu kommentierenden Textbeispielen aus Qumran vgl. H. Niehr: ThWAT [Anm. 18] 374f. 40 Vgl. M.L. Satlow: Jewish Construction [Anm. 39] 431ff. mit Textbelegen.

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steht nun nicht die Nacktheit der jüdischen Männer an sich im Vordergrund, sondern ihr Ansinnen, »künstlich ihre Vorhaut wiederherzustellen« (1 Makk 1,16), um so das Unterscheidungskriterium innerhalb der jüdischen und paganen Bevölkerung zu eliminieren, das ja nur in nacktem Zustand sichtbar wurde. Da die Beschneidung als das Bundeszeichen zwischen Gott und Israel angesehen wurde (vgl. Gen 17), ist in dem Akt der Wiederherstellung der Vorhaut ein Abfall von Gott zu sehen. Zudem zählte der Betrieb in den Gymnasien zu den kultischen Verrichtungen des hellenistischen Religionsbetriebs und stellte auch diesbezüglich einen Abfall vom jüdischen Glauben (»Fremdgötterkult«) dar. In den Synagogen nachchristlicher Zeit ist Nacktheit nur sehr vereinzelt belegt. Archäologische Zeugnisse zeigen in der Synagoge von Dura Europos (Syrien; 2. Jh. n. Chr. Darstellungen nackter Jungen, Frauen und Kinder, wobei interessanter Weise bei den männlichen Darstellungen die Geschlechtsteile fehlen, während die Frauen in ihrer Körperlichkeit dargestellt sind (so z.B. die Szene von Pharaos Tochter, die das Moseskind aus dem Nil zieht). Nur aus der Synagoge in Hammat Tiberias ist aus einem Zodiak eine naturgetreue männliche Nacktdarstellung des Gottes Helios bekannt, die aber auf eine nichtrabbinische jüdische Gemeinschaft an diesem Ort zurückzuführen ist.41 Nacktheit war der Ausnahmefall, da Entblößung mit persönlicher Bloßstellung einherging. Sie evozierte Scham oder Schande, wenn der nackte Mensch mit religiösen oder kultischen Dingen in Berührung kam. 42

2. Aufenthalt im Badehaus Daß Nacktheit in alltäglichen Situationen aber auch etwas Selbstverständliches haben konnte, zeigt das folgende Beispiel aus dem babylonischen Talmud: Peroklos der Philosoph fragte R. Gamliel in Akko, als dieser im AphroditenBade badete: Es heißt in eurer Tora: nichts vom mit dem Banne Belegtem soll an deiner Hand kleben bleiben, wieso badest du nun im Aphroditen-Bade? Dieser erwiderte: Man antwortet nicht in einem Badehause. Als er hinausgegangen war, sprach er zu ihm: Ich kam nicht in ihren Bereich, sondern sie in mein [sic!] Bereich. Man sagt nicht, das Bad sei zur Ausschmückung der Aphrodite errichtet worden, sondern die Aphrodite sei zur Ausschmückung der Badeanstalt

41

Vgl. Moshe Dotan: The Synagogue at Hammath-Tiberias. In: Ancient Synagogues Revealed, ed. by Lee I. Levine (Jerusalem 1981) 63–69, hier: 66f. 42 Satlow betont, dass die Wahrnehmung von Nacktheit in religiösem oder sozialem Kontext analog zu verstehen ist: »For men, nakedness has everything to do with the intermingling of sacred and social meanings. Relationships between men and their social superiors are mapped analogously to the relationship between men and God.« (Jewish Constructions [Anm. 39] 440).

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aufgestellt worden. Und noch etwas anderes: Wenn man dir auch viel Geld geben würde, so würdest du dennoch nicht nackt und pollutionsbehaftet vor die Gottheit treten und vor ihr urinieren, diese aber steht vor der Rinne und das ganze Volk uriniert vor ihr. Es heißt [in der Schrift]: ihr Götter, was wie ein Gott behandelt wird, ist verboten, was nicht wie ein Gott behandelt wird, ist erlaubt.43 Diesem Text zufolge kennt Rabbi Gamliel keine Scham, sich im Badehaus aufzuhalten. Er geht auch nicht etwa hinaus für die Unterhaltung – z.B. um sich anzukleiden –, sondern weil nach jüdischer Anschauung das Reden über religiöse Dinge im Badehaus nicht gestattet ist. Die Antwort, die er gibt, argumentiert mit der Profanität des Ortes. Weder stört ihn in einem Badehaus die Anwesenheit einer griechischen Göttinnenfigur, die er seiner Auffassung nach auch gar nicht als göttliche Darstellung wahrnehmen kann: Der Ort mit seinen Verrichtungen gebietet es, sie als pure Dekoration und nicht etwa als kultisches Objekt anzusehen. So steht weder der Verdacht des Nichtrespekts von Göttlichkeit im Raum noch der Vorwurf der Abgötterei: Der Ort und seine Verrichtungen schließen für den Rabbi einen kultischen Bezug aus und machen aus der Statue eine Dekoration und somit seine Präsenz im Bad möglich.44

3. Rabbinische Auslegungsvarianten zu Gen 9,22 Einige Rabbinen lassen Unverständnis erkennen angesichts einer grundsätzlichen Sanktionierung von Nacktheit, z.B. anläßlich der oben zitierten Passage von der Nacktheit Noahs (Gen 9,22). So wurde vermutet, daß sich die drastische Reaktion der Verfluchung Kanaans nicht allein auf das Faktum der Nacktheit bezieht, sondern vielmehr damit erklärt, daß Ham seinen Vater nicht nur nackt gesehen, sondern dessen Glied auch manipuliert habe. In diesem Sinne berichtet der babylonische Talmud bSanh 70a: Rab und Schemuel (streiten hierüber). Einer sagt: er [Ham] hat ihn [Noah] kastriert; und einer sagt: er hat ihn beschlafen. Der, der sagt, er hat ihn kastriert – aus seinem Verderben gegen den Vierten [Kanaan ist der 4. Nachkomme von Ham] (folgerte er) sein Verfluchen gegen den Vierten. Und der, der sagt, er hat ihn beschlafen, folgert (dies aus dem Wort) da sah er; hier steht geschrieben, da sah Ham, der Vater Kanaans, die Scham seines Vaters (Gen 9,22) …45

43

b‘Abod.Zar 3,4 zitiert in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt: Der Babylonische Talmud. Bd. 9 (Frankfurt/M. 1996) 572f. 44 Vgl. auch M.L. Satlow: Jewish Construction [Anm. 39] 435. 45 Zitiert nach D.U. Rottzoll: Rabbinischer Kommentar zum Buch Genesis (Göttingen 1994) 184f; auch in der zeitgenössischen Auslegung werden vergleichbare Lösungsansätze vertreten (vgl. C. Levin, Der Jahwist [Anm. 26] 119).

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Angesichts der Schwere der Fluchformel wird in der rabbinischen Rezeption von Gen 9 auf ein schwereres Delikt geschlossen, als es der Bibeltext nahelegt, indem Nacktheit/Blöße als Metapher für Beischlaf oder Kastration gedeutet ist. Die Beispiele zeigen einen sehr unterschiedlichen Umgang mit dem Phänomen von Nacktheit und Scham, der nicht erkennen läßt, daß Nacktheit unbedingt zu einer anthropologisch verhafteten Schamreaktion führt. Je höher ein Mensch im Ansehen stand, desto weniger durfte er sich nackt präsentieren. In diese Hierarchisierung paßt sich Sauls Vorwurf in 1 Sam 8,20 wie auch der Vater-Sohn-Konflikt von Gen 9 bzw. der Vater-Tochter-Konflikt in Ez 16 ein. Indessen war die nackte Präsentation von Kriegsgefangenen u.a. Niedrigstehenden im gesamten alten Orient gang und gäbe und galt als ein Zeichen der Erniedrigung.46

III. Zum Verhältnis von Nacktheit und Scham in Gen 2–3 Kommen wir nun zurück zu Gen 2–3. Die Tatsache, daß hier im Kontext einer Urstandserzählung Nacktheit neben Scham erwähnt ist, wurde in der Forschung als Hinweis auf einen körperbezogenen, moralisierenden Schambegriff gewertet.47 Es wurde allzu rasch ein Zusammenhang hergestellt zwischen Sexualität und dem göttlichen Verbot, vom Baum der Erkenntnis von gut und böse zu essen (Gen 2,16f). Erst nachdem Mann und Frau von dem Baum gegessen haben, erkennen sie, daß sie nackt sind und versuchen ihr Nacktsein mit dem viel zitierten Feigenblatt zu vertuschen (3,7). Der Vermerk auf die Relationalität des Sich-Schämens als mögliche Scham voreinander (bô¬ hitpolal) darf nicht überinterpretiert werden. Auch der Umstand, daß das Verb yadah »erkennen, wissen« in figurativer Rede auch den Geschlechtsakt bezeichnen kann48, reicht kaum aus, um eine Verbindungslinie zwischen Baum der Erkenntnis und Sexualität in Gen 2–3 zu ziehen.49 M.E. führt diese Fokussierung angesichts der Komplexität dieser

46 Tracy M. Lemos: Shame and Mutilation of Enemies in the Hebrew Bible. In: Journal of Biblical Literature 125 (2006) 225–241, zu Erniedrigungsriten wie Rasur, Freilegung der Genitalien u.a. als einer Art der Feminisierung der Männer oder aber als von Frauen vollzogenen Akten (vgl. Jael in Ri 4,9; Judit 13–14). 47 So hat L. M. Bechtel die Erzählung als Mythos der Entwicklung des geschlechtsreifen Menschen gelesen (Genesis 2,4B–3,24): A Myth about Human Maturation. In: Journal of Studies in the Old Testament 67 (1995) 3–26; andere Konzepte bei C. Westermann: Genesis [Anm. 28] 331; zur Kritik A. Grund: »Und sie schämten sich nicht …« [Anm. 4] 119 m. Anm. 33 (zur neueren Literatur). 48 So ist z.B. in Gen 4,1: Und der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Kain, von der sexuellen Komponente die Rede, während in 3,20 der Mann die Frau entsprechend ihrem Fluchspruch benennt und sich somit zu eigen macht (vgl. Gen 2,19, Benennung der Tiere) und sie abstrakt als Mutter des Lebens tituliert. 49 In diesem Sinne auch M. Arneth: Adam [Anm. 24] 126f., der die Entdeckung der »ethischreligiösen Personalität« voraussetzt. – Aufgenommen wird in die Diskussion gern Gilgamesch, Taf. 1, 195–198 (Enkidu und die Dirne Schamchat; s.o. mit Anm. 7ff.).

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Erzählung zu einer unzulässigen Engführung.50 In Gen 2–3 haben Sexualität und die Erkenntnis von gut und böse nichts miteinander zu tun. Vielmehr ist die Erzählung streng ätiologisch ausgerichtet, was ausschließt, daß es sich um eine klare Trendwende von einem positiven Urzustand zu einem negativen Jetztzustand handeln kann. Ätiologien nehmen stets die Perspektive der Jetztzeit ein, um diese rückblickend zu erklären. Und da fällt auf, daß dem Urmenschen im Garten »vor dem Fall« wenig Interesse gezollt ist. So bemerkte schon K. Schmid, daß der einzige auf den Menschen bezogene Zustandssatz51 eben der zitierte Vers ist, nach dem die Nacktheit und das Nichtschämen des Menschen herausgestellt sind. Diese Funktion des Zustandsatzes ist, den weiteren Erzählverlauf und besonders die Wende in Gen 3,7 (die Erkenntnis der Nacktheit und die Folgen des Erkennens von gut und böse) vorzubereiten. Auch wenn die Fluchsprüche am Ende der Erzählung (Gen 3,14–19) eine Daseinsminderung des »paradiesischen Zustands« intendieren, so implizieren sie doch auch Positives: Denn der Mühsal der Arbeit und dem Geburtsschmerz steht das errungene Wissen um die Existenz von gut und böse entgegen.52 Der hebräische Text leitet den Leser dank eines Wortspiels, genauer, der Assonanz von ‘arôm »nackt« (2,25) und ‘arûm »klug, listig«, als Attribut der Schlange im nachfolgenden Vers Gen 3,1. Dieses setzt Nacktheit und Streben nach Weisheit zueinander in Beziehung. Die meisten Bibelübersetzungen geben ‘arûm durch »listig oder schlau« wieder, was aber eine Nebenbedeutung ist. Vor allem im Kontext weisheitlicher Spruchdichtung53 finden sich zahlreiche Belege, die die ausgesprochen positiv bewertete Klugheit des Weisen hervorheben.54 Ein Blick in die griechische Übersetzung des Alten Testaments (Alexandrien, ca. 3. Jh. v. Chr.) zeigt, daß sie das Verständnis von Gen 3,1 in diesem Sinne verdeutlicht hat. Der Komparativ wird zu einem Superlativ, und an die Stelle des sonstigen Standardäquivalents für ‘arûm, πανοῦργος »klug«, tritt das eindeutig

50 Kritisch dazu äußert sich bereits David Carr: The Politics of Textual Subversion. A Diachronic Perspective on the Garden of Eden Story. In: Journal of Biblical Literature 112 (1993) 577–595, spec. 588; Konrad Schmid: Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2f. und ihrer theologischen Tendenz. In: Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 114 (2002) 21–39, bes. 27f. m. Anm. 39. 51 Ebd. 33. Unterstützend ist das philologische Argument der verwendeten Imperfekt-Verbform und ihres iterativen Aussagegehalts. 52 Vgl. dazu K. Schmid: Unteilbarkeit [Anm. 50] 33. 53 Vgl. zu der Trias Erkenntnis (da‘at) – Klugheit (‘aram / ‘ormah) – Weisheit (µokmah) im Proverbienbuch Gerhard von Rad: Weisheit in Israel (Neukirchen-Vluyn 1970) 116f ; vgl. H. Niehr: ThWAT [Anm. 18] 388. 390. 54 K. Schmid: Unteilbarkeit [Anm. 50] 34f. Wiederholt hat man die Klugheit der Schlange als gegengöttliche Weisheit verstanden und sie als Ausformung der ägyptischen Göttin Renenutet angesehen (M. Görg: Die ›Sünde‹ Salomos. In: Biblische Notizen 16 (1981) 42–59, bes. 50–53; aufgenommen von Niehr: ThWAT [Anm. 18] 389.

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positiv konnotierte φρόνιμοϚ.55 Das bedeutet, daß die griechischen Übersetzer die Stelle durchaus positiv verstanden haben. Interessant ist der Gedanke, daß die Homophonie im Hebräischen die Ambiguität der Formulierung betont, die zwischen der faktischen Nacktheit der Schlange und ihrer Klugheit oszilliert.56 Die Verknüpfung von Nacktheit und Klugheit geschieht ein zweites Mal in Gen 3,7: »Ihrer [d.h. die von Mann und Frau] beiden Augen gingen auf und sie erkannten, daß sie nackt waren«. Somit bezieht sich der erste Erkenntnisakt bezüglich der Unterscheidung von gut und böse auf die eigene Nacktheit. Verbinden wir den Erkenntnisakt mit der oben anhand von Gen 2,25 erhobenen Bedeutung von Nacktheit im Alten Testament, dann geht es auch in 3,7 um eine soziale oder relationale Kategorie.57 Man könnte diesen Vers also dahingehend verstehen, daß das Menschenpaar erkannte, daß es relational bestimmt und damit verletzbar war.58 An keiner Stelle in der Erzählung wird auf das Versprechen der Schlange zurückgegriffen »ihr werdet sein wie Gott«. Der Verdacht der Blasphemie wird demnach an keiner Stelle bestätigt.59 Vielmehr scheint es Eva um das Erkennen zu gehen (3,6) – und als dieses erreicht ist, erkennen beide ihre Differenz zu Gott und zueinander. Sie erfahren also die Ambivalenz menschlichen Daseins. Während der Mensch im Urzustand in einer Art Kokon (genannt »Paradies«) lebt, hat er durch den sogenannten »Fall« eine gewisse Autonomie von seinem Schöpfer und einen Fortschritt an Erkenntnis erreicht. Der Preis des Fortschritts ist aber das Wissen um die Differenz und Ambivalenz der Dinge, wie sie später in den Fluchsprüchen ausgeführt sind (3,14–19). Diese gipfeln in dem Ausspruch: »Im Schweiß deines Angesichts wirst du [= der Mann] dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück«. Die Sterblichkeit des Menschen

55

Vgl. Gen 41,33.39 zur Bezeichnung der ruhmvollen Klugheit Josephs. – Dazu ausführlicher Martin Rösel: Übersetzung als Vollendung der Auslegung (Berlin und New York 1994) 90; dass LXX hier eine eindeutig negative Konnotation eingetragen haben soll (so H. Niehr: ThWAT [Anm. 18] 392), ist falsch. 56 F. Hartenstein: »Und sie erkannten« [Anm. 10] 283 mit Verweis auf Paul Kübel: Ein Wortspiel in Genesis 3 und sein Hintergrund: Die ‚kluge‘ Schlange und die ‚nackten‘ Menschen. In: Biblische Notizen 93 (1998) 11–22, bes. 17 zu dem doppelten Betrug der Schlange. 57 Vgl. dazu auch F. Hartenstein: »Und sie erkannten« [Anm. 10] 277ff. 58 Interessant ist, daß die Lust bzw. Gier der Frau (3,5 ta’awah) nicht auf den anderen Menschen, sondern auf den Baum der Erkenntnis zielt, d.h. ein ansonsten sexuell konnotierter Begriff in weisheitliche Richtung umgedeutet ist. 59 Die Begründung der Vertreibung des Menschen aus dem Garten (Gen 3,22) nimmt den Gedanken der Gottähnlichkeit nochmals auf. Dies kann aber durchaus ironisch verstanden werden, wenn man bedenkt, daß der Mensch klug wie Gott werden möchte aber lediglich die eigene Nacktheit erkennt; vgl. dazu auch Paul Kübel: Metamorphosen der Paradieserzählung (Fribourg/ Göttingen 2009) 97 wie auch bereits Hans-Robert Jauss: Die Mythe vom Sündenfall. In: Text und Applikation. Poetik und Hermeneutik. Bd. 9, hg. von Manfred Fuhrmann, Hans-Robert Jauss, Wolfram Pannenberg (München 1981) 25–35, hier: 26.

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ist seit Beginn der Erzählung gegeben. So wird sie auch nur im Fluch an den Mann erinnert, ohne daß in Zweifel stünde, daß sie nicht ebenso für die Frau gilt. Denn schließlich ist der Mensch aus Staub gemacht (2,7) – einer typisch altorientalischen Umschreibung für die Menschenschöpfung, die dessen Vergänglichkeit stets intendiert.60 Der Mensch war sich dieser Grenze anfangs nur nicht bewußt, war ohne Kenntnis und unternahm so auch gar keine Anstalten, sich z.B. dem Baum des Lebens zu nähern, dessen Zugriff dem Menschen ja interessanterweise nicht verboten war.61 Doch worauf verweist das Nicht-Schämen in 2,25? In der übrigen Erzählung begegnet das Verb selbst nicht mehr. Lediglich implizit ist schamhaftes Verhalten angezeigt. Ich denke hier aber nicht an die provisorische Verkleidung mit Hilfe eines Feigenblattes (3,7), sondern an die sich anschließenden Verse, die die Befragung Gottes zum Thema haben. Als die Menschen sich vor Gott verstecken (3,8) und dieser sie darauf anspricht, begründen sie ihr Handeln mit einer Angst, die aus dem Wissen um ihre Nacktheit resultiert (3,10). Gott fragt daraufhin, wie es zu diesem neuen Wissen kommt, warum der Mensch plötzlich um seine Nacktheit weiß. Auch hier scheint mir die interpretierende Übersetzung durch »Verletzbarkeit« passend und sinnvoll zu sein. Gott spricht den Menschen auf die Verantwortlichkeit für sein Tun an, worauf dieser nur mit einer Ausflucht, nämlich mit einer Schuldzuweisung an die Frau reagieren kann – und somit die Ambivalenz seines Handelns sogleich unterstreicht: Er erweist sich als der Unterscheidung von gut und böse nicht mächtig, da er eigentlich nicht versteht, wie ihm geschieht. Er kann sich seiner Bezogenheit nicht mehr sicher sein. Interessanterweise ist der Begriff des Sich-Schämens hier nicht noch einmal aufgenommen, sondern durch den der Furcht ersetzt. Beide Begriffe verweisen aber auf dasselbe anthropologische Phänomen des drohenden Ehrverlusts oder, um in der urgeschichtlichen Terminologie zu bleiben, des Zu-Schanden-Werdens. Jan Assmann hat das Zu-Schanden-Werden in seiner relationalen Dimension folgendermaßen beschrieben: So »bildet man ein Gesicht aus, das man den anderen zeigt, das im Blick der anderen sich formt, und das man zu verlieren fürchtet. Dieses Gesicht heißt ‚Ehre‘, und diese Furcht heißt ‚Scham‘. Scham ist die Sorge um das Erscheinungsbild, das man anderen zeigt. Es wird gefährdet, nicht durch Schuld, sondern

60 Vgl. Konrad Schmid: Loss of Immortality. Hermeneutical Aspects of Genesis 2–3 and Its Early Receptions. In: Beyond Eden, ed. by Konrad Schmid and Christoph Riedweg (Tübingen 2008) 58–78. 61 Äußerst interessant wäre hier der Vergleich mit dem Gilgamesch-Epos, in dem die Jagd nach der Pflanze des ewigen Lebens ja ein wichtiges Motiv ist, das sicherlich für Gen 2–3 Pate gestanden hat. Doch das führte in diesem Rahmen zu weit (vgl. F. Hartenstein: »Und sie erkannten« [Anm. 10] 283f.). – Erst in Gen 3,24 ist die Vertreibung aus dem Garten auch mit dem Zugangsverbot zum Baum des Lebens begründet.

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durch Schande. Damit ist eine Entblößung, Befleckung oder sonstige Versehrung dieses Erscheinungsbildes gemeint.«62 Der Mensch scheint sich unserer Erzählung nach des Quantensprungs, den er vollzogen hat, durchaus bewußt zu sein. Und daraus resultiert seine Furcht.63 Schon in diesem Stadium deutet sich das Faktum der »ehemals angesehenen Geltung oder Stellung, [die] gestürzt ist«64 an. Noch scheint an dieser Stelle das SichSchämen nicht ausgeprägt, sondern von der diffuseren Furcht angesichts drohender Verletzbarkeit geprägt.65 Das bedeutet aber, daß die aufkeimende Scham sich auf diese neue Erkenntnis beziehen dürfte und nicht etwa auf die urständische Nacktheit. Scham bringt vielmehr den Gedanken der Verletzbarkeit durch die Ambivalenz von Wissen-Wollen und Wissen-Können zum Ausdruck, wie sie in der Metapher der Nacktheit schon in Gen 2,25 zugegen ist. Am Ende ist es übrigens Gott selbst, der den Menschen im Anschluß an die Fluchsprüche mit Kleidung ausstattet (3,21), bevor er sie aus dem Garten vertreibt. Auch im Motiv der Bekleidung durch Gott ist nicht die Körperlichkeit und äußere Nacktheit des Menschen verhandelt, sondern sein ambivalenter Status, sein Wissen um die Fehlbarkeit und Verletzbarkeit. In einem letzten Akt66 versieht Gott den Menschen, bevor er ihn in sein autonomes Leben entläßt, mit einem »Schutzschild«67 und zeigt so seinen anhaltenden Willen zur Solidarität mit dem Menschen an.68

62

Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa (München und Wien 2000) 133f. 63 Etwas anders A. Schüle: Prolog [Anm. 24] 175, der die Entwicklung von Schambewußtsein mit der von Körperlichkeit parallel setzt (s. auch 356), zu der das Verantwortungsgefühl noch hinzutritt. Das gibt der Text m.E. wegen der fehlenden Wiederaufnahme von bœ¬ in Kapitel 3 nicht her. 64 H. Seebaß: ThWAT [Anm. 4] 571. 65 A. Schüle: Prolog [Anm. 24] 177. 66 Gewissermaßen handelt es sich hierbei um eine erste »kulturelle Errungenschaft«, die den Menschen im Verhältnis zu den übrigen Geschöpfen auszeichnet; dieser Gedanke ist ja auch in Jub 3 zugegen. 67 Vgl. in diesem Band J. Müller: Scham, der mit Augustin die Geschlechtsscham als Kainsmal der postlapsarischen Existenz des Menschen beschreibt. 68 Ähnlich dem Kainszeichen in Gen 4,15. – M. Arneth: Adam [Anm. 24] 208, weist darauf hin, daß Gott hier der gleiche Gestus zugesprochen wird, der Noah in Gen 9 von seinem Sohn versagt, von den anderen beiden nachgereicht ist.

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VI. Zusammenfassung Scham begegnet in alttestamentlichen Texten als ein sozial verortetes, relationales Phänomen69, das nicht zu trennen ist von der Außenwahrnehmung der eigenen Funktion bzw. Stellung. Diese Sicht prägt auch Gen 2–3. Das Ineinander von Nacktheit – Scham – Erkenntnis – Ausstattung zur Kompensation von Verlorenem entstammt einer weisheitlichen Tradition. Nacktheit ist in Gen 2–3 keinesfalls gedacht als ein erstrebenswerter Zustand. Die urständische Nacktheit ist kein Ideal. Aber sie zeigt auch kein Tabu an und ist schon gar nicht gemeint im Sinne einer Moralisierung oder Tabuisierung von Sexualität, wie sie sich in der Rezeptions- und Theologiegeschichte zu Gen 2–3 im Zuge der Erbsündenlehre ausgeprägt hat. Zwar wird der Mensch nackt geboren, ist aber im selben Moment genötigt seine N[acktheit] zu bearbeiten, indem er sich bekleidet. … Kleidung wird zur natürlichen Haut des Menschen. N[acktheit] gilt als Kontrastbild zum bekleideten Zustand und nicht umgekehrt.70 Wenn Nacktheit das Kontrastbild zum Normalzustand der Bekleidung ist und das Fehlen von Kleidung als Mangel qualifiziert ist, dann geht das noch nicht ausgeprägte Schamempfinden einher mit fehlendem Wissen, welches sich am Ende jedoch als ambivalentes Wissen entpuppt. Auf der Suche nach Weisheit wird der Mensch mit seinem menschlichen Gegenüber und mit Gott konfrontiert. Die Konfrontation hat Folgen für das menschliche Dasein, die aber nicht den Menschen an sich verändern, sondern seinen Blick auf die eigene Existenz, die er nun im »vergegenständlichenden Blick des anderen« wahrnimmt.71 Es ist dieser »zweideutige Blick, der beim Angeblickten Scham auslöst«, aber zugleich dazu führt, dem Selbstbewußtsein zu seinem Ursprung zu verhelfen.72 Der nach Weisheit strebende Mensch erhält also Einblick in seine Möglichkeiten und Grenzen. Und die Rede von der Nacktheit zeigt die Ambivalenz der Erkenntnis und die Defizienz des eigenen Seins.

69 Das hier skizzierte Verständnis von Scham fokussiert zuerst die gesellschaftliche Realität eines israelitischen Mannes – die Wahrnehmung der Nacktheit aus weiblicher Sicht wäre ein eigenes, in Gen 2–3 aber gar nicht in den Blick genommenes Thema ; vgl. dazu Angelika Berlejung: Körperkonzepte und Geschlechterdifferenz in der physiognomischen Tradition des Alten Orients und Alten Testaments. In: Der Mensch im Alten Israel. Neue Forschungen zur Alttestamentlichen Anthropologie, hg. von Bernd Janowski und Kathrin Liess (Freiburg 2009) 299–337, bes. 321ff. 70 Anja Lietzmann: Art. Kleidung und Nacktheit, RGG4 [Anm. 2]. Bd. 4, 1417. 71 So A. Grund: »Und sie schämten sich nicht« [Anm. 4] 115. 72 Käte Meyer-Drawe: Am Ursprung des Selbstbewußtseins: Scham. In: Scham, hg. von Alfred Schäfer und Christiane Thompson (Paderborn 2009) 37–49, hier: 43. Die ersten Menschen in Gen 2–3 »wollen Erkenntnis und entdecken ihre animalische Existenz« (42) – in Form einer »generellen Geschlechtlichkeit« (H. Lipps).

Martin F. Meyer

Scham im klassischen griechischen Denken

Man soll sich vor sich selbst nicht weniger schämen als vor den Menschen, und man soll, wenn niemand es erfahren wird, genausowenig etwas Schlechtes tun, als wenn es alle Menschen erfahren würden. Vielmehr soll man sich vor sich selbst am meisten schämen, und dies sollte ein festes Gesetz für die Seele sein, so daß man nichts tut, was sich nicht gehört. (Demokrit, DK 68 B 283)

Der vorliegende Beitrag behandelt das Phänomen der Scham im klassischen griechischen Denken. Er wird versuchen, die Geschichte der Schamempfindung anhand der überlieferten Texte von Homer bis in die Stoa nachzuvollziehen. Dabei – und dies sei einleitend vorausgeschickt – sind drei Dinge besonders wichtig: (i) Erstens weist das Phänomen der Scham stets auf einen bestimmten normativen Kontext: Die Schamempfindung ist, modern gesprochen, ein »soziales Phänomen«: Jemand schämt sich vor einer Person oder einer ganzen Gruppe. Er fürchtet um sein Ansehen, seine Ehre und seine soziale Position in dieser Gruppe. Im Moment der Scham offenbart sich ein normativer Konflikt: Der Schämende glaubt sich mit den Augen eines anderen oder mit den Augen mehrerer anderer zu sehen. Seine Scham ist wesentlich von der Annahme bestimmt, sein Verhalten erfülle nicht die von dieser Gruppe geteilten normativen Erwartungen. Insofern fürchtet er um seine Position und Achtung in dieser Gruppe. Er befürchtet einen Ehrverlust – er fürchtet um das, was die Griechen seit Homer die τιμή (oder prospektiv) den κλέος (Nachruhm) nennen.1 Die Schamempfindung verweist insofern auf ein unausgesprochenes Normenbewußtsein – genauer gesagt, der Schämende antizipiert einen normativen Kontext, dessen Verletzung potentiell den Verlust seiner Achtung in der normgebenden Gruppe nach sich zieht. Der Sachverhalt, daß es sich hier um ein unausgesprochenes Normenbewußtsein handelt, ist natürlich besonders aufschlußreich in Hinsicht auf solche Gesellschaften, die ihre normativen Grundüberzeugungen entweder noch gar nicht oder nur allenfalls partiell in schriftlich fixierte Normenwerke wie Gesetze

1 J. Latacz: Das Menschenbild Homers, in: Gymnasium 91 (1984), 15–39, 29 f. bestimmt als die drei wesentlichen Handlungsziele des Homerischen Menschen (a) Besitz (χρήματα) in allen Formen, (b) Ehre (τιμή) und (c) Ruhm (κῦδος, κλέος), »der möglichst weit, am besten über die ganze Welt hin […] und in die Nachwelt hinein […] reichen soll. Hiernach richtet sich die τιμή auf das aktuelle Ansehen in der Gegenwart, Ruhm eher auf das erwünschte Ansehen in der Zukunft. Nach E. R. Dodds: Die Griechen und das Irrationale (Darmstadt 1970) [engl. zuerst 1951], 15 bedeutet τιμή bei Homer soviel wie »öffentliche Hochschätzung«.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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oder Rechtsvorschriften transformiert haben. Sofern sich der Schämende hinsichtlich der normativen Erwartungen der entsprechenden Gruppe nicht irrt, geben die geschilderten Situationen also Auskunft über normative Regeln und Kontexte solcher, in der Forschung auch als »Schamkulturen« bezeichneten Gruppen.2 Die Schamempfindung fungiert so gesehen als historische Quelle für nicht direkt fixierte normative Kontexte, als »source of sociological data«.3 Indes ist diese Emotion nicht allein für die historische Rekonstruktion bedeutsam, sondern zugleich auch für das Normenbewußtsein der zeitgenössischen Rezipienten: Gerade durch die der Schamempfindung zugrundeliegenden Normvorstellungen treten diese in das moralische und rechtliche Bewußtsein der zeitgenössischen Griechen: Einige dieser Normvorstellungen nehmen in Form von sprachlich bzw. rechtlich fixierten Normen tatsächlich reale und konkrete Gestalt an. Namentlich das erste Auftreten einer sprachlich fixierten Rechtsidee weist auf einen engen Zusammenhang zur Scham. Dieser ethische und teils sogar rechtsgeschichtliche Aspekt rechtfertigt schon für sich genommen eine Beschäftigung mit dem Phänomen der Scham.4 (ii) Der zweite Punkt betrifft die anthropologische Dimension des Phänomens, genauer gesagt, eine bestimmte Eigentümlichkeit der menschlichen Natur: Der Mensch sieht sich nicht selbst – und er sieht vor allem nicht, wie er sieht. Ganz offenkundig aber sieht er sich mit den Augen von andern: Noch lange bevor er über sein eignes Sehen und Blicken nachdenkt, ist ihm bereits bewußt, daß und wie er gesehen wird. Dies ist bei der Entwicklung von kleinen Kindern ebenso beobachtbar wie in der Genese des griechischen Denkens: Es erklärt in gewisser Weise solch kulturübergreifende Phänomene wie den »bösen Blick«5 oder auch die Tatsache, daß die Augen des Menschen in der frühen Kunst regelmäßig überproportional groß dargestellt sind. Dabei ist der Blick des andern gerade für jene kulturellen Kontexte bedeutsam, die noch nicht über objektivierende Instrumente wie kristalline Spiegel oder gar Fotos, Filmgeräte etc. verfügen. Da der Einzelne in solchen Gesellschaften kein ›objektives‹ Bild von sich selbst kennt, läßt sich vermuten, daß dem Blick des andern hier eine stärker objektivierende Kraft

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Der Begriff ›Schamkulturen‹ ist von der amerikanischen Kulturanthropologie der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts (insb. von M. Mead) angeregt, nachhaltig geprägt hat ihn: E. R. Dodds: Die Griechen [Anm.1]. 3 D. L. Cairns, Aidos: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature (Oxford 1992) 265. Dieses ausgezeichnete Buch ist die beste Quelle für alle wesentlichen Stellen zur Scham im griechischen Denken. 4 In eine ähnliche Richtung gehen auch die Überlegungen von B. Williams: Shame and Necessity [Sather Classical Lectures]. 2. Ed. With a New Foreword by A. A. Long (Berkeley 2008). 5 Vgl. (für die griechische Antike): Th. Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter, Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur (Tübingen 1996) [Diss. München].

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zukommt als in Gesellschaften, denen die genannten Mittel korrektive Abhilfe für diesen vermeintlichen Mangel schufen. Auch hier ist zu unterstreichen, daß die anthropologische Dimension des Phänomens sich nicht allein ex post, also in der wissenschaftlichen Analyse erschließt, sondern durchaus von den Zeitgenossen selbst reflektiert wurde: So erkennt bereits Hesiod der Scham den Status eines Anthropinons zu. (iii) Drittens schließlich läßt sich am Beispiel der Schamempfindung etwas über die grundsätzliche Verfaßtheit unserer Emotionalität lernen: Wie auch andere Emotionen ist die Schamempfindung zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich von kognitiven Momenten bestimmt: Wie insb. Aristoteles erkannt hat, repräsentieren Emotionen kognitive Sachverhalte, die sich prinzipiell in der Form von wahren oder falschen Aussagesätzen darstellen lassen. Dies erlaubt es Dritten, darüber zu urteilen, ob eine bestimmte Emotion eher angemessen oder unangemessen scheint. Da inadäquate (d.h. auf falschen Prämissen beruhende) Emotionen oft moralisch fragwürdige Handlungen evozieren und insofern zu einer Verschlechterung der Bedingungen für ein gelingendes Leben beitragen, insistiert die von der Vernunft- und Glücksidee getragene klassische Philosophie darauf, daß uns die kognitiven Gehalte der Emotionen erstens durchsichtig werden sollten und zweitens, daß wir uns jene Affekte ganz abgewöhnen, die für ein gelingendes Leben eher schädlich sind. Die Stoiker haben diese Analyse so weit perfektioniert, daß sie nicht nur zeigen konnten, daß eine Emotion unangemessen ist, sondern auch, warum dies so ist. Ganz generell läßt sich sagen, daß die kognitive Durchdringung unserer Emotionalität ein zentrales Anliegen solcher Philosophien ist, die das Ziel der Selbsterkenntnis zu einem zentralen Wert des Philosophierens erklären. Soviel also vorweg. Da sich die Ausführungen am Leitfaden der Chronologie der behandelten Texte bewegen, erübrigen sich Bemerkungen zur Gliederung. Das griechische Substantiv αἰδώς (für Scham) leitet sich von dem medialen Verb αἰδέομαι her. Wer sich schämt, ist grammatisch gesehen zugleich (aktives) Subjekt wie auch (passives) Objekt der Handlung. Die Kategorie des Mediums drückt aus, daß der Schämende einerseits von sich aus und quasi aktiv seine Scham hervorruft, andererseits ihm das »sich Schämen« gewissermaßen passiv und also ohne sein Zutun widerfährt. In der späteren Analyse scheint der passive Aspekt stärker akzentuiert: Regelmäßig (aber nicht exklusiv) wird die Scham unter den sehr weiten Begriff der παθήματα subsumiert,6 was einige (um Exaktheit bemühte)

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Wie Ch. Rapp: Aristoteles. Rhetorik (Zwei Halbbände) (Berlin 2002) II 545 mittels einer begriffsgeschichtlichen Analyse belegt, leitet sich πάθος ab von dem Verb πάσχειν (leiden, erleiden). Pathos heißt deshalb nicht bloß ›Emotion‹, sondern auch: ›Eigenschaft‹, ›Qualität‹, ›qualitative Veränderung‹, ›akzidentelle Eigenschaft‹, ›Widerfahrnis‹, ›schmerzliches Widerfahrnis‹, ›Unglück‹ oder ›perzeptiver Eindruck‹. Auch Aristoteles gebraucht das Wort nicht einheitlich. Dominant ist

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Übersetzer mit dem etwas abseitigen, aber sehr treffenden deutschen Ausdruck »Widerfahrnis« übersetzen. Dem frühgriechischen Epos indes ist solche Subsumtion noch fremd. Bei Homer überwiegen zunächst rein deskriptive Momente. Syntaktisch bedeutsam ist, daß das Verb αἰδέομαι in der Regel entweder einen Infinitiv oder ein (personales) Akkusativobjekt nach sich zieht: Der Schämende schämt sich, etwas zu tun bzw. (übrigens nicht seltener) etwas nicht zu tun, oder er schämt sich vor jemanden. Als im 6. Gesang der Ilias Andromache ihren Gatten Hektor (v.a. um ihres gemeinsamen Sohnes wegen) unter Tränen anfleht, sich von der Schlacht fern zu halten, antwortet Hektor: Ja, an all das denke auch ich, Frau. Aber zu furchtbar Schäme ich mich vor den Troern, und schleppgewandten Troerfrauen, Wollte ich mich wie ein schlechter Mann vom Kampfe fernhalten. (Il.6.441–443) Hektor fürchtet für den Fall einer Kampfentsagung um seine gegenwärtige Achtung in der Gemeinschaft der trojanischen Männer und Frauen. Seine Scham weist auch in die Vergangenheit: (Mein Vater aber) schickte mich nach Troja und trug mir vielfach auf, Immer der Beste zu sein und überlegen zu sein den anderen Und der Väter Geschlecht nicht Schande zu machen, Die die Weitbesten waren in Ephra wie auch im breiten Lykien. (ebd. 207–210) Dem Priamossohn geht es darum, die von den Vätern angestammte gesellschaftliche Position des »stetig Besten« zu wahren. Seine Furcht vor dem Ehrverlust reicht sogar weit in die Zukunft, in die Zeit nach seinem Ableben, hinein: Und einst wird einer sprechen, wenn er sieht, wie du Tränen vergießt: Die da ist Hektors Frau, der der Beste war im Kampf So wird einst einer sprechen, und dir wird neu der Schmerz sein Im Entbehren eines solchen Mannes, Der abwehrte den Tag der Knechtschaft. (ebd. 459–463) Hektor fürchtet also nicht allein den eigenen Ehrverlust. Es steht hier vielmehr die Achtung der gesamten Familie auf dem Spiel. Die letzte Zeile gewährt Ein-

die Verwendung i. S. v. »Qualität«. Mit den psychischen πάθη bzw. παθήματα können sowohl die sinnlichen Wahrnehmungseindrücke wie auch nicht sinnliche Eindrücke (etwa Schrift- u. Sprachzeichen u. sogar Denkinhalte νόημα) gemeint sein. Die Emotionen sind demnach nur »eine Art von pathe« – entscheidend ist, »dass die betreffenden Zustände – anders als die Handlungen – passiv bzw. ohne Zutun der betroffenen Personen zustandekommen. Außerdem sind die Emotionen […] als flüchtige im Unterschied zu beständigen Zuständen der Seele charakterisiert.«

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blick in eine zentrale Grundnorm der archaischen Gesellschaft. Der Kampf der Männer zielt darauf ab, die Auslöschung der Stadt bzw. die namentlich Frauen und Kinder betreffende Konsequenz der Verschleppung und Versklavung abzuwehren. Wenn Hektor Andromaches Forderung mit Hinweis auf seine Scham widerspricht, so belegt dies die Superiorität der kollektiven Grundnorm gegenüber einer (freilich nicht unbegründeten) individuellen Neigung: Hektor begreift den Kampf als notwendig gebotenes Mittel zur Existenzsicherung der ganzen Gruppe. Eine Verletzung dieser Norm birgt in sich die Gefahr eines Ehrverlustes der königlichen Familie. Die aus moderner Perspektive ungleiche Verteilung der Geschlechterrollen bezeigt sich vom Kontext des Homerischen Normgefüges als durchaus symmetrisch: Da die Männer die Existenz der ganzen Gruppe unter Einsatz ihres Lebens verteidigen, wird die Funktion der Frauen auf die den durativen Fortbestand der Gruppe sichernde Aufgabe der Kinderaufzucht bzw. auf Haus- und Verwaltungsarbeit reduziert. Zugleich sind die Frauen von der potentiellen Zuweisung der zentralen Werte der homerischen Gesellschaft ausgeschlossen: Achtung (τιμή) und Nachruhm (κλέος) werden (fast)7 exklusiv auf das Konto der Männer verbucht. In welchem Maße die Scham den normativen Verteidigungsgedanken festigt, zeigt ein Blick in den 5. Gesang: Freunde! seid Männer und faßt euch ein wehrhaftes Herz! Und habt Scham voreinander in den starken Schlachten! Da wo Männer sich schämen, werden mehr gerettet werden, als getötet; Den Fliehenden aber entsteht weder Ruhm noch Rettung! (Il.5. 529–532) Der emotionale Kitt der Scham schweißt die Männer als »Freunde« (φίλοι) zusammen. Der Imperativ des »Schämt Euch voreinander!« (ἀλλήλους αἰδεῖσθε) hat direkte soziale Bindekraft: Scham ist, nach einem berühmten Wort von Douglas Cairns, »the cement of Homeric Society«. Es ist kaum verwunderlich, wenn die Schamempfindung in der vom Schlachtgeschehen dominierten Ilias oft gerade an solchen Punkten auftritt, an denen eine der Figuren eine Fluchtneigung verspürt. Hierfür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen.8 Die Häufigkeit der Stellen belegt, welche zentrale Stellung dem männlichen Kampf für die archaische Gesellschaft zukommt. Umgekehrt werden Typen wie Thersites, die diese Grundnorm offen negieren, mit dem Attribut der »Unverschämtheit«

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Das Streben nach Nachruhm ist in der Ilias nicht allein den Männern eigentümlich: Auch Helena will in den »Liedern der noch kommenden Menschengeschlechter« fortleben, vgl. Il. 6. 344–358. Der menschliche Wunsch, zumindest in den Liedern der Sänger noch fortleben zu können, manifestiert sich u.a. auch bei Tyrtaios (Fr. 9 Zeile 1–16), und Eur. Tro. 1242–45. 8 Reichhaltige Funde bei Cairns, 1992, 48–146 [insb. Aidos in Battle]; ebenfalls bei Euripides sind Belege für Scham im Kampf häufig, vgl. ebd. 265–268.

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belegt – ein Ausdruck, der in der klassischen Literatur auch als »moralische Häßlichkeit« konnotiert wird.9 Anders liegt der Fall, wenn Achill Agamemnon als »unverschämt« beschimpft: Wider alle Konvention hat Agamemnon dem Achill ein bereits fest zugewiesenes Ehrgeschenk wieder entrissen. Der Heerführer greift willkürlich nicht nur in bestehende Eigentumsrechte, so die mit dem Ehrgeschenk verbundene öffentliche Anerkennung der tim» ein; er verletzt überdies auch das von Achill eingeforderte Prinzip einer leistungsgemäßen Verteilungsgerechtigkeit. Noch eine Schlußbemerkung zur Ilias: Die moderne (von andern Diskursen motivierte) Forschung hat ihren Blick oft auf das Problem der sexuellen Scham verengt: Für die Ilias indes gilt, daß αἰδώς hier noch nicht sexuell konnotiert wird: Als im 14. Gesang die listige Hera ihren Gatten Zeus auf dem Berg Ida verführen und der erotisierte Göttervater auch sofort zur Sache kommen will, fürchtet Hera, von den andern Göttern beim Liebesakt ertappt zu werden. Sie nennt die potentielle Entdeckung »eine Schande«, welche ihr die Rückkehr auf den Olymp unmöglich machen würde. Von αἰδώς aber ist hier nicht die Rede, sondern von Nemesis (dem gerechten Unwillen, einer sittlichen Scheu).10 Zeus läßt sich jedoch in seinen lüsternen Plänen nicht hemmen: Um Hera zu beruhigen, kreiert er eine für den mit scharfen Augen begabten Helios intransparente Wolke, worin das Paar seine Liebe dann einhüllt. Die Verführung des Zeus erlaubt Rückschlüsse auf die normativen Regelungen des Geschlechterverhältnisses bzw. auf eine Anthropologie des sich in der Beobachtung wissenden Menschen: (i) Unzweifelhaft ist es für Frauen (oder weibliche Götter) völlig ausgeschlossen, sich in der Öffentlichkeit unverhüllt zu zeigen. Hera erledigt ihre aufreizende Toilette in einer kunstvoll verschlossenen Kabine;11 sie trägt trotz ihrer ganz auf erotische Reize berechneten Verführungsabsichten sogar einen Schleier.12 – Offenbar evozierte die weibliche Nacktheit ein männliches Begehren, das zugunsten von sozial höher-

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Odysseus droht Thersites (Il. 2.261 ff.) übrigens an, ihm seine Kleider vom Leib zu reißen, insb. seine »Scham« zu enthüllen und ihn dann solchermaßen entehrt unter Tränen zu den Schiffen zu jagen. 10 Vgl. Il. 14. 330–334: Welch ein Wort, Kronion, du Schrecklicher, hast du geredet!/ Wenn du jetzt in Liebe gesellt zu ruhen begehrest/ Oben auf Idas Höhn, wo doch alles offen sichtbar ist/ O wie wär’s, wenn uns einer der ewigwährenden Götter/ Beid’ im Schlummer erblickt’, und den Himmlischen allen es eilend. (Übers. Voß). 11 Vgl.: Il 14.166 ff.: Und sie enteilt’ ins Gemach, das ihr Sohn, der kluge Hephaistos/ Ihr gebaut, und die künstliche Pfort’ an die Pfosten gefüget/ Mit verborgenem Schloß, das kein anderer Gott noch geöffnet/ Dort ging jene hinein, und verschloß die glänzenden Flügel. (Übers. Voß). 12 Die Verschleierung von Frauen bleibt bis in die klassische Zeit hinein üblich und läßt oft kaum mehr als die Augen sehen.

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stehenden Normen unterbunden werden mußte.13 Im Zentrum dieser superioren Normativität steht das Institut des Ehevertrags. Zeus und Hera hatten ihren vorehelichen Geschlechtsverkehr vor den Eltern verheimlicht. Auch dies weist auf das Institut des privatrechtlich zu regelnden Ehevertrags: Eine ›entehrte‹ Frau mindert potentiell den ›Kaufpreis‹; ein allzu begehrlicher (zur Heirat überaus bereiter) Werber könnte das (bei Homer noch ganz in Naturalien auszuhandelnde) ›Preisgefüge‹ in umgekehrter Richtung verderben. In jedem Falle stellen voreheliche Beziehungen eine Schwächung der Vertragsidee dar. Der Hinweis auf den Sonnengott Helios, »der doch scharf vor allen mit strahlenden Augen umherblickt« belegt erstens, daß sich die Menschen der permanenten Beobachtung durch die Götter ausgesetzt glauben, zweitens unterstreicht dies die eingangs geäußerte These, dergemäß das Gesehenwerden noch vor dem eigenen Sehen bewußt wird.

Der 8. Gesang der Odyssee (das Lied des phäakischen Sängers Demodokos, insb. die Verse 266–366), läßt sich als eine Art Gegenmythos zum 14. Gesang der Ilias lesen. Aphrodite betrügt ihren Gatten Hephaistos mit Ares. Entdeckt wird der Betrug zuerst durch den alles sehenden Helios. Durch eine List des Hephaistos, der die Ehebrecher in ein unsichtbares Netz verstrickt, wird der Seitensprung allen Göttern publik gemacht. Bemerkenswert ist hier die geschlechtsspezifische Reaktion: Die weiblichen Götter verweigern schamhaft ihre Teilnahme an der Enthüllung des Betrugs: »Aber eine jeder der Göttinnen blieb vor Scham in ihrem Gemach« (324). Die männlichen Götter ergehen sich in unermeßlichem Lachen. In der angeheiterten Stimmung fragt Zeus scherzend den Hermes, ob dieser, unter der Bedingung, alle Götter würden zusehen, der Aphrodite beiwohnen würde. Hermes bejaht: Selbst wenn ihn dreimal so viele Fesseln bänden, würde er der Aphrodite beischlafen (vgl. 334 ff.).14 In normativer Hinsicht ist bedeutsam, daß der betrogene Hephaistos seine Brautgabe zurückfordert. Er bekommt schließlich (von Poseidon, dem Vater des Ares), was er verlangt. Ausdrücklich wird diese Rückgabe als Recht qualifiziert. Wenn sexuelle Handlungen bzw. auch nur deren Betrachtung von den Frauen als ungleich schamvoller empfunden

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Der Sinn dieser Norm ist offenkundig: das starke Begehren, das die Frauen auslösen (vgl. Il. 14. 198: Gib mir den Zauber der Lieb’ und Sehnsucht, welcher dir alle Herzen der Götter bezähmt, und sterblicher Erdebewohner) – ein Motiv, das dann in der Hymne an Aphrodite zu einer geradezu kosmischen (insb. auch die Tiere mit einschließenden) Macht ausgedehnt wird: Muse, sag’ mir die Werke der goldenen Aphrodite/Herrin auf Kypros; süßes Verlangen (γλυκὺν ἵμερον) weckt sie den Göttern/überwältigt der sterblichen Menschen Geschlechter (φῦλα καταθνητῶν ἀνθρώπων)/die Vögel hoch in den Lüften, die Scharen der Tiere, aller zusammen, mag sie das Festland, mag sie das Weltmeer zahllos ernähren. (Vgl. H. ven. Zeile 1–5, dt. Übers. Weiher.) 14 Daß freilich auch der von Männern initiierte Ehebruch schandhaft ist, belegt z.B. Eurip. Agam. 1626, wo Aigisthos vom Chorführer als ἀνδρὸς αἰσχύνους bezeichnet wird.

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werden, so steht hinter dieser Empfindung offenbar eine Norm, die für den Ehebruch von Frauen wesentlich härtere rechtliche und materielle Konsequenzen vorsieht, als dies umgekehrt für Männer bei reziproken Handlungsmustern üblich war.15 Ein weiteres Beispiel für weibliche Scham findet sich im 6. Gesang der Odyssee: Am Tag der Ankunft des Odysseus träumt Nausikaa von einer bevorstehenden Hochzeit. Psychoanalytisch gedeutet, schämt sie sich, »von der lieblichen Hochzeit vor dem Vater zu reden« – doch der weise Vater merkt all dies und gibt ihr die geforderten Maultiere, so daß Nausikaa mit ihren Freundinnen zu der entlegenen Waschstelle aufbrechen kann. Es kommt zu der feinsinnig geschilderten Begegnung mit dem gestrandeten Titelhelden. Als der Ball der spielenden Mädchen in das Gebüsch fällt, wo sich Odysseus verborgen hält, bricht dieser »mit der starken Faust sich aus dem dichten Gebüsche einen laubichten Zweig, des Mannes Blöße zu decken« (128f.). Der Dichter läßt offen, ob Odysseus sich aus Scham bedeckt oder nur die Mädchen nicht erschrecken will. Er überlegt dann allerdings sehr gründlich, ob er sich den Mädchen nähern soll und sie (den üblichen Gesten gemäß) an die Knie fassend anflehen oder sich eher in einer weniger erschreckenden Distanz halten soll, wofür er sich schließlich entscheidet. Als er das Vertrauen der Königstochter gewonnen hat und zum Hofe eingeladen wird, gebietet Nausikaa ihren Gefährtinnen, den Ankömmling im Fluß zu baden. Der nackte Held aber bittet die Mädchen: Tretet ein wenig beiseit’, ihr Mädchen, daß ich mir selber Von den Schultern das Salz abspül’, und mich ringsum mit Öle Salbe; denn wahrlich schon lang entbehr’ ich dieser Erfrischung! Aber ich bade mich nimmer vor euch, ich würde mich schämen, Nackend zu stehn, in Gegenwart schönlockiger Jungfraun. (Od. 6. 218–222) Obgleich männliche Nacktheit in der archaischen Gesellschaft keineswegs unüblich war16 und es durchaus zu den guten Sitten gehörte, wenn Männer von Frauen

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Zeus rühmt sich sogar vor Hera mit seinen Gespielinnen. Odysseus, der ja mit Kalypso und Kirke »das Lager teilen« muß, stilisiert sich selbst zum Opfer der weiblichen Verführungskunst. 16 Die Beobachtungen von H. P. Duerr: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1 (Frankfurt a. M. 41992) 13–23, zu diesem Punkt sind einseitig und teils (etwa, was Bemerkungen zu den Vasenbildnissen angeht) faktisch unzutreffend. Duerr vertritt fast zwanghaft (vs. Norbert Elias) die These, männliche Nacktheit sei insb. in der Homerischen Gesellschaft unmöglich gewesen. Richtig ist, daß männliche Nacktheit nur insofern unschicklich war, als hiervon keine Irritationen für die das Geschlechterverhältnis betreffenden Regularien ausgingen. Duerr übersieht insb. die wichtigen Imperative Hesiods (vgl. dazu den Haupttext), interpretiert Vasenbilder einseitig und beruft sich auf dubiose Zeugnisse des Thukydides.

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gebadet wurden,17 schämt sich Odysseus vor den »schöngelockten Jungfrauen«. Die hinter dieser Scham stehende Norm besteht zweifellos in der Furcht vor einer unkontrollierten Erregung – noch dazu vor den Jungfrauen, die (eben aufgrund der unantastbaren Ehevertragsinstitution) keinesfalls mit der Nacktheit des strahlend schönen Helden konfrontiert werden durften. Der Grund für die männliche Scham liegt mithin in der Furcht vor einem möglichen somatischen Kontrollverlust. Daß ebenfalls andere somatische Erscheinungen nicht im Einklang mit den an Männer gestellten Erwartungen stehen, wird deutlich, wenn Odysseus am phäakischen Hofe sich seiner Tränen schämt (Od. 8.86). Werfen wir zuletzt noch einen kurzen Blick auf das Phänomen der sozialen Scham in der Odyssee. Die Rolle des Bettlers wird insb. im letzten Drittel des Epos gründlich beleuchtet: Etwas vergröbert läßt sich sagen, daß die Bettelei einerseits durchaus geduldet wurde (es sogar tradierte Sitte war, einem anständigen Bettler Almosen zu geben), andererseits war freilich allzu freches Betteln verpönt. Als Penelope (die sich später übrigens schämt, allein zu den Männern zu gehen, Od. 18.184) erfährt, wie sich am Hofe ein unbekannter Bettler aufhält, der Nachrichten über Odysseus weiß, wartet sie ungeduldig. Als dieser vermeintliche Bettler sich dann aber scheinbar ziert, zu ihr zu kommen, spricht sie zu dem Sauhirten Eumäos: Bringst du ihn nicht, Eumäos, warum bedenkt sich der Fremdling? Hält ihn etwa die Furcht vor Gewalttat, oder die Scham ab, Durch den Palast zu gehn? Ein schamhafter Bettler ist elend! (Od. 17. 576–578) Der Satz (κακὸς δʹαἰδοῖος ἀλήτης) ist durch Platon (der ihn zweimal aus dem Kopf zitiert)18 zu einem geflügelten Wort geworden. Deutlich zeigt sich hier der engere Adressatenkreis des homerischen Normgefüges: Von der normativen Geltung, welche die Schamempfindung kognitiv hervorruft, scheinen einige Figuren ausgeschlossen: Scham ist nicht in jedem Falle situationsangemessen; der Bettler soll sich den Luxus des Schämens nicht leisten. Scham ist einzig dem geboten, der überhaupt um Achtung kämpfen muß. Die von Penelope eingeführte Exklusion der normativen Bindekraft der Scham deutet ihrerseits auf ein tiefer fundiertes Normprinzip: Generell ist es unverschämt, etwas zu fordern, ohne dafür eine Gegenleistung anzubieten. Insofern sind die Bettler prinzipiell unverschämt. Da es indes potentiell jeden treffen kann, unverschuldet nicht geben zu können, ver-

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Vgl. Od. 8. 425 ff.; 17. 88. Duerr 1992, 14 bemerkt, daß dem Hausherren für solche Bäder eigne Dienerinnen (Loetrochoioi) zur Verfügung standen. Dem Text will er entnehmen, daß diese schon in mykenischer Zeit agierenden Dienerinnen die Genitalien des Badegastes nicht zu Gesicht bekommen durften. Odysseus weigert sich in der Tat auch später (vgl. Od. 19.347), von jüngeren Frauen gebadet zu werden, und läßt dies eine ältere Frau besorgen. 18 Vgl. Lach. 201b; Charm. 161a.

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schafft sich hier eine abstraktere Maxime Geltung, dergemäß das Betteln zwar einerseits legitim ist, anderseits aber die von solcher Armut betroffenen Personen aus dem Kreis deren ausscheiden, die im Homerischen Spiel um Ehre und Achtung mittun. Ein guter Bettler wäre demnach einer, der im Falle der erfolgreichen Einwerbung von Drittmitteln erneut an dem Wettbewerb um Ehre und Achtung teilnehmen könnte. Ein schamhafter Bettler (d.h. einer, der sich sogar zum Betteln zu schade ist) ist so gesehen kein guter Bettler. Insgesamt qualifiziert die Odyssee Armut und Bettelei als soziale Schande, wobei es einer gesonderten Betrachtung wert wäre, ob der (eher das normative Gefüge der Oberschichten verkörpernde) Dichter zwischen verschuldeter und unverschuldeter Armut unterscheidet. Hesiod, der zweite große Epiker Griechenlands, sieht die Welt eher von unten aus der bäuerlichen Perspektive an. Seine Genealogie der fünf Weltzeitalter verfolgt das Ziel, das aktuelle eiserne Geschlecht als sittlich degenerierte (d.h. vom Faustrecht regierte) Generation darzustellen. Insbesondere Scham und Recht seien auf der Strecke geblieben. Hesiod spricht hier einmal von Scham und Recht, einmal von Scham und Nemesis als den jetzt verlorenen Werten (vgl. Op. 192 bzw. 200). Während Νέμησις das speziellere Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit verkörpert19, kommt Δίκη als allgemeiner Rechtsgöttin bei Hesiod eine zentrale Stellung zu20: Erstmals ist hier der Mensch als ein Rechtswesen begriffen, das sich fundamental von den rechtlosen Tieren (bei denen das Prinzip von Fressen und Gefressenwerden herrscht) unterscheidet: Dem Menschen ist das Recht von Zeus »als höchstes Gut zugeteilt« (Op. 289). Negatives Pendant zur Idee des Rechts ist die Hybris (Maßlosigkeit/Frevel).21 Wenn Hesiod Scham und Recht (αἰδώς καὶ δίκη) in einer dann später formelhaft erstarrten Redewendung zusammenbindet, so wird deutlich, daß die Idee des Rechts ihre emotionale Wurzel in dem Gefühl der Scham hat. Das die Scham begleitende internalisierte Normbewußtsein verschafft sich in der Gestalt des Rechts nun objektive Geltung. Zugleich treten Scham und Recht auseinander: Die Schamempfindung bildet fortan das gewissermaßen ›subjektive‹ Korrelat zu den ›objektiven‹ Rechtsprinzipien. Hesiod fordert, gemäß der den Schamempfindungen zugrundeliegenden Normen auch zu leben und das gegebene Recht einzuhalten. Wie der Odysseedichter reflektiert Hesiod auf den ambivalenten Charakter der Scham:

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Bei Homer wird Nemesis (wie oben gesehen) noch nicht als Göttin vorgestellt, aber einmal (vgl. Il. 13.122) eng mit αἰδώς in Verbindung gebracht; weitere Stellen: Il.6.335; Od.2.136, Hdt.1.34; Arist. EN1108a35. 20 Insgesamt begegnet der Terminus δίκη allein in Hes. op. an mehr als 20 Stellen. 21 Homer erwähnt die Hybris eher randständig; δίκη kommt in der Ilias nur selten (bezeichnenderweise nur im letzten Drittel) vor, vgl. 16.388; 18. 508; 19.180; 23.542.

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Scham ist nicht gut, wenn sie den darbenden Mann begleitet, Scham, die den Menschen sehr zum Heil ist, sehr aber auch zum Verderben; Scham ist stets bei Mangel, Kühnheit (q£rsoj) aber bei Wohlstand. (Op. 317–319) In den zu Arbeit und Eifer (zÁloj)22 anspornenden Versen Hesiods steht die mit der Scham verbundene Scheu dem Armen schlecht an. Obgleich der Dichter den generellen Nutzen der Scham für die Menschen ausdrücklich betont, akzentuiert er auch ihren handlungshemmenden Charakter, als dessen positives Gegenstück hier die engagierte Couragiertheit des erfolgreich Handelnden hervortritt.23 Noch ein Wort zur sexuellen Konnotation: Wenn Hesiod die Bauern einerseits ausdrücklich auffordert »nackt sollst du sähen, nackt den Boden pflügen und nackt auch mähen« (390f.), anderseits aber gebietet, nicht nackt gegen die Sonne zu urinieren oder sich von Samen befleckt dem Herd zu nähern, so dokumentiert dies, daß die männliche Nacktheit keinen generellen Normverstoß darstellt, sondern vielmehr die Demonstration der Genitalien in spezifischen Situationen als anstößig galt. Ausschlaggebend ist hier die Vorstellung, von den personalen göttlichen Mächten wie der Sonne, dem Feuer oder den Flüssen beobachtet zu werden, weshalb sexuelle Handlungen aus der Küche verbannt sind, auf die Nacht begrenzt werden und keineswegs im Zusammenhang mit heiligen Bräuchen (etwa dem Besuch der Gräber) geschehen sollen (vgl. Op. 725ff.). An keiner Stelle indes werden diese Regularien direkt mit der Scham in Verbindung gebracht. Allerdings benutzt Hesiod (Op. 733) wie Homer (vgl. etwa Il. 2.261)24 gelegentlich den Ausdruck αἰδοῖα für »Schamteile«. Insgesamt gilt, daß die Anlässe für Scham im frühgriechischen Epos noch viel zu weit gestreut sind, um auf sexuelle Konnotationen hin reduziert zu werden. Aus dem bisher Gesagten dürfte ferner erhellen, daß die Aufmerksamkeit sich fortan auf die ›objektive‹ Seite der Schamempfindung, d.h. die im Begriff der Dike kulminierenden Rechtsnormen konzentriert und so das ›subjektive‹ Empfinden eher in der Hintergrund rückt.25

Vgl. dazu die eher negativ besetze Definition bei Arist. Rhet. II, 11.1388a32–36: ζῆλος als eine Art von Schmerz über das vermeintliche Vorhandensein von Gütern, die man als ehrenvoll und für sich erreichbar ansieht, bei einer ähnlichen Person. 23 Vgl. dazu ebenfalls Arist. Rhet. II, 5. θάρσος als das Gegenteil der Furcht, es ist daher die mit der Vorstellung verbundene Hoffnung, die Rettung stehe an, das Furchterregende sei nicht vorhanden oder sei zumindest weit entfernt. 24 Odysseus droht Thersites an, er werde ihn öffentlich entblößen: Er wolle nicht länger Vater des Telmachos sein, »wenn ich dich nicht nehme und dir deine Kleider ausziehe, den Mantel und den Rock und was deine Scham (αἰδῶ) umhüllt« (Übers. Schadewaldt). 25 Zu den insg. eher raren Belegen vom Epos bis hin ins 5. Jahrhundert, vgl. Cairns 1982, 147–177. 22

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Wagen wir nun einen weiten Sprung in die Mitte des 5. Jahrhunderts (wobei wir natürlich eine Reihe an Beispielen insb. aus der Lyrik und Theaterliteratur übergehen26). In Herodots Historien, dem ersten großen erhaltenen Prosatext der europäischen Literatur, wird erzählt, wie der lydische König Kandaules seine Macht an seinen Leibwächter Gyges verliert. Der König ist so verliebt in seine Gattin, daß er sie für die allerschönste Frau hält. Da er zweifelt, ob auch sein Diener dieses Urteil teilt, fordert er ihn auf, seine Frau nackt zu betrachten. Gyges reagiert empört: Herr, wie unvernünftig redest du, wenn du mir gebietest, meine Herrin nackt zu sehen! Legt doch eine Frau mit ihrem Kleid auch die Scham ab; […] Ich glaube dir gern, daß sie die allerschönste Frau ist, und bitte dich, nichts Ungebührliches von mir zu erbitten. (Hrdt. 1, 8, 3–4). Wenn Gyges überdies darauf insistiert »jeder solle (nur) auf das Seinige sehen« (σκομέειν τινὰ τὰ ἑωυτοῦ), so deutet dies auf eine Norm, dergemäß die weibliche Nacktheit exklusives Eigentum ihres Gatten ist. Diese Vorstellung scheint nicht allein in Asien dominierend gewesen zu sein: In der etwa zeitgleich zu den Historien aufgeführten Medea läßt Euripides seine tragische Heldin klagen, die Frauen müßten sich den Bräutigam für viel Geld als »Despoten über ihren Körper« kaufen (Vers 233). Zurück zu Herodot: Kandaules erhört Gyges nicht. Er zwingt den Diener, von einem Versteck aus der Gattin beim Entkleiden zuzuschauen. Die Schöne bemerkt es, läßt sich aber zunächst nichts anmerken; kurz darauf muß ihr Mann den Verrat mit dem Leben bezahlen, und Gyges tritt an seine Stelle. Im Text heißt es: Sie merkte, was ihr Mann ihr angetan hatte, schrie aber nicht vor Scham laut auf, noch schien sie etwas zu merken, denn sie wollte Kandaules bestrafen. Denn für die Lyder ist es, wie für fast alle Barbaren sonst, sogar für einen Mann die größte Schande, nackt gesehen zu werden. (Hrdt. 1.10.3). Die Notiz hat die Struktur eines A-fortiori-Arguments: Wenn es schon für die Männer die »größte Schande« (αἰσχύνη μεγάλη) ist, nackt gesehen zu werden, so erst recht für die Frauen.27 Insofern scheint die Tötung des Gatten durch die

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Vgl. dazu die zahlreichen Belege bei Cairns 1982, 147–342. Die leider nur fragmentarisch (von Stobaios) überlieferten Gedanken des Demokrit zur Scham habe ich diesem Beitrag vorangestellt. Sie unterstreichen die ethische Forderung, die soziale Kontrolle nun auch intrinsisch zu instanziieren: Ethisches Handeln verlangt vom Akteur, die Perspektive aller andern so zu antizipieren, daß man sich für sein Handeln auch dann nicht vor sich selbst schämen müßte, wenn die andern dieses Handeln nicht beobachten würden. Dieser Gedanke wird ebenfalls zu einem Leitfaden der Platonischen Philosophie (und ist insb. in der Gyges-Parabel in der Politeia greifbar) und, wie sich in diesem Beitrag noch zeigt, der Aristotelischen Ethik. 27 Duerr 1992, 349 (Anmerkung 45 zum 1. Kapitel), weist darauf hin, daß die Griechen, um die Perser zu demütigen, Frauen entblößt und vergewaltigt hätten [Quellen: Isokrates, Brief an

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Hände des gezwungen Voyeurs durchaus angebracht. Der Passus ist auch deshalb so eindrucksvoll, weil er klar und deutlich auf die Relativität bestimmter kultureller Werte reflektiert.28 Wenn Herodot dem attischen Publikum erklären mußte, die Nacktheit der Männer sei bei den Barbaren absolut tabu, so scheint diese Norm in Griechenland bis dato nicht überall so strikt bestanden zu haben. Das hier ausgewählte Beispiel soll nicht das Mißverständnis evozieren, bei Herodot sei die Schamempfindung auf sexuelle Kontexte reduziert. An einer medizinhistorisch brisanten Stelle macht Herodot auf die Scham aufmerksam, welche die Perserkönigin Atossa angesichts einer Brusterkrankung empfindet: Als [dieses Brustgeschwür] »noch harmlos war«, suchte Atossa die Krankheit zu verbergen, und sprach »mit keinem Menschen darüber« (vgl. Hrdt. 3.133). Ebenfalls in der Hippokratischen Schrift De morbo sacro 12.1–4 heißt es, die erwachsenen Kranken flöhen aus Scham vor den Menschen, wenn ein [epileptischer] Anfall nahte, während die Kinder (die noch keine Scham kennten) dies nicht täten. Diese Texte enthalten also erste Hinweise auf die besondere Scham, welche die Kranken angesichts bestimmter (d.h. öffentlich tabuisierter) Krankheitsbilder empfinden. Ganz offenbar geht im Bewußtsein der betroffenen Person der (antizipierte) Blick der Andern mit einem potentiellen Ehr- und Ansehensverlust einher. Bei Herodot scheint die Andeutung wichtig, daß solches Schamverhalten auch zu einer Verschlimmerung der Krankheiten beitragen kann. Den bei Herodot virulenten Gedanken der Relativität haben v.a. die sog. Sophisten aufgegriffen. Bei Protagoras kulminiert er in dem berühmten Satz vom Menschen als Maß aller Dinge. Platon hat seinen ersten großen Dialog bezeichnenderweise Protagoras betitelt. Hier kleidet er die anthropologische Lehre des Sophisten in einen prächtigen Mythos: Protagoras schildert den kulturellen Urzustand des (im Vergleich zu den Tieren) nur mangelhaft ausgestatteten Menschen. Dieses Mängelwesen muß sich, ursprünglich noch zerstreut (nicht in Poleis) lebend, im »Krieg mit den Tieren« behaupten. Um in diesem ungleichen Kampf zu bestehen, wird dem Menschen auf Zeus’ Anweisung hin »Scham und Recht« (αἰδώς καὶ δίκη) zugeteilt. Scham und Recht gehören gewissermaßen zur zweiten Natur des Menschen. Ausdrücklich sollen alle Menschen hieran teilhaben. Wie bei Hesiod verdanken sich Scham- und Rechtsnatur des Menschen einer göttli-

Archidamos 10; Plutarch Mulierum virtutes XI]. Ebenfalls in Ägypten habe die größte Schande für eine Frau darin bestanden, daß man sie (zu Strafzwecken) nackt durch die Straßen getrieben habe. 28 Auch an anderer Stelle hebt Herodot die kulturellen Differenzen hinsichtlich der Sexualpraktiken hervor: So heißt es im sog Ägyptenbuch der Historien, einzig die Ägypter und Griechen hätten in den Heiligtümern keinen Geschlechtsverkehr; alle andern Völker beträten die Tempel sogar »ungewaschen und wenn sie von einem Weib kommen, da sie meinen, die Menschen unterschieden sich nicht von den übrigen Tieren. Sämtliche Tiere nämlich die vielerlei Vögel sähen sie sich begatten in den Gotteshäusern und den heiligen Bezirken. Das tun sie also und begründen es so – mir aber will es nicht gefallen.« (Hrdt. 2.64, Übers. Marg)

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chen Zuweisung. Der Konnex von Scham und Recht deutet an, daß die Rechtsnatur des Menschen ohne die Vermittlung der Schamempfindung nicht denkbar ist. Ein prinzipieller Mangel an Scham erscheint Protagoras als geradezu unheilbarer emotionaler Defekt: Er sagt, wer nicht fähig sei, »an Scham und Recht teilzuhaben, den töte man als Pest der Stadt.« (Prot. 322d). Wem das grundsätzliche Gefühl der Achtung bestimmter Normen und Werte abgeht, hat keinen Anspruch auf den mit der Mitgliedschaft in der politischen Rechtsgemeinschaft verbundenen Schutz. Da für Protagoras allerdings prinzipiell alle Menschen an Scham und Recht teilhaben, will er die politische Tugend (πολιτικὴ τέχνὴ / πολιτικὴ ἀρετὴ) auf dem Wege des sophistischen Unterrichts kultivieren. Platons Philosophie zielt darauf ab, die politische Techne (wie die Tugend überhaupt) auf Einsicht und Wissen zu gründen. Er akzentuiert deshalb die kognitiven Momente der Emotionen. Emotive Momente reichen zur Begründung moralischer Werte allein nicht hin. Insofern beginnt mit Platon die theoretische Reflexion auf die Gefühle. In puncto Scham läßt sich dies für Platons Frühdialog Charmides zeigen. Sokrates trifft auf den wegen seiner Schönheit weithin bewunderten Jüngling Charmides. Das Stück beginnt mit einer Unverschämtheit: Als sich Charmides (in den alle verliebt sind) auf die Bank am Trainingsplatz setzt, entsteht, da alle ihm nah sein wollen, ein Gedränge. Sokrates nutzt das Durcheinander und blickt dem Jüngling unter sein Gewand. Der Philosoph ist ganz außer sich und vergleicht seinen erotisierten Zustand mit dem eines gefangenen Tieres.29 Inzwischen stellt sich heraus, daß Charmides (den Kritias als besonders besonnen vorgestellt hatte) unter Kopfschmerzen leidet. Sokrates gibt sich nun als Arzt der Seele.30 Nach einem alten, von den thrakischen Ärzten überkommenen Brauch solle sich Charmides vor Eingabe des Pharmakons durch schöne Reden besprechen lassen. Sokrates fragt: Sage mir also selbst, ob du diesem [sc. dem Kritias] beistimmst und behauptest, der Besonnenheit schon genug zu haben oder noch Mangel daran. Hierbei errötete Charmides und wurde dadurch zuerst noch schöner vor unsern Augen, denn die Verschämtheit stand seiner Jugend sehr wohl, hernach aber

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Vgl Charm. 155d–e: Ich »war nicht mehr bei mir, sondern gedachte, Kydias wäre wohl sehr weise in der Liebe, welcher in Beziehung auf einen schönen Knaben bildlich sagt, es hüte das Reh sich, nicht dem Löwen, ins Angesicht kommend, zur Beute ergriffen zu werden. Denn ich selbst dünkte mich nun von solch einem Tier gefangen.« (Übers. Schleiermacher). 30 Sokrates rekurriert dabei auf die ›ganzheitliche‹ (d.h. Leib und Seele gleichermaßen betreffende) Medizintheorie des thrakischen Arztes Zalmoxis: »Denn alles, sagte er, entspränge der Seele, das Böse und das Gute dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu, wie aus dem Kopfe den Augen. Jenes müsse man zuerst am sorgfältigsten behandeln, wenn es um den Kopf und auch um den ganzen Leib gut solle stehen.« (Charm. 156e–157b). Weiterführend: R.E. Cushma: Therapeia. Plato’s Conception of Philosophy (Chapel Hill 1959).

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antwortete er auch nicht unedel. Er sagte nämlich, es wäre ihm nicht leicht, so im Augenblick das Gefragte weder einzugestehen noch abzuleugnen. Denn, sprach er, wenn ich leugne, besonnen zu sein, so ist es teils widersinnig, selbst gegen sich selbst so etwas zu sagen, teils auch zeihe ich dann den Kritias der Unwahrheit und noch viele andere, welche mich für besonnen halten, wie er ja sagt; wenn ich es aber behaupte und mich selbst lobe, so kann ich mich dadurch leicht verhaßt machen. So daß ich nicht weiß, was ich dir antworten soll. (158c–d; Übers. Schleiermacher) Charmides befindet sich in einem Dilemma: Einerseits will er seinem Vormund Kritias und dem allgemeinen Urteil über sich nicht widersprechen, anderseits sich nicht selbst loben. Deswegen schämt er sich und errötet. Wenn Sokrates bemerkt, die Scham stehe seiner Jugend gut, so erkennt er an, daß Charmides überhaupt in der Lage ist, Scham zu empfinden. Das Gespräch spitzt sich auf die Frage zu, was die Besonnenheit denn überhaupt ist. Charmides antwortet erst, die Besonnenheit sei eine Art von Bedächtigkeit (ein langsames sich Bedenken). Als Sokrates dies mit Hinweis auf die Tugend der Geistesgegenwart entkräftet und Charmides auffordert, »in sich selbst zu schauen«, unternimmt dieser einen zweiten Antwortversuch: Mich dünkt also, die Besonnenheit mache schämen und den Menschen verschämt, und daß also die Besonnenheit ist, was die Scham. (160e) Sokrates widerlegt diese Antwort mit Hinweis auf Homers Vers »Scham ist nicht gut dem darbenden Mann«.31 Es muß auffallen, wie schnell Sokrates, der sich sonst eher selten auf Autoritäten beruft, die Diskussion abbricht. Möglicherweise gab es eine aktuelle Debatte darüber, ob die Scham als Tugend angesehen werden dürfe. Zu Platons Lebzeiten wurde ein Epigramm in Stein gemeißelt, worin die »königliche Sophrosyne« als »Tochter des großweisen Aidos« gepriesen wird.32 Wie Homer insistiert ebenfalls Platon darauf, daß die Scham nicht per se gut ist. Für Platon ist ausschlaggebend, daß man sich auch aufgrund von falschen Normen schämen kann. Ebenfalls ist denkbar, daß sich jemand nicht angesichts der richtigen Normen schämt. Insofern ist es wichtig, richtige von falschen Normen

31 Dieses ›Zitat‹ wird schon am Ende des Laches vorgebracht: Lach. 201a–b ging es darum, daß man sich auch im Alter nicht schämen solle, sich noch um gute Lehrer zu kümmern: »Sollte uns aber jemand auslachen wollen, daß wir so alt schon noch Lehrer besuchen wollen, so dünkt mir, müssen wir uns mit dem Homer schützen, welcher gesagt hat: Nicht gut sei Scham dem darbenden Manne.« 32 Vgl. H. North: Sophrosyne. Self-Knowledge and Self-Restraint in Greek Literature (Ithaca/New York 1966) 6 [Anm. 17] [Quelle: G. Kaibel, Epigrammata Graeca […], (Berlin 1878) Nr. 34]. Das lesenswerte Buch zeigt auch weitere Berührungspunkte von Scham und Besonnenheit.

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unterscheiden zu können. Diese Unterscheidung erfordert ein Wissen vom Guten, das der Affekt als solcher nicht bereithält. Das von Platon anvisierte Wissenvom Guten zielt auf Gründe, die der bloßen Empfindung nicht durchsichtig sind. Insofern beginnt mit Platon die theoretische Reflexion auf die vormals nur deskriptiv behandelten Emotionen. In Hinsicht auf die Scham gilt es festzuhalten, daß Platon (wie später Aristoteles)33 die prinzipielle Fähigkeit zur Schamempfindung in der Jugend positiv würdigt.34 Platons philosophische Paideia will es bei der bloßen Emotionalität allerdings nicht bewenden lassen. Sie hebt vielmehr darauf ab, daß dem Akteur seine Emotionalität durchsichtig wird. Im Falle der Scham bedeutet das, daß an die Stelle des unvermittelt passiven Errötens ein reflektiertes Bewußtsein davon treten soll, warum sich jemand schämt und ob dies tatsächlich gut ist – oder, um es genauer zu sagen, ob die Gründe für das Schämen einer rationalen Prüfung tatsächlich standhalten würden.35 Die zeitgenössischen Leser wußten, daß der von seinen Anlagen her durchaus talentierte Charmides sich später gerade aufgrund von schlechter Erziehung zur Teilnahme an der Tyrannenherrschaft hatte hinreißen lassen. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Charmides hatte sich gewissermaßen vor den Falschen geschämt. Im Rahmen dieses Beitrags kann freilich nicht untersucht werden, wie der späte Platon (namentlich im Philebos) auf eine Analyse der kognitiven Gehalte der Emotionen dringt. Indes ist der abschließende Hinweis nötig, daß sich der Platonische Sokrates vor allem dann schämt, wenn er mit der Unwahrheit in Berührung kommt. So wirft er seinen Anklägern gleich zu Beginn der Apologie vor, daß sie sich angesichts der von ihnen vorgebrachten Lügen nicht schämten, sogleich durch Wort und Tat widerlegt zu werden (vgl. Apol. 17b). Im Phaidros ersucht ihn der gleichnamige Jüngling, eine Rede des Lysias ›stilistisch‹ zu verbessern. Sokrates kommt diesem Ansinnen zwar nach, er verbirgt sich aber, damit der unphilosophische Sinn dieser Rede (insb. die These, es sei besser, nicht verliebt zu sein, als es zu sein) nicht auf ihn selbst zurückfällt. Die spezifisch philosophische Scham liegt für Platon also darin begründet, wissentlich die Unwahrheit zu sagen.

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Arist. EN IV, 15. 1128b15–20 führt aus, die Scham passe nicht zu jedem Alter: »Wir meinen nämlich, daß der Jugendliche schamhaft sein müsse, weil er im Affekt lebt und viele Fehler begeht, die Scham aber hindert ihn daran. Also loben wir, wer in der Jugend schamhaft ist, von einem älteren Menschen indes wird man dies nicht rühmen.« 34 Vgl. auch Prot. 312a: Hier schämt sich der junge Hippokrates (und errötet), als Sokrates ihn fragt, ob er denn wirklich ein Sophist werden wolle. Dies nämlich wäre, wie Sokrates ihm klar macht, die Konsequenz seines jugendlichen Wunsches, dem Protagoras Geld für seinen Unterricht zu zahlen. 35 Das heißt nicht, daß man sich nicht mehr schämen soll. Aber so wie Sokrates, der die Nachteile seiner erotisierenden Handlung durchschaut und zugibt, sich hiervon gefangen zu fühlen, sollen sich die Akteure des Zusammenhangs von Emotion und Handlungsoptionen bewußt werden.

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Aristoteles hat diese Analyse insb. in seiner Rhetorik noch vertieft und erheblich präzisiert. Zunächst jedoch einige Bemerkungen zur Ethik: Zum Verständnis der entsprechenden Passagen sei an die grammatische Beobachtung erinnert, dergemäß dem medialen Verb αἰδέομαι einerseits aktive, anderseits passive Momente einwohnen. Die Nikomachische Ethik behandelt die Scham ausdrücklich nicht als Tugend. Allerdings bringt sie die mit der Scham verbundene Haltung in Verbindung mit sozialem Lob: Es gibt auch in den Leidenschaften (ἐν τοῖς παθήμασι), und was zu ihnen gehört, ein Mittleres (μεσότητες). Denn die Schamhaftigkeit (αἰδώς) ist selbst zwar keine Tugend (ἀρετὴ οὐκ ἔστιν), aber der Schamhafte wird gelobt. Denn auch hier gibt es Mitte, Übermaß und Mangel. Übermäßig ist der Schüchterne, der sich vor allem scheut; der Mangelhafte oder wer sich überhaupt nicht scheut ist der Schamlose; der Mittlere der Schamhafte. (NE II, 7. 1108a30–36; Übers. angelehnt an Gigon) Ebenfalls in EN IV ist die Scham eher als Leidenschaft denn als Hexis (als erworbene Fähigkeit) begriffen (EN IV, 15. 1128b10f.). Aristoteles begründet dies u. a. damit, daß die Scham mit passiven somatischen Zuständen wie dem Erröten gekoppelt sei; in De anima hatte er die psychosomatischen Effekte gerade als typische Merkmale der Leidenschaften charakterisiert. In der Ethik argumentiert er, die Scham dürfe nicht als Tugend begriffen werden, da der Tugendhafte eben überhaupt nichts Schändliches tue, sich infolgedessen also auch nicht schämen müsse. Ausführlich behandelt Aristoteles die Scham in Buch II der Rhetorik. Überhaupt stellen die ersten elf Kapitel von Rhet. II die reifste und detaillierteste Affektentheorie in der klassischen Antike dar.36 Das heißt nicht, daß Aristoteles hier eine thematisch selbständige Abhandlung der Emotionen im Sinn hat. Vielmehr geht es ihm um die Funktion der Affekte in Hinsicht auf das rhetorische Ziel der Überredung. Von diesem Kontext her ist verständlich, daß die Rhetorik die Emotionen nach einem gewissen Schema abhandelt, indem sie regelmäßig (i) eine (Art von) Definition vorausschickt, die insb. den spezifischen Grund des Gefühls und dessen Bezug zu Lust bzw. Schmerz erläutert, dann (ii) fragt, gegenüber wem diese Empfindung vorliegt und ggf. (iii) die mit der Emotion verbundenen psychosomatischen Phänomene beschreibt. Für alle Emotionen ist kennzeichnend, daß sie mit den basalen somatischen Empfindungen von Lust oder Schmerz verbunden sind. Emotionen sind demnach für Aristoteles stets

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Als Einzelemotionen behandelt Arist. hier: (1) Zorn, (2) Besänftigung, (3) Sanftmut, (4) [Freundschaftliche] Liebe, (5) Hass, (6) Furcht, (7) Zuversicht [Mut], (8) Scham, (9) Dankbarkeit, (10) Mitleid, (11) Entrüstung, (12) [Schadenfreude], (13) [Mitfreude], (14) Neid, (15) Eifer/Ehrgeiz/Rivalität. Für die in eckigen Klammern angeführten Emotionen hat Aristoteles keine eigenen Ausdrücke. Umfassend und gründlich: Ch. Rapp: Aristoteles. Rhetorik (Berlin 2002) Erster Halbband 362–364; Zweiter Halbband 525–681.

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kognitive (psychische) Widerfahrnisse, die mit den somatischen Zuständen von Lust oder Schmerz korrelieren. Dies gilt auch für die in der Rhetorik als αἰσχύνη bezeichnete Scham: Es sei die Scham eine Art von Schmerz (λύπη) und Beunruhigung (ταραχὴ) über diejenigen Übel, die einem ein schlechtes Ansehen (ἀδοξία) einzubringen scheinen, seien sie gegenwärtig, vergangen oder zukünftig. Die Schamlosigkeit (ἀναισχυντία) aber ist eine gewisse Geringschätzung (ὀλιγωρία) und Unempfindlichkeit (ἀπάθεια) hinsichtlich eben solcher Dinge. (Rhet. II, 6. 1383b12–15; Übers. Ch. Rapp) Aristoteles begreift die schambegleitenden psychosomatischen Phänomene von Schmerz und innerer Beunruhigung als Folge einer exakt beschreibbaren Kognition. Für diese Kognition ist die Vorstellung maßgeblich, aufgrund bestimmter Übel bei andern an Ansehen zu verlieren. Als schändliche Übel listet Aristoteles (eher paradigmatisch) eine Reihe von Fällen auf, welche die Minderung des eigenen Ansehens evozieren könnten; so etwa Werke der Feigheit (z.B. das Wegwerfen des Schildes), Werke der Ungerechtigkeit und Werke der Zügellosigkeit, wozu er insb. sexuellen Verkehr mit solchen rechnet, mit denen es ungehörig ist, bzw. Geschlechtsverkehr an Orten und Zeitpunkten, an denen dies unpassend ist. Ferner gehören hierzu die Verweigerung von finanzieller Hilfe, übertriebene Schmeichelei, geistiges Plagiat und das Erleiden von übermütiger Mißhandlung. Die genannten Fälle könnten als Indiz für einen feigen, ungerechten, zügellosen, kleinsinnigen, geizigen, wehrlosen oder entehrten Charakter gewertet werden und insofern das Ansehen mindern. In bestimmten Fällen (etwa bei unziemlichen sexuellen Praktiken) müssen es nicht notwendig die Übel selbst sein, die den Ehrverlust evozieren; es reichen bereits gewisse Anzeichen (σημεῖα), die auf solche Übel nur hindeuten. Aristoteles betont ausdrücklich, daß sich der Schämende nicht der Übel selbst wegen, sondern ausschließlich aufgrund des hier potentiell drohenden Ehrverlustes schämt. Insofern kommt den Adressaten der Scham eine besondere Bedeutung zu. Aristoteles sagt, man schäme sich »notwendigerweise vor denjenigen, denen man Bedeutung beimißt.« (1385b26f.). Dieser Punkt unterstreicht mithin die besondere soziale Dimension der Schamempfindung: Die Scham stützt sich offenbar auf Werturteile darüber, wem man Achtung und Bedeutung zumißt. Für Aristoteles sind dies (i) insb. Personen, die uns selbst bewundern, (ii) Personen, die wir selbst bewundern, (iii) Personen, von denen wir bewundert werden möchten und (iv) Personen, gegenüber denen wir Ehrgeiz/ Konkurrenz empfinden.37 Kurzum: Die Scham ist also an Personen adressiert, die wir entweder in besonderer Weise achten oder von denen wir in besonderer Weise geachtet werden wollen. Insofern verweist dieser Adressatenkreis also auf

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Gliederung nach Ch. Rapp, 2002 II 637.

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ein zunächst unsichtbares Gefüge aus (eher vorbewußten) Urteilen über soziale Achtung bzw. über Achtungserwartungen. Umgekehrt empfindet man keine (oder entsprechend weniger) Scham gegenüber Personen, die man nicht (oder nur weniger) achtet. Hierzu gehören insb. solche Wesen, denen man aufgrund intellektueller Defizite nicht zutraut, ein wahres Urteil zu sprechen. Aristoteles sagt daher: »Niemand schämt sich gegenüber [kleinen] Kindern und Tieren.« (1384b23f.). Es zeigt sich hier abermals, daß die Scham in besonderer Weise von der für den Akteur relevanten normgebenden oder normteilenden Gruppe bzw. von den realen oder imaginierten Machtverhältnissen abhängig ist, in welchen über Zuweisung von Ehre und Achtung entschieden wird. Insofern schämt man sich auch eher vor Personen, die die vermeintlichen Übel »ausplaudern« könnten oder vor den engen Freunden. Letzteres dürfte damit zusammenhängen, daß Freundschaften ein fragiles System von reziproker Achtung, Achtungsbezeigung und aktivem Wohlwollen voraussetzen.38 Veränderungen dieser Variablen könnten mithin zu beunruhigenden Umschichtungen des relevanten unmittelbaren Sozialgefüges führen. Auch aus diesem Grunde sind eher fremde (d.h. für die Zuweisung von Achtung und Achtungserwartungen eher irrelevante) Personen für die Schamempfindungen von vergleichsweise geringerer Bedeutung. Umgekehrt heißt es, man schäme sich »mehr für das, was in der Öffentlichkeit und vor aller Augen geschieht, woher auch das Sprichwort kommt, daß in den Augen die Scham wohnt.« (1384a35– 37). Fassen wir zusammen: Die der Scham zugrundeliegende Kognition stützt sich nach Aristoteles auf mindestens drei Formen von (wahrheitsfähigen) Urteilen: (i) auf Aussagen, die einen potentiellen Verlust des eigenen Ansehens mit hierfür geeigneten Normverletzungen in Verbindung bringen; (ii) auf Aussagen über die Urteilsfähigkeit von Dritten in Hinsicht auf den eigenen Charakter bzw. die eigenen Handlungsmuster; (iii) auf Aussagen, die das bei diesen Personen akute (Macht-)Potential an Achtungszuweisung bzw. Achtungsminderung einschätzen. Ich möchte mit einer Andeutung zu den Stoikern zum Schluß kommen: Ohne daß ich diesen Punkt näher ausführen kann, hat namentlich Chrysipp einen syllogistischen Modus entwickelt, demzufolge man die Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Emotion auf die Wahrheit oder Falschheit der dieser Emotion zugrundeliegenden Kognitionen zurückführen kann.39 Stellen wir uns vor,

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Ch. Darwin: Mein Leben. Die vollständige Autobiographie, hg. v. seiner Enkelin Nora Barlow (aus dem Engl. von Ch. Krüger) (Frankfurt am Main 2008) 50, überliefert eine »goldene Regel« seines (in gesellschaftlichen Dingen weithin anerkannten) Vaters: »Werde niemals der Freund eines Menschen, den du nicht achten kannst.« 39 Grundlegend dazu: T. Tieleman: Chrysippus’ ›On affections‹. Reconstruction and Interpretation (Leiden/Boston 2003). Vgl. dazu meine Rezension: Philosophischer Literaturanzeiger,

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jemand fürchtet sich vor einer Spinne. Wenn wir die Furcht (fÒboj) mit Arist. Rhet. II. 5. 1382a21f. begreifen als »eine Art von Schmerz (lÚph) und Beunruhigung (ταραχή) aus der Imagination (ἐκ φαντασίας) eines zukünftigen Übels, das entweder verderblich oder doch schmerzhaft ist«, so ließe sich gemäß Chrysipp hieraus die folgende Schlußform bilden: P1: Spinnen stellen ein verderbliches oder doch schmerzhaftes Übel dar. P2: Dies ist eine Spinne. C: Also fürchte ich mich. Falls nur eine der beiden Prämissen falsch ist (etwa weil 99 Prozent aller Spinnenarten harmlos sind oder weil dieses hier gar keine Spinne, sondern nur eine Angorafluse ist), dann besteht die Furcht in diesem Falle offenbar zu Unrecht. Es zeigte sich allerdings, daß die der Scham zugrundeliegenden Kognitionen weitaus komplexer sind, da sie auf mindestens drei Typen von Urteilen beruhen. Um die Angemessenheit einer konkreten Schamempfindung halbwegs objektiv beurteilen zu können, müßten wir mithin wissen, ob (i) das Übel, das mit einem möglichen Achtungsverlust in Verbindung gebracht wird, tatsächlich ein Übel in dem oben bezeichneten Sinne ist, (ii) die Person, vor der wir uns schämen, diese Handlung auch tatsächlich unter die bezeichneten Übel subsumiert und (iii) diese Person (oder die Gruppe) tatsächlich in der Lage oder überhaupt gewillt ist, das je problematische Handlungsmuster auch in konkrete Achtungsminderung umzumünzen. Eine derartige Prüfung könnte mithin ergeben, daß der Schamaffekt unangemessen wäre. Im Falle permanenter unangemessener Schamempfindung käme überdies die Gefahr einer Neurosenbildung hinzu. Unter der von Aristoteles eingebrachten Voraussetzung, daß die Scham eine schmerzhafte und beunruhigende Empfindung ist, sollte der erwachsene Mensch um des guten Lebens willen solche Empfindungen eher ganz vermeiden. Diese Überlegung darf freilich nicht dahingehend mißverstanden werden, daß wir uns die Emotion selbst abgewöhnen. Vielmehr scheint es mit Aristoteles plausibel, sich grundsätzlich nicht in Situationen zu begeben, die Personen, denen wir Bedeutung beimessen, für ein Übel halten könnten. Dies bedeutet in erster Linie, sich an diejenigen Normen zu halten, die wir oder die Leute, die wir achten, für bedeutsam halten. Es bedeutet ferner, zu prüfen, ob diese Normen ihrerseits die Achtung verdienen, die wir (oder unsere Freunde) ihnen zubilligen.

Bd. 58, 1 (2005) 33–38. Wichtige Einsichten zur ›stoischen Logik der Gefühle‹ verdanke ich der Diskussion mit den Teilnehmern meines diesbezüglichen Seminars im Wintersemester 2004/05.

Jörn Müller

Scham und menschliche Natur bei Augustinus und Thomas von Aquin

Einem Diktum Max Schelers zufolge besteht ein exklusiver Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Scham und der Natur des Menschen: »Kein Gott und kein Tier vermag sich zu schämen.«1 Diese Idee der Scham als eines genuinen Anthropinum läßt sich in der abendländischen Geistesgeschichte weit zurückverfolgen, wobei allerdings stets folgende Fragen explizit gestellt werden sollten: Welches inhaltliche Verständnis von Scham wird jeweils genau artikuliert? Und welche Auffassung der condicio humana liegt ihm zugrunde oder drückt sich in ihm aus? Weder die Konzeptualisierung der Scham selbst noch das Verständnis von der mit ihr verbundenen menschlichen Natur sind invariante Größen, sondern unterliegen beide historischen und kulturellen Wandlungen; eine begriffsund ideengeschichtliche Reflexion auf die Scham in ihrer Verwurzelung in der menschlichen Natur sollte dieser Variabilität Rechnung tragen. Unter Berücksichtigung dieser Fragestellungen und Prämissen soll nachfolgend die anthropologische Fundierung der Scham im christlich-mittelalterlichen Denken in exemplarischer Form an Hand der zwei vielleicht bekanntesten Philosophen und Theologen dieser Epoche, Augustinus und Thomas von Aquin, zuerst sukzessiv untersucht (Teile I und II) und abschließend miteinander abgeglichen werden (Teil III). Das Schamverständnis just dieser beiden Denker ist in begriffsgeschichtlicher Absicht zwar jüngst schon an verwandtem Ort von Eva-Maria Engelen dargestellt worden, aber wie deutlich werden wird, kommen meine Analysen zu teilweise regelrecht diametral entgegengesetzten Befunden bzw. Einschätzungen und sind deshalb u.a. auch als Kritik sowie Korrektur ihrer Ausführungen zu verstehen.2 Eine terminologische Vorbemerkung ist erforderlich: Meine Analysen stützen sich auf Texte, in denen als lateinisches Äquivalent für Scham die Begriffe pudor, verecundia und erubescentia bzw. kognate Formen wie pudicitia, vereri, erubescere

1

Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl. In: Gesammelte Werke 10 (Bern 1957) 67–154, hier: 69. 2 Eva-Maria Engelen: Eine kurze Geschichte von ›Zorn‹ und ›Scham‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008) 41–73. Die umfassendste Auseinandersetzung mit dem Schambegriff bei Thomas bietet André Guindon: La «crainte honteuse» selon Thomas d’Aquin. In: Revue Thomiste 69 (1969) 589–623; zur Konzeptualisierung der Scham bei Augustinus vgl. Eckemar Vaubel, Pudor: Verecundia, Reverentia. Untersuchungen zur Psychologie von Scham und Ehrfurcht bei den Römern bis Augustin (Diss., Münster 1969), bes. 235–237 u. 242, sowie Richard Sorabji: Emotions and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation (Oxford 2000), v.a. Kap. 24 u. 26. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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Jörn Müller

u.ä. verwendet werden; ausgespart bleiben aus pragmatischen Gründen also andere, teilweise auch mit Scham übersetzte lateinische Begriffe wie z.B. reverentia oder pietas, die aber eher eine besondere Form der Scheu bzw. Ehrfurcht, und zwar meistens im religiösen Kontext – v.a. in der Beziehung des Menschen zu Gott – bezeichnen.3 Es geht im Folgenden also im Kern um das mittelalterliche Verständnis des Schamgefühls im heutigen, tendenziell etwas engeren Sinne des Wortes.

I. Augustinus: Geschlechtsscham und postlapsarische Natur des Menschen Das Hauptinteresse von Augustinus im Blick auf die Phänomenologie und die Erklärung der Scham liegt eindeutig auf dem Phänomen der Geschlechtsscham bzw. des sexuellen Schamgefühls. Im 14. Buch seines Gottesstaates, in dem sich die einschlägigen Erörterungen zu diesem Problemkomplex finden,4 akzentuiert er die seiner Auffassung nach empirisch unbestreitbare Universalität dieser Erscheinung, die sich bei allen Menschen und Völkern finde.5 Das Grundcharakteristikum dieser Geschlechtsscham lokalisiert er in einer Tendenz zum Verbergen bzw. zum Verstecken von allem, was mit der menschlichen Scham zu tun hat: (1) Dies zeigt sich einerseits sinnfällig in der weitgehenden Verhüllung der primären Geschlechtsorgane; die sachliche Verknüpfung von Scham und Geschlechtsteilen wird auf sprachlicher Ebene u.a. schon dadurch zum Ausdruck gebracht, daß letztere als pudenda bezeichnet werden, mithin als das, wofür man sich schämen muss. (2) Dieser Hang zur schamhaften Verhüllung der Geschlechtsorgane geht nach Augustinus Hand in Hand mit der bevorzugten heimlichen Ausübung der sexuellen Aktivität, die regelmäßig den Blicken der Öffentlichkeit entzogen wird. Hier stößt er nun auf das Grundproblem, das ihn überhaupt erst zu einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Phänomen nötigt: Das Verhüllen bzw. Verbergen dieser Aktivität ist nämlich keineswegs an irgendeine Form der sittlichen Schändlichkeit gekoppelt, denn selbst in der Ehe vollzogene Geschlechtsakte suchen nach Nacht und Heimlichkeit: »Also auch erlaubte und unbestrafte Begierde verhüllt sich bereits.«6 Aber warum soll man sich eigent-

3 Zur Sprachentwicklung dieser Begrifflichkeiten im Lateinischen vgl. E. Vaubel, Pudor: Verecuntia [Anm. 2]. 4 Vgl. Augustinus, De civitate Dei [ab hier: ciu.] XIV, 16–24. Im Folgenden greife ich im Wesentlichen auf die einschlägige Textausgabe und Übersetzung zurück: Augustinus: Der Gottesstaat / De civitate Dei. 2 Bde., übers. u. hg. v. Carl Johann Perl (Paderborn u.a. 1979). 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden ciu. [Anm. 4] XIV 17–18, pp. 963–967. 6 Ebd. 18, p. 965.

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lich eines Aktes, der im Rahmen eines kirchlich gespendeten Sakraments der göttlichen Aufforderung: »Seid fruchtbar und mehret Euch!« nachkommt, schämen? Dieses Problem verschärft sich noch dadurch, daß Augustinus die auf das Sexuelle gerichteten Verhüllungs- bzw. Verbergungstendenzen eben nicht als etwas erst durch Erziehung und Kultur Vermitteltes, sondern eindeutig als etwas Angeborenes ansieht: In ihnen drückt sich eine »natürliche Scham« (verecundia naturalis7 / pudor naturalis8) aus. Wie lässt sich nun deren Gestalt und Existenz erklären? Um die Begründung dieses natürlichen Schamgefühls bei Augustinus zu verstehen, muß man einen Blick auf den Kontext werfen: In De civitate Dei XIV setzt sich Augustinus kritisch mit antiken Emotionstheorien, v.a. mit dem Kognitivismus der Stoiker und ihrem ethischen Ideal der Apathie, aber auch mit der peripatetischen Konzeption der Metriopathie, auseinander.9 Gegen diese auf Aristoteles zurückgehende Idee einer Mäßigung der Leidenschaften durch die Tugenden führt er dabei die Lust, und zwar v.a. in ihrer sexuellen Form (libido), ins Feld: Im Gegensatz zu anderen Emotionen wird die geschlechtliche Lust selbst durch ihre Zügelung bzw. Moderation in Richtung einer Metriopathie nicht sittlich gut. Dieser Sonderstatus, der die geschlechtliche Lust von anderen Begierden und Leidenschaften unterscheidet, insofern bei diesen eben die Tugend in der Mitte zwischen den Extremen liegt, ist letztlich in der Fähigkeit der sexuellen Begierde begründet, unter Umgehung des Willens bestimmte Körperglieder zu bewegen – Augustinus hat dabei für ihn typischerweise v.a. das männliche Geschlechtsglied im Blick: Während alle anderen Körperglieder der unmittelbaren Steuerung des Willens unterliegen, ist hier eine elementare Unverfügbarkeit gegeben; die Kontrolle der Genitalien liegt nicht beim Willen, sondern nur bei der Begierde: »Die geschlechtlichen Körperteile hingegen hat sich die Begierde so sehr angeeignet und gewissermaßen ihrem Recht unterworfen, daß sie sich nicht zu bewegen vermögen, wenn sie selbst versagt, wenn sie sich nicht selbst freiwillig oder aufgereizt erhebt. Das ist es, was beschämt, das ist es, weshalb sie schamvoll die Augen der Zuschauer meidet.«10 In der geschlechtlichen Lusterregung zeigt sich also das von Paulus im GalaterBrief (V, 16–18) beschriebene Aufbegehren des Fleisches gegen den Geist bzw. das in Röm 7,14 ff. beschworene »Gesetz« bzw. »Recht der Sünde«, das den Men-

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Ebd. Ebd. XIV 20, p. 969. 9 Vgl. ebd., 8–9. 10 Ebd. 19, p. 969. 8

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schen gegen seinen Willen zwingt, etwas zu tun, was er für schlecht hält.11 Hier liegt nach Augustinus das eigentliche Skandalon der geschlechtlichen Begierde: in der kompletten Entmachtung des Willens als Steuerungsinstanz des menschlichen Handelns und als Beweger des Körpers. Dabei existiert ein qualitativer Unterschied zu anderen ungeordneten Leidenschaften, die »ohne Maß und Ordnung den Menschen zu Taten veranlassen, die zu begehen die Weisheit verbietet«12: Diese können sich nämlich nur ins körperliche Handeln übersetzen, wenn ihnen der Wille seine Zustimmung (consensus) gegeben hat. Dann tritt zwar ggf. die von Augustinus in Confessiones VIII so eindrucksvoll beschriebene Spaltung des Willens in einen »fleischlichen« und einen »geistigen« ein, die miteinander in Konflikt stehen, aber letztlich unterliegt sich der Wille in diesem Fall gewissermaßen selbst, weil er der leidenschaftlichen Begierde freiwillig Einlass in seine innere Architektur verschafft hat.13 Anders sieht es im Falle der sinnlichen Geschlechtslust aus: »Die sinnliche Begierde aber wirkt sich deshalb so beschämend aus, weil der Geist, sobald er von ihr befallen ist, weder sich selbst wirksam beherrscht, so daß es ihn überhaupt nicht gelüsten würde, noch dem Leib irgendwie gebietet, so daß die Schamglieder statt durch die Begierde durch den Willen erregt würden. […] So aber schämt sich der Geist, daß ihm vom Leibe Widerstand geleistet wird, der ihm durch seine tiefer stehende Natur doch unterworfen ist. Tritt er in anderen Leidenschaften in Widerspruch mit sich selbst, beschämt ihn das deshalb viel weniger, weil er in diesem Fall sich selbst unterliegt, da er sich selbst besiegt […]. Zwar schämt sich der Geist auch dann, wenn er aus seinen fehlerhaften Teilen sich nicht gehorcht, jedoch viel weniger, als wenn der Leib, sein Widerpart, ihm untergeben und ohne ihn nicht lebensfähig, seinem Wunsch und Willen nicht Folge leistet.«14 Das konkrete Schämen liegt also begründet in der Umkehrung der natürlichen Ordnung der Herrschaft des Geistes bzw. des Willens über den Körper. Hier zeigt sich der existentielle Zug dieses natürlichen Schamgefühls, das bei Augustinus

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Zur Bedeutung dieser biblischen Passagen für die Herausbildung einer genuin christlichen Tradition von Willensschwäche vgl. Jörn Müller: Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus (Leuven 2009), Teil III, sowie ders.: Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes. Zur christlichen Tradition des Handelns wider besseres Wissen. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 100 (2009) 223–246. 12 Augustinus: ciu. [Anm. 4] XIV 19, p. 967. 13 Zum zerrissenen Willen bei Augustinus vgl.: Confessiones VIII, 5, 10 – 12, 29, sowie Jörn Müller: Zerrissener Wille, Willensschwäche und menschliche Freiheit bei Augustinus: Eine analytisch motivierte Kontextualisierung von Confessiones VIII. In: Philosophisches Jahrbuch 114 (2007) 49–72. 14 Augustinus: ciu. [Anm. 4] XIV 23, p. 977.

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letztlich im Spannungsfeld von leiblicher und geistiger Natur des Menschen verwurzelt ist und damit einige Strukturparallelen aufweist mit Max Schelers Analyse der Scham als menschliches Bewußtsein der »Disharmonie […] zwischen dem Sinn und dem Anspruch seiner geistigen Person und seiner leiblichen Bedürftigkeit«15; das von Augustinus beschriebene Verbergen des Geschlechtlichen, das im Kern eine Verhüllung des Verlustes willentlicher Selbstkontrolle darstellt, läßt die geschlechtliche Schamhaftigkeit damit als »Zurückdrängung und Verbergung des gattungsmäßig Animalischen unserer Existenz«16 erscheinen. Man kann die Stringenz der augustinischen Ableitung der geschlechtlichen Scham aus der sexuellen Lust bzw. Begierde durchaus mit guten philosophischen Gründen in Frage stellen, wie dies jüngst R. Sorabji getan hat.17 Das eigentliche Anliegen von Augustinus ist aber letztlich ohnehin ein theologisches. Die Feststellung, daß die Geschlechtsscham eine natürliche, also der menschlichen Natur als solche zukommende Emotion ist, muß nämlich bei näherem Hinsehen nachhaltig qualifiziert werden: Sie ist in Wahrheit nur ein Bestandteil der postlapsarischen Natur, also der Natur des Menschen nach dem paradiesischen Sündenfall. In seiner Genesis-Auslegung in De civitate Dei betont Augustinus ausdrücklich, daß die Nacktheit im Paradies ursprünglich nicht schändlich (turpis) bzw. Anlaß zum Sich-Schämen des Menschen war, und zwar weil damals die Zeugungsglieder nicht von der Lust, sondern vom Willen bewegt wurden, womit die normative Ordnung der Herrschaft des Geistes über das Fleisch jederzeit gewahrt blieb.18 Erst durch den Sündenfall und als explizite Strafe für ihn ist der menschlichen Natur die willentliche Kontrolle über die geschlechtliche Lust und die Zeugungsorgane verloren gegangen.19 Deshalb beginnen sich Adam und Eva erst unmittelbar nach dem Sündenfall ihrer Nacktheit zu schämen: Bis dahin waren sie nach Augustinus vom »Kleid der Gnade« bedeckt, das eine Widersetzlichkeit der irrationalen Seelenteile und der Körperglieder gegen den Willen verhinderte.20 Das dem Sündenfall folgende Auftreten der Geschlechtsscham ist mit dem menschlichen Bestreben verbunden, die durch den Verlust des Gnadenkleides

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M. Scheler: Über Scham [Anm. 1] 69. Ebd. 148. 17 Vgl. R. Sorabji: Emotions [Anm. 2], Kap. 24, bes. 380–384 zu Augustinus: ciu. [Anm. 4] XIV, 16–24. Der Kern der philosophischen Kritik Sorabjis liegt darin, daß Augustinus die von der Stoa geltend gemachte Differenzierung von propatheiai (also natürlichen und unvermeidlichen Körperregungen) und pathê (d.h. voll ausgebildeten Emotionen) im Falle der Geschlechtslust komplett marginalisiert. Augustinus kritisiert allerdings diese stoische Unterscheidung in grundsätzlicher Weise und lehnt sie letztlich ab. 18 Vgl. Augustinus: ciu. [Anm. 4] XIV 17, p. 963; 24, p. 979; 26, p. 985. 19 Vgl. ebd. XIII 3, p. 851: »[S]eine menschliche Natur wurde in ihm so weit abgeändert und verschlechtert, dass seine Glieder von nun an den widerspenstigen Ungehorsam des Begehrens zu erleiden hatten und er dem Zwang des Sterbens anheimgefallen ist.« 20 Vgl. ebd. XIII 13, p. 869; XIV 17, p. 963, zu Gen 3, 7: »Sie erkannten, daß sie nackt waren.« 16

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in ihrer Widerspenstigkeit zum Willen als schändlich empfundenen Glieder in irgendeiner Weise wieder zu bedecken: »Was die Begierde also, ungehorsam gegen den Willen, der infolge des Ungehorsams bestraft worden war, zu bewegen vermochte, das bedeckte züchtig die Sittlichkeit (verecundia pudenter tegebat). Und die Sitte, die Schamteile zu verhüllen, ist seither allen Völkern […] angeboren.«21 Der Ungehorsam der sinnlichen Begierden und der Geschlechtsteile in der postlapsarischen Natur sind also ihrerseits das Resultat eines ursprünglich schuldhaften Ungehorsams des Menschen gegenüber Gott.22 Von diesem ist nach Augustinus bekanntermaßen kein Nachgeborener ausgenommen, insofern »wir alle«, also die menschliche Natur als solche, in Adam gesündigt haben.23 Hier kommt nun die berühmt-berüchtigte augustinische Erbsündenlehre ins Spiel, die natürlich ihrerseits auf dem Zusammenhang von Sexualität und Schuld aufgebaut ist, insofern die Übertragung der Erbschuld in Zusammenhang mit der Lust des Geschlechtsaktes steht. Die Scham, die der Mensch selbst beim ehelich legitimen Geschlechtsakt verspürt, ist selbst eine Art Straffolge des Sündenfalls: Gott hat den Menschen durch diese Strafe gewissermaßen beschämt. Die »Unordnung« der Lust und der Geschlechtsorgane, auf die sie sich bezieht, ist Signatur der selbstverschuldeten Unvollkommenheit des Menschen in seinem postlapsarischen Zustand. Damit wird der Scham eine nachhaltige moralische Deutung gegeben, die nicht ohne weiteres aus der schuldhaften Verstrickung des Menschen in die Erbsünde herausgelöst werden kann, sondern eigentlich erst vor ihrem Hintergrund verständlich wird.24 Den wechselseitigen Verweisungszusammenhang von Schuld, Strafe und Scham formuliert Augustinus selbst unzweideutig: »Die menschliche Natur ist es nämlich, die sich zweifellos der sinnlichen Begierde schämt, und zwar mit Recht. Denn in dem Ungehorsam der Geschlechtsteile, die allein den Regungen der Begierde unterworfen und der Macht des Willens entzogen sind, zeigt sich deutlich, wie jener erste Ungehorsam des Menschen vergolten wird.«25 Insofern die Begierde selbst »Vergeltung für die Sünde des Ungehorsams«26 ist,

21

Ebd. XIV 17, p. 965. Vgl. ebd.: »So aber sahen sie sich beschämt durch den Ungehorsam ihres Fleisches, der die Strafe bildete, die ihren eigenen Ungehorsam bezeugte.« 23 Vgl. exemplarisch ebd. XIII 14, p. 869: »Denn wir alle waren in jenem einen, der in Sünde gefallen ist durch das Weib.« 24 Vgl. auch die diesbezügliche Debatte von Augustinus mit Julian von Eclanum, die R. Sorabji: Emotions [Anm. 2] 400–417 mit einschlägigen Stellen aus dem Spätwerk referiert. 25 Augustinus: ciu. [Anm. 4] XIV 20, p. 971. 26 Ebd. 23, p. 975. 22

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schämt sich der Mensch in der Geschlechtsscham seiner selbst und zwar in seiner ganzen Existenz als sündhafter. Scham setzt hier also Schuld voraus und wird durch diese erst verursacht. Die Erfahrung der menschlichen Unvollkommenheit, wie sie sich in der Geschlechtsscham bei Augustinus manifestiert, hat sich der Mensch gewissermaßen selbst zuzuschreiben. In diesem Sinne gilt für den postlapsarischen Menschen mehr denn je das Diktum von Jean-Paul Sartre: »J’ai honte de ce que je suis«, oder vor dem Hintergrund der augustinischen Erbsündenlehre präziser formuliert: »Ich schäme mich für das, was ich aus mir gemacht habe.«27 Diese unverkennbar moralische Dimension spricht nun eindeutig gegen die Deutung der augustinischen Position als »Scham ohne Ethik«, wie sie Eva-Maria Engelen im anfangs erwähnten Artikel vorgelegt hat:28 Auch wenn Augustinus Scham außerhalb von De civitate Dei des Öfteren lediglich den Verstoß gegen eine beliebige (also nicht notwendig sittlich fundierte) Regel als Auslöser einer Schamreaktion bezeichnet,29 ist gerade die für Augustinus zentrale Geschlechtsscham Resultat eines eminent moralischen Handelns gegen die höchste sittliche Autorität Gottes, das der menschlichen Gattung als ganzer schuldhaft zugeschrieben wird. Die Scham ist letztlich auch eine angemessene Reaktion hierauf, weil sie mit dem Gefühl der Demütigung einhergeht, das genau die Haltung konterkariert, die nach Augustinus den Sündenfall überhaupt erst hervorgerufen hat: die menschliche Hochmut (superbia).30 Diese existentielle Scham des Menschen ob seiner selbstverschuldeten Unvollkommenheit, die in der Erfahrung seiner Geschlechtlichkeit unabweisbar zu Tage tritt, hat dadurch bei Augustinus allerdings auch eine unverkennbar negative Stoßrichtung. Während etwa Scheler die positiven Funktionen der Geschlechtsscham im Aufbau der menschlichen Liebesfähigkeit sowie der Moral unterstreicht, steht sie bei Augustinus letztlich immer im Schatten des Sündenfalls. Augustinus gesteht der Schamhaftigkeit zwar zu, daß sie von Zeit zu Zeit sittliche Verfehlungen zu verhindern vermag,31 aber insgesamt ist es unzweifelhaft, daß die Geschlechtsscham als moralische Kraft das göttliche Gnadenkleid in keiner Weise zu ersetzen vermag. Die Scham ist und bleibt deshalb bei Augustinus

27

Daß Scham teilweise auch als Bestandteil der ursprünglichen menschlichen Natur verstanden wurde, belegt etwa Gregor von Nyssa; vgl. Theo Kobusch: Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (Darmstadt 2006) 209. 28 Vgl. E.-M. Engelen: Eine kurze Geschichte [Anm. 2] 55–60. 29 Vgl. dazu die von Engelen aus den Confessiones versammelten Stellen: ebd. 55f.. 30 Zum Zusammenhang von Hochmut und paradiesischem Sündenfall vgl. Augustinus De libero arbitrio III 25, 76; De vera religione 45, 83; ciu. [Anm. 4] XIV 13. 31 So meint er z.B., daß der als öffentliche Provokation vollzogene Beischlaf des Kynikers Diogenes, der gerne als Beispiel gegen die Universalität der Geschlechtsscham ins Feld geführt wurde, de facto gar nicht stattgefunden hat, sondern lediglich bewegungstechnisch simuliert wurde, weil die natürliche Schamhaftigkeit hier eine echte Erregung blockiert hätte; vgl. Augustinus: ciu. [Anm. 4] XIV 20, p. 971.

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tendenziell ein Kainsmal der postlapsarischen Existenz des Menschen in seiner Schuldhaftigkeit.

II. Thomas von Aquin: Die Scham des Menschen als ›animal sociale‹ Die bei Augustinus sichtbar gewordene Fixierung auf die Geschlechtsscham teilt Thomas von Aquin so nicht. In dem einzigen Artikel seiner Summa theologiae, in dem er näher auf dieses Phänomen eingeht, schließt er sich zwar weitgehend der augustinischen Deutung aus De civitate Dei XIV an: Der Mensch schämt sich nicht nur des Geschlechtsaktes, sondern auch aller äußeren Zeichen, die auf ihn hindeuten.32 Die besondere Schändlichkeit der Geschlechtlust zeigt sich zum einen im obstinaten Ungehorsam der Genitalien, zum anderen darin, daß sie die Tätigkeit der Vernunft quasi komplett absorbiert und damit die Grundlage der Freiheit des menschlichen Aktes untergräbt.33 Thomas rubriziert aber die bei Augustinus so exklusiv betonte Geschlechtslust im Wesentlichen unter der weiter gefaßten tugendethischen Kategorie der »Unmäßigkeit« (intemperantia), der er die schändlichsten Sünden zuschreibt. »Schändlichkeit« bzw. »Häßlichkeit« (turpitudo) ist dabei allerdings nicht per se gleichzusetzen mit sittlicher Verwerflichkeit, zumindest nicht im Sinne einer einfachen Proportionalitätsbeziehung: Wie Thomas unterstreicht, sind die der »Unmäßigkeit« zugeordneten Sünden zwar die schändlichsten, aber nicht automatisch auch die sittlich schlechtesten.34 Die besondere Schändlichkeit liegt dabei offensichtlich in ihrem unmittelbaren Bezug auf die Körperlichkeit, denn die Unmäßigkeit hat es bei Aristoteles, auf den sich Thomas in seinen tugendethischen Kategorisierungen nahezu durchgängig beruft, im primären Sinne mit der Indulgenz gegenüber körperlich fundierten Begierden wie Esslust, Geschlechtstrieb u.ä. zu tun.35 Ganz in diesem Sinne erklärt Thomas, daß die körperlichen Sünden (peccata corporalia) schändlicher sind als die geistigen (peccata spiritualia),36 auch wenn natürlich der Gotteshaß im Sinne der moralischen Verwerflichkeit und Schuld schwerer wiegt als ein unzüchtiger Geschlechtsakt. Aus diesen Zuordnungen läßt sich nun auch schon der allgemeine moralpsychologische Standort der Scham insgesamt bei Thomas näher bestimmen:

32 Worunter er nicht nur die Genitalien versteht, sondern auch Küsse und sonstige Berührungen; vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae [im folgenden: STh] II–II q. 151 a. 4, resp. Zur Geschlechtsscham bei Thomas vgl. auch A. Guindon: La «crainte honteuse» [Anm. 2] 611–619. 33 Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 151 a. 4, ad 3. 34 Vgl. ebd. q. 143 a.un., resp.: »vitia intemperantiae maxime turpitudinem habent.« Vgl. auch ebd. q. 142 a. 4; q. 151 a. 4, ad 2. 35 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea III 13, 1118a3–b8. 36 Vgl. Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 141 a. 2, ad 4.

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(1) Die Scham wird verhandelt als integraler Bestandteil der Tugend der Mäßigkeit (pars integralis temperantiae), insofern sie die der Mäßigkeit entgegengesetzte Schändlichkeit flieht bzw. meidet.37 Daß sie ein integraler Bestandteil einer der vier klassischen Kardinaltugenden ist, heißt hierbei keineswegs, daß sie selber schon Tugendstatus besitzt, wie wir später noch näher sehen werden, sondern lediglich, daß sie einen wichtigen vorbereitenden Beitrag zur Mäßigkeit leistet.38 Vermögenspsychologisch betrachtet ist die Scham nach Thomas also kategorial als Leidenschaft (passio) bestimmt. (2) Als Bezugsfeld für die Scham ist der Bereich des Schändlichen bzw. Häßlichen bestimmt (turpe).39 Damit ist ein inhaltlicher Zusammenhang (wieder)hergestellt, der im Griechischen auf sprachlicher Ebene noch deutlicher ist, denn dort ist ein etymologischer Bezug von aischynê und aischron, von Scham und Häßlichem, ebenso naheliegend wie der Konnex von Scham und Schande im Deutschen. In Präzisierung dieser beiden Momente bestimmt Thomas die Scham, insofern sie eine passio ist, als Furcht vor der Schändlichkeit (timor turpitudinis), also als eine Form von »Furchtscham«.40 Hierbei unterscheidet er zwei verschiedene Formen von Schändlichkeit:41 Die lasterhafte Schändlichkeit (turpitudo vitiosa) bezieht sich auf die Unordnung des Willensaktes selbst, also auf seinen sittlichen Unwert, während die strafhafte Schändlichkeit (turpitudo poenalis) es eher mit seiner nachfolgenden Zensur in Form des angemessenen Tadels (vituperium) zu tun hat. Thomas setzt die Scham nun folgendermaßen zu diesen beiden Begriffen von Schändlichkeit in Relation: »Die Scham, welche ja die Furcht vor der Schändlichkeit ist, betrifft in erster Linie den Tadel und die Schimpflichkeit (vituperium seu opprobrium). Und weil der Tadel im eigentlichen Sinne dem Laster gebührt – so wie die Ehre der Tugend – so betrifft die Scham indirekt auch die lasterhafte Schändlichkeit (turpitudo vitiosa). (…) Auf die Schuld (culpa) bezieht sich die Scham aber auf doppelte Weise: Zum einen so, daß jemand wegen der Furcht vor dem Tadel aufhört, lasterhaft zu handeln; zum anderen so, daß der Mensch bei den

37

Vgl. ebd. q. 143 a. un., resp. Vgl. ebd. q. 144 a. 4, ad 4: »[V]erecundia non est pars temperantiae quasi intrans essentiam eius, sed quasi dispositive se habens ad ipsam.« 39 Vgl. auch schon Ambrosius, De officiis I 18: »Intellegere quoque quod turpe sit, pudori maximo est.« 40 Zu den Wurzeln der Furchtscham im griechischen aidôs-Verständnis vgl. Philipp Steger: Die Scham in der griechisch-römischen Antike – Eine philosophie-historische Bestandsaufnahme von Homer bis zum Neuen Testament. In: Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven, hg. v. Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze (Opladen 1997) 57–73, hier: 64 f. 41 Vgl. zum Folgenden Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 141 a. 2, resp. 38

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von ihm ausgeführten schändlichen Akten aus Angst vor dem Tadel die Öffentlichkeit meidet. Das erste fällt nach Gregor von Nyssa in den Bereich der erubescentia, das zweite in den der verecundia.«42 Thomas etabliert damit einen Zusammenhang von Schuld und Scham, den wir auch schon bei Augustinus kennengelernt haben, aber dieser ist doch anders konturiert: Scham setzt zwar auch bei Thomas normalerweise Schuld voraus, aber er deutet dies hier nicht in Kategorien von gattungsbedingter Erbsündlichkeit aus, sondern bezieht es stärker auf die jeweilige konkrete Einzelhandlung des Individuums; außerdem ist die Blickrichtung im Vergleich zu Augustinus quasi eine umgekehrte: Während die Scham bei Augustinus primär auf den paradiesischen Sündenfall zurück verweist, geht der Blick von Thomas stärker nach vorne zu dem auf die schändliche Handlung folgenden Tadel. Neu ist gegenüber Augustinus auch die Unterscheidung von zwei verschiedenen Formen der Scham: erubescentia und verecundia. Diese geht auf die Kirchenväter Johannes Damascenus und Nemesius von Emesa zurück, bei denen jeweils verschiedene Arten von Furcht unterschieden werden, zu denen u.a. erubescentia und verecundia gehören: Erstere wird bestimmt als Furcht vor einer erwarteten Zurechtweisung; die zweite als Furcht vor dem schändlichen Akt.43 Mit dieser Unterscheidung sollte offensichtlich die terminologische Doppelung des Schambegriffs im Griechischen in aidôs und aischynê wiedergegeben werden. Thomas versucht wie so oft, dieser in der Patristik eher dürftig konturierten Unterscheidung einen möglichst präzisen inhaltlichen Sinn abzugewinnen. Dabei legt er allerdings verschiedene Deutungen vor:44 (1) Teilweise werden die beiden Konzepte im Blick auf ihren temporalen Aspekt differenziert, nämlich als aktbegleitende und als nachfolgende Scham: Während sich die erubescentia in der schändlichen Handlung selbst regt, bezieht sich die verecundia auf eine bereits verübte Tat.45 (2) An anderen Stellen unterscheidet er sie im Blick auf ihren Gegenstand, und zwar in loser Anlehnung an die bereits zuvor erläuterte Differenz von turpitudo vitiosa und turpitudo poenalis: Während die verecundia in der schuldhaften Schändlichkeit des Aktes an sich (turpitudo culpae) verwurzelt ist, bezieht sich die erubescentia auf die turpitudo poenae, die es v.a. mit der tadelnden Zensur

42

Vgl. ebd. q. 144 a. 2, resp. Vgl. Nemesius von Emesa: De natura hominis, Kap. 20, sowie Johannes Damascenus: De fide orthodoxa, Kap. 29: »Erubescentia vero est timor in expectatione convicii: optima autem est haec passio. verecundia vero est timor in turpi actu.« 44 Zur Rekonstruktion der Entwicklung in Thomas’ Verständnis von erubescentia und verecundia vgl. auch A. Guindon: La «crainte honteuse» [Anm. 2] 590–596. 45 Vgl.Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] I–II q. 41 a. 4, resp. 43

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durch die Meinung anderer zu tun hat.46 Damit bezieht sich die verecundia tendenziell eher auf eine innerliche Wertung, die mit dem Begriff des Gewissens in Verbindung gebracht werden kann, also eine moralische Scham. Die erubescentia ist hingegen eine Art Sozialscham, die auf die prospektive Abwertung im Urteil anderer verweist.47 Dabei ist erkennbar, daß das Konzept der Scham insgesamt bei Thomas zunehmend auf die nach außen gerichtete Sozialscham fokussiert wird. Dies zeigt z.B. seine recht originelle Kommentierung des aristotelischen Schambegriffs, in deren Kontext er die physiologische Erscheinungsform des Errötens im Vergleich zum Erblassen wie folgt erklärt: »Die Natur überträgt die Säfte und Lebensgeister dorthin, wo sie einen Mangel (defectus) verspürt. Der Sitz des Lebens aber ist im Herzen; sobald also eine Lebensgefahr gefürchtet wird, laufen die Säfte und Lebensgeister zum Herzen zurück und das gewissermaßen verlassene Äußere erblaßt. Die Ehre und die Scham aber liegen im Äußeren; sobald also der Mensch durch die Scham (verecundia) eine Gefahr an seiner Ehre fürchtet, errötet er (rubescit), weil die Säfte und Lebensgeister zum Äußeren zurücklaufen.«48 Hier werden verecundia und erubescentia gewissermaßen zusammengeführt und zwar durch den Bezug auf die Furcht vor einem äußeren Ehrverlust. Damit ist ein tertium comparationis benannt, das der Scham im thomanischen Spätwerk der Secunda secundae bei aller terminologischen Divergenz doch noch eine innere Einheit verleiht: Die Furcht vor der Schändlichkeit (timor turpitudinis) entpuppt sich zunehmend als Furcht vor der Entehrung, als timor dehonorationis,49 und zwar in der Meinung anderer. Als Spezies der Gattung Furcht richtet sich die Scham ja auf ein schwer zu vermeidendes und deshalb zu fliehendes Übel, das Thomas wie folgt konkretisiert: »In der Handlung eines Menschen kann ein Übel auf zweifache Weise auftreten. […] Zweitens, als Schändlichkeit, welche die Meinung beschädigt (turpitudo laedens opinionem). Und wenn die Schändlichkeit in der Ausführung

46

Vgl. Thomas von Aquin: d.26 q. 1 a. 3, resp. Siehe auch Thomas: De veritate q. 26 a. 4, ad 7. Zur Unterscheidung von moralischer und sozialer Scham vgl. Sighard Neckel: Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls. In: Zur Philosophie der Gefühle, hg. v. Hinrich Fink-Eitel, Georg Lohmann (Frankfurt a.M. 1993) 244–265, bes. 248–251. 48 Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum [im folgenden: SLE] IV 17, Editio Leonina 47, p. 260. 49 Vgl. Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 75 a. 1, ad 1. Siehe auch ebd.: SLE [Anm 48] IV 17, wo die Scham im Anschluß an den kommentierten Aristoteles-Text auch als »timor ingloriationis« bezeichnet wird. Im Hintergrund steht hier auch die stoische Einordnung der Schande als Furcht vor »adoxia«; vgl. Chrysipp, Fragmenta Moralia, Stoicorum Veterum fragmenta III 407. 47

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des Aktes gefürchtet wird, ist es die erubescentia; wenn sie sich auf das bereits geschehene Schändliche bezieht, ist es die verecundia.«50 Auch die nachfolgende Scham bezieht sich damit primär auf ein befürchtetes zukünftiges Übel, nämlich auf den durch die Aufdeckung der Tat befürchteten Reputationsverlust.51 Das Schändliche, auf das sich die Scham bezieht, liegt dann aber weniger in der moralischen Qualität des Aktes, sondern primär in den antizipierten sozialen Kollateralschäden.52 Diese Sichtweise der Scham als Sozialscham macht nach Thomas diverse Phänomene erklärbar:53 So schämen wir uns vor uns nahestehenden Personen oder solchen, die wir selbst schätzen bzw. achten, in besonderem Maße, weil uns viel an deren Urteil liegt; hingegen nimmt die Schamgrenze ab, je weniger wir auf die Meinung des anderen geben: Vor Fremden geniert man sich wesentlich weniger für seine schlechten Handlungen, und hat man es gar mit einen Verbrecher zu tun, bleibt die Scham über eigene Untaten letztlich ganz aus. Je enger die soziale Beziehung ist, um so mehr fürchten wir ihre Beschädigung durch die Herabsetzung in der Meinung des anderen, und desto mehr schämen wir uns auch. In der Scham zeigt sich somit auch eine vom jeweiligen Akteur konstruierte Ordnung von Anerkennungs- und Achtungsbeziehungen, denn man möchte natürlich v.a. die Achtung derer nicht einbüßen, denen man selbst mit Anerkennung begegnet.54 Grund der Scham ist bei Thomas also v.a. die Furcht vor der Beschädigung der sozialen Anerkennungs- und Achtungsbeziehungen durch den Verlust des guten Rufs. Wer einen anderen durch Verbreitung ehrabschneidender Gerüchte in seiner Umgebung lächerlich zu machen versucht, verübt deshalb einen Anschlag auf sein Schamgefühl.55 Dadurch wird gleichzeitig die Grenze zwischen echter und falscher Scham zunehmend verflüssigt: Man bemüht sich nämlich nicht nur, Taten zu vermeiden oder zu verheimlichen, die in Wirklichkeit (secundum veritatem) sittlich fehlerhaft sind, sondern auch solche, die bloß in der Meinung anderer (secundum opinionem) als schändlich gelten.56 Thomas räumt nämlich ein, daß man sich im akzidentellen Sinne sogar wegen einer tugendhaften Handlung schämen kann, und zwar dann, wenn sie nach der Auffassung anderer lasterhaft ist.57 Die Scham ist somit in ihrer Genese wie auch in ihrer konkreten Gestalt nach Thomas massiv in der menschlichen Sozialnatur verwurzelt und somit auf das Engste mit

50

Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] I–II q. 41 a. 4, resp. Vgl. ebd. ad 3. 52 Vgl. ebd. q. 42, a. 3, ad 4. 53 Vgl. zum Folgenden STh II–II q. 144 a. 3 (»Utrum homo magis verecundetur a personis coniunctis«). 54 Vgl. zu diesen Aspekten der Scham: S. Neckel: Achtungsverlust [Anm. 47] 245 f. 55 Vgl. Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 75 a. 1, resp. sowie ad 2 u. 3. 56 Vgl. hierzu: Ebd. q. 144 a. 4, ad 2; SLE [Anm. 48] IV 17, p. 261. 57 Vgl. STh [Anm. 32] II–II q. 144 a. 2, ad 3. 51

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der anthropologischen Bestimmung des Menschen als animal sociale verknüpft. Vor diesem Hintergrund mutet die Konzeptualisierung der Scham bei Thomas unter der Überschrift »Emotion ohne Gemeinschaft« in der Begriffsgeschichte von Eva-Maria Engelen eher zweifelhaft an.58 Aus dieser Akzentuierung des Gedankens der Sozialscham wird auch einer der Gründe deutlich, aus denen heraus Thomas der Scham letztlich den Status einer genuinen Tugend abspricht: Der wirklich Tugendhafte kümmert sich letztlich doch weniger um die Meinung der anderen als um den wahren sittlichen Sachgehalt seines Tuns.59 Weiterhin sprechen nach Thomas folgende Überlegungen dagegen, die Scham als vollwertige Tugend zu betrachten: (1) In moralpsychologischer Sicht verweist er auf die mangelnde Reflektiertheit der Scham. Im Anschluß an die bereits oben zitierte physiologische Analyse der Scham konstatiert Thomas in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik: »So liegt also offen zu Tage, daß die Scham und die Todesfurcht gewisse körperliche Erscheinungen sind (quaedam corporalia), insofern sie mit einer physischen Veränderung in Verbindung stehen, was eher zu einer Leidenschaft als zu einem Habitus gehört. Und so steht fest, daß die Scham keine Tugend ist.«60 Scham ist tendenziell eher ein uns überkommendes körperliches Ereignis als eine Instanz zur kognitiv vermittelten Handlungssteuerung:61 Die Scham ist definitiv kein Habitus, der überlegte Willensakte hervorbringt (habitus electivus), wie die Tugend.62 Gegen die Klassifizierung als Tugendhabitus spricht auch, daß die durch sie ggf. erreichte Habitualisierung quasi in die falsche Richtung tendiert: Es geht ja nicht darum, sich bei entsprechenden Gelegenheiten wieder zu schämen, sondern in erster Linie darum, schändliche Taten zu vermeiden.63 (2) Damit wird auch der wesentliche moralphilosophische Aspekt deutlich, unter dessen Berücksichtigung die Scham keine Tugend sein kann: Der Begriff der Tugend bzw. des Tugendhaften drückt eine Form der sittlichen Vollkommenheit aus, die im Konzept der Scham geradezu negiert wird:64 Man schämt sich ja ob einer irgendwie als minderwertig empfundenen Verhaltensweise, die zumindest in der Meinung anderer als schändlich erscheint. Dem Tugendhaften kommt es deshalb weder zu, schamhaft noch schamlos zu sein, denn beides setzt die schändliche Tat voraus, die seine ethischen Tugenden ja gerade verhindern.65

58 59 60 61 62 63 64 65

Vgl. E.-M. Engelen: Eine kurze Geschichte [Anm. 2] 60–64. Vgl. Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 144 a. 2, ad 1. Thomas v. Aquin: SLE [Anm. 48] IV 17, p. 260. Zum prärationalen Anteil der Scham vgl. auch: STh [Anm. 32] II–II q. 144 a. 4, ad 3. Vgl. ebd. a. 1, ad 1. Vgl. ebd., ad 5. Vgl. ebd., resp. Vgl. Thomas v. Aquin: SLE [Anm. 48] IV 17, p. 261.

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Damit meint Thomas im übrigen nicht, daß dem Tugendhaften jegliches Schamgefühl unwiderruflich verloren gegangen ist: Als körperlich fundierte Leidenschaft ist dieses Bestandteil der condicio humana, und deshalb würde sich der Tugendhafte auch schämen, wenn er sich schändlich verhielte66 – aber letzteres ist sozusagen per definitionem ausgeschlossen. Trotz dieser Abgrenzung der Scham von den Tugendhabitus im eigentlichen Sinne des Wortes möchte Thomas ihr allerdings keineswegs jegliche sittliche Relevanz absprechen; vielmehr hält er die Scham für eine »lobenswerte Leidenschaft«, die man in einem weiteren Sinne durchaus auch als Tugend bezeichnen kann.67 Immerhin konzediert er ja, daß möglicherweise jemand wegen der als Furcht vor dem Tadel verstandenen Scham es unterlässt, lasterhaft zu handeln;68 dabei handelt es sich dann um einen Willensstarken, der die zum schändlichen Handeln antreibenden körperlich fundierten Leidenschaften, die gegen das Urteil seiner Vernunft angehen, mit Unterstützung seiner Scham zu neutralisieren vermag.69 In der Scham zeigt sich zumindest eine tendenziell ablehnende Haltung gegenüber dem Schändlichen der Sünde und damit ein residuales Moment des Strebens zum Guten.70 Im Rahmen seiner Ausführungen zur Beichtpraxis unterscheidet Thomas deshalb auch zwischen den negativen (nämlich sozial degradierenden) und den positiven (also den heilsmäßig förderlichen) Aspekten der Scham:71 Letztere gründen einerseits darauf, daß Scham als eine zentrale Voraussetzung für Reue und Buße begriffen wird; zum anderen ist die Scham aber auch eine Art »Ziel« der Beichte, insofern wir uns in ihr dem Urteil eines anderen unterwerfen und damit unsere Scham überwinden. Aufgrund dieser beiden in einem Verweisungszusammenhang stehenden Momente bezeichnet Thomas die Scham dann auch als »Anfang und Ziel der Besserung (principium et finis emendationis).«72 Damit weist er der Scham eine erkennbar konstruktivere Rolle im moralischen Leben zu als Augustinus.73

66

Vgl. Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 144 a. 4, resp. Vgl. ebd., a. 1, resp.: passio laudabilis. 68 Vgl. ebd., a. 2, resp. 69 Zum Zusammenhang von Scham und Willensstärke bzw. Beherrschtheit vgl. ebd. a. 4, ad 1; SLE [Anm. 48] IV 17, p. 261. 70 Vgl. Thomas von Aquin: In IV librum Sententiarum d.17 q. 3 a. 4: »[…] initium sumit in horrore turpitudinis peccati.« 71 Vgl. hierzu A. Guindon: La «crainte honteuse» [Anm. 2] 596–611, mit einschlägigen Nachweisen. 72 Vgl. Thomas von Aquin, In Psalmum VI 11: »Est autem erubescentia principium et finis emendationis«. 73 Vgl. das abschließende Urteil von A. Guindon: La «crainte honteuse» [Anm. 2] 622: »La honte constitue, dans l’enseignement de Thomas, un rouage extrêmement précieux de la vie humaine.« 67

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III. Die anthropologische Fundierung der Scham im mittelalterlichen Denken Im Rahmen der bisherigen Ausführungen sind einige Differenzen zwischen den beiden Problembehandlungen bei Augustinus und Thomas deutlich geworden, die ihren Positionen jeweils ein individuelles Gepräge verleihen: Während bei Augustinus die Erbsündenthematik den dominanten Hintergrund für seine Konzeptualisierung der Geschlechtsscham bildet, liegt in Thomas’ Darstellung in seiner Summa Theologiae der Akzent primär auf dem Phänomen der Sozialscham. Trotzdem lassen sich einige gemeinsame Momente herausdestillieren: (1) Für beide Autoren kann man festhalten, daß bei ihnen die Rede von einer »Schamkultur«, die primär auf eine kulturelle Vermittlungsleistung oder auch eine interkulturell variierende Gestalt des Phänomens abzielt, in diesem Sinne nicht zutreffend ist. Die nicht-kulturelle Fundierung des augustinischen Schamverständnisses wird schon dadurch deutlich, daß er in De civitate Dei nicht nur des öfteren von einer natürlichen – und d.h. hier: angeborenen – Scham spricht, sondern diese durch die Bezeichnung als verecundia humana regelrecht in den Status einer anthropologischen Konstanten erhebt.74 Augustinus bestreitet deshalb in seiner Debatte mit Julian von Eclanum auch vehement die schon von den Kynikern vertretene These, das Schamgefühl sei bloß eine soziale Konvention, über die man sich ggf. willentlich hinwegsetzen könne.75 Er geht hingegen dezidiert von einer »Schamnatur« aus, die freilich nur die postlapsarische condicio humana betrifft. Bei Thomas scheint zwar eine stärkere kulturelle Verwurzelung der Scham in Anbetracht der Betonung ihrer sozialen Dimension nahe zu liegen; er faßt das Phänomen der Sozialscham aber nicht unter explizitem Bezug auf kulturell variable Normen, für deren Verletzung man sich dann schämt, sondern weitgehend im Blick auf die Mißachtung universaler objektiver Normen, vor deren nachfolgender Sanktionierung in der Meinung der anderen man sich fürchtet. Zudem darf man nicht übersehen, daß er das Phänomen in toto vermögenspsychologisch als eine der menschlichen Leib-Seele-Natur zuzurechnende Größe, nämlich als eine körperlich fundierte Leidenschaft, versteht, deren Gestaltung uns weder individuell noch kulturell ohne weiteres vollständig verfügbar ist. Bei Thomas wurzelt die Scham somit sogar in der ursprünglichen Natur des Menschen als leibseelisch verfaßtes animal sociale und nicht bloß in seiner (bereits verdorbenen) zweiten Natur.

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Für verecundia humana vgl. ciu. [Anm. 4] II, 4; VI, 9; XIV, 20; XV, 16. Siehe auch ebd. VIII, 18: pudor humanus. 75 Vgl. Augustinus: Opus imperfectum contra Julianum 4, 43 f.

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(2) Damit ist ein zweites gemeinsames Leitmotiv beider Darstellungen benannt: Die Situierung der Scham innerhalb des Verhältnisses von Leib und Seele bzw. Körper und Geist. Scham wird einerseits als ein regelrecht körperliches Ereignis erfahren, bezieht sich dabei aber auch sehr häufig auf den Körper als Quelle ungeordneter sinnlicher Antriebe, welche gegen den Willen (Augustinus) oder die »rechte Vernunft (recta ratio)« (Thomas) gehen. Die vorherrschende Metaphorik gibt hier gewissermaßen die Richtung vor, denn es geht primär um eine Form des Sich-Verhüllens bzw. Bedeckens, also der Abdeckung körperlicher Blößen – im Mittelalter herrscht eindeutig die Form der »verbergenden Scham« (Erwin Straus) vor.76 Die deutliche Akzentuierung der auf die Sexualität gerichteten Geschlechtsscham, wie sie bei Augustinus sichtbar geworden ist, unterstreicht diesen elementaren Körperbezug der Scham,77 ohne daß hierdurch das Phänomen auf einen rein physiologischen Vorgang reduziert würde. Die Auffassung, die Scheler einmal in die Worte gekleidet hat, daß »sich in der Scham auf merkwürdige und dunkle Weise ›Geist‹ und ›Fleisch‹ [berühren]«,78 bringt zugleich die dem Schambegriff des christlichen Mittelalters zu Grunde liegende Bipolarität auf den Punkt. (3) Der letzte zentrale Aspekt liegt darin, daß der christliche Schambegriff einen nicht zu hintergehenden Bezug auf die Idee der moralischen Schuld aufweist. Für Augustinus ist das durch seine Erbsündenlehre überdeutlich, insofern die existentielle Geschlechtsscham des Menschen sich letztlich auch einer sittlich qualifizierten Tat, nämlich dem Sündenfall, verdankt. Aber auch bei Thomas, der in seiner allgemeinen philosophischen Analyse der Scham das augustinische Erbsündenkonzept weitgehend außen vor läßt und sie primär als Furcht vor sozialen Kollateralschäden konzeptualisiert, ist der elementare Bezug auf den Schuldbegriff nicht zu übersehen: »Die Scham betrifft im eigentlichen Sinne die Verachtung, die der Schuld (culpa) gebührt, insofern diese ein willentlicher Mangel (defectus voluntarius) ist.«79 Auch hier setzt also die äußere Sozialscham im Kern die innere moralische Scham, wie sie sich im Gewissensurteil artikuliert, voraus. Den elementaren Bezug der sozialen Schamzensur auf eine zugrunde liegende Zuschreibung von Schuld stellt somit auch Thomas her:

76

Vgl. auch T. Kobusch: Christliche Philosophie [Anm. 27] 116: »Sich schämen heißt, wie die christliche Philosophie es besonders deutlich hervorgekehrt hat, sich verbergen wollen.« 77 Zum Konnex von Scham und Geschlechtlichkeit vor Augustinus vgl. P. Steger: Die Scham [Anm. 40] 67 f. und 72 f. 78 M. Scheler: Über Scham [Anm. 1] 69. 79 Thomas v. Aquin: STh [Anm. 32] II–II q. 144 a. 2, ad 1.

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»Die Schimpflichkeit, vor der sich die Scham fürchtet, legt Zeugnis von einem Mangel bei jemand ab, und zwar hauptsächlich im Blick auf eine Schuld (culpa).«80 Insofern der hier involvierte moralische Schuldbegriff eng an die göttliche Ordnung geknüpft ist, kommt hier auch der Bezug auf eine objektive Norm ins Spiel, deren Verfehlen die Scham auslöst bzw. zur Folge hat. Während also die moderne Forschung »Scham« und »Schuld« nicht nur kulturanthropologisch (in Form der von Ruth Benedict eingeführten Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen), sondern auch individualpsychologisch eher dissoziiert,81 nimmt das mittelalterliche Denken hier einen starken inhaltlichen Konnex an. Vor diesem Hintergrund ist zweifelsfrei auch die enge Verbindung von Reue und Scham im Christentum zu sehen, deren freiheitsphilosophische Implikationen jüngst Theo Kobusch deutlich herausgearbeitet hat: In der Scham vollzieht sich bei aller körperlichen Bindung des Phänomens auch eine innere Distanzierung des Menschen von seiner Leiblichkeit, die nur in Kategorien seiner Freiheit von der körperlichen Natur angemessen gedeutet werden kann.82 In dieser reflexiven Selbstdistanzierung liegt, wie Thomas es richtig erkannt hat, bei aller Körpergebundenheit der Scham auch ein Moment der Willentlichkeit verborgen, das die moralische Klassifikation als lobenswerte Leidenschaft mitbedingt.83 Aus diesem Grund ist die gesamte begriffs- und ideengeschichtliche Deutung von Engelen kritisch zu beurteilen, derzufolge Augustinus und Thomas in einer Entwicklungslinie stehen, die über Descartes zu Kant führt: In dieser Linie sind Zorn und Scham bloß Affekte, die »einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und Herrschaft über sich selbst bewirken« und deshalb keine moralische Signifikanz haben.84 Der intrinsische Zusammenhang von Scham mit Schuld, Reue und Freiheit, der sowohl bei Augustinus als auch bei Thomas sichtbar ist, wird hier m.E. zu stark marginalisiert. Zwei Momente sind es also, die gerade in ihrer Verwobenheit als Deutungshorizont für das mittelalterlich-christliche Verständnis der Scham als Anthropinum bzw. als Ausdruck der condicio humana unverzichtbar sind: (1) die leibseelische Verfaßtheit der menschlichen Spezies und (2) die individuelle sittliche Verantwortung, die der Mensch gerade als Freiheitswesen für sein schuldhaftes Tun trägt.

80

Ebd., a. 3, resp. Zur Unterscheidung von Scham- und Schuldgefühlen vgl. z.B. Wolfgang Blankenburg: Zur Differenzierung zwischen Scham und Schuld. In: Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven, hg. v. Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze (Opladen 1997) 45–55. 82 Vgl. T. Kobusch: Christliche Philosophie [Anm. 27], Kap. XII, bes. 117. 83 Vgl. Thomas von Aquin : De veritate q. 26 a. 6, ad 16. 84 E.-M. Engelen: Eine kurze Geschichte [Anm. 2] 64. 81

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Das sich in der Scham ausdrückende existentielle Unwertgefühl des Akteurs, diese »Wunde am Selbst«, gründet somit im mittelalterlichen Verständnis sowohl auf der individuell-personalen als auch auf der gattungsbedingten Identität des Menschen.

Rudolf Lüthe

Der diskrete Charme der Scham. Rhapsodische Anmerkungen zu Humes Lehre von »pride« und »humility« im »Treatise on Human Nature«

I. Der systematische Ort der Thematisierung von Stolz und Scham Unter dem Titel »Of the Passions« entwickelt David Hume im zweiten Buch seines in jugendlichen Jahren verfaßten und veröffentlichten philosophischen Hauptwerks, »A Treatise on Human Nature, Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Sciences« (1739/40) eine ins Psychologische gewendete philosophische Anthropologie. Diese Anthropologie ist als die Basis seiner gesamten Philosophie anzusehen. Ihr Herzstück bildet Humes »Naturalismus«, die Lehre also, der Mensch werde weniger durch seine Vernunft als durch seine Affekte bestimmt, und dies solle auch so sein: »Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.«1 Dieses zweite Buch der umfangreichen Abhandlung, die in ihrem ersten Teil erkenntnis- und bewußtseinstheoretische Fragen und im dritten Probleme der Moralphilosophie thematisiert, ist seinerseits in drei Teile gegliedert. Der erste Teil behandelt die Affekte Stolz und Scham (pride and humility). Insofern ist es nicht falsch, wenn man feststellt, daß erstens Humes Anthropologie die Basis seiner gesamten Philosophie ist und zweitens die Lehre von Stolz und Scham im Rahmen dieser Anthropologie eine prominente systematische Position einnimmt. Es wäre auch falsch anzunehmen, Hume habe nur in diesem Jugendwerk das Verhältnis von Stolz und Scham für ein zentrales Thema der philosophischen Anthropologie gehalten; denn auch in der viel später, nämlich erst 1757, verfaßten Neufassung des Zweites Buchs des »Treatise« unter dem Titel »A Dissertation on the Passions« werden diese Affekte im zweiten Abschnitt erneut thematisiert. Hier findet sich eine zudem auch sehr konzise Definition der beiden fundamentalen Affekte: »Thus Pride is a certain satisfaction in ourselves, on account of some accomplishment or possession, which we enjoy: Humility, on the other hand, is a dissatisfaction with ourselves, on account of some defect or infirmity.”2

1 2

David Hume: A Treatise on Human Nature (Oxford 1960) 415. David Hume: Philosophical Works. Bd. 4, ed. by Green and Grose (Aalen 1964) 144.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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Die Thematik ist also für Hume nicht nur zu Beginn seiner philosophischen Bemühungen um ein Verständnis des Menschen zentral gewesen; sie ist dies vielmehr auch geblieben. Dennoch ist weder innerhalb der Hume-Forschung dieser Theoriebereich ein bevorzugtes Forschungsobjekt geworden, noch gilt Hume als einer der herausragenden Theoretiker der Scham und des Stolzes. In ihrer ebenso gründlichen wie kompetenten Studie zur Anthropologie der Scham hat Anja Lietzmann 2003 unter dem Titel: »Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum.« die Geschichte und Systematik des Phänomens selbst sowie seiner philosophischen und wissenschaftlichen Würdigung behandelt, ohne Humes Anthropologie auch nur zu erwähnen.3 Analog läßt sich sagen, daß auch die prominenten Hume-Forscher dieses Thema kaum ernsthaft zur Kenntnis genommen haben. Nun könnte man dies eben damit begründen, daß die Erörterung dieser Phänomene weder für ein Verständnis der Philosophie Humes im allgemeinen noch seiner Anthropologie im besonderen eine zentrale Bedeutung habe. Dagegen sprechen, jedenfalls auf den ersten Blick, sowohl die gerade skizzierte zentrale Position dieses Lehrstücks innerhalb der Systematik der Philosophie Humes als auch die fortgesetzte Behandlung dieser Thematik durch den schottischen Philosophen. Noch eines ist in diesem Zusammenhang zu bedenken: Eine so herausgehobene Position der Thematisierung von Stolz und Scham, wie wir sie bei Hume finden, ist in der Philosophie der Klassischen Moderne keineswegs selbstverständlich. In Descartes sehr umfangreichen Werk über die Affekte: »Die Leidenschaften der Seele« (Les passions de l’ame, 1649) werden zwar sowohl Demut und Hochmut als auch Stolz und Scham behandelt. Alle diese Affekte werden jedoch nur kurz definiert bzw. in eine umfangreiche Systematik der Affekte integriert. Eine eigentliche Analyse findet sich hier nicht; und auch eine herausgehobene Bedeutung von Stolz und Scham wie bei Hume habe ich hier nicht feststellen können. Inhaltlich dagegen unterscheiden sich Descartes’ Definitionen von Stolz und Scham (gloire und honte) in den einschlägigen Paraphen 65 und 66 der zitierten Untersuchung4 von denen Humes kaum. Sogar der für die Lebensnähe seiner Philosophie in den letzten Jahrzehnten wieder besonders gerühmte Michel de Montaigne hatte in seinen mehr als 100 Essais zwar über alles mögliche Triviale und Erhabene, Vertraute und Exotische, Metaphysische und Mundane eigene Essais geschrieben, nicht aber über Stolz

3

Anja Lietzmann: Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum (Tübingen 2003). 4 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele, hg. v. K. Hammacher (Hamburg 1996) 313.

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oder Scham. Ein verwandtes Thema behandelt Montaigne allerdings in dem Essai »Von der Reue«, und in einem weiteren Essai findet sich - gewissermaßen ex negativo – eine beiläufige Thematisierung der Schamlosigkeit; dies allerdings im Sinne eines Plädoyers für eine spezielle Form von Schamlosigkeit. Wegen ihrer Kurzweiligkeit will ich hier diese Passage gerne zitieren, bevor ich mich wieder mit gebührendem Ernst meinem Thema, nämlich dem Gegenteil der Schamlosigkeit, zuwende: »Die Philosophie handelt, meiner Meinung nach, sehr kindisch, wenn sie sich auf ihre metaphysischen Hinterbeine stellt, um uns vorzupredigen, es sei ungeheuerlich, Göttliches mit Irdischem, Vernünftiges mit Unvernünftigem, Strenges mit Läßlichem, Ehrbares mit Unehrenhaftem zu vermählen; und weiter, die Wollust sei eine viehische Eigenschaft, nicht würdig, daß der Weise von ihr koste: das einzige Vergnügen, das er aus dem Genusse einer schönen jungen Frau ziehen könne, sei der Genuß des guten Gewissens, eine notwendige Tat begangen zu haben (…) Möchten doch die Anhänger solches Weisen nicht mehr Lust und Kraft und Saft bei der Entjungferung ihrer Frauen haben als seine Lehre.«5 Nach dieser Ab- und rhetorischen Ausschweifung komme ich nun zu Hume zurück: Ohne vorab entscheiden zu wollen, wie relevant die Thematik innerhalb der Bemühungen um ein Verständnis der Philosophie Humes und wie bedeutend insgesamt dessen Überlegungen für die Entwicklung einer Anthropologie der Scham nun tatsächlich sind, rechtfertigen allein schon die zentrale Position der Thematik und die kontinuierliche Auseinandersetzung Humes mit ihr in meiner Sicht eine ernsthafte Beschäftigung mit diesem Lehrstück. Hierzu will ich im Folgenden einige bruchstückhafte und ungeordnete, eben »rhapsodische«, Anmerkungen machen. Zunächst aber ist eine philologische Vorbemerkung angebracht: In der Standardübersetzung von Theodor Lipps wird »humility« seltsamerweise übersetzt als »Niedergedrücktheit«. Vermutlich sollten mit dieser befremdlichen Wortwahl unangemessene religiöse Assoziationen vermieden werden, die mit der üblichen Übersetzung von »humility« als »Demut« unvermeidlich gewesen wären. Die weitere Frage, warum Hume das sich ebenfalls anbietende englische Wort »shame« nicht verwendet hat, läßt sich am ehesten mit dem Hinweis darauf beantworten, daß dieses Wort zweideutig ist; es bedeutet nämlich sowohl Scham als auch Schande, dominierend wohl eher noch das letztere. Warum jedoch Lipps nicht von »Scham« spricht – ein Wort, das sich im Deutschen ja deutlich von »Schande« abhebt – und statt dessen das bizarre Wort »Niedergedrücktheit« wählt, bleibt mir

5 Michel de Montaigne: Von der Erfahrung; hier zitiert nach der Übersetzung in: M. Greffrath: Montaigne heute. Leben in Zwischenzeiten (Zürich 1998) 360f.

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ein Rätsel. Möglicherweise spielt hier die Tatsache eine Rolle, daß das deutsche Wort »Scham« häufig in sexuell konnotierten Kontexten verwendet wird, und Lipps eine Engführung von »humility« auf sexuelle Scham vermeiden wollte. – Unbeeindruckt von diesen philologischen Problemen werde ich im Folgenden »humility« aber immer als »Scham« übersetzen, obwohl Lipps das nicht getan hat und obwohl auch Reinhard Brandt keine Notwendigkeit sah, den Text bei der Neuausgabe im Jahre 1978 auch neu zu übersetzen. In Humes Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Stolz und Scham geht es zunächst im wesentlichen um die typischen »Objekte und Ursachen« dieser Affekte. Als solche werden schwerpunktmäßig behandelt: Tugend/Laster, Schönheit/Häßlichkeit, äußere Vorzüge und Mängel sowie Reichtum/Armut. Sogleich fällt auf, daß die bei dieser Thematik häufige Verknüpfung von Scham und Nacktheit (und Ähnlichem) bei Hume keine wesentliche Rolle spielt. Die beiden abschließenden Abschnitte thematisieren dann noch das grundlegende menschliche Streben nach (sozialer) Anerkennung und »Stolz und Scham bei Tieren«. – Der zweite Teil der »Anthropologie« hat zum Thema: Liebe und Hass (love and hatred). Hier werden verschiedene Gegenstände und Formen dieser Affekte analysiert. Im einzelnen werden behandelt: die Liebe zu Verwandten, die Wertschätzung von Reichen und Mächtigen; ferner Wohlwollen und Zorn, Mitleid, Schadenfreude und Neid sowie Achtung und Verachtung und schließlich die Liebe zwischen den Geschlechtern. Der Schlußabschnitt behandelt »Liebe und Hass bei Tieren«. – Der dritte Teil behandelt dann zentral die Beziehung der Affekte zum Willen. Ein wichtiges Thema ist hier die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens. Ferner werden behandelt: die Wirkungen der Gewohnheit und der Einbildungskraft auf die Affekte sowie deren Beziehung zu raum-zeitlicher Nähe/Ferne. Der Schlußabschnitt ist einem für Philosophen besonders wichtigen Affekt gewidmet: der Wißbegierde oder Liebe zur Wahrheit (»Of curiosity, or the love of truth«). Neben Liebe, Hass, Stolz und Scham (als den wichtigsten Affekten) wird noch die Sympathie als die besondere Fähigkeit der emotionalen Identifikation mit anderen Menschen und deren Interessen und Einstellungen ausführlich analysiert. Ihr kommt wie der gesamten Affektenlehre auch im Rahmen von Humes im Dritten Buch entwickelten Praktischen Philosophie eine besondere Bedeutung zu. Auch für unsere eigenen Bemühungen, Humes Lehre von Stolz und Scham zu verstehen, wird »sympathy« eine wichtige Rolle spielen. Hume sieht die Grundlage moralischer Urteile nämlich nicht in der Vernunft, sondern (wie Shaftesbury und Hutcheson) in einem »moral sense«, der eher der affektiven Seite des Bewußtseins zuzurechnen und auf das Engste mit eben jener »sympathy« verknüpft ist.

Der diskrete Charme der Scham

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II. Die Objekte von Stolz und Scham Ich möchte meine rhapsodischen Überlegungen zu Humes Theorie der Scham mit einigen Bemerkungen über die »Objekte« von Stolz und Scham fortsetzen. Hume stellt vor allem die folgenden heraus: Wir sind stolz auf unsere Tugenden, auf unsere Schönheit, auf äußere Vorzüge und auf unseren Reichtum. Dagegen schämen wir uns unserer Laster, unserer Häßlichkeit, unserer äußeren Mängel sowie unserer Armut. Man sollte vielleicht ergänzen, was Hume unter »äußeren Vorzügen und Mängeln« versteht. Hierzu führt er aus, es handele sich dabei im wesentlichen um unsere »geistige und körperliche Beschaffenheit«. Diese belegt er mit dem Begriff »unser Selbst«. Wir sind also stolz auf bzw. wir schämen uns wegen unseres Selbst. (Für das so genannte »Fremdschämen« ergeben sich später Ansatzpunkte.) In Humes Sicht verdunkeln vordergründige andere Qualitäten eines Menschen unsern Blick darauf, daß das eigentliche Objekt seines Stolzes in letzter Instanz immer sein Selbst, also seine geistige und körperliche Beschaffenheit ist. Im Rahmen der Erläuterung dieser These verwendet Hume jedoch, wie sich schnell zeigt, einen ungewöhnlich weiten Begriff des Selbst. Dieser schließt vor allem auch sämtliche Aspekte unserer jeweiligen sozialen Rollen ein. So lesen wir etwa als Beispiele solcher »verdunkelnden« Qualitäten: »We found a vanity upon houses, gardens, equipages, as well as upon personal merit and accomplishments (…)«6. Der Zusammenhang solcher äußeren Qualitäten, Besitztümer und sozialen Rollen mit unserem Selbst ergibt sich für Hume leicht aus seiner eigenen Assoziationstheorie. Diese ist ein zentraler Teil seiner Theorie über den Ursprung unserer Vorstellungen. Die Basistheoreme dieser Bewußtseinstheorie sind : (1) die aus der Philosophie Lockes übernommene (empiristische) Lehre, dass alle Vorstellungen (ideas) auf Eindrücke (impressions) zurückgehen, und (2) die (»atomistische«) Theorie, daß alle zusammengesetzten Vorstellungen (complex ideas) aus einfachen Vorstellungen (simple ideas) eben durch Assoziation gebildet werden. Als Assoziationsprinzipien werden in diesem Zusammenhang vorgestellt: Ähnlichkeit (resemblance), raum-zeitliche Nachbarschaft (contiguity) und Kausalität (cause or effect). Wir sind stolz auf unsere Häuser, Gärten und Equipagen (heute eher: auf unsere Autos, Boote, Pferde und Yachten), weil sie in unserem eigenen Vorstellen ebenso wie im Vorstellen anderer mit uns assoziiert sind bzw. werden. Analoges gilt für unsere persönlichen Verdienste und Gaben (Begabungen). Das in diesen Zusammenhängen dominierende Assoziationsprinzip ist die Kausalität: Unser Selbst wird vorgestellt als die oder zumindest als eine der Ursachen für unsere Besitztümer und persönlichen Verdienste. Umgekehrt wird unser Mangel an

6

D. Hume: Philosophical [Anm. 2] 303.

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Besitztümern und persönlichen Verdiensten auf unser Selbst als eine der Ursachen oder gar als deren eigentliche Ursache zurückgeführt. Nur wegen dieses Assoziationszusammenhangs macht es Sinn, daß wir stolz darauf sind bzw. uns dafür schämen, bestimmte Besitztümer und Verdienste erworben bzw. eben nicht erworben haben. Wären unsere äußeren Mängel in unserem Vorstellen und in demjenigen der anderen in keiner Weise ursächlich (oder auf anderem Assoziationsweg) mit unserem Selbst verbunden, würden sie z.B. auf schicksalhafte Verstrickungen o. ä. zurückgeführt, so würden wir uns ihrer nicht schämen. Entsprechend empfänden wir keinen Stolz auf Besitztümer und »Verdienste«, die uns nur zufällig und ohne unser Zutun zugefallen sind. Diese Zusammenhänge erklären natürlich auch unsere Neigung, für eigene Unzulänglichkeiten die verschiedensten Arten von »unglücklichen Umständen« und Zufällen verantwortlich zu machen. Das ist eine wegen der skizzierten Assoziationszusammenhänge naheliegende Strategie zur Vermeidung von Scham. Weniger verbreitet ist wohl das Bemühen, erworbenen Besitz und Verdienst auf glückliche Umstände und entsprechende Zufälle zurückzuführen. Wenn dies jedoch geschieht, sprechen wir lobend von einem »bescheidenen« Verhalten des Mitmenschen. Wir streben danach, Stolz empfinden zu können; denn Stolz ist ein angenehmes Gefühl, ein positiver Affekt. Scham dagegen ist qualvoll, ein negativer Affekt; deshalb suchen wir Situationen, in denen wir Scham empfinden würden, möglichst zu vermeiden. Hierzu bedarf es gelegentlich einer phantasievollen Selbstentlastung auf dem Wege der gerade geschilderten Entlastungsstrategie. Warum aber ist Stolz ein angenehmes Gefühl, und warum ist das Erleben von Scham qualvoll? Die Antwort auf diese Fragen führt zum Kern der Humeschen Lehre von Stolz und Scham. Wir finden sie in dem Abschnitt mit dem programmatischen Titel: »On the Love of Fame«, sehr abmildernd übersetzt als »das Streben, geachtet zu werden«. Humes Grundgedanken sind hier die folgenden: Menschen sind soziale und reflektierende Wesen; sie streben nach sozialer Anerkennung und auch danach, vor ihrer je eigenen reflektierenden moralischen Selbstbeurteilung bestehen zu können. Das Verhältnis dieser beiden Beurteilungsinstanzen (die Meinung anderer und die eigene Selbsteinschätzung) ist nach Humes Ansicht dialektisch, d.h. die beiden Instanzen hängen wechselseitig voneinander ab. Ich komme darauf später noch zurück. Soviel können wir jedoch schon jetzt sagen: Stolz und Scham haben in Humes Hierarchie der Affekte nur deshalb einen so herausgehobenen Platz, weil sie ihrerseits auf einem noch fundamentaleren Affekt, einer, wie man sagen könnte, spezifisch menschlichen »Ursprungsemotion« beruhen. Zur Bezeichnung dieses Basisaffekts verwendet Hume in seinen verschiedenen Hauptschriften unterschiedliche Termini: sympathy (Sympathie), fellow-feeling (Gemeinschaftsgefühl) oder humanity (Menschlichkeit). Obwohl die verschiedenen Bezeichnungen desselben Affekts tatsächlich unterschiedliche Aspekte dieser Ursprungsemotion

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betonen, ist deren Grundcharakter doch in allen Fällen derselbe: Sympathie bezeichnet im Rahmen der Anthropologie Humes – wie bereits eingangs erwähnt – »die besondere Fähigkeit der emotionalen Identifikation mit anderen Menschen und deren Interessen und Einstellungen.« Ich möchte dies am Beispiel des Stolzes auf Tugenden und der Beschämung durch Laster erläutern: Allen Tugenden ist gemeinsam, daß sie im Betrachter Sympathie auslösen, weil sie als Eigenschaften wahrgenommen werden, die menschliches Glück bewirken. Entsprechend lösen alle Laster im Betrachter Antipathie aus, weil sie als glücksgefährdende Eigenschaften erlebt werden. Soziale Tugenden (wie Wohlwollen und Gerechtigkeit) tragen zum Glück der anderen Menschen bei, persönliche Tugenden (wie Klugheit und Mut) eher zu dem ihres Besitzers. Soziale Laster wie Mißgunst und Ungerechtigkeit verringern das Glück anderer; Dummheit und Feigheit schränken unsere eigenen Glücksmöglichkeiten ein. – Im allgemeinen werden soziale Tugenden höher geschätzt. Natürliche Tugenden (wie Dankbarkeit) entwickeln sich aus affektiven Orientierungen, die in der menschlichen Natur selber angelegt sind. Künstliche Tugenden (wie Gerechtigkeit, Verläßlichkeit und – politische – Loyalität) dagegen werden allein über die Erfahrung ihrer Nützlichkeit zur Erhaltung von Sicherheit und Ordnung eigens erlernt. Der Wendung der Moralphilosophie ins Politische entspricht, daß Hume die künstlichen Tugenden weit ausführlicher behandelt als die natürlichen. Man kann von seiner Moralphilosophie als Ganzer sagen, sie thematisiere den moralisch verantwortlichen Menschen weniger als Person denn als Bürger eines Gemeinwesens.

III. Die Dialektik von Selbst- und Fremdbeurteilung beim Zustandekommen von Stolz und Scham Damit komme ich nun zu meiner dritten rhapsodischen Anmerkung zu Stolz und Scham bei Hume. Diese betrifft das dialektische Verhältnis von Selbst- und Fremdbeurteilung beim Zustandekommen (der Verursachung) von Stolz und Scham. Ausgangspunkt dieser dialektischen Beziehung ist erneut der Basisaffekt der Sympathie. Mittels dieser Ursprungsemotion sind wir nach Hume nicht nur fähig, uns in die (Seelen)Lage anderer Menschen (und Lebewesen insgesamt) zu versetzen; vielmehr ist Sympathie sozusagen unser Schicksal: Wir können die Welt und uns selber nämlich niemals unabhängig davon sehen, wie andere Menschen beides sehen. Unser Urteilen ist immer durch diese Art von Sympathie imprägniert. Metaphorisch formuliert: Wir sehen die Welt und uns selber niemals allein

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mit den eigenen Augen, sondern immer zugleich auch mit denen anderer Menschen. (Manche Menschen sehen die Welt vielleicht auch noch mit den Augen ihres Hundes.) Liebe und Hass, Stolz und Scham sind insofern in Humes Sicht zwar persönliche Affekte; aber ihr Zustandekommen, ihre Ursachen sind nicht frei von sozialen Erlebnissen und Einschätzungen. Diese Affekte beruhen nämlich auf expliziten oder impliziten Werturteilen, welche niemals unabhängig von den entsprechenden Werturteilen anderer vollzogen werden. Unter den Ursachen für diese Affekte unterscheidet Hume die direkten von den indirekten. Erstere sind unsere eigenen Meinungen und Werturteile; letztere ergeben sich aus den Meinungen und Werthaltungen anderer: »But besides these original causes of pride and humility, there is a secondary one in the opinions of others, which has an equal influence on the affections.«7 Die Fremdbeurteilung unseres Selbst durch andere Menschen ist also in Humes Sicht für die Verursachung von Stolz und Scham genauso wichtig wie unsere jeweilige eigene Selbsteinschätzung. Hume ergänzt diese positive Bezugnahme auf die indirekten oder sekundären Ursachen für Stolz und Scham sogleich durch die negative Beschreibung der Unwirksamkeit der direkten oder primären Ursachen ohne die Unterstützung der ersteren: »(they) have little influence when not seconded by the opinions and sentiments of others.«8 Dies erklärt sich Hume zufolge durch die oben skizzierte Funktion der Sympathie. – Wir können Humes einschlägige Lehre bis hierhin etwa wie folgt zusammenfassen: Stolz und Scham sind neben Liebe und Hass die wichtigsten menschlichen Affekte. Wie alle Affekte haben sie ihre Grundlage im Basisaffekt Sympathie. Neben dieser Fundierung sind zwei weitere Perspektiven notwendig, um die Entstehung dieser Affekte zu verstehen. Stolz und Scham haben zunächst einmal objektive Gegenstände (objects): Wir sind stolz auf eine bestehende Tatsache. Diese Tatsache ist das wie oben definierte Selbst, als die Gesamtheit unserer Person und ihrer sozialen Bezüge. Daneben gibt es noch die Ursachen (causes) der Affekte, und unter diesen sind primäre von sekundären zu unterscheiden. Nach Hume sind die primären Ursachen in aller Regel unsere je eigenen Besitztümer oder Verdienste bzw. der Mangel an solchen. Genauer müßte man sagen: Die primären Ursachen bestehen in unseren je eigenen Meinungen bezüglich unseres Verfügens über solche lobenswerte bzw. tadelnswerten Besitztümer, Eigenschaften und (fehlenden)

7 8

D. Hume: Treatise [Anm. 1] 316. Ebd.

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Verdienste. Humes einschlägige Formulierungen sind hier leider nicht besonders präzise. Humes Beispiel in diesem Zusammenhang ist unser Stolz auf den Besitz (oder die Herstellung) eines schönen Hauses: das Objekt des Stolzes ist (in diesem Falle) unser eigenes Selbst, genauer: Es sind die Qualitäten oder Qualifikationen, die ursächlich waren für unseren Erwerb (oder die Herstellung) des Hauses. Die primäre Ursache für unseren Stolz ist dagegen eine bestimmte Eigenschaft, in diesem Falle eine Eigenschaft des von uns besessenen (bzw. hergestellten) Hauses, nämlich seine Schönheit. »A man, for instance, is vain of a beautiful house, which belongs to him, or which he has himself built and contriv’d. Here the object of the passion is himself, and the cause is the beautiful house (…)«9 Die Wirksamkeit dieser primären Ursachen (eigenen Meinungen) hängen, wie soeben skizziert, in Humes Sicht ganz und gar ab von der Unterstützung durch entsprechende sekundäre Ursachen (die Meinungen anderer). Dies ist die eine Seite der von mir angenommenen Dialektik. Deren zweite Seite besteht darin, daß auch umgekehrt die Meinungen anderer an Gewicht verlieren, wenn sie nicht mit unserer eigenen Meinung über uns selber übereinstimmen. Hume erläutert dies am Beispiel eines uns unverdient (unangemessen) erscheinenden Lobs: »The praises of others never give us much pleasure, unless they concur with our own opinion, and extol us for those qualities in which we chiefly excel.«10 In dieser Dialektik spiegelt sich ein Grundzug der Affekte Stolz und Scham wider, der eine weitere Erörterung verdient: Beide Affekte, sind, wie Affekte überhaupt, im wesentlichen Elemente einer kommunikativen Situation und können nur aus dieser Situation heraus vollständig verstanden und erklärt werden. Im Zentrum dieser kommunikativen Situation steht wiederum der Ursprungsaffekt Sympathie: Dies bedeutet konkret, daß in Humes Sicht Stolz und Scham im Kern nur die affektiven Seiten einer (real oder imaginativ) erlebten kommunikativen Situation von Lob und Tadel sind. Der Erläuterung dieses Zusammenhangs ist meine vierte und letzte rhapsodische Anmerkung gewidmet. Sie liefert zugleich eine Interpretation des Haupttitels des Vortrags: der diskrete Charme der Scham.

9 10

A.a.O. 279 A.a.O. 322.

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IV. Das Miterleben von Meinungen Der letzte Teil von Humes Untersuchung der Affekte Stolz und Scham bei den Menschen (also der Abschnitt vor der Thematisierung tierischer Scham und tierischen Stolzes) gipfelt in der Formulierung einer These, die Hume selber eigens hervorhebt. Sein Beispiel ist wiederum das Lob anderer. Für unser Hauptthema, die Scham, können wir uns aber analog einen entsprechenden Tadel als Beispiel vorstellen. Die Hypothese lautet: »that the pleasure which we receive from praise, arises from a communication of sentiments (…)«11 Eine analoge Hypothese für das Funktionieren von Scham innerhalb einer kommunikativen Situation würde lauten: »that the pain, which we receive from blame, arises from a communication of sentiments (…)« Lipps übersetzt das erste dieser Satzstücke wie folgt: »daß die Lust, welche uns das Lob anderer bereitet, aus dem Miterleben der Meinung, die andere von uns haben, entsteht (…)«.12 Es ist offensichtlich, daß in diese Übersetzung viel an Interpretation eingeflossen ist. Dennoch halte ich sie für angemessen; und ich will im Folgenden die zentralen Gedanken dieser Übersetzung eigens herausstellen. Im Zentrum der Humeschen Lehre von Schuld und Scham steht seine Lehre von der Sympathie als Basisaffekt. Das zweite zentrale Bestandstück seiner einschlägigen Theorie ist die Annahme, alle Menschen strebten von Natur aus nach sozialer Anerkennung (»love of fame«). Sowohl Anerkennung als auch Sympathie sind zutiefst soziale Phänomene. Insofern als nun Stolz und Scham erst durch das Zusammenspiel dieser beiden sozialen Phänomene erzeugt werden, muß auch von diesen Affekten angenommen werden, daß sie immer in einer realen oder imaginierten sozialen, d.h. auch kommunikativen Situation erlebt werden. Scham ist also der affektive Zustand, der sich aus einer realen oder imaginierten Situation des Tadels ergibt. Diesen Sachverhalt kann man auch wie folgt ausdrücken: Wer Scham empfindet, erlebt real oder imaginativ eine Situation der Kommunikationsform »Tadel«. (Wittgensteinisch formuliert: Scham ist das affektive Korrelat des Sprachspiels »Tadel«). Unabhängig von realem oder imaginiertem Tadel tritt der Affekt Scham nicht auf. Entsprechendes gilt für den Stolz; dieser tritt nicht unabhängig von realem oder imaginiertem Lob auf. Allgemeiner formuliert behauptet Hume

11 12

A.a.O. 324. D. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Bd. II. u. III (Hamburg 1978) 55.

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in der einschlägigen Hypothese: Die Affekte Scham und Stolz, treten, wie Affekte überhaupt, nur als Elemente von kommunikativen Situationen auf, seien diese nun real oder imaginiert. Ex negativo ergibt sich daraus: Ein Mensch, dem jede »Sympathie« fehlt, erlebt weder Stolz noch Scham; er ist aber auch nur in geringem Maße ein Mensch; denn zum voll entwickelten Menschsein gehört Sympathie nicht beiläufig, sondern wesensmäßig hinzu. – Ein Mensch mit viel »Sympathie« hat dagegen starke Stolz- und Schamgefühle. Insofern ergibt sich als zentrales anthropologisches Fazit dieser Untersuchungen von Scham und Stolz: Mit diesem Affekten realisieren die Menschen im wesentlichen ihre sozialen Verankerungen und Positionen. Stolz und Scham sind Gradmesser der Sozialität von Menschen. Je sozialer ein Mensch ist, um so entscheidender wird sein Selbst- und Welterleben von Stolz und Scham bestimmt. Das führt mich nun abschließend zur Erläuterung des Haupttitels meines Beitrags: Ich schlage vor, kultivierte Sozialität mit dem Terminus »Charme« zu bezeichnen. Den Begriff »diskret« verwende ich in diesem Zusammenhang in der Bedeutung von »unaufdringlich«. Scham und Stolz sind meiner Interpretation der Lehrmeinungen Humes zufolge demnach insofern durch einen »diskreten Charme« bestimmt, als sich in ihnen auf eine unaufdringliche Weise der Grad an (kultivierter) Sozialität zeigt, der einem jeweiligen Individuum eignet. Den Sinn dieser Redeweise kann man sich auch auf dem Umweg über die üblichen Negationen von Scham verdeutlichen: Weder ein schamloser noch ein unverschämter Mensch hat Charme. Im Sinne meiner Interpretation erklärt sich das dadurch, daß sowohl dem schamlosen als auch dem unverschämten Menschen das rechte Maß an kultivierter Sozialität fehlt. Bei solchen Menschen kann nun auch das eingangs erwähnte Phänomen des Fremdschämens auftreten: Nach Hume ist aber auch dieses daran gebunden, daß das einzig mögliche Objekt der Scham (und des Stolzes), nämlich das (je eigene) Selbst, erhalten bleibt. Zwar schämen wir uns im Fremdschämen vordergründig für einen anderen; jedoch träte dieser Affekt nicht auf, wenn der andere mit uns in gar keiner Weise verbunden wäre. Ist er aber mit uns über irgendeine unserer sozialen Rollen verbunden, so ist er, gemäß dem von Hume verwendeten weiten Begriff von Selbst, ein Teil dieses Selbst und als solcher ein mögliches Objekt unserer Scham. Je enger die Verbindung ist, um so heftiger wird auch die Scham ausfallen. Ich komme zum Schluß: In häufig vertretenen Einschätzungen bezeichnet die Scham im Menschen die innere Grenze der Sünde. So häufig nun diese Beschreibung der Scham auch vertreten wird, so unzureichend ist sie aber auch; denn erstens gilt: Scham ist keineswegs notwendig eine primär religiös zu verstehende Erfahrung (Sünde); vielmehr ist sie, wie man von Hume lernen kann, notwendig ein zutiefst soziales Phänomen. Und zweitens bezeichnet die Scham nicht wesentlich eine »innere Grenze«; vielmehr ist sie eine der entscheidenden Verankerungen des einzelnen Menschen im Äußeren, nämlich in einer kultivierten Sozialität.

Michael Meyer

Scham und Schande in der Frühen Neuzeit Englands

Bei der Untersuchung der Scham im deutschen Sinne in der ersten Phase der frühen Neuzeit Englands von ca. 1550–1700 ergibt sich von vornherein das Problem, daß das naheliegende lexikalische Äquivalent »shame« mehrdeutig ist und grob übersetzt sowohl die »äußere« Schande als auch die »innere« Scham bedeutet. Diese Mehrdeutigkeit von »shame« über einen sehr langen Zeitraum verlangt immer Kontextualisierung zum genaueren Verständnis. Als erster Einblick in die historische Bedeutung von Scham und Schande soll das lexikalische Feld um das Konzept »shame« grob ausgelotet werden. Schon hier wird deutlich, daß sich Scham und Schande im weitesten Sinne auf das Ansehen und die Ehre im Feld gesellschaftlicher Konventionen beziehen und diese im England der frühen Neuzeit zum großen Teil geschlechter- und schichtenspezifisch definiert sind. In einem zweiten Schritt wäre zu entscheiden, welcher Ansatz das historische Verständnis von »shame« begünstigt. Drittens werden historische Quellen zur Normierung von Scham und Schande herangezogen. Dabei gibt es kaum größere Studien zur Scham und Schande in der frühen Neuzeit Englands. Allgemeine Kultur- und Sozialgeschichten zu dieser Epoche behandeln das Thema bis dato nicht. Untersuchungen zu Geschlecht, Jugend, und Sexualität, wie etwa Anthony Fletchers Gender, Sex, and Subordination, 1500–1800 oder Paul Griffiths’ Youth and Authority. Formative Experiences in England, 1560–1640 greifen das Thema am Rande der Diskussion von Identität, Beziehungen, Familie, Erziehung, Besitz und Recht auf.1 Die vorliegende knappe Untersuchung kann nur ausgewählte Quellen berücksichtigen. Verhaltensratgeber und Verbrechensberichte präsentieren die Extreme der vorbildlichen Ehre und Scham sowie der verurteilenswerten Schuld und Schande und sind daher für das Verständnis der Normen von großer Bedeutung. Das Ideal und das Schreckbild dürfen jedoch nicht als Charakteristikum des durchschnittlichen Lebens verstanden werden, das sich in der breiten Mitte zwischen Konformität und Opposition bewegte.2 Tagebücher, Autobiographien oder Briefe dieser Zeit

1 Anthony Fletcher: Gender, Sex, and Subordination. 1500–1800 (New Haven 1995), Paul Griffiths: Youth and Authority. Formative Experiences in England. 1560–1640 (Oxford 1996). 2 P. Griffiths: Youth and Authority [Anm. 1] 392. Formale juristische Dokumente sind nicht unbedingt repräsentativ für die historische Erfahrung, da nur die wenigen Fälle tatsächlicher Strafverfolgung untersucht werden, wie Griffiths betont, und neben einer hohen Dunkelziffer auch die Art und Motive der Aussagen über Schuld und Schande mit Vorsicht zu lesen sind. Ebd. 245–48, 288.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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müßten spezifisch auf das Thema Scham hin interpretiert werden, was hier nicht zu leisten ist. Viertens wird die Reflexion von Scham und Schande in der Literatur analysiert. Literatur als Interdiskurs vermag insofern neue Einsichten zu vermitteln, als sie mit sozialen Regeln und unterschiedlichen Formen ihrer Performanz, Brechung und Wiederherstellung spielt. Shakespeares Drama Measure for Measure ist seine wohl interessanteste, da widersprüchlichste Problematisierung von Scham und Schande.

I. Das lexikalische Feld von »shame« bis in die frühe Neuzeit Dem Shorter Oxford English Dictionary (SOED) zufolge ist das Konzept »shame« in seinen heutigen Bedeutungen als Schande und Scham im weitesten Sinne bereits seit dem Altenglischen und Mittelenglischen bekannt, auch wenn das historische Lexikon keine Rückschlüsse auf die Häufigkeit der Verwendung der jeweiligen Bedeutungen erlaubt.3 So führt das SOED als erstes die komplexe sozialpsychologische Bedeutung von Scham bereits im Altenglischen auf, das Empfinden einer Demütigung oder Pein(lichkeit) über ehrloses oder lächerliches eigenes oder fremdes Verhalten oder einer Situation, welche das eigene Empfinden oder das anderer von Sitte und Anstand verletzt: »The feeling of humiliation or distress arising from the consciousness of something dishonourable or ridiculous in one‘s own or another‘s behaviour or circumstances, or from a situation offensive to one‘s own or another‘s sense of propriety or decency.” Als zweite bereits früh nachgewiesene, aber eher soziologische Bedeutung folgt Schande als Verlust der gesellschaftlichen Achtung oder des Rufes: »Disgrace, loss of esteem or reputation; an instance of this.” Die Schande wird seit dem Mittelenglischen zumindest in der frühen Neuzeit durchaus geschlechterspezifisch verstanden: »spec. A woman‘s loss of chastity or a violation of her honour. Now chiefly in child of shame, a child born to an unmarried woman.« Als Konsequenzen der Schande führt das SOED wiederum gesellschaftlichen Tadel und individuelles Bedauern an. Ferner kannte man schon im Mittelenglischen die Scham als internalisierte Verhaltenskontrolle: »Regard for propriety or decency, esp. as imposing a restraint on behaviour; modesty, shyness. Formerly also, an instance of this.” Allein diese Befunde deuten darauf hin, daß die Konzepte Schande und Scham sich bereits sehr früh als Ausdifferenzierungen des Begriffs »shame« zeigen. Es wird im Gebrauch der Begriffe deutlich, daß Schande und Scham sich auf positive Normen von Sitte, Anstand und Ehre beziehen, die nicht ohne eine genauere Betrachtung soziokultureller historischer Diskurse eruiert werden kön-

3

The Shorter Oxford English Dictionary (Oxford 62007).

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nen.4 Die offensichtliche Komplexität des Gebrauchs von »shame« erfordert einen recht breiten Ansatz, der uns helfen sollte, Antworten auf folgende Fragen zu skizzieren: Was bedeuten, d.h. wie funktionieren Scham und Schande? Wer zieht auf welche Weise und aus welchen Gründen Schande auf sich, oder wer empfindet wie und warum Scham oder sollte diese empfinden? Auf welche Art und Weise hängen Schande und Scham zusammen? Sind sie nur zwei Seiten einer Medaille, sind sie komplexer vermittelt, oder treten sie auch vollkommen getrennt auf? Wie werden Scham und Schande bewältigt bzw. aufgehoben? Wie funktioniert Schamlosigkeit? Wirkt sie subversiv, oder bestätigt sie lediglich die Norm?

II. Theorien der Scham Aus der Anthropologie kommt die grundlegende Unterscheidung zwischen Schamkulturen und Schuldkulturen: Während in den überwiegend frühen, kollektivistischen Schamkulturen einzelnes Fehlverhalten keine individuelle Schuld bewirkt, sondern Schande über die Gruppe bringt, deren Angehörige/r die Regeln übertreten hat, wird in Schuldkulturen das Individuum persönlich für seinen Normbruch verantwortlich gehalten.5 Dieser Unterschied wird vor allem von sozialgeschichtlichen Forschungsrichtungen in eine Entwicklung von Scham- zur Schuldkultur überführt, die jedoch so eindeutig nicht auszumachen ist, da die Definition und die Abgrenzung der Begriffe wie der Epochen notorische Schwierigkeiten bereitet. – Der Soziologe Theodore Kemper nimmt eine Unterscheidung von Scham als Indikation vor, daß »one does not deserve the status one has been

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Ein Blick in verschiedenste Quellen fiktionaler wie nicht-fiktionaler Texte, Lexika und Thesauri zeigt uns, dass als erstaunlich umfangreiches Bezugsfeld von »shame« die Begriffe »glory, fame, esteem, pride, respect, honor«, und »decency« zur Verfügung stehen, als benachbarte Begriffe der Schande »disgrace«, »ignominy, infamy«, »scorn« oder »despite« (Verachtung), »notoriety” (schlechter Ruf), als mit der Scham verwandte Begriffe dagegen »humility« (Demut), »self-debasement, self-reproof« oder »self-reproach« (Selbsterniedrigung oder -vorwurf), »embarrassment« (Verlegenheit), und zuletzt als Konsequenz von Schande wie Scham »mortification« (Demütigung, Erniedrigung) und »chagrin« (etwa: Kränkung). 5 Wolfgang Fikentscher: Law and Anthropology. Outlines, Issues, and Suggestions (München 2009) 425–427. Fikentscher selbst geht von großen kulturellen Differenzen in den Konzepten von Individuum und Kollektiv, richtig und falsch aus, die der herrschenden Dichotomie widersprechen (ebd. 426). – Die öffentliche Schande scheint in modernen westlichen Gesellschaften und wissenschaftlichen Diskursen eine geringe Rolle zu spielen, doch das World Wide Web wird mittlerweile von Privatpersonen wie öffentlichen Gruppierungen als ziemlich effektive Form des öffentlichen Prangers verwendet, der in seinen psychischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen wohl weiter reicht als jeder Pranger zuvor. Parallel dazu rücken persönliche Schwächen und Verfehlungen vor allem bei berühmten Persönlichkeiten immer mehr ins Rampenlicht öffentlich aufgedeckter Scham (vgl. Richard Sennett: The Fall of Public Man (1986). In: Stephen Pattison: Shame: Theory, Therapy, Theology (Cambridge 2000) 137.

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receiving or is claiming«, und Schuld als Bewusstsein dafür, dass »one has used excess of power toward another who does not deserve it«.6 – Die Psychologie rechnet Phänomene, die nach Freud lange als Schuld behandelt wurden, heute zum Komplex der Scham.7 Wie Agnes Heller argumentiert, scheint die Aufklärung mit ihrer Entwertung von Traditionen die Schamkultur auf den Abfallhaufen der Geschichte zu kehren, doch kann man nicht von reinen Schuldkulturen sprechen, da Scham und Schuld parallel existieren, sich überlappen und unterschiedlich funktionieren: So könne man sich für etwas schämen, obwohl man seinem Gewissen folgte und danach richtig handelte, in psychoanalytischen Termini wohl ein Konflikt zwischen dem Ideal-Ich und dem Über-Ich. Als Bezugsrahmen für Scham können also neben den Vorstellungen einer realen oder imaginären Gemeinschaft auch unsere persönlichen Werte dienen.8 Dies ist dann, wie ich zeigen werde, von besonderer Wichtigkeit, wenn in einer Kultur mehrere alternative oder gar widersprüchliche Wertesysteme zur Verfügung stehen, wie sie sich in der frühen Neuzeit entwickeln. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts psychologisiert sich nach Richard Sennett das Verständnis von Individuum und Gesellschaft, wenn der einzelne sich weniger über die sozialen Rollen und die Ehre definiert als über persönlichen Charakter, Individualität und Würde, die Scham sich also im Kern der individuellen Persönlichkeit einnistet.9 Dennoch bleibt, würde ich sagen, Scham an den Anspruch an Status und Macht – zumindest im symbolischen Sinne – gebunden. Agnes Hellers Unterscheidungen zwischen den Disziplinen der Anthropologie, Ethik, Soziologie, Psychologie und Geschichte sind für unsere Zwecke weniger wichtig als der Erkenntnisgewinn durch ihre wechselseitigen Ergänzungen. Heller umreißt die psychologischen, kulturellen und sozialen Dimensionen wie folgt: Scham äußert sich in den verinnerlichten Augen der anderen, welche auf Konformität schauen und Abweichungen von sozialen Normen mißbilligen. Je nach Kultur und Epoche können auch Nacktheit und Körperfunktionen mit Scham belegt sein. Bei körperlichen oder sozialen Differenzen von

6 Theodore Kemper: Predicting Emotions in Groups: some Lessons from September 11. In: Emotions and Sociology, hg. von Jack Barbalett (Oxford 2002) 58. In: Vessela Ivanova Misheva: Shame and Guilt as Master Emotions and the Body-Mind Problem. In: Schuld und Scham, hg. von Alexandra Pontzen und Heinz-Peter Preusser (Heidelberg 2008): 91. Misheva kritisiert Kempers Unterscheidung als unzureichend, da sie im Falle unverdienter Scham bei körperlichen Schwächen oder nicht empfundener Schuld nicht greife (ebd. 91–92), doch ist das Empfinden an die individuelle Akzeptanz der zugrundeliegenden Normen gebunden. 7 Agnes Heller: Five Approaches to the Phenomenon of Shame. In: Social Research 70 (2003): 1028–1029. Heller sieht die These des Wandels von der Scham- zur Schuldkultur bei Charles Darwin vorgeprägt und von Ruth Benedict ausgearbeitet (ebd. 1021), dagegen bei Norbert Elias differenziert, da diesem zufolge Schuld Scham nicht ausschließe (ebd. 1022). Zum Problem des Wandels in der wissenschaftlichen Beobachtung siehe V. I. Misheva: Shame and Guilt [Anm. 6] 84–88. 8 A. Heller: Five Approaches [Anm. 7] 1028–1029; V. I. Misheva: Shame and Guilt [Anm. 6] 86. 9 Richard Sennett, The Fall of Public Man (1986). In: S. Pattison: Shame [Anm. 5] 136–137.

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der Norm kann Scham ohne Schuld empfunden werden. Die Furcht vor sozialer Mißbilligung, etwa in Form der Schande in den Augen anderer, diszipliniert den einzelnen. Scham kann sich in Schuldgefühlen äußern, aber auch in Entschuldigungen oder der Projektion der Verantwortung auf andere.10 Im Untersuchungsbereich der frühen Neuzeit Englands ist das christliche Wertesystem, insbesondere in seiner protestantischen und puritanischen Ausprägung, eine relevante Größe. Der psychologisch und soziologisch interessierte Theologe Stephen Pattison führt aus, daß Schuld und Sünde, die das Selbst von Gott und den Menschen entfremden, des Bekenntnisses, der Reue und Vergebung bedürfen.11 Während Schuld abgetragen oder gebüßt werden kann und nicht unbedingt das Selbstwertgefühl beschädigt, benötigt Scham die Wertschätzung und Anerkennung des Selbst durch sich und/oder andere.12 Pattison entdeckt psychologische Verknüpfungen logisch gegensätzlicher Phänomene, wie »pride« und »humility«, also Stolz und Demut, oder »hubris« und »shame«, Hochmut und Scham: Hochmut wie Scham können egozentrisch sein, die Überbewertung des Selbst ebenso wie die narzißtische Kränkung und Selbstverleugnung, weil Scham kompensatorisch Selbstbesessenheit, Arroganz und die Verachtung anderer bewirken kann. Was Theologen als Hochmut brandmarken, kann psychologisch gesehen also auch ein Symptom der Scham sein.13 Kann der einzelne seine Scham bzw. die Auslöser dieser nicht verbergen, verstärken manche Gemeinschaften diese noch, beispielsweise durch öffentliche Schandrituale, in denen der Verstoß dem öffentlichen Gelächter preisgegeben und der Delinquent von der Gemeinschaft zeitweise oder ganz ausgeschlossen wird.14 Günstigenfalls führt die Strafe und öffentlich bekannte Reue zur Reintegration in die Gemeinschaft. Scham funktioniert aber nur, wenn die entsprechenden Normen internalisiert und akzeptiert werden. Die Schamlosen haben schon immer mehr fasziniert als die Musterbeispiele der Scham, wie reale, fingierte und fiktionale Skandale belegen. Gesellschaftlich wie ästhetisch interessant ist der Umschlag der Scham in die Schamlosigkeit im Falle der verlorenen wie verachteten Unschuld oder umgekehrt bei der Wende vom Sünder zum Heiligen. Die angeführten allgemeinen Bestimmungen der Scham reichen nicht aus, um deren historisch und kulturell spezifische Ausprägungen zu verstehen. So gilt es zunächst einmal, die historische Bedeutung des Begriffes zu klären.

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154.

A. Heller: Five Approaches [Anm. 7] 1019–1022. S. Pattison: Shame [Anm. 5] 244. Ebd. 244–45. Ebd. 247–56. Leon Wurmser: The Mask of Shame (Northvale 1995): 82. In: S. Pattison: Shame [Anm. 5]

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III. Die historische Normierung von Scham und Schande Wir betrachten also die Rede von Scham und Schande, nicht das tatsächliche Empfinden historischer Personen, das sich dem direkten Zugriff entzieht. Fletcher berichtet von Wellen moralischer Panik um 1576, 1610, und 1624, die in der Furcht um die hierarchische Sozialordnung wie in puritanischen Reformbemühungen begründet waren: Man versuchte, voreheliche Sexualität einzudämmen, die Jugend und Frauen stärker zu kontrollieren u.a., um illegitime Kinder zu verhindern, die der Gemeinde zur Last fielen.15 Durchsucht man die sehr umfangreiche Datenbank der Early English Books Online (EEBO), so fällt auf, daß Schande insbesondere im 17. Jahrhundert häufig in einem sehr allgemeinen Sinne als polemische Waffe im Kampf verschiedener Glaubensrichtungen und um die Macht im Staat verwendet wurde.16 Der Kampf der Schichten, der adeligen Cavaliers gegen das bürgerliche Lager, überlappte sich oft mit der Auseinandersetzung der Konfessionen, des konservativen Flügels der anglikanischen Kirche gegen den reformatorischen Flügel und/oder die Puritaner. Ewan Fernie bestätigt für die Renaissance eine Mischung von säkularen und christlichen Vorstellungen von Scham, sieht aber zusätzlich Unterschiede nach Geschlecht.17 Männer schämten sich traditionell eher für Schwäche oder Machtlosigkeit, Frauen für die Verletzung von Keuschheit: »amoral or worldly shame is loss of personal power or prestige, moral or spiritual shame the loss of virtue as goodness«.18 Fernie sieht die christliche Scham nahe an der weiblichen, aber in ihrer Gültigkeit geschlechtslos, da sie die gleichen Regeln für Männer und Frauen aufstellt.19 Hierbei vernachlässigt sie, daß mit den Begriffen der Ehre, Schande und Scham das Ringen um symbolisches Kapital und reale Macht auf den Feldern der Schichten, Glaubensrichtungen und Geschlechter ausgetragen wird. Historische Quellen dokumentieren diese Spannungsfelder und lassen zusätzliche klassenspezifische und psychologische Probleme aufscheinen. Richard Brathwaite stellte seiner Schrift The English Gentleman im Jahre 1631 The English Gentlewoman gegenüber, dem nach Anthony Fletcher ersten Verhaltensratgeber, der sich direkt an Frauen richtet.20 Brathwaite publizierte 1641 beide

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A. Fletcher: Gender, Sex, and Subordination [Anm. 1] 274–78. ProQuest: Early English Books Online (Chadwick-Healey 2003–2010). 17 Ewan Fernie: Shame in Shakespeare (London 2002) 41. 18 Ebd. 12. 19 Ebd. 37. 20 A. Fletcher: Gender, Sex, and Subordination [Anm. 1] 380. Richard Brathwaite: The English Gentleman and The English Gentlewoman: both in one Volume couched, and in one Modell portrayed: to the living glory of their Sexe, the lasting story of their Worth, being presented to present times for ornaments; presented to posterity for Presidents (London 31641). In: EEBO [Anm. 16]. Im fortlaufenden Text werden die Seitenangaben der zahlreichen Verweise auf diesen 16

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Werke in einem Band, der zwar wegen seiner didaktischen Wiederholungen ermüdend, aber aus vielen Gründen außerordentlich interessant und auf historisch charakteristische Weise konfliktträchtig ist. Der Referenzrahmen für den Ehrbegriff und die Verhaltensregeln greift auf die Antike, die christliche Tradition, den Volksmund und die (frühkapitalistische) Ökonomie zurück. Es bleibt strategisch geschickt offen, an welche Männer und Frauen sich das Buch genau richtet. Immer wieder werden Gentlemen und Gentlewomen, oder solche, die es werden wollen, als Leser angesprochen, doch charakteristische Merkmale der Oberschicht verurteilt, beispielsweise Stolz, höfische Rhetorik und Schmeichelei, aufwendige Kleidung und Repräsentation. Es geht also darum, den Adel zu erziehen und Bürgerlichen dazu zu verhelfen, sich wie ein Gesinnungsadel zu verhalten. Die Definition des Gentleman als Bezeichnung des adeligen Ranges wird hier um eine puritanisch beeinflußte Moral erweitert, die mehr oder weniger offen den Status des Gentleman für das bürgerliche Lager öffnet und beansprucht. Die Charakterisierung der Gentlewoman ersetzt quasi den Adel der Abstammung durch den Adel der christlichen Lebensführung und rückt die Scham weit mehr in den Vordergrund als beim Gentleman, dem immerhin noch adelige Vergnügen zugestanden werden. Die Frau wird hier in doppelter Weise der männlichen Sicht unterworfen, denn sie soll die Blicke des Begehrens mit einem Panoptikum der Scham abwehren, um sich und ihrer Familie keine Schande zu bereiten. Die Widmung an den Earl of Pembroke und Lord Chamberlain im English Gentleman unterscheidet von Anfang an die lediglich geerbte, degenerierende »Gentility« von dem wahren Adel der Gentry, die sich durch Tugenden (»Vertue«) auszeichne. Der wahre englische Gentleman setze sich von der effeminierten Gentry mit ihren ausländischen Moden durch »Humility and Integrity« als »Censorious Pursuers« und »necessary Monitors” ab. Damit werden Demut, im weiten Sinne auch Scham und Moral als wichtige internalisierte Kontrollinstanzen eingeführt, die in erster Linie puritanisch gefaßt werden. Der Autor schlägt – möglicherweise aus rhetorischem Kalkül – gelegentlich den goldenen Mittelweg ehrenwerter Lebensführung vor, beschränkt diesen jedoch immer wieder durch strenge puritanische Vorschriften. Abstammung sei wichtig, aber ohne den persönlichen Verdienst eines ehrenhaften Lebens wenig wert. Das Leben eines Libertins sei ebenso wie das eines Einsiedlers zu vermeiden (217). Neben der Pflicht zur Führung des Haushaltes und Übernahme öffentlicher Ämter seien dem Gentleman zur Entspannung die lehrreiche Lektüre von Geschichtsbüchern, aber auch Tanzen, Fechten, Jagen, Falknerei, in Maßen Wein, Würfelspiel und gar Theater empfohlen, obwohl mehr Gründe gegen als für das letztere sprächen. Das Verständnis von Ehre, Schande und Scham ist widersprüchlich.

Text in Seitenzahlen in Klammern gesetzt, außer in der dem Haupttext vorangestellten Widmung, die ohne Seitenzählung ist.

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Einerseits gilt im Anschluß an antike Vorbilder die Ehre als das höchste Gut und die öffentliche Schande als die schlimmste Schmach und Strafe, der sogar der Tod vorzuziehen sei (38, 182). Daher sei gut zu überlegen, wem man vertraue, und lieber wahre man seine Geheimnisse, als seinen Namen, sein Leben oder seinen Besitz aufs Spiel zu setzen (156–57). Öffentliche Schande und Scham (»Disgrace and shame«, 235) gelten als unerträglich. Andererseits sollen öffentliche Erniedrigung und Rufschädigung in christlicher Demut ertragen werden, denn dem auf Erden entehrten (»disgraced«) Christen werde im Himmel Gnade (»grace«) erwiesen (234–37). Die wahre Ehre liege im reinen Gewissen (36). Wir sollten unseren Wert selbst in der Welt gering schätzen und uns in Demut üben, da wir an Gottes Ruhm teilhätten (237): »Have you ascribed to yourselves shame, and to God the glory«? (236) Diese Frage fordert geradezu die Ausbildung einer chronischen Scham heraus, die Pattison mit Recht als negativen Effekt eines hypermaskulinen Gottes kritisiert, der Unterwerfung als Bedingung für seine Gnade fordert: »The idealised God of Christian orthodoxy, immortal, invisible, omnipresent, all-powerful, rational, disembodied and unbiddable can be powerfully attractive to the shamed and narcissistically wounded who wish to be healed, enselfed and made significant within a loving parental gaze … Rather, they may be encouraged to see themselves as bad, powerless, defiled and unworthy before the face of an all-good creator.«21 Die Sichtbarkeit der Sünde gilt als das zentrale Paradigma im Verhältnis des Menschen zu Gott, zur Mitwelt und zu sich selbst. Diese potentielle Sichtbarkeit motiviert ein ganzes Arsenal an Verschleierungs- und Überwachungstechniken durch einen selbst wie durch andere. Damit ist dem Mißtrauen sich selbst und anderen gegenüber Tür und Tor geöffnet. Für Brathwaite beginnt diese Scham mit der Ursünde der Verführung Adams durch Eva und der Notwendigkeit, die körperliche Scham zu verbergen (9). Seine puritanische Schlußfolgerung lautet, sich der Ursünde und der gefallenen Natur des Menschen bewußt zu sein und gerade nicht durch galante oder prunkvolle Kleidung das notwendige Verbergen der Scham geradezu hervorzuheben. Dadurch werde die Sünde geadelt und Eitelkeit statt angemessener Scham gefördert (9, 60, 182). Zum einen gilt ihm der Blick als Einfallstor der Begierde, wenn beispielsweise modische Kleidung oder eine Kurtisane den Galan anziehe (217). Zum anderen kontrolliert der Blick die Verfehlung. Ob die Sünde öffentlich zur Schau gestellt oder verborgen wird, sie wird von den Augen der anderen, dem inneren Auge des Sünders und Gottes Auge verfolgt. Die puritanische Faszination vom sündigen Leib schlägt sich in besonderer Abscheu vor der Begierde (»Bestial lust«, 18) nieder. Der Wert der Scham sei höher als der des Geldes: »Dearer is the rate of shame than of coin« (18). Die höheren, aber nicht unbedingt besseren Ränge seien gewarnt, daß das

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S. Pattison: Shame [Anm. 5] 241.

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kurze Vergnügen bei fremden Frauen durch die ewige Verdammnis der Seele bestraft werde; auch wenn man versuche, diese Scham zu verbergen, würde man seine Seele dem »trafficke of shame« aussetzen (102, 180). Stolz und Wollust zählten zu den größten Sünden des Landes (217). Die schamlose Lüsternheit der Jugend sei nicht nur eine Schande, sondern veranlasse (den wahren Christen) sogar zum Fremdschämen: »a scandall to Christian eyes; those eye-sores which wound the inward man with the sting of anguish« (202). Für den puritanisch geprägten Verfasser sind also die Grenzen zwischen »innerer« Scham und »äußerer« Schande fließend. Die Seele leidet unter der Scham im Sinne des Schämens ebenso wie unter der Schande. Resümiert man Brathwaites vielfältigen Gebrauch der Scham, muss man also Scham als innere Instanz vom konkreten Schämen für eine Verfehlung und der grundlegenden Scham als gefallener Mensch im Angesicht Gottes unterscheiden, die Demut verlangt und den adeligen Stolz auf die Abstammung relativiert. Für Brathwaite gilt es als ausgemacht, daß der Mann sich glücklich schätzen kann, keine Frau zu sein, die »in sex weaker and inferior, so in the gifts of the mind richer and superior« sei (143). Diese Aussage legt den Frauen doppelte Fesseln an, denn sie sieht die Frauen in ihrer geschlechtlichen Leiblichkeit gefährdeter und daher die Notwendigkeit, sie stärker zu kontrollieren als die Männer, und erlegt ihnen gleichzeitig die Bürde auf, diese Schwäche durch einen höheren Anspruch an ihre Sittlichkeit zu kompensieren. Dieser Anspruch äußert sich in einer gesteigerten Sichtbarkeit der Frau als Subjekt und Objekt der Beobachtung. Als Ausgangspunkt dient in der Vorrede an die Leser die Beobachtung, daß sich die gegenwärtigen Gentlewomen öffentlich auf dem Markt der »mercenary Prostitution« (o. S.) verkauften. Dies gehe so weit, daß Kleidung, die früher der Unterscheidung der Ränge und Geschlechter diente, heute schamlos dazu mißbraucht wird, sich zur Schau zu stellen, und dabei gar die Brüste kaum verschleiert zur Werbung einzusetzen (275). Ironischerweise argumentiert Brathwaite selbst ebenfalls ökonomisch, verlagert aber den Wert der Frau vom Körper auf den Ruf (»Estimation«, 327), den die Frauen wie die Kaufleute höher als den Tod halten müßten, um nicht bankrott zu gehen. Der einzige schmückende Farbton, den das Antlitz einer Frau bedecken sollte, sei das schamvolle Erröten (393). Neben Bescheidenheit und Wohltätigkeit, einer Qualität, die auch dem männlichen Gentleman gut anstehe, gelten vor allem Frömmigkeit und Keuschheit als wichtigste Eigenschaft der Gentlewoman (373). Die weibliche Bescheidenheit wird allerdings – im Gegensatz zu der der Männer – entschieden durch Scham definiert, nämlich »shamefaste modesty« (373). Die Frau solle sich – wie der Mann – des Sündenfalls bewußt sein und sich schämen (392). Die Frauen müßten ihre eigenen losen Blicke und Zungen im Zaume halten und daher am besten die Öffentlichkeit meiden, es sei denn in Gesellschaft von Frauen (317, 375): Frauen »should be seen, and not heard.« (293). Der Verfasser appelliert an die Frauen, sich vor den Augen der (anderen) Män-

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ner zu verbergen, baut aber eine panoptische Kontrolle auf, die im patriarchalen Mißtrauen Frauen gegenüber jeden Winkel durchdringt: »be you retired from the eyes of men; think how the eyes of God are on you« (297). Brathwaite warnt die Frauen, im Privaten niemals zu tun, was sie sich öffentlich nicht leisten könnten, denn jedes Geheimnis käme schließlich ans Licht (381). Die Befleckung ihrer Ehre sei nie wieder zu entfernen und würde gleichermaßen die Ehre ihrer Familie in den Schmutz ziehen (384, 389, 400), sprich: dem Ehemann als Haupt der Familie und der Mutter als Erzieherin Schande bereiten (376–77). Nur schamlose Huren würden im Verborgenen, treiben, »what shall afterwards shame them« (336), denn Gott würde immer zuschauen, auch wenn er selbst nicht sichtbar sei (336, 381). Die Kontrolle durch die Gesellschaft und Gott wird durch die Scham perfektioniert. Ein starkes, »festes« Schamgefühl gilt als Auszeichnung der Frau: »Modest shamefastnesse, a Woman’s chiefest Ornament« (297). Nicht der Spiegel, sondern das innere Auge soll der Reflexion der Frau dienen (399). Die Frau ist gehalten, durch beständige Selbstprüfung sich ihrer geheimen »bosome-sinne« (387) gewahr zu werden und diese zu zensieren. Es scheint hier so zu sein, daß Gewissen und Scham selbst zur Disziplinierung der Gefühle eingesetzt werden sollen. Die Frau steht also nicht nur als Objekt der Begierde und sozialer Kontrolle unter den vielen Blicken anderer, sondern sollte auch selbst über ein reines und unparteiisches Auge der Selbstreflexion verfügen (385), besser noch, ein internalisiertes Panoptikum: »You have a Cloud of witnesses within you, that can beare testimony of you, and for you. That person needs not feare any foe, that hath within him such an incomparable friend« (383). Ein stärkeres Argument für die geschlechterspezifische Relevanz der Scham als die internalisierten (männlichen?) Augen und Stimmen der anderen ist kaum vorstellbar. Dennoch gab es genügend Fälle, in denen die von Brathwaite angemahnte Scham versagte. Der gesellschaftliche Umgang mit diesen Verfehlungen zeugt wiederum von rang- und geschlechtsspezifischen Unterscheidungen. Adelige Männer und zum Teil auch bürgerliche Haushaltsvorstände (»master«) nahmen es weder mit ihrem eigenen Anstand noch mit der Keuschheit abhängiger Frauen niederer Ränge immer genau, die jedoch in erster Linie von gesellschaftlicher Schande getroffen wurden.22 Nicht nur adelige Jugendliche stellten ihre Männlichkeit unter Beweis, indem sie sich dem Alkohol und Tändeleien mit Frauen hingaben sowie Gelegenheiten zu handgreiflichen Auseinandersetzungen nicht auslassen konnten.23 Die männlichen »Sünden« wurden eher toleriert als die der Frauen und der unteren Schichten. Wie die feministische Kulturwissenschaftlerin Knoppers

J. A. Sharpe: Early Modern England. A Social History. 1550–1760 (London 21997) 44; P. Griffiths: Youth and Authority [Anm. 1] 272–80; A. Fletcher: Gender, Sex, and Subordination [Anm. 1] 160–72. 23 A. Fletcher: Gender, Sex, and Subordination [Anm. 1] 89–93. 22

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berichtet, wurden bis ins späte 17. Jahrhundert Ehebruch und Prostitution mit öffentlicher Schande seitens der Kirche oder dem Gesetz bestraft. Die Delinquenten mußten in weißen Kleidern auf dem Marktplatz oder vor der Kirche Buße tun. Ihre Schande stand auf Papierschilder geschrieben. Sie mußten die Kirchgänger um Fürbitte und Vergebung bitten und öffentlich in der Kirche beichten und bereuen, um Gnade und Vergebung zu erreichen. Ihre Anerkennung der Schande und deren Vergebung integrierte die Sünder in die Gemeinde. Weltliche Gerichte zielten auch auf öffentliche Schande. Die Ehebrecherinnen, Kupplerinnen und Prostituierten wurden auf Karren durch die Stadt gefahren, die Frauen öffentlich nackt ausgepeitscht. Sie mußten eine Geldstrafe bezahlen und Besserung geloben.24 Gegen Ende des 16. Jahrhunderts lehnte das House of Commons eine Eingabe ab, auch ehebrechende Männer öffentlich auszupeitschen, da man »gentlemen or men of quality« treffen könnte, denen man diese Schande nicht antun könne.25 Knoppers betont zu Recht, daß das öffentliche Auspeitschen nackter Frauen selbst eine sexuelle Verfehlung herstellt und die Frau als voyeuristisches Spektakel inszeniert, also Schande in den Augen der anderen konstituiert. Sie merkt aber auch an, daß die Schandrituale als öffentliche Spektakel nicht den inneren Wandel oder den moralischen Konsens der Zuschauer garantieren konnten.26 Im Falle von Kapitalverbrechen wurde der Täter oder die Täterin in der Regel durch den Tod bestraft. Öffentliche Bekenntnisse vor der Menge auf dem Richtplatz oder mehr oder weniger fingierte schriftliche »Zeugnisse« der Delinquenten dokumentierten das doppelte Bedürfnis der Gesellschaft, den Verbrecher praktisch aus der Gemeinschaft auszuschließen, aber diskursiv zu integrieren und die Anerkennung der Normen herzustellen. In Deeds against Nature and Monsters by Kinde, einem anonymen, sensationalistischen und moralisierenden Bericht (wahrscheinlich) realer Schwerverbrechen, folgt die Reue der Tat, führt aber unweigerlich zum Tod durch den Strang im Juli 1614.27 Der Text schildert die Tat zuerst in der dritten Person, aber der fingierten Perspektive der Verbrecher. Nach dem Bericht in der dritten Person folgen gereimte Klagen bzw. Bekenntnisse der Täter in der ersten Person, die diese angeblich im Gefängnis verfaßten. Hier werden zwei schamlose Übeltäter vorgeführt, die einen Mord begingen, um Schande zu vermeiden. Die Gesellschaft grenzt sich von den Ausgestoßenen, die Männer grenzen sich von den Frauen ab. Im ersten von zwei Fällen trieb es der verkrüppelte Bettler John Arthur mit einer Bettlerin in sündiger Lust und Schande, bis Gott nicht mehr wegsehen konnte und der »shamelesse« Krüppel selbst des (möglichen) Mißbrauchs der Fortpflanzung und seiner Scham (im Sinne von

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Laura Lunger Knoppers: (En)gendering Shame: Measure for Measure and the Spectacles of Power. In: English Literary Renaissance 23 (1993) 452–57. 25 Ebd. 458. 26 Ebd. 454, 456, 458–59. 27 Anon.: Deeds against Nature and Monsters by Kinde (London 1614). In: EEBO [Anm. 16].

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Geschlechtlichkeit und Schamverletzung) oder Schande (aus der Perspektive des Erzählers) überdrüssig wurde. Er ermordete die Frau, der er die Heirat versprochen hatte. Der Krüppel war »blinded with his own shame«, also wohl voll des Gefühls der Erniedrigung ob des schamlosen Verhältnisses und blind für die Außenwelt, denn erst glaubte er sich vor den Augen der Gesellschaft sicher, doch dann kam seine Tat ans Licht. Die Klage des Bettlers in der ersten Person betont das Phänomen seiner inneren Scham und sein Bemühen, öffentliche Schande zu vermeiden. So schämte er sich nach Erkalten seiner Begierde bald seiner Tat, aber die Ursache der Scham kehrt er um und projiziert sie auf die Frau: »Then as my shame I hated her«. Er erdrosselt die Frau, um beider Scham (»shame«, Scham über Geschlechtlichkeit) ein Ende zu machen und um zu vermeiden, daß sie seine Taten zu seiner Schande (»disgrace«) öffentlich macht. Und die Moral von der Geschichte lautet, daß der deformierte Außenseiter sich nicht anmaßen sollte, sich der Liebeslust hinzugeben, sprich: sich schämen sollte, den Status eines körperlich »normalen« und damit ehefähigen Mitglieds der Gesellschaft zu beanspruchen, der sich traditionell schon nach einem Heiratsversprechen unter Zeugen ohne kirchlichen Segen der Lust hingeben durfte. Die Frau als das Objekt seiner sexuellen Begierde, Opfer seines nicht gehaltenen Eheversprechens und Verbrechens dient als Sündenbock für das Schamgefühl und die Schande des Mannes. Interessanterweise erscheint hier Scham als retrospektives Empfinden des Mannes, der sich zunächst schamlos seiner Lust hingab. »Zu spät«, würde Braithwaite sagen, und den Fall als Bestätigung seiner moralischen Erziehungslehre sehen. Im komplementären zweiten Fall, dem beliebten Thema der ledigen Kindsmörderin, wird die Verantwortung des Mannes vollkommen ausgeblendet. Der Mord am Kind, die Frucht der Sünde und der Scham (Geschlecht und Sexualakt), kommt zu ihrer Schande (»disgrace«) ans Licht und befleckt ihre Glaubwürdigkeit und ihren guten Ruf. Auch hier macht, wie im Falle des Bettlers, die Sünde bzw. der Teufel den Menschen blind, schwächt also die Scham als die internalisierten Augen der Anderen, die die Übertretung hätten verhindern können. Im Vordergrund steht in beiden Fällen die Macht der Sexualität und die Furcht vor der öffentlichen Schande. Das Schamgefühl reichte nicht, um sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden. Die Warnung, daß die Vertuschung der Vergehen zwangsläufig entdeckt werde, kann als ein deutlicher Appell zur Stärkung der Scham als Prävention verstanden werden, da offensichtlich die Angst vor der öffentlichen Schande das Vergehen nicht verhindert, sondern sogar Straftaten motiviert.28

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Die häufige Thematisierung der Kindsmörderin ist wohl eher dem Sensationsbedürfnis und moralischer Erziehung geschuldet als in der historischen Wirklichkeit begründet. Tatsächliche Fälle von Kindsmord aus Scham oder anderen Gründen, so J.A. Sharpe, wurden sehr selten vor Gericht verhandelt, auch wenn die Dunkelziffer hoch sein könnte. Early Modern England. [Anm. 22] 44–45.

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IV. Die literarische Problematisierung von Scham und Schande Verhaltensratgeber und die ebenso populäre Verbrechensliteratur bemühen sich um eine didaktisch eindeutige Darstellung der Normen von Scham und Schande, auch wenn – oder weil – ihre Grundlage das Versagen von Scham und Schande zur Regulierung sozialen Verhaltens bildet. Auch die Philosophie, so Pattison, definiere diese Phänomene trennscharf, doch Literatur ermögliche einen spezifischen Erkenntnisgewinn: »The rational clarity of the philosophical approach is usefully muddied by literary approaches to shame. These show that shame is not an isolated phenomenon in real life. It is mixed up with a host of experiences and emotions within the context of a complex, multi-faceted narrative context. Literature does not define and demarcate shame. It helps us to understand the reality of shame in all its diffusion, pervasiveness and complexity.«29 Dabei ist Literatur nicht unbedingt »schwammig«, sondern stochert im schlammigen Grund komplexer Verhältnisse des einzelnen zur Gesellschaft nach moralischen, psychologischen und sozialen Problemen. Shakespeares Measure for Measure (1604) verhandelt normative Festlegungen von Scham und Schande auf kritische Weise. Knoppers argumentiert, dass Shakespeares Drama in erster Linie geschlechterspezifische und machtpolitische Schande problematisiert: »The play appears to shift shame from the law-breaker to law-maker, from women to men, from sexual to state politics.«30 Sie betont, daß das Stück Geschlechter diskriminierende Schandrituale hinterfragt, aber gleichzeitig als attraktive Spektakel inszeniert.31 Sie vernachlässigt jedoch die psychologischen Dimensionen christlicher Scham als Thema des Stücks, auf die sich Ewan Fernie konzentriert. Das Problem von Fernies Analyse liegt darin, daß er die christliche Scham des verachtenswerten Körpers zur zentralen Botschaft des Stückes macht: »Shame is destiny.«32 Dabei beachtet er nicht, daß die Aussagen zu Scham und Schande durch die Widersprüche in und zwischen den Figurenperspektiven relativiert werden. Meines Erachtens liegt die Wirkungsmacht des Stückes im problematischen Zusammenspiel von Schande und Scham in der moralischen Ordnung der Geschlechter und der Macht. Die Wirkung von Schande wie Scham wird durch zwei Faktoren untergraben: (1) den Wandel von Einstellungen gegenüber den religiösen und gesetzlichen Mechanismen von Scham und Schande und (2) den Mißbrauch und die Willkür bei der Attribution von Schande. Measure for Measure scheint geradezu eine Reaktion auf die moralischen Reformbestrebungen des späten 16. Jahrhunderts zu sein, die oben angespro-

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S. Pattison: Shame [Anm. 5] 60. L. L. Knoppers: (En)gendering Shame [Anm. 24] 451. Ebd. 451, 467. E. Fernie: Shame in Shakespeare [Anm. 17] 105.

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chen wurden, denn es thematisiert den Versuch des nachlässigen Herzogs, angeblich ausufernde Prostitution und Unzucht zu bekämpfen, indem er – wie bei Machiavelli vorgeschlagen – einen puritanischen Statthalter einsetzt, der Gesetz und Ordnung wiederherstellen soll.33 Der Herzog verkleidet sich als Mönch, um unter dem Deckmantel der moralischen Integrität und Autorität unerkannt die Machenschaften seiner Untertanen und seines strengen Statthalters Angelo zu beobachten. Hier muß sich quasi Brathwaites christliches Ideal als politische Leitfigur bewähren. Im Gegensatz zu Machiavellis Realpolitik, für die das Ziel jede Mittel rechtfertigt, ordnet Brathwaite die Macht eindeutig der Moral unter. Shakespeare dagegen entfaltet den Konflikt zwischen Moral und Macht. In der Figur des Geistlichen verkörpert der Herzog als heimlicher Beobachter und Strippenzieher die panoptischen Augen der anderen, die ihrer Aufgabe der Verhaltenskontrolle durch Schande in der Öffentlichkeit oder durch Scham im Individuum nicht hinreichend nachkamen. Seine Manipulation von Schande und Scham hinterfragt allerdings auch deren Legitimität. Wie Knoppers zu Recht argumentiert, sind weder die Jugend noch die Vertreter des horizontalen Gewerbes durch Schandrituale zu beeindrucken.34 Angelo verurteilt Claudio wegen Unzucht mit Juliet und unterwirft ihn einem öffentlichen Schandritual, obwohl die beiden sich die Ehe versprochen hatten und somit nach alter Sitte legitim intimen Verkehr haben durften. Zudem erfüllt die öffentliche Schande ihren Zweck nicht, den Täter zu beschämen und der Abschreckung zu dienen. Der angeprangerte Claudio erkennt zwar zunächst die gerechte Strafe der göttlich sanktionierten Autorität an, auch wenn er sich der öffentlichen Schande gerne entziehen würde.35 Doch sympathisieren Zuschauer mit ihm, und ihm selbst scheint später die Anwendung eines alten und harten Gesetzes, das ihn zum Tode verurteilt, arbiträr, zumal er vor der Schwängerung Juliets eine zivile Ehe schloß (1.2.126–136). In der Kutte des Mönchs bereitet der Herzog Claudio auf seine Hinrichtung vor, indem er ihm Verachtung des Lebens und des Leibes predigt, die gar nicht edel seien, sondern gemeiner und niedriger Natur (3.1.5–41). Claudio dankt ihm demütig und scheint damit die Position der Resignation in Scham zu akzeptieren, fragt aber seine Schwester gleich darauf, ob Hoffnung auf Begnadigung und damit Leben besteht. Der Herzog redet in seiner Verkleidung als Mönch auch der inhaftierten Juliet ins Gewissen, ihre Sünde zu bereuen, doch sie relativiert die damit verbundene Schande und Scham, obwohl sie ihre Verantwortung anerkennt: »I do repent me as it is an evil, / And take the

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Niccolò Machiavelli: Der Fürst. Übers. von Friedrich von Oppeln-Bronikowski (Frankfurt 1990) 93. 34 L. L. Knoppers: (En)gendering Shame [Anm. 24] 461–62. 35 William Shakespeare: Measure for Measure (Arden Edition), hg. von J. W. Lever (London und New York 1994) 1.2.106–122. Im fortlaufenden Text werden die Angaben der zahlreichen Verweise auf diesen Text nach Akt, Szene und Zeilen in Klammern gesetzt.

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shame with joy.« (2.3.35–36) Juliets öffentlich gewordene Schande scheint ohne tiefe moralische Scham auszukommen. Versteht man hier Scham, klingt auch die Bedeutung des illegitimen Kindes (s.o.) mit, da Juliet schwanger ist und sich auf dieses Kind freut. Die grundlegende Scham, die ihnen der Mönch einreden will, berührt die Lebensbejahung der Liebenden nicht nachhaltig. Im Falle von Claudio und Juliet, mit denen sich die Zuschauer prinzipiell anfreunden könnten, wird die Botschaft der Schande und Scham vielfältig gebrochen, müßte man Fernie entgegenhalten. Die Willkür der rechtlichen Verhandlung von Schande setzt sich fort. Angelos unangemessene Härte kontrastiert mit der Ohnmacht bzw. Milde anderer Richter in weit schlimmeren Fällen. In einem Rechtsstreit gegen den gewitzten Zuhälter Pompey erreicht dieser seine Freiheit mit den pragmatischen Argumenten, daß Zuhälterei und Prostitution nicht verwerflich sei, sondern nur der gesetzlichen Genehmigung bedürfe, da es gesellschaftlich notwendig sei, um die natürliche Begierde der Jugend zu befriedigen (2.1 220–40). Von Scham ist keine Spur zu sehen. Auch öffentliche Schande würde ihn nicht von seinem Broterwerb abhalten, wie der Zuhälter flapsig bemerkt: Der Fuhrmann (des Schandkarrens) sollte lieber sein Pferd als ihn peitschen. Die Kupplerin geht zwar ins Gefängnis, aber Pompey rät ihr, ihr Bordell später einfach an anderer Stelle wieder fortzuführen. Zwar kommt die Argumentation aus dem Munde eines in jeglicher Hinsicht respekt- und schamlosen Mannes, doch ist dieser dem hohen Ratgeber und Richter überlegen und gewinnt daher möglicherweise die Sympathie des realen Publikums, zumal das Theater der Zeit selbst dafür bekannt war, quasi als »Kontakthof« zu dienen und von Hardlinern unter den Puritanern verteufelt wurde. Das Argument des natürlichen Verlangens hebelt hier das Gesetz wie das puritanische Verdikt gegen die sündige Lust und die entsprechende Scham und Schande aus. Es gibt zwar zwei Figuren, Angelo und Isabella, welche die christlich motivierten Scham des sexualisierten Leibes verkörpern, doch sind diese alles andere als überzeugend.36 Claudio und Lucio bitten Claudios Schwester darum, bei Angelo um Gnade für ihren Bruder zu ersuchen. Das Problem ist, daß sie die Frau als Instrument im Machtspiel der Männer einsetzen wollen, obwohl diese sich als Novizin im Kloster gerade der Keuschheit und Scham (im weiten christlichen Sinne) verpflichtet hatte. Isabella widerspricht sich in ihrer religiösen und weltlichen Argumentation. Sie verurteilt vorehelichen Geschlechtsverkehr als »vice« (Sünde, Laster, das Böse, 2.2.92), den das Gesetz bestrafen müßte, doch entschul-

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Harry Berger, Jr. führt mit Grund an, daß »entrapment in or by a body of shame« auf die misogyne Tradition und die frühmoderne Theorie der Körpersäfte zurückgeht, vernachlässigt aber den christlichen Hintergrund in seiner Studie Making Trifles of Terrors. Redistributing Complicities in Shakespeare (Stanford 1997) 409.

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digt ihn als »natural guiltiness« (2.2.140)37 und will ihren Bruder vor dem Tode retten (2.2.29–33). Sie nimmt also die religiöse Konzeption der Scham nicht als Richtschnur für das weltliche Leben ihres Bruders. Angelo bleibt zunächst hart, fühlt seine Ehre aber bedroht, weil er paradoxerweise die tugendhafte Isabella begehrt. Er scheint sich für die Sünde seiner Versuchung zu schämen und für seinen Leib, den er als in der (reinen) Sonne verrottendes Aas sieht (2.2.165–68). Isabella bringt ihre körperliche Scham zum Ausdruck, indem sie den Tod der Schande vorziehen würde, aber die Bestrafung selbst sexualisiert: »were I under the terms of death, / Th’impression of keen whips I’d wear as rubies, / And strip myself to death as to a bed / That longing have been sick for, ere I’d yield / My body up to shame.« (2.4.99–104) Damit verrät die Strafe selbst, daß Isabella keinen Ausweg aus der Scham des begehrenden und begehrenswerten Leibes sieht, selbst wenn sie der öffentlichen Schande entgehen könnte. Angelos und Isabellas Hochmut gegenüber dem Vergehen Claudios erscheint als Kompensation ihres eigenen Schamempfindens im Sinne von Pattison.38 Shakespeare verweist auf ein Problem, welches Brathwaite gerne vergißt: Die asymmetrische und geschlechtsspezifische Machtverteilung ermöglicht es dem Mann eher, die Grenzen der Scham und der Schande zu ignorieren. Isabella beschuldigt Angelo der Schande ob seines Erpressungsversuches: »Ignominy in ransom and free pardon / Are of two houses: lawful mercy / Is nothing kin to foul redemption.« (2.4.111–13) Isabella setzt auf das Instrument der Schande, indem sie verlangt, er solle ihren Bruder begnadigen, oder sie gibt seinen schändlichen Machtmißbrauch der Öffentlichkeit preis. Er kontert, mit seiner Position und seinem Ruf sie der Lüge bezichtigen zu können (2.4.155–60): Die Vertuschung der Schande erscheint hier als Privileg des Mächtigen. Er glaubt, in ihrer weiblichen Scham noch einen zweiten Trumpf in der Hand zu haben, falls er sie besitzen kann: »her tender shame / Will not proclaim against her maiden loss« (2.4.21–22). Isabella gibt auf: Eher als ihre Schande und den ewigen Tod zu riskieren, soll der Bruder mit einem guten Gewissen und einer geretteten Seele sterben. Die Figur Isabella hat für diese angeblich selbstsüchtige Haltung bis heute vor allem von Männerseite viel Kritik erhalten. Nach puritanischer Vorstellung jedoch, die hier auf das katholische Umfeld projiziert wird, hätte sich die angehende Nonne Isabella vorbildlich verhalten, da »Modest shamefastnesse[,] a Woman’s chiefest Ornament« sei.39 Das Stück problematisiert ihren strengen Ehrbegriff, deckt aber gleichzeitig auf, wie scheinheilig die patriarchale Doppel-

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Für E. Fernie bezieht sich hier die natürliche Sünde auf die Ursünde und ist damit schambehaftet: Shame in Shakespeare [Anm. 17] 103. Doch die natürliche Sünde wird hier nicht allgemein verstanden, sondern betrifft den Bruder und dessen jugendliche, daher nachvollziehbare, Triebe. 38 S. Pattison: Shame [Anm. 5] 250. 39 R. Brathwaite: The English Gentleman and The English Gentlewoman [Anm. 20] 297.

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moral ist, denn die Scham und Ehre der Frauen soll diese in erster Linie vor anderen Männern schützen. Hier dagegen würden Claudio, Lucio und der puritanische Angelo ohne Bedenken die Ehre der Frau ihren Interessen opfern. Auf ähnliche Weise setzt der Herzog die Ehre der Frauen in einem öffentlichen Gerichtsverfahren aufs Spiel, um Ordnung wiederherzustellen, die jedoch nicht konsensfähig ist. Aus mehreren Gründen wird das Ende des Stückes mit einem öffentlichen Gerichtsverfahren in der Form eines Schandrituals40 seiner Bezeichnung als Problem Play gerecht: Öffentliche Schande basiert eher auf Verleumdung als auf Tatsachen;41 öffentliche Schande bewirkt kaum Reue oder Scham; die formale Reintegration garantiert keine Änderung der Verhaltensweisen oder des Schamempfindens.42 In einer Art Schauprozeß treibt der Herzog ein doppeltes Spiel. Mariana, die verlassene Verlobte Angelos, und Isabella stiftet er zum Meineid und zur Verleumdung an. Der Herzog spielt mit Isabellas Ruf, die sich selbst entehrt, indem sie lügt, von Angelo sexuell mißbraucht worden zu sein und nach der Härte des Gesetzes für den Ehebrecher, Vergewaltiger und Mörder ihres Bruders verlangt (5.1.20–42). Isabella unterwirft sich öffentlich der Scham und Schande, indem sie ihre verkörperte Scham als Objekt der männlichen Blicke und Auslöser männlicher Begierde begreift.43 Der Herzog nimmt Angelo aber gleichzeitig dagegen in Schutz und bestätigt dessen Glaubwürdigkeit, »his worth and credit / That‘s sealed in approbation« (5.1.242–43). Der Herzog bestätigt quasi Angelos Willkür der Macht bei der Instrumentalisierung von Schande. Er verurteilt dann dennoch Angelo, dessen Fall und Schande er im wörtlichen und metaphorischen Sinne konstruiert hat. Der Herzog hatte ihm mit seinem Amt die Gelegenheit zur Korruption gegeben und mit dem »bed-trick« verleitet, mit Mariana zu schlafen, der Angelo ein Heiratsversprechen gegeben hatte, ohne es einzulösen. Man könnte die Figur des Angelo als Kritik an Brathwaites puritanischem Modell verstehen, das der Wirklichkeit der Triebe und der Macht nicht standhalten kann, da sein korruptes Verhalten seine eigenen Ideale und seine Autorität unterläuft. Doch gewinnt Angelo am Ende Größe, da er der einzige ist, der seine Schuld wirklich bereut, der sich schämt und die öffentliche Schande annimmt,

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L. L. Knoppers: (En)gendering Shame [Anm. 24] 466. M. Lindsay Kaplan argumentiert, daß die Theatralik der Gerichtsverfahren im frühmodernen England sich besonders der Entehrung und Erniedrigung als Strafen bediente und damit die Struktur der Verleumdung annahm. Lucio, so Kaplan, wird vor allem deswegen bestraft, weil er die moralische Integrität des Herrschers durch Verleumdung angreift und damit Verleumdung als staatliche Praxis entlarvt: Slander for Slander in Measure for Measure. In: Renaissance Drama 21 (1990) 24–25, 31. 42 L. L. Knoppers: (En)gendering Shame [Anm. 24] 454, 456, 458–59. 43 Harry Berger, Jr.: Making Trifles of Terrors [Anm. 36] 363, 398. 41

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Michael Meyer

sich also an seinen hehren Maßstäben mißt:44 »To think I can be undiscernible, / When I perceive your Grace, like power divine, / Hath looked upon my passes. Then, good prince, / No longer session hold upon my shame, / But let my trial be mine own confession. / Immediate sentence, then, and sequent death / Is all the grace I beg« (5.1.366–72). Andererseits wirft die Tatsache, daß Angelo erst nach der Aufdeckung seiner Vergehen bereut, ein skeptisches Licht auf die Macht der verinnerlichten Augen Gottes und der anderen, der Versuchung moralische Zügel anzulegen, die das puritanische Modell wie das abschreckende Beispiel des Verbrechers intensiv bemühen. Der Herzog integriert Angelo, indem er ihn zur Heirat mit Mariana verurteilt, ihn damit aber dazu nötigt, Zeit seines Lebens mit seiner Scham und Schande zu leben. Lucio würde ein gutes Feindbild für Brathwaite abgeben, da er schamlos handelt und dennoch Ehre beansprucht. Lucio verleumdet den Herzog wegen angeblicher illegitimer sexueller Verhältnisse, entzieht sich aber selbst dem Arm des Gesetzes, indem er sein illegitimes Kind mit einer Prostituierten verleugnet. Lucio wehrt sich gegen das Urteil, diese Prostituierte zu heiraten, weil dies Schande über ihn bringe. Scham spielt als Norm für Lucio keine Rolle und kann auch nicht erzwungen werden. Schande trifft ihn zu Recht, aber es ist überhaupt nicht zu erwarten, daß er irgendetwas bereut oder ändert. Der Herzog integriert die durch ihn selbst kompromittierte Isabella, indem er sie heiratet. Ihr vieldeutiges Schweigen kann aus patriarchaler Perspektive als Konsens, aus feministischer als Widerstand und aus moralischer als Scham gedeutet werden, weil sie sich zur Lüge verführen ließ und nun für die (wenn auch nur inszenierte) Schande doch mit ihrer Scham bezahlt, sprich: dem Herzog sexuell zu willen zu sein und sich damit der heterosexuellen Matrix zu unterwerfen. So wird Measure for Measure in hohem Maße Pattisons Anspruch gerecht, in der Fiktion die Komplexität und Problematik von »shame« aufzudecken. Dabei relativiert das Drama die christliche Aufwertung der Scham, führt ihre begrenzte moralische Wirkung angesichts der Triebe im allgemeinen vor und im besonderen ihre Mißachtung oder Manipulation in der Prostitution wie in der Politik durch ranghohe Männer als moralische und weltliche Autoritäten. Das Stück plädiert für Verständnis, möglicherweise auch Toleranz und sexuelle Freiräume für die Jugend, teilweise auch für das horizontale Gewerbe, selbst wenn dies durch die Stimme des Kupplers relativiert wird, der seine eigenen Interessen – unterhaltsam – verficht. Das Theaterstück legt die Probleme von Schande in ihrer Nähe zur Verleumdung und von Schandritualen als Inszenierungen offen, die dem Mißbrauch Tür und Tor öffnen, zeigt jedoch keine Lösungen auf. Die Zuschauer werden aufgefordert, den Gebrauch und die Funktionen von Scham und

44 Siehe Wilson P. Knight und Richard P. Wheeler in E. Fernie: Shame in Shakespeare [Anm. 17] 108.

Scham und Schande in der Frühen Neuzeit Englands

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Schande skeptisch zu reflektieren und sie angesichts der Vielfalt individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse nicht zu verabsolutieren, sondern als prinzipiell verhandelbar anzusehen. Mit seiner offenen Thematisierung von Scham und Schande, die weitere Diskussion provoziert, repräsentiert Shakespeares Drama – im Geflecht von religiösen und moralischenTexten – ein frühes Moment der «diskursive[n] Explosion» um Sexualität, die Michel Foucault im 17. Jahrhundert verortet. Dabei kann der Diskurs der Sexualität, wie Foucault betont, nicht nur auf Repression eingeengt werden, sondern produziert Subjekte, Wissen und Macht. Auch findet sich in diesem Stück das Wechselspiel von teilweise voyeuristischer Macht und widerständiger Lust.45 Foucaults großmaschige Genealogie vernachlässigt die geschlechterspezifische Ausprägung dieses Diskurses und die produktive Funktion von Scham, die er eher mit Schweigen assoziiert.46 So hält Brathwaites Konzeption der Scham vor allem Frauen dazu an, sich als Verkörperung des Begehrens anderer zu konstituieren und zu kontrollieren. Juliets Akzeptanz der Scham mit Freude entspricht dem gleichen weiblichen Subjektbegriff, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Stärke weiblicher Scham liegt jedoch darin, die potenzielle Macht der Verführung zur Lust gerade nicht zu nutzen. Ironischer Weise wirken aber gerade diese weiblichen Subjekte (implizit bei Brathwaite) auf macht- oder statusbewusste Männer besonders begehrenswert, wie Angelos und des Herzogs Reaktionen auf Isabella beweisen, die sich in Verteidigung ihrer Scham eigenmächtig und selbstbewusst präsentiert. In Measure for Measure erweist sich die weibliche Scham auf ambivalente Weise als produktiv, da sie die diskursive Verhandlung von Sexualität und Geschlecht sowie die Begierde und die Lust der Männer stimuliert, sich der Frau zu bemächtigen. Scham erscheint hier als zweischneidiges Schwert, mit dem man sich leicht selbst verletzen kann, während der grobe Knüppel der Schande von jedermann geschwungen werden kann. Schande erscheint als mächtiges Instrument, um andere zu disziplinieren, aber nur die eigene Disziplinierung durch Scham kann soziales Kapital bilden. Im obigen Kontext drängt sich der Verdacht auf, dass bürgerliche Emanzipationsansprüche über Scham als soziales Kapital in erster Linie auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden.

45

Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Übers. Ullrich Raulff u. Walter Seitter (Suhrkamp 1983): 27, 22-23. Die wechselseitigen Impulse von Macht und Lust lokalisiert Foucault jedoch erst im 19. Jahrhundert (ebd. 61). 46 Ebd. 27.

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Der Begriff der Scham in der französischen Philosophie

I. Phänomenologische Aspekte von Scham Schamszenen kennt man aus dem Alltag, wie Micha Hilgers in Scham. Gesichter eines Affekts ausführt: Der freundliche Gruß gegenüber einer sich plötzlich doch als unbekannt erweisenden Person, Verlegenheit angesichts eines großen Lobes, ungewolltes Erröten, ein unerwidertes Liebesgeständnis, die unfreiwillige Komik beim Ausrutschen oder auch peinliche Versprecher.1 So häufig dem Menschen das Schamphänomen begegnet, so verschieden sind seine Auslöser. Man schämt sich für eine an der eigenen Person wahrgenommene Schwäche, einen Fehler, einen Makel, und zwar vor dem realen oder auch dem nur imaginierten Anderen.2 Scham signalisiert folglich immer eine Spannung, eine Diskrepanz zwischen Ich und Ideal. Deutlich davon abzugrenzen ist die Schuld, die sich auf die Verletzung des Anderen bezieht, wohingegen die Schamgefühle ausschließlich die Verletzung des Selbst betreffen. Dazu schreibt Léon Wurmser in Die Flucht vor dem Gewissen: »So mancher persönliche oder soziale Konflikt wird unbefriedigend angepackt, da ein Schamproblem angegangen wird, als ob es ein Schulproblem wäre. […] Man wird sich also fragen, was es wirklich ist, dieses Gefühl von Scham? Es ist das Gefühl von Angst und Schmerz, das man empfindet, wenn man sich in irgendeiner Art von Schwäche, von Versagen oder Beschmutzung in den Blicken eines anderen (oder dem ›inneren Auge‹ des eigenen Gewissens) preisgegeben sieht und die Antwort in Form von Mißachtung, Entwertung oder Hohn erwartet oder fühlt.«3 Neben der Diskrepanz von Ich und Ich-Ideal kann das Gefühl der Scham auch entstehen, wenn intime Bereiche plötzlich und ohne eigene Kontrolle sichtbar oder auch angesprochen werden.4 Einige Beispiele zeigen, daß Scham in ihren Auswirkungen keineswegs einen vorrangig negativen oder pathologischen Affekt darstellt, auch wenn das Erleben von Schamgefühlen einen grundsätzlich

1

Vgl. Micha Hilgers: Scham. Gesichter eines Affekts (Göttingen/Zürich 1996) 14. Vgl. ebd. 3 Léon Wurmser: Die Flucht vor dem Gewissen (Berlin/Heidelberg/New York 1987) 169 f. Zur Unterscheidung von Schuld und Scham vgl. auch Wolfgang Blankenburg: Zur Differenzierung zwischen Scham und Schuld. In: Scham – ein menschliches Gefühl, hg. von Rolf Kühn/Michael Raub/Michael Titze (Opladen 1997) 45-55. 4 Vgl. M. Hilgers: Scham [Anm. 1] 15. 2

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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negativen Charakter aufweist: Denn ein plötzliches Gesehen-Werden hebt die Schranke zwischen den intimen Bereichen zweier Personen für einen Moment auf. Die dabei entstehenden Schamgefühle von Beobachter und Person sorgen für die Wiedereinsetzung der Grenze zwischen den Beteiligten.5 Die Scham kann nach Hilgers als der Hüter menschlicher Selbst- und Intimitätsgrenzen wirken, kann aber auch einen Ansporn für Leistung, Entwicklung und Autonomie bedeuten.6 Die entwicklungspsychologische Funktion der Scham sieht er darin begründet, »[…] die fraglose Selbstverständlichkeit des Selbstgefühls zu stören und damit ein Bewußtsein über das Selbst und das Fremde zu wecken […] und zu fördern.«7 In diesem Sinne heißt es bei Broucek: »In kleinen unvermeidbaren ›Dosen‹ kann Scham die Selbst- und Objektdifferenzierung erhöhen und den Individuationsprozeß unterstützen, da Scham mit dem akuten Bewußtsein eigener Getrenntheit vom bedeutsamen anderen verbunden ist.«8 Scham führt demnach zu einer Verunsicherung in Hinblick auf das aktuelle Identitätskonzept mit der gleichzeitig empfundenen Notwendigkeit, die Vorstellung von der eigenen Person, den Anderen und der Realität zu aktualisieren und ggf. zu korrigieren. Ein gewisses Maß an Schamtoleranz wird daher von Hilgers als gesunde Ich-Leistung bewertet, da die Affekte der Scham wie auch die des Stolzes alltägliche affektive Reaktionen darstellen.9 Fehlten hingegen solche Schamaffekte, würde dies zu einem »kritikresistenten Größenselbst«10 führen.

II. Soziale Aspekte von Scham Eine enge Verbindung des Gefühls der Scham mit dem Gesichtssinn zeigen metaphorische Wendungen wie etwa ›sich eine Blöße geben‹ oder ›sein Gesicht verlieren‹. Dabei wird die Interaktion mit einem Gegenüber vorausgesetzt.11 Dies erklärt auch das auf das Schamgefühl folgende Bedürfnis, sich den Augen des Anderen entziehen zu wollen, um so die Interaktion unterbrechen zu können. Der Austausch mit dem Anderen ist entscheidend für das Gefühl der Scham. Wegen der großen Vielfalt der Schamquellen spricht Hilgers von einer Gruppe von ›Schamaffekten‹. Hierbei unterscheidet er Schamaffekte bei abbrechenden Kompetenzerfahrungen, bei der Verletzung von Selbst- und Intimitätsgrenzen,

5

Vgl. ebd. Vgl. ebd. 7 Ebd. 15 f. 8 Francis J. Broucek: Shame and its Relationship to early narcistic developments. In: International Journal of Psychoanalytics 63 (1982), 369-378, hier 371 (übersetzt von M. Hilgers). 9 Vgl. M. Hilgers: Scham [Anm. 1] 16. 10 Ebd. 11 Vgl. ebd. 6

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Schamaffekte durch aktive Demütigung von außen, durch die Bezugnahme auf die eigene Körperlichkeit, durch eine Diskrepanz zwischen Selbst und Ideal, in Folge der eigenen Abhängigkeit in Beziehung zu anderen oder umgekehrt das Herausfallen aus gewünschten Beziehungen und letztlich Schamaffekte, die auf schuldhaftes Handeln zurückzuführen und von Schuldgefühlen kaum zu unterscheiden sind.12 Wichtig ist dabei auch die Feststellung, daß Mitglieder verschiedener Kulturkreise mitunter in sehr unterschiedlichen Situationen Scham empfinden und selbst innerhalb einer Gesellschaft die Schamgefühle je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit stark differieren können. Interessant ist ferner die Beobachtung, daß Schamgefühle ansteckend sein können, da sie die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen bilden, so daß die Anwesenheit bei einer Schamszene häufig ebenfalls Scham bei den Beobachtern auslösen kann.13 Hilgers formuliert mit Blick auf das Schamgefühl ferner die beiden Hypothesen, daß »Scham […] weder ein primär pathologisches Gefühl, noch […] an eine bestimmte Lebensphase gebunden [ist] – weder entwicklungspsychologisch hinsichtlich seiner Entstehung noch hinsichtlich seiner Auslöser.«14 Menschen jeder Altersstufe kennen Schamkonflikte, keine menschliche Entwicklung sei ohne die begleitenden und regulierenden Gefühle von Scham und Stolz vorstellbar. Da es entwicklungspsychologisch keine Schamphase gebe und keinen Selbstzustand, der verantwortlich für das Schamgefühl ist, könne man auch nicht von einem Schamgefühl schlechthin sprechen. Scham wird von Seiten der Psychologie nicht als pathologisches Gefühl definiert, sondern – und dieser Zusammenhang scheint besonders für die Betrachtung des Affekts der Scham aus philosophischer Perspektive relevant – als »ein wichtiger Regulationsmechanismus des Selbst wie auch der Beziehungen zwischen dem Selbst und den anderen.«15 Erst Schamgefühle regen Hilgers Auffassung zufolge dazu an, »Selbstkonzepte wie auch Konzepte von anderen und umgebender Realität zu prüfen.«16 Sie sind förderlich für die Identitätsfindung und die Autonomie des Menschen.17 Erst in überwältigender Form, das heißt, wenn Schamgefühle überhand nehmen würden, könnte Scham auch zu destruktiven Entwicklungen führen. Im Historische[n] Wörterbuch der Philosophie finden sich weitere Hinweise auf die intentionale Bezogenheit von Scham sowie auf ihr prohibitives, faktisch verurteilendes und adhortatives Moment. Die Scham wird hier definiert als ein Gefühl, das die Tendenz hat, einen Handlungs- und Redeimpuls zu hemmen, um

12 13 14 15 16 17

Vgl. ebd. 19. Vgl. ebd. 20. Ebd. 10. Ebd. 11. Ebd. Vgl. ebd. 24.

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möglichen Tadel und damit die Minderung des Selbstwertgefühls zu vermeiden.18 Als Gefühl ist die Scham intentional bezogen einerseits auf etwas, das geachtet oder respektiert werden soll, wie etwa Sitten oder moralische Forderungen, andererseits auf eine beurteilende Instanz, wie etwa den Mitmenschen, die Gesellschaft oder auch das eigene Ich bzw. Über-Ich und letztendlich auf das redende oder handelnde Subjekt, dem bei Verletzung von bestimmten Werten Bloßstellung, Blamage oder Schande droht bzw. zuteil wird. Bezogen auf den Begriff der Scham lassen sich mehrere Bedeutungsmomente unterscheiden, die in verschiedenen Kulturen unterschiedlich gewichtet sind. Es gibt das prohibitive Moment der Scham, daß man etwas Bestimmtes nicht sagen oder tun sollte, das faktisch verurteilende der Scham, daß man etwas Bestimmtes nicht hätte sagen oder tun dürfen. In der Scham kann allerdings auch ein adhortatives Moment als Ehrgefühl erlebt werden, das zum Guten motiviert. Die Frage, welcher Gegenstand das Gefühl von Scham auslöst, hängt von den in der jeweiligen Gesellschaft geltenden Wertungsmaßstäben ab.19

III. Das Gefühl der Scham – Streifzüge durch die französische Philosophie Nach der Darstellung der verschiedenen Aspekte der Scham soll ihrer Betrachtung in der französischen Philosophie nachgegangen und überprüft werden, welche der oben genannten Facetten der Scham bezogen auf die folgenden Beispiele relevant sind. Dabei wird zunächst auf kürzere Zitate einzelner französischer Philosophen und im Anschluß detaillierter auf Montaigne und Sartre eingegangen werden, bei denen sich längere Ausführungen zum Thema der Scham finden lassen. Begriffsgeschichtlich entspricht den altgriechischen Begriffen ›αἰδώς‹ (Scham) bzw. ›αἰσχύνη‹ (Scheu) auf französischer Seite der Terminus ›la honte‹ für die Scham bzw. ›la pudeur‹ für die Schamhaftigkeit. Ein Streifzug durch die französische Philosophiegeschichte zeigt, daß sich die meisten namhaften Philosophen zu allen Zeiten über das Phänomen der Scham als alltägliche affektive Reaktion geäußert haben: In seiner Schrift Les passions de l’âme bestimmt Descartes die Scham, ›la honte‹, als »[…] une espece de Tristesse, fondée aussi sur l’Amour de soy mesme, & qui vient de l’opinion ou de la crainte qu’on a d’estre blasmé.«20 Die Traurigkeit, die Descartes hier anspricht, rührt offenbar von der Diskrepanz zwischen

18

Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Bd. 8 (Basel 1992) (Art. Scham, Scheu) 1215 ff. 19 Vgl. ebd. 20 René Descartes: Les passions de l’âme. Die Leidenschaften der Seele, hg. von Klaus Hammacher (Hamburg 1984), (Art 205) 313.

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Ich und Ideal, von einem Mißtrauen gegenüber der eigenen Person her: »Elle est, outre cela, une espece de modestie ou d’humilité, & defiance de soy mesme.«21 Eine solche Scham berücksichtigt vor allem die Meinung der Mitmenschen, ist aber gleichzeitig auch auf die Überlegung darüber gegründet, was wahrhaft der Scham würdig ist. Descartes geht offensichtlich davon aus, daß ein selbstsicherer Mensch nicht so leicht zu beschämen ist: »Car lors qu’on s’estime si fort, qu’on ne se peut imaginer d’estre mesprisé par personne, on ne peut pas aysement estre honteux.«22 Für La Rochefoucauld stellt die Scham in seinen Maximes eine Tugend von Menschen beiderlei Geschlechts dar: »La vanité, la honte, et surtout le tempérament, font souvent la valeur des hommes, et la vertu des femmes.«23 Montesquieu rechnet ›la pudeur‹ und ›la honte‹, also Schamhaftigkeit und Scham, zu den anthropologischen Grundkonstanten: »D’ailleurs il est de la nature des êtres intelligents de sentir leurs imperfections : la nature a donc mis en nous la pudeur, c’est-à-dire la honte de nos imperfections.«24 Jean de la Bruyère äußert sich in seinen Caractères eher zu einem sozialen Aspekt der Scham, wenn er ausführt: »Il y a une espèce de honte d’être heureux à la vue de certaines misères.«25 Das Schamempfinden zeigt sich für ihn vor allem bei dem Anblick sozialer Misere. Voltaire definiert die Scham in seinem Dictionnaire philosophique folgendermaßen: »La honte est le sentiment intérieur d’une action ou d’une pensée qui blesse l’honnêteté; c’est un témoignage de la conscience qui nous condamne : elle se manifeste aux autres par une rongeur subtile.«26 Dabei geht er zunächst auf die Auslöser des Schamphänomens ein, das er in einem Gefühl oder Gedanken begründet sieht, welche die Ehren- oder Tugendhaftigkeit beeinträchtigen. Die Scham bezeugt für ihn zugleich das (schlechte) Gewissen; für die anderen wird die Scham durch das Erröten einer Person erkennbar. Des Weiteren führt er aus, daß die Scham gelegentlich auch durch die Furcht ausgelöst werden kann, beschämt zu werden, unter anderem deswegen, weil man die Sitten und Gebräuche in einer Gesellschaft nicht hinreichend kennt: »La honte est aussi quelquefois causée par la crainte du blâme, & l’ignorance des usages établis dans la société.«27

21

Ebd. Ebd. 23 La Rochefoucauld: Maximes, publ. par Jacques Truchet (Paris 1967) (Max. 220) 56. 24 Montesquieu: Œuvres complètes. De l’esprit des lois XVI, 12, publ. par Roger Caillois (Paris 1949) 518. 25 La Bruyère: Œuvres complètes. Les caractères, publ. par Julien Benda (Paris 1951) (82) 317. 26 Voltaire: Dictionnaire philosophique, portatif, ou introduction à la connoissance de l’homme (Lyon 21756) 137. 27 Ebd. 22

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Jean-Jacques Rousseau thematisiert zunächst den entwicklungspsychologischen Aspekt der Scham in seinem Erziehungsroman Émile ou de l’éducation, in dem er ausführt, daß sie ein natürliches Gefühl für den Menschen darstellt, aber – wie bei den Kindern – nicht vor der Erkenntnis des Bösen existiert: »Quoique la pudeur soit naturelle à l’espèce humaine, naturellement les enfants n’en ont point. La pudeur ne nait qu’avec la connaissance du mal : et comment les enfants, qui n’ont ni ne doivent avoir cette connoissance, auraient-ils le sentiment qui en est l’effet ?«28 Rousseau rät in diesem Zusammenhang, Kinder nicht über Scham und Ehrbarkeit aufzuklären, da sie sonst erfahren würden, daß es schamlose und unehrenhafte Dinge gibt, und dies ihre Neugier ungemein und unnötigerweise reizen würde: »Leur donner des leçons de pudeur et d’honnêteté, c’est leur apprendre qu’il y a des choses honteuses es déshonnêtes, c’est leur donner un désir secret de connaître ces choses-là.«29 In diesem Kontext führt er weiter aus: »Tôt ou tard ils en viennent à bout, et la première étincelle qui touche à l’imagination accélère à coup sûr l’embrasement des sens. Quiconque rougit est déjà coupable ; la vraie innocence n’a honte de rien.«30 Nach Rousseau hält nur ein naiver Sprachgebrauch die Kinder von der gefährlichen Neugier ab: »Il y a une certaine naïveté de langage qui sied et qui plaît à l’innocence : voilà le vrai ton qui détourne un enfant d’une dangereuse curiosité. En lui parlant simplement de tout, on ne lui laisse pas soupçonner qu’il reste rien de plus à lui dire.«31 Beruhigt zeigt sich Rousseau mit Blick auf die Vorstellung des Bösen, solange sein Zögling Émile ihm noch das Innerste seiner Seele offenlegt; eine Gefahr stellt für ihn erst der folgende Zustand dar: »[…] mais s’il devient plus timide, plus réservé, que j’aperçoive dans ses entretiens le premier embarras de la honte, déjà l’instinct se développe, déjà la notion du mal commence à s’y joindre […].«32 Die Schamröte zeigt sich bei Émile auch, wenn man ihn – so Rousseau – an seine frühere Einfalt erinnert: »[…] des propos libres, des maximes du haut ton, des airs dégagés le feroient prendre pour un autre homme, si ses plaisanteries sur sa première simplicité, sa honte quand on la lui rappelle, ne montroient qu’il est le même et qu’il rougit.«33 Das Schamempfinden äußert sich bei Émile also angesichts von negativen Kompetenzerfahrungen. Rousseau hält seinen fiktiven Zögling ferner dazu an, sich nur seines Fehlers wegen zu schämen, aber er rät ihm, keine Scham zu empfinden bei dem Versuch der Verbesserung desselben: »Ne craignez pas non plus la mauvaise honte d’un retour humiliant ; il faut rougir de faire une faute, et non de la réparer. Vous êtes encore dans l’âge où tout se pardonne, mais

28 29 30 31 32 33

Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation. Nouvelle édition (Paris 1866) (IV) 234. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 364. Ebd. 377.

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où l’on ne pèche plus impunément.«34 Schließlich geht Rousseau auf Momente einer Scham ein, die sich auf die eigene Körperlichkeit bezieht: Scham empfinden würde er, wenn er sich als alter Mann jungen Mädchen zuwenden würde: »Que si des habitudes mal combattues avoient tourné mes anciens désirs en besoins, j’y satisferois peut-être, mais avec honte, mais en rougissant de moi.«35 An dieser Stelle wird deutlich, daß die Scham offenbar die ihr oben zugeschriebene adhortative Funktion einnimmt. Besonders aufschlußreich sind auch Rousseaus weitere Ausführungen zu einem sich auf die Körperlichkeit beziehenden Schamgefühl, wobei er sich nicht mehr auf das eigene Schamempfinden, sondern auf das des weiblichen Geschlechts bezieht und in dem Schamgefühl der Frauen ihre Tugendhaftigkeit begründet sieht: »Pourquoi dites-vous que la pudeur rend les femmes fausses? Celles qui la perdent les plus sont-elles au reste plus vraies que les autres ? Tant s’en faut; elles sont plus fausses mille fois. […] celles qui ont encore de la honte, qui ne s’enorgueillent point de leurs fautes, qui savent cacher leurs désirs à ceuxmêmes qui les inspirent, celles dont ils en arrachent les aveux avec le plus de peine, sont d’ailleurs les plus vraies, les plus sincères, les plus constantes dans tous les engagements […].«36 Die Weibchen der Tiere besitzen keine Schamhaftigkeit, da sie sich nach Meinung Rousseaus nicht, wie die Frauen, durch ein schrankenloses Verlangen auszeichnen, welchem nur die Scham als Zügel dient: »Si les femelles des animaux n’ont pas la même honte, que s’ensuit-il ? Ont-elles, comme les femmes, les désirs illimités auxquels cette honte sert de frein ? Le désir ne vient pour elles qu’avec le besoin ; le besoin satisfait, le désir cesse ; […].«37 Während der französische Aufklärer bezeichnenderweise davon ausgeht, daß die männlichen Vertreter des Menschengeschlechts in der Lage sind, ihre Neigungen durch die Vernunft zu kontrollieren, steht dem weiblichen Pendant nur die Scham zur Seite: »L’Être suprême a voulu faire en tout honneur à l’espèce humaine : en donnant à l’homme des penchants sans mesure, il lui donne en même temps la loi qui les règle, afin qu’il soit libre et se commande à lui-même : en le livrant à des passions immodérées, il joint à ces passions la raison pour les gouverner : en livrant la femme à des désirs illimités, il joint à ces désirs la pudeur pour les contenir.«38

34 35 36 37 38

Ebd. 354. Ebd. 402. Ebd. (V) 447. Ebd. (IV) 411. Ebd. 412.

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IV. Scham und Schamlosigkeit bei Montaigne Montaigne bestimmt die Schamhaftigkeit, ›la pudicité‹, in seinen Essais zunächst als eine Tugend, »une belle vertu, et de laquelle l’utilité est assez connuë ; mais de la traitter et faire valoir selon nature, il est autant mal-aysé, comme il est aisé de la faire valoir selon l’usage, les loix et les preceptes. Les premieres et universelles raisons sont de difficile perscrutation. Et les passent noz maistres en escumant, ou, ne les osant pas seulement taster, se jettent d’abordée dans la franchise de la coustume […].«39 Mehrfach erkennt der Autor die Notwendigkeit der Beziehung zu seinen Mitmenschen an. Vor dem Hintergrund des Bemühens, als der anerkannt zu werden, der er ist, fühlt er sich über Lob und Tadel erhaben: »Je prens si grand plaisir d’estre jugé et cogneu, qu’il m’est comme indifferent en quelle des deux formes je le soys.«40 Die eventuelle Mißbilligung oder Verurteilung durch den Leser berührt ihn nicht. Er sorgt sich nicht darum, Anstoß zu erregen, wenn er sein unverhülltes Bild offenbart; was seinen Selbstwert angeht, erhebt er sich zu seinem alleinigen Richter:41 »J’advoue qu’il se peut mesler quelque pointe de fierté et d’opiniastreté à se tenir ainsi entier et descouvert sans consideration d’autruy […].«42 Allerdings ist der Stolz, den sich Montaigne hier zuschreibt, »[…] in einer Proklamation der Rechte der Schamlosigkeit durchaus nicht unpassend.«43 Die Schamlosigkeit umgarnt den Leser, erzwingt sich Aufmerksamkeit, sie zieht an und weist gleichzeitig ab, sie nimmt den Blick ein und erhebt sich über das Urteil. Die positive Einstellung Montaignes zum entblößten Subjekt schließt eine exhibitionistische Komponente ein. Der Plan, sich dem Leser völlig zu öffnen und sich unverhüllt zu zeigen, findet sich schon in der Vorbemerkung an den Leser: »Je veus qu’on m’y voie en ma façon simple, naturelle et ordinaire, sans contantion et artifice : car c’est moy que je peins. Mes defauts s’y liront au vif, et ma forme naïfve, autant que la reverence publique me l’a permis. Que si j’eusse esté entre ces nations qu’on dict vivre encore sous la douce liberté des premieres loix de nature, je t’asseure que je m’y fusse très-volontiers peint tout entier, et tout nud. Ainsi, lecteur, je suis moy-mesmes la matiere de mon livre : Ce n’est pas raison que tu employes ton loisir en un subject si frivole et si vain.«44 Dieser Wille zur Selbstentblößung zieht sich wie ein roter Faden durch die Essais und wird in anderen thematischen Zusammenhängen mit einem vehemen-

39 Montaigne: Œuvres complètes, publ. par Albert Thibaudet/Maurice Rat (Paris 1962) (I/ XXIII: De la coustume et de ne changer aisément une loy receüe) 115 f. 40 Ebd. (III/VIII: De l’art de conferer) 902. 41 Vgl. Jean Starobinski: Montaigne (München/Wien 1986) 213. 42 Montaigne: Essais [Anm. 39] (II/XVII: De la præsumption) 632. 43 J. Starobinski: Montaigne [Anm. 41] 213. 44 Montaigne: Essais [Anm. 39] (Au lecteur) 9.

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ten Elan immer wieder aufgegriffen und neu formuliert: »Si c’est indiscretion de publier ainsi ses erreurs, il n’y a pas grand danger qu’elle passe en exemple et usage ; car Ariston disoit que les vens que les hommes craignent le plus sont ceux qui les descouvrent. Il faut rebrasser ce sot haillon qui couvre nos meurs. Ils envoyent leur conscience au bordel et tiennent leur contenance en regle.«45 Die Rechtfertigung dafür ist eine doppelte: Einerseits handelt es sich darum, der den Menschen konstituierenden körperlichen Natur ihr Recht widerfahren zu lassen, da der Mensch sein Sein dem »Zeugungsgeschäft« verdankt.46 Der Mensch muß nach Montaigne auch an seinen körperlichen Funktionen erkannt werden: »Qu’a faict l’action genitale aux hommes, si naturelle, si necessaire et si juste, pour n’en oser parler sans vergongne et pour l’exclure des propos serieux et reglez ? Nous prononçons hardiment : tuer, desrober, trahir ; et cela, nous n’oserions qu’entre les dents ?«47 An anderer Stelle heißt es zum Thema der Schamhaftigkeit: »Nous avons apris aux Dames de rougir oyant seulement nommer ce qu’elles ne craignent aucunement à faire ; nous n’osons appeller à droict nos membres, et ne craignons pas de les employer à toute sorte de desbauche.«48 Andererseits kann der Mensch seine verschämten Geheimnisse nicht vor dem Blick Gottes schützen: »Ce sont ombrages de quoy nous nous plastrons et entrepayons ; mais nous n’en payons pas, ainçois en rechargeons nostre debte envers ce grand juge qui trousse nos panneaus et haillons d’autour noz parties hointeuses, et ne se feint point à nous veoir par tout, jusques à noz intimes et plus secretes ordures.«49 Die Schamlosigkeit besteht für Montaigne offenbar darin, den Menschen das zu enthüllen, was sie mit der Natur und der Tierwelt verbindet, denn dies entgeht dem Blick Gottes ohnehin nicht. Starobinski schreibt in diesem Zusammenhang: »Der geschriebenen Schamlosigkeit Montaignes kommt folglich eine doppelte Rechtfertigung zugute: was sie zeigt, gehört ins Reich der Natur, der Blick, den sie darauf wirft, ist dem Blick Gottes verwandt.«50 Tatsächlich zeigt Montaigne, wenn er von der Scham spricht, ebenso deutlich wie bei der Schamlosigkeit »das Spiel einer doppelten Bewegung«51. Die Scham bringt, wenn sie sich der Begierde in den Weg stellt, nur Schwierigkeiten. Sie bewirkt, daß sich der Reiz der Verführung um so stärker entfaltet. Montaigne hat diese Lehre bei Ovid und Vergil entlehnt, welche die Scham als die wichtigste List der Koketterie ansahen.52 In diesem Zusammenhang erinnert er sich an Poppäa, von der Tacitus schrieb, daß sie nur ver-

45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd. (III/V: Sur des vers de Virgile) 823 f. Vgl. J. Starobinski: Montaigne [Anm. 41] 215. Montaigne: Essais [Anm. 39] (III/V: Sur des vers de Virgile) 825. Ebd. (II/XVII: De la præsumption) 615. Ebd. (III/V: Sur des vers de Virgile) 866. J. Starobinski: Montaigne [Anm. 41] 215. Ebd. 216. Vgl. ebd.

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hüllt ausging: »Pourquoy inventa Poppæa de masquer les beautez de son visage, que pour les rencherir à ses amans ? Pourquoy a l’on voylé jusques au dessoubs des talons ces beautez que chacune desire montrer, que chacun desir voir ? […] A quoy sert l’art de cette honte virginalle ? cette froideur rassise, cette contenance severe, cette profession d’ignorance des choses qu’elles sçavent mieux que nous qui les en instruisons, qu’à nous accroistre le desir de vaincre, […].«53 Zusammenfassend läßt sich mit Blick auf Montaigne festhalten, daß er im wesentlichen den körperlichen Aspekt der Scham thematisiert; seine Schamlosigkeit will vom Körper nichts verbergen. Der Mensch ist für ihn sowohl Geist als auch Körper und aus diesem Grund hat man sich nicht angemessen dargestellt, wenn die Beschreibung der körperlichen Befindlichkeit fehlt.54

V. Sartres Entdeckung des Anderen durch die Scham Bei Jean-Paul Sartre spielt die Scham eine wesentliche Rolle bei der Entdeckung des Anderen. Für ihn gehört die Scham zu den Bewußtseinsweisen, die auf einen von Grund aus andersartigen ontologischen Strukturtypus hinweisen: »Considérons, par exemple, la honte. […] Elle est conscience non positionnelle (de) soi comme honte et, comme telle, c’est un exemple de ce que les Allemands appellent ›Erlebnis‹, elle est accessible à la réflexion. En outre sa structure est intentionnelle, elle est appréhension honteuse de quelque chose et ce quelque chose est moi. J’ai honte de ce que je suis.«55 Seiner Ansicht nach realisiert das Schamgefühl eine innige Beziehung des Menschen zu sich selbst. Nur durch das Gefühl der Scham entdeckt man einen anderen Aspekt seines Seins. Dennoch geht er davon aus, daß das Schamgefühl ursprünglich kein Reflexionsphänomen darstellt: »[…] la honte n’est pas originellement un phénomène de réflexion.«56 In seiner ursprünglichen Struktur ist es ein sich-Schämen vor jemandem: »[…] la honte dans sa structure première est honte devant quelqu’un. Je viens de faire un geste maladroit ou vulgaire : ce geste colle à moi, je ne le juge ni le blâme, je le vis simplement, je le reálise sur le mode du pour-soi. Mais voici tout à coup que je lève la tête : quelqu’un était là et m’a vu. Je réalise tout à coup toute la vulgarité de mon geste et j’ai honte. Il est certain que ma honte n’est pas réflexive, car la présence d’autrui à ma conscience, fût-ce à la manière d’un catalyseur, est incompatible avec l’attitude réflexive : dans le champ de ma réflexion je ne puis jamais rencontrer que la conscience qui est mienne. Or autrui est le médiateur indis-

53 54 55

Montaigne: Essais [Anm. 39] (II/XV: Que nostre desir s’accroit par la malaisance) 598. Vgl. J. Starobinski: Montaigne [Anm. 41] 218. Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique (Paris 1943)

259. 56

Ebd.

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pensable entre moi et moi-même : j’ai honte de moi tel que j’apparais à autrui.«57 Erst durch das Sichtbarwerden für andere wird man in die Lage versetzt, über sich selbst ein Urteil wie über einen Gegenstand zu fällen, denn wie ein Gegenstand erscheint man anderen. Scham stellt sich für Sartre wie ein Anerkennen dar, insofern man anerkennt, wie andere die eigene Person sehen: »[…] la honte est, par nature, reconnaissance. Je reconnais que je suis comme autrui me voit.«58 Dabei vergleicht man jedoch nicht, was man für sich selbst ist mit dem, was man für andere ist: »D’abord cette comparaison ne se rencontre pas en nous, à titre d’opération psychique concrète : la honte est un frisson immédiat qui me parcourt de la tête aux pieds sans aucune préparation discursive. Ensuite, cette comparaison est impossible : je ne puis mettre en rapport ce que je suis dans l’intimité sans distance, sans recul, sans perspective du pour-soi avec cet être injustifiable et en-soi que je suis pour autrui. […] Ainsi autrui ne m’a pas seulement révélé ce que j’étais : il m’a constitué sur un type d’être nouveau qui doit supporter des qualifications nouvelles. Cet être n’était pas en puissance en moi avant l’apparition d’autrui car il n’aurait su trouver de place dans le pour-soi […].«59 Doch auch für dieses neue Sein, das der Andere einer Person zuschreibt, ist diese in besonderer Weise verantwortlich: »Mais cet être nouveau qui apparaît pour autrui ne réside pas en autrui ; j’en suis responsable, comme le montre bien ce système éducatif qui consiste à ›faire honte‹ aux enfants de ce qu’ils sont. Ainsi la honte est honte de soi devant autrui ; ces deux structures sont inséparables. Mais du même coup, j’ai besoin d’autrui pour saisir à plein toutes les structures de mon être, le pour-soi renvoie au pour-autrui.«60 Sartre stellt in diesem Zusammenhang eine seiner berühmten Erlebnisanalysen vor, die hier kurz angeführt werden soll: »Imaginons que j’en sois venu, par jalousie, par intérêt, par vice, à coller mon oreille contre une porte, à regarder le trou d’une serrure.«61 Man geht dabei als Mensch ganz in dieser Eifersucht, in dem Horchen und Schauen auf. Offensichtlich gibt es kein Ich, das sich über diese Situation Rechenschaft ablegt, welches das Bewußtsein ›bewohnt‹: » […] il n’y a pas de moi pour habiter ma conscience.«62 Die Situation wird auch weder in moralischer noch in intellektueller Hinsicht verurteilt, sie wird einfach gelebt auf der Ebene des unmittelbaren, nicht reflektierenden Bewußtseins: »Or, voici que j’ai entendu des pas dans le corridor: on me regarde. Qu’est-ce que cela veut dire ? C’est que je suis soudain atteint dans mon être et que des modifications essentielles apparaissent dans mes structures – modifications que je puis saisir et fixer conceptuellement par le cogito

57 58 59 60 61 62

Ebd. 259 f. Ebd. 260. Ebd. Ebd. 260 f. Ebd. 298. Ebd.

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réflexif.«63 Gerade dieser Einbruch des Ich ist mehrfach beschrieben worden: Man sieht sich, weil man gesehen wird. Erst in dem Moment, in dem der Mensch sich beobachtet fühlt, wird ihm schlagartig bewußt, was er da tut bzw. was das für eine Person ist, die diese Handlung vollzieht, ein Voyeur, ein von Eifersucht getriebener Mensch. Erst der Blick von außen hat dieses reflexive Verhältnis zur eigenen Person initiiert. Man sieht sich plötzlich mit ganz anderen Augen, genau genommen mit den Augen des Beobachters der Situation. Plötzlich ergibt sich eine Distanz zur eigenen Person, die man zwar selbst vollzogen, aber nicht ausgelöst hat, die sich plötzlich ereignet hat und die man auch nicht mehr zurücknehmen kann. Der Andere ist ein Eindringling in dem Bewußtsein einer Person, nur in seinen Augen ist diese Person der Voyeur, der von Eifersucht Getriebene, und zwar unwiderruflich. Dies verhält sich so, weil der Andere nicht das ständige Außer-sich-Sein im Blick hat, das heißt die Freiheit, durch die man stets das Gegebene transzendiert, sondern allein das, was man in diesem Augenblick, in dieser konkreten Situation ist, nämlich der Voyeur, der Eifersüchtige. Die Züge des eigenen Wesens werden dem Menschen erst dann bewußt. Das Ich, das man im Blick des Anderen ist, wird der Person gegenwärtig und auf diese Weise gewinnt sie einen reflexiven Bezug zu ihm: »La conscience irréfléchie ne saisit pas la personne directement et comme son objet : la personne est présente à la conscience en tant qu’elle est objet pour autrui. Cela signifie que j’ai tout d’un coup conscience de moi en tant que je m’échappe, non pas en tant que je suis le fondement de mon propre néant, mais en tant que j’ai mon fondement hors de moi. Je ne suis pour moi que comme pur renvoi à autrui.«64 Denn für das eigene Ich gilt: »[…] il est séparé de moi par un néant que je ne puis combler, puisque je le saisis en tant qu’il n’est pas pour moi et qu’il existe par principe pour l’autre ; je ne le vise donc point en tant qu’il pourrait m’être donné un jour, mais, au contraire, en tant qu’il me fuit par principe et qu’il ne m’appartiendra jamais. Et, pourtant, je le suis, je ne le repousse pas comme une image étrangère, mais il m’est présent comme un moi que je suis sans le connaître, car c’est dans la honte […] que je le découvre. C’est la honte ou la fierté qui me révèlent le regard d’autrui et moi-même au bout de ce regard, qui me font vivre, non connaître, la situation de regardé.«65 Wenn man sich schämt, handelt es sich für Sartre dabei um ein Eingeständnis: »Or, la honte […] est honte de soi, elle est reconnaissance de ce que je suis bien cet objet qu’autrui regarde et juge. Je ne puis avoir honte que de ma liberté en tant qu’elle m’échappe pour devenir objet donné. […] Je suis, par delà toute connaissance que je puis avoir, ce moi qu’un autre connaît. Et ce moi que je suis, je le suis dans un monde qu’autrui m’a aliéné, car le regard d’autrui embrasse mon être et corrélativement

63 64 65

Ebd. 299. Ebd. 300. Ebd.

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les murs, la porte, la serrure ; toutes ces choses-ustensiles, au milieu desquelles je suis, tournent vers l’autre une face qui m’échappe par principe. Ainsi je suis mon ego pour l’autre au milieu d’un monde qui s’écoule vers l’autre.«66 Walter Biemel versteht das Sich-Schämen in der Auslegung Sartres eher als einen Akt des Wiedererkennens: »Ich erkenne mich in der Scham wieder als der, der ich bin.«67 Fraglich ist an dieser Stelle, ob die Anerkennung des Tatbestandes, daß man in diesem Moment des Angeblickt-Werdens ein Objekt des Anderen darstellt, »[…] nicht zugleich Verzicht auf die eigenen Möglichkeiten«68 bedeutet. Einerseits trifft diese Hypothese für einen Moment zu, denn in dem Augenblick, in dem der Mensch sich als derjenige akzeptiert, den der Andere in ihm sieht, verzichtet er für eine Sekunde lang auf die Möglichkeit der Transzendenz. Doch im Blick des Anderen, auf den man mit Scham reagiert, findet sich auch wieder der Verweis auf die Freiheit der Person. Der Mensch braucht die Freiheit des Anderen zwingend, da nur der Andere jene Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem aufbauen kann, die für das Bewußtsein von der eigenen Existenz unabdingbar ist. Die angeblickte und sich schämende Person hat dann die Möglichkeit, die eigene Beziehung zu den sie umgebenden Dingen und Menschen neu zu strukturieren, nachdem die Scham als ein Geständnis empfunden wurde, die der Person ihr Sein enthüllt. Sie könnte aber auch, wie Sartre weiter ausführt, die Unwahrhaftigkeit dazu benutzen, sich zu verkleiden. Aber auch die Unwahrhaftigkeit wäre letzten Endes ein Geständnis, da auch sie als ein Bemühen erscheint, dem Sein zu entfliehen, das der Mensch ist.69 Abschließend sollen die zu Eingang formulierten Thesen noch einmal überprüft werden. Anhand der Zitate verschiedener französischer Philosophen aus unterschiedlichen Epochen konnte belegt werden, daß Scham tatsächlich aufgrund fehlender destruktiver Auswüchse weder ein primär pathologisches Gefühl ist noch hinsichtlich ihrer Entstehung bzw. ihrer Auslöser an eine bestimmte Lebensphase zwingend gebunden ist. Allerdings zeigen die Ausführungen Rousseaus, daß das Schamempfinden bei Kindern entwicklungspsychologisch noch nicht so ausgeprägt ist wie bei dem erwachsenen Menschen. Ganz offensichtlich kennen aber Menschen jeder Altersstufe Schamkonflikte, die menschliche Entwicklung wird u.a. reguliert durch das Gefühl der Scham. Hilgers Aufweis einer Gruppe von ›Schamaffekten‹ hat sich ebenfalls belegen lassen, so das Schamempfinden bei abbrechenden Kompetenzerfahrungen, bei Bezugnahme auf die eigene Körperlichkeit sowie durch aktive Präsenz von Anderen. Ferner hat sich gezeigt, daß die Scham intentional bezogen ist auf etwas, das geachtet oder re-

66 67 68 69

Ebd. Walter Biemel: Sartre (Reinbek b. Hamburg 1964) 46. Susanne Möbuß: Sartre (Freiburg/Basel/Wien 2000) 53. Vgl. ebd.

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spektiert werden soll, z.B. bestimmte Sitten oder moralische Forderungen, bzw. auf eine beurteilende Instanz, den Mitmenschen, die Gesellschaft oder auch das eigene Ich bzw. auf das redende oder handelnde Subjekt, dem bei Verletzung von bestimmten Werten Bloßstellung droht. Auch das prohibitive Moment der Scham, das faktisch verurteilende der Scham und ihr adhortatives Moment sind deutlich geworden. Vor allem Sartres Konzeption der Scham hat gezeigt, in welcher Weise das Schamgefühl als Regulationsmechanismus des Selbst wie auch der Beziehungen zwischen dem Selbst und den Anderen wirken kann und wie erst Schamgefühle dazu auffordern, Selbstkonzepte wie auch Konzepte der Anderen und der umgebenden Realität kritisch zu prüfen.

Werner Moskopp

Ein Versuch über die Transzendentalität der Scham

Wer Heideggers Idiom ernst nimmt, »die Wissenschaft denkt nicht«,1 der könnte wohl auch ohne Probleme behaupten: Die Wissenschaft schämt (sich) nicht. Gerade weil nun aber der folgende wissenschaftliche Beitrag als Gegenstand die Scham behandelt, setzt er sich hauptsächlich mit dem Denken auseinander. Dieser Schwerpunkt ergibt sich daraus, daß die Scham im Rahmen des Kantischen Denkens bedacht werden soll und daß der Text selbst sich dabei an keiner Stelle schämt, sondern lediglich Gedanken über die Scham abbildet. Im Zuge dessen wird jedoch der Versuch unternommen, das Denken über die Scham so zu formulieren, daß sich die Bedingungen der Möglichkeit eines Denkens über die Scham überhaupt in Kantischen Strukturen entwickeln, ohne das Denken des je Einzelnen dabei durch wissenschaftliche Allgemeinbegriffe dem Vergessen preiszugeben. Wenn aber die Scham – wie es unser an Kant angelehnter Vorschlag ist – ein unangenehmer Affekt ist, der als Warnmechanismus vor dem Selbstherbeiführen einer Verlustigkeit der Würde bewahren soll, so kann vielleicht für die wissenschaftliche Untersuchung folgende Relation zur Philosophie vorgeschlagen werden: Die Philosophie ist die Scham der Wissenschaften, und die transzendentale Kritik bildet in ihrer Architektonik der menschlichen Erkenntnis die grundlegende Achtung der Wissenschaft. Der Aufsatz behandelt nacheinander: 1. die anthropologische Bestimmung der Scham in Kants Werk, 2. die transzendental-kritische Grundlage einer jeden Untersuchung über die Scham: die Moralität des vernünftigen Wesens, 3. den Versuch einer transzendental-philosophischen Bestimmung der Scham in Anlehnung an Kant.

I. Die anthropologische Bestimmung der Scham in Kants Werk A. Einordnung der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Die expliziten Ausführungen zur Scham in Kants Werk sind mit Ausnahme der Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) ausschließlich anthropologischer Art. Die Anthropologie aus dem Jahr 1798 wirkt in pragma-

1 Martin Heidegger: Was heißt Denken? In: Gesamtausgabe (GA) Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. (Frankfurt a.M. 2000) 133.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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tischer Hinsicht und ist daher streng zu differenzieren von einer praktischen Untersuchung. Während »praktisch« nämlich definiert ist als Vernunftbestimmung des Willens (vgl. V 45 f.)2 und die Kritik der praktischen Vernunft damit auf die Prüfung der Bedingungen der Möglichkeit von Moralität und Freiheit abzielt, orientiert sich die pragmatische Anthropologie an dem, was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (VII 119).3 Von beiden Sichtweisen läßt sich dann zusätzlich noch die »anwendbare« Ethik Kants abheben, wie wir die Konsequenzen aus der Darstellung in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793; kurz: RGV) benennen können – auch aus dieser Schrift werden wir hilfreiche Gedanken entlehnen.

B. Scham bei Kant Die Scham nimmt in Kants Anthropologie einen Platz inmitten der Affekte und Leidenschaften ein. Damit fügt sie sich in die Definition derjenigen Gefühlsregungen, die als Affekte »überhaupt krankhafte Zufälle (Symptomen) [sind] und (nach einer Analogie mit Browns System) in sthenische, aus Stärke, und asthenische, aus Schwäche, eingetheilt werden [können]. Jene sind von der erregenden, dadurch aber oft auch erschöpfenden, diese von einer die Lebenskraft abspannenden, aber oft dadurch auch Erholung vorbereitenden Beschaffenheit« (VII 255). Nicht ohne Grund wird die Scham in einer Passage mit dem Zorn behandelt,4 wodurch die Betonung der uns (krankhaft) zufallenden Blutwallung als Merkmal der Scham dokumentiert wird, die Kant im Nachlaß in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erha-

2

Ich zitiere Kant im folgenden nach der Akademie-Ausgabe (Band und Seitenzahl): Kants Werke. Akademie Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften (Berlin 1968). 3 Für die Anthropologie spielt es nach Kant keine Rolle, inwiefern wir uns überhaupt selbst (»an sich«) erkennen können im Vergleich dazu, wie wir uns erscheinen: »Daß dieser Satz so gar vom inneren Selbst gelte und daß der Mensch wenn er sich innerlich nach den Eindrücken die gewisse Vorstellungen aus welchen Ursachen sie auch entspringen mögen beobachtet er sich auch dadurch [[doch]] nur erkennen könne wie er sich selbst erscheint nicht wie er schlechthin ist, das ist ein kühner metaphysischer Satz (paradoxon), der in einer Anthropologie gar nicht zur Frage kommen kann. — Daß [[er]] aber wenn er innere Erfahrungen [[von]] an sich selbst [[mache]] anstellt [[daß]] wenn er [[durch]] diese Nachforschung [[auch noch]] so weit verfolgt als er kann er doch gestehen müsse das Selbsterkentnis führe zu unergründlicher Tiefe zum Abgrunde in der Erforschung seiner Natur gehört zur Anthropologie.« (I. Kant: Werke [Anm. 2] VII 396 f.) 4 Dies begründet Kant in ebd: VII 260: »Die Affecten des Zorns und der Scham haben das Eigne, daß sie sich selbst in Ansehung ihres Zweckes schwächen. Es sind plötzlich erregte Gefühle eines Übels als Beleidigung, die aber durch ihre Heftigkeit zugleich unvermögend machen, es abzuwehren.«

Ein Versuch über die Transzendentalität der Scham

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benen anspricht: »Die Schaam u. Schamhaftigkeit sind zu unterscheiden. Jene ist ein Verrath eines Geheimnisses durch die Natürliche Bewegung des Bluts. Diese ist ein Mittel ein Geheimnis zu verbergen um der Eitelkeit willen, imgleichen eine geschlechtserregung« (XX 20). Zorn und Scham hindern uns in ihrer »Heftigkeit« beide daran, die Ursache der »plötzlich erregten Gefühle […] abzuwehren« (VII 260). Während Kant dazu anrät, den Zornigen – sowohl den erblassenden als auch den errötenden – mit Vorsicht zu genießen, sympathisieren wir mit dem Schmerz der Scham, die eine »Angst aus der besorgten Verachtung einer gegenwärtigen Person und, als solche, ein Affect [ist]. Sonst kann einer sich auch empfindlich schämen ohne Gegenwart dessen, vor dem er sich schämt; aber dann ist es kein Affect, sondern wie der Gram eine Leidenschaft sich selbst mit Verachtung anhaltend, aber vergeblich zu quälen; die Scham dagegen, als Affect, muß plötzlich eintreten« (VII 255). Um den Affekt sowohl von einer affektierten Nutzung des schamhaften Verhaltens (z.B. als Koketterie) als auch von der Leidenschaft zu unterscheiden,5 führt Kant also die oben zitierten Merkmale an. Die konkrete Manifestation der Scham tritt nach Kant als plötzlicher Affekt in unterschiedlichen Situationen auf, die aber allesamt eine Beziehung erschließen lassen zu a) dem Umgang mit anderen Menschen, b) der Trennung eines inneren und äußeren menschlichen Bereichs, c) der natürlichen Anlage eines unangenehmen Gefühls. Wir können nach Kant, wie wir gesehen haben, den Affekt gezielt in einem Verhalten nachahmen (s. Schamhaftigkeit), wenn wir z.B. aus einem Akt der Selbstliebe heraus so tun, als ob wir ein bestimmtes »Geheimnis«, das da ist, nicht hätten oder (so möchte ich ergänzen) als ob wir gerade ein inneres Geheimnis hätten, das nicht da ist (z.B. als Ablenkung von einem »Geheimnis«, das sehr wohl da ist); die ursprüngliche Verhaltensweise der Affektion hingegen ist offensichtlich nicht willkürlich beeinflußbar, sondern überkommt uns. Daß das Spiel mit den Verhaltensäußerungen als gezielte Täuschung möglich und häufig auch erwünscht ist, führt Kant folglich im Bereich der eigenen Person auf die Eitelkeit (s.o.), im Bereich der Gesellschaft auf die je gegebene Sitte zurück (vgl. z.B. VII 293 ff.). Innerhalb der Konstellation von »geheimen« Denk- und Gefühlsbereichen und von den für andere offenbaren körperlichen Gefühlsäußerungen – diese sind wiederum für die Person nur periphär beeinflußbar durch die Einschätzung der Umstände und des sittlichen Verhaltens – sowie vom Verhalten zu diesen Gefühlsäußerungen nach deren Gewahrwerden verweisen damit sämtliche Schamphänomene auf ein und dieselbe Wurzel des menschlichen Wesens: die Sittlichkeit als Ursprung der Scham. Die Scham ist unserer Lesart gemäß als Gefühl zunächst eine natürliche Anlage, die nach Kant selbst moralisch neutral oder sogar als »Anlage zum Guten« (vgl.

5 Das ist z.B. ausschlaggebend für die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten (MdS), auf der wir in Abschnitt III aufbauen werden.

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VI 26 ff.) verstanden werden muß, als eine Art nach außen getragenes Gewissen6 (vgl. VI 430). Möglicherweise ließe sich dann die Schamhaftigkeit in ein Verhältnis mit der Sittsamkeit7 setzen: Der Beleg der Sittlichkeit in einer zutiefst eigennützigen Überlegung gibt Aufschluß darüber, wie wir vom anderen in sittlicher Hinsicht eingeschätzt werden wollen. Daß wir moralische Wesen sind, wäre (für uns) mit dem ersten Aufkommen der Scham deutlich belegt, jedoch blitzt in ihrem Schein bereits die Möglichkeit der unsittlichen Variante auf, die auf denselben moralischen Grundlagen (Freiheit) beruht: Unredlichkeit und Nichtswürdigkeit (vgl. VI 38). Was Kant in seinen verstreuten Ausführungen zur Scham der psychologischen Forschung implizit vorwegnimmt, ist eine komplexe kognitive Emotionstheorie, wie sie später etwa bei Schachter und Singer auftritt. Leider ist aber Kants Ansatz hierzu weder ausreichend strukturiert (es fehlt eben die transzendental-philosophische Komponente) noch besonders originell, denn um wie viel differenzierter sind die Befunde der angelsächsischen Philosophen des 18. Jh., wenn wir hier an Hume oder Smith denken. Wir beobachten uns selbst und reagieren auf die inneren und äußeren Empfindungen, ohne daß wir uns auf diesem Weg jemals selbst »an sich« beschreiben könnten (s.o. Fußnote 3). Über diesen Zwiespalt kann die Anthropologie aufgrund ihrer Methodik niemals hinausgehen; jedoch kann sie keine Rücksicht auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen nehmen. Die Anlage zur Scham liegt nämlich sowohl in der Natur des Menschen – im Gefühl der Lust/Unlust (inneres Empfindungsvermögen für »Wohl und Wehe«) und im körperlichen/leiblichen Affekt (äußeres Empfindungsvermögen der Sinne) – als auch in der Moralität, denn nur deshalb können Zorn und Scham auch von der Vernunft dem Begehrungsvermögen zugeteilt werden (VII 251); sie sind aber als mögliche Verhaltensweisen/Zustände damit nicht zugleich auch schon konkret verwirklicht, sondern werden durch die Erziehung der »Scham und Schicklichkeit« in die gängigen gesellschaftlichen Gepflogenheiten hinein ausgeprägt. Für Kant hat das Antrainieren der Scham als erzieherische Methode jedoch keinen Sinn, solange sie bei Kindern angewendet wird, die noch keine Einsicht in die eigene Vernunft-

6

Vgl. z.B. Ebd. VI 430 zur Unredlichkeit als Mangel an Gewissenhaftigkeit gegenüber einem inneren Richter, der als andere Person angenommen wird, und das Bewußtsein eines »inneren Gerichtshofs« (Ebd. VI 438). 7 »Die Natur hat den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen weislich eingepflanzt, selbst um die Tugend zu retten, oder doch zu ihr hinzuleiten. Der gute, ehrbare Anstand ist ein äußerer Schein, der andern Achtung einflößt (sich nicht gemein zu machen). Zwar würde das Frauenzimmer damit schlecht zufrieden sein, wenn das männliche Geschlecht ihren Reizen nicht zu huldigen schiene. Aber Sittsamkeit (pudicitia), ein Selbstzwang, der die Leidenschaft versteckt, ist doch als Illusion sehr heilsam, um zwischen einem und dem anderen Geschlecht den Abstand zu bewirken, der nöthig ist, um nicht das eine zum bloßen Werkzeuge des Genusses des anderen abzuwürdigen. – Überhaupt ist Alles, was man Wohlanständigkeit (decorum) nennt, von derselben Art, nämlich nichts als schöner Schein.« (Ebd. VII 152)

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bestimmtheit besitzen. »Gemeinhin ruft man den Kindern ein: Pfui, schäme dich, wie schickt sich das! u.s.w. zu. Dergleichen sollte aber bei der ersten Erziehung gar nicht vorkommen. Das Kind hat noch keine Begriffe von Scham und vom Schicklichen, es hat sich nicht zu schämen, soll sich nicht schämen und wird dadurch nur schüchtern. Es wird verlegen bei dem Anblicke Anderer und verbirgt sich gerne vor andern Leuten. Dadurch entsteht Zurückhaltung und ein nachtheiliges Verheimlichen.« (IX 465) Einzig im Bereich der Aufrichtigkeit scheint dem heranwachsenden Kind nach Kant ein (ursprüngliches) Verständnis dafür gegeben zu sein, daß die Lüge durch das Erröten enttarnt werden kann. Dabei steht allerdings fest, daß das Erröten keine notwendige Beziehung zur Lüge aufweist: Auch unberechtigte Schuldvorwürfe etc. führen möglicherweise zur gleichen körperlichen Reaktion.8 In der Erziehung wird also lediglich ein Charakter ausgeprägt, der – da Scham wie auch andere Affekte durchaus gezielt auf die Zukunft ausgerichtet werden können, obwohl sie im eigentlichen Auftreten nicht vernunftgesteuert sind (vgl. VII 252 ff.) – sich an der gängigen Sitte orientiert. Weil die Scham aber eine Hemmung des offenen Umgangs mit anderen Menschen evozieren kann (lat. »pudor« kann auch Schüchternheit bedeuten), macht es keinen Sinn, die Fähigkeiten eines Kindes so früh durch übertrieben harte Mittel (Strafen und Belohnungen9) an ihrer sittlichen Eigenentfaltung zu hindern. Vielmehr ist der gezielte Einsatz der sittlichen Schamkomponente erst dort vonnöten, wo ein Bewußtsein der Autonomie und der eigenen Moralität entsteht: beim »Jüngling« – und dies wiederum ganz besonders in der Verbindung von (unangenehmer) Schamesröte und Lüge. Man kann zusammenfassend wohl aus Kants Äußerungen ableiten: Die Scham ist als Affekt oder als Leidenschaft möglich; »sinnvoll« ist sie nur als Affekt. Dieser kann auftreten im Gefüge der Sitten und somit als Folge der Erziehung durch die Eltern auf diese Gepflogenheiten hin, oder als Affekt, der die eigene Moralität begleitet. Da wir als Beobachter aber nie wissen, auf welche Weise der Einzelne in seiner Entwicklung mit der Scham und mit dem Ertragen des Gefühls (oder etwa des Errötens) konfrontiert wurde, sehen wir an der äußeren Scham lediglich, daß dort ein sittenbezüglicher oder ein sittlicher Gedanke der Achtung auftritt, aber wir wissen als Außenstehende nicht, in welcher der beiden Hinsichten dies geschieht… Schlimmer noch: Wir erkennen diese Modalitäten bei uns selbst auch nicht hinreichend. Immerhin erinnern wir ja nicht jeden »Pfui«-Ausruf der Eltern

8 »Hier nun ist der Ort, von der Scham Gebrauch zu machen, denn hier begreift es das Kind wohl. Die Schamröthe verräth uns, wenn wir lügen, aber ist nicht immer ein Beweis davon. Oft erröthet man über die Unverschämtheit eines Andern, uns einer Schuld zu zeihen. Unter keiner Bedingung muß man durch Strafen die Wahrheit von Kindern zu erzwingen suchen, ihre Lüge müßte denn gleich Nachtheil nach sich ziehen, und dann werden sie des Nachtheils wegen gestraft. Entziehung der Achtung ist die einzig zweckmäßige Strafe der Lüge.« (Ebd. IX 484) 9 Vgl. dazu auch: Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre (Stuttgart 1920) 361.

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und die damit nach und nach konditionierte pragmatische Ausrichtung. Deshalb können wir an dieser Stelle zumindest zwei Erkenntnisse über die Scham in ihrer anthropologischen Darstellung festhalten: 1. Der empirische Zugang zur Scham reicht nicht bis zur Erfassung der Qualia, die uns (sinnvollerweise) in ihrer Begründung letzthin selbst weitestgehend verborgen bleiben. 2. Alle Aspekte, die in Zusammenhang mit den angeführten Affekten und Leidenschaften stehen, haben sowohl eine natürliche Anlage als auch eine moralische Dimension. Lehmann führt Scham wie auch den Zorn auf eine Macht- bzw. Hilflosigkeit zurück, die bewirkt, daß wir unsere Schwäche (an-)erkennen, und ggf. kann dann Zorn bzw. Wut aus der Scham hervorgehen.10 Damit hätte die Scham einen negativen Ursprung und eine positive Wirkung (Wut als Versuch, die »Gewalt« wieder herzustellen). Diesem psychologisierenden, nietzscheanischen Ansatz können wir auf dem bisherigen Stand bereits entgegenhalten, daß der Scham auf dieser Betrachtungsebene genausogut ein moralisch positiver Ursprung (Gewahrwerden eines Fehlverhaltens) unterstellt werden kann, der dann eine negative Folge aufweist: ein unangenehmes Gefühl. Der Stolz des Menschen in seiner der Menschlichkeit zugehörenden vergleichenden Selbstliebe (VI 27), insbesondere aber die Ehre seiner Persönlichkeit führen die Scham als eine Grenze des Selbstverständnisses zur Tierheit mit sich.11 Auf der anderen Seite besteht die Scham in der Ausrichtung auf die Wesenszüge, die uns als vollkommener vorschweben, als wir es zur Zeit zu sein scheinen. Entscheidend ist an dieser Stelle aber der Hinweis auf Kants Einschätzung der natürlichen Anlagen: Sie sind von Natur aus gut – Kant betrachtet gerade die Anlagen der Natur als eine Verwirklichung der Naturabsichten, die ja auch in der vergleichenden Selbstliebe noch den Motor zur kulturellen Entwicklung darstellen (VIII 21). Wir dürfen also nicht dem Vorurteil erliegen, Kant werte die Neigungen ab! Und aus diesem Grund kann die Hilflosigkeit nicht als Bestimmung der Scham ausreichen, denn gerade in diesem Zustand würden wir uns ja

10 Johannes Friedrich Lehmann: Scham und Gewalt. Zum Zusammenhang von Wehrlosigkeit und Scham bei Aristoteles, Kant und Kleist. In: Schuld und Scham, hg. von Alexandra Pontzen (Heidelberg 2008) 29 u. 35 f. 11 Dies reicht nach Kants Nachlaß bis in das Politische hinein: »Durch diese politische Maximen wird nun zwar niemand hintergangen denn sie sind insgesammt schon allgemein bekannt; auch ist es mit ihnen nicht der Fall sich zu schämen wenn die Ungerechtigkeit gar zu offenbar in die Augen leuchtete. Denn weil sich große Mächte nie vor dem Urtheil des gemeinen Haufens sondern nur eine vor der anderen schämen, Was aber jene Grundsätze betrift nicht das Offenbarwerden sondern nur das Mislingen derselben sie beschämt machen kan (denn in Ansehung der Moralität der Maximen kommen sie alle unter einander über ein) so bleibt ihnen immer die politische Ehre übrig, auf die sich sicher rechnen können nämlich die der Vergrößerung ihrer Macht auf welchem Wege sie auch erworben seyn mag.« (I. Kant: Werke [Anm. 2] XXXIII 192)

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vollkommen als Wesen der Sachwelt begreifen.12 Nur dort, wo der Mensch sich aus Vernunfttätigkeit heraus für das Person- oder auch Menschsein und gegen das bloß Tierische entscheidet, entspricht er seinen Anlagen und verwirklicht das menschliche Wesen – wobei auch der gegensätzliche Fall aus einem Hang zum Bösen heraus möglich ist, wenn z.B. ganz bewußt das Vernunftgesetz gewählt würde: »Folge immer deinen Trieben!« Für Kant zeigt sich die Wahrung der Würde unserer Persönlichkeit beispielhaft in der Verbergung des Geschlechtsakts. In Verbindung mit der tierischen Lust gibt man den Körper als eine Sache dem Gebrauch hin – das scheint die Natur ganz gut eingerichtet zu haben. »Die Menschheit in seiner Person ist die Persönlichkeit nicht blos als Sache gebraucht werden zu sollen vornehmlich nicht genossen zu werden welches läsio enormis ist. Daher die Schaam der Menschheit unwürdig turpitudo naturalium Der Mensch schämt sich seiner Thierheit in der Begattung er verbirgt ihren Actus und kan nur durch ein pactum der Coalition in eine moralische Person die wechselseitig gleiche Pflichten und Rechte hat ein rechtlicher Mensch seyn. Ehe wechselseitiger Gebrauch des Geschlechts.« (XXIII 359)13 Die Person kompensiert selbst diesen natürlichen Akt noch durch die moralische »Coalition« der Ehe, die zugleich sogar rechtlich abgedeckt wird. Symbolisch setzt sich die Vernunft aber eine »personifizierte Idee« (VI 60 ff.), die das Ideal eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels vorgibt: »Die Stelle von der

12

Die Feststellung der Schwäche kann m.E. doch auch als beruhigende »Ausrede« dienen, die die Scham umgeht. Solange wir uns bemühen, hier stimme ich mit Kant überein, wird doch eher eine »Gebrechlichkeit« als etwa »Unlauterkeit« oder »Bösartigkeit« hervorgehoben (ebd. VI 29 ff.). 13 »Die Natur hat hierüber eine gewisse Decke des Geheimnisses verbreitet, als wäre diese Sache etwas, das dem Menschen nicht ganz anständig und blos Bedürfniß der Thierheit in dem Menschen ist. Die Natur hat aber gesucht, diese Angelegenheit mit aller Art von Sittlichkeit zu verbinden, die nur möglich ist. Selbst die wilden Nationen betragen sich dabei mit einer Art von Scham und Zurückhaltung. Kinder legen den Erwachsenen bisweilen hierüber vorwitzige Fragen vor, z.E. wo die Kinder herkämen. Sie lassen sich aber leicht befriedigen, wenn man ihnen entweder unvernünftige Antworten, die Nichts bedeuten, giebt, oder sie mit der Antwort, daß dieses Kinderfrage sei, abweist« (ebd. IX 496). Vgl. dazu auch die Randnotizen aus dem Nachlaß zur MdS (ebd. XX 463 f.): »Daß in Ansehung der Befugnis zweyer Personen beyderley Geschlechts sich fleischlich zu vermischen jeder derselben vornehmlich aber dem Weiblichen Theil im Zustande der kaum anhebenden Cultur eine Scheu über den besorglichen Verstoß wieder die Würde der Menschheit Scham genannt mithin etwas Moralisches sich unvermeidlich einfindet und jene selbst in der Ehe immer noch Verborgenheit verlangt ist gnugsamer Beweis daß der Mensch durch dieses Hingeben seines Leibes zum Sachengebrauch immer etwas thue dessen er sich schämen müsse weil es an sich wirklich unter der Würde der Menschheit ist aber der Naturbedürfnis halber das Menschliche Geschlecht und die Fortpflanzung seiner Gattung nicht der wählenden Vernunft zu überlassen sondern dem thierischen Instinct anzuvertrauen zum Erlaubnisgesetz geworden ist.«

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Befugnis der Schriftauslegung zur Einstimmung mit der Vernunft wenn es nur möglich ist sie so zu verstehen. Eine vom angebohrnen sündlichen Hange freye Person von einer jungfräulichen Mutter gebähren zu lassen wird durch die Idee der sich zu einem schweer zu erklärenden und doch nicht abzuläugnenden gleichsam moralischen Instinct beqvemenden Vernunft veranlaßt da wir nämlich die natürliche Zeugung weil sie nicht ohne Sinnenlust geschehen kann die uns doch in zu nahe Verwandtschaft mit der allgemeinen Thiergattung zu bringen scheint als etwas ansehen dessen man als gewissermaßen der Würde des Menschen wiederstreitend sich zu schämen habe was sich aber und die Neigung dazu sich als ein Fehler doch auf das Kind vererben würde wenn es natürlicher weise gezeugt wäre.« (XXIII 106, vgl. auch VI 80, Anmerkung) Auch wenn wir heute sicherlich eine andere sittliche Einschätzung des Geschlechtsverkehrs vornehmen, bewerten wir doch die Antriebe hierzu in ganz ähnlicher Weise. Wenn die Vernunft sich in der Bevorzugung von Lustzuständen szs. selbst aufzuheben oder zu hintergehen versucht, ohne zu bemerken, daß das Faktum der Vernunft eigentlich unhintergehbar ist, dann mißbilligen wir trotz einer gewandelten Sitte das Verhalten in moralischer Hinsicht ähnlich dem, wie es von Kant illustriert wird. Wo also der Mensch den anderen als Mittel zum Zweck, oder: als Sache gebraucht, dort verstößt er gegen die Idee der Menschheit in seiner eigenen Person. Wenn das vernünftige Denken die Scham derart sowohl auf die Naturanlagen als auch auf die Moralität zurückführt, dann findet es in einer ihm eigentümlichen Auslegung sogar eine biblische Entsprechung z.B. in der allegorischen Deutung des Anfangs der Menschengeschichte durch eine Mutmaßung von Vernunft und Einbildungskraft (als eine Erholung und Lustreise; vgl. VIII 109 f.): Hier ist das Feigenblatt der biblischen Schöpfungsgeschichte Ausdruck der menschlichen Sittlichkeit durch die zunehmende Vernunftherrschaft über den natürlichen Instinkt in vier Schritten (VIII 113 f.). Die Scham bereitet im Verbergen des Geschlechts die Entwicklung der Liebe (als idealischer Reiz), des Anstands und der Achtung und somit die »wahre Geselligkeit« vor. Dieses Gedankenexperiment findet eine aufschlußreiche Entsprechung in der KpV, in der explizit die oben beschriebenen Verbindungen von Person, Achtung, Pflicht, negativem Gefühlszustand als »Schranke« und Würde ausgeführt werden: »Diese Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit, welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen stellt, indem sie uns zugleich den Mangel der Angemessenheit unseres Verhaltens in Ansehung derselben bemerken läßt und dadurch den Eigendünkel niederschlägt, ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht bemerklich. Hat nicht jeder auch nur mittelmäßig ehrliche Mann bisweilen gefunden, daß er eine sonst unschädliche Lüge, dadurch er sich entweder selbst aus einem verdrießlichen Handel ziehen, oder wohl gar einem geliebten und verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen konnte, blos darum unterließ, um sich ingeheim in seinen eigenen Augen nicht verachten zu dürfen? Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im größten Unglücke des Lebens, das er vermeiden

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konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe? Dieser Trost ist nicht Glückseligkeit, auch nicht der mindeste Theil derselben. Denn niemand wird sich die Gelegenheit dazu, auch vielleicht nicht einmal ein Leben in solchen Umständen wünschen. Aber er lebt und kann es nicht erdulden, in seinen eigenen Augen des Lebens unwürdig zu sein. Diese innere Beruhigung ist also bloß negativ in Ansehung alles dessen, was das Leben angenehm machen mag; nämlich sie ist die Abhaltung der Gefahr, im persönlichen Werthe zu sinken, nachdem der seines Zustandes von ihm schon gänzlich aufgegeben worden. Sie ist die Wirkung von einer Achtung für etwas ganz anderes als das Leben, womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Werth hat. Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet.« (V 87 f.) Immer wenn die Lust als »Rechtfertigung« für eine Handlung eingesetzt wird, tritt ein Selbsttadel hinzu, der unabhängig von den tatsächlichen Folgen der Handlung auf die Unangemessenheit dieser Begründung (eben durch Scham) verweist (vgl. XXIII 102). Dabei können zwar weder die Scham als Affekt noch die Schamhaftigkeit jemals als Grund der Sittlichkeit (hier: Keuschheit) fungieren, aber als »Antriebe der Anstädigkeit [sic!] eben dieselbe Wirkungen« mit sich führen (vgl. XX 89; das Zitat bezieht sich auf Schamhaftigkeit!). Es ist nicht erstaunlich, daß die Ausführungen Kants später auch auf die Charakterisierung seiner eigenen Person Anwendung fanden. So lesen wir bei Böhme: »Dazu passt, daß Kant sich, obwohl immer allein, »nur in der Art« auskleidet, »daß er in jedem Augenblick, ohne verlegen zu werden, oder bei seinem Aufstehen andere verlegen zu machen, erscheinen konnte« (Wasianski, 226). Welch ein Überfluß an Zartsinn, der Scham und Schuldangst verdeckt und noch den ›Körper für sich‹ jederzeit zu einem Körper im Kontrollblick der anderen entfremdet. Bis in den Schlaf hinein demonstriert Kant, er praktiziere keine Sexualität.«14 »Kant demonstriert, wie durch ›innere Disziplin des Gemüts‹ (Anthr. B 217) Affekte beherrscht werden können. Disziplin arbeitet mit Verdrängung zusammen. […] Leidenschaft und Affekt, ihre ›Lust und Befriedigung‹ sind Einkerkerungen des Menschen. Affekt ist ›Sklavensinn‹ des Fleisches und darum Qual der Vernunft […].«15 Ohne auf diese biographische Analyse im Detail eingehen zu wollen, können wir hiervon zumindest für die formale, transzendental-philosophische Untersuchung eine Wende zur innerlichen Perspektive abheben: Ist es

14

Hartmut und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants (Frankfurt a.M. 1985) 448. 15 Ebd. 471.

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nicht das persönliche Ideal der Vollkommenheit, das die Scham sowohl als eine Art »Rücklaufventil« gegenüber dem Tierischen als auch als Anreiz des Strebens nach Höherem auftreten läßt?

II. Die transzendental-kritische Grundlage einer jeden Untersuchung über die Scham: die Moralität des vernünftigen Wesens »Nur wer Einsamkeit kennt, weiß von der Innerlichkeit; sie sind reziproke Kräfte.« (Ortega y Gasset)

A. Die Ebene der transzendentalen Untersuchung Transzendental ist eine Untersuchung genau dann, wenn sie die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens ausfindig macht, und ihr Ergebnis notwendig und allgemein für alle vernünftigen Wesen, die dieselbe Thematik jemals durchdenken werden, gültig bleiben muß. Diese Möglichkeit der Denknotwendigkeit trägt die entsprechenden Grenzen des Gegenstandsbereichs und der Leistungsfähigkeit formal allerdings bereits in sich: Der Gegenstand kann nicht empirisch sein, denn das Material der Erfahrung wechselt mit der Perspektive, den Umständen etc., wohl aber kann er sich auf die Bedingungen der Möglichkeit bestimmter empirischer Phänomene beziehen. Auch dürfen die Untersuchungsergebnisse nicht aus analytischen Urteilen bestehen, denn diese zergliedern lediglich den Begriff des Gegenstands und bringen keine neue Erkenntnis zutage. Woher wissen wir aber, daß die transzendentale Methode nicht in bloße Spekulation ausartet? Wir müssen die Leistungsfähigkeit der Transzendentalphilosophie zuvor prüfen: Transzendental-kritisch ist das Denken, wenn es sich denkend auf sich selbst bezieht und performativ (im Vollzug) die Grundformen des Denkens bestimmt. Das formale Ergebnis muß jedoch auch hier lauten: Kein vernünftiges Wesen darf diese Formen des Denkens anders denken können, wenn die Forderung der Transzendentalität für das Denken selbst eingelöst wird. Auf der Basis dieser Denkmöglichkeiten lassen sich nun weitere konkrete Phänomene erörtern. Im formal begründeten System einer Transzendentalphilosophie kann also durchaus ein bestimmter Gegenstand der Empirie abgehandelt werden. Das Denken bleibt jedoch unabhängig von den je individuellen Erfahrungsinhalten (a priori – nicht mißzuverstehen als: vor aller Erfahrung) und hebt allgemein hervor, was von einem vernünftigen Wesen über den gewählten Gegenstand als Gegenstand einer möglichen Erfahrung überhaupt gedacht werden kann. Auf dieser formalen Ebene ist also je mein Denken auf die Denkfunktionen aller vernünftigen Wesen hin derart reflektiert, dass das »ich denke […] alle meine Vorstellungen begleiten können [muß]« (III 108, B 131). Damit ergibt sich für die folgende Untersuchung der Scham, daß der Text bis zu diesem Zeitpunkt

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nicht feststeht, sondern nachgerade dem Denken des Ich jeweilig neu entspringt. Aus diesem komplizierten Rück- und Vorbezug des Denkenden bietet sich die Methode, die oben mit dem Titel »transzendental« angedeutet wurde, als gemeinsame Erkenntnisgrundlage an.16

B. Die Grundlegung einer jeden Moralität Das Entscheidende ist im weiteren Gedankengang der (Nach-)Vollzug dessen, was Kant unter »Moralität« versteht: Sie ist für ihn nämlich die Möglichkeit einer »Verbindlichkeit« von Wertvorstellungen (vgl. IV 439) in der Doppeldeutigkeit des Wortes. »Wohl und Wehe« geben uns zwar Hinweise darauf, was wir zu mögen scheinen, aber sie können keinen moralischen Anspruch erheben, es sei denn wir formulieren die Erkenntnis: Die Tendenz des Erstrebens und Vermeidens von Zielen wird bei allen Menschen durch ihre Gefühle festgelegt. Daraus würde wiederum die bösartige Nötigung entstehen: Folge deinen Neigungen! Auf diese Weise würde die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien ein Prinzip einsetzen, das sie selbst in allen denkbaren Fällen dem unterordnet, was eigentlich nur in vereinzelten konkreten Manifestationen besteht. Ein Gefühl, ein Affekt, eine (Ab-)Neigung sind demnach Anzeichen für unsere Befindlichkeit; aber sie haben keinen verbindlichen Wert: Weder zeigen sie über den Moment hinaus, wie wir uns verhalten sollen, noch geben sie uns eine klare Linie vor, nach der wir unseren Charakter ausrichten oder gar mit anderen Menschen in einen moralischen Diskurs eintreten könnten. Die Gefühle werden nicht von uns selbst hervorgebracht! Sie werden hervorgerufen durch bestimmte Reize und dann erst denkend als bestimmte Gefühle kategorisiert. Wer sich in jeder Handlungsmaxime an dem orientiert, was die Neigungen vorgeben, der läßt sich durch die jeweiligen Umstände fremdbestimmen: a) Weil man sich entscheidet, den Gefühlen zu folgen, ohne dieser Entscheidung überhaupt gewahr zu werden; b) weil das Verhalten dann absehbar so wechselhaft auftritt, wie die Situationen variieren, in denen Menschen stehen können; c) weil wir folglich unter der zusätzlichen Prämisse der Gesetzmäßigkeit der Natur – wenn wir dies als stoischen Ausweg aus a) und b) wählen würden – unsere Freiheit aufgeben würden. Müssen wir uns denn unbedingt als freie Wesen denken? Die Angriffe auf die Willensfreiheit sind ja in den aktuellen philosophischen Debatten wiedermal erdrückend.17 Wir müssen mit Kant jedoch auf folgende Beziehung pochen:

16

Der nächste Abschnitt führt uns in die Nähe der Ausführungen zur »wahren Demuth« in MdS (I. Kant: Werke [Anm. 2] VI 435 f.), aber insgesamt hat Kant selbst m.E. keine transzendental-philosophische Untersuchung der Scham eigens ausgeführt. 17 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind (München 2009) 107 ff.

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Wer sich als moralisches (und mithin als ethisches) Wesen versteht, der muß sich auch als freies Wesen denken. Verbindlichkeit in sittlicher Hinsicht kann nur durch die Form der Regel in der Maximenbildung gewährleistet werden. Damit soll nicht behauptet werden, wir wüßten im Zuge der Vernunftbestimmtheit des Willens bereits, wie eine Maxime aussähe – das ist eben nicht der Fall, weil die Zusammensetzung der Willensbestimmung schon aufgrund der ständig variierenden Neigungen, Reize etc. einem Wandel unterliegt. Nehmen wir die Prinzipien der Vernunft nicht als Form mit in diese Bestimmung auf, so erlischt die sinnvolle Annahme eines Willens überhaupt: Wir wären bloße Reiz-Reaktionsmaschinen. Als uneingeschränkt gut können wir uns daher allein den reinen guten Wille vorstellen (vgl. IV 393) – diese Tautologie zeigt uns sehr deutlich, daß Kant nicht davon ausgeht, der reine Wille könne umfassend unsere Handlungen bestimmen. Der Begriff des Guten kann vielmehr nur aus der Bestimmung des Willens durch die Vernunft überhaupt als moralischer Wert akzeptiert werden. Der gute Wille sagt uns noch nichts darüber, was wir im Einzelfall tun sollen – er zeigt uns lediglich, daß wir den Willen bestimmen können, auch wenn die je wechselnde Materie der Willensbestimmung hinzukommt. Die Unterordnung der einzelnen Neigung unter die Regel der Vernunft ruft eine gewisse Harmonie in diesem Verhältnis hervor, wenn es durch die Vernunft auf diese Weise gewählt wurde. Hieraus entspringt die Achtung als reines Gefühl. Gleichsam reicht der Gedanke der Scham über die Achtung an die Schönheit heran;18 wo Scham nicht eigens etwas moralisch Verwerfliches vor Augen führt, da spielt sie möglicherweise in die innere und äußere Schönheit des Menschen hinein – aber diesem Gedanken können wir hier leider nicht weiter folgen, denn die Moralität beansprucht rigoros ihr Primat. Ob wir nun wirklich frei sind oder nicht, das können wir nicht erkennen – aber wir müssen uns notwendig als freie Wesen denken. Was passiert, wenn wir diese Gedanken ablehnen? Wir verneinen das Vermögen, das diese Grundsätze ablehnt damit augenblicklich selbst. Es ist ganz so, als ob sich das Denken selbst aufheben würde. Dabei liegt der Grund hierfür doch einzig in der Denkensvergessenheit des Diesen-Gedanken-Denkenden. Wer akzeptiert, ein vernünftiges Wesen zu sein, der kann, bei einer gewissen Interpretation der Kantischen Ausführungen, nicht mehr sinnvoll die Strukturen der praktischen Vernunft verneinen, weil selbst die Verneinung sie nur bestätigen würde. Verneinen wir die Prämisse, vernünftige Wesen zu sein, oder handeln wir aus einem bösen Hang heraus (indem wir bewußt die Hierarchie der Willensbestimmung so umkehren, daß die Neigung als Regel und die Regel als das Einmalige der Handlungssituation aufgefaßt würde), so degradieren wir uns selbst auf den Status der Nichtswürdigkeit: Wir tun so, als ob wir keine Personen mehr wären, sondern auf der Ebene der

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Vgl. Kuno Fischer: Immanuel Kant und seine Lehre (Heidelberg 1910) 199.

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Tierheit stünden, die in ihren Instinkten und Neigungen genügend Leitung für ein sorgenfreies Leben findet. An diesem Punkt nun tritt die Scham ins Spiel, die wir unten aber anders als die Achtung nicht mehr transzendental-kritisch, sondern nurmehr transzendental-philosophisch behandeln können: Bisher ging es nämlich lediglich um die Möglichkeiten des Denkens über das praktische Vernunftvermögen. Vernunft ist definiert als das Vermögen der Prinzipien (III 238, B 356). Was die Vernunft also über sich selbst schließen kann, wenn sie nicht mit der Anschauung verbunden ist, sondern mit dem Begehrungsvermögen, ist eine Erkenntnis, die aus der Verbindung von reiner Anschauung (Nacheinander und Nebeneinander) und reinen Verstandeskategorien, Urteilen und Schlüssen resultiert. Damit ist noch nichts gewollt, sondern nur eine Struktur in das System des Denkens von Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen und Gefühl gebracht. Als Menschen müssen wir uns nach Kant auf diese Weise verstehen, oder wir tun so, als ob wir keine Menschen wären. Die Erkenntnis eines Guten außerhalb oder vor dem moralischen Gesetz in uns – z.B. die Natur –, würde uns aller Moralität berauben! Wir generieren vielmehr selbst das höchste Gut, das durch die Postulate der praktischen Vernunft (Unsterblichkeit der Seele, das Ideal Gottes) zum Streben nach der vollkommenen Sittlichkeit (Tugend, Glückswürdigkeit) auffordert. Die Absonderung des wechselnden Willensmaterials läßt uns demnach in die Struktur des Begehrungsvermögens und in seine Verbindung zur Vernunft Einsicht erhalten. Das heißt nicht, daß Kant in irgendeiner Weise gehofft hätte, wir wären als Menschen jemals wirklich frei von Neigungen. Jedoch muß die Tatsache, daß es Moral geben kann, auf dem Faktum der Vernunft und der notwendigen Verbindung von Moralität (als Denkgrund der Freiheit) und Freiheit (als notwendig zu denkender Seinsgrund der Moral) ein für allemal begründet werden, um allen moralphilosophischen Überlegungen einen geeigneten Platz zuordnen zu können.19 Es ist dabei m.E. oftmals ein Versäumnis in der Kantforschung, daß die Differenz zwischen transzendentaler Kritik und Transzendentalphilosophie nicht immer ausreichend berücksichtigt wurde. Zusätzlich läßt sich auf diesen Mangel vielfach auch die Fehleinschätzung der Metaphysik in Kants Werk zurückführen. Transzendentalphilosophie soll als neue Metaphysik möglich werden, sobald wir die Grenzen der Erkenntnis transzendental-kritisch bestimmt haben.

19 Wir beschreiten diesen Weg zur »Metaphysik« (als Transzendentalphilosophie) also nicht: spekulativ, material oder analytisch, sondern: notwendig, synthetisch, formal und rein.

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III. Der Versuch einer transzendental-philosophischen Bestimmung der Scham in Anlehnung an Kant Die anthropologische Untersuchung zielte auf das Naturphänomen der Scham ab, wie es beobachtet werden kann. Sowohl bei anderen als auch bei uns selbst, ergibt sich somit ein empirischer Zugang zum innerlichen und äußerlichen Ausdruck der Scham durch die Erfahrung der Gefühlsbewegungen im Vergleich zu den bekannten herrschenden Sitten eines Kulturkreises. Das innere Phänomen der Scham, so hier die Hypothese, muß dabei auf den Bedingungen der Möglichkeit einer Moralität überhaupt aufbauen. In theoretischer Hinsicht20 erkennen wir die Scham durch die Empfindung als ein Auftreten in einer Reihe von wechselhaften Zuständen. Diese Erfahrung ist nur auf der Basis der reinen Anschauung im Nacheinander möglich. Selbst die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung bedarf des räumlichen Ordnungssinns (Nebeneinander). Die steten Wechsel werden in eine Abfolge von körperlichen Zuständen gestellt, die der Verstand in kausale und wechselwirkende Beziehung untereinander und zur Umwelt setzt. Bereits die Segmentierung in abgrenzbare Gefühlseinheiten muß dabei auf die begrifflichen Funktionen des Denkens (Kategorien) bezogen werden; im Vollzug der Zustände empfinden wir eben nicht notwendig solche Grenzen, sondern vielmehr je aktuales Fühlen, Erinnern etc., das sich szs. im steten Fluß befindet. Leiblichkeit und damit einhergehend die Endlichkeit, die Fehlbarkeit und Unvollkommenheit lassen uns aber die Moralität unseres Wesens allererst erkennen. Selbst diese Ausführungen bestätigen doch durch die Anwendung der Negation, Einheit/Vielheit, Wechselwirkung und Modalität eine unhintergehbare Grundstruktur im Denken der Möglichkeit eines Affekts. Das Denken anerkennt dabei in praktischer Hinsicht die körperliche Komponente der Scham als wie auch immer gearteten Ausdruck der Achtung, die wiederum auf das Faktum der Moralität verweist. Scham stellt also eine Art intentionales Zwischenphänomen dar: Zwischen der theoretischen und praktischen Urteilsebene der Vernunft, zwischen dem bloßen Denken (wie es gelebt wird) und dem aktualen Leben (wie es gedacht wird), zwischen dem vereinzelten Vernunftwesen und seinesgleichen – dieses Zwischen sowie die Synthese werden aber stets wiederum rein denkend erfaßt! Im Bereich der Moralität verknüpft die Scham nun zugleich das Vermögen des Gefühls von Lust/Unlust mit der Willensbestimmung. Wenn sie auch selbst keine eigenständige Moralität begründen kann, so ist sie damit doch die Bedingung der Möglichkeit zur Veränderung von Handlungs- und Haltungseinstellungen durch eine Rückwirkung der harmonisierten Hierarchie von Vernunftregel und Neigung. In der Bestimmung des Willens wirkt

20

Dazu zählt bei Kant auch das Technisch-Praktische (vgl. I. Kant: Werke [Anm. 2] V 172).

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das unangenehme Gefühl als Affekt auf die Gestaltung der Willensbestimmung zurück: a) über die Erfahrung und b) über die Achtung als reines Gefühl. Die Scham ist deshalb auf höchster Ebene verbunden mit dem selbsttätigen Wunsch des Menschen, seine Würde, Ehre, Eitelkeit und seinen Stolz in moralischem Maß zu wahren.21 Dazu ist weiter erforderlich, daß wir Erinnerungen auswerten und für die Zukunft planen – Kant beschreibt dies u.a. im Rahmen der Furcht vor dem zukünftig Eintretenden. Wir können neutraler also zunächst von Erwartungen und Hoffnungen sprechen, deren Enttäuschung wir nicht gerne sehen würden; allerdings mahnt uns die Möglichkeit der Scham als negative Erwartung für schlechte Zielsetzungen zugleich davor, Ziele anzustreben, die unter dem von uns angestrebten Selbstbild liegen. Vielleicht reicht es zwar zur sprichwörtlichen Plotinischen Scham bereits aus, feststellen zu müssen, daß wir als Menschen nicht vollkommen sind; für uns führt der differenziertere Anspruch der Scham jedoch so weit, dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele und dem Ideal eines vollkommenen Wesens entsprechend in einen steten Prozeß der Vervollkommnung einzutreten. Was unter der anthropologischen Perspektive als dualistisches Menschenbild erscheinen würde, ist auf transzendental-philosophischer Ebene eine Rückführung der Denkebenen auf eine vernünftige Grundlage. Die Scham bestätigt diese Einheit durch ihre gedachte Stellung des Zwischen. Nur so kann die Beschreibung dessen, wie wir Menschen über das Thema Scham denken können, nicht nur zur theoretischen Einheit von Theorie und Praxis (z.B. von Sittlichkeit und Sitte) gelangen, sondern auch im Lebenswandel zur Einheit des Menschen vordringen. Allerdings sollten wir an dieser Stelle erneut betonen: Es handelt sich insgesamt bei dieser Differenzierung und Identifizierung um eine »vorhergän-

21

Es heißt dazu in Verbindung von Ehre und Scham: »Allein da diese moralische Sympathie gleichwohl noch nicht genug ist, die träge menschliche Natur zu gemeinnützigen Handlungen anzutreiben, so hat die Vorsehung in uns noch ein gewisses Gefühl gelegt, welches fein ist und uns in Bewegung setzen, oder auch dem gröberen Eigennutze und der gemeinen Wollust das Gleichgewicht leisten kann. Dieses ist das Gefühl für Ehre und dessen Folge die Scham. Die Meinung, die andere von unserm Werthe haben mögen, und ihr Urtheil von unsern Handlungen ist ein Bewegungsgrund von großem Gewichte, der uns manche Aufopferungen ablockt, und was ein guter Theil der Menschen weder aus einer unmittelbar aufsteigenden Regung der Gutherzigkeit, noch aus Grundsätzen würde gethan haben, geschieht oft genug bloß um des äußeren Scheines willen aus einem Wahne, der sehr nützlich, obzwar an sich selbst sehr seicht ist, als wenn das Urtheil anderer den Werth von uns und unsern Handlungen bestimmte. Was aus diesem Antriebe geschieht, ist nicht im mindesten tugendhaft, weswegen auch ein jeder, der für einen solchen gehalten werden will, den Bewegungsgrund der Ehrbegierde wohlbedächtig verhehlt. Es ist auch diese Neigung nicht einmal so nahe wie die Gutherzigkeit der ächten Tugend verwandt, weil sie nicht unmittelbar durch die Schönheit der Handlungen, sondern durch den in fremde Augen fallenden Anstand derselben bewegt werden kann. Ich kann demnach, da gleichwohl das Gefühl für Ehre fein ist, das Tugendähnliche, was dadurch veranlaßt wird, den Tugendschimmer nennen.« (Ebd. II 218)

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gige« Denkleistung, nicht selbst um ein Gefühl. Wenn die Scham nämlich als eine Art Gefühlsschranke, d.h. als Grenze, als Wahrung, als Umfassung bestimmt wird, basiert sie dem Gedanken nach ursprünglich auf der Moralität im Kantischen Sinne. Wenn wir nun in Anlehnung an die Apperzeption sagen können: Ich denke also über das Gefühl so, als ob das »ich achte« alle meine Gefühle begleiten müsse, so steht auch über jedem Gefühl die Acht der Scham. Hier ist die Scham nicht mehr als konkreter Affekt gedacht, sondern als die Möglichkeit insgesamt, daß der Affekt in Form einer inneren Sanktion zu einem herabwürdigenden Gefühlsausleben hinzukommen kann. Formal-psychologisierend ausgedrückt bedeutet dies: Die Scham dient als Ausdruck der Reaktanz, die in der Heteronomie als bedroht empfundene Freiheit wieder herzustellen; ich hätte auch anders handeln können, weil ich anders handeln sollte! Sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht führt das Phänomen der Scham folglich zurück auf das Selbstverständnis des Menschen als vernünftiges Wesen (neben anderen vernünftigen Wesen). Diese Prämisse wird von der Vernunft in einem reflexiven Akt erstellt, ohne daß ein Zirkel resuliert: Vielmehr bestätigt sich dieses Denken performativ durch sich selbst im Faktum der Vernunft. Was ist damit für diese Untersuchung gewonnen? Nicht mehr als die Grundlegung einer sinnvollen Diskussionsbasis für den wissenschaftlichen Austausch über die Scham, nicht weniger als die moralische Grundlegung dessen, was wir ohnehin schon längst tun – über die Scham nachdenken, wenn sie uns aus ihrer »Heftigkeit« entlassen hat. Die Sittlichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit der Scham; die Scham selbst aber ist damit eine der notwendigen Bedingungen für das Etablieren einer je auftretenden »Sitte«/ Moral. Die Scham distanziert den Denkenden von sich selbst und führt ihn zugleich zur ursprünglichen Einheit. Die Vermutung Heideggers im sog. »Kant-Buch«22, dem einigen Quell der Vermögen in der Einbildungskraft am nächsten zu kommen, wird von Feger auch in Schillers philosophischen Versuchen hervorgehoben: »In diesem Prozeß der Identitätszerrüttung, der ›doppelten Verirrung‹, hat die Kultur den Status, innerhalb des Antagonismus der Kräfte eine Verteilungsökonomie aufrechtzuerhalten, die deren wechselseitige Limitation vor dem Zerfall in die einseitige Usurpation sicherstellt. Sie verwaltet die Schranke, die vor der leeren Unruhe der Einbildungskraft sicherstellt, indem sie jenen von der Not des Widerstreits befreiten Spielraum schafft, in welchen der Mensch ›in den Schranken des Stoffs vernünftig und unter den Gesetzen der Vernunft materiell handelt‹. Ihr selbst aber ist eine Bewegung immanent, den Mensch mit sich selbst zu entzweien – ohne diese Zerrüttung des inneren Menschen jedoch festzuschreiben: Der repressiven Kontrolle, die sie der Sinnlichkeit auferlegt, koinzidiert die

22

150 ff.

Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. GA 3 (Frankfurt a.M. 1991)

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vorgreifende Tätigkeit der Vernunft. Gerade diese Rolle der Kultur aus der Perspektive der Scham aber bedarf – so Schiller – eines Korrektivs.«23 Während Feger mit Schiller fordert, die Kunst als dieses »Korrektiv« einzusetzen, können wir an dieser Stelle für eine mutige denkerische Gemütsbewegung plädieren, die uns tiefer in die Scham hineindenken und am Grunde der Entzweiung selbst die Einheit unberührt vorfinden läßt. Es kann also nicht als Ziel gelten, die Scham als unangenehmes Gefühl zu beseitigen, sondern gerade die Kultivierung des Gefühls führt uns zur Bestätigung der Vernunftbestimmtheit. Gleichmut wahren und die Angemessenheit oder Unangemessenheit der körperlichen Scham erkennen zu können, sind Möglichkeiten/Ziele, die nur im Bereich der Moralität auftreten. Die Grenzen des vernünftigen Denkens sind durch die Leistungsfähigkeit der Vernunft in Hinsicht auf die Bildung allgemeingültiger (nicht: verallgemeinerter) und notwendiger Erkenntnisurteile selbst gegeben. Darüber hinaus verweisen insbesondere die spekulativen Denkmuster der Vernunft, die als regulative Ideen oder als Postulate zwar keine Erkenntnis, aber doch sehr wohl Zielvorstellungen liefern können. Damit gehören sie aber implizit zum Paradigma des logisch-wissenschaftlichen Denkens mit seinem Erkenntnisanspruch. Daß das Denken aber auch ganz andere Dimensionen eröffnet, können wir seit Heidegger durchaus in das Denken aufnehmen. Wir gestehen also gerne zu, daß es sich im wissenschaftlichen Weltbild um ein sich selbst tragendes System handelt, das seinen höchsten Punkt in der transzendental-kritischen Erkenntnis des Faktums der Vernunft einnimmt. Die Wissenschaft muß sich aber deshalb nicht gegenüber dem Denken schämen, solange sie sich aufrichtig als Wissenschaft zu erkennen gibt.

23 Hans Feger: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers (Heidelberg 1995) 328.

Jürgen Boomgaarden

Das Wissen in der Unwissenheit. Zum Schambegriff bei Søren Kierkegaard

Der Begriff der Scham wird von Kierkegaard in der 1844 erschienenen Schrift Der Begriff Angst bedacht.1 Er findet sich in einem Abschnitt innerhalb des zweiten Kapitels mit dem Titel ›Die Angst, als Erbsünde progressiv verstanden‹. Kierkegaard gibt dort eine allgemeine Erklärung des Schambegriffes, die zuerst völlig unverständlich erscheint. »Mit der Unwissenheit beginnt ein Wissen, dessen erste Bestimmung Unwissenheit ist. Dies ist der Begriff der Scham.«2 Eine Interpretation dieser Erklärung ist nur durch eine Betrachtung der ganzen Schrift in ihren systematischen Grundlinien möglich. Erschwerend kommt hinzu, daß Kierkegaard eine unsystematische Darstellungsweise bevorzugt, bei der statt einer durchgängigen, folgerichtigen Darlegung der tragenden Begrifflichkeit eine Aneinanderreihung von zumeist apodiktischen Bemerkungen erfolgt, die von bildhaften Erklärungen, Anekdoten und geistreichen Hinweisen begleitet wird. Eine solche Vorgehensweise ist dem grundsätzlichen Anliegen des Philosophen und Theologen Kierkegaard geschuldet. Kierkegaard will keine Einsichten in die Grundstruktur des Seins oder Denkens darbieten, denen man zustimmen kann oder nicht, sondern es geht ihm darum, den Anderen auf dessen Existenz oder Selbstsein aufmerksam zu machen. Das Begriffsgerüst, mit dessen Hilfe der Leser auf sich selbst hingewiesen wird, darf nicht mit dem eigenen Selbstsein verwechselt werden.3 Der Leser soll sich keine neue Deutung seiner selbst aneignen, sondern seiner selbst ansichtig werden. Das wesentliche Problem einer solchen Mitteilung liegt in der jedem nur eigenen, inkommensurablen Existenz oder Subjektivität. Wenn es um das eigene Selbstsein geht, ist jede Allgemeinheit, jede allgemeine Aussage grundsätzlich ausgeschlossen. Dennoch läßt sich nur über ein Selbstsein sinn-

1 Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Übers., mit Einl. und Kommentar (PhB 340), hg. von Hans Rochol (Hamburg 1984). Ich folge in der Übersetzung dieser Ausgabe [im Folgenden: BA] und gebe nach der Seiten- und Zeilenzahl noch die jeweilige Seite des vierten Bandes (1902) der Samlede Værker, 1. Auflage, 273–428 an. 2 S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 72, 22f.; IV 338. 3 So dient auch die Schlußbemerkung im Vorwort der Relativierung der eigenen Position: »[…] daß ich jedem, der meine Anschauung teilt, und ebenso jedem, der sie nicht teilt, jedem, der das Buch liest, und ebenso jedem, der mit dem Vorwort genug hat, ein ehrlich gemeintes Lebewohl wünsche!« (S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 4, 27–31; IV 280).

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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voll sprechen, wenn man es in einem allgemeinen objektiven Zusammenhang entfaltet. Um die Abgeschlossenheit und Endgültigkeit eines objektiven Denkens zu vermeiden und die Offenheit und Bewegung der menschlichen Existenz zum Ausdruck zu bringen, verzichtet Kierkegaard auf feste Begriffsdefinitionen. Es verrät – laut Kierkegaard – stets einen sicheren Takt, wenn man sich der Definition von Existenzbegriffen enthält.4 Das Verhältnis zur eigenen Innerlichkeit kann in der Form einer Definition nicht adäquat erfaßt werden, und das ist in der Darstellung zu berücksichtigen. Dennoch ist nach Kierkegaard dem wirklich existierenden subjektiven Denker zu eigen, beständig seine Existenz denkend nachzubilden.5 Davon zeugen die Schriften Kierkegaards. Für die Existenzbeschreibung werden traditionelle philosophische Begriffe wie Geist, Seele, Ewigkeit usw. aufgeboten, die durch Abgrenzung von bisherigen Verständnismöglichkeiten ihre Kontur erhalten. Wenn man danach fragt, was sie für sich bedeuten, erfolgt bei Kierkegaard immer wieder der Hinweis auf das eigene Existieren. Alltägliche Ausdrücke und Redewendungen werden hinzugenommen und erfahren eine neue Deutung. Kierkegaard schreibt, daß nur derjenige Stil habe, »der nie etwas auf Vorrat hat, sondern jedes Mal, wenn er beginnt, ›die Wasser der Sprache bewegt‹, so daß der alleralltäglichste Ausdruck für ihn mit neugeborener Ursprünglichkeit ersteht«.6 Darin liegt wohl die größte Schwierigkeit, aber vielleicht auch der Reiz für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Kierkegaard, daß durch die kaum festzulegende, stets in neuem Licht erscheinende Systematik seiner Gedanken der jeweilige Leser auf das ihm eigene unfaßbare und doch stets präsente Selbstsein aufmerksam gemacht werden soll. Wie das Existieren von Kierkegaard in der ihm eigenen Weise systematisiert wird, soll nun an mehreren Begriffsbestimmungen gezeigt werden. Kierkegaards Verständnis der Angst wird im Mittelpunkt stehen, von dem ausgehend die Phänomene von Sexualität, Scham und Erotik erläutert werden können. In einem letzten Punkt soll auf die zeitliche Dimension der Scham eingegangen werden. Kierkegaard konzentriert sich auf das sexuelle Schamgefühl, dessen Bedeutung sich von seinem grundsätzlichen Existenzverständnis her erschließt.

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S.Kierkegaard: BA [Anm. 1] 161, 30–32; IV, 412. Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Erster Teil (Gesammelte Werke 16), übers. von Hans Martin Junghans (Gütersloh 21988) 78; VII 67. 6 Ebd. 5

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I. Die Existenzbewegung Kierkegaard sieht die menschliche Existenz nicht als etwas Statisches, sondern als einen Prozeß an. Wie kann die Bewegung der Existenz, ihr ständiges Werden, im Medium des Denkens nachgebildet werden? Kierkegaard verwendet die Begriffe Möglichkeit und Wirklichkeit, um das Werden einsichtig zu machen.7 Werden beinhaltet eine Veränderung und zwar eine vom Nicht-Dasein zum Dasein. Nur was vorher nicht ist, kann werden, was schon da ist, nicht. Und doch kann dieses Nicht-Sein, bei dem das Werden anhebt, auch wiederum nicht ›GarNichts‹ sein, sonst könnte nichts werden. Jede Veränderung setzt ein ›Etwas‹ voraus. Wodurch kann nun dieses Nicht-Sein, das doch in gewisser Weise ein Sein ist, ausgedrückt werden? Kierkegaard setzt hier den Möglichkeitsbegriff ein. Möglichkeit bezeichnet diese Einheit von Sein und Nicht-Sein. Von der Möglichkeit findet im Werden der Übergang zur Wirklichkeit statt. Das Mögliche wird zum Wirklichen. Aber dieser Übergang ist noch genauer zu betrachten. Kierkegaard denkt die Möglichkeit nicht im Sinne einer unerfüllten Wirklichkeit, die als solche eine noch nicht vollständige Wirklichkeit wäre. Er betont, daß das Mögliche in dem Augenblick, in dem es wirklich wird, sich als Nichts erweist. Die Wirklichkeit vernichtet die Möglichkeit. Die Veränderung findet ja vom Nicht-Dasein zum Dasein statt. An einem Beispiel verdeutlicht: Wenn die Möglichkeiten zum Torerfolg in einem Fußballspiel größer werden, ist damit allein noch nichts für die Wirklichkeit eines Torerfolgs gewonnen. Diese leidvolle Erfahrung dürfte jedem Sportsfreund bekannt sein. Wenn kein Tor in Wirklichkeit fällt, waren alle Möglichkeiten umsonst. Von der Möglichkeit her besteht keine Notwendigkeit zur Wirklichkeit. Da ist – wie Kierkegaard sagt – ein »Sprung« dazwischen.8 Andererseits bedarf es der Möglichkeiten, daß überhaupt ein Tor fällt. Im Rückblick reden wir dann aber streng genommen nicht mehr von einer Möglichkeit, die zur Wirklichkeit wurde, sondern die Möglichkeit, die herausgespielt wurde, gehört zur Wirklichkeit, wie das Tor geworden ist. Die Wirklichkeit vernichtet die Möglichkeit, und es ergibt sich ein Werdeprozeß. Aber was ist das für ein Sprung, der zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit liegt? Diejenigen, die das Tor kassiert haben, werden vielleicht sagen: Zufall! Die Sieger werden entgegnen: Wir waren so gut, das Tor mußte fallen – Notwendig-

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Vgl. zum Folgenden Sören Kierkegaard: Philosophische Bissen (PhB 417), hg. von Hans Rochol (Hamburg 1989) 72 ff.; IV, 236 ff. 8 Zur Kategorie des Sprunges im Begriff Angst siehe S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 123, 14– 22; IV 381.

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keit! Kierkegaard würde sagen: Weder noch – eher etwas dazwischen: Es war ein freies Geschehen, weder Zufall – die Torchance wurde schön herausgespielt – noch Notwendigkeit angesichts der vielen vergebenen Chancen. Werden im existentiellen Sinne ist ein Geschehen in Freiheit, ein Geschehen, das nicht durch irgend etwas, durch den Willen oder Verstand, notwendig herbeigeführt wird, das aber auch nicht als zufällig zu betrachten ist, weil die Wirklichkeit von der Möglichkeit her entsteht und nicht aus einem bloßen Nichtsein heraus. Der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit wird von Kierkegaard nicht als eine kontinuierliche Entwicklung angesehen und ist deshalb im eigentlichen, existentiellen Sinne kein Übergang, sondern ein Sprung. Dennoch ist auf einer psychologischen Ebene der Sprung durchaus im Sinne eines Übergangs zu betrachten, der in der »psychologisch-hinweisenden Überlegung«9 des Buches Der Begriff Angst in höchster Differenzierung dargelegt wird. Der psychologisch im Sinne eines Übergangs zu betrachtende Sprung, dem Kierkegaard seine Ausführungen im Begriff Angst widmet, ist der Sündenfall. Als existentielles und ethisches Geschehen betrachtet, ist er ein Werden zum sündigen Dasein des Menschen, dem keine Notwendigkeit noch Zufälligkeit innewohnt, sondern das sich in unbegreiflicher Freiheit vollzieht. Ihr existentielles Gewicht erhält diese Deutung dadurch, daß in der Sündenfallgeschichte des ersten Buches der Bibel für Kierkegaard ein Geschehen beschrieben wird, das jeder menschlichen Existenz eigen ist. »Der Mythos läßt dasjenige äußerlich vor sich gehen, was innerlich ist«10 – und diese Innerlichkeit betrifft die Existenz jedes Menschen. Um die Bedeutung des Sündenfallgeschehens zu verstehen, muß man alle landläufigen Vorstellungen von Sünde beiseite tun. Sünde besteht nicht in einem moralischen Fehltritt, sondern meint eine Verfehlung des eigenen Selbstseins in seiner Gottesbeziehung. Sünde zeigt sich für Kierkegaard wesentlich in der Dezentrierung des Menschen, im Selbstverlust. Die Knechtschaft der Sünde ist der Zustand, von dem Kierkegaard sagt, daß er ihn nicht besser zu beschreiben weiß, »als indem ich an ein bekanntes Spiel erinnere, bei dem zwei Mitspieler von einem Mantel verdeckt sind, so als wäre es ein einziger Mensch, und der eine nun redet, während der andere dabei ganz ohne Zusammenhang mit dem Gesagten gestikuliert«.11

9 Der Untertitel von Begriff Angst lautet: »Eine schlichte psychologisch-hinweisende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde«. Eine gute Darstellung und Kommentierung des Gedankenganges von BA bietet Walter Dietz: Sören Kierkegaard, Existenz und Freiheit (Frankfurt/M. 1993) 253–361. Zu weiteren Aspekten des Werkes siehe Kierkegaard Studies Yearbook 2001. 10 S. Kierkegaard: BA [Anm. 1]47,20f.; IV 317. 11 Ebd. 130,3–7; IV 386 f.

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Der Wirklichkeit, die sich mit dieser Dezentrierung einstellt, geht die Möglichkeit, ein Können voraus. Es ist die Möglichkeit der Freiheit.12 Diese Auskunft wäre sofort mißverstanden, wenn man sie in der naheliegenden Weise verstehen würde, der Mensch hätte die Freiheit, zu sündigen oder nicht zu sündigen. Eine solche Auffassung wäre für Kierkegaard eine Gedankenlosigkeit.13 Die Freiheit entsteht erst im Geschehen des Sprunges selbst, weil der Mensch ja erst in diesem Geschehen selbst wird. Nur in der Freiheit ist der Mensch er selbst. Der Mensch hat nicht eine Möglichkeit, in der schon die Wirklichkeit in der Form der Möglichkeit steckt, sondern zwischen beiden ist ein Graben, der nur durch einen Sprung überwunden werden kann. Der Sündenfall gehorcht keiner Logik, sondern ist ein Freiheitsgeschehen. »Das Hereinkommen der Sünde in die Welt logisch erklären zu wollen, ist eine Torheit, die nur Leuten einfallen kann, die in lächerlicher Weise darum besorgt sind, eine Erklärung zu erhalten.«14 Dennoch kann man, wie schon erwähnt, auf der psychologischen Ebene den Sprung, diesen unerklärlichen Wechsel von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, von der Unschuld zur Schuld auch erklären. Diese Erklärung macht den Sprung nicht zu einem Übergang, vielmehr wird die ethisch-existentielle Betrachtung, welche die Unerklärlichkeit der Sünde festhält, durch eine psychologische Betrachtung ergänzt, die den Sprung im Sinne eines Übergangs verständlich macht. Die wichtigste psychologische Bestimmung für die Erläuterung des Übergangs ist der Begriff Angst. Eine kleine Skizze soll die beschriebene Grundstruktur der Existenzbewegung zusammenfassen.

Unerklärlicher »Sprung«, freier Prozess der Selbstwerdung

Möglichkeit der Existenz, Noch-nicht-selbst-sein

Psychologische Erklärung des Sprungs durch das Phänomen der Angst

12 13 14

Ebd. 50, 20f.; IV 320. Ebd. 50, 23; IV 320. Ebd. 50, 39 – 51,4; IV 320.

Wirklichkeit der Existenz, dezentriertes, schuldiges Selbstsein

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II. Der Begriff Angst Die nähere Beschäftigung mit dem Begriff Angst als der entscheidenden psychologischen Bestimmung für den Übergang von der Unschuld zur Schuld ist für das Thema der Scham unumgänglich, weil diese von Kierkegaard als Angstphänomen ausgelegt wird. Um den Angstbegriff Kierkegaards näher zu klären, ist zuerst zwischen Angst und Furcht zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist vor allem durch Heidegger populär geworden, aber schon Kierkegaard hat ihr eine existentielle Prägung gegeben.15 Während Furcht sich auf etwas Bestimmtes bezieht, hat die Angst das Nichts zum Gegenstand.16 Man ängstigt sich selbst vor nichts. Dieses Nichts ist im Sinne einer Unbestimmbarkeit aufzufassen, die Angst macht. Der Mensch, der sich ängstigt, bekommt eine Ahnung von der vollkommenen Unsicherheit der eigenen Existenzbewegung. Der Mensch wird eines unberechenbaren, völlig offenen, eben darin durch nichts gekennzeichneten Zustandes ansichtig. Es ist der Abschied von jeglicher überschaubaren Kontinuität, durch den man erst auf die eigene Existenz aufmerksam wird. Wenn wir nicht wissen, was mit uns selbst sein wird, haben wir Angst und werden auf uns selbst aufmerksam. Und dieses Aufmerksamwerden ist die wesentliche Aufgabe des Menschen. »In einem von Grimms Märchen wird von einem jungen Burschen erzählt, der auf Abenteuer auszog, um zu lernen, wie man sich ängstigt. Wir wollen jenen Abenteurer seinen Weg gehen lassen, ohne uns darum zu kümmern, wieweit er auf seinem Weg dem Entsetzlichen begegnete. Was ich dagegen sagen will, ist, daß jeder Mensch dieses Abenteuer zu bestehen hat, nämlich zu lernen, wie man sich ängstigt, damit er nicht entweder dadurch verloren geht, daß ihm nie angst gewesen ist, oder dadurch, daß er in der Angst versinkt; wer dagegen gelernt hat, sich in der richtigen Weise zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt.«17 Wie man es lernt, sich in der richtigen Weise zu ängstigen, kann im Weiteren nur skizziert werden, aber die eine Gefahr, daß der Mensch dadurch verloren geht, daß ihm nie angst gewesen ist, läßt sich schon erschließen: Ein solcher Mensch wurde nie aufmerksam auf sich selbst. Angst ist ein Verhalten, das ich mir selbst gegenüber habe. Wer seine Existenzangst verdrängt, hat sein Existieren und damit sein Menschsein verdrängt – so wie ein Denker, der bei all seinem Denken

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Martin Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 1993, 17. Aufl., unveränd. Nachdr. der 15. Aufl.) 344: »Die Furcht hat ihre Veranlassung im umweltlich besorgten Seienden. Die Angst dagegen entspringt aus dem Dasein selbst.« 16 S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 42, 1 ff., 14–19; IV 313. 17 Ebd. 171, 3–13; IV 421.

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vergessen hat, daß er existierend ist und damit einen Versuch macht, aufzuhören, Mensch zu sein und statt dessen ein Buch zu werden versucht.18 Erst die Angst macht den Menschen auf sich selbst aufmerksam. Weil die Angst kein bestimmtes Objekt hat, sondern einem nichtigen Zustand gilt, ist sie nicht durch etwas Äußeres verursacht, sondern ein Geschehen, das der Mensch selbst produziert.19 Ein von Kierkegaard aufgegriffenes Beispiel kann diese Eigenart der Angst verdeutlichen.20 Wenn jemand sich selbst an das Lottospiel verloren hat und glaubt, sich selbst darin zu finden, dann wird er den Glauben an die Lotterie nicht dadurch verlieren, daß er ständig im Spiel verliert – also durch ein äußeres Ereignis –, sondern er muß den Glauben an die Lotterie durch sich selbst verlieren. Was heißt das? Nur wenn er selbst die Angst aufbringt, die dem Lottospiel seine Bedeutung für ihn selbst nimmt und dessen Nichtigkeit hervortreten läßt, wird er von der Lottosucht lassen können. Der ›Gegenstand‹ der Angst ist das Nichts, nichts Äußeres-Endliches. Der Mensch konfrontiert sich in der Angst also mit dem Un-Endlichen und kommt von seiner Selbstbindung an das Endliche los, er wird frei. »[…] die Angst macht kurzen Prozeß; sie setzt augenblicklich den Trumpf der Unendlichkeit, der Kategorie ein, und den kann die Individualität nicht stechen. Das Schicksal, seinen Wechsel, seine Schläge in einem äußerlichen Sinne fürchten kann eine solche Individualität nicht; denn die Angst in ihr hat das Schicksal schon selbst gebildet und ihr absolut alles genommen, was irgendein Schicksal nehmen kann.«21 Der Mensch, der diese Angst aufbringt, bewegt sich in der Möglichkeit, weil er sich selbst an nichts mehr vermeintlich ›wirklich‹ Festes klammern kann – das vermag der Mensch nur in seiner Angst zu vergegenwärtigen. So wird er auf sich selbst aufmerksam und auf die Möglichkeit, er selbst zu werden. Der Mensch hat zu lernen, sich zu ängstigen. Das ist Kierkegaards individuelles Bildungsprogramm für den Menschen: »Wenn im Leben irgendein außerordentliches Ereignis eintritt, wenn ein welthistorischer Held Helden um sich sammelt und Heldentaten vollbringt, wenn eine Krise eintritt und alles Bedeutung erhält, dann möchten die Menschen dabei sein; denn das bildet. Schon möglich. Aber es gibt eine weitaus einfachere Art, weitaus gründlicher gebildet zu werden. Nimm den Schüler der

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Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Erster Teil [Anm.5] 85; VII 73. 19 Ebd. 171, 15–20; IV 421. 20 Ebd. 176, 25–28; IV 425. 21 Ebd. 176, 33 – 177, 1; IV 425 f.

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Möglichkeit; setze ihn mitten auf die jütländische Heide, wo es kein Ereignis gibt und wo das größte Ereignis darin besteht, daß ein Birkhuhn brausend auffliegt, er wird alles vollkommener, genauer, gründlicher erleben als derjenige, dem im Theater der Weltgeschichte applaudiert würde, wenn er nicht durch die Möglichkeit gebildet ist.«22 Wenn der Mensch nun in seiner Angst auf sich selbst aufmerksam wird, dann nimmt er nicht so etwas wie einen festen Selbstkern bei sich wahr, sondern ist in eine Bewegung gesetzt, die ihm seinen eigenen Selbstverlust aufdeckt, den er durch seine verfehlte Gottesbeziehung herbeigeführt hat. Diese Bewegung hebt bei einem Noch-nicht-Selbst-Sein an und führt zum Selbstverlust. Um ein Mißverständnis zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, daß diese Bewegung nicht eine innerhalb der Zeit ist. Ansonsten würde Kierkegaard den Menschen geradezu zur Sünde auffordern. Die zu entdeckende Existenzbewegung gehört dem Menschen von je her an, in ihr sind Zeit und Ewigkeit miteinander verbunden. Auf die zeitliche Dimension des Selbstseins werde ich im letzten Abschnitt meiner Ausführungen noch eingehen. Im Noch-nicht-Selbst-Sein, bei dem die Existenzbewegung ansetzt, befindet sich der Mensch noch im Stadium des ›träumenden Geistes‹23. Der Begriff Geist erklärt weiter das Selbstsein des Menschen. Er meint eine Durchsicht, Transparenz, so wie man mittels seines Verstandes einen Sachverhalt durchschaut. Nun ist diese Durchsicht aber nicht auf äußere oder innere Eigenschaften seiner selbst und damit auf eine bloße Verstandeserkenntnis bezogen, sondern auf sich selbst. In seinem Geistsein bewegt sich der Mensch in einer klaren Beziehung zu sich selbst – und zu Gott. Dieses Selbstbewußtsein darf nicht in einem abstrakten Sinne verstanden werden, bei dem vom konkreten Dasein des Menschen abgesehen würde. Der Kierkegaardsche Selbstbegriff meint kein reines Selbstbewußtsein, um das herum unser konkretes Dasein gebildet ist, sondern das Selbst ist für Kierkegaard das Konkreteste. »Der konkreteste Inhalt, den das Bewußtsein haben kann, ist das Bewußtsein von sich selbst, vom Individuum selbst, nicht das reine Selbst-Bewußtsein, sondern das Selbst-Bewußtsein, das so konkret ist, daß kein Schriftsteller […] es jemals vermocht hat, ein einziges solches Selbstbewußtsein zu beschreiben, während jeder einzelne Mensch ein solches ist.«24 Die Konkretion besteht darin, daß der Mensch sich nicht als irgend etwas oder irgendwer versteht und damit sich von sich selbst entfernt, sich von sich selbst ab-

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Ebd. 176, 2–14; IV 425. Ebd. 42, 6; IV 313. Ebd. 157 ,12–19; IV 409.

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strahiert, sondern ganz bei sich selbst ist. Bin ich ›ganz konkret‹ gemeint, spricht man mich als Individuum an, das nicht mit einem anderen austauschbar ist. Wenn Kierkegaard den Geist als träumenden bezeichnet, ist der Mensch noch nicht in der Grundbewegung seiner Existenz und damit auch noch nicht konkret er selbst, der Geist ist noch nicht gesetzt. Da ist schon etwas, nichts Bestimmtes, aber doch schon Anwesendes, das den Menschen beunruhigt, eben Angst macht. Der Mensch befindet sich in seinem Selbstsein noch in der Möglichkeit, nicht in der Wirklichkeit. Damit ist er noch nicht frei – Freiheit hätte er nur in seinem Selbstsein. Die Existenzbewegung bedeutet für den Menschen in ihrem Möglichsein die Möglichkeit der Freiheit. Er verwirklicht sie erst im Sprung zur Wirklichkeit. Der Mensch hat die Freiheit in ihrer Möglichkeit vor Augen. Kierkegaard spricht von dem »sich vor sich selbst Zeigen der Freiheit.«25 Das darin liegende potentielle Selbst ist es, das sich ängstigt. Um diesen Gedankengang Kierkegaards besser zu verstehen, muß man sich von der Vorstellung fester Subjekte oder eines festen Ichseins verabschieden. Die Person wird von Kierkegaard in ihrer Bewegung gedacht. In die Grundbewegung der Existenz hinein wird das Selbstsein – und dort, wo es nur als Möglichkeit anhebt, produziert es Angst. Das Selbstsein ist nicht einfach da oder nicht, sondern ist im Werden, das als Übergang durch eine psychologische Zwischenbestimmung, durch die Angst, beschrieben werden kann. Kierkegaard erläutert die Angst näher als sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie.26 In der Angst sind wir von dem, was uns angst macht, nicht nur abgestoßen, sondern auch angezogen. Kierkegaard weist darauf hin, daß wir ja auch von der süßen Angst sprechen.27 Die abstoßende Ungewißheit, die zur Angst gehört, hat auch etwas Attraktives, etwas Lockendes. Kierkegaard kann besonders bei Kindern eine unschuldige Angst ausmachen: »Wenn man Kinder beobachtet, so wird man diese Angst als Suchen nach dem Abenteuerlichen, dem Ungeheuren, dem Rätselhaften in bestimmterer Weise angedeutet finden […] Diese Angst ist dem Kind so wesentlich eigen, daß es sie nicht entbehren möchte, wenn sie es auch ängstigt, so fesselt sie es doch mit ihrer süßen Beängstigung.«28 Es ist das Unbestimmte, das Nichts, was zugleich lockt und abstößt – beides macht die Angst aus. Die Angst gehört zu dem genannten »sich vor sich selbst Zeigen der Freiheit«.

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Ebd. 121, 7; IV 379. Ebd. 42, 24 f.; IV 313. Ebd. 42, 27 ff.; IV 313. Ebd. 42, 34 – 43, 3; IV 314.

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In seiner Angst ist der Mensch noch nicht als er selbst, als Geist gesetzt, sondern er befindet sich im Status der Möglichkeit. Aber was passiert nun? Geht der Mensch in seiner potentiellen Geistigkeit, in seiner Möglichkeit der Freiheit, dem ›Sich vor sich selbst Zeigen der Freiheit‹, zur Wirklichkeit der Freiheit über? In der Wirklichkeit erhebt sich durchaus wieder die Freiheit, aber sie muß sich nun als schuldig und darin unfrei ansehen.29 Es ist die Wirklichkeit der Sünde, in welche die Freiheit gefallen ist. Man darf den Freiheitsbegriff im Begriff Angst nicht im Sinne von Handlungsmöglichkeiten des Individuums verstehen. Kierkegaard deutet Freiheit im Sinne von menschlicher Offenheit. Der Mensch ist frei, der sich nicht in sich selbst verschließt. Deshalb ist Freiheit nach Kierkegaard das, was ausweitet, etwas ständig Kommunizierendes.30 Die schuldige Freiheit ist dann in sich selbst nicht mehr wirklich frei. Kierkegaard interpretiert Unfreiheit als ein Phänomen der Freiheit. In der Unfreiheit steckt immer ein Moment des Sich-selbst-Verschließens. Sünde zeigt sich als willentliche Unfreiheit: »Selbst wenn die Unfreiheit mit den allerstärksten Ausdrücken erklärt, daß sie sich selbst nicht wolle, so ist das die Unwahrheit; es ist stets ein Wille in ihr, der stärker ist als der Wunsch.«31 Um diesen Fall in die Unfreiheit noch verständlicher zu machen, möchte ich von der Kierkegaardschen Bemerkung ausgehen, daß »verstehen, was man selbst sagt, ist eines, sich selbst in dem Gesagten verstehen ist etwas anderes.«32 In den Möglichkeiten der Freiheit erblickt der Mensch die Möglichkeit sich selbst in seiner Existenz an unterschiedlichsten Lebensformen und Dingen festzumachen – so wie das Kind das Abenteuerliche und Ungeheure sucht. Er versteht dann die Lebensformen des Bürgers, des Abenteurers, des Liebhabers usw. als Möglichkeiten seiner selbst. Aber hier ereignet sich ein Selbstverlust. Man macht diese Lebensformen zu seinem Selbst. Man versteht dann selbst genau, was ein Bürger, Abenteurer, Liebhaber usw. ist, aber man versteht sich selbst in diesen Formen nicht mehr. Man verschließt sich selbst in diesen Rollen, versucht sie zu seinem Selbstsein zu machen, aber schließt dabei in Wirklichkeit sich selbst gerade aus. Man verliert sich im Äußeren und steht nicht mehr im Bezug zu sich selbst, man versteht sich selbst nicht in dem, was man sagt. Die Worte haben keine Innerlichkeit bei dem, der sie sagt. Der Mensch verschließt sich vor sich selbst, er verliert seine Freiheit. Die eben erläuterten Bestimmungen sollen in einer Skizze festgehalten werden. Sie setzt die Skizze des ersten Abschnitts fort, indem sie die dort dargestellte

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Ebd. 64, 20 f.; IV 331. Ebd. 135, 26, 36 f.; IV 391. Ebd. 148, 31–34; IV 401 f. Ebd. 156, 31 f., IV 408.

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Bewegung mit Blick auf das Angstphänomen in ihrer psychologischen Eigenart erläutert.

Das Noch-nichtSelbstsein als »träumender Geist«. »befangene Freiheit«

Offene Freiheit anziehend

abstoßend

Angst

Sich-vor-sich-selbstZeigen der Freiheit

Sich selbst verschließende Freiheit

III. Sexualität, Scham und Erotik Kierkegaard ist der Überzeugung, daß das Selbstsein des Menschen nur konkret gedacht werden kann. Das Selbstsein verbindet sich mit Leib und Seele des Menschen. Diese leiblich-seelische Konkretion ist nicht als Tatsache, sondern als existentieller Prozeß zu verstehen. Der Mensch wird in seiner Existenz konkret. Er kann nur in Freiheit, in dem Sprung seines Selbstseins konkret er selbst als Leib-Seele-Wesen werden. Mit dem Begriff der Seele verfährt Kierkegaard ganz im Sinne des Ockhamschen Rasiermessers. Jede spekulative Seelenlehre wird spöttisch zurückgewiesen und »dem bescheidenden Anlaß entsprechend«33 die Seele nur als Organ des Geistigen verstanden. Das Geistige zieht sich durch die seelische Struktur des Menschen bis in dessen Leiblichkeit hinein.34 Aber ebenso muß sich auch das Ausbleiben der geistigen Innerlichkeit, das Schuldig-Sein des Menschen, seine Wirklichkeit der Unfreiheit auswirken. Die Wirklichkeit der Unfreiheit führt zu einer leiblich-seelischen Innenspannung, in der die Phänomene der Scham und Sexualität ihren Ort haben. Damit stellt Kierkegaard einen Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und Sündhaftigkeit des Menschen her, ohne jedoch beides miteinander zu identifizieren. Der Zusam-

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Ebd. 150,3f.; IV 403. Zur Diskussion um das Leib-Seele-Verständnis in BA siehe Walter Schulz: Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard. Bemerkungen zum ›Begriff Angst‹. In: Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve (Frankfurt/M. 1979) 347–366; Jochem Hennigfeld: Die Wesensbestimmung des Menschen in Kierkegaards ›Der Begriff Angst‹. In: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), 269–284. 34

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menhang ergibt sich daraus, daß das geistige Selbstsein des Menschen sich nur in dessen seelisch-leiblicher Synthese vollziehen kann. Der Sündenfall hatte eine doppelte Folge: »… daß die Sünde in die Welt kam und daß das Sexuelle gesetzt wurde, und das eine soll vom anderen nicht zu trennen sein. Das ist von äußerster Wichtigkeit, um den ursprünglichen Zustand des Menschen zu zeigen. Wäre der Mensch nämlich nicht eine Synthese, die in etwas Drittem ruht, so könnte Eines nicht zwei Folgen haben. Wäre er nicht eine Synthese von Seele und Leib, die von Geist getragen wird, so könnte das Sexuelle niemals mit der Sündhaftigkeit hereinkommen.«35 Wie die Phänomene von Scham und Sexualität aus dem Eintritt des Geistes in die seelisch-leibliche Struktur zu erheben sind, bedarf einer näheren Betrachtung. Der sündhafte Mensch kann seine existentielle Bewegung nicht bis in seine Leiblichkeit hinein vollziehen, sondern es bleibt eine Spannung zwischen Geistigkeit und Sinnlichkeit. Diese Gegensätzlichkeit darf nicht in einem klassischen Sinne als eine zwischen reiner Vernunft und niederer Sinnlichkeit gedeutet werden, sondern sie besteht zwischen einer leiblich-seelischen Verbindung einerseits, deren Transparenz im Selbstsein eben Geistigkeit bedeutet, und einer geistigen Undurchdrungenheit im Leiblichen, Sinnlichen andererseits, durch welche die Verbindung gebrochen ist. Mit anderen Worten: Man weiß sich selbst in seiner Sinnlichkeit, aber kann dort dennoch nicht man selbst sein. Die Sinnlichkeit gehört zu einem und dennoch bleibt sie einem fremd. Sinnlichkeit ist hier in einem sehr weiten Sinn zu fassen. Sie steht für alles sinnliche Erleben. Die Sexualität ist der Bereich der Sinnlichkeit, wo der Widerspruch zwischen der in der Seele präsenten Geistigkeit und der mit der Seele durch den Geist selbst verbundenen Leiblichkeit am stärksten ist; »… das Extrem des Sinnlichen ist eben das Sexuelle«.36 Der Mensch ist in seiner sexuellen Triebhaftigkeit in die Differenz von Mann und Frau gesetzt, und doch ist zugleich die Einheit darin angezeigt. Im Selbstsein an sich besteht zwischen Mann und Frau keine Differenz, und doch haben sie sich selbst nur als Mann oder Frau. In der Sexualität stehen der verbindende Anspruch des Geistigen und die Andersheit des Sinnlichen in der stärksten Spannung zueinander. Das Geistige muß sich selbst nicht nur mit dem ihm fremden eigenen Leiblichen verbinden, sondern dazu noch mit der Leiblichkeit des Anderen. Im sexuellen Trieb ist die geschlechtliche Differenz zum Anderen gesetzt.37 Damit ist die Fremdheit aufs Höchste gesteigert. Die geschlechtliche Verschiedenheit des Anderen ist dem ei-

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S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 49, 19–27; IV 319. Ebd. 50, 2 f.; IV 319. Ebd. 73, 5 ff.; IV 338.

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genen Selbstsein verbunden, aber sie bleibt ihm im höchsten Grade fremd. Das macht das Wesen der Sexualität aus. Im sexuellen Trieb, im Sich-selbst-fortpflanzen-Wollen,38 ist der Mensch auf den Anderen aus, mit dem er im gemeinsamen Selbstsein verbunden ist, aber weil diese Zugehörigkeit sich in einem leiblichen Miteinander und in der Leiblichkeit des anderen Geschlechtes vollzieht, wo die eigene Identität nicht durchgebildet ist, entsteht hier zugleich eine maximale Fremdheitserfahrung. »Das Sexuelle ist der Ausdruck jenes ungeheuren Widerspruches, daß der unsterbliche Geist als genus bestimmt ist.«39 Der unsterbliche Geist – ich werde im letzten Abschnitt auf diese Bestimmung zurückkommen – ist vor die Aufgabe der Durchdringung des Seelisch-Leiblichen gestellt und damit in die Geschichtlichkeit hineingezogen.40 Die Sexualität besteht nicht wie bei einem Tier in reinem Instinkt,41 dem kein Selbstsein innewohnt, sondern in ihr ist man selbst in seiner Geistigkeit präsent, deren individuelle Ausprägung und Intensität der eigenen Lebensgeschichte unterliegt. Die geistige Durchdringung des Seelisch-Leiblichen ist mit einer Fremdheitserfahrung verbunden, die etwas ungemein Anziehendes wie auch Abstoßendes hat. Damit wäre wieder der Begriff der Angst aufgegriffen, die im Hinblick auf die Sexualität Scham ist. Der Mensch macht eine Fremdheitserfahrung an sich selbst. Er kann sich selbst in sich nicht verstehen. An diese Fremdheit kann sich der Mensch nur herantasten, denn sie macht ihm Angst. Die angesichts der geschlechtlichen Verschiedenheit aufbrechende Angst ist die Scham. Auf der kognitiv-existentiellen Ebene, auf der Kierkegaard das Phänomen der Scham ansiedelt, bedeutet diese Angst ein Wissen, dessen erste Bestimmung Unwissenheit ist, wie ich schon anfangs zitierte.42 Der Mensch weiß von der geschlechtlichen Verschiedenheit, aber in seinem Wissen weiß er sich selbst nicht in ein Verhältnis zu der anderen Frau oder dem anderen Mann gesetzt. Man selbst – in seinem Selbstsein – erkennt sich nicht als ein in den sexuellen Trieb gesetztes Geschlechtswesen. »Die Scham ist … ein Wissen von der geschlechtlichen Differenz, aber nicht als Verhältnis zu einer geschlechtlichen Differenz, das heißt, der Trieb ist nicht als solcher vorhanden.«43

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Ebd. 73, 5–9; IV 338. Ebd. 73, 25 ff.; IV 338. Ebd. 50, 17–20; IV 319 f. Ebd. 72, 13–17; IV 337. Siehe Anm. 2. S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 72, 27–30; IV 338.

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Der Mensch hat eine Ahnung von seiner sexuellen Bestimmung, weil er um die geschlechtliche Differenz weiß und darin um die Möglichkeit der eigenen Triebbestimmtheit, aber er weiß sich selbst noch nicht darin. Kierkegaard beschreibt damit keinesfalls nur einen pubertären Prozeß, in dem ein Heranwachsender zum ersten Mal seine Sexualität entdeckt und innerlich ergreift. Es geht Kierkegaard um ein Sich-selbst-Setzen in seine geschlechtliche Triebhaftigkeit, das sich immer neu vollzieht und je neu mit dem Schamgefühl verbunden ist. Sich selbst in seiner sexuellen Bestimmung zu wissen macht dem Menschen in der Scham zu schaffen, es macht ihm Angst. Und Angst bedeutet, daß er davon gleichermaßen angezogen wie abgestoßen wird. Angst ist sympathetische Antipathie.44 Diese Zwischenstellung gilt auch für den kognitiven Aspekt der Scham. Scham ist ein Wissen, dessen erste Bestimmung Unwissenheit ist. Der Spruch ›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‹ stimmt hier nicht – gerade das läßt den Puls höher schlagen. Ich weiß eben, daß es da etwas gibt, worüber ich nichts weiß. Und das betrifft nicht irgend etwas, sondern mein Selbstsein! Der Mensch schreckt zurück, sich zu seiner äußersten Sinnlichkeit, seiner Sexualität zu bekennen, und fühlt sich doch selbst dazu hingezogen. »Die eigentliche Bedeutung der Scham besteht darin, daß sich der Geist zu der äußersten Spitze der Synthese sozusagen nicht bekennen kann. Deshalb ist die Angst der Scham so ungeheuer zweideutig. Es findet sich keine Spur von sinnlicher Lust, und dennoch wird Beschämung empfunden, worüber? Über Nichts.«45 Weil der Mensch noch nicht sich selbst in das Triebverhältnis gesetzt hat, kann er auch noch keine sinnliche Lust verspüren, aber er hat eine Ahnung von dem eigenen Selbstsein in der Sexualität, die in ihm die Beschämung auslöst. Der Gedanke ist aber noch ein reines Nichts, nichts Wirkliches. Man könnte hier einwenden, daß Gedanken, die noch keine Gestalt in der Wirklichkeit angenommen haben, doch nicht nichts sind. Aber die eigentliche Nichtigkeit liegt für Kierkegaard darin, daß man den Gedanken noch nicht mit sich selbst in Wirklichkeit verknüpft hat. In dieser Verknüpfung läge die Verwirklichung. Solange diese Verknüpfung nicht stattfindet, bleibt der Gedanke ohne Selbstbezug nichtig, auch wenn in der gedanklichen Möglichkeit sich schon die Wirklichkeit ankündigt. Er hat mit mir nichts zu tun – das macht den Gedanken unwirklich und nichtig, »dieses Nichts […] sieht die Unschuld ständig außerhalb

44 45

Siehe Anm. 26. S. Kierkegaard: BA [Anm. 1] 72, 30–36; IV 338.

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ihrer.«46 Aber in der Ahnung dieses Nichts, in dem Wissen der Unwissenheit, steckt man schon selbst und hat Angst. Diese Bestimmtheit seiner selbst, des eigenen Selbst, im Hinblick auf ein Wissen, das man noch nicht hat, äußert sich im Phänomen der Scham. Deshalb kann Kierkegaard auch sagen, daß das Individuum vor Scham sterben könnte, »und verletztes Schamgefühl ist der tiefste Schmerz, weil er der unerklärlichste von allen ist«.47 Der Mensch ist am tiefsten in seinem Schamgefühl getroffen, weil er darin als er selbst getroffen ist. Er hat noch Angst, sich in seiner Geschlechtlichkeit zu verstehen, und doch wird er bei der Verletzung seines Schamgefühls in dieser Bestimmung offengelegt. Dem Menschen wird das Geheimnis seiner selbst aufgerissen und darin sein wirkliches Selbstsein verletzt. Auf dem Hintergrund der Kierkegaardschen Selbstkonzeption läßt sich das Phänomen des verletzten Schamgefühls sensibel ausleuchten. Der Mensch wird durch die Verletzung seines Schamgefühls als sexuelles Wesen fremdbestimmt. Ihm wird ein Selbstsein zugeschrieben, das er für sich noch nicht angeeignet hat, er hat es noch nicht gesetzt, auch wenn er es ahnt. Mit der Verletzung des Schamgefühls ist eine Störung des werdenden Selbstseins verbunden. Dem Menschen wird ein Selbstsein zugewiesen, das für ihn zutrifft, aber das er noch nicht für sich selbst hat, und zwar ein Selbstsein, das sich im äußersten Gegensatz zur geistigträumenden Verfaßtheit befindet. Diese Fremdbestimmung seiner selbst kann von dem Individuum nur als ein Sterben empfunden werden. Deshalb könnte das Individuum vor Scham sterben. Der Schmerz des verletzten Schamgefühls wird von Kierkegaard als der tiefste beschrieben, weil er der unerklärlichste von allen ist. Der in seinem Schamgefühl verletzte Mensch kann sich selbst nicht erklären, warum ihn das so verletzt, weil er sich selbst in seiner geschlechtlichen Identität noch fremd ist. Er weiß sich noch nicht selbst in seiner Sexualität, und in diesem verborgenen Selbstsein wird er verletzt. Die Scham kann übrigens so groß sein, daß der Mensch in seiner Angst nicht in die Triebbestimmtheit eingeht und er statt dessen, wie Kierkegaard sagt, »nach einer Erklärung aus der höchsten Sphäre des Geistes« greift48 – und dem ethischen Rigorismus oder der Kontemplation verfällt. Neben dem Trieb und der Scham steht noch die Erotik, deren Wesen hier nur kurz skizziert werden soll.49 In der geschlechtlichen ›Versinnlichung‹ des Geistigen liegt ein Scham auslösender Widerspruch, der in einem gegenüber der bloßen Schamerkenntnis tieferen Sinne erotisch zu verstehen ist.

46

Ebd. 42, 4 f.; IV 313. Ebd. 72, 37 f.; IV 338. 48 Ebd. 75, 7 f.; IV 340. 49 Dabei beschränke ich mich auf den Aspekt der Schönheit. Daß das Erotische auch das Komische sein kann, sei nur am Rande erwähnt (Ebd. 73, 13 f.,33 ff.; IV 338 f.). 47

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»Im Erotischen wird dieser Widerspruch in der Schönheit verstanden; denn die Schönheit ist eben die Einheit des Seelischen und des Leiblichen.«50 Die Erotik ist ein Schritt über die Scham hinaus, ohne diese abzulegen. Die Scham ist ein Wissen, dessen erste Bestimmung Unwissenheit ist. Das mögliche Selbst will sich noch nicht der Widersprüchlichkeit und Fremdheit seiner geschlechtlichen Bestimmung aussetzen. In der Erotik wird mehr von diesem Widerspruch verstanden. Er wird mehr in seiner Selbstdimension bewußt und so vergeistigt. Die Widersprüchlichkeit von Seele und Leib drängt sich stärker auf – und so auch stärker ihre Einheit, sonst wäre es kein Widerspruch. Der Widerspruch paßt zusammen, und das ist in seiner Schönheit anziehend – erotisch. Es ist die Schönheit in der Einheit von Leib und Seele, in die jener Widerspruch eingebettet ist. Die Schönheit besteht in einer Vergeistigung des Leiblichen, in welcher der Widerspruch nicht aufgehoben, sondern stehen gelassen wird. Das Erotische kann nach zwei Seiten hin zerstört werden. Zum einen könnte ein »Reflex des Sinnlichen«51 auf das Erotische fallen, der Mensch wäre in seiner Geistigkeit, seinem Selbstsein noch nicht genug fortgeschritten und würde der »Wollust«52 verfallen. Der Trieb gewänne die Oberhand. Oder das Geistige würde sich gänzlich durchsetzen und damit das Erotische neutralisieren. Die Sexualität würde nicht erotisch als Schönheit erlebt, sondern in die Bestimmung des Geistes eingehen,53 der Widerspruch in der Einheit überwunden. In der Erotik wird dieser Schritt nicht gegangen, sondern hier bleibt die Geistigkeit des Menschen gewissermaßen in einer Mittelstellung. Man ist selbst präsent, denn die Verbindung von Leib und Seele kann nur durch einen selbst erfolgen, aber man identifiziert sich nicht selbst mit dieser Synthese, sie bleibt einem in ihrer Geschlechtlichkeit fremd, und man hält sich zurück. Diese Spannung ist erotisch und schamhaft. »Der Geist ist zwar anwesend; denn er ist es, der die Synthese konstituiert, aber er kann sich im Erotischen nicht ausdrücken, er fühlt sich fremd. Er sagt gleichsam zum Erotischen: Teurer! Hier kann ich nicht Dritter sein, deshalb will ich mich so lange verbergen. Das aber ist die Angst, und das ist eben zugleich die Scham […]«54 Die anhebende Geistigkeit in der Erotik ist für Kierkegaard auch der Ansatz der Liebe.Die Geistigkeit des Selbstseins überschreitet die Erotik,welche die Schönheit

50 51 52 53 54

Ebd. 73, 28–31; IV 338 f. Ebd. 73, 35; IV 339. Ebd. 73, 36; IV 339. Ebd. 85, 32–35; IV 349. Ebd. 76, 18–23; IV 341.

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des Anderen liebt, und fördert die Liebe, die der Geistigkeit des Anderen, seinem Selbstsein verpflichtet ist. In der Liebe kommt es nicht auf die Schönheit des Anderen, sondern auf die Erkenntnis seiner Geistigkeit, seines Selbstseins an. Der Andere wird um seiner selbst willen geliebt. Für Kierkegaard hat im Christentum das Religiöse das Erotische zugunsten der Liebe suspendiert, nicht weil das Erotische sündhaft wäre, sondern weil im Geist zwischen Mann und Frau kein Unterschied besteht. Das Sexuelle hat sich in der Liebe so vergeistigt, daß nun gleichsam aus dem Wissen der Unwissenheit in der Scham eine Unwissenheit des Wissens in der Liebe geworden ist. »Die Aufgabe ist natürlich, zu erreichen, daß es [sc. das Sexuelle] in die Bestimmung des Geistes eingeht […] Die Verwirklichung ist der Sieg der Liebe im Menschen, einer Liebe, in der der Geist so gesiegt hat, daß das Sexuelle vergessen ist und der Mensch sich des Sexuellen nur im Vergessen erinnert. Wenn das geschehen ist, so ist die Sinnlichkeit im Geist verklärt und die Angst verjagt.«55 Die folgende Skizze versucht das Wesen von Scham, Erotik und Sexualität nochmals zu verdeutlichen. Sie sind als Formen der selbsthaften Durchdringung der Geschlechtlichkeit zu verstehen. In der Scham ist das Wissen davon noch von Unwissenheit bestimmt. Man weiß schon um die geschlechtliche Differenz, aber ist ihrer noch nicht im Verhältnis zum Anderen bewußt. Der Widerspruch, man selbst in seiner Geschlechtlichkeit zu sein, wird noch verdeckt. In der Erotik wird der schamvolle Widerspruch in seiner leiblich-seelischen Gestalt vertieft und als schön empfunden. Diese anhebende Vergeistigung wird im ganz auf den Anderen ausseienden Geschlechtstrieb wieder verlassen, ohne daß dieser damit ›geistlos‹ wäre. Mit dem Ziel, sich selbst fortzupflanzen, geht der Mensch in seiner geistigen Selbsthaftigkeit in das »Extrem des Sinnlichen«56 ein. Verstehen des schamvollen Widerspruchs in der ›schönen‹ Einheit von Seele und Leib (Erotik)

Das Nochnicht-selbstSein als »träumender Geist«

h e S c hö n otisc he Er it Seele

Leib Scham

Sexualtrieb

Der Andere

Fremdheitserfahrung Selbsthafte Durchdringung des Sinnlichen

55 56

Ebd. 85, 34 – 86, 2; IV 349. Ebd. 50, 2 f.; IV 319.

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IV. Die Scham zwischen Zeit und Ewigkeit Es ist noch auf einen Kontext des Schamverständnisses bei Kierkegaard hinzuweisen, der die zeitliche Dimension der Existenzbewegung zum Thema hat. Kierkegaard entwickelt eine eigene Zeittheorie, die dem Mißverständnis wehrt, als würde die beschriebene Existenzbewegung eine Bewegung in der Zeit sein, etwa in dem Sinne, daß der Mensch aufgefordert wäre, jeden Tag für eine bestimmte Zeit an seine Existenz zu denken. Die Scham verdeckt den Widerspruch in der Verbindung des Geistigen mit dem Geschlechtlichen, das der Mensch in seinem Selbstsein nicht durchdringen kann und das doch zu ihm selbst gehört. Der Widerspruch ist darin auch einer von Zeit und Ewigkeit, wenn der »unsterbliche Geist« geschlechtlich bestimmt wird.57 Der Mensch ist eine Widersprüchliches vereinende Synthese, eine Verbindung des Zeitlichen und Ewigen58. Die Ewigkeit des Geistigen steht in Widerspruch zur Zeitlichkeit des Leiblichen. Diese Formulierungen sind höchst mißverständlich, weil sie eine Art ›objektiver Metaphysik‹ des Menschen nahelegen, die Kierkegaard immer scharf bekämpft hat. Zuerst ist auf den Begriff des Ewigen einzugehen, der den meisten Mißverständnissen ausgesetzt sein dürfte. Das Ewige kann nach Kierkegaard nur in höchst konkretem Sinne verstanden werden. Abstrakte Deutungen der Ewigkeit, als ob sie »wie die blauen Berge die Grenze für die Zeitlichkeit«59 sei, phantastische Deutungen, ausgemalt »mit dem Flittergold der Phantasie«60, oder metaphysische Deutungen im Rahmen der Selbstbewußtseinsanalyse, wie sie der Deutsche Idealismus entwickelte, sind nicht ernstzunehmen. Ernst wird es mit dem Ewigen nur, wenn es dem konkreten Selbstsein des Menschen verbunden ist. Daß es um einen selbst im Leben geht, gibt den konkreten Geschehnissen, in denen man als man selbst gefordert ist, eine zeitübergreifende Bedeutung. Hier wird es ernst. »In den Possierlichkeiten, Zufälligkeiten, den geheimen Winkelzügen des Lebens ist die Seele nicht im wesentlichen Sinne gegenwärtig gewesen; und deshalb wird dies alles vergehen, nur nicht für die Seele, die im wesentlichen Sinne darin war; für sie aber wird es schwerlich eine komische Bedeutung bekommen.«61 Dieser Ernst des Lebens, in der ein Geschehen bedeutsam ist, weil ich in ihm selbst präsent bin und es nicht bloß irgendeine innerzeitliche Bedeutung für mich

57 58 59 60 61

Ebd. 73, 25 ff.; IV 338. Siehe Anm. 39. Ebd. 92, 1 ff.; IV 355. Ebd. 167, 32; IV 418. Ebd. 168, 13 f.; IV 418. Ebd. 169, 25–30; IV 419 f.

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hat, ist als ewig zu bezeichnen. Die anderen Vorstellungen von Ewigkeit sind für Kierkegaard nur Ausflüchte vor der eigenen Existenz, dem eigenen Selbstsein. In dieser Selbstvergessenheit sieht Kierkegaard das christliche Bürgertum seiner Zeit, das für ihn in Wahrheit noch Heidentum ist. Es hat keine rechte Vorstellung von der Ewigkeit und läßt die Zeit verstreichen. »Das Leben des christlichen Heidentums ist weder schuldig noch nicht schuldig, es kennt eigentlich keinen Unterschied zwischen dem Gegenwärtigen, Vergangenen, Zukünftigen, Ewigen. Sein Leben und seine Geschichte laufen dahin, wie die Schrift in jenen alten Tagen über das Papier hinlief, als man kein Interpunktionszeichen verwendete, sondern das eine Wort an das andere, den einen Satz an den anderen kritzelte.«62 Dem christlichen Heidentum läuft die Zeit dahin im Sinne einer unendlichen Sukzession – alles ist gleich. Doch schon wenn man sich an der Bedeutung eines Augenblicks den Unterschied zwischen Gegenwärtigem, Vergangenem und Zukünftigem bewußt macht, wird die Ewigkeit in der Zeit präsent. Ein Augenblick ist nicht einfach verschwunden, wenn er vorübergeht, sondern noch als vergangener da. Das Zukünftige oder was für uns zukünftig war, bleibt in der Zeitform der Vergangenheit erhalten. Daß dies so ist, liegt für Kierkegaard an der Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen. Die Ewigkeit hält gleichsam das Vorübergehen der Zeit an.63 So hat man überhaupt erst Zeit. Der Berührungspunkt zwischen Zeit und Ewigkeit ist der Augenblick, »hiermit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit die Ewigkeit ständig hemmt und die Ewigkeit die Zeit ständig durchdringt.«64 Man darf Kierkegaard nicht so verstehen, als wolle er bestreiten, daß seine christliche Umwelt nicht grundsätzlich zwischen den Zeitstufen unterscheiden könne. Aber diese Unterscheidung hat nach Kierkegaard keine Bedeutung für das Leben seiner sich christlich nennenden Mitbürger. Was vorbei ist, ist vorbei – aber ob man dies achtlos hinnimmt oder darauf aufmerksam wird, daß ein vorübergehender Augenblick seiner selbst nun in Ewigkeit als vergangener dasteht, macht den Unterschied zwischen Selbstvergessenheit und wahrem Selbstbewußtsein aus. Die Zukunft gibt die Zeit – »das Zukünftige ist in einem gewissen Sinne das Ganze«65 – und umfaßt damit auch die Vergangenheit, weil das Zukünftige als das Vergangene wiederkehrt. Kierkegaard kann das Zukünftige aufgrund seines umfassenden Charakters auch das Inkognito nennen, »in dem das Ewige […] seinen Umgang mit der Zeit aufrechterhalten will«.66

62 63 64 65 66

Ebd. 102, 17–24; IV 364. Ebd. 96, 1–4; IV 358. Ebd. 96, 31 ff.; IV 359. Ebd. 96, 38 f.; IV 359. Ebd. 97, 4 ff.; IV 359.

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Das Besondere am Christentum ist es, den Augenblick als ›Atom der Ewigkeit‹67 ernstzunehmen. So wie es bisweilen Augenblicke im Leben gibt, wo einem das ganze Leben vor Augen zu stehen scheint und über es entschieden wird, so ist der von Kierkegaard gemeinte Augenblick auch als ein ganzheitlich-existentieller, aber in einem zeitüberschreitenden Sinne, zu verstehen. Der Augenblick als das Ewige ist zugleich die Fülle der Zeit. In diesem Augenblick steht das ganze Leben in seiner Ewigkeitsbedeutung vor einem, es kommt – als Zukünftiges – auf einen zu, man wird mit sich selbst konfrontiert. Diese Verbindung von Zeit und Ewigkeit steht im Hintergrund von Kierkegaards Bestimmung des Menschen als Synthese des Zeitlichen und des Ewigen. Sie impliziert die Aufforderung zu einer Existenzbewegung, die der Mensch vollzieht, wenn er in der Zeit auf die Ewigkeit aufmerksam wird. Es ist die anfangs beschriebene Existenzbewegung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Dem noch nicht gesetzten, in der Möglichkeit befindlichen Selbst »zeigt sich das Ewige – da der Geist in der Unschuld nur als träumender Geist bestimmt ist – als das Zukünftige«.68 Die Existenzbewegung ist also keine von einem bestimmten Zeitpunkt zu einem anderen, sondern eine des Augenblicks, der kein bloßer Zeitpunkt innerhalb der Zeit ist, sondern ein Innehalten, das im Gegensatz zu der vergehenden, einen Zeitpunkt an den anderen reihenden Zeit steht. Wo der Mensch innehält, zeigt sich die eigene Zeit von der Ewigkeit durchdrungen, also von einem Ernst geprägt, in dem der Mensch zu sich selbst finden kann. Das kann er in der Zeitlichkeit selbst nicht, da wird er ja nicht, sondern da vergeht er ständig. Das Selbstwerden ist eine existentielle Bewegung, die nicht in der vergehenden Zeit stattfindet, sondern die durch die Zeit hindurch sich mit dem Ewigen vollzieht. Sie macht das mögliche Selbst in der Angst auf seine Freiheit aufmerksam, auch wenn es in Wirklichkeit mit seiner sündhaften Unfreiheit konfrontiert werden wird. Die an seinem Selbstsein rührende Angst weist den Menschen auf das Zukünftige, worin seine Freiheit liegt. »Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige für die Zeit das Mögliche. Beiden entspricht im individuellen Leben die Angst.«69 Daraus ergibt sich eine überraschende Folgerung für den Schambegriff Kierkegaards. In der angsterfüllten Scham, die für den Menschen in eine Situation eingebettet ist, in der er sich unfrei fühlt, in der für ihn die Zeit gleichsam stillsteht, ereignet sich für sein Selbstsein gerade das Gegenteil. Die Angst eröffnet dem Menschen eine Zukunft jenseits des nächsten Moments und eine Freiheit jenseits einer endlich beschränkten Wahl. Der Mensch, der sich schämt, wird aufmerksam auf sich selbst.

67 68 69

Ebd. 96, 2; IV 358. Ebd. 98, 36 f. IV 361. Ebd. 99, 23 ff.; IV 361.

Eduard Zwierlein

Scham und Menschsein Zur Anthropologie der Scham bei Max Scheler

I. Hinführung Scham ist ein zentrales Gefühl innerhalb des Gebietes, das traditionell Affektenlehre oder Theorie der Passionen genannt und heute als Philosophie der Emotionen bezeichnet wird. In der Philosophie Max Schelers ist Scham grundsätzlich ein Thema der Philosophie des emotionalen Lebens. Gefühle werden dabei nicht allein im Kontext der praktischen Philosophie, insbesondere der Moralphilosophie betrachtet, sondern auch als Thema der Theoretischen Philosophie und der philosophischen Anthropologie behandelt. Es geht dann um metaphysisch-ontologische Fragen, aber vor allem auch um erkenntnistheoretische Überlegungen, inwieweit Gefühle einerseits Gegenstände des Erkennens und andererseits gegebenenfalls Grundlagen des Erkennens sein können. Hinzu gesellen sich bewußtseinstheoretische und sprachphilosophische Fragen. Der Rahmen einer Theorie des emotionalen Lebens ist zurückgebunden an die Methode bzw. Einstellung der Phänomenologie und der philosophischen Anthropologie. Die Überlegungen in diesem Beitrag konzentrieren sich auf den Zusammenhang von Scham und Menschsein, indem sie Schelers Ausführungen zur Scham1 als Monopol des Menschen, in dem Scham allererst zum »Gefühl« wird,2 und damit als wesentliches Moment der philosophischen Anthropologie reflektieren.3 Diesem Fokus sei zunächst eine summarische Paraphrase der Phänomenologie der Scham bei Scheler vorangestellt.4 Wir haben dabei zugleich alltägliche Erleb-

1

Erinnert sei hier auch an K. Löwiths Einschätzung [K. Löwith: Max Scheler und das Problem einer philosophischen Anthropologie. In: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie. Sämtliche Schriften, Bd. 1, hg. von K. Stichweh und M. B. de Launay (Stuttgart 1981) 222] zu Schelers Abhandlung über »Scham und Schamgefühl« [M. Scheler: Über Scham und Schamgefühl. In: Schriften aus dem Nachlass. Bd 2: Zur Ethik und Erkenntnistheorie. Gesammelte Werke Bd.10, hg von M. S. Frings (Bonn 42000)]: »Sie ist das Reifste und Beste, was Schelers Erfahrung und Scharfsinn auf dem ihm eigentümlichen Gebiet des emotionalen Lebens an wissenschaftlicher Klarlegung geleistet hat.« 2 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 74. 3 Über »Leibesscham« im Unterschied zur »geistigen Scham« und ihr Auftreten im subhumanen Bereich s. nur M. Scheler: Scham [Anm. 1] 69 ff.. 4 Neben den einschlägigen Arbeiten Schelers selbst verweise ich besonders auf: R. Bernet: Zur Phänomenologie von Lust und Scham. In: Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, hg von C. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy (Würzburg 2003); B. Rutishauser: Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. Eine kritische Analyse von Scham und Schamgefühl (Bern und München1969); M. Schloßberger: Philosophie der Scham. In: Deutsche Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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nisse der selbstverständlichen Erfahrung von Scham vor Augen, also z.B., daß wir erröten, wenn wir dabei erwischt werden, zu lügen oder das Vertrauen zu mißbrauchen, oder uns die Stimme in einem wichtigen Moment versagt, in dem wir uns auf sie unbedingt verlassen wollten, paradigmatisch dafür genommen, daß uns der Körper in irgendeiner Weise nicht gehorcht und den Dienst versagt oder wir in eine peinliche Situation geraten, weil jemand indiskret ausplaudert, was doch unser Geheimnis bleiben sollte, oder den Fall, wenn uns ein Liebesgeständnis mißlingt. Beispiele für Schamanlässe sind Legion. Scham,5 so verstehen wir Scheler nun im Blick auf die Vielfalt der empirischen Beispiele, tritt in seiner zeitlichen Modalität rasch, plötzlich und unmittelbar auf, verläuft vergleichsweise kurz und heftig und versetzt in eine spezifische leibliche Verfassung, die sich u.a. in Erröten,6 Bleichwerden oder Senken des Blickes kundtut. Diese leibliche Spezifik ist die objektive Sichtbarkeit der Sichtbarkeit in der Scham,7 ein wahrnehmbares Eingeständnis von Schuld oder Dissonanz, ein sowohl erlebtes als auch manifestes Geständnis und Gerichtsurteil, ein Gericht im Gesicht. Zugleich manifestiert sich das Schamgefühl unwillkürlich8 im Bewußtsein des Betroffenen als ein Selbst- und Wertgefühl der Unstimmigkeit und des Versagens. Die soziale Situation ist regelmäßig die eines Entblößt- oder Nacktseins, einer Entbergung oder Offenlegung, auf die in charakteristischer leiblicher oder sprachlicher Weise eine Form der Verbergung,9 des Schutzes oder Bekleidung folgt. Dann be-

Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), sowie Í. Vendrell Ferran: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie (Berlin 2008). 5 Vgl. hierzu auch: Ch. Demmerling, H. Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn (Stuttgart 2007) 219 ff. 6 Ich muss allerdings die Scham im Erröten erkennen und nicht bloß einen Blutzufluss an Kopf und Wange: M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie. In: ders.: Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart. Gesammelte Werke. Bd. 7, hg. von M. S. Frings (Bern und München 1973) 21, 257, sowie ders.: Die Idole der Selbsterkenntnis. In: Vom Umsturz der Werte. Gesammelte Werke. Bd. 3, hg. von M. Scheler (Bern 41955) 228. Vgl. zum Erröten auch: ders.: Scham [Anm. 1] 77; ders.: Vom Sinn des Leides. In: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke. Bd. 4, hg. von M. Scheler (Bern und München 21963) 36, sowie C. Schmölders: Das Gesicht verlieren. Über Physiognomik und Scham. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, hg. von K. Herding, B. Stumpfhaus (Berlin und New York 2004) 470 ff. und A. Lietzmann: Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum (Hamburg 2007) 127, 132 ff. 7 Dabei ist diese »verräterische« Sichtbarkeit gegenläufig zur Intention der Scham, für Unsichtbarkeit, Verbergen, Bedecken, Verschweigen, Schutz zu sorgen. Vgl. auch M. Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Vom Umsturz der Werte. Gesammelte Werke. Bd. 3, hg. von M. Scheler (Bern 41955) 55. 8 M. Scheler, Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und den ethischen Prinzipien. In: Frühe Schriften. Gesammelte Werke. Bd.3, hg. von M. Scheler, M. S. Frings (Bern 1971) 129. 9 Gemeinsam ist allem Schamgefühl die Tendenz, gewisse Körperteile oder seelische Eigenschaften, Vorgänge, auch Handlungen vor anderen zu verbergen: M. Scheler: Beiträge [Anm. 8] 129.

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deutet etwa der niedergeschlagene Blick10 subjektiv-intentional nicht nur die Vermeidung des Blickkontaktes, sondern den Wunsch der Unsichtbarkeit, wenn schon nicht mehr der konkreten schambehafteten Thematik, dann doch meiner Person überhaupt. Denn man fühlt sich ja nicht nur durchschaut, fühlt das Gesicht verloren, kann den Blick der anderen kaum ertragen oder erwidern, sondern wünscht ganz grundsätzlich, wie es sprechend heißt, im Erdboden zu verschwinden.11 Als eine Kultur des Blicks12 erzeugt das Schamgefühl sittliche Differenzen im Reich des Wahrnehmbaren. Diese Differenz, die zwischen wertvoll und anstößig unterscheidet, zieht eine Linie zwischen dem, was gesehen werden darf, und dem, was verhüllt bleiben soll.13 Sich zu schämen bedeutet, das Gefühl zu haben, diese wertgebundene Linie zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verletzt zu haben. Hierbei ist es für Scheler wichtig, die historisch so ungeheuer vielfältigen, variablen und künstlichen Formen des Schamausdrucks, wie sie etwa in Mode14 und Anstandsregeln zum Vorschein kommen, sowie die Plastizität der verschiebbaren Schaminhalte und die mit diesen Verschiebungen intendierten Transgressionen nicht mit dem Grundphänomen und seiner Urfunktion zu verwechseln.15

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Der alte Gedanke, dass der Sitz der Scham in den Augen liege, liefert die Ausgangsintuition für die philosophische Prominenz des Blicks und des Angeblicktwerdens von Platon bis Sartre. Für Scheler ist der Andere aber nicht nur als sozialer Blick der Normabweichung, sondern auch als Vertreter oder Träger von originären Werten zu verstehen. 11 Die Leibbewegung des Verbergens verläuft zentripetal als Verengung oder Verkleinerung, was die Scham, im Unterschied zu den zentrifugalen Bewegungen von Wut und Zorn, mit Angst und Furcht verbindet. 12 Allerdings kann nicht nur der entlarvende, sondern auch der begehrliche Blick des Anderen zum Schamereignis für die angeblickte Person führen: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 79. Vgl. auch R. Wollheim: Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle (München 2001) 193 ff. 13 »Die Scham ist das Gewissen der geschlechtlichen Liebe«: M. Scheler: Zur Metaphysik des Menschen. In: Schriften aus dem Nachlass. Bd. 3: Philosophische Anthropologie. Gesammelte Werke. Bd. 12, hg. von M. S. Frings (Bonn 21997) 234. Vgl. auch ders.: Sinn [Anm. 6] 36, sowie ders.: Scham [Anm. 1] 124. Ausführlich analysiert Scheler das Thema des geschlechtlichen Schamgefühls, das er als paradigmatischen Fall der Körper- oder Leibesscham zur Zügelung des Geschlechtstriebes im Unterschied zur geistigen Scham auffasst, die dem Schutz und der Entfaltung der geistigen Person dienen soll. Zugleich zeigt sich im geschlechtlichen Schamgefühl prototypisch der metaphysische Gegensatz von vegetativ-animalischem Leben und geistigem Leben, insofern dieses Lebensgefühl eine Brücke zwischen den sinnlichen Trieb- und Lustgefühlen einerseits und dem geistigen Gefühl der Achtung schlägt: ders.: Scham [Anm.1] 79 ff. Das körperliche und das seelische Schamgefühl ist nur durch seine Objekte differenziert; Scham als Scham ist immer etwas Seelisches: ders.: Beiträge [Anm. 8] 129. 14 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 87: Der Ursprung der Mode ist das Feigenblatt; alle Kleider sind »nur eine Kristallisation der Scham«. Zum Umstand, daß sich der Mensch kleidet, »weil er sich schämt«: ebd. 74 ff. 15 Vgl. z.B. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Gesammelte Werke. Bd. 3, hg. von M. S. Frings (Bonn 72000) 302. Dabei mag es auch zu paradoxen Zuständen kommen, daß man sich etwa der Scham schämen soll, das Scham zum Tabu wird oder Schamverbergung gefordert wird.

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Die elementare Struktur des Schamerlebens ist ein »ich schäme mich (selbst) für/über etwas/jemand16 vor etwas/jemand«-Ereignis.17 Das »für/über etwas/jemand« kann sich sowohl auf mich als auch auf eine andere Person beziehen18 und geht als intentionales Wertgefühl19 in letzter Instanz auf einen, von wem auch immer, verletzten (geistigen) Wert.20 Gleichermaßen bedeutet der soziale Raum des »vor etwas/jemand« alle denkbaren Facetten etwa des realen oder gedachten, verinnerlichten (versehen auch mit allen Spuren von Unterdrückung und Fremdheit) oder erinnerten, vorgestellten oder phantasierten Anderen als Schamzeugen21 oder vor mir selbst und meinem Gewissen, vor dem Zurückbleiben hinter einem bejahten Ideal.22 Da ich mich normalerweise nicht schäme bei Abweichungen von allgemeinen Standards, die ich nicht teile, muß der verletzte Wert oder die verletzte Norm jedenfalls etwas sein, dem ich zustimme und an das ich mich gebunden fühle, gleichgültig zunächst, wie auch immer und in welcher realen Geschichte ich zu diesem Wert oder jener Norm gefunden habe Die Scham ist im Gefüge anderer Emotionen und Werte eingebunden. Diese Verwobenheit erzeugt Differenzierungen und Verwechselungen im Reich der Scham.23 Beispielsweise ist Eitelkeit ein Narzißmus, der möglich ist, weil in ihm Scham zu schwach ausgeprägt ist und die »Tendenz des Sichzurschaustellens«24

16 Zur Scham für einen anderen vor einem Dritten vgl. a. M. Schloßberger: Die Ordnung des menschlichen Gefühlslebens. In: Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, hg. von H.-P. Krüger, G. Lindemann (Berlin 2006), pass., sowie Í. Vendrell Ferran, Emotionen [Anm. 4] 243. 17 Vgl. dazu M. Scheler: Scham [Anm. 1] 67, 69, 81, 141, 148. Vgl. auch R. Bernet: Phänomenologie [Anm. 4] 28. 18 Man kann sich gewissermaßen stellvertretend für andere schämen, die sich selbst nicht schämen: vgl. auch D. Hume: Traktat über die menschliche Natur. II. 105: Wir fühlen denselben Affekt, wie wenn ein anderer »wirklich von demselben erregt würde«, wie »wenn wir für diejenigen erröten, die sich vor unseren Augen einfältig benehmen, obgleich sie selbst kein Gefühl für ihre Schande und nicht das geringste Bewußtsein ihrer Torheiten verraten«. Zum Versuch, hierbei Scham als Sympathiegefühl zu deuten, s. H. Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls (Tübingen 1999) 131 ff. 19 Als intentionales Gefühl ist das Schamgefühl ein Wertgefühl (moralisches Gefühl) und unterscheidet sich insoweit von einem reinen Selbstgefühl, z.B. einer Lustempfindung. 20 Damit bezieht sich die Scham auf den persönlichen »ordo amoris«, die Werte, Normen und Ideale des Einzelnen: M. Scheler, Beiträge [Anm. 8] 130. 21 So dass man sich, wie auch immer, gesehen weiß, also sich selbst mit dem Blick der anderen anblickt: G. Taylor: Pride, Shame and Guilt. Emotions of Self-assessment (Oxford 1985) 61 ff. Vgl. auch H. Landweer: Macht [Anm. 18] 107 ff. 22 Wenn ich mir einen allgemeinen Begriff von Gefühlen bilde (der Neid, die Scham, nicht nur: mein Neid, meine Scham), so schließt dieser Begriff den Anderen bereits ein: »In diesem Sinne könnte man das begriffliche Denken die Öffentlichkeit des Bewußtseins nennen.« M. Scheler; Beiträge [Anm. 8] 131. 23 Zu »Scham und verwandte Gefühle« s. vor allem: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 77 ff. 24 M. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. In: Vom Umsturz der Werte. Gesammelte Werke. Bd. 3, hg. von M. Scheler (Bern 41955) 20. Zur Abgrenzung der Scham von Prüderie und Anstand s. ders.: Ressentiment [Anm. 7] 53 f. sowie ders.: Scham [Anm. 1] 93 f.

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nicht genügend abzubremsen vermag. Hingegen läßt sich Bescheidenheit als eine durch bestimmte soziale Wertbindungen funktionalisierte Scham verstehen, die allerdings im Unterschied zur Welttiefe der Demut als »flache Tugend« verstanden werden kann.25 Von anderen Gefühlen wie Schuld, Reue oder Schmach, die wesentlich dauerhafter ausfallen können, unterscheidet sich die Scham nicht nur durch abweichende Anlässe, Art des Auftretens und der Erlebniszeit sowie der spezifischen leiblichen Verfassung, sondern vor allem auch durch ihre positive Funktion oder »positive Haltung«26. Es ist für Scheler von großer Bedeutung, daß Scham nicht primär als negatives Gefühl, sondern in seiner positiven Funktion gesehen wird, insofern sie »stets auf die Empfindung eines positiven Selbstwertes« bezogen ist.27 Als negatives Gefühl wendet es sich von etwas ab, als positives Gefühl wendet es sich etwas Positivem zu, beides oft in dialektischer Einheit zugleich. Allerdings tritt das Schamgefühl »in seiner Reinheit« oder »unvermischt mit Reue-, Furcht-, Unlustgefühlen aller Art«28 nur dann auf, wenn es in seiner positiven Funktion auf die in der Scham selbst vorgezogenen Werte weist, wie es bereits das Verständnis der Scham als eines »Schutzgefühls« nahe legt.29 Diese positive Funktion zeigt sich auch, wenn wir die Modalität der Zeit in der Erlebnisstruktur der Scham betrachten. Als gegenwärtiges Gefühl kann sich die Scham natürlich auf etwas beziehen, was jetzt, in der Gegenwart geschieht. Ebenso kann ich mich für etwas schämen, was in der Vergangenheit liegt.30 Interessant ist aber vor allem, daß die Scham sich als »Vorgefühl«31 auf die Zukunft beziehen kann. Dieser gefühlsmäßige Bezug auf die Zukunft, die Scheu, erzeugt eine mögliche Handlungswirkung, nämlich eine Abwendung oder eine Vermeidung dessen, was Scham erzeugen würde. Damit steht die Scham als Selbstfürsorge oder Selbstwertgefühl32 im Dienst der eigenen Identität und Integrität. Die prospektive Scham ist eine präventive Scham, die hindert, was mir nicht gut tun würde, nämlich zuletzt uneins zu werden mit mir selbst. Scham ist eine Form der Bejahung der eigenen Personalität. Mit dieser Betrachtung wechseln wir von der episodischen, akut und reaktiv ausgelösten

25

M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 20. M. Scheler: Antagonistische Triebe. In: Schriften aus dem Nachlass. Bd. 3 Philosophische Anthropologie. Gesammelte Werke Bd.13, hg von M. S. Frings (Bonn 1990) 135. 27 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 100; vgl. auch ders.: Sinn [Anm. 6] 36. 28 M. Scheler: Beiträge [Anm. 8] 130: Dort zeigt sich das Schamgefühl in größter Klarheit und Reinheit, wo es »positive Gegenstände« offensichtlich werden läßt. 29 M. Scheler: [Anm. 1] 101; vgl. a. G. Taylor: Pride [Anm: 21] 81. 30 Scheler spricht dann vom Nachgefühl der »Schamreue«, vgl. auch ders.: Scham [Anm. 1] 82 ff., 124, 134, 137, 140 ff.; also wenn ich mich z.B. für etwas schäme, was ich jemandem angetan habe, der bereits verstorben ist. 31 Vgl. z.B. M. Scheler: Scham [Anm. 1] 106, 115, sowie ders.: Formalismus [Anm. 15] 210, 343f. 32 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 82. Vgl. auch R. Bernet: Phänomenologie [Anm. 4] 29. 26

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Scham zur Scham als Disposition, die Wahrnehmungen und Handlungsoptionen vorstrukturiert.33

II. Scham als Idealungenügen Wenn man sich die empirische Vielfalt der Schamsituationen und die Variabilität der Schamanlässe, Schamursachen und Schaminhalte bewußt macht, dann drängt sich zunächst die Frage danach auf, was das Spezifikum ist, das sie alle miteinander verbindet. Denn alle empirischen Anlässe scheinen Scham nicht zwingend hervorrufen zu müssen, wiewohl sie das Potential dafür besitzen. Man müßte mit Scheler also den Blick weg wenden von den Situationen der konkreten schamauslösenden Anlässe hin zum Menschen, der sich schämt und schämen kann. Das Schamspezifikum ist als Humanspezifikum zu denken und in dieser Wechselseitigkeit zu bestimmen. Wenn ich gesehen und ertappt werde, wenn ich erröte oder erbleiche, wenn ich die Augen niederschlage, erlebe ich ein Gefühl von Dissonanz oder von NichtÜbereinstimmung. Wenn ich mich schäme, werde ich durch die Scham an einen Ort außerhalb meiner eigenen sinnlichen Unmittelbarkeit versetzt, von dem aus ich mich beurteile. In der Scham realisiert sich der Mensch als exzentrische Positionalität34 und gerät an einen geistigen Ort, von dem aus er sich selbst beurteilen kann. Das Urteil bezeichnet eine Abweichung, daß ich »anders« bin als ich eigentlich bin oder sein will oder soll. Ich bin ein defizienter Anderer meiner selbst für mich selbst (und nicht nur minderwertiges Anderssein im Blick der anderen) und stoße auf dieses Anderssein, das sich einer eindeutigen Integration versperrt.35 Verletzter Wertmaßstab oder Ungenügen gegenüber dem Ideal bedeutet die Erfahrung einer Dissonanz, einer Dissonanz zwischen Sein und Sollen bzw. Sein und Wollen, »eine Disharmonie des Menschen zwischen dem Sinn und

33 M. Scheler: Formalismus [Anm. 15] 210: »So zeigt sich z.B. echtes Schamgefühl nicht primär in einer Schamreaktion gegen vorhandene Einfälle einer gewissen Art, sondern an erster Stelle darin, daß dem schamhaften Menschen eben so vieles nicht einfällt, was dem weniger Schamhaften einfällt.« 34 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. In: Gesammelte Schriften IV, hg. von G. Dux u.a. (Baden Baden 2003) 365. Diese spezifische Positionalität erfordert künstliche Formen und setzt mit sich selbst eine Kunst der Abstandwahrung, zu der Etikette, Takt, Scham und Symbolbildung zählen. 35 Rimbauds Gedanke in seinem Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871 »ICH ist ein anderer. Umso schlimmer für das Holz, wenn es sich als Geige wieder findet« [A. Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe (München 1991) 369] ist entgegengesetzt zu lesen: Nicht das Holz erwacht als Geige, sondern die Geige entdeckt, daß sie doch (nur) aus Holz besteht.

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dem Anspruch seiner geistigen Person und seiner leiblichen Bedürftigkeit«36. Die innere Abständigkeit zu mir selbst, wenn sie mir in emotional bedeutender Weise sichtbar wird, oder das Scheitern an mir selbst, artikuliert sich in der Scham. Was im Schamgefühl, wie auch immer es historisch und kulturspezifisch variiert, stets gegenwärtig ist, ist das Versagen im Hinblick auf ein von mir bejahtes Ideal. Das Idealungenügen, als Wert- oder/und Normverletzung genommen, kann als der Generalnenner aller Schamerfahrungen angesehen werden. Scham wäre also durch den Umstand definiert, daß die geistige Person des Menschen auf die Wahrnehmung und Verwirklichung von Werten als ihre intentionalen Objekte gerichtet ist. Insofern man sagen kann, daß die geistige Person des Menschen aus diesen Werten gebaut ist und wesentlich als personalisierendes Aktzentrum im Aufbau ihres »ordo amoris« sich konstituiert, darf man Scham als gefühlte, leiblich spezifisch gegebene Selbstverfehlung der geistigen Person auffassen. Im Unterschied zum (schlechten) Gewissen als (verletztem) Normbewußtsein ist die Scham die fühlende Hüterin des Wertbewußtseins und der Verletzlichkeit der Werte im Selbstbezug der Person.37 Gleichwohl kann aber gerade auch die spezifische Reaktion der Scham im Bereich des Geschlechtlichen als »ein höchst bedeutender Keimpunkt für die Entstehung des Gewissens überhaupt« aufgefaßt werden.38 Diese Rückbindung an mich selbst zeichnet das Schamgefühl als ein Gefühl meiner selbst, als ein Selbstgefühl aus.39 Dieses Selbstgefühl zeigt sich nicht nur in dem Moment des Selbstschutzes, sondern auch der Selbstbewertung. Denn die Scham enthält ein Urteil, ein Urteil über mich selbst. Es besteht darin, daß ich meinen eigenen (den von mir geteilten) Werten nicht folgte. Als selbstbewertendes Gefühl artikuliert die Scham mein eigenes Ungenügen gegenüber den von mir selbst anerkannten Werten und Normen. Bezieht man die Modalität des Raumes in dieses Selbstgefühl mit ein, so zeigt seine intentionale Erlebnisstruktur eine Art der Selbstdistanz. Denn in der Scham werde ich einer Brechung meines Selbstgefühles ansichtig, einer Entfernung von mir selbst, welche in dem Widerstreit gelegen ist,40 daß ich nicht mit mir (emotional und ethisch) eins und einverstanden bin und als solches Uneins fühle und weiß. Indem die Scham selbstbehütend diesen Riß verbirgt, zeigt sie eine »Ehrfurcht vor dem eigenen Selbst«41.

36 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 69. Die Scham geht »in ihrem letzten Grunde aus der Berührung der höheren Bewußtseinsstufe mit der niedrigeren triebhaften Bewußtheit« hervor: Ebd. 75. 37 S. dazu R. Bernet: Phänomenologie [Anm. 4] 30. 38 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 142. 39 Vgl. auch M. Schloßberger: Ordnung [Anm. 16] 264 sowie R. Bernet: Phänomenologie [Anm. 4] 36. 40 Vgl. M. Scheler: Scham [Anm. 1] 68. 41 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 27.

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III. Die anthropologische Wurzel der Scham Das erste Moment des Humanspezifikums der Scham wurde soeben beschrieben als das verletzte Selbstwertgefühl eines Idealungenügens. Um nun diesen Gedanken noch genauer in seinem anthropologischen Zusammenhang zu verfolgen, müssen wir uns mit der Beschaffenheit eines Wesens auseinandersetzen, das überhaupt in der Lage ist, sich schämen zu können. Weder die Götter noch die Tiere schämen sich: sie sind, was sie sind.42 Nur der Mensch kann erröten und vermag sich zu schämen. Wenn die Scham ein Monopol des Menschseins ist und jedem bewußten Menschen »in genere«43 zukommt, so ist nach ihrer anthropologischen Verwurzelung zu fragen. Mark Twains Bonmot, daß der Mensch das einzige Lebewesen sei, das erröten könne, und auch das einzige sei, das Grund dazu habe,44 müssen wir in der Weise präzisieren, daß er das einzige Wesen ist, daß auch den Grund dazu in sich hat, indem es dieser Grund ist.45 Für Scheler steht Scham in einer intimen Verknüpfung oder Verwandtschaft mit Ehrfurcht. Beide sind miteinander »verwandt«;46 ihnen eignet »ein und dieselbe Wurzel«47. Es handelt sich bei dieser Wurzel um das unmittelbare Erfahren der »Bruchstellen«, in denen ein endlicher Geist in Berührung zu dem gerät, was ihn unendlich überragt. Rationalismus und Positivismus, so Schelers Einschätzung, »ertöten« und »fälschen« die Wirklichkeit, wenn sie diese Erfahrungsdimension durch Reduktion auf ein dogmatisches Begriffssystem oder das sinnlich-empirisch Erfahrbare definitiv ausschließen wollen. Beide Bewegungen sind »gleich ehrfurchtslos«48. Ehrfurcht, die Scheler als »eine Art Geist gewordene Scham«49 bezeichnet, und Scham beziehen sich als Formen des Sehens oder Erkennens auf vergleich-

42

M. Scheler: Scham [Anm. 1] 67, 69. M. Scheler: Scham [Anm. 1] 91. Wenn auch Scheler hier die Universalität des Schamphänomens beim Menschen im Auge hat, so erlaubt doch der Blick auf Kierkegaard: Der Begriff Angst (übers. u. komm. v. R. Richter) (Reinbeck bei Hamburg 1960) 64 f., daß der »unsterbliche Geist als Geschlecht (genus) bestimmt ist« auch diese gleichzeitige Lesart von Schelers Bemerkung, die sachlich ohnehin vom Gesamttext gedeckt ist. 44 M. Twain: Following the Equator (XXVII). A Journey Around the World (New York 1989) 256: «Man is the Only Animal that Blushes. Or needs to.” 45 Simmel hingegen versteht das Gefühl der Mangelhaftigkeit oder der Minderwertigkeit nur aus der sozial definierten Normdevianz heraus: G. Simmel: Psychologie der Scham (1901). In: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. von H.-J. Dahme, O. Rammstedt (Frankfurt/Main 1983) 144 f. 46 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 28. Und Scham ist zu verstehen als eine »Ehrfurcht vor dem eigenen Selbst« (Ebd. 29). 47 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm.24] 29. Gelegentlich nennt er Ehrfurcht auch eine der »Grundarten« der geistigen Scham: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 70, 89 f. 48 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 26. 49 Ebd. 28. 43

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bare Objekte, die Scham als Fühlen auf das emotionale Leben und die Ehrfurcht als Fühlen auf das geistige Leben im Reich der Werte. Beide eint dabei die Erfahrung eines endlichen Geistes, in Horizont und Perspektivität gebunden zu sein, zugleich mit der anderen transzendierenden Erfahrung, in der die Enge, Partikularität und Begrenztheit des Endlichen so gespürt wird, daß sich von allem, was wir erfahren, »Fäden ins Unsichtbare hinein« erstrecken.50 Gott, Welt und Selbst bleiben stets von einem Reich des Unsichtbaren, von Geheimnis, unerschöpflicher Werttiefe und ungehobener Schätze umspielt. Ehrfurcht und Scham machen diese unsichtbare Tiefe und unendliche Schönheit fühl- und sichtbar in einem Verweis: »Der Kern der Scham ist eine Offenbarung der Schönheit in der Geste des Sichselbstverbergens«, Scham ist »ein schönes Verbergen des Schönen«.51 Mit diesem Bezug auf das Schöne ist die positive Funktion als »Versprechen der Schönheit« in gesteigerter Weise zum Ausdruck gebracht.52 In der Analyse des Zusammenhangs von Ehrfurcht und Scham kommt Scheler auch auf jene Urszene der Scham zu sprechen, die in der Genesis von Adam und Eva erzählt wird.53 Mann und Frau waren beide nackt, schämten sich aber nicht. In einem Urzustand der Unschuld waren sie beide in Liebe eins und mit Gott »selig vermischt«54. Blicken wir dabei nicht auf den RechtsBruch als Rebellion der Freiheitshybris, die aus dem Paradiesleben des Einklangs herausfällt in Schulderfahrung und Gewissensdissonanz von Gut und Böse, oder das Thema der Sexualität55. Schauen wir vielmehr auf die anthropologische Ambivalenz der Schamerfahrung, eine Ambivalenz, die rein im Wissen um die eigene Gespaltenheit zu liegen scheint.56 Das ontologische oder besser

50 Ebd. 26. Vgl. auch ders.: Scham [Anm. 1] 89 und 101. Es wäre grundsätzlich denkbar, daß die Transzendenz-Erfahrung leer bliebe, nur in einer Art Schmerz bestünde, eine »leer Spur« oder »Narbe« [E. Zwierlein (Hrsg.), Pascal. Ausgewählt und vorgestellt von E. Zwierlein (München 1997) 295], die zu keinen Einsichten in Wesenstiefen führte. In der Tat scheint Scheler jede gewonnene Einsicht auch wieder als Hülle von etwas verbuchen zu müssen, auf das wir sehnsüchtig ausgerichtet sind, so daß weniger bleibende Einsichten sich einstellen, als vielmehr nur die Einsicht bleibt, einer Bewegung ohne Ende folgen zu müssen, die sich als ständiger Phönix aus der Asche jeder vermeintlich endgültigen Einsicht entzieht. 51 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 28. Vgl. dazu auch: ders.: Ressentiment [Anm. 7] 53. 52 »So ist die Scham ›schön‹, da sie ein schönes, ganz unmittelbares Versprechen der Schönheit ist. Und ihre Art zu versprechen ist ‹schön‹, da es ungewolltes Versprechen ist, ja durch das Verbergen des Schönen auf seine geheime Existenz erst hinweist.«: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 101. 53 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 28 f. 54 Ebd. [Anm. 24] 29. 55 Daß der Mensch seine Scham, seine Blöße, insbesondere die der Genitalien bedeckt, bietet die Möglichkeit einer Semiotik der Differenz, des Nicht-Eins an, in der Bedürftigkeit, Begierde, Abhängigkeit, Anhangen, Verletzlichkeit, Sehnsucht und Angst ihr Zeichensystem errichten. 56 Zur Ambivalenz, die in der Scham selbst gelegen ist, s. R. Bernet: Phänomenologie [Anm. 4] 26, 34, 37.

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existentiale57 Ungenügen an sich selbst, das ist der Urstoff der Scham. Die Verhüllung des Körpers ist als Verhüllung der Körperlichkeit zu verstehen, mit der der Geist auf problematische Weise verbunden ist.58 In positiver Funktion ist die Scham gleichsam ein Gedächtnis und Andenken an eine gebrochene Schönheit. Der Mensch, der sich selbst in der Scham vor sich und anderen in seinem Wesen verbirgt, bringt eben dadurch einen schönen Fingerzeig auf eine wesenhafte Schönheit zustande. Der Mensch, der sich schämt und als nackt erkennt, erinnert sich in seiner Gebrochenheit als endlichen Geist, der in Berührung steht zu einem unendlichen Geist, zu den »Fäden ins Unsichtbare hinein«59, zur Eigenbewegung des Geistes als Transzendenz. Daß diese Bewegung nur noch mühevoll als Anstrengung und Arbeit des geistigen Lebens in den Brechungen der Endlichkeit möglich ist, ist dabei zugleich ein Zeichen des Verlusts und der Verirrung. Hier ist die Scham »das plötzliche Innewerden und Sichaufdrängen der endlichen Seite unseres Wesens inmitten geistiger Aktvollzüge, in denen wir ewige göttliche Gesetze zu verwirklichen meinen, Gesetze, die mit der Endlichkeit und Bedürftigkeit des Ausgangspunktes eben dieser Akte – auf den wir nun plötzlich zurücksehen – nichts zu tun haben«.60 Diese »Zurückwendung« besteht in dem schockartigen Zwang, den »stets dunkel mitgegebenen Leib« plötzlich wieder beachten und dabei als Begrenzung entdecken zu müssen.61 »Nackt« bedeutet dann nicht mehr die Unschuld von Verbundenheit und Einklang, sondern gibt den Hinweis auf einen ontologischen Riß oder eine Spaltung, eine nur noch eingeschränkte und verborgene Schönheit. Denen die Augen der Scham aufgehen und die erkennen, daß sie nackt sind, wissen um die Bruchstelle des Menschseins.62 Um die Bruchstelle zu wissen, schließt aber nicht nur Ferne, sondern auch Nähe ein, eben jene verbliebene Kontaktmöglichkeit zu den Fäden, die in die unsichtbare Tiefe aller Dinge als Aufgabe des geistigen Lebens weisen.

57

Diese Begrifflichkeit in Abweichung von Schelers Gebrauch: M. Scheler: Scham [Anm.

1] 67. 58

Scham kann entsprechend als »Verhüllungstrieb« aufgefasst werden: M. Scheler: Antagonistische [Anm. 26] 134. 59 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 26. 60 Ebd. [Anm. 24] 28. 61 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 68; vgl. a. 78 ff.; exemplifiziert am Liebesakt: ebd. 137. Vgl. auch Ch. Demmerling, H. Landweer: Gefühle [Anm. 5] 225 f. 62 Zur menschlichen Existenzform in ihrer leiblich-geschlechtlichen Gestalt: M. Scheler: Scham [Anm.1] 90. Die menschliche Existenz bewegt sich dabei spannungsvoll zwischen verschiedenen einander widerstreitenden »Forderungen« des geschlechtlichen Triebs und der geschlechtlichen Liebe (repräsentiert im leiblichen Schamgefühl) sowie denen der geistig-seelischen Liebe und dem vitalen Grundtrieb auf Steigerung der Lebensmacht (repräsentiert im geistigen Schamgefühl).

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IV. Existentiale Scham Fassen wir dieses Wissen von sich selbst um sich selbst als anthropologische Selbstbewußtheit auf, als gefühlte Einsicht in die dissonante Struktur der Existenzweise des Menschen, so können wir in diesem Sinne Scham als existentiale Scham deuten. Schelers anthropologische Rahmentheorie, die er in seiner Skizze »Die Stellung des Menschen im Kosmos« 1927 vorgelegt hat, stellt den Menschen als ein Wesen dar, dessen Verfassung durch den Hiatus zweier fundamental verschiedener Seinsprinzipien »Leben und Geist« gekennzeichnet ist. An diesem Hiatus, in dem das Menschsein steht, hat auch sein gesamtes emotionales Leben teil. Durch die beiden Seinsprinzipien differenziert er sich in ein Vital-Ich und eine geistige Person. Die mit diesen beiden Attributen gesetzte Spannung und Tragik, die metaphysische Zerrissenheit des Menschen, ist der Motor des menschlichen Dramas und all seiner Bewegungen. Schelers Hoffnung ist es, daß sich die tragisch-antagonistische Struktur des Menschseins als der Keimpunkt einer wechselseitigen Durchdringung von Leben und Geist erweisen und allmählich, aber unaufhaltsam auf eine Versöhnung von Leben und Geist sich zubewegen werde. Wenn wir den Gedanken Schelers in seinem Kern rekonstruieren, dann können wir sagen, daß sich der Mensch in zwei Hinsichten gegeben problematisch vorfindet, die wir als Leib/Leben und Geist vorläufig ansprechen können. Jede dieser Hinsichten hat ihre eigene Sphäre und Eigengesetzlichkeit.

leib/leben

vernunft/geist

• • • • • • •

• • • • • • •



Animalität Sinnlichkeit Vitalität Trieb Lust Spontan, unmittelbar Vitaler Grundtrieb zielt auf Steigerung der Lebensmacht Sinnlicher Grundtrieb zielt auf Steigerung der Lust



Geistiges Streben Ideale Sphäre der Werte Personalität Allgemeinheit, Universalität Liebe Bewußt, vermittelt, reflektiert Geistige Gefühle zielen auf Schutz der Person Geistige Gefühle zielen auf Entfaltung der Person

Die Differenz dieser Hinsichten ist nicht einfach ein unproblematisches Nebenoder Beieinander. Es handelt sich vielmehr um eine Spannung und einen Widerstreit.63 In diesen Antagonismus von Animalität und Personalität, in der Gespal-

63 »Das Schamgefühl ist ein Hinweis darauf, dass unser Sein bestimmt ist für eine höhere Welt als jene der biologischen Ziele«: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 150. Zum Wesen des per-

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tenheit zwischen sinnlichen Trieben und geistigem Streben, im Widerstreit von Leben und Geist im Menschen ist die Scham nicht nur eingelassen. Sie ist vielmehr ihre ursprüngliche Kunde, ihr primärer Ausdruck, auch wenn nicht jedes Erleben dieses Widerstreites ein Schamanlaß ist,64 sondern nur wenn ihre fragile Verschränkung aus dem Gleichgewicht gerät.65 Wir wollen die Scham in dieser Tiefenschicht als ontologische oder existentiale Scham bezeichnen, insofern sie genau diese Signatur des Menschseins birgt:66 verbirgt und entbirgt. Was ist in dieser existentialen Scham gesehen? »Dieses Gefühl gehört gleichsam dem Clair-obscur der menschlichen Natur an. Die einzigartige Stellung und Lage des Menschen im großen Stufenbau der Weltwesen, seine Lage zwischen dem Göttlichen und Tierischen kommt in keinem Gefühl so klar, so scharf und so unmittelbar zum Ausdruck wie im Gefühl der Scham. Sein eigentlicher »Ort« scheint schon auf den ersten Blick der lebendige Kontakt zu sein, den im Menschen der Geist, d.h. der Inbegriff aller übertierischen Akte: Denken, Schauen, Wollen, Lieben, und deren Seinsform, die »Persönlichkeit«, mit Lebenstrieben und Lebensgefühlen gefunden hat, die von den tierischen nur graduell verschieden sind.«67 In der Scham, als »bestimmter Form jenes Widerstreiterlebnisses«,68 wird sichtbar, daß die Einheit von leiblicher Leidenschaft und Hingabe an den geistigen Wert der Person utopisch ist. In ihr wird sichtbar und objektiviert, daß die beiden Hälften sich nicht in einem harmonischen Gleichgewicht befinden. Vielmehr gleichen sie einem ständig gefährdeten Gleichgewicht, ja, eher noch einem gänzlich unmöglichem Gleichgewicht, einem von Auseinanderbruch stets bedrohten und betroffenen Kampf. Die Scham ist das Innewerden dieser Bruchstellen und Wunden unserer Existenz, die gefühlte Gebrochenheit, Verwundetheit und Fragilität des Selbst.69 Zugleich erfährt sie, daß das Ringen des Geistes um Eindeutigkeit in seiner endlichen Gestalt ohnmächtig bleibt. Jede historisch kontingente Realisierung eines Schamerlebnisses findet ihren Ursprung und Sinn in dieser

sönlichen Geistes gehört ein Darüberhinaus, ein »Fort- und Hinausschwingen«, ein »Überschuß des Geistes über das Leben«: ders.: Tod und Fortleben. In: Schriften aus dem Nachlass. Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnistheorie. Gesammelte Werke Bd. 10, hg. von M. S. Frings (Bonn 42000) 46–48. 64 M. Scheler: Scham [Anm.1] 68. 65 M. Schloßberger: Philosophie [Anm. 4] 821. 66 Vgl. hierzu: M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 28. 67 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 67. 68 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 68. 69 Wie Ehrfrucht wird auch Scham wurzelhaft verstanden als »ein unmittelbares Innewerden der Bruchstellen, an denen ein Strahl des unendlichen Geistes sich an einer engen, bedürftigen Artorganisation des Lebens bricht und uns nur das für diese Organisation je ›Wichtige‹ aufleuchten läßt«: M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 29.

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»conditio humana«, die in jedem konkreten Schamerleben durchscheint. Jedes einzelne Schamerlebnis ist ein »Paratext«, der indirekt die »conditio humana« rezitiert und kommentiert. Erinnern wir uns noch einmal daran, daß Scheler darauf hinweist, daß das Schamgefühl am klarsten und in größter Reinheit ergriffen werden könne, wenn es jene Schamerfahrung ist, die uns bei dem Offensichtlichwerden von positiven Gegenständen trifft. Auch hier erleben wir einen peinlichen Kontrast. Aber welchen? Zunächst: wir verletzen keinen Wert und verstoßen nicht gegen eine eigentlich von uns selbst anerkannte Norm. Weder Wertverletzung noch Normverstoß liegen vor. Aber wir sind veröffentlicht, preisgegeben. Wir sind bloßgestellt, herausgestellt, ausgestellt. Wir sind nackt, sichtbar. Was wird in dieser Sichtbarkeit sichtbar? Entweder wird die Wertschätzung, die ich irgendeinem X zuspreche, von anderen überhaupt nicht geteilt; sie empfinden sie als viel geringer oder als lächerlich. Dieser Umstand, dieser Kontrast ist mir peinlich. Oder aber Menschen sprechen mir ein Lob aus und rechnen mir einen Vorzug zu, von dem ich selbst aber weiß, dass ich ihm kaum gerecht werde, sondern vielmehr weit dahinter zurückbleibe. Meinem Ideal entspreche ich doch nie. Ich schäme mich dafür, weil man, ohne falsche Bescheidenheit gesagt, einfach zu gut von mir denkt. Das Lob ist gleichsam überschwenglich. Ich bleibe hinter ihm zurück. Das, was man lobt, ist zu einem gewissen Teil nur schöner Schein. Was nun in meiner öffentlich gewordenen Nacktheit sichtbar geworden ist, ist nicht ein akuter einzelner Wert- oder Normverstoß, sondern meine konstitutionelle Idealunwürdigkeit, eine ontologische Verfassung, eine mitpreisgegebene und mitverratene Diskrepanz, ein ausgestelltes Mißverhältnis meines Menschseins selbst. »In aller Bescheidenheit« versuche ich die Blöße dieser Nacktheit zu bedecken.70 Scham als Selbstgefühl ist hier Selbstoffenbarung, ein verbergendes Enthüllen – Wir werden uns (und anderen) auf eine schmerzliche Weise71 unserer selbst als Problem einer antagonistischen Verfaßtheit ansichtig.72 In der Scham zeigt sich eine »Krise des Geistes«.73

70

R. Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch, hg. von K. Hammacher (Hamburg 1984) 313, bestimmt Scham sehr schön als eine Art Bescheidenheit oder Demut gegen sich selbst. M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 20, differenziert allerdings zwischen der »flachen Tugend« Bescheidenheit, in der die Scham von »fremden Wertmaßstäben« der Sozialsphäre gelenkt ist, von der Demut, die in ihrer Tiefe weltzugewandt ist. 71 In höchster Konzentration auf sich selbst, unter Abzug aller sozialen Komponenten, ist dieser Schmerz ein »Ekel« vor sich und an sich selbst, in dem wir dem Skandal unserer Eigenart gegenüberstehen; vgl. E. Lévinas: De l’évasion, publ. par J. Rolland (Montpellier 1982) 86, 91. 72 Dieses Selbstgefühl ist in der Scham auch verbunden mit einem problematischen oder unklaren Schwanken zwischen dem Gegebensein als Individuum oder Allgemeines für sich selbst oder im Blick von anderen; vgl. dazu M. Scheler: Scham [Anm. 1] 78 ff., 148. 73 A. Lietzmann, Theorie der Scham, 102.

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Nehmen wir an dieser Stelle noch einmal den Vergleich von Gewissen und Scham auf. Das Gewissen, so können wir in einer ersten Annäherung sagen, registriert kognitiv die Deckung oder Abweichung im Normbewußtsein. Die Scham registriert fühlend die schmerzvolle Sichtbarkeit eines Idealungenügens. Wir können uns nun durchaus Fälle der Scham vorstellen, die nicht von einem schlechten Gewissen begleitet sind.74 Denken wir uns als Beispiel jemanden, der einen hervorragenden Vortrag halten möchte, während seiner Rede aus einem bereitgestellten Glas trinkt, dessen Wasser hochgradig mit Kohlensäure angereichert ist, und der daher, mitten im schönsten Schwung der Rede, seinem Leib mit einem unwillkürlichen Rülpser Tribut zollen muß. Der Bruch, der sich nun zwischen dem idealiter intendierten schönen Vortrag und der erbrachten unglücklichen Leistung an jener Stelle auftut, mag zum Anlaß von Scham werden.75 Inwiefern? Der kleine »Kontrollverlust«76 in jenem angegebenen Fall besitzt eine hohe Schamwahrscheinlichkeit. Ich selbst bin in gewisser Weise »Ursache« des Aufstoßens, kann auch die »Norm« teilen, daß man nicht während eines Vortrages rülpsen sollte,77 bin aber, da dies unfreiwillig, unabsichtlich oder unwillkürlich geschah,78 kein moralisch adressierbares Subjekt dieses Vorgangs, eher sein Opfer als sein Täter, und also guten Gewissens ohne schlechtes Gewissen, selbst wenn ich mich dessen schäme, was geschah. Es gibt eine Reihe von Fällen, wo wir einfach »Ursache« eines »Unpassenden« werden, das das angestrebte »Vollkommene« (zer)stört und kein Thema eines moralischen Vorwurfs oder Versagens ist bzw. dessen möglicher moralischer Anteil gegen Null geht. Die zugespitzte Aufmerksamkeit auf mich, in der ich mich gedemütigt, entwürdigt oder der Achtung verlustig sehe, ist nur vordergründig auf einen scheinbar individuellen Makel oder Fauxpas gerichtet. Tatsächlich zeigt sich hier der »komische Widerspruch« nicht nur in einem problematischen »Zugleich von Lebendigkeit und Mechanismus«, sondern in einer noch fundamentaleren Ambivalenz.79 Ich schäme mich in

74

Ebenso den umgekehrten Fall: nicht jedes schlechte Gewissen muß von Scham begleitet

sein. 75 »Jede Form, die den Gehalt unterdrückt, jeder Buchstabe, der den Geist schikanieren will, jede Funktion des Lebens, die das Leben tyrannisiert oder zu tyrannisieren scheint, werden komisch. Denn in ihnen ist eine Verkettung gegeben, die uns die Illusion oder Gewißheit des Lebens zugleich mit dem Gefühl eines mechanischen Arrangements verschafft.«: H. Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. In: Gesammelte Schriften VII. Asdruck und menschliche Natur, hg. von G. Dux u.a. (Baden-Baden 2003) 293. 76 Vgl. A. Lietzmann: Theorie [Anm. 6] 102. 77 Außer ich würde z.B. eine sehr spezielle ästhetische Theorie vertreten oder über das Mißlingen von Vorträgen gleichsam anschaulich sprechen. 78 Hier könnte natürlich noch weiter gedacht werden, z.B. ob die Unabsichtlichkeit nur eine scheinbare ist und sich etwa in eine Fahrlässigkeit oder »actio libera in causa« oder eine andere Zurechenbarkeit überführen ließe. 79 H. Plessner: Lachen [Anm. 75] 300. »Eigentlich komisch ist nur der Mensch, weil er meh-

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diesen Fällen genau auch dafür, daß an mir und durch mich, in der Brechung des intendierten Gelingens, die »Lächerlichkeit« meiner zweideutigen Existenzlage sichtbar wurde: »Die Abgründigkeit der Komik als solcher mag dabei nicht zum Bewußtsein kommen. Aber sie macht sich trotzdem geltend und erinnert auch in der geringfügigsten Erscheinung an die exzentrische Position des Menschen.«80 Ein Schauspiel unfreiwilliger Komik zu bieten, sich der »Lächerlichkeit« preisgegeben zu sehen, sichtbar zu versagen, gehört wesentlich zur Scham dessen, den sie betrifft. Das »Grinsen« der Zuhörer spiegelt noch dieses »Lächerliche« unmittelbar ab. Scham bedeutet zu entdecken, zu fühlen und daran zu leiden, daß wir unerklärlich und unüberwindbar »tragische Wesen« sind und dieser tragische Antagonismus, der das Menschsein in seiner moralischen Identität bestimmt, in einem konkreten Mißlingen als »komisch« für andere sichtbar wird.81 Das Idealungenügen im Fall eines moralischen Norm- oder Wertverstoßes, einer »Abweichung«, ist nur ein prominenter Fall eines solchen Versagens und Abständigseins zwischen Sein und Sollen/Wollen: »Scham ist sicher nicht nur eine Folge eines Unwertbewußtseins.«82 Das »Lächerliche« zeigt das »Unpassende« und »Widersprüchliche«, das im Mißlingen ans Licht kommt. Der Kontrast oder die Inkongruenz zwischen der Vollkommenheits- und Unendlichkeitsintention auf der einen und der Unvollkommenheits- und Endlichkeitserfahrung auf der anderen Seite wird im Mißlingen als Schmerz und Erleiden sichtbar und als »Häßliches« oder »Nichtiges« bloßgestellt. Nur ein Wesen, das unvollkommen nach Vollkommenheit strebt, hat genug »Fallhöhe« für Tragik und Scham. Dabei verweist das punktuelle Mißlingen im konkreten Fall auf die prinzipiell problematische Gesamtverfassung des Menschsseins, in der dieses Mißlingen wurzelt und von dem es symbolisch miterzählt.83 In der existentialen Scham öffnet sich ein Fenster, das zum Durchblick auf die problematische Verfassung des Menschseins und seiner »Komik« wird. In der Scham sehen wir auf den Grund des Menschseins: Wir sind eine problematische

reren Ebenen des Daseins zugleich angehört« (ebd. 299) und daher in Situationen von »Gegensinnigkeiten als Einheit«, von »mehrdeutiger, gegensinniger Verbindung« gerät (ebd. 294 f., 299, 273). 80 H. Plessner: Lachen [Anm. 75] 304; vgl. auch 276. 81 In der Scham gehen die Gattungsgrenzen von Komik, die erfreuen und Lachen bewirken soll (delectare) und Tragik, die bewegen und erschüttern soll (movere), unscharf ineinander über. Vgl. a. H. Plessner: Lachen [Anm. 75] 304. 82 M. Scheler: Scham [Anm. 1] 148. Vgl. H. Plessner: Lachen [Anm. 75] 304: »Komik gehört der Ebene an, auf die alle Normierungen spezieller Art zurückweisen: die Ebene, in der sich der Mensch als solcher und im Ganzen in der Welt und gegen die Welt behauptet«, d.h. in seiner doppeldeutigen exzentrischen Position. 83 Zum Widerspruch, der das Komische in der Schamerfahrung prägt, vgl. a. S. Kierkegaard: Angst [Anm. 43] 64–66, sowie H. Plessner: Lachen [Anm. 75] 290–304.

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Zweiheit, die sich danach sehnt, keine zu sein. Die Scham spiegelt die existentiale Dissonanz unseres Seins und das existentielle Ungenügen unseres Bemühens, den Riß oder Bruch zu schließen, die Krise und Ohnmacht des Geistes. Die Scham ist das Bewusstsein eines Gegensatzes zwischen verschiedenen Tendenzen in uns selbst, der uns daran hindert, das Projekt einer Vollendung oder Vollkommenheit gelingen zu lassen.84 Im Schamgefühl reflektiert der Geist seine eigene Gebundenheit an das Endliche, Natürliche, Leibliche, Sinnliche und Sexuelle, die Brechungen, Grenzen, Fremdheitserfahrungen und eine Art von »Schamangst«85 mit sich bringen für das, was ihm selbst eigentümlich scheint. Eigentümlich ist ihm aber eine Bewegung des Überstiegs in Idealität. An dieser Bewegung haftet ein Schwergewicht, das sie immer wieder bricht. Die gestörte Vollkommenheitsbewegung oder gebrochene Erhabenheit wird zum Movens der Scham.86 Dabei ist das Schamgefühl nicht einfach ein Indiz für irgendeinen Dualismus von Geist und Körper, von personaler Subjektivität und vitaler Einbettung und Naturgebundenheit des Geistes. In der Scham entdeckt sich der Mensch vielmehr als problematische Zweiheit, als ein spannungsvolles Wesen, dessen Wesen es ist, miteinander unvereinbare Hinsichten in sich zu »vereinen«.87 Wenn ich mich schäme, artikuliert sich ein Zwei-Sein, eine existentiale Dissonanz meiner selbst, eine widerstreitende Einheit von Größe und Elend und das absurde Projekt, ein »roseau pensant« zu sein,88 ein Widerstreit zweier konfligierender Eigengesetzlichkeiten, welche ich bin.89 Wir sind uns selbst nicht adäquat, ein nicht-iden-

84

»Darum berühren sich in der Scham auf merkwürdige und dunkle Weise ›Geist‹ und ›Fleisch‹, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Wesen und Existenz.«: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 69. 85 Vgl. a. S. Kierkegaard: Angst [Anm. 43] 64 ff., 74, wo sich der unschuldige Mensch vor dem Geist ängstigt, der die unmittelbare Einheit des leiblich-seelischen Befindens stört, und andererseits sich der Geist in seiner Schuld ängstigt vor seiner eigenen Naturgebundenheit: Die Angst in der Scham liegt darin, dass der Geist sich fremd fühlt, in einer eigentümlichen Synthese körperlich-sexuell bestimmt zu sein. Vgl. a. E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität (München 21993) 115 f. 86 In der Scham vollzieht sich ein Prozeß, »sich an der Vollkommenheit des Unendlichen zu messen«, in dem sich zugleich das Ursurpatorische und Mörderische des Menschen zeigt: E. Lévinas: Totalität [Anm. 85] 115 f. 87 Von Nietzsche nimmt Scheler den Gedanken der Brücke zur Charakteristik des »einen, großen, allgemeinsten Hintergrund(s): daß der Mensch sich in der Tiefe fühlt und weiß als eine ,Brücke‹, als einen ,Übergang‹ zwischen zwei Seins- und Wesensordnungen, in denen er gleich stark eingewurzelt ist, und von denen er keine eine Sekunde lang preisgeben kann, um noch ein ,Mensch‹ zu heißen«: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 69. 88 E. Zwierlein (Hrsg.): Pascal [Anm. 50] 224 ff., 293, 298. 89 Indem Nietzsche das »Mysterium« der Dissonanz, das jeder Scham zugrunde liegt, moralisch deutet, kann er sagen, daß der Mensch aufhören wird, sich zu schämen, wenn er Freiheit erreicht hat: F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I und II. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 2, hg. von G. Colli und M. Montinari (München 21988) 97 und ders.: Die Fröhliche Wissenschaft. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, hg. von G. Colli und M. Montinari (München 21988) 519.

Zur Anthropologie der Scham bei Max Scheler

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tisches Wesen. Denn der Mensch lebt nicht einfach in eins mit sich, sondern muß als ein »in fortwährender Bewegung begriffene(r) Übergang selbst«90 die Einheit zwischen sich und sich selbst allererst finden und herstellen. Der Mensch ist eine gebrochene Einheit. Diesen Schmerz zu sehen und zu fühlen, ist Scham in ursprünglicher Qualität. Die Scham beklagt einen fehlenden Einklang, der zwischen mir als idealem Wesen und als realem Wesen gegeben ist, wenn er erlebbar »die Wertschicht der Person verdeckt«91. Ein inneres Idealbild der eigenen Person, obwohl als geistiges Ziel erstrebt, ist nicht erfüllt oder zu erfüllen. Um die verlorene Unmittelbarkeit und damit die »Grazie« wiederzugewinnen, so Heinrich von Kleist in seinem Essay über das Marionettentheater, müßte die Erkenntnis »gleichsam durch ein Unendliches gegangen« sein.92 Aber kein Endlicher ist, so scheint es, je als Endlicher durch ein Unendliches hindurchgegangen.93 Wir sind weder Tiere oder perfekte Automaten noch Götter in reinem Bewußtsein, sondern ein »Zwischen«. Scham erinnert daher sehr an das krumme Holz, das sich im aufrechten Gang müht, um die Kantische Metapher für das Menschsein heranzuziehen. Es ist die Enge und Partikularität der Naturgebundenheit, in die sich der Mensch hineingezwungen sieht und die er nie ganz überwinden kann, die ihm ein ursprüngliches Ungenügen zeigt, welches der ontologische Kern der Scham ist. Der Grund (als Möglichkeitsgrund) dieser Dissonanz ist die unversöhnte Spannung, die ich als Mensch im Widerstreit von Leben und Geist darstelle, wenn ich Leben als Vereinzelung und Eigengesetzlichkeit des Triebes und Geist als Eigengesetzlichkeit des Idealen mit der Tendenz zur Wesenseinsicht und zur Allgemeinheit auffasse.94 Ich erfahre mich in dieser zweifachen Gegebenheit als existierenden Widerspruch. In der Scham fällt der Blick des gedemütigten Geistes

90

M. Scheler: Scham [Anm. 1] 69. M. Scheler: Scham [Anm. 1] 149. 92 H. v. Kleist: Über das Marionettentheater. Internetausgabe. Version 12.07. © 2007 (KleistArchiv Sembdner, Heilbronn). Internet-Edition (www.kleist.org/texte/UeberdasMarionettentheaterL.pdf) 8. 93 Um wieder in den Stand vor der Scham zu finden, müßte man, so Kleist, daher noch einmal vom Baum der Erkenntnis essen. Das aber wäre das Ende der Geschichte: H. v. Kleist: Marionettentheater [Anm. 92] 8. 94 Ob diese »Rollenverteilung« von Leben und Geist für die Erläuterung des menschlichen Antagonismus so klar ist, bedürfte der weiteren Analyse; irgendein Antagonismus, in den auch »Leib und Seele«, »Leben und Geist« verstrickt sind, darf allerdings als Moment der menschlichen Selbsterfahrung konzediert werden. Man vgl. nur S. Kierkegaard: Angst [Anm. 43] 67, wo der Leib den Geist ausgrenzt, indem er auf dem Gipfelpunkt des Erotischen, des Exstatischen und Unmittelbaren zwar zur Stelle ist, aber »auf dem Höhepunkt des Erotischen der Geist nicht mit dabei sein kann«, sondern sich fremd und verstoßen fühlt: »er kann sich nicht im Erotischen ausdrücken«. Zur weiterführenden Kritik an Scheler, wonach in der Daseinsart des Menschseins aus Schelers Disparität eine Einheit werden soll: B. Rutishauser: Scheler [Anm. 4], 165 ff., 174, 188 ff. 91

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auf den Leib als den Ort seines beschränkten und unvollkommenen Erscheinens. In diesem Leib kann der Geist nicht vollendet das sein, was er eigentlich ist. Auf nicht-skrupulöse Weise weiß die Person darum, daß ihr Verhältnis zu den höherrangig geschätzten Werten nie eindeutig und unschuldig ist. Die Person hat ein Bewußtsein davon, daß sowohl die unbedingte Anerkennung der Wertverhältnisse ihrem Wesen genau so entspricht wie ihre Verletzung. Die Scham zeigt die offenbar gewordene und als Zurückbleiben erlebte Gespanntheit eines geistigen Tieres. Der Geist, der auf Ideales, Allgemeines, Unendliches und Unsterbliches aus ist, kann sich nicht ohne Scham zur Endlichkeit und Begrenztheit bekennen. »Scham ist ein Schuldgefühl für das individuelle Selbst überhaupt – nicht notwendig für mein individuelles Selbst, sondern für ein solches, wo immer es gegeben ist, an mir oder einem anderen.«95 Die konstitutive Spaltung ist nicht nur die Existenzwunde und ursprüngliche Verletzung des Menschen, sondern auch Stimulus und Stachel, Herausforderung des Menschseins, sein Uneins-Sein zu versöhnen, die dauernd fortbestehende Aufgabe, sich mit sich selbst zu befreunden. Die Scham bekundet meine unversöhnte Zweiheit, das »être deux«96, insofern ich zu ihm als persönliche Aufgabe erwache und sie zugleich als Anspruch erlebe, dem ich nicht gerecht werde. Die Scham widerspiegelt diese Bruchstelle. Ich bleibe mir selbst etwas schuldig, nämlich das, was eigentlich notwendig wäre (mich selbst als geistige Person) und zu dem ich in positiver Funktion als meiner normativen Bestimmung im Kampf mit meiner faktischen Bestimmtheit herausgefordert bin. Ich bin nicht nur über mich hinaus, im Sinne von H. Plessners »exzentrischer Positionalität«,97 sondern ich bleibe hinter mir selbst moralisch-werthaft zurück; dies nicht in dieser oder jener konkreten Hinsicht, welche nur »exemplarisch« ist, sondern im Blick auf den Grundwert, »Person« zu sein und zu werden. Ich werde mir selbst als Mensch nicht gerecht. Es handelt sich nicht um die Seins-Schuld, die wir aneinander tragen im Sinne des Parmenides, daß wir alle raumfordernde Prozesse füreinander sind. Es geht vielmehr um eine Wertschuld, die in unserer Verfassung als Menschen wurzelt: wir wollen »mehr« sein.98 Wir sind uns uns selbst schuldig. Die existentiale Scham schafft dieses ethisch-personale Drama empor ans Licht, daß ich selbst hinter mir selbst zurückbleibe, nicht zur Vollendung der idealen Eigengesetzlichkeit des Geistes vordringe und auch kein lösendes Wort weiß, um die Einheit mit mir selbst herzustellen: Mit mir selbst bin ich nicht befreundet, nicht

95

M. Scheler: Scham [Anm. 1] 86; vgl. auch 148. E. Zwierlein: Magna Quaestio. Zur Grammatik des Werdeseins. In: Begegnung und Verantwortung (Würzburg 2007) 132 f. 97 H. Plessner: Stufen [Anm. 34] 365. 98 M. Scheler: Über östliches und westliches Christentum. In: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke Bd. 4, hg. von M. Scheler (Bern und München 21963) 99. 96

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versöhnt. In der Scham erfährt sich der Mensch als eine große Frage, die er aus eigenen Kräften nicht zu beantworten vermag, aber auf die zu antworten und die zu verantworten er sich verpflichtet fühlt. Dies alles wird indirekt und unwillkürlich mit offenbar vor anderen und mir selbst als mein eigener Zeuge, wenn ich mich konkret schäme.99. Der Mensch ist das sich (seiner selbst) schämende Wesen.100 Ein »ultra posse nemo obligatur«, das darauf hinweist, daß wir uns dessen nicht zu schämen brauchen, was wir nicht wählen, sondern vorfinden, wäre in die Diskussion zu verwickeln, ob wir uns nicht als antagonistisch-dramatische Wesen der Scham vorfinden. Ob diese Erfahrung und Deutung vielleicht nur ein historisches Artefakt ist oder ob alle Historie und kulturelle Arbeit sich an diesen Antagonismus anschließt und ihn in vielen Variationen durchdekliniert, wäre allerdings das Thema einer anderen, weiteren Überlegung. Die Scham ist in Schelers Sicht jedenfalls nicht nur ein konkretes SelbstWert-Urteil. Sie ist zugleich ein erinnernder Durchblick auf die Dissonanz unseres Menschseins, welche das konkrete Scham-Urteil möglich macht.101 Dieser Durchblick besitzt jedoch zugleich Aufforderungs- und Aufgabencharakter. Daß in der Scham das ganze problematische Menschsein in seiner elementaren Grammatik ansichtig und durchsichtig wird, ist in einem Atemzug »ein schönes Verbergen des Schönen«, eine Gerichtetheit auf das Schöne, die sowohl die Idealität des Geistes als auch die Vermittlung von Geist und Leben intendiert. In der Empfindung dieses Ungenügens zeichnet sich die Sehnsucht nach etwas außerordentlich Schönem ab. Die Sehnsucht nach dem in Schönheit glücklich Vollendeten ist als abwesende Anwesenheit, in verhüllter Sichtbarkeit in der Scham gegenwärtig: »Der Kern der Scham ist eine Offenbarung der Schönheit in der Geste des sich Verbergens.«102 Auch der schöne Schein ist noch ein gebrochener Vorschein des Schönen. In dieses »schöne« Abenteuer der Selbstwerdung, mit dem wir doch nie fertig werden, stürzt uns die Scham stets aufs neue.103 Verstehen wir Hugo v.

99

Vgl. a. M. Scheler: Scham [Anm. 1] 148. Und er kann sich schämen, weil er ein geistiges Wesen ist, und muß sich schämen, weil er als ein leibliches Wesen in Verlegenheit zum geistigen Prinzip kommen kann: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 69.l. Zugleich gilt: der Mensch »schämt sich in letzter Linie seiner selbst und ›vor‹ dem Gott in ihm« (ebd.). 101 Der träumende Geist entdeckt den Widerspruch als Aufgabe, deren Geschichte er damit initiiert: S. Kierkegaard: Angst [Anm. 43] 46, 40, 42. 102 M. Scheler: Rehabilitierung [Anm. 24] 28. 103 Die Scham steht, wie Scheler es sieht, dabei im Dienst der Liebe. Sie vertritt als »Dienerin« und »Gewissen« der Liebe »die Liebe gegen die Blindheit des Geschlechtstriebs« und bildet »gleichsam die Puppenhülle, in der die Liebe langsam so weit reifen kann, bis sie die Puppenhülle rechtmässig durchbricht«: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 85, 124, 137. Das geschlechtliche Schamgefühl ist Begleiterin und Hüterin der geschlechtlichen Liebe, die zugleich sinnlich und geistig ist und als utopische Einheit von beiden zugleich geprägt ist von der leiblichen Leidenschaft und der Hingabe an den geistigen Wert der Person. Sie fungiert dabei als notwendiges Grenzgefühl 100

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Hofmannsthal Gedanken in dieser reflektierten Weise: »Das Schöne, auch in der Kunst, ist ohne Scham nicht denkbar.«104

des Bewußtseins zwischen »der wertwählenden Funktion der geistigen und seelischen Liebe und dem vitalen Grundtrieb auf Steigerung der Lebensmacht«: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 90, und stellt die Integrationskraft, die Einheit bildende Kraft für die auseinander fallenden Triebregungen in Bezug auf eine Person dar: M. Scheler: Scham [Anm. 1] 124, 132f. 104 H. v. Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Buch der Freunde, X. hg. von B. Schoeller u. E. Hirsch (Frankfurt/Main 1980) 271.

Clemens Albrecht

Anthropologie der Verschiedenheit, Anthropologie der Gemeinsamkeit. Zur Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen

Es gibt Unterscheidungen, die ganze Wissenschaftszweige strukturieren, weil sie unabhängig vom untersuchten Gegenstand eine Eigenlogik entwickeln, die weniger empirisch als epistemologisch plausibel ist. Zu dieser Sorte gehört die Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen. Sie stammt von der amerikanischen Anthropologin Ruth Benedict und wurde im Rahmen einer Japan-Studie ausformuliert, die sie ab 1943 für das Office of War Information (OWI) schrieb. Nach Kriegsende baute Benedict ihre Studie zu einer eigenständigen Publikation aus und veröffentlichte sie 1946 unter dem Titel The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. Das Buch löste sofort nach seinem Erscheinen eine gewaltige Rezeptionswelle aus.1 In den USA lenkte es wie keine andere Publikation die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Leistungen der amerikanischen Kulturanthropologie, speziell der Boas-Schule. Für die amerikanischen Besatzungsoffiziere in Japan wurde es schnell zu einer Art Handbuch im Umgang mit dem besiegten Gegner. Bereits 1948 wurde es ins Japanische übersetzt und seitdem, mit mehr als hundert Auflagen, in ca. 2,3 Mill. Exemplaren verkauft. Eine Umfrage von 1987 ergab, daß mehr als ein Drittel der erwachsenen Japaner The Chrysanthemum and the Sword gelesen hatten oder doch in seinen wesentlichen Thesen kannten. Ruth Benedicts Studie gilt als Nachkriegs-Auftakt der Nihonjinron-Literatur, in der sich die Debatten über das japanische Selbstverständnis abspielen.2 Diese Wirkungsgeschichte läßt sich nur zum Teil über die empirische ›Richtigkeit‹ von Bendicts Thesen erklären. Das Buch ist, methodisch gesehen, ein Meisterwerk der armchair-ethnology. Ruth Benedict konnte zu Beginn ihrer Studien kein Japanisch und hatte sich regional zuvor nur in einer ähnlichen Studie mit Thailand beschäftigt. Kriegsbedingt konnte sie Japan nicht besuchen, sondern wertete umfangreiche Literatur aus (wobei die japanische Poesie eine zentrale

1

Vgl. zur Entstehungs- und ersten Wirkungsgeschichte Judith Modell: Ruth Benedict. Patterns of a Life (London 1984) 281 ff. 2 Pauline Kent: Japanese Perceptions of The Chrysanthemum and the Sword. In: Dialectical Anthropology 24 (1999) 181–192, bes. S. 181 ff; vgl. zur langanhaltenden Tradition des Vergleichs USA-Japan Ronald Dove: Taking Japan Seriously. A Confucian Perspective on Leading Economic Issues (London 1987). Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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Stellung einnahm) und interviewte japanische Einwanderer.3 Ohne jede persönliche Erfahrung im Lande entstand auf der Basis dieser Materialien eine Arbeit, die noch heute durch ihre inhaltliche Dichte mit geradezu literarischen Qualitäten beeindruckt, ein Meisterwerk der Kulturhermeneutik. Gleichwohl war sie methodisch angreifbar und wurde auch oft mit methodischen Argumenten angegriffen. Dies tat der über Jahrzehnte anhaltenden Rezeption jedoch keinen Abbruch. Dieser Erfolg, so meine These, läßt sich nur dadurch erklären, daß Ruth Benedicts The Chrysanthemum and the Sword in einer Epoche geschichtlicher Synthetisierung, der Angleichung politischer Systeme, weltanschaulicher Ordnungen und sozialer Lebenswelten, eine Anthropologie der kulturellen Differenz zelebriert. Das ist die epistemologische Plausibilität der Unterscheidung von Schamund Schuldkulturen. Erst ein präzises Sezieren der Verschränkung von sozialer und epistemologischer Lage macht den Blick dafür frei, daß die Anthropologie, ja alle Sozial- und Kulturwissenschaft, einen dreifachen Realitätsbezug hat: Sie reflektiert auf eine soziale Lage, indem sie empirische Tatsachen erhebt; sie schafft eine soziale Lage, indem ihre Erkenntnisse über menschliches Handeln Anwendung finden; sie erzeugt aber auch unbewußt eine Lage, indem sie über politische Intentionen den Blick für realhistorische Prozesse vernebelt. Insofern zielt die These auf den Nachweis einer Realitätsbindung von Wissenschaft gerade durch ihre ideologische Funktion.

I. Das fremde Japan Die ursprüngliche Erfahrung der Fremdheit Japans für Amerika resultiert unmittelbar aus dem Krieg. Wir kämpften, schreibt Benedict, »gegen eine schwer bewaffnete und gut ausgebildete Nation, die sich nicht auf die abendländische kulturelle Tradition gründete. Kriegskonventionen, die man in den westlichen Nationen schließlich quasi als Gebote der menschlichen Natur anzuerkennen gelernt hatte, existierten für die Japaner nicht. Der Krieg im Pazifik beschränkte sich deshalb nicht auf diverse Landungen an Inselstränden, und bedeutete auch mehr als ein beispielloses logistisches Problem. Denn die größte Schwierigkeit lag im Wesen des Feindes, dessen Verhalten wir erst verstehen mußten, bevor wir ihm gewachsen sein konnten.«4 Dies waren bei weitem keine abstrakten Probleme. In allen Armeen des Westens gilt die Faustregel, daß eine Einheit nicht mehr als ein Viertel bis ein Drittel

3

Vgl. F. Eszar Vogel: Vorwort. In: R. Benedict: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur (Frankfurt/M 2006) 7–10. 4 R. Benedict: Chrysantheme [Anm. 3] 11; vgl. zum folgenden Ebd. 27 ff.

Anthropologie der Verschiedenheit, Anthropologie der Gemeinsamkeit

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Gefallene verkraften kann, bevor sie sich ergibt. Deshalb betrug die Relation Gefallene/Gefangene bei den Amerikanern eins zu vier, bei den Japanern 120 zu eins. Die gefangenen Japaner waren in aller Regel schwer verwundet oder bewußtlos. Generell hatte die japanische Armee keine besondere Versorgung für Verwundete, vor allem keine großen Lazarette im Hinterland. Die Verwundeten wurden an der Front selbst versorgt, und wenn eine Stellung aufgegeben werden mußte, wurden die nicht Transportfähigen erschossen, wenn sie sich nicht mit der letzten Handgranate selbst töteten. Auch das Verhalten der Gefangenen unterschied sich fundamental. Amerikaner berichteten aus japanischer Gefangenschaft, daß, sobald sie die japanischen Bewacher baten, ihre Namen über den diplomatischen Weg in den USA bekannt zu geben, damit ihre Familien ein Überlebenszeichen hätten, sie von diesen Bewachern künftig mit größter Verachtung bestraft worden seien. Nichts empöre die Bewacher außerdem so sehr, als wenn die Gefangenen irgendeinen Schimmer von Freude darüber zeigten, überlebt zu haben, geschweige denn, wenn die Amerikaner lachten. Umgekehrt waren die Amerikaner immer wieder verblüfft, mit welcher Bereitwilligkeit gefangene Japaner sie zu den Stellungen der eigenen Armee begleiteten und ihnen Tips gaben, wie diese Stellungen zu knacken seien. Gleichzeitig war ihnen jedoch das Schamgefühl über die eigene Kapitulation tief eingebrannt. Es war, als ob die ehemaligen japanischen Soldaten ihr Handlungsscript zur Pflichterfüllung einfach in den Dienst des ehemaligen Feindes gestellt hätten. Auch die japanische Kriegspresse bewertete manche Situationen völlig anders. Als ein amerikanischer Kapitän einen Orden bekommen hatte, weil es ihm gelungen war, das eigene Schiff und die Mannschaft durch Flucht zu retten, hagelte es in Japan Spott: Einen Orden verdiene nur der Todesmutige, der Fall beweise den Materialismus der Amerikaner, ihre Unfähigkeit, geistige Prinzipien auch im Kampf zu vertreten. Benedict erklärt diese Phänomene der Fremdheit zunächst historisch, indem sie beschreibt, wie sich in den Jahrhunderten relativer Isolation Japans eine ständische Sozialordnung entwickeln konnte. In der langen und relativ friedlichen, von einer Zentralgewalt beherrschten Tokugawa-Zeit hätten sich die verschiedenen lokalen Sozialordnungen zu einem ständischen Sozialsystem verdichtet, das dem einzelnen zwar einen festen Ort und engdefinierte Pflichten auferlegte, gleichzeitig das Leben aber sicherte und berechenbar machte. In Japan habe sich in dieser langen Phase eine Sozialordnung eingespielt, die den Frieden durch ein umfangreiches System der gegenseitigen Verpflichtungen und Rechte bis in die kleinsten Handlungen herunterbrach. Dieses System der gegenseitigen Verpflichtungen habe sich bis heute in erster Linie in der Sprache erhalten. Es ist zentral für die Weltsicht und die Sozialordnung der Japaner, und alle Phänomene, die den Amerikanern in der Kriegführung als Fremdheit entgegentraten, ließen sich als ein Teil und eine Konsequenz dieses Verpflichtungssystems erklä-

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ren. Begrifflich verdichtete Benedict diese Erkenntnis durch die Schuld-SchamDichotomie.

II. Kultur der Scham Amerikaner, so führt Benedict aus, fühlen sich gewöhnlich als Erben der Vergangenheit, Japaner dagegen als Schuldner. Vieles von dem, was im Westen als ›asiatische Ahnenverehrung‹ bezeichnet werde, sei nur der rituelle Ausdruck für die große menschliche Verpflichtung gegenüber allem, was vorher war. »Da wir Abendländer unserer Verpflichtung gegenüber der Welt, der Fürsorge, Erziehung und dem Wohlergehen, die uns geschenkt wurden, oder auch der bloßen Tatsache, daß wir geboren wurden, so überaus wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen, empfinden die Japaner unsere Handlungsmotivation als unzulänglich. Rechtschaffene Menschen behaupten in Japan, anders als in Amerika, nicht, sie seien niemandem etwas schuldig. Die Vergangenheit bleibt nicht unbeachtet. Vielmehr beruht Rechtschaffenheit in Japan darauf, daß man den eigenen Platz in dem Geflecht gegenseitiger Verpflichtungen erkennt, das Vorfahren wie Zeitgenossen einbezieht.«5 Entscheidend ist, daß diese Verpflichtung nicht nur gegenüber den Verstorbenen besteht, sondern mit jeder sozialen Handlung gegenüber einer bekannten oder auch fremden Person erneuert, ja überhaupt erst geschaffen wird. Das japanische Wort für diese Art von Verpflichtung lautet ›on‹. Dabei gibt es eine klare Hierarchie: die oberste und zentrale Ebene der Verpflichtung liegt beim Kaiser, die zweite bei den Eltern. Dieses ›on‹ steht jedenfalls in seiner Verbindlichkeit immer über den persönlichen Vorlieben einer Person. ›On‹ ist aber nicht ein Geschenk, das man freudig entgegennimmt, sondern jedes ›on‹ enthält eine Verpflichtung. Deshalb sagt man im Japanischen, daß ein ›on‹ jemandem auferlegt wird. Es muß getragen werden, und ist eben nur allzu häufig eine schwere Bürde. Deshalb, so Benedict, vermeiden Japaner, wo sie es nur können, einer anderen Person etwa durch unverlangte Hilfeleistung ein ›on‹ aufzudrängen. Wer jemandem in Japan in solchen Situationen ohne klare Befugnis hilft, setzt sich dem Verdacht aus, sich ungerechtfertigt Vorteile verschaffen zu wollen. »Derjenige, der Unterstützung bekam, würde tief in seiner Schuld stehen. Die Folge ist nicht, daß man versucht, sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen, sondern daß man mit Hilfe eher zurückhaltend ist. Besonders in Situationen ohne formalen Rahmen hüten sich die Japaner, in on verwickelt zu werden. Selbst die Zigarette, die jemand anbietet, zu dem man bisher keine nähere Beziehung hatte, erweckt Unbehagen, und die höfliche Art, sich dafür zu bedanken lautet: ›Oh,

5

R. Benedict: Chrysantheme [Anm. 3] 91.

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dieses giftige Gefühl (ki no doku)‹.«6 Andere Formen des ›on‹ beziehen sich auf den Lehnsherrn, den Lehrer oder jede andere Person, mit der man im Laufe des Lebens eine soziale Beziehung aufbaut. Durch das ›on‹ entsteht also ein gewaltiges System der Verpflichtung gegenüber allen Personen, mit denen man interagiert. Das zeigt sich auch sprachlich. Übersetzt man die Formel, die ein Ladenbesitzer zum Kunden nach dem Kauf spricht (›sumimasen‹) und die in den Wörterbüchern gewöhnlich mit unserem ›Danke‹ gleichgesetzt wird, so ergibt sich wörtlich: ›Oh, dies endet nie‹, aber sinngemäß: ›Ich habe von dir ein on empfangen, und unter den modernen wirtschaftlichen Umständen kann ich dir nie etwas zurückzahlen; es tut mit leid, daß ich mich in einer solchen Position befinde.‹7 Ein anderes Dankeswort bringt dies noch stärker zum Ausdruck: ›katajikenai‹. Es wird mit den Schriftzeichen für Kränkung oder Gesichtsverlust geschrieben und drückt das Schamgefühl dessen aus, der ein ›on‹ empfangen hat, ohne es wieder zurückzahlen zu können. Entscheidend ist, daß die Verpflichtung des ›on‹ gerade dann am unangenehmsten ist, wenn der Geber nicht in einer bestimmten, vordefinierten Stelle des sozialen Systems steht, sondern dem Empfänger unbekannt ist (anonyme Sozialbeziehungen). Denn umgekehrt generiert die Verpflichtung eine reziproke Gegenhandlung, mit der auf sie geantwortet wird, ja mit der sie in einzelnen, klar definierten sozialen Handlungen wie ein Geldbetrag zurückgezahlt werden kann. Dieses System der reziproken Handlung unterscheide nun zwischen verschiedenen Arten und Graden der Rückzahlung eines ›on‹. Die erste und wichtigste ist die gegenüber Kaiser, Nation und Gesetz, den Eltern und der eigenen Arbeit. Diese Handlungen, so Benedict, würden im Japanischen unter dem Oberbegriff ›gimu‹ zusammengefaßt und jeweils spezifiziert. Sie benennen das prinzipiell nicht Rückzahlbare ›on‹, das keine zeitliche Einschränkung hat. Dies hat mannigfache Folgen. Während in den USA die Fahne im Zentrum der nationalen Verehrung und Repräsentation steht, ist es in Japan die Person des Kaisers (Tenno). Er verkörpert den Staatsapparat, dem man deshalb ebenfalls Gehorsam schuldet. Eine der größten Überraschungen für die amerikanischen Sieger war bei ihrem Einzug aufs japanische Festland, daß sie von einer bis vor kurzem noch fanatisch kämpfenden Bevölkerung plötzlich freundlich, nahezu ohne Ressentiments und jedenfalls ohne ideologischen Widerwillen empfangen wurden. Frauen und Kinder standen fähnchenschwenkend am Straßenrand, und die ehemaligen Soldaten lachten den GI’s freundlich zu. Die Amerikaner konnten erst mit Ruth Benedict verstehen, daß der Kapitulationsbefehl des Tenno bei der gesamten Population den Schalter umgelegt hatte: seinem Befehl wurde

6 7

Ebd. 96. Vgl. Ebd. 97.

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Gehorsam geschuldet, weshalb die Besatzer mit offenen Armen empfangen wurden, ohne daß sich am japanischen Verpflichtungssystem etwas zu ändern brauchte. In der Niederlage war dies das höchste Gesetz, und einer Revolution oder re-education bedurfte es nicht. Neben dem ›gimu‹ kennt das System der reziproken Verpflichtung aber auch noch einen Typus von Schulden, der gleichsam mit mathematischer Genauigkeit registriert und auch wieder zurückgezahlt werden kann und gleichzeitig ein Auslaufdatum hat, die ›angemessene Frist‹ (›giri‹). Auch hier unterscheide man wieder zwei unterschiedliche Formen, die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Namen (Ehre) und die Verpflichtung gegenüber der Welt (Lehensherr, Verwandte, Nicht-Verwandte). Pflichten gegenüber Nicht-Verwandten ergeben sich etwa durch Geschenke. Deshalb sollte man tunlichst darauf achten, nie größere Gegengeschenke zu machen, weil man sonst dem Beschenkten wiederum ein unangenehmes ›on‹ auferlegt. In den japanischen Dörfern führten bis weit ins 19. Jh. die Ältesten und in den Familien die Oberhäupter umfangreiche Listen, in denen festgehalten wurde, wer wem bei welcher Gelegenheit (Hausbau, Begräbnis etc.) welche Dienste geleistet hat, damit diese durch ein entsprechendes ›giri‹ ausgeglichen werden können. Sie können sich verzinsen, wenn sie nicht in einer angemessenen Frist zurückgezahlt werden. Hier hat die berühmte Samurai-Tugend der Treue gegenüber dem eigenen Lehnsherrn und gegenüber den Waffenkameraden ihren Ort. Wer ein ›giri‹ nicht zurückzahlt, ist beschämt, vergleichbar nur, so schreibt Benedict, mit einem Bankrott in Amerika: Es sei gleichsam die japanische Art, Schulden aufzunehmen, die sich aber nicht in exakten Geldwerten, sondern in Tauschäquivalenten objektivieren.8 Und schließlich unterscheidet man davon noch eine zweite Variante, das ›giri‹ gegenüber dem eigenen Namen, was gewöhnlich mit ›Ehre‹ rückübersetzt wird. Es umfaßt erstens die Pflicht, bei Beleidigungen den eigenen Ruf wiederherzustellen (im feudalen Japan durch Fehde oder Blutrache, die als legitim und nicht als Aggression gilt); zweitens die Pflicht, bei Versagen im Beruf oder bei Unwissenheit dieses nicht öffentlich zuzugeben, und drittens die Pflicht, den Anstand zu wahren, nicht über die eigenen Verhältnisse zu leben und keine unangebrachten Gefühlsäußerungen zu zeigen. Mit dieser Ebene des ›giri‹ ist eine allgemeine Pflicht angesprochen, die aber nicht im abendländischen Sinne als Tugend oder gar Morallehre fehlgedeutet

8

So hat Christoph Deutschmann gezeigt, daß diese langfristige Verpflichtung durch schwer materialisierbare Tauschäquivalente das Betriebsgeheimnis der japanischen Industrie ausmacht, das in vertikalen hierarchischen Beziehungen zu einer wechselseitigen Verpflichtung zwischen Arbeitern, Angestellten und Management führt [Christoph Deutschmann: Der »Betriebsclan«. Der japanische Organisationstypus als Herausforderung an die soziologische Modernisierungstheorie. In: Soziale Welt (1987) 133–147].

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werden dürfe, sondern als eine soziale Pflicht, eine Norm ohne Wertbindung, die gleichsam aus einem unbestimmten sozialen Hintergrund kommt. Die Welt ist aus dem Gleichgewicht, wenn eine Beleidigung nicht vergolten wird, und die Vergeltung hat nichts mit Gut oder Böse zu tun. Während die Amerikaner große Einkommensunterschiede als gerechtfertigte Folgen individuellen Erfolges ansehen, zeichne sich Japan bis in die Neuzeit durch dezidierte Luxusgesetze aus. Die Samurai pflegten geradezu die Tugend der Askese. Wo andere sich ihrem Hunger ergeben, steckt er sich einen Zahnstocher zwischen die Zähne, während der Bauer neben ihm schmatzt.9 Diese Form des ›giri‹ ist eine japanische Besonderheit, so Benedict, die weder in China noch in Indien zu finden sei. Sie hat eine Fülle von Konsequenzen, die das soziale Leben tief prägen: So ist etwa ein üblicher Tag, ›giri‹ zurückzuzahlen, der Neujahrstag. Wer dann allerdings nicht zahlen könne, dem bleibe, um die eigene Ehre zu retten, nur der Selbstmord. Deshalb steige in Japan immer um Neujahr die Selbstmordrate signifikant. Auch kaiserliche Beamte, wenn sie sich beim Vorlesen eines Erlasses einen Versprecher geleistet hätten, töten sich anschließend selbst. Lehrer an Schulen und Universitäten haben große Schwierigkeiten, einzugestehen, daß sie etwas nicht wissen, und umfangreiche Strategien, solche Situationen zu vermeiden. Die berühmte japanische Höflichkeit resultiere aus der bewußten Einschränkung von Gelegenheiten, den eigenen Namen reinwaschen zu müssen. Deshalb habe Wettbewerb auch in Japan eine gänzlich andere Wirkung als in den USA. Während Amerikaner sich durch Wettbewerbssituationen zu besonderen Leistungen angespornt fühlen, versagen Japaner unter der Angst, am Ende als Verlierer beschämt dazustehen. Japanische Studenten brachten immer dann die beste Leistung, wenn sie an ihrem eigenen Fortschritt gemessen wurden. »Diese Vermeidung direkter Konkurrenz durchzieht das gesamte Leben in Japan. Eine Ethik, die auf on beruht, bietet wenig Raum für Wettbewerb, während der amerikanische kategorische Imperativ darauf beruht, sich in der Konkurrenz mit Mitbewerbern durchzusetzen.«10 Besonders empfindlich reagieren Japaner deshalb auf Spott, auch auf wohlmeinenden. Ein Spötter, so ein gängiges Sprichwort, ist der Mörder an einer Seele. Während auf der einen Seite also unendlich viele soziale Beziehungen potentiell schambehaftet sind, hätten Japaner ein völlig aufgeschlossenes Verhältnis zu leiblichen Genüssen jeder Art. Das beginne beim täglichen heißen Bad, dem ausführlichen Schlaf, der hingebungsvollen romantischen Liebe, die in striktem Gegensatz zu den familiär durch Vertrag geschlossenen Ehen stehe. Der Besuch bei der Prostituierten werde von der Ehefrau durch Wahl passender Kleider vorbe-

9 10

R. Benedict: Chrysantheme [Anm. 3] 134 f. Ebd. 139.

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reitet, die Rechnung des Etablissements gehe danach an sie, den ökonomischen Haushaltsvorstand. Generell hätten Generationen von christlichen Missionaren beklagt, daß Japaner eine merkwürdige Unfähigkeit zeigten, klare Vorstellungen von Gut und Böse zu entwickeln. Besonders sei ihnen die Vorstellung vom bösen, triebhaften Körper und den guten Prinzipien des Geistes fremd. Während sich der Materialismusvorwurf in Amerika auf dieses Verhältnis zwischen körperlichen Bedürfnissen und ihrer Zähmung oder wenigstens Kontrolle durch Tugend beziehe, richte er sich in Japan auf das Verhältnis zu Dingen, zu Besitz. Die ganze japanische Kriegspropaganda zielte auf den Sieg des geistigen Prinzips Japans gegen das materialistische der Amerikaner. Sinnenfreude und eine dezidiert asketische Passion lassen sich verbinden. »Die Japaner machen sich das Leben schwer, indem sie die sinnlichen Freuden kultivieren, dann aber einen Kodex etablieren, demzufolge es nicht Teil einer ernsthaften Lebensweise ist, diesen Freuden nachzugeben. Sie kultivieren die Freuden des Fleisches wie der Künste, und dann, wenn sie in voller Blüte stehen, opfern sie sie ihren Pflichten.«11 Diesen Widerspruch kann man nur verstehen, wenn man gleichsam von einem säkularisierten, auf den sozialen Hintergrund projizierten Tugend-Begriff ausgeht. »Die Japaner waren schon immer sehr bestimmt in ihrer Ablehnung der Vorstellung, daß Tugend bedeutet, das Böse zu bekämpfen.«12 Tugend ist vielmehr etwas ganz anderes: Das sorgsame Vermeiden und komplizierte Ausbalancieren verschiedener sozialer Verpflichtungen, die das Individuum gleichsam im Schnittpunkt gänzlich verschiedener und nur allzu häufig sich überschneidender sozialer Anforderungskreise sehen. In diesem Feld der sozialen Verpflichtungen könne sich nicht herausbilden, was der Westen ein »moralisch verantwortliches Individuum« nennt. Dadurch werde aber erklärbar, was im Westen als Widersprüchlichkeit an japanischem Verhalten und japanischer Kultur wahrgenommen werde: Konversionen, unvermittelte Richtungswechsel der Politik von klaustrophiler Schließung des Landes zu Öffnung, sobald ein paar Kanonenboote auftauchen; Widerstand bis zum letzten Blutstropfen und anschließend freundlich lächelnde Kapitulation; ästhetische Feinfühligkeit bis auf das kleinste Bonsai-Blatt und eine unbeschreibliche Grausamkeit; absolutes Gebot der Höflichkeit und völlige Gleichgültigkeit gegenüber fremden Leiden; kurz: Chrysantheme und Schwert. Während wir im Westen, so folgert Benedict, durch den Ausgleich von Moral und Charakter und Lebensformen eine »geistige Gestalt« schaffen, dadurch Ordnung in unsere Welt bringen und in einer prinzipiell ungeordneten, eben individualisierten Sozialwelt

11 12

Ebd. 159. Ebd. 169.

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leben können, sei die Welt des Japaners immer schon geordnet nach den unterschiedlichen Anforderungskreisen, die ihn mit ihrem ›on‹ umgeben. »Besonders wichtig für die Menschen des Westens ist die Erkenntnis, daß es unter den ›Kreisen‹, in welche die Japaner das Leben einteilen, keinen ›Kreis des Bösen‹ gibt. Das soll nicht heißen, daß die Japaner ein falsches Verhalten nicht als solches erkennen, aber sie betrachten das menschliche Leben nicht als Bühne eines Kampfes zwischen den Mächten des Guten und Bösen. Für sie ist die menschliche Existenz ein Drama, in dem ein sorgsames Ausbalancieren der Ansprüche des einen ›Kreises‹ gegen die Ansprüche des anderen, der einen Vorgehensweise gegen die andere erforderlich ist, wobei jeder Kreis und jede Vorgehensweise für sich genommen gut sind.«13 Japanische Theaterstücke und Filme handelten deshalb auch nicht vom Kampf zwischen Gut und Böse, sondern von Konflikten zwischen den unterschiedlichen Verpflichtungskreisen. Dies kann man durch eine der Geschichten, die Benedicts Erklärungsmodell illustrieren, erläutert: Ein Samurai bekommt von seinem Lehnsherrn den Auftrag, den Shogun beim Besuch zu töten, wenn dieser beim Gastmahl sitzt, und zwar im Rahmen eines Schwerttanzes. Der Samurai tanzt, ist aber hin- und hergerissen zwischen dem ›giri‹ gegenüber dem Lehnsherrn und dem ›chu‹ gegenüber dem Shogun und holt deshalb nicht zum tödlichen Stoß aus. In der Nacht führt der Samurai den Shogun auf geheimen Wegen aus der Burg, kehrt dann aber zurück, um seine Pflichtverletzung gegen den Lehnsherrn mit dem Tode zu bezahlen. Wo ist in dieser Geschichte Gut und Böse? Irrelevant. Aber der tragisch und konsequent am Dilemma zwischen gegensätzlichen sozialen Anforderungen scheiternde Einzelne in vollendeter Tugend: Das ist der Stoff, der Japaner im Theater und im Kino bewege. Ein Happy End dagegen finden sie langweilig.14 Mit dieser phänomenologisch dichten Beschreibung der japanischen Kultur und Sozialordnung hat Ruth Benedict nun die Grundlage gelegt für ihre zentrale Unterscheidung: »In anthropologischen Untersuchungen wird streng unterschieden zwischen Kulturen, die sich auf Schamgefühl gründen, und Kulturen, die sich auf Schuldgefühl gründen. Eine Gesellschaft, die absolute moralische Normen zum Maßstab erhebt und dann darauf vertraut, daß die Menschen ein Gewissen entwickeln, ist definitionsgemäß eine schuldgefühlgesteuerte Gesellschaft, aber ein Mensch in einer solchen Gesellschaft kann, wie in den Vereinigten Staaten, darüber hinaus unter Schamgefühlen leiden, wenn er sich irgendwelche Taktlosigkeiten vorwirft, die in keiner Weise Sünden sind. Er kann vielleicht furchtbar betroffen sein, daß er einmal nicht die richtige Kleidung trug oder etwas Falsches sagte. In einer Kultur, in der das Schamgefühl eine we-

13 14

Ebd. 175. Ebd. 170 f.

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sentliche Sanktion darstellt, fühlen sich Menschen betroffen von Handlungen, von denen wir annehmen, daß sie ihretwegen Schuldgefühle entwickeln. Diese Betroffenheit kann sehr heftig sein und, anders als Schuldgefühle, nicht durch Beichte und Sühne gelindert werden. Ein Mensch, der gesündigt hat, kann Erleichterung finden, indem er jemandem sein Herz ausschüttet. Dieses Mittel des Schuldbekenntnisses wird in der Psychotherapie und von vielen religiösen Gruppierungen angewandt, die sonst nur wenig Gemeinsamkeiten haben. Wir wissen, daß es Erleichterung schafft. Wo Schamgefühl die wesentliche Sanktion darstellt, verspürt ein Mensch aber selbst dann keine Erleichterung, wenn er seine Verfehlung etwa einem Beichtvater bekennt. Solange sein Fehlverhalten nicht ›in die Welt gelangt‹, braucht er sich keine Gedanken zu machen, und die Beichte erscheint ihm lediglich als eine Gelegenheit, in Schwierigkeiten zu geraten. Vom Schamgefühl bestimmte Kulturen sehen daher keine Beichte vor, nicht einmal gegenüber den Göttern. Sie haben Zeremonien, die Glück bringen sollen, nicht Sühne und Buße. … Die ersten Puritaner, die in die Vereinigten Staaten kamen, versuchten ihre gesamte Moral auf Schuldgefühle aufzubauen, und jeder Psychiater weiß, welche Probleme die Amerikaner heutzutage mit ihrem Gewissen haben. Doch inzwischen wird in den Vereinigten Staaten immer mehr das Schamgefühl zur Last, während das Schuldgefühl nicht mehr so stark empfunden wird wie in früheren Generationen. Dies wird als Lockerung der Moralvorstellungen interpretiert. Daran mag etwas Wahres sein, aber dies liegt daran, daß wir nicht erwarten, daß das Schamgefühl die schwere Arbeit der Sittlichkeit zu leisten imstande ist. Wir nutzen die akute persönliche Betroffenheit, die das Schamgefühl begleitet, nicht für die Einhaltung unserer sittlichen Normen. Die Japaner tun dies. Ein Versäumnis, ihren klaren Wegweisern zum rechten Verhalten zu folgen, ein Versäumnis, Verpflichtungen gegeneinander abzuwägen oder Notlagen vorauszusehen, ist beschämend (haji). Das Schamgefühl, sagen sie, ist die Quelle der Tugend.«15 Mit der Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkultur bringt Benedict also die kulturellen Differenzen zwischen den USA und Japan auf einen Begriff, hinter dem weit mehr steht als ein terminologischer Augenblickseinfall: Es ist eine noch heute beindruckende dichte Beschreibung japanischer Geschichte, Sozialstruktur und Mentalität, die dem Konzept zunächst seine Plausibilität verlieh. Die Scham-Schuld-Dichotomie aber entwickelte sich zu einer immer wieder aufgegriffenen Figur der Benennung von Differenzen, die ganz jenseits ihrer empirischen Geltung eine epistemische Evidenz hat. Anfang der 50er Jahre gebrauchte sie der Altphilologe Erec R. Dodds in seinem Klassiker The Greeks and the Irrational, um den Unterschied zwischen archaischer und klassischer Epoche

15

Ebd. 196.

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in Griechenland zu benennen.16 Und als Ian Buruma 1994 die spezifischen Muster der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan verglich, leitete ihn die Unterscheidung zwischen Schuld- und Schamkultur durch den Stoff.17

III. Patterns der Fremdheit In Ruth Benedicts Japan-Studie zeigt sich damit eine ethnographische Perspektive, die konsequent Differenzen in den Blick nimmt. Sie dominiert überall dort, wo unser Erkenntnisinteresse nicht mit dem Gattungsmäßigen der Erscheinungen zusammenfällt, sondern wir die »… Erkenntnis derjenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns in ihrer individuellen Eigenart um und derentwillen die wesentlichen sind«18, anstreben. Diese Form der Ethnographie wurde maßgeblich geprägt von Ruth Benedicts akademischem Lehrer, Franz Boas. Boas ist ein großer Mittler zwischen deutscher und amerikanischer Kulturwissenschaft.19 Er implantierte der amerikanischen Kulturanthropologie einen Grundgedanken, der in Deutschland seit Herder die – im weitesten Sinne – historischen Wissenschaften geprägt hat:20 die Überzeugung von der Eigenständigkeit und vom Eigenwert verschiedener Völker und Kulturen, was die US-amerikanische Diskussion unter dem Schlagwort ›Kulturrelativismus‹ bis zu den Multikulturalismus-Debatten, ja bis in die amerikanische Sprachphilosophie prägte.21 Diese (bei Boas noch relativ diffuse, weil selbstverständliche) Grundvorstellung von der Einheit und dem Eigenwert unterschiedlicher Kulturen präzisierte Ruth Benedict in ihrer zentralen theoretischen Schrift, die bereits 1934 erschienen war, aber erst nach dem Erfolg von The Chrysanthemum and the Sword breiter rezipiert wurde: Patterns of Culture.22

16

Eric Robertson Dodds: Die Griechen und das Irrationale (1951) (Darmstadt 1970) 17 ff. Ian Buruma: Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan (München / Wien 1994) bes. 149 ff. 18 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) (Tübingen 19825) 5. 19 Vgl. George W. Stocking (Hg.): Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition, History of Anthropology 8 (Madison 1996). 20 Vgl. Clemens Albrecht/Harald Homann: Die Wiederentdeckung Osteuropas. Herders Perspektive und die Gegenwart. In: Zeitschrift für Politik 40 (1993) 79–97; Hans-Walter Schmuhl (Hg.): Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858–1942) (Bielefeld 2009). 21 Vgl. Gabriele Cappai: Kulturrelativismus und die Übersetzbarkeit des kulturell Fremden in der Sicht von Quine und Davidson. Eine Beobachtung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000) 253–274. 22 Auch dieses Buch wurde unmittelbar nach dem Krieg ins Deutsche übersetzt, und zwar zunächst unter dem Titel Kulturen primitiver Völker (August Schröder Verlag, Stuttgart 1949). 1955 erschien dann in der berühmten Reihe Rowohlt Enzyklopädie eine Neuausgabe, diesmal unter dem treffenderen Titel Urformen der Kultur. 17

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Auch hier geht Benedict zunächst von der unglaublichen Verschiedenheit menschlicher Kulturformen aus: »Man sollte annehmen, daß sich im Verdammen des Totschlages alle Völker einig wären, aber dem ist durchaus nicht so. Es kann vorkommen, daß ein Mörder straflos ausgeht, wenn die diplomatischen Beziehungen zwischen zwei benachbarten Staaten abgebrochen sind, daß es Sitte ist, die beiden ersten Kinder zu töten, daß der Mann Gewalt über Leben und Tod seiner Frau hat oder daß es Kindespflicht ist, die Eltern zu töten, bevor sie das Greisenalter erreichen. Wiederum kann es als todeswürdiges Verbrechen gelten, wenn man ein Huhn stiehlt; anderswo werden diejenigen Kinder getötet, bei denen die oberen Zähne zuerst durchbrechen, oder die, welche an einem Mittwoch zu Welt kommen. Bei einigen Völkern werden die Leute dafür gestraft, daß sie die Schuld an einem tödlichen Unglücksfall tragen, bei anderen wieder zieht das keinerlei Folgen nach sich. Ebenso kann Selbstmord unter die Kategorie ›Unbedeutende Vorfälle‹ gerechnet werden, als letzter Ausweg für einen, dem etwas zuwidergelaufen ist – eine Tat, die bei dem betreffenden Stamme gang und gäbe ist. Er kann auch die bedeutendste und edelste Tat darstellen, die ein Weiser vollführen kann. Andererseits wieder kann der Bericht über einen Selbstmord ungläubige Heiterkeit hervorrufen und die Handlung selbst als für einen Menschen unausführbar gelten. Selbstmord kann aber auch ein gesetzeswidriges Verbrechen sein oder als Sünde wider Gott angesehen werden.«23 Entscheidend sei für das Verständnis dieser isolierten Bräuche, Einstellungen oder Handlungsweisen, daß sie über ideelle Muster der Weltdeutung gleichsam von selbst zu einem prinzipiell immer wandelbaren, aber doch relativ geschlossenen Gebilde zusammengefügt würden, das seine eigene Plausibilität entwickle: »In jeder Kultur bilden sich charakteristische Gegebenheiten heraus, welche bei anderen Gesellschaftstypen durchaus nicht vorhanden zu sein brauchen. Je mehr sich ein Volk diesen zwangsläufigen Umständen anpaßt, desto mehr lebt es sich in eben diese Lage hinein; je nach dem Druck, den diese Faktoren ausüben, gewinnt das Gesamtbild der bisher heterogenen Einzelerscheinungen mehr und mehr an Einheitlichkeit. Selbst die heterogensten Handlungen können, nachdem sie zum Bestandteil einer restlos ›vereinheitlichten‹, integrierten Kultur geworden sind, für deren Ziele charakteristisch werden, wenn auch oft erst nach einer höchst eigenartigen Metamorphose. Die Erscheinungsformen dieser Faktoren können wir nur dann richtig verstehen, wenn wir uns vorher über die gefühls- und verstandesmäßigen Triebfedern der betreffenden Kultur klar geworden sind. Eine solche Entwicklung einer Kultur nach einem bestimmten Schema (pattern) darf keineswegs als unwichtiger Umstand angesehen werden.«24

23 24

R. Benedict: Kulturen primitiver Völker (1934) (Stuttgart 1949) 41 f. R. Benedict: Kulturen [Anm. 23] 42.

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Hier zitiert Benedict zunächst Diltheys Weltanschauungstypen25 als zwar nicht endgültige, aber relativ integrierte Fundamentalkategorien, deren Richtigkeit in ihrem Bezug zu den zeitgebundenen Lebensformen liege. Diesen Gedanken, so Benedict weiter, habe dann Oswald Spengler aufgegriffen und systematisiert. Spengler hatte die Eigenständigkeit von Kulturen auf die Spitze getrieben, indem er sie mit Organismen verglich: Jede Kultur hat ihren Keimzustand, ihre Entfaltung, ihre Blüte und ihr Absterben.26 Ruth Benedict kritisierte zunächst die Spenglersche Vorstellung, man könne auch so vielschichtige Kulturen wie die der Gegenwart mit der unverfälschten Homogenität einer »folk culture« vergleichen. Sie deutete den Organizismus Spenglers als Metapher, übernahm aber einen anderen Zentralgedanken: Jede Kultur, so hatte Spengler behauptet, hat einen »Urgedanken« (deshalb die deutsche Übersetzung »Urformen«), den sie bis zu seiner letzten Konsequenz entfalten, aber nie transzendieren kann. Die zeigt er etwa am Gegensatz zwischen euklidischer Geometrie und antiker Plastik auf der einen, der Gotik und der Infinitesimalrechnung auf der anderen Seite – apollinische Körperbezogenheit auf der einen, faustisches Unendlichkeitsstreben auf der anderen Seite, so lassen sich Antike und abendländische Kultur in ihrem ›Urgedanken‹ unterscheiden. Ruth Benedict greift diesen Gedanken auf, aber operationalisiert ihn gleichsam, indem sie aus einer organizistischen Metapher eine soziale Konstruktion macht, die sich durch die Beschreibung historischer Lagen verdichten läßt, sich formt, wandelt, Kohärenzen entwickelt, diffundiert, erodiert, kurz: die eine Kultur eben durch ihre patterns beschreib- und verstehbar macht. Diesen Ansatz greift sie dann in ihrem Japan-Buch auf: »Eine menschliche Gesellschaft muß sich selbst einen Lebensentwurf geben. … Und wenn Menschen ein allgemeines System von Werten und Regeln akzeptiert haben, können sie nicht auf Dauer in einem abgeschirmten Bezirk ihres Lebens nach einem abweichenden Wertesystem denken und handeln, ohne Ineffizienz und Chaos heraufzubeschwören. … Ein gewisses Maß an Konsistenz ist erforderlich, damit nicht das Ganze auseinanderfällt. Wirtschaftstätigkeit, Familienstrukturen, religiöse Riten und politische Ziele sind auf diese Weise miteinander verzahnt.«27 Diese Verzahnung aber kann in verschiedenen Kulturen ein höheres oder ein geringeres Maß an Kohärenz erzeugen. Japan, so Benedict, sei durch eine sehr kohärente Kultur gekennzeichnet, die sich allerdings nur aufgrund der natürlichen Isolation durch die Insellage (Scheitern der mongolischen Eroberungsver-

25

Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Stuttgart 19575); Benedict hat Dilthey in deutscher Sprache gelesen. 26 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1923) (München 1980). 27 R. Benedict: Chrysantheme [Anm. 3] 20.

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suche, die alle ostasiatischen Hochkulturen geprägt haben28) und aufgrund einer besonderen Geschichte über Jahrhunderte herausbilden konnte. Wegen dieser Kohärenz zwischen Werten, Weltbildern, Handlungsformen und sozialen Strukturen sind Kulturen allerdings auch verstehbar. Der fremden sozialen Praxis steht man fremd gegenüber, der ideellen Kohärenz, die diese Praktiken sinnhaft aufschlüsselt, dagegen nicht.

IV. Anthropologie der Verschiedenheit – Politik der Gemeinsamkeit Der Boassche Kulturrelativismus als Anthropologie der Verschiedenheit entwickelte sich nicht konkurrenzlos zum zentralen theoretischen Modell, das die amerikanische Kulturanthropologie seit den 30er Jahren dominierte, sondern stand im Wettstreit mit zwei Gegenlinien: dem Neo-Evolutionismus und dem wissenschaftlichen Rassismus. Wie ernstzunehmend diese Gegner der Boas-Schule erschienen, zeigt Ruth Benedicts Publikation von 1940 Race: Science and Politics. Der wissenschaftliche Rassismus konkurriert insofern mit dem Kulturrelativismus, als er eine Anthropologie der Differenz auf naturalistischer Grundlage bietet. Die Unverfügbarkeit dieses Naturalismus war jedoch der Punkt, gegen den die Boas-Schule ihre eigenen Positionen politisch auffuhr. Denn auf rassistischer Grundlage wurden die Konflikte zwischen sozialen Gruppen zu einer Auseinandersetzung über Lebensrechte und Lebenschancen, die sich den biologischen Überlebenskampf der Arten zum Muster wählte. »Culture, not race, determined behavior, and culture was not innate or biological but was a pattern of values learned in daily life.«29 Anders der Evolutionismus. Vor allem die englische, aber auch die französische Kultur-, Sozialanthropologie oder Ethnologie hatte ein gänzlich anderes Ordnungsschema für die Vielheit der Kulturen gewählt: den Evolutionismus. Am Gradmesser der sozialen und kulturellen Differenzierung lasse sich, so die Grundüberzeugung evolutionistischer Autoren wie Herbert Spencer in England oder Émile Durkheim in Frankreich, ein klarer Maßstab zur Beurteilung dieser Kulturen aufstellen. Dahinter verbarg sich die Überzeugung, daß im Laufe des evolutionären Prozesses die Vielheit der Kulturen allmählich verschwinde und sich eine große – und richtige – Weltzivilisation entwickeln würde. Der Evolutionismus liefert eine Anthropologie der Verschiedenheit auf historischer Grundlage.

28

Vgl. zu den Folgen: Stuart Legg: Die ersten Reiter. Die Völker aus dem Herzland Asiens (Tübingen 1971) 360. 29 Christopher Shannon: A World Made Safe for Differences: Ruth Benedict’s The Chrysanthemum and the Sword, in: American Quarterly 47 (1995) 663.

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Ein Problem kann der Evolutionismus jedenfalls effektiv beseitigen: die Konkurrenz anderer Kulturen als andersartige, aber prinzipiell mögliche Entwürfe zur eigenen Lebensführung verschwindet, wenn er sie gleichsam über die Zeitachse in eine eindeutige Wertigkeit einstufen kann. Es ist kein Zufall, daß der Evolutionismus damit zu funktionalen Erklärungen der verschiedenen Kultureinrichtungen, der sozialen Strukturen und Institutionen tendiert (Malinowski), während der Kulturrelativismus sich stets auch hermeneutisch vor einem Verstehensproblem sieht. Patterns of Culture arbeitet deshalb nicht mit Bewertung der Differenzen auf der Zeitachse (›primitive vs. höhere Kultur‹30), sondern mit Kulturtypen, die ein bestimmtes »Menschentum« (Max Weber), einen way of life verkörpern, der veränderbar ist, Strukturen langer Dauer hat, eine relative Kohärenz, aber gerade deshalb auch verstanden und toleriert werden kann: als eine ernstzunehmende Möglichkeit, das nicht durch Natur oder Geschichte festgelegte menschliche Leben zu führen. Insofern war die Boas-Schule in ihrer kulturrelativistischen Ausrichtung dezidiert verbunden mit einer politischen Perspektive, die gerade durch die Betonung der kulturellen Differenz auf Toleranz setzt.31 Margaret Mead gründete 1939 das Committee for National Moral, und beide, Mead wie Benedict, sahen keinen Widerspruch zwischen ihrer humanistischen Weltsicht und ihrer Tätigkeit für den amerikanischen Kriegsapparat. Denn letztlich zielte ihre Anthropologie der Verschiedenheit auf die Möglichkeit zum friedlichen Zusammenleben in einer Welt, in der die Kulturen ein Verständnis füreinander entwickeln und sich in ihrer Differenz tolerieren lernen. »The imperial vision of The Chrysanthemum and the Sword lies not in making Japan a cultural colony but in making Japan cultural equal.«32 Denn die Erkenntnis richtete sich stets nach zwei Seiten: Amerikaner wurden über Japaner, aber auch über sich selbst aufgeklärt; und umgekehrt. So neigen Amerikaner, wie Benedict schreibt, zu einer Toleranz unterschiedlicher individueller Lebensstile nach innen, aber zu einer Intoleranz nach außen, während in Japan sich die Intoleranz auf interne Abweichungen beziehe. Aus dieser Anthropologie der Verschiedenheit ergibt sich auch eine deutliche Kulturkritik an den neurotisierten Amerikanern, die auf das Selbstverständnis Amerikas zurückwirkte: »Oppositions such as hierarchy versus equality and shame versus guilt have structured America’s conception of itself in relation to not only non-Western cultures but Europe as well.«33

30

Als Klassiker: Lucien Lévy-Bruhl: La mentalité primitive (Paris 1912). Margaret M. Caffrey nennt das »the politics of culture« [Ruth Benedict. Stranger in this Land (Austin 1989) 282 ff]. 32 C. Shannon: Differences [Anm. 29] 671. 33 Ebd. 568. 31

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In dieser gegenseitigen Aufklärung liegt jedoch eine spezifische Pointe verborgen. Denn die liberale Ostküsten-Ethik der Toleranz und des internationalen Ausgleichs durch eine intellektuell elaborierte Kulturhermeneutik setzt selbst einen bestimmten Menschentypus, eine spezifische Weltsicht, einen way of life, ja eine besondere Kultur voraus. Christopher Shannon resümiert deshalb: »Benedict’s conception of a world made safe for differences ultimately reduces to a vision of a world made safe for the personal ethic of the cosmopolitan, responsible, liberal intellectual.«34 Insofern erscheint es nicht als ein historischer Zufall, daß ausgerechnet eine Anthropologie der Verschiedenheit die Epoche der Angleichung der Lebensumstände begleitet, die innerhalb der westlichen Welt, und ab 1989 auch im Osten, die realen Lebensumstände der globalen Mittelschichten dem amerikanischen Modell anglichen. Denn mit und durch Ruth Benedict lernten die jungen Japaner, das System der sozialen Zwänge zu durchschauen, ihre individuellen Bedürfnisse zu erkennen und sich nach und nach die Freiräume dafür zu erobern, genauso wie die jungen Amerikaner lernten, sich von ihren puritanischen Schuldkomplexen und ihrer rigiden Sexualethik zu distanzieren.

V. Anthropologie der Gemeinsamkeit – Politik der Verschiedenheit Diese Ethik der amerikanischen Ostküsten-Elite kollabierte, so Christopher Shannon, mit dem Vietnam-Krieg und der Vision von der Great Society. Gleichzeitig aber breitete sich als neue Leittheorie der Multikulturalismus aus. Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei ihm um eine radikalisierte Variante des Kulturrelativismus, der die Politik der Tolerierung von Differenzen nun auch auf innergesellschaftliche Gruppen herunterbricht. Bei näherer Betrachtung steckt hinter dem Multikulturalismus jedoch eine Anthropologie der Gemeinsamkeit. Sie zeigt sich in erster Linie in der konstruktivistischen Kritik an jeder kulturellen Entität; denn jede Kulturform, so die Grundüberzeugung, ist ›gemacht‹ in einem doppelten Sinne: hergestellt aufgrund spezifischer Interessenlage von dem Kulturträger selbst, der sie jederzeit ablegen kann wie ein Hemd, um andere Formen zu wählen, andererseits aber auch von demjenigen, der sie im Zuge eines Erkenntnisprozesses konstruiert, meist durch die Brille seiner spezifischen Interessen als Mann, als Frau, als Amerikaner, als Mitglied einer bestimmten sozialen Schicht oder Gruppe. Der Mensch, so die Botschaft hinter dem Multikulturalismus, ist in Wirklichkeit überall das gleiche Wesen, das an seiner Identität bastelt und dabei Machtprozessen ausgesetzt ist oder sie ausübt. Hinter der kulturellen Oberfläche der Verschiedenheit steckt also eine Anthropologie der Gemeinsamkeit, und das

34

Ebd. 676.

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daraus resultierende politische Unterfangen richtet sich auf die Anerkennung dieser Gemeinsamkeit durch die Marginalisierung einer zur Patchwork-Identität deklarierten Kultur, was als demokratischer Imperativ notwendig aus der konstruktivistischen Ethik folge.35 Aber auch die Anthropologie der Gemeinsamkeit ist von einem gegenläufigen realhistorischen Prozeß begleitet. Gleichwie der Boassche Kulturrelativismus sich parallel zur Amerikanisierung der Welt entfaltete, so geht der universalistische Multikulturalismus einher mit einer breit angelegten Re-Ethnisierung der Welt, die, bei voller Kenntnis der anderen Lebensform, bewußt auf die Differenz setzt. Islamismus und das wachsende nationale Selbstbewußtsein Chinas sind die Beispiele, die, zumindest im ersten Fall, bereits heute eine Fremdheit mit dem Feinde zeigen, welche nach kulturhermeneutischer Aufklärung durch eine neue Ruth Benedict schreien. Wer erklärt uns die Taliban? Jedenfalls kein Anthropologe der Gemeinsamkeit.

VI. Die Wippe der Anthropologen Gegenüber einer Parkbank, auf der ich gerne lese, liegt ein Kinderspielplatz, der durch eine Palisadenwand vom Park getrennt ist. Sitzen Kinder auf der Wippe, sieht man stets nur den Teil von ihr, der gerade in die Luft gehebelt wird. Das eigentliche Geschehen aber, das die Wippe in Bewegung hält, spielt hinter dem Zaun im Verborgenen: Das andere Kind stößt sich vom Boden ab, um alsbald selbst in der Höhe sichtbar zu werden. Verschiedenheit und Gemeinsamkeit sitzen auf dieser Wippe. Das, was man sieht, ist immer die Anthropologie; das, was verborgen ist, die geschichtliche Entwicklung. Und beide hängen zusammen.

35

Kersten Reich: Fragen zur Bestimmung des Fremden im Konstruktivismus. In: Stefan Neubert/Hans-Joachim Roth/Erol Yildiz (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion (Opladen 2002) 173–194.

Axel T. Paul

Die Gewalt der Scham Elias, Duerr und das Problem der Historizität menschlicher Gefühle∗

Die Soziologie der Gefühle ist ein vergleichsweise neues, seit etwa 15 Jahren allerdings intensiv bearbeitetes Feld.1 Man erkennt nicht nur, daß Emotionen und Kognitionen das Denken und Tun der Menschen gleichermaßen bestimmen, sondern auch und vor allem, daß Gefühle eine zugleich private und hochgradig soziale Angelegenheit sind. Was in welch je individuellem Zustand und Mischungsverhältnis auch immer als allgemein menschlich gilt, erweist sich bei näherem Hinsehen als alters-, geschlechts-, schichten- oder kulturspezifisches Empfinden. Die Forschung entdeckt eine große Variabilität und Historizität von Gefühlen. Was und vor allem wie wir empfinden, muß nicht immer schon empfunden worden sein. Sieht man nur ein wenig genauer hin, zeigen sich freilich auch auf diesem Gebiet ehrwürdige Vorläufer und ergiebige Vorarbeiten. Man denke nur an Georg Simmel, Vilfredo Pareto oder Erving Goffman. Weniger naheliegend vielleicht, der Sache nach einer Soziologie der Gefühle aber unbedingt zuzurechnen, ist das Werk von Norbert Elias. Nicht als erster und einziger, aber doch auf besonders eindrückliche Weise historisiert Elias in seinem Prozeß der Zivilisation die menschliche Natur und hier vor allem den menschlichen Gefühlshaushalt. Sein Buch war ein Meilenstein und gehört mittlerweile zu Recht zum Kanon der Soziologie. Mit gewissen Einschränkungen hier und Ergänzungen da gilt, was Elias für die frühe Neuzeit Europas beschreibt und von dort aus auf die Welt überträgt, weithin als gesichertes Wissen. Dies ist zumindest der erste Eindruck, der nach Sichtung der Reaktionen entsteht, die auf Hans Peter Duerrs seit 1988 in mehreren Salven auf die Eliassche Theorie abgefeuerte Kritik folgten.2 Ich meine * Erstveröffentlichung in Mittelweg 36, 16 (2007) Heft 2. 77-99. 1

Siehe Arlie R. Hochschild: Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle (Frankfurt/M./New York 1990); Jürgen Gerhards: Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven (Weinheim/München 1988); Helena Flam: Soziologie der Emotionen (Konstanz 2002). 2 Vgl. Michael Maurer: Der Prozeß der Zivilisation. Bemerkungen eines Historikers zur Kritik des Ethnologen Hans Peter Duerr an der Theorie des Soziologen Norbert Elias. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40 (1989) 225–238; Günther Pallaver: Der Streit um die Scham. Zu Hans Peter Duerrs Demontage des »Zivilisationsprozesses«. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 14 (1989) Nr. 4. 63–71; Cas Wouters: Duerr und Elias. Scham und Gewalt in Zivilisationsprozessen. In: Zeitschrift für Sexualforschung 7 (1994) 203–216; Stephen Mennell, Johan Goudsblom: Civilizing Processes – Myth or Reality? A Comment on Duerr’s Critique of Elias. In: Comparative Studies in Society and History 39 (1997) Nr. 4. 729–733; Michael Hinz: Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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jedoch, daß eine Soziologie der Gefühle Duerrs empirischen und theoretischen Einwänden gegen Elias Rechnung zu tragen hat. Denn wie bei vielen klassischen Texten scheint mir auch in Hinblick auf das Zivilisations-Buch Elias’ zu gelten, daß es eher die Fragestellung ist, die heute noch zählt, als der Gehalt seiner Thesen. Ich möchte darum im folgenden eine wesentlich von Duerr inspirierte Lesart der Zivilisationstheorie und insbesondere des von ihr unterstellten Zusammenhangs von Scham und Gewalt vorschlagen und werde dabei in fünf Schritten vorgehen. Erstens werde ich Elias’ Aussagen zur Rolle der Scham im Zivilisationsprozeß knapp rekapitulieren. Zweitens werde ich mit Duerr Elias’ Europäisierung der Scham in Frage stellen. Drittens werde ich in einigen Zügen eine Anthropologie der Scham skizzieren und viertens noch einmal das Verhältnis von Scham und Sozialstruktur beleuchten. Fünftens und abschließend möchte ich im Rückgriff auf das Informalisierungstheorem versuchen, die vorderhand diametral entgegengesetzten Positionen Elias’ und Duerrs, wenn nicht miteinander zu versöhnen, so doch ins Gespräch zu bringen.

I. In Elias’ Arbeit über den Prozeß der Zivilisation aus dem Jahre 1939 spielt die Scham eine prominente, nicht bloß illustrative, sondern erklärende Rolle. Denn die Zivilisation, zunächst im Sinne einer Befriedung, Mäßigung und Differenzierung des menschlichen Triebinventars, ist Elias zufolge gleichbedeutend mit dem Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen.3 Insbesondere sei es die Gewalt, welche durch strenge Schamstandards in Schach gehalten werde. Bekanntlich untersucht Elias die Veränderungen im Verhalten vor allem der höfischen Oberschichten vom Ausgang des Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert. Zentrum seiner Untersuchungen bildet der französische Absolutismus. Gestützt zu wesentlichen Teilen auf Manierenbücher der Renaissance beschreibt er, wie ehedem selbstverständliche Verrichtungen wie das Schneuzen, Rülpsen, Furzen und selbst Urinieren bei Tische, aber auch der Gebrauch des Messers sukzessive mit einem Tabu oder wenigstens einer bestimmten Etikette belegt werden. Eben-

Der Zivilisationsprozeß: Mythos oder Realität? Wissenschaftssoziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse (Opladen 2002); Robert van Krieken: Occidental Self-Understanding and the Elias-Duerr Dispute: ›Thick‹ versus ›Thin‹ Conceptions of Human Subjectivity and Civilization. In: Modern Greek Studies 13 (2005) 273–281; wohltuend differenziert dagegen Christioph Marx: Staat und Zivilisation. Zu Hans Peter Duerrs Kritik an Norbert Elias. In: Saeculum 47 (1996) 282–299; und überzeugend gegen Elias Stellung beziehend Mathias Schloßberger: Rezeptionsschwierigkeiten. Hans Peter Duerrs Kritik an Norbert Elias’ historischer Anthropologie. In: Leviathan 28 (2000) Nr. 1. 109–121. 3 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes (Frankfurt/M. 1976) 135.

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so würden Nacktheit und Sexualität, welche im Mittelalter vergleichsweise ungezwungen hätten gezeigt und gelebt werden können, graduell hinter die Kulissen beziehungsweise aus der Öffentlichkeit in eine entstehende Privatsphäre hinein verlegt. In ihrer ersten Bedeutung meint Zivilisation nicht mehr als genau diese Delegitimierung und Verfeinerung körpernaher Interaktionsformen. Elias’ Originalität besteht darin, diese Entwicklung kausal mit der Herausbildung von Staaten, das heißt insbesondere der Entstehung eines staatlichen Gewaltmonopols in Verbindung zu bringen. Die frühneuzeitliche Verstaatlichung führt zur Entwaffnung des Kriegeradels, der Binnenpazifizierung immer größerer Räume und schließlich zur Herausbildung eines neuen zivilisierten, rationaleren Interaktionsstils, für den Weitsicht statt Sorglosigkeit, Einsicht in die Abhängigkeit von den Leistungen anderer statt Autonomie, Rücksicht statt emotionaler Spontaneität und nicht zuletzt Scham statt Gewalttätigkeit kennzeichnend sind. Ist es zunächst die Soziogenese des Staates, welche die Zivilisierung der Individuen anschiebt, so treten gesellschaftliche Differenzierung und psychische Disziplinierung fürderhin in ein wechselseitiges Bedingungs- und Steigerungsverhältnis. Diese nachdrücklich in der europäischen Neuzeit in Fahrt gekommene, weder geplante noch aus freien Stücken zu bezweckende, deswegen jedoch nicht richtungslose Bewegung extrapoliert Elias zum Prozeß der Zivilisation im weiteren Sinne einer universalhistorischen, spätestens durch den europäischen Kolonialismus unumkehrbar gewordenen Tendenz.4 Entscheidend nun, weil ursächlich dafür, daß jener Umschlag sowie die andauernde Vermittlung von Sozio- und Psychogenese gelingen, ist die Transformation zwischenmenschlicher Fremd- in einzelmenschliche Selbstzwänge.5 Genau genommen beschreibt Elias einen dreistufigen Prozeß vom ungezwungenen Mittelalter über die höfisch erzwungene Zivilisierung des Kriegeradels zur vordergründig zwanglosen Selbstdisziplin des modernen Menschen. Die Entwaffnung des Adels und der Aufbau eines staatlichen Repressionsapparats sind notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen des Zivilisationsprozesses. Dieser, das heißt konkret die Übertragung des zivilisierten Verhaltens der Oberschichten auf die Bevölkerung, ja letztlich die Menschheit insgesamt, werde vielmehr getragen durch den Affekt der Scham. Scham ist nach Elias ein Indikator und zugleich der zentrale Mechanismus der Verwandlung von Fremd- in Selbstzwänge. Er definiert Scham als Angst vor sozialer Degradierung, als verinnerlichten und vorauseilenden Gehorsam letztlich gegenüber der politischen Macht, welche freilich nicht mehr als solche, sondern moralisch und normativ als Teil des Selbst wahrgenommen werde.6

4

Vgl. ebd., Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation (Frankfurt/M. 1976) 344 u.ö. 5 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 1 [Anm. 3] LXI. 6 Vgl. ebd. Bd. 2 [Anm. 4] 397f.

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Scham entsteht bei Elias, wenn nicht überhaupt, so doch als dominantes Verhaltensregulativ, am Hofe der frühneuzeitlichen Monarchen, als Ausdruck und Garant einer erfolgreichen Anpassung an das höfische, zivile und nicht-kriegerische Tugenden belohnende Zeremoniell. Von dort diffundiert sie zunächst über Prozesse der Nachahmung, später dann auf dem Wege der Weitergabe qua Erziehung in alle Kreise und Schichten der Gesellschaft. Was mit der Pazifizierung des europäischen Kriegeradels seinen Anfang nimmt, ist zwar nicht die Geburt, wohl aber das individuelle wie statistische Dominant-Werden des Über-Ichs. Elias verknüpft Freuds doppelte Annahme, daß die menschliche Psyche sich historisch entwickelt und die Geschichte der Menschheit die Etappen der individuellen Entwicklung wiederholt, mit Marx’ Gedanken, wonach mutmaßlich sekundäre Phänomene wie das Affekt- und Triebleben der Menschen auf die ihnen zugrundeliegenden, in diesem Fall freilich nicht wirtschaftlichen, sondern politischen Strukturen zurückgeführt werden müssen. Obwohl oder gerade weil Elias sich nicht dazu äußert, welche Instanzen und Aspekte der menschlichen Psyche der Natur, welche demgegenüber der Kultur und Geschichte zuzuschlagen sind, hat man den Eindruck, daß er – anders als Freud, für den die Scham ein hereditäres Merkmal des Menschen war7 – diese wie die Psyche überhaupt, ja, wie das gesamte Verhaltensrepertoire von Menschen für wenn nicht kontingent, so doch für außerordentlich formbar hält. Aus eben diesem Grunde wird ihm die »soziogene Scham«8 als Affekt, genauer: als affektiver Automatismus, sich für Normverstöße selbst an die Kandare zu nehmen, zum Siegel und Maßstab gelungener Zivilisierung. Im Unterschied zu Freud spielt das Ich in Elias’ Konzeption der menschlichen Psyche keine systematische Rolle. »Wo Es war, soll Über-Ich werden« – so lautet hier die programmatische Formel.

II. Unter den zahllosen Kritiken, die Elias’ Zivilisationstheorie auf sich gezogen hat, sticht eine schon allein ob ihres Umfangs hervor. Von 1988 bis 2002 hat der Ethnologe Hans Peter Duerr unter dem Titel Der Mythos vom Zivilisationsprozeß ein fünfbändiges, mehrere tausend Seiten starkes Werk vorgelegt, das die Eliassche Theorie nicht nur zu revidieren, sondern regelrecht zu zertrümmern sucht. Besonderes Augenmerk verdient Duerrs nachgerade enzyklopädische Arbeit aber auch deshalb, weil sie die emblematische Rolle der Scham bei Elias erkennt und ihre Kritik genau hier ansetzt. Zu unterscheiden sind dabei empirische, politische und theoretische Einwände.

7

Vgl. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: ders.: Studienausgabe. Bd. 5: Sexualleben (Frankfurt/M. 1972) 37–145, hier 85. 8 Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 1 [Anm. 3] 262.

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In empirischer Hinsicht unterscheidet Duerrs Arbeit sich dadurch von Elias’ Prozeß der Zivilisation, daß er nicht nur europäische spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen auswertet und diese zudem einer weitaus filigraneren Kritik unterzieht, sondern daß Kulturen aus allen Epochen und Weltgegenden in Hinblick darauf befragt werden, ob und inwieweit in ihnen schamloses und deswegen unzivilisiertes Verhalten oder umgekehrt zivilisierte Schamhaftigkeit festgestellt werden kann. Denn nicht anders als für Elias besteht für Duerr ein Zusammenhang zwischen Schamlosigkeit und Gewalt beziehungsweise Scham und Gewaltlosigkeit. Beide identifizieren Scham als einen Affekt, der die Leidenschaften im Zaum hält. Für die Eliassche Zivilisationstheorie fällt Duerrs Durchgang durch die Kulturgeschichte freilich erschütternd aus. Denn die Annahme, frühere oder einfachere, wissenschaftlich-technisch weniger entwickelte und vor allem sozialstrukturell weniger differenzierte Kulturen als die unsrige kennten keine Scham oder wären wenigstens weitaus weniger schamhaft als neuzeitliche Europäer, erweist sich als Schimäre. Wie Duerr zeigen kann, ist Scham, insbesondere Körper- und Genitalscham, vielmehr ein kultur- und wahrscheinlich sogar menschheitsgeschichtlich universales Gefühl, auch wenn es sich selbstverständlich unterschiedlich ausdrückt und nicht stets auf dieselben Anlässe hin entsteht. Um ein einfaches Beispiel zu bemühen: die Tatsache, daß Angehörige einer fremden Kultur so gut wie unbekleidet leben, bedeutet mitnichten, ihnen sei die Körperscham fremd. Erstens können bereits Schmuckstücke oder Tätowierungen als Kleidung fungieren, zweitens sind auch und gerade »nackten Wilden« längst nicht alle Posen gestattet, und drittens kennen und achten derartige Kulturen ein striktes Reglement der Blicke. Jemandem unverhohlen auf die Genitalien zu starren, kann strengste Sanktionen nach sich ziehen. Von Nacktheit auf Zwang- und Zügellosigkeit zu schließen, ist ein modernes Phantasma. Den Leidenschaften wird in einfachen Kulturen keineswegs freier Lauf gelassen, es wird nicht »wie wild« vor aller Augen kopuliert. Ganz im Gegenteil unterliegt die Sexualität hier wie überall strengen Tabus und Vorschriften. Vor allem wird sie den Blicken Dritter entzogen; mithin existiert Privatheit selbst dort, wo sie baulich keinen Niederschlag findet. Die Scham ist kein Affekt, der erst dem Zeremoniell bei Hofe entspringt, also auf dem Boden werdender Staatlichkeit entsteht. Ähnliches gilt für die Zähmung der Gewalt. Einfache staatenlose Gesellschaften sind durchaus nicht gewalttätiger als komplexe verstaatlichte Gesellschaften. Nicht erst Duerr, sondern bereits die Sozialanthropologie der sechziger und siebziger Jahre konnte zeigen, daß akephale Jäger- und Sammlergesellschaften weder ihre inneren noch ihre äußeren Konflikte allein oder auch nur vorrangig auf dem Wege physischer Gewaltanwendung regeln.9

9 Vgl. Christian Sigrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung staatlicher Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas (Olten/Freiburg 1967); Be-

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Ein Zusammenhang von Scham und Trieb- beziehungsweise Gewaltkontrolle scheint tatsächlich zu bestehen, jedoch ist die Mobilisierung von Scham zur Vermeidung respektive Schlichtung von Streit und Kampf keine Erfindung der europäischen Neuzeit. Allerdings ist Elias’ Beobachtung eines vergleichsweise zügellosen Hoch- und Spätmittelalters auch nach Duerr nicht aus der Luft gegriffen. Freilich ist das bemerkenswerte Novum nicht der frühneuzeitliche Zivilisationsschub, sondern die mittelalterliche, der zunehmenden Bevölkerungsmobilität und insbesondere der einsetzenden Verstädterung geschuldete Lockerung der Sitten und üblichen Selbstzwänge.10 Im übrigen handelte es sich bei der Flut staatlicher oder besser politischer wie kirchlicher Zucht- und Ordnungsmaßnahmen des 15. und 16. Jahrhunderts für Duerr weniger um die erfolgreiche Umstellung von Fremd- auf Selbstzwänge als vielmehr um den Versuch, die durch den kulturellen Wandel brüchig gewordenen Selbstzwänge durch Fremdzwänge zu ersetzen oder zumindest zu flankieren.11 Politisch richtet sich Duerrs Kritik dementsprechend gegen Elias’ Behauptung eines einheitlichen, quasi-gesetzmäßigen Zivilisationsprozesses, der wesentlich durch die Anhebung, das heißt ein Voranschreiten von Scham- und Peinlichkeitsschwellen gekennzeichnet und seit der weltweiten Landnahme Europas – der Weberschen Rationalisierung durchaus verwandt12 – gewissermaßen zum Fatum des Globus geworden sei. Problematisch daran ist nicht nur die fragwürdige Behauptung eines zielgerichteten, auf die Zunahme von Schamhaftigkeit und Gewaltlosigkeit hin angelegten Evolutionsprozesses, sondern die implizite und für aus Schaden klug gewordene Ethnologen besonders kritikable moralische Absolution Europas. Denn wenn der Prozeß der Zivilisation allgemeines Schicksal und Europas Führerschaft ausgemacht ist, spricht nichts gegen die aktive kulturelle Missionierung der außereuropäischen Welt. Sie wäre ohnehin unvermeidlich. Anders als seine Kritiker meinen, stilisiert Duerr Elias damit nicht zum Ideologen des Kolonialismus. Vielmehr legt er das implizite, den Kolonialismus und europäische Hegemonie legitimierende Potential der Zivilisationstheorie frei.

schaving en geweld. Antropologische en historische kritiek op de civilisatietheorie van Norbert Elias = Sociologische Gids, hg. von Anton Blok, Lodwijk Brunt 29 (1982) Nr. 3–4; den niederländischen Titel zusammenfassend Nico Wilterdink: Die Zivilisationstheorie im Kreuzfeuer der Diskussion. In: Macht und Zivilisation – Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie 2, hg. von Peter Gleichmann u.a. (Frankfurt/M. 1984) 280–304. 10 Vgl. Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2: Intimität. (Frankfurt/ M. 1990) 21–24. 11 Vgl. ebd., Bd. 3: Obszönität und Gewalt (Frankfurt/M. 1993) 25. 12 Eine gelungene Engführung von Elias und Weber findet sich bei Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß. In: ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie (Frankfurt/M. 2000) 197–236.

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In theoretischer Hinsicht wendet sich Duerr gegen Elias’ oben herausgestellten Konstruktivismus der Scham. Seine empirischen Befunde zeigen, daß die Scham kein Spezifikum einer bestimmten Gesellschaft oder Epoche, sondern kulturgeschichtlich ubiquitär, wahrscheinlich sogar eine anthropologische Universalie ist.13 (In dieser Feststellung Duerrs dürfte im übrigen ein ausschlaggebender Grund für die ihm unabhängig von aller sachlichen Kritik entgegengebrachte Ablehnung und Mißachtung liegen. Von Anthropologie oder dem Wesen des Menschen zu sprechen, ist in postmodern-konstruktivistischen Zeiten inopportun. Es widerspricht sowohl der individualistischen Ideologie völliger Freiheit als auch der sozialen Utopie von der beliebigen Gestaltbarkeit der Verhältnisse. Geflissentlich übergangen wird dabei, daß auch der radikale Konstruktivismus wie alle Sozialtheorie einer impliziten Anthropologie aufruht, die allererst ausgewiesen werden müßte.14) Theoretisch freilich ist noch nicht Duerrs Feststellung als solche, sondern erst seine These, daß es die Funktion der Scham oder genauer: der Körperscham sei – denn nur von ihr ist bei ihm die Rede –, vorrangig die Genitalien, daneben aber auch sekundäre Geschlechtsmerkmale wenn nicht prinzipiell, so doch zumindest situativ zu verhüllen, um auf diese Weise die rein geschlechtlichen, auf instantanen Lustgewinn ausgehenden Begierden der einzelnen einzuschränken, sexuelle Rivalitäten zu drosseln und demgegenüber Paarbindungen zu begünstigen und stabilisieren.15 Damit käme der Scham für die Vergesellschaftung von Menschen überhaupt ein ähnlich hoher Stellenwert wie dem Inzestverbot zu. So wie das Inzestverbot soziale Gruppen vorm eher politischen denn biologischen Ruin der Endogamie bewahrt,16 generiert die Scham eheartige und protofamiliale oder eben private Schutzräume, in denen individuelle Identität als Negativ von Vergesellschaftung überhaupt nur erworben und überhaupt ausgeprägt werden kann. Über diese Skizze – im Grunde ist es nur die Andeutung einer Anthropologie der Scham – kommt Duerr in seinen fünf Bänden allerdings nicht hinaus.

13

Vgl. Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2 [Anm. 10] 8. Wie z.B. durch Alois Hahn: Der Mensch in der deutschen Systemtheorie. In: Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne, hg. von Ulrich Bröckling u.a. (München 2004) 279–290. 15 Vgl. Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2 [Anm. 10] 256–259; ders.: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 4: Der erotische Leib (Frankfurt/M. 1997) 376. 16 Siehe Claude Lévi-Strauss: Die Familie. In: ders.: Der Blick aus der Ferne (München 1985) 73–104. 14

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III. Indes läßt sich von hier aus ein Bogen zur philosophischen Anthropologie etwa Max Schelers schlagen wie auch zur neueren, hierzulande prominent von Günter Seidler und Micha Hilgers vertretenen, genetischen Psychoanalyse der Scham, in die Duerrs These zur Rolle der Scham ohne Komplikationen eingebaut werden kann.17 Kaum anders als Duerr sieht Scheler die Funktion der Scham darin begründet, die leibliche Sexualität des Menschen zu hemmen, bis ihr die Liebe als die geistige Bindung zweier Menschen gewissermaßen nachgewachsen sei.18 Anders als Götter oder Tiere schämten sich Menschen, weil sie als geistige, der Selbstreflexion fähige Wesen einerseits ihrer Leiblichkeit entrückt, andererseits jedoch konstitutionell in ihr gefangen seien. Scham ist Scheler zufolge der schmerzhaft empfundene Ausdruck dafür, daß zwischen unserer tierischen Leiblichkeit und gottähnlichen Geistigkeit, zwischen unserem animalisch-instinktiven Erbe und unserer Fähigkeit, nein sagen zu können, eine unauflösliche Spannung besteht. Die Scham, die Scheler nicht etwa soziobiologisch aus ihren möglicherweise evolutionär adaptiven Vorteilen, sondern aus der Verfassung, der Grundstruktur des Menschen herleitet, ist jedoch nicht allein ein ob der Entfremdung von Geist und Leib verspürter Trennungsschmerz,19 sondern zugleich die Hüterin personaler Identität, insofern sie der Regression eines Menschen auf seine pure Bedürftigkeit einen Riegel vorschiebt. Ein wesentliches Problem der philosophischen Anthropologie, ihr bei allem Interesse für empirische Fragen sozusagen transzendentales Erbe, besteht darin, daß sie nicht zu erklären vermag, woher der besagte Hiatus rührt, oder wie die, um es mit Helmuth Plessner zu sagen, »exzentrische Positionalität« des Menschen in diesen hineinkommt. Denn trotz aller Bezüge auf Autoren wie Uexküll, Bolk, Portmann, Buytendijk, Straus und Weizsäcker skizziert die philosophische Anthropologie in biologischer Hinsicht lediglich eine gleichsam zeitlose Phänomenologie des körperlich zugleich bedingten wie gebrochenen Selbstverhältnisses des Menschen. Weder wird in den Arbeiten Schelers, Gehlens und Plessners thematisiert, welche phylogenetischen Umstände und Prozesse zur spezifisch menschlichen Dezentrierung von Körper und Geist geführt haben (mögen), noch wie die Ausbildung und Aktivierung der exzentrischen Positionalität ontogenetisch zu denken ist. Die »physiologische Frühgeburt« des Menschen, die zweifellos eine entscheidende Voraussetzung seiner Plastizität darstellt, steht in

17

So auch Matthias Schloßberger: Philosophie der Scham. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000) Nr. 5. 807–829, hier: 810–812. 18 Siehe Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl. In: ders.: Schriften aus dem Nachlass. Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre (Bern 1957) 65–154, hier 97. 19 Meisterlich zum Gefühl der Scham als primordialer Entfremdung Dietrich Bonhoeffer: Ethik (München 21953) 131–136.

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seltsamem Kontrast zur Leichtigkeit, mit der das Individuum in der Folge als immer schon dezentriert sowie als sozial und kulturell kompetent vorausgesetzt wird. Ohne ausdrücklich auf diese Problemlage zu reagieren, formuliert die genetische Psychoanalyse der Scham hier eine Antwort.20 Ihr zufolge ist die Scham nicht nur Ausdruck des Leib-Seele-Dualismus, sondern zugleich und zunächst Motor der menschlichen Selbstdistanzierung.21 Scham beziehungsweise seine frühkindlichen Vorformen werden in der Sachdimension als eine präreflexive, unangenehme Erfahrung eines Nicht- oder Noch-nicht-Könnens aufgefaßt, in der Sozialdimension als die eines Nicht- oder Nicht-mehr-anerkannt-Werdens. Nicht Triebabfuhr, sondern Kompetenzmangel erscheint als das basale Problem des Kindes. Die neuere Säuglingsforschung hat die klassisch-psychoanalytische These widerlegt, wonach Babys und Kleinkinder rein oder nur in erster Linie libidinös getrieben seien und zwischen sich und ihrer Umwelt nicht zu unterscheiden wüßten. Ganz im Gegenteil verfügen bereits Säuglinge im Alter von wenigen Monaten über ein Selbst, sie sind nicht nur in der Lage, sondern auch daran interessiert, Objekte in Reichweite zu manipulieren und mit ihren jeweiligen Bezugspersonen zu interagieren. Das Gelingen erster »technischer« Operationen und die »Verständigung« durch ein wechselseitiges lautlich-taktiles Anund Nachempfinden von Kind und Bezugsperson erzeugen Glücks- oder primäre Stolzgefühle; sachliche Mißerfolge und soziale Mißverständnisse hingegen führen zu Verunsicherung, Verlegenheitsreaktionen und »Rückzug«. Zweifellos wäre es eine schiefe Rückprojektion der Selbstwahrnehmung Erwachsener, Babys und Kleinkindern diskrete und als solche einem »Erleben zweiter Ordnung« zugängliche Schamgefühle zu attestieren. Doch erscheint es plausibel, das Aus-demBlickfeld-Stoßen von Objekten, das Den-Blick-Abwenden, das Sich-Wegdrehen oder -Krabbeln und nicht zuletzt das Fremdeln als schamähnliche Verhaltensweisen zu identifizieren. Ein wiederholtes Scheitern des Kleinkinds angesichts unlösbarer Aufgaben oder unzureichender Zuwendung, Aufmerksamkeit und Stimulation durch die jeweilige(n) Bezugsperson(en) führt zu einer im Extremfall konstitutiven Verstörung des Kindes und damit des Kompetenzerwerbs. Eine derartige »existentielle Scham«, die fürderhin auch und gerade als grund- und da-

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Frühere, alternative und durchaus disparate Versuche, die Grundannahmen der philosophischen Anthropologie zu historisieren, stammen u.a. von Dieter Claessens: Familie und Wertsystem. Eine Studie zur ›zweiten, sozio-kulturellen Geburt‹ des Menschen (Berlin 21967); ders.: Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie (Frankfurt/M. 1980); Günter Dux: Die ontogenetische und historische Entwicklung des Geistes. In: Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, hg. von Günter Dux, Ulrich Wenzel (Frankfurt/M. 1994) 173–224; Peter Sloterdijk: Sphären, 3 Bde. (Frankfurt/M. 1998–2004). 21 Siehe Günter H. Seidler: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham (Stuttgart 1995) 142–194; Micha Hilgers: Scham. Gesichter eines Affekts (Göttingen 1996) 186–203.

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mit schuldlos verspürt wird, ist dem Ich nicht notwendigerweise zugänglich, eben weil sie »lediglich« einen alternativen Aspekt der Ich-Schwäche darstellt. Bewußtseinsfähig, reflexiv wird die Scham, ihre Innendimension entfaltet sich, sobald das Ich sich nicht nur seiner Grenzen und Ausgriffsmöglichkeiten in Hinblick auf die es umgebenden Personen und Dinge versichert, sondern sich darüber hinaus mit den Augen eines anderen zu sehen und sich in ihn hineinzuversetzen gelernt hat. Diskrepanzen und damit die mögliche Nicht-Identität von Selbst und Selbstvorstellung werden Kindern bereits im Alter von etwa zwei Jahren beim Betrachten ihres Spiegelbilds bewußt. Was freilich noch fehlt und erst im Laufe der weiteren Entwicklung in Interaktion mit sozial kompetente(re)n Dritten erworben wird, ist die Fähigkeit, sich geistig an deren Stelle zu setzen und schließlich das eigene Verhalten an allgemeine(re)n Normen zu messen. Jetzt erst wird die Scham zu jener, wie Simmel es formuliert, »starke[n] Betonung des Ichgefühles […], die mit einer Herabdrückung desselben Hand in Hand geht«.22 Mit einer derartigen Auffassung ist wenigstens dreierlei gewonnen: Erstens – darauf habe ich bereits hingewiesen – wird so das genetische Defizit der philosophischen Anthropologie eingeholt. Zweitens wird die hier bisher ausgesparte, nicht bloß disziplinäre Streitfrage, ob die Scham besser oder überhaupt nur soziologisch oder anthropologisch respektive psychologisch erklärt werden müsse, dahingehend entschieden, daß zwar die Unlusterfahrung, etwas oder jemanden in einem neutralen Sinne nicht oder noch nicht manipulieren zu können, zur vorsozialen Natur des Menschen gehört, die Überwindung dieser Erfahrung und damit die Konditionierung und Modellierung dieses Affekts hingegen nur mit Hilfe von anderen, das heißt auf eine milieuspezifische Weise möglich ist. Drittens – und dies ist ein theoretischer Baustein, auf den ich zurückkommen werde – wird in Umrissen ein anderer, ein weiterer als der von Elias und Duerr konstruierte Zusammenhang von Scham und Gewalt sichtbar: Ist nämlich Scham die emotionale Reaktion auf Kompetenzdefizite, fehlende Anerkennung und eigenes Ungenügen, dann steht das Ich vor der grundsätzlichen Alternative, die beschämende Situation beziehungsweise das eigene Versagen entweder in einem zweiten Anlauf durch Lernen oder Anpassung zu überwinden oder durch leere Selbstbehauptung und aggressives Auftrumpfen zu überspielen. Zwar kann aggressives oder gewalttätiges Verhalten nach dieser Lesart durch schaminduziertes Lernen durchaus vermieden werden, umgekehrt vermag Scham aber auch, zumal in gesteigerten Dosen, zur gewalttätigen Auflösung einer für das betroffene Individuum dilemmatischen Handlungssituation aufzustacheln. Bei Duerr finden sich solche Befunde und Überlegungen wohlgemerkt nicht. Doch steht seine funktionale Interpretation der Scham nicht in Widerspruch

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Georg Simmel: Zur Psychologie der Scham. In: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 1: Das Wesen der Materie nach Kant’s Physischer Monadologie. Abhandlungen 1882–1884. Rezensionen 1883– 1901 (Frankfurt/M. 1999) 431–442, hier 433.

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zu den, sei es weithin in Vergessenheit geratenen, sei es erst jüngst gemachten Entdeckungen und Einsichten in das Wesen der Scham. Zudem bedeutet eine Anthropologisierung der Scham mitnichten, sie dem Zugriff der Soziologie zu entziehen oder sich einer Historisierung dieses Gefühls zu verweigern.

IV. Wenn Duerr sich gegen die Behauptung einer mehr oder weniger geradlinigen Evolution der Scham ausspricht, heißt das nicht, daß er jedweden Wandel der Formen und Intensitäten dieses Gefühls in Abrede stellte. Vielmehr wird von ihm erklärt, warum die Scham in Ansätzen bereits im europäischen Mittelalter in Bedrängnis und in Widerspruch zu dem, was Elias behauptet, mit Beginn des 20. Jahrhunderts, in unserer Gegenwart also, in eine an ihr Verschwinden grenzende Krise gerät. Zum einen ist Scham für Duerr ein Affekt, der sich zwanglos aus der Dichte und den Kontrollmöglichkeiten von kleinen Face-to-face-Gesellschaften erklärt,23 ein regulatives Gefühl also, auf das man typischerweise gerade dort stößt, wo Elias es nicht erwartet. In diesen Gesellschaften wird abweichendes Verhalten durch Scham sanktioniert, sie können die soziale Sanktion des Schamaffekts in Dienst nehmen, weil sich der einzelne Abweichler den Blicken der anderen nicht zu entziehen vermag. Schamsteuerung korreliert dieser Auffassung nach mit einem geringen Grad an sozialer Differenzierung. Bei Elias ist es umgekehrt. Scham beziehungsweise Schamangst als Ausdruck internalisierter Selbstzwänge tritt für diesen typischerweise in hochgradig differenzierten Gesellschaften auf, in denen die Länge und Unüberschaubarkeit von Handlungsketten eine externe Kontrolle des Verhaltens der Gesellschaftsmitglieder so gut wie unmöglich macht. Deswegen entsteht die Notwendigkeit, daß sich die Individuen in ihrem Handeln an verinnerlichten Normen orientieren. Einmal abgesehen davon, daß ich zweifele, ob der den Oberschichten abgeschaute Distinktionsgewinn qua Triebkontrolle ausreichend ist, um als Motor der frühneuzeitlichen Disziplinierung zu fungieren, ist nicht recht einsichtig, auf welche Weise die Scham als Angst vor sozialer Degradierung, als die Elias sie definiert, in einer Gesellschaft, die Hierarchien durch funktionale Zusammenhänge ersetzt, ein wirksamer Mechanismus sozialer Kontrolle sein soll. Es ist zweifellos richtig, daß mit der Neuzeit eine neue Phase der Sozialdisziplinierung einsetzt;24 schief hingegen wäre es, diesen Entwicklungsabschnitt einfach mit fortschreitender Selbstkontrolle gleichzusetzen.

23

Vgl. Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 3. 18, 27f.; ebd., Bd. 4. 13–20. Einen Überblick gibt Stefan Breuer: Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault. In: Soziale Sicherheit und Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, hg. von Christoph Sachße, Florian Tennstedt (Frankfurt/M. 1986) 45–69. 24

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Unhaltbar jedenfalls ist es, für Europa ganz allgemein von einem stetigen Voranschreiten der Scham- und Peinlichkeitsstandards zu sprechen. Dies alles bedeutet freilich nicht, daß Elias schlicht vom Kopf auf die Füße zu stellen wäre, die Scham neuzeitlich also verschwände, statt gesellschaftlich eine dominante Rolle zu spielen, wenn nicht allererst zu entstehen; attestiert wird der Scham von Duerr bis hierher lediglich ein relativer Bedeutungsverlust. Verschärft werde die Krise der Scham allerdings dadurch, daß die mittelalterliche Modernisierung der Gesellschaft, das heißt die Entgrenzung, Mobilisierung und gesteigerte Differenzierung der traditionellen Ständeordnung in den aufblühenden Städten sich im oder genauer ab dem 19. Jahrhundert gesamtgesellschaftlich und folglich in potenzierter Form wiederholt. Zwar nimmt die Länge der Handlungsketten und damit die Anonymität der Verhältnisse zu, nur forciert dieser sozialstrukturelle Prozeß gerade nicht die Schamhaftigkeit, sondern ermöglicht vielmehr, sich beschämenden Situationen und Kontexten zu entziehen. Hinzu kommen die für Elias in den dreißiger Jahren noch nicht absehbare, uns Heutigen aber augenfällige, wenn auch in ihren sozialanthropologischen Konsequenzen kaum erst abzuschätzende Kommodifizierung von Sexualität einerseits und Entkoppelung von Sexualität und generativem Verhalten andererseits. Die nolens volens von den kulturellen Emanzipationsavantgarden des 20. Jahrhunderts vorbereitete und mitgetragene Kommodifizierung der Sexualität verlangt geradezu, das Sexuelle nicht länger mit Scham zu belegen, sondern ganz im Gegenteil zu entschämen, anzustacheln, in seinen Formen zu vervielfältigen, wie man ironischerweise sagt, ohne die Pointe zu begreifen: zu »vernatürlichen«, faktisch jedoch in ein Konsumgut zu verwandeln, dessen Nutzung nicht etwa befriedigt, sondern die Begierden weiter aufreizt. Nicht folgenlos, wohl aber möglich war beziehungsweise ist diese Umcodierung, insofern Kinder heute weder eine sozialpolitische Notwendigkeit noch die unvermeidliche Folge einer »ausgelebten« Sexualität darstellen. Man mag diese Entwicklung bedauern oder begrüßen; die sozialstrukturell ohnehin nur noch begrenzt wirkmächtige Scham wird damit jedenfalls tendenziell ihrer Paarbindungen fördernden und schützenden Funktion beraubt. Unsere modernen Zeiten wären damit eben doch in diametralem Gegensatz zu Elias’ Annahmen und Prognosen ausnehmend schamlose Zeiten, wofür empirische Belege zu finden auch ohne die Lektüre insbesondere des letzen Bandes über den Mythos des Zivilisationsprozesses niemandem sonderlich schwerfallen dürfte. Gegen Duerrs meiner Ansicht nach weitgehend überzeugende Widerlegung der Eliasschen Zivilisationstheorie – überzeugend insofern, als daß Elias’ Soziologie des Absolutismus sich weder zu einer Theorie gesellschaftlicher Disziplinierung noch gar zu einer allgemeinen Theorie der soziokulturellen Evolution aufspreizen läßt – sind, soweit ich sehe, lediglich zwei diskutable Gegenargumente vorgetragen worden. Der erste, von Michael Schröter formulierte Einwand lautet, daß Duerr die für Elias grundlegende Unterscheidung von Selbst- und Fremdzwängen nicht beachte. Das zweite, vor allem von Cas Wouters entwickelte

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Argument besagt, daß Duerrs Beschreibung der gegenwärtigen als schamloser beziehungsweise selbstzwangfreier Zeiten nicht zutreffe, weil die vermeintliche Zwanglosigkeit der Moderne in Wahrheit keine Zwanglosigkeit, sondern vielmehr Ausdruck einer Informalität sei, die einem mittlerweile erreichten Zivilisations- oder Selbstzwangniveau aufruhte. Auf diesen zweiten Einwand, der sich speziell gegen den von Duerr diagnostizierten modernen Sittenverfall richtet, komme ich im letzen Abschnitt zurück. Hier konzentriere ich mich auf die Kritik Schröters und ihre Implikationen. Was Schröter betreibt, ist die »Benediction« Elias’. Damit spiele ich auf die Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen an, wie sie die amerikanische Kulturanthropologin Ruth Benedict in ihrem in den vierziger Jahren, also annähernd zeitgleich zum Prozeß der Zivilisation, im Auftrag der US-Regierung zu Zwecken der kulturellen Feindaufklärung geschriebenen Buch über Japan zwar nicht erfunden, wohl aber berühmt gemacht hat.25 Benedict beschreibt die japanische Kultur als Schamkultur, in der die Anpassung an Konventionen und die Wahrung des Scheins wichtiger und wirksamer seien als die für westliche, besonders die puritanisch geprägten Schuldkulturen typische Orientierung an verinnerlichten Normen. Die Ehre und nicht das Gewissen, so Benedict, sei die für Japaner zentrale moralische Richtschnur. Ein Vergehen gegen normative Standards und Wertvorstellungen führe nur dann zu Scham, wenn es von Dritten entdeckt werde, wohingegen Schuld auch dann entstehe, wenn niemand außer dem Gewissen die Untat bezeuge. Die typologische Unterscheidung von Schamund Schuldkulturen wurde in der Folge so gedeutet, als seien letztere moralisch fortgeschritten und als gebe es tendenziell eine Entwicklung von Scham- hin zu Schuldkulturen. Schröter nun verteidigt Elias gegen Duerr, indem er Duerrs Ethnologie durch die Brille Benedicts liest. Er räumt ein und kommt Duerr darin entgegen, daß einfache Face-to-faceGesellschaften durchaus über Scham integriert sein können, wirft ihm allerdings vor, die Unterscheidung von Selbst- und Fremdzwängen nicht mitzuvollziehen und folglich verkennen, daß die sozusagen primitive Scham ein Fremd- und kein Selbstzwang sei.26 Zivilisierte Scham hingegen sei wie das Schuldgefühl bei Benedict Ausdruck von Innenleitung und Selbststeuerung. Auseinanderzuhalten wären also einerseits Fremdzwänge mit und ohne Scham sowie andererseits stets, wenn auch durch einen besonderen Typus von Scham oder eben Schuld gekennzeichnete Selbstzwänge. Der Gegensatz der psychischen Evolutionsmodelle von Benedict und Elias sei also gar keiner, insofern beide dieselbe Entwicklung, nämlich die

25

Vgl. Ruth Benedict: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture (Cambridge 1946) insb. 222–225. 26 Vgl. Michael Schröter: Scham im Zivilisationsprozeß. Zur Diskussion mit Hans Peter Duerr. In: Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis, hg. von Christoph Sachße, Florian Tennstedt (Frankfurt/M. 1990) 42–85, hier 74–78.

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Zunahme von Selbst- auf Kosten von Fremdzwängen respektive die Ablösung von externen durch interne moralische Sanktionsinstanzen beschrieben. Nun ist zwar richtig, daß Elias nirgends systematisch zwischen Scham und Schuld unterscheidet, dort, wo er von Scham spricht, unter Umständen also Schuld eingesetzt werden könnte. Dennoch widerspricht Schröters Begriffsmanöver Elias’ Grundannahme, daß Scham, und zwar ohne jede weitere Qualifikation oder Differenzierung, ein sicherer Indikator für die Existenz und Wirksamkeit innerer Zwänge sei. Selbst wenn man sich Schröters »Richtigstellung« anschlösse, blieben indes zwei weitere Probleme bestehen. Erstens ist die Differenzierung von Scham und Schuld beziehungsweise, in Schröters Terminologie, von Scham mit und ohne Fremdzwang nicht haltbar, weil der Gegensatz von Fremd- und Selbstzwängen beziehungsweise die Charakterisierung der Scham als fremd- und die der Schuld als selbstbestimmt unhaltbar ist. Um Scham zu verspüren, ist es nicht nötig, daß der Blick anderer auf einem ruht; ein inneres Auge genügt. Es kann auch gar nicht anders sein. Denn die Behauptung, Schamkulturen würden keine verinnerlichten Normen kennen, gegen deren Verletzung unter anderem mit Scham reagiert werde, wäre – wie Duerr treffend bemerkt – gleichbedeutend mit der absurden These, daß in diesen Gesellschaften überhaupt keine Normen existierten.27 Zweitens ist gegen das unter Benedicts Namen popularisierte Evolutionsschema dasselbe einzuwenden wie gegen die Eliassche Zivilisationstheorie: von einer moralischen Überlegenheit der Schuld- über die Schamkulturen kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer linearen oder wenigstens an einem immanenten Telos ausgerichteten Evolution von Schuld- zu Schamkulturen oder umgekehrt.28 Diese Zurückweisung der Schröterschen »Benediction« Elias’ folgt allerdings weder, daß eine idealtypische Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen grundsätzlich sinnlos, noch daß die Historisierung von Scham und Schuld unmöglich sei. Die Charakterisierung Japans als Scham- und des Westens als Schuldkultur ist so falsch nicht.29 Die Prominenz der Scham verweist auf die große Bedeutung der Gemeinschaft in Japan, die westliche Schuld hingegen auf die besondere Wertschätzung des Individuums. Die Scham sanktioniert die gesamte Person; der Beschämte fragt sich: »Wie konnte es nur sein, daß mir dies passiert?« Die Schuld hingegen bezieht sich auf ein bestimmtes Tun; der Schuldige fragt: »Wie konnte es nur sein, daß mir dies passiert?«30 Die Scham als Angst weniger vor sozialer

27

Siehe Duerr: Der Mythos von Zivilisationsprozeß. Bd. 4 [Anm. 15] 385. Vgl. Milton B. Singer: Shame Cultures and Guilt Cultures. In: Shame and Guilt. A Psychoanalytic and Cultural Study, hg. von Gerhart Piers, Milton B. Singer (New York 1971) 59–100. 29 Siehe Millie R. Creighton: Revisiting Shame and Guilt Cultures. A Forty-Year Pilgrimage. In: Ethos, 18 (1990) Nr. 3. 279–307. 30 Vgl. Helen B. Lewis: Introduction. Shame – the ›Sleeper‹ in Psychopathology. In: The Role of Shame in Symptom Formation, hg. von Helen B. Lewis (Hillsdale 1987) 1–28, hier 17. 28

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Degradierung als vor Exklusion bewirkt oder zielt zumindest auf den Rücktritt ins Glied; sie ist die privilegierte Sanktion einer kollektivistischen und situativen Ethik. Die Schuld ist demgegenüber weniger die Angst vor Strafe überhaupt als vielmehr die quälende Erwartung einer im Prinzip verdienten Strafe. Sie sanktioniert nicht den »Verrat« an der Gruppe, sondern den persönlichen Fehltritt. Sie intendiert nicht Anpassung, sondern Besserung. Sie ist der innerhalb einer individualistischen und dekontextualisierten Ethik geschätzte und gepflegte Affekt. Sofern also, wie seit Tönnies immer wieder insinuiert, gesellschaftliche Modernisierung gleichbedeutend ist mit der Zurückdrängung und Zerstörung von Gemeinschaften, ist ein zumindest relativer Bedeutungsverlust der Scham erwartbar. Da Gemeinschaften jedoch – der Einfachheit halber einmal angenommen, es handele sich wirklich um soziale Aggregate eigenen Typs – im Zuge von Modernisierungsprozessen nicht etwa verschwinden, sondern in der Regel an unerwarteter Stelle und nicht selten in verwandelter Gestalt wieder auftauchen – man denke nur an Sekten, das Vereinswesen, Therapiezirkel oder Gangs –, ist es unwahrscheinlich, daß die Scham in unseren Tagen ohne weiteres abdankt und verkümmert.

V. Daß die Scham beziehungsweise Selbstzwänge gerade dort wirksam sind, wo augenscheinlich, oder sagen wir besser in den Augen eines Traditionalisten, die Unzucht regiert, behauptet das Informalisierungstheorem. Die vorrangig von Cas Wouters formulierte Informalisierungsthese versucht der Lockerung der Sitten im 20. Jahrhundert Rechnung zu tragen, ohne das von Elias angenommene Voranschreiten der Schamschwellen in Abrede zu stellen.31 Hätte Wouters damit recht, daß die Freizügigkeit, die Zwanglosigkeit, die gewöhnliche Exaltiertheit, kurz die Informalität unseres Verhaltens keinen Sittenverfall, keine Lockerung oder Rücknahme der Selbstzwänge, sondern eher ihre zivilisatorische Fortentwicklung indiziert, wäre Duerr zumindest in dem Punkt widerlegt, daß, sofern überhaupt von Trends in der Geschichte der Scham gesprochen werde könne, die bemerkenswerteste Entwicklung der Schamverlust der Gegenwart sei. Das Argument läßt sich am besten an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Selbstverständlich wäre es vor 100 Jahren undenkbar gewesen, daß sich Männer und Frauen gemeinsam spärlich bis unbekleidet am Strand in der Sonne aalen, sich vor aller Augen ent- und bekleiden, wechselseitig mit Sonnenmilch eincremen und Zärtlichkeiten austauschen. Und doch ist dieses Verhalten nicht oder

31 Siehe Cas Wouters: Informalisierung. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert (Opladen 1999).

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wenigstens nicht einfach schamlos, da es trotz dieser visuellen Aufreizung weder zu Massenorgien noch regelmäßig zu Vergewaltigungen kommt. Und nicht nur das. Wie sich etwa in dem schönen Buch Jean-Claude Kaufmanns über Frauenkörper – Männerblicke nachlesen läßt, ist der Strand alles andere als eine normativ unbeschriebene Fläche, wird das mögliche und unmögliche Verhalten der Strandnutzer und insbesondere die Freiheit des männlichen Blicks auf den mehr oder weniger nackten Körper der Frau doch durch ein ganzes Arsenal ungeschriebener Regeln bestimmt und eingeschränkt.32 Möglich ist diese Preisgabe der Körper freilich nur, weil ein Kontrollverlust, weil die Überschreitung bestimmter Distanzen, die Verletzung visueller Tabus, weil ungezügelter Sex nicht zu erwarten steht beziehungsweise umgehend, und zwar qua Scham, sanktioniert würde. Wie wirkmächtig die Scham auch heute an Stränden ist, zeigt sich darüber hinaus daran, daß zwar nicht mehr der nackte Körper als solcher, sehr wohl aber derjenige zum Schamauslöser werden kann, der ästhetischen Mindeststandards nicht entspricht. Wer zu dick, zu dürr oder zu blaß ist, wer zu sehr schwitzt und stinkt, wer – und dies betrifft vor allem die Frauen – mit unrasierten Achselhöhlen, unlackierten Fußnägeln oder aus dem Bikinihöschen wuchernder Schambehaarung die Bühne des Strandes betritt, erntet im besten Fall verstohlenes Mitleid, wird häufig jedoch offen beschämt. Das Beispiel ließe sich fortspinnen, die Situationen ließen sich mehren, in denen ein vordergründig zwangloses Verhalten gelingende Selbstkontrolle voraussetzt und die Scham zwar ihre Anlässe und Gegenstände wechselt, nicht aber verschwindet. In gewisser Hinsicht kommt der Informalitätsthese zufolge die für den Zivilisationsprozeß vermeintlich insgesamt spezifische Substitution von Fremd- durch Selbstzwänge im 20. Jahrhundert gar erst richtig zum Tragen, insofern die zeitgenössische Nonchalance der Individuen im Umgang miteinander mit dem Abbau von Hierarchien und institutionellen Machtverhältnissen korreliert. Eine vormals noch durch das Sanktionspotential von Recht, Politik und Organisation getragene Sozialdisziplinierung wird ersetzt durch interindividuelle Aushandlungsprozesse, in denen Selbstkontrolle, Achtung vor dem anderen, Anpassungsfähigkeit, situative Flexibilität und ein effektives Gefühlsmanagement die Anweisung, die Subordination, die kontextunabhängige Fixierung auf eingespielte Standards und etablierte Normen und nicht zuletzt ein durchweg gezügeltes Temperament ablösen. Es handelt sich mithin um einen Prozeß, der sich alternativ auch, sei es unter Rückgriff auf Riesmansche Kategorien, sei es mit Hilfe eines gouvernementalitätstheoretischen Vokabulars beschreiben ließe. Entscheidend ist, daß Informalität und Selbstkontrolle nicht in Gegensatz zueinander, sondern in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis stehen, einer Beziehung, die Wouters als »Zwang zu Ungezwungenheit« charakterisiert.

32

Siehe Jean-Claude Kaufmann: Frauenkörper – Männerblicke (Konstanz 1996).

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Duerr stimmt dieser These nicht zu. Er kann oder will nicht erkennen, daß die unbestreitbare Informalisierung des Verhaltens davon Zeugnis ablegt, daß wir Heutigen unsere Triebe besser kontrollierten, sich das Verhältnis der Geschlechter entspannte, die Sexualität lediglich einen weiteren Gestaltwandel durchmachte, Gewalt zur Regelung von Konflikten mehr denn je verpönt würde und die alltäglichen Umgangsformen sich trotz oder gerade wegen ihrer Abflachung weiter zivilisiert hätten. Als Gegenbeispiele führt er die Inszenierung und Normalisierung sexueller Libertinage an, wie sie insbesondere an einigen FKK-Stränden sowie in bestimmten Saunen und Clubs unserer Großstädte praktiziert werde, auch führt er die mittlerweile selbstverständliche lustbesetzte Verquickung von Sexualität und Gewalt ins Feld.33 Damit unterläuft Duerr jedoch nicht nur derselbe Fehler, den er Elias bei dessen Auf- und Umwertung von absolutistischer Höflichkeit zu zivilisiertem Verhalten überhaupt zum Vorwurf gemacht hatte: die Interaktionsformen gesamtgesellschaftlich wenig typischer Gruppen werden zum Beleg einer allgemeinen Entwicklung erklärt. Doch so wenig der höfische Adel charakteristisch für die frühneuzeitliche Gesellschaft insgesamt war, so wenig sind es Swinger, Regisseure von B-Movies und Videospielentwickler für die Gegenwart als Ganze. Auch verkennt, übersieht oder unterschätzt Duerr die prinzipielle Möglichkeit und, wie sich in Hinsicht auf die geänderten Strandsitten mit guten Gründen behaupten läßt, tatsächliche Wahrscheinlichkeit eines Gestaltwandels der Scham. Dennoch ist seine Beobachtung, daß schamloses Verhalten, ja, daß ostentative Schamlosigkeit und Unverschämtheit zunähmen, nicht einfach von der Hand zu weisen. Man denke nur an die weithin grassierende Respektlosigkeit nicht bloß Jugendlicher, die Selbstverständlichkeit, mit der sexuelle Praktiken und Vorlieben, die öffentlich auch nur zu erwähnen vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar war, zur Norm eines erfüllten Liebeslebens stilisiert werden, an die Talkshows, deren Gäste ihre intimsten Sorgen und Nöte einem Millionenpublikum zur Schau stellen, oder die Big Brother- und all die anderen »Warum es toll ist, sich in die Bredouille zu manövrieren und sich den Blicken anderer trotzdem nicht zu entziehen«-Sendungen. Wenigstens zwei Erklärungen dieser ambivalenten Entwicklung, die sowohl durch einen Gestaltwandel der Scham als auch durch ein Absinken der Schamund Peinlichkeitsstandards gekennzeichnet ist, scheinen mir möglich: Erstens könnte es sich um einen grundlegenden Fehler handeln, den Prozeß der Zivilisation eindimensional zu verstehen. Wäre es nicht denkbar, daß es sich bei der für eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft notwendigen Fähigkeit der Individuen, völlig disparate Rollen zu spielen, einerseits und ihrem Vermögen

33 Vgl. Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 5: Die nackten Tatsachen des Lebens (Frankfurt/M. 2002) 108–116.

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und/oder Willen, ihre leiblichen Impulse und Affekte zu zügeln, andererseits um zwei verschiedene, nicht notwendig aneinander gekoppelte oder sogar gegenläufige Disziplinierungsvorgänge handelt?34 Ließe sich so nicht behaupten, daß eben weil die Anforderungen an die aktiven Anpassungsleistungen des Individuums im Laufe der Zeit steigen, dieses sich punktuell und rollenspezifisch oder zyklisch nach emotionaler Entladung sehnt? So ließen sich die Informalisierungsthese, das Verschwinden der Scham und die Zunahme alltäglicher Gewalt durchaus miteinander versöhnen. Dieses Argument möchte ich hier allerdings nicht weiter verfolgen,35 sondern ihm ein zweites, soweit ich sehe, nicht grundsätzlich widersprechendes, sondern eher komplementäres, zur Seite gesellen. Ich habe es vorhin schon angedeutet und möchte es hier abschließend als These formulieren: Die zeitgenössische Schamlosigkeit ist Ausdruck uneingestandener, verhüllter und tabuisierter Scham; als solche jedoch steigert sie die Gewalt, ist sie deren Grund und nicht ihre Schranke. Paradoxerweise hat der Umstand, daß Scham Gewalt gebiert und nicht etwa im Zaum hält, damit zu tun, daß sie sich selbst zum Anlaß geworden ist. Eine Art Voranschreiten der Schamschwellen macht die Scham unsichtbar. Sie geht sozusagen in den Untergrund und fällt auf ein präreflexives Niveau zurück. In der Konsequenz verhallt der Ruf nach Anerkennung, der wesentlich zur Scham gehört, in leeren Räumen. Und um die ausbleibende Anerkennung zu kompensieren, kommt es zu inszenierten Schamlosigkeiten und gewaltsamem Handeln. Schon Elias selbst hatte vermerkt, daß man sich im 19. Jahrhundert seiner Scham zu schämen beginnt.36 Die Scham gilt als ein Gefühl, das derart unangenehm ist, daß es verborgen werden muß. Der Grund für diese Verhüllung dürfte freilich nicht in der Eigendynamik des Zivilisationsprozesses liegen, sondern darin, daß die Scham als gruppenfreundlicher Affekt einer faktisch wie normativ individualistischen Gesellschaft grundsätzlich als etwas Makelhaftes erscheinen muß. Indirekt bezeugt die Zivilisationstheorie selbst diesen Befund, insofern die Scham bei Elias als Herrschaftsinstrument und Repressionsmechanismus in den Blick kommt, nicht aber in ihrer positiven Funktion. Wer sich schämt, gesteht seine Unterlegenheit ein, ist nicht Souverän seiner selbst. Auch wenn die moderne westliche Erziehung nicht auf Scham verzichtet (und auch gar nicht verzichten kann), relegiert das auf individuelle Autonomie abzielende Erziehungsideal die Scham auf die hinteren Ränge.37 Nicht soziale Integration, nicht die Promotion

34

So auch die Vermutung von Marx: Staat und Zivilisation [Anm. 2] 293. Zur zeitgenössischen Organisation von Informalität siehe dafür meinen Aufsatz »La deutsche Vita unter karibischer Sonne«. Eine kleine Soziologie des Tourismus. In: Sociologia Internationalis 41 (2003) 217–240. 36 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 1 [Anm. 3] 245–250. 37 Vgl. Agnes Heller: The Power of Shame. In: dies.: The Power of Shame. A Rational Perspective (London 1985) 1–56. 35

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der Gruppe, sondern individuelle Distinktion und persönliches Fortkommen werden erstrebt und gefördert. Mehr noch, die Bedeutung der Scham verblaßt in einer Gesellschaft, deren Mitglieder ein gleichermaßen umfängliches wie situativ disparates Rollenrepertoire beherrschen müssen und im Extrem nur mehr im Privaten ein In-Dividum sind, ansonsten aber als Sender und Empfänger funktionssystemspezifischer Kommunikationen fungieren. Und »natürlich« verliert die Scham angesichts einer weitreichenden Kommodifizierung der Sexualität sowie angesichts der schon heute erstaunlichen und doch noch längst nicht ausgereizten technischen Möglichkeiten, Fortpflanzung und Sexualität weitgehend zu entkoppeln, ihre herkömmliche biosoziale Funktion. Allein, die Scham als anthropologische Universalie, als Movens der Ontogenese, als Keil für die exzentrische Positionalität des Menschen, als Hüterin seiner individuellen wie kollektiven Identität, verschwindet nicht spurlos. Sie ist kein Gefühl, das den Menschen erst anerzogen werden müßte. Man versucht allerdings, sie zu brechen. Sie wird daher verborgen statt eingestanden oder gar zur Schau gestellt. Eine Frau, deren Scham ihr zur Zierde gereicht, gälte heute als pathologischer Fall. Scham ist nicht mehr darstellungsfähig. Sie ist keineswegs aus der Welt und den einzelnen auch nicht unbekannt. Doch anstatt sich gewissermaßen vormodern für einen Regelverstoß zu schämen, und ihn qua Scham zugleich »öffentlich« zu bereuen, scheint sich »das« (post-)moderne Individuum weniger für ein bestimmtes Versagen als vielmehr für seine eigene schamhafte Reaktion zu schämen. Nicht dieses oder jenes Fehlverhalten, sondern der Affekt selbst, der das Fehlverhalten doch sanktionieren beziehungsweise ihm möglichst zuvorzukommen sollte, wird jetzt sanktioniert.38 Eine solche Scham ist formal und nicht sachlich motiviert. Schamlosigkeit wird tendenziell zum Schamersatz. Damit aber entfallen gerade die Rituale der Be- und Entschämung, entfällt das Wissen darum, wie die Scham als sozialer Affekt par excellence fruchtbar zu machen und zu entschärfen ist.39 Gleichzeitig liegt es jedoch nahe – die psychotherapeutischen Erfahrungen jedenfalls sprechen dafür40 –, daß Ich-Störungen Autoritätsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten, daß mithin Schamkonflikte Schuldkonflikte zusehends ablösen. Individualismus heißt schließlich auch, daß etwaiges Versagen individuell attribuiert wird. Der Massenarbeitslosigkeit zum Trotz gilt heute jeder als seines eigenen Glückes Schmied. Man könnte vielleicht sogar sagen, die Schamanlässe nehmen zu, während sowohl die Fähigkeit, Scham zu empfinden, wie auch die Möglichkeit, sie loszuwerden, verkümmern. Es nimmt

38

Vgl. Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit (Frankfurt/M./New York 1991) 178f. 39 Ein Plädoyer, derartige Rituale wiederzubeleben und strafrechtlich fruchtbar zu machen, liefert John Braithwaite: Crime, Shame and Reintegration (Cambridge 1989). 40 Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart (Frankfurt/M./New York 2004) 229–273.

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deshalb nicht wunder, daß auch kleinere Mißerfolge, ein bloß partielles Versagen auf die Persönlichkeit insgesamt durchschlagen und sie in tiefe, tatsächlich krankhafte Selbstzweifel stürzen können. Dies, die autoaggressive Selbstbezichtigung des beschämten Individuums, ist allerdings nur die eine der prinzipiellen Möglichkeiten, einen uneingestandenen Schamkonflikt aufzulösen oder zumindest zu verschieben. Wenn Scham die schmerzhafte, in Maßen entwicklungsfördernde, als alternativlos wiederholte jedoch existentielle Ängste schürende Erfahrung von Kompetenzmangel und fehlender Anerkennung ist, wenn die Kluft zwischen gesellschaftlich-normativen und Selbstansprüchen einerseits und dem persönlichen Vermögen andererseits unüberbrückbar erscheint, kann gerade physische Gewalt die Wiederherstellung oder sogar erstmalige Erlangung von Verfügungs- und Handlungskompetenz bedeuten.41 Der gordische Knoten der Selbstlähmung wird auf diese Weise durchschlagen, die psychophysische Schrumpfung des Individuums verkehrt sich in aggressives Auftrumpfen und manifeste, lustvoll erlebte, weil Selbstbestätigung suggerierende Gewalt. Es liegt auf der Hand, daß eine rationalistische, allein dem Zweck-MittelSchema verpflichte, nach objektiven oder eigentlichen Gründen für gewalttätiges Handeln fahndende Soziologie der Gewalt angesichts einer solchen Ätiologie ins Leere greifen muß.42 Nicht ganz zu Unrecht bezeichnet von Trotha ein solches Fragen als Gewaltursachenforschung, nicht aber als genuine Gewaltsoziologie. Und doch scheint mir – so richtig und wichtig es ist, das konkrete Gewaltgeschehen selbst in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken –, daß eine Soziologie der Gewalt, die sich wie die Sofskys mit einer dichten Beschreibung der mannigfachen Formen und des genauen Vollzugs von Gewalt begnügt beziehungsweise eine derartige Phänomenologie zu ihrem Programm erhebt,43 das Kind mit dem Bade ausschüttet, wenn sie nicht nur eine streng zweckrationale, sondern jedwede handlungstheoretische Deutung von Gewalt und damit alle Motivforschung als falsch oder wenigstens irreführend abweist. Denn jenseits der Fälle, in denen Gewalt als eine Art von Notwehr, also instrumentell, auf anders nicht zu lösende Problemlagen reagiert und diesseits von Gewaltakten und -exzessen, welche ihre »Rechtfertigung« oder Erklärung offenkundig aus nichts anderem beziehen als sich selbst und deswegen, selbst bei Sofsky nicht, noch lange nicht grundlos sind – denn schließlich sind auch Leidenschaften und Allmachtsphantasien ein

41

Siehe Ferdinand Sutterlüty: Was ist eine »Gewaltkarriere«? In: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004) Heft 4, s. FN 1. 266–284. 42 Vgl. Trutz v. Trotha: Zur Soziologie der Gewalt. In: Soziologie der Gewalt (= Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), hg. von Trutz v. Trotha (Wiesbaden 1997) 9–56, hier 16–20. 43 Siehe Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt (Frankfurt/M. 1996).

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Motiv44 –, liegt ein weites Feld, auf dem die Gewalt als eine Art Technologie des Selbst figuriert. Weniger die Gewalt als solche, deren expressive Qualitäten von den Tätern durchaus genossen werden können, als vielmehr das im Prinzip beliebige Gewaltopfer wird hier zum Mittel, das eigene Versagen, das nagende Gefühl der Mangelhaftigkeit, wenn nicht die existentielle Scham zu kompensieren. In solchen Konstellationen ist es die Angst, welche die Gewalttäter ihren Opfern einjagen, ist es der Affront, welche die Unverschämten ihrem Publikum entgegenschleudern, ist es die faktisch erlebte Ab-Schreckung, welche anstelle der ersehnten An-Erkennung tritt.45 Reine Macht über andere, Terror, wird zum Respektersatz. Die Beispiele, die sich für eine derartige, schambasierte Erklärung von tatsächlicher und symbolischer Gewalt anführen ließen, sind Legion. Sie reichen vom klassischen bis zum massenmedial inszenierten Exhibitionismus, von der Gewalt an deutschen Schulen bis zu den internationalen Protesten muslimischer Massen gegen eine vermeintlich blasphemische Freiheit, von ehelichen Gewaltkonflikten bis zur politischen Pornographie. Ich beanspruche nicht, diesen Zusammenhang von Scham und Gewalt aufgedeckt zu haben.46 Schon die ältere Literatur enthält klare Hinweise darauf, daß die aggressive Unverschämtheit nichts anderes ist, als eine, wie es bei Scheler heißt, »offenbare Potenzierung der Scham in der Richtung, daß der Betreffende aus Scham seine Scham […] verbirgt und […] durch einen gewollten Verstoß gegen die herrschende Form des Schamausdrucks […] seine natürliche Ausdruckstendenz unterbricht«.47 Worum es mir ging, war, diese Dialektik von Scham und Schamlosigkeit systematisch zu entfalten, zweitens das beachtliche und doch wenig beachtete Werk von Hans Peter Duerr gegen die in aller Regel ebenso vorschnelle wie schwächliche Kritik zivilisationstheoretischer Traditionalisten zu verteidigen und schließlich zu zeigen, inwiefern die beiden Kombattanten gegeneinander Recht behalten: Duerr gelingt es, Elias’ Soziologie des Absolutismus als Zivilisationstheorie

44 Vgl. ebd. 45–63; zum Problem der »autotelischen Gewalt« siehe auch Jan Philipp Reemtsma: Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie. In: Mittelweg 36, 15 (2006) Nr. 5. 2–25, hier 14–17. 45 Eine soziale Beziehung wird auf diese Weise sowohl gestiftet – insofern nämlich das Handeln des Täters darauf abgestellt ist, seinem für ihn grundlosen Leiden durch das Leiden-Machen anderer einen Sinn zu verleihen – als auch im Kern verfehlt; eben weil sich die für das Opfer unmotivierte Gewalt, die es auf den Status eines lebendigen Dings herabwürdigt, bestenfalls einer Deutung durch Dritte erschließt. Daß Gewalt die Gewalt nährt, ist in einem solchen Kontext mehr als wahrscheinlich. 46 Siehe Hilgers: Scham [Anm. 21] 160–164, 167–181; Sutterlüty: Was ist eine »Gewaltkarriere«? [Anm. 41]; Thomas J. Scheff, Suzanne M. Retzinger: Emotions and Violence. Shame and Rage in Destructive Comflicts (Lexington/Toronto 1991); James Gilligan: Shame, Guilt, and Violence. In: Social Research, 70 (2003) Nr. 4. 1149–1180. 47 Scheler: Über Scham und Schamgefühl [Anm. 18] 94.

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zu demontieren und insbesondere die von diesem unterstellte europäische und allgemeine Höher- und Weiterentwicklung von zivilisiertem oder einfach zivilem Verhalten als Mythos zu enttarnen. Recht freilich – wenn auch contre cœur – haben Elias und seine Schüler allerdings darin, daß die Informalisierung als Dezivilisierung ein Produkt auch und gerade des Voranschreitens der Schamschwellen ist.

Christina-Maria Bammel

»Unästhetisch ist im letzten Grunde immer auch unmoralisch ...« Zur Relevanz der Scham im Theater und dramatischen Denken

Und noch dann betrügen wir uns selbst, wenn wir sagen: Auge in Auge mit dem nichts Das Nichts blickt nicht Wir sind Nichterblickte Und nicht Angeblickte, blicken wir nicht einander an … Reiner Kunze, Geburtstagsbrief

Gesehen oder nicht gesehen werden, verborgen oder ungeborgen sein, das ist in diesem Drama der Scham des Lebens die alles entscheidende Frage. Unter dem Stichwort »Würde und Windel« besprach der SPIEGEL das Erscheinen des Buches »Vatermord« von Tilman Jens: Die politische Scham- und Tabu-Geschichte eines fulminanten deutschen Rhetorik-Professors und Schriftstellers, Walter Jens. Dieser war in den dreißiger Jahren Mitglied der NSDAP und hat darüber geschwiegen. Sein partiell verschwiegenes biographisches Detail verquickte sich mit der dramatischen Geschichte seiner fortschreitenden Demenzkrankheit. Auch diese Krankheit ist erzählt als eine Geschichte mit hohen Scham- und Tabuanteilen. An der – auch durch seinen Sohn mit geführten – Diskussion um die Person Walter Jens entfaltet sich die Vermengung von zwei unterschiedlichen Schambereichen, dem der moralisch-politischen Entscheidungen und persönlichen Lebensführung einerseits sowie dem der körperlichen Intimität und ihrer Bloßstellung andererseits. Ein Drama, ein persönliches Drama, auf mehreren Ebenen und doch miteinander verbunden durch das nur schwer zu fassende, vielgestaltige Phänomen der Scham. Tilman Jens, indem er konstatiert, der eigene Vater sei aus Scham in die Demenz geflüchtet, behauptet damit im Grunde, die Scham über die eigene Vergangenheit trieb den Vater in den anderen Schambereich – den Bereich der geistigen Entmündigung, der Schwäche, Hilflosigkeit und Angewiesenheit. Diese These hatte der Sohn publiziert. Jene dramatische, äußerst schambehaftete Geschichte des Walter Jens hat sich seit dem Bekanntwerden historischer Gutachtenergebnisse im Jahre 2003 noch dadurch verkompliziert, daß die mediale Häme und bestimmte mediale Verwerfungen so komplexe wie massive Entblößungs- und Beschämungsorgien nach sich zogen. Tilman Jens, der Sohn, hat darauf geantwortet mit einem zweiten Buch. Der Titel: »Vatermord. Wider einen Generalverdacht«. Seine persönlich gehaltene Auseinandersetzung mit Vorwürfen gegen seine Entscheidung, mit diesem Teil eines Familiendramas an die Öffentlichkeit zu gehen, belegt die massive Präsenz des

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 9 · Felix Meiner Verlag 2011 · ISBN 978-3-7873-1979-4

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Scham- und Ehre-Denkens in den Geschichten und Dramen der individuellen Lebensgeschichten, Familiengeschichten sowie kollektiven Gedächtniskonstruktionen. Die Persönlichkeit wird mit der dramatische Scham-und Ehre-Rhetorik konstruiert oder destruiert. In welchem Maße, das ist nur schwer abzuschätzen. Im Folgenden soll die Scham als emotional-phänomenales Fundament der Theatralität dargestellt werden. Zugleich ist diese Darstellung eine Auseinandersetzung mit dem dramatischen Denken im theologisch-anthropologischen Horizont. Diese Perspektive soll hier freilich nicht zum Schwerpunkt gemacht werden.

I. Die Schamstrukturen im Drama der Existenz – von der Bühne und den Bühnen »Erst die Künstler des Theaters haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selbst erlebt, selber will; … – die Kunst, sich vor sich selber in Szene zu setzen. So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer groß und als die Wirklichkeit an sich erscheinen läßt. – Vielleicht gibt es einen Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrößerungsglase ansehen hieß und aus dem Sünder einen großen unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige Perspektiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes zu sehen.«1 Die Kunst der Inszenierung ist eine Lebenskunst zugunsten des Lebens und Lebenserhalts. Nietzsche zufolge ist es eine Kunst der Barmherzigkeit. Ohne diese inszenatorische Kunst der Barmherzigkeit könnte nur die Optik der Direkt-Einstellung gewählt werden. Sie wäre zugleich eine vernichtende, entblößende Schau – mindestens ebenso so die Existenz in Frage stellend wie das Übersehenwerden, von dem Reiner Kunze lyrisch spricht: »… nicht Angeblickte, blicken wir nicht einander an«. Nietzsche vergleicht die Direkteinstellung mit einem Sündenfokus ohne die Perspektive des ewigen Heils für den Menschen. Die ewige Perspektive hingegen ermöglicht dem Menschen, sich selbst in seiner Verlorenheit als überwunden und gerettet zu betrachten. Theologisch gesprochen ist nur die Perspektive

1 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 78, KSA [Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von G. Colli und M. Montinari (München / New York 1980)] Bd. 3, 433 f.

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zulässig, die den Betrachteten immer schon in der Perspektive des Gerettetseins ansieht. Die Untersuchung von theatralen Prozessen in der Perspektive der Scham setzt genau an diesem Punkt an. Alles Wahre und Tiefe, so auch das Geheimnis seines Personseins, ist schutzwürdig. Nietzsche zufolge besteht diese Schutzwürdigkeit schon an und für sich. Um dieses Schutzes willen sei es auch schon nötig, eine »Schelmenkappe« zu tragen: »Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, daß wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsere Leidenschaft der Erkenntnis steckt, wir müssen unserer Torheit ab und zu froh werden, um unserer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmenkappe …«2 Die konkrete, in ihren Bezügen individuelle Existenz des Menschen ist wesentlich dramatisch. Das Drama beginnt gewissermaßen mit der Frage danach, wer ich bin. Es ist die Frage danach, als wer ich gelte – vor dem inneren Auge, vor dem Forum der Außenwelt, mich liebend oder ablehnend. Können wir die dramatischen Strukturen der Existenz und der Frage nach derselben begreifen, macht sich offenkundig, wie eng beides mit der Schamerfahrung verbunden ist. Dieser Zusammenhang trägt zu einem tieferen Verständnis des Personseins des Menschen bei. Mit Jozef Tischner können wir also davon ausgehen, daß ein dramatisches Wesen zu sein bedeutet, in einem bestimmten Zeitraum und umgeben von anderen Menschen die Lebenswelt als Bühne zu erleben.3 Als dramatisches Wesen begreift sich der Mensch in drei Weisen – in der Mitmenschlichkeit, in der Erfahrung der vergehenden Zeit, gesetzt in einen Ort der Handlung – auf die Bühne. Auf dieser Bühne als dem Ort, in dem das Erblicken des Einen durch den Anderen stattfindet, finden zwei Bewegungen statt: Begegnung und Abschied. Die Begegnung als Antwort auf den Anspruch des Anderen ist nicht frei von Täuschung oder Verrat. Es bleibt von Anfang an ambivalent.4 Tischner hält fest, daß der Andere von mir lediglich annähernd »ertastet« werden kann.

2

F. Nietzsche: Wissenschaft [Anm. 1] Nr. 107, KSA 3. Jozef Tischner: Das menschliche Drama. Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas (München 1989). Vgl. auch Seite 23 f: »Der andere Mensch kann mir in seinem Menschsein erst entgegentreten, wenn er an meinem Drama teilhat. Die Beteiligung am Drama dringt sehr wohl in mich ein.« 4 Ich nehme den anderen Menschen ausschließlich durch den Anspruch wahr, den er mir gegenüber geltend macht und der in mir eine Verpflichtung entstehen lässt.« J. Tischner: Drama [Anm.3] 24. 3

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Einen Zugang zum Anderssein des Anderen gibt es nicht – nur die Berührung des Äußeren. Genau hier stoßen wir auf das dramatische Zusammenspiel von Internalität und Externalität. Dies ist der Kern des Denkens in dramatischen Darstellungen. Im dramatischen Zusammenspiel von Internalität und Externalität werden die konstitutiven Momente der Darstellung, nämlich Preisgabe und Entzug, Selbstverbergung und Selbstfreigabe (concealment and exposure5), miteinander ausgehandelt. In diesem Prozeß treten die Charakteristika des Schamphänomens auf den Plan. Die Scham tritt hier ja begrenzend und zurückweisend wie auch affirmativ, ja sogar empanzipatorisch auf und ist in dieser Weise selbst wesentlich vom Wechselspiel zwischen Internalität und Externalität bestimmt. Das rechtfertigt auch von der Seite der Grundstruktur des Dramatischen her unser Vorhaben, die Schamerfahrung selbst dramatisch auszulegen. Eine Skizze des existenziellen Schamdramas muß sich natürlich Momente und tragende Strukturen von Dramenanalyse zunutze machen. Mit dem Begriff der »Darstellung« klang dies bereits an. Das Wesen des Darstellens ist nicht das Ende der Authentizität. Im Gegenteil, das Verständnis des Menschen als sich dramatisch darstellend bringt ihn in profilierter Weise zur Geltung. Das gilt besonders, wenn wir Menschen theologisch so verstehen können, daß sie von ihrem Grund her durch Gottes Handeln und Wirken betroffen sind, so daß ihre Existenz als dramatische Darstellung der Geschichte Gottes mit ihnen begriffen werden kann.

II. Figuring Shame zwischen Theologie und Theater Zwischen der Theologie und dem Theater ist eine lange Geschichte der geschwisterlichen Antipathie, der Anziehung und der Konkurrenz geschrieben worden. Die Antipathie reichte bis hin zu offener Feindschaft. Ergebnisse dieses nicht immer guten Verhältnisses wurden eindrücklich und ausführlich dargestellt und müssen hier nicht wiederholt werden.6 Herausragend war auch die Analyse und Auswertung dieses jahrhundertealten Verhältnisses durch Hans Urs von Balthasar. Sein Verdienst ist es, die Beziehungen zwischen theologischem Denken und Theatralität neu besprochen zu haben. Hier interessiert nun weniger die allgemeine Verhältnisbestimmung als vielmehr ein schamphänomenologisches Verständnis des Dramas im Konkreten und der Theatralität im Allgemeineren. Die christliche Kultur hat neben einem reflektiert kritischen Verhältnis zur Theaterwelt allerdings in manchen Epochen weit über das Ziel der kritischen

5

Vgl. hierzu Thomas Nagel: Concealment and Exposure. In: Philosophy and Public Affairs 27 (1998). 6 Vgl. Todd E. Johnson/ Dale Savidge: Performing the Sacred. Theology and Theatre in Dialogue (2009) sowie das Journal of Religion and Theatre.

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Abstandnahme hinausgeschossen, indem aus theologischer Sicht der Bühne ein Zuviel an inszenierter und aufgenommener Leidenschaft, an Schamlosigkeit, Verrohtem und Gewaltvollem vorgeworfen wurde. Klar, im Theater wird aufgeführt, wie maßlos Menschen sein können, wenn ihnen die Scham fehlt. Shakespeares Dramendichtung ist ein Beispiel für diese inszenierte Unmäßigkeit des die Grenzen verneinenden Strebens. Sicherlich wurde nicht zuletzt auch deshalb Shakespeare der Erfinder des Menschlichen genannt. Aufs Menschliche muß sich sehr verstehen, wer Figuren wie Richard II und Bolingbroke entwickelt: »Dann stehn Verrat, Mord, Greul, weil der Mantel der Nacht gerissen von ihren Schultern, bloß da und nackt und zittern vor sich selbst … Wird sein Verrat im Antlitz ihm erröten, er wird des Tages Anblick nicht ertragen und selbsterschreckt vor seinen Sünden zittern.« (Akt III, Szene 2, Dramen, Bd. 4, 124). Der Gegner wird also entmachtet durch die taghell begleitete beschämende Entblößung. Aber als die Demütigung Richard II ins Bodenlose geht, fragt er sich, was ihm bleibt. Die Szene dieser Frage vor dem Spiegel wird zur Schlüsselszene. Richard möchte hinweg schmelzen wie ein Schneemann und wünscht sich doch nichts sehnlicher als sich selbst zu finden – im Spiegel. Klar wird hieran, wie sehr die Scham den Menschen von sich entfremdet. Auch Macbeth ist ein sprechendes Beispiel dieser Beobachtung. Und Hamlet bewegt sich in der verzweifelten Spannung zwischen Sein und Schein. Es ist eine Spannung zwischen »Ich bin nicht, was ich bin.« - und »Du bist nicht, was du scheinst.« Jene letzten menschlichen Fragen läßt Shakespeare nicht in den Nihilismus münden, auch wenn oft genug die als schlechterdings gerecht und ehrenvoll erachteten Helden den Tod, den Wahnsinn und die Zerstörung finden. Das Drama kann dem Zuschauer die dunklen und schrecklichen Seiten des Menschseins nicht ersparen. Wegsehen hilft nicht, könnte man im Geiste Shakespeares sicherlich sagen. Dabei muß die Scham nicht immer als eigentliche Mitspielerin bzw. als mitspielender Faktor expliziert sein. Gabriele Taylor zeigt dies eindrücklich anhand des Dramas König Lear. Der König erteilt seiner Tochter Cordelia eine unmögliche Aufgabe in Gegenwart der anderen Schwestern, und damit wird die Situation zu einer Schamsituation, wenn auch aus unterschiedlichen Gemüts- und Motivlagen heraus. Cordelias Sicht ist aus der Sicht des Königs beschämend, weil sie ihrem Vater nicht die Liebe und Ehre entgegenbringt, die er erwartet. Cordelia befindet sich nach eigener Sichtweise in einer Schamkonstellation, weil sie einen solchen Wunsch- und Wertemaßstab an ihrem eigenen Vater erkennen muß. »To be the daughter of a shameless father is to find oneself in a shameful position. As a daughter she should honor and respect him, but he takes the ground from under her feet.«7 Damit zeigt sich ein komplexes Gefüge, in dem verschiedene

7 Gabriele Taylor: Pride, Shame, and Guilt, Emotions of Self-Assessment (Oxford University Press 1985) 63.

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Menschen auf dem Boden differierender Maßstäbe durch Unterschiedliches beschämt sind. Allein diese wenigen Shakespeare Passagen verdeutlichen, daß Scham nicht nur dazu tendiert, zu verbergen und zu verhüllen. Sie annonciert zugleich, wie sie als abwesende Kraft Gewalten der Zerstörung entfesselt, die sichtbare und unsichtbare Blutbäder hinterlassen. Aber damit ist der unter anderem von H.U.v. Balthasar dokumentierte Konflikt zwischen Theater und ihren theologisch-dogmatischen Bewertungen noch längst nicht aus der Bahn geräumt. Ohne diese Konfliktgeschichte vorschnell ausblenden zu wollen, ist es dennoch hilfreich, die konstruktive Dimension dieses Verhältnisses zu benennen: Das Theater ist ja wie kaum ein anderer ästhetischer Raum eben dazu geeignet, auch die Figur der Begegnung zwischen Mensch und Gott zu symbolisieren und zu aktualisieren.8 H.U.v. Balthasar kann daher auch zustimmend erwägen: »(I)m Theater versuchen sie eine Art Transzendenz, in der sie ihre eigene Wahrheit zugleich anschauen und richten möchten; kraft einer Verwandlung – der Dialektik der Maske als Verhüllung und Enthüllung – durch die sie mit sich ins Reine kommen möchten. Sie selbst lassen eine Offenbarung über sie auf sich zukommen. Hier, im Gleichnis, kann eine Tür zur Wahrheit der wirklichen Offenbarung sich öffnen.«9 Wenn auch die Dramenbeobachtung nicht der unmittelbare und erste Ort der theologischen Reflexion ist, bleibt sie doch ein wesentlicher Teil der für die dogmatisch-theologische Reflexion unerläßlichen Situationsanalyse. Halten wir fest: Das Drama bzw. das dramatische Denken erweist sich als tragendes Gerüst zur Beschreibung der Scham als kulturellem und existenziellem Phänomen, welches zugleich die Möglichkeit eröffnet, diese subtil und differenziert zu begreifen.

III. Als kompetenter Selbst-Darsteller gefordert durch den leibhaften Anderen Nicht nur einen Körper zu haben, sondern ein Leib zu sein, ist Basis unseres Darstellungsvermögens. Das Leibsein des Menschen gibt sich durch Darstellung vermittelnd in die Welt hinein. Die Darstellung im Sinne eines eigenleiblich vollzogenen Daseins der selbst bestimmten Persönlichkeit im Spannungsfeld von Preisgabe und Entzug führt in der Regel zur stabilen Balancierung zwischen Selbstentwurf und fremden Blicken. Das macht den Grundzug von Authentizität

8 O. König/K. Dermutz/E. Draxl: Im Angesicht des Todes. Theologie herausgefordert durch das zeitgenössische Theater. In Gerhard Larcher (Hg.): Gott-Bild – Gebrochen durch die Moderne? Festschrift Karl Mätthäus Woschitz (Graz 1997) 336–334. »Das Drama des Menschen, seine Suche nach Sinn und Gott und die Theodramatik … der Einsatz Gottes im Ringen um den Menschen können hier nachgestellt, durchgespielt und ausexperimentiert werden, in all ihren durch heilsgeschichtliche Paradigmen und mythologische Schemata vorgeprägten Möglichkeiten.« 9 Hans Urs von Balthasar: Theodramatik, Bd.1 (Einsiedeln 20092) 20.

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aus. Die ästhetische Sonderform der Darstellung als Inszenierung realisiert sich als Spiel zwischen Rückbehalt und Verausgabung, Verhüllung und Entbergung, Verrätselung und eröffnend-offenbarender Präsentation, Verkleidung und Exposition. Der Mensch als in die Verantwortung gestelltes Subjekt, das sich selbst als Person auch im Letzten geheimnisvoll entzogen bleibt, ist auf die Darstellung angewiesen, um sein Personsein zu entfalten. Darstellen bedeutet nicht, mit der Wirklichkeit Versteck zu spielen, sondern mit den Wirklichkeiten so umzugehen, daß bewahrtes und geborgenes Leben möglich ist. Allerdings ist mit Schmitz zu bedenken, daß wir in einem Zeitalter stehen, worin der Subjektivität kein fester verläßlicher Platz innerhalb des Kosmos geboten werden kann. Somit sucht sich die Subjektivität ihren Ort durch Selbstdarstellung. Das Zeitalter der entfremdeten Subjektivität wandelt sich zu einem der Selbstdarstellung.10 Einzelne Akteurtypen dieses Zeitalters der Selbstdarstellung sind beschreibbar, etwa der Typus der »Coolness«. Einleuchtend ist daran, daß sich der Mensch seine Stellung in der Welt durch Darstellung seiner leibhaftigen Personalität fortwährend neu erringen muß. Das Bedürfnis nach Darstellung und Selbstdarstellung ist keineswegs bloße Konsequenz aus der selbstentfremdeten Subjektivität, sondern eine existenzielle Weise der Lebensbewältigung als selbstschöpferischer Balance zwischen Verhüllung und Enthüllung unter den Gegebenheiten der leiblichen und geheimnisvollen Kreatürlichkeit in einer Welt der Indirektheit unter dem Angesicht des Anderen ob fremd oder vertraut. Gerade die Hinwendung zum Anderen ist die Überwindung der Fremdheit mit dem Ziel, bedingungslos vertraut zu werden. Emmanuel Lévinas war es gelungen, den Weg der Subjektwerdung zu beschreiben als einen Weg von der Nicht-Beachtung von bedeutungslosen Randpersonen hin zum Erblicken des Anderen, der dem Ich begegnet, darin eine Zumutung darstellt, der sich das Ich im Ergreifen der eigenen ethischen Verantwortung auszusetzen hat.11 Dessen Antlitz-Phänomenologie fußt eben mittelbar auf der Dynamik von fremd und vertraut. Die Hinwendung zum anderen ist die Überwindung der Fremdheit mit dem Ziel, bedingungslos vertraut zu werden. Diese Hinwendung wird unbedingt eingefordert und stößt mich daher schon vom Ursprung her an die Grenzen meiner menschlichen Möglichkeiten. Dies ist allerdings keine moralische, sondern eine vormoralische Aussage. Kein abstrakter Maßstab, keine abstrakte Norm, beschämt mich, sondern die leibhafte Person – das nackte, fremde Antlitz des Anderen. Der Weg von fremd zu vertraut ist ein Weg der Schamintegration oder Schambewältigung. Scham tritt phänomenologisch gesprochen dort auf, wo das Antlitz des Anderen meiner eigenen Willkürlichkeit ein Ende

10

Hermann Schmitz: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität (Bonn 1995) 421. 11 Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt und bearbeitet von W. N. Krewani (Freiburg i.Br./München 1983).

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setzt, meiner Freiheit ein neues Gewicht verleiht und das Auf-den-Anderen-hinSein als der neue Weg des Freiseins mir bestimmt ist. Beschämend ist dann im Rückblick die Einsicht in die mich überfordernden und überrollenden bisherigen Willkürlichkeiten und in die eigenen usurpatorischen Intentionen. Mit Lévinas läßt sich sagen, ich trage die Verantwortung für das Nahsein des Anderen neben mir. Ich berge den Anderen in dieser Nähe. Darin besteht die unendliche Herausforderung an das menschliche Zusammenleben. Indem ich den Anderen berge, bürge ich auch für ihn. Zusammensein ist getragen von der wechselseitigen unbedingten Bürgschaft füreinander. Recht besehen ist dies verwirklichte Freiheit aneinander. Die Nähe des Anderen, und hier gehen wir über die Studien von Lévinas hinaus, kann sich zur Tyrannei des grenzenlos intimisierten Zusammenseins verkehren. Ein erdrückendes Maß an Nähe wendet sich in Befremdung und Fremdheit. Solche Prozesse sind, auf psychologischer Ebene mit Günter Seidler gesprochen, wesentlich für die Subjektwerdung.12 Das Subjekt wird entscheidend geprägt vom Scham erzeugenden Blick als einer Einladung, die eigenen Potenziale der Selbstreflexivität weiter zu entwickeln. Der Scham erzeugende Blick sagt dem Subjekt die Grenze seiner Existenz an, seine Endlichkeit, und zeigt das beginnende Fremde hinter dieser Grenze an. Das fremde Gegenüber und das vertraute Eigene erfahren im Scham erzeugenden Blick ihre eigentliche Ausbildung. Die Scham läßt sich in der Entwicklung eines Menschen somit als eine lebenserhaltende Grenzwache zwischen Eigenem und Anderem, Subjekt und Gegenüber, fremd und vertraut, verstehen. Tischner hat dieses Verständnis der Grenzwache präzisiert. Die Scham eines Andren in meinem Angesicht ist auch eine Form des Dialogs, es ist eine Sprache der Entsagung. (…) Die Scham verschleiert. Der Schleier ist keine Maske, denn die Rolle einer Maske sei es ja, etwas zu geben, was nicht das ist, was es gibt. Die Scham hingegen will verstecken. Tischners Maskenverständnis ist an dieser Stelle zwar nicht zu folgen. Gleichwohl hebt er zurecht hervor: »Die Scham ist mir ein Hinweis, daß es etwas gibt, was der Andere als seinen persönlichen Wert hütet und was so zerbrechlich … ist, daß es – einem fremden Blick ausgesetzt – leicht zunichte werden könnte.«13 Tischner geht sogar so weit, den Begriff der menschlichen Würde daran zu koppeln: »Was wir als Subjekt der Scham … bezeichnen, ist … auch ein personaler Wert, der in der Welt existiert als … menschliche Würde.« Theologisch ist darauf freilich zu erwidern, daß Menschen ihr Wesen nie so verstellen können, daß sie von Gott unerkannt bleiben. Gottes Erkennen legt uns allerdings nicht darauf fest, unter den Bedingungen der irdischen und gebrochenen Weltwirklichkeit die Existenz eines gläsernen Selbst zu führen. Die Scham ist hingegen der göttliche Schutzund Schonraum und darin zugleich Verwirklichungsgrund aller kommunikativen

12 13

Günter H. Seidler: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham (Stuttgart 1995) 195 J. Tischner: Drama [Anm. 3] 72.

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Bemühungen. Was durch die Darstellung des Dramas des Menschseins ermöglicht wird, ist nicht nur ein bloßes Sehen, sondern eine Anschauung unserer selbst und des Anderen, die relative Räume der Freiheit auf allen beteiligten Seiten schafft. Zumindest ist dies in aller Vorläufigkeit der Horizont verbunden mit der Hoffnung der eschatologisch geöffneten Augen in einer neuen Welt, die sich dadurch auszeichnet, daß es in ihr keinen Entzug der Darstellung mehr geben wird. Im Gegenteil, die neue Welt hat gerade ihr Markenzeichen darin, daß es nichtentblößendes Erkanntwerden unter Gottes Angesicht geben wird. Die Rede vom Angesicht Gottes ist somit ein Ausdruck wesentlich christlicher Hoffnung auf ein wechselseitig befreiendes gegenseitiges Erkennen im Licht eines Dritten. Im Lichte dieser mit dem Angesicht Gottes verbundenen eschatologischen Hoffnung leben Menschen nach wie vor angewiesen auf die Maske als Grundrequisite des Dramas der Scham. Dieser Maske hat Nietzsche besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Wir wollen dies hier mit wenigen Gedanken nachzeichnen.

IV. Wer bin ich – in wie vielen Masken? Die Maske als Grundrequisite des Schamphänomens Jedem Menschen gehören mehrere Masken, das heißt Personen an. »Der Einzelne enthält viel mehr Personen, als er glaubt. Person ist nur eine Betonung, eine Zusammenfassung von Zügen und Qualitäten.«14 Gerade der Maskenbegriff trägt eben dieser Komplexität des Menschseins sowie der Vorherrschaft der Indirektheit in der Welt Rechnung. Nietzsche geht davon aus, daß die Indirektheit nicht allein ein Mittel der Mitteilung ist, sondern die Wahrheit des Seins im Dasein und des Sagens selbst. Das gleichermaßen ernste wie zutiefst schöpferische Spiel der Indirektheit mit der Maske ist bewegt sich zwischen Selbstbezug, Selbstbeschränkung und Selbstüberwindung im Dienst einer Selbstbewahrung. Insofern betont die Maske die Grenze meines Selbst, indem sie sie verbirgt. Doch gerade indem sie verborgen wird, wird diese Grenze herausgestellt. Auf das Verborgene wird verwiesen, ohne daß dieses Verborgene der Obszönität oder einer ähnlichen Gefahr ausgeliefert ist. Maskierung ist keine Art von Schauspielertum, worin das vermeintlich Echte verschüttet werden könnte. Was auch immer die Echtheit eines Menschen ausmacht, sie wird gerade durch die Maske gegen den Ansturm der Selbstauflösung erhalten – so Nietzsche. Freilich steht jede Maske stets an der Schwelle zur Fratze des Wahnsinns.15 Der Negativcharakter des Maskenhaften insgesamt wurde von Nietzsche natürlich nicht verschwiegen.

14

Nietzsche: Nachlaß. 1884 bis 1885. KSA 11, 558. Vgl. Achim Fürstenthal: Maske und Scham bei Nietzsche. Ein Beitrag zur Psychologie seines Schaffens (Basel 1940). 15

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Seine Bekanntschaft mit einer scheinversessenen Welt, die die Möglichkeiten zur authentischen Äußerung drastisch einschränkt, ist ausführlich dokumentiert. Zudem muß Nietzsche, konfrontiert mit dem tiefen Schmerz der Einsamkeit, einsehen, daß die Unmittelbarkeit in Wahrheit die furchtbarste aller Vereinsamungen sei; die Verschiedenheit ist Maske, welche eiserner ist als jede eiserne Maske ist.16 Nietzsche bespricht drei – hier nur zu nennende – Formen der Maske, die der a) Oberflächlichkeit, der b) Gemeinheit, c) der Härte. Und dennoch gilt für ihn, was nach dieser Unterscheidung wenig einleuchtend scheint: Die Maske ist kein Gegensatz zur Wahrheit. Was maskiert ist, muß nicht unwahrhaftig sein. Masken decken Mängel ab; sie gleichen aus, was zuvor unerträglich in seiner Blöße schien. Somit verfälschen sie das Antlitz nicht, sondern schützen es. Der Maskenträger wird nicht zum Gesichtslosen, sondern gibt sein Antlitz in der Begegnung mit dem Anderen in zumutbarer, d.h. begrenzter Weise preis. Damit wird die Zumutung des eigenen Seins für den Anderen ebenso verantwortet wie das Maß der eigenen Preisgabe. Es mag durchaus sein, daß die Maske getragen wird, um den Anderen irre zu führen. Es mag nicht weniger sein, daß in der Maske subtile Übernahme- und Herrschaftssüchte kulminieren. Das alles stellt aber ihren Wert im Blick auf den Schutz des Verletzlichen und Verletzten nicht in Frage. Gerade die Maske fordert eine Reduktion der gegenseitigen Zumutung, die in so etwas wie gottloser Offenheit, von der etwa der Theologe Dietrich Bonhoeffer angesichts seiner Gefängniserfahrungen sprach, unkontrollierbar zu werden droht. Nietzsches Einsicht, daß alles was tief sei, die Maske liebe, behält also trotz der als zweifelhaft wahrgenommenen Maskierungskultur ihr Recht. Seine Aussage, es gehöre zur »feineren Menschlichkeit«, der Maske eine Ehrfurcht entgegen zu bringen, trägt eben diesen Gedanken weiter, der an den Übergängen zwischen existenzieller, ästhetischer und ethischer Wirklichkeit des Menschen steht.17 Die Maske ermöglicht uns einen Blick auf die eigene Existenz im Wissen um die eigene Zweideutigkeit und Gebrochenheit. Insofern hängt der Machtbereich der Maske eng mit den Strukturen dieser gebrochenen und zweideutigen Welt zusammen. Er ermöglicht in den Grenzen des Faktischen einen Umgang von Menschen miteinander, bei dem sich sie nicht verletzten und beschämen müssen. Er hält aber zugleich auch die Möglichkeit der Überwindung der Grenzen der Gebrochenheit und Zweideutigkeit offen. In dieser Weise verdichtet die Maske das ontisch verankerte Schamerleben und schützt zugleich jeden Menschen in der Besonderheit, Verwundbarkeit und Fragilität seiner Existenz. Die Scham und ihr Gebrauch der Maske bewahren in diesem Sinne davor, sich über alle Grenzen hinweg zu setzen.

16 17

Vgl. Brief an seine Schwester vom 8.7. 1886 und ders.: Nachlaß [Anm. 14], KSA 11, 557. F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 270, 225 f.

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Innerhalb des dramatischen Denkens hat die Maske freilich noch eine weitere Funktion. Sie verweist über sich selbst hinaus auf das Ensemble des Schauspiels und der Entfaltung der einzelnen Rolle innerhalb dieses Schauspiels. Was also bedeutet existenzielles role-taking auf der Schnittstelle zwischen ästhetischem und ethischem Denken? Eine anthropologische Bestimmung des Menschen als Schauspielwesen reicht hinein in die Frage nach der Bestimmung des Rollen-Wesens im gemeinschaftlichen Leben. Eine Rolle, die nicht der Selbstvernichtungssucht zuarbeitet, sondern dem Einzelnen zu sich selbst verhilft. Angesprochen ist hiermit der konfliktreiche Bezug zwischen (gegebenenfalls sogar traumatischer) Schamerfahrung sowie selbstverneinender und damit selbstverfehlender Darstellung im ästhetischen Schauspiel – auch dem Schauspiel des Lebens. Schamerfahrungen können die individuelle Fähigkeit zur Darstellung durchschlagen oder lähmen. Die Ausbildung einer eigenen emotionalen und rationalen Schamverständigkeit ermöglichen die Fähigkeit zur Darstellung, zum Schauspiel im besten Sinne. Ist doch eine der anthropologischen Kernfragen, an welchem Bild ich arbeite, das ich für den Anderen sein will.18 »Der Gegensatz des Schauspielers ist nicht der ehrliche Mensch, sondern der heimliche selbstverlogene Mensch«19, geben wir dem gegenüber mit Nietzsche zu bedenken. Allerdings ist ein Schauspieler immer auch derjenige, der selbst beim tiefsten Schmerz nicht aufhören kann, an den Eindruck seiner Person und den szenischen Effekt zu denken. Auch hierin begegnet uns eine zutiefst existenzielle Einsicht. Auf diesem Hintergrund beschreibt Nietzsche zwei Arten des Lebensschauspielers. Während der instinktive Lebensschauspieler eine naive Art des Verstellens an den Tag lege, also über seine Verstellung gar nicht im Bilde ist, mache sich der berechnende Lebensschauspieler das Wissen um seine Präsentation gezielt zunutze. Schauspieler verkörpern das darstellende Wesen. Diese Verkörperung setzt auf Wirkung. Denkbar ist zweifelsohne, daß hier die Maske des Schauspielers der gesamte eigene Körper wird, der gegebenenfalls ein Gefühl in leib-seelischer Ganzheit abbildet, aber eben nur abbildet. Gut ist der Schauspieler dann nicht wegen eines besonders echten, dargestellten Gefühls, sondern »weil er durch seine Gesten, seine Mimik, seine Stimme imstande ist, für sich und andere jene Illusion der Tiefe zu erzeugen, welcher die Handlungen entsprechen.«20 Zwar kann, so führt Helmuth Plessner diesen Gedanken weiter, den Schauspielenden eine wirkliche Aufwallung, ein wirkliches Gefühl dabei unterstützen, den echten Ausdruck zu finden. Wert hat es jedoch nur, wenn der Schauspielende sagen kann: Ich bin, weil ich mich habe.21 Es steht also das Gesamte der

18

Vgl. Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers. In: Ausdruck und menschliche Natur, GS VII (Frankfurt a.M. 1982) 399-418, 399. 19 F. Nietzsche: Nachlaß [Anm. 14], KSA 10, 125. 20 H. Plessner: Anthropologie [Anm. 18] 399–418, 399. 21 »Er ist nur, wenn er sich hat.« Ebd. 409.

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Verkörperung zur Disposition. Dieses Gesamte umfaßt die darstellende Verwirklichung des Leibseins in einer selbsttranszendierenden Bewegung. In allen Weisen des Darstellens manifestiert sich der Mensch auf eine zugleich unmittelbare wie auch vermittelnde Weise. Die menschliche Natur trägt die Gabe der Darstellungsfähigkeit in sich. Der Schauspielende steht für die Darstellbarkeit menschlichen Seins durch die Verkörperung. Nietzsche hat diesen Maßstab bereits ausgelotet, indem er über den Menschen als Schauspieler nachdenkt. »Nehmen wir an, der einzelne Mensch bekommt eine Rolle zu spielen: er findet sich nach und nach hinein. Er hat endlich die Urtheile, Geschmäcker, Neigungen, die zu seiner Rolle passen, selbst das dafür zugestandene übliche Maaß von Intellekt: – einmal als Kind, Jüngling, usw., dann die Rolle, die zum Geschlecht gehört, dann die der socialen Stellung, dann die des Amtes, dann die seiner Werke – Aber giebt ihm das Leben Gelegenheit zum Wechsel, so spielt er auch eine andere Rolle. Und oft sind in Einem Menschen nach den Tagen die Rollen verschieden … An Einem Tag sind wir als Wachende und Schlafende sehr verschieden. Und im Träumen erholen wir uns vielleicht von der Ermüdung, die uns die Tages-Rolle macht, - und stecken uns selbst in andere Rollen. Die Rolle durchführen, d.h. Willen haben, Concentration und Aufmerksamkeit: vielmehr noch negativ – abwehren, was nicht dazu gehört, den andringenden Strom andersartiger Gefühle und Reize, und – unsere Handlungen im Sinne der Rolle thun und besonders interpretieren. Die Rolle ist ein Resultat der äußeren Welt auf uns, zu der wir unsere Person stimmen, wie zu einem Spiel der Saiten. Eine Simplifikation, Ein Sinn, Ein Zweck. Wir haben die Affekte und Begehrungen unserer Rolle – das heißt wir unterstreichen die, welche dazu passen und lassen sie sehen. Der Mensch ein Schauspieler.«22 Die schauspielerische Existenz zwischen Distanznahme und Freigabe, Selbstdistanz und Wiedergewinn, beschreibt typische Bedingungen menschlichen Daseins. So wie der Schauspielende die Aufgabe ausfüllt, »seiner Rolle eigene Figur zu sein«23, so übt sich Jeder und Jede schauspielend durch die Rollenverkörperung in der Selbstübernahme. Selbstübernahme bedeutet hier, die menschliche Würde zu repräsentierend zu vertreten. Denn diese Würde habe ihre Wurzel nicht allein in der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott, meint Plessner, sondern »ebenso sehr in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen Abstand zu ihm.«24 »Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform. Ihre Überlegenheit über das bloße

22

F. Nietzsche: Nachlaß [Anm. 14], KSA 11, 109 f. H. Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur (1960). In: Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, GS X (Frankfurt am Main 1985) 227–240, 239. 24 H. Plessner: Anthropologie [Anm. 18] 416 f. 23

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Leben, die in ihren geistigen Äußerungen vernehmbar wird, erkaut sie mit Hemmung und Unterlegenheit im bloßen Leben … (Z)wischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung. Es ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt. Er fällt nicht mit dem zusammen, was er ist: dieser Körper, dieses Temperament, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkenne. Sie sind ihm zugefallen und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewußt. Das, was er hat, hat er zu sein – oder nicht zu sein.«25 Plessner beschreibt hiermit eine Weise des role-taking – mir selbst unverfügbar, in gebrochener Ursprünglichkeit und mit der durchgängig mitlaufenden Möglichkeit zur Abstandnahme zu eben dieser Ursprünglichkeit. Diese Art des roletaking ermöglicht es dem Einzelnen, sich nicht als nackt erfunden zu sehen (2. Korinther 5,3f.). Gerade die Rollenfreiheit eröffnet die Chance sozialer Berührbarkeit bei gleichzeitigem Schutz, eröffnet eine Zone des geschützten Eigenen, der freien Intimität. Selbst die Distanznahme zu sozialen Rollen, oder gar ihre Ablehnung, bedeutet keine Rollenlosigkeit. »Immer ist der Mensch in seiner Verdoppelung zu einer erfahrbaren Rollenfigur erst er selbst. Auch alles das, worin er seine Eigentlichkeit sieht, ist nur seine Rolle, die er vor sich selbst und anderen spielt.«26 Freies Selbstsein des Menschen ist nicht von einer sekundär hinzugetretenen Rolle zu trennen. Rollen sind keine Maskerade, kein Additivum zu einem irgendwie statisch verstandenen Selbst, sondern der Mensch ist – anthropologisch gesprochen – das, wozu er sich macht und versteht. Die Rolle steht eben dafür, daß jeder Mensch an einen Punkt kommt, wo er nicht mit sich selbst identisch ist. Immer wieder aufbrechende Rollendistanz ist das mitlaufende Begleitmoment der Selbstwerdung. Die Rolle ermöglicht mir erst die Abständigkeit und das Maß der Abstandnahme gegen mich und die Außenwelt. Sie kann darin gerade auch als Aufforderung zur Selbstübernahme verstanden werden, die denjenigen offenen Horizont des Lebens entstehen läßt, in den hinein Gott Menschen anredet. Gerade so ist die Rolle nicht als beliebig zu wechselndes, immer wieder neu anpaßbares Übergewand zu deuten. Person zu sein und dies auch in der Gegenwart des Antlitzes des Anderen darzustellen heißt, die konturierte Rolle im Horizont des Offenen annehmen und dieses Annehmen als fortlaufendes Hinausgehen, als ein Hinaustreten aus sich selbst zu begreifen. Balthasar gebraucht dafür den Begriff der »Sendung« und verweist damit zugleich auf die Bedrohung

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H. Plessner: Anthropologie [Anm. 18] 440. H. Plessner: Soziale Rolle [Anm. 23] 230.

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dieses Gesandtseins durch Selbstverlust.27 Im Prozeß der Selbstübernahme ist das Hinausgehen aus sich selbst die Übernahme eines Expositionsrisikos. In dieser Weise auf das Expositionsrisiko einzugehen kann heißen, dem Verdacht der Gesichtslosigkeit ausgesetzt zu sein oder reell entblößt zu werden. Die Aufgabe des role-taking integriert dieses Risiko. Dies gibt in ethischer Hinsicht zu denken.

V. Schluß Schamverständiges darstellendes Sein Anthropologische und auch (theater)ästhetische Fragen stehen in keinem natürlichen Bündnis mit ethischen Fragen. Allerdings gibt das schamverständige darstellende Sein als anthropologisch-ethische Kategorie zu denken. Karl Barth hat sich darauf bezogen, daß mangelnde Ästhetik schließlich mangelhafte ethische Reflexion bedeuten kann: »Unästhetisch ist im letzten Grunde … immer auch unmoralisch und ungehorsam.«28 Die Darstellung ist der Raum, der füreinander erschlossen und offen gehalten wird. Der Andere wird mir dann zum Besonderen, der in seiner verkörperten Existenz dem Ich begegnet und diesem Ich darin – hier ist Lévinas zu folgen – zum Ermöglichungsgrund der Freiheit wird. Freiheit wird realisiert, indem Menschen im Schauspiel des Lebens sich selbst verkörpern und indem sie darin ihre Rolle als Sendung begreifen. Freilich hat die Freiheit ihre Verankerung darin, daß ich dem Anderen mitteile: Verleite mich nicht dazu, mich dir auszuliefern.29 »Wendest du jetzt dein Angesicht weg aus Scham?« Das ist die Frage, die Marcus in Shakespeares Drama Titus Andronicus an die geschändete Lavinia richtet. Zu Lavinias Emotionen gehört in der Folge der erlittenen Demütigung neben Schmerz, Wut und peinigender Verzweiflung auch die Opferscham. Ihre Verwundbarkeit ist in jeder Hinsicht mißbraucht worden. Ausgeliefert und bloß kann sie sich noch nicht einmal mit Händen wehren; selbst ihr Gesicht kann sie ohne Hände nicht mehr bedecken. Eindrücklicher und beklemmender läßt sich wohl das Ausmaß einer Opferscham nicht mehr darstellen als es in den abgerissenen Händen der Lavinia zum Vorschein kommt. Neben der Opferscham steht die Täterscham, die in Tragödien ausführlich thematisiert wird. Drastisches Beispiel ist das der Phaidra. Diese Figur steht für ein hohes Ansehen und eine exponierte Stellung bei gleichzeitiger Sehnsucht danach, diese Strukturen aufzubrechen, in denen sie ohne innere Beteiligung

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Vgl. dazu meine Ausführungen in: Aufgetane Augen – aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch (Gütersloh 2005) 452 ff. 28 Karl Barth: Ethik 1928/29, Akademische Werke (Zürich 1978) 443. 29 J. Tischner: Drama [Anm. 3] 72.

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lebt. Das weckt ihre tatsächliche Sorge um das eigene Spiegelbild, ein Reflex bloßer sinnlicher Oberflächlichkeit. Am Ende der Tragödie rührt ihre Scham daher, daß Phaidra die Grenze zwischen sich und dem geliebten Objekt Hippolyt nicht als die Grenze zum Fremden wahrt, sondern diese Distanz als letztes Hindernis des tiefsten Vertrauens buchstäblich aus dem Weg räumen möchte. Damit hat sie ihre Liebe zur Willkür über den Andren werden lassen, seinen Wunsch nach Grenzwahrung in den Wind geschrieben und sich so selbst verloren. Diese Scham ist eine andere als die Schande der verlorenen Reputation, der leibliche Tod die physische Konsequenz einer längst beschlossenen Sache. Es ist die Konsequenz einer nicht von der Scham gehaltenen Liebe. Die Scham schlägt auf die Person zurück und zeigt den Bruch der tragenden Beziehung, eine vollkommene Infragestellung des Gemeinsamen, der Gemeinschaft. Hier ist die erdrückende Antlitz-Metaphorik verzahnt mit der ethischen Dimension der Scham. Das in diesem Falle schmerzliche Sehen und Gesehenwerden offenbart den verfehlten Maßstab des Zusammenlebens und wird zu einem Drama verfehlter Verantwortung gegenüber dem vermeintlich geliebten Menschen. Nun besteht das dramatische Urphänomen des Menschen darin, daß Jeder und Jede sich vor sich selbst verwandelt sehen kann. Das Theater eröffnet eben diese Einsicht, auch wenn der Tod einem als vermeintlich glücklicher Ausgang zuvor kommen sollte. Es bleibt der aktive Zuschauer, der nach dem Tod auf der Bühne die eigene Rolle in der Einsicht des dramatischen Wandels zu leben hat. Verwandlung und das Gewinnen der Identität ergänzen sich hier. Verwandlung fordert das Identischwerden und zwar in der Weise der Gestaltung. Daß das Ergebnis der Verwandlung ist ein Anderer. Und doch ist es der, der sich zuvor einmal begann zu wandeln; er wandelt sich nun neu fort unter der Erfahrung des Gestaltetwerdens und der Freiheit des eigenen Gestaltens. Das Drama als Verwandlung, die sich fortschreibt auch nach dem Vorhang, beschreibt einen Zusammenhang, der sich in moralischer Existenz ausprägt und daher bleibend ethisch reflektiert werden muß. Das Personsein bezeichnet als dynamischer Begriff aus dem Rollenverständnis heraus die Urform der das Leben bewegenden Verwandlung. In der Verwandlung liegt alle dynamisierende Kraft einer tragfähigen, d.h. lebenszuträglichen Moralität. Die Verwandlung als theatrale Kraft ist angewiesen auf die Atmosphäre einer Glaubwürdigkeit. Dies ist eine Atmosphäre, die Menschen in die Bewegung freien, personalen Werdens stellt. In diesen Atmosphären können Menschen darstellerisch vor sich selbst treten und sich darin auslegen. Darin die personale kreatürlich-sphärische Geheimnishaftigkeit und die Angewiesenheit auf den Anderen als gegeben zu nehmen, bedeutet, die eigene Scham nicht zur Nichtigkeitserfahrung werden zu lassen, sondern in einer eigenen Schamtoleranz zu leben. In dieser Schamtoleranz kann ich mein Unsichtbares erscheinen lassen und den Anderen gegenüber in glaubhafter Theatralität zur Anschauung bringen. In diesen Atmosphären können sich Menschen als vom

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Zwang zur Selbstdarstellung Entlastete begreifen, die freiheitlich Ja zu den Grundregeln des Miteinanders sagen können, etwa zu der Regel: Verpflichte dich zum Abstand in der Nähe, aber nicht weniger zur Nähe im Abstand. Menschliche Verantwortlichkeit umfaßt natürlich weitaus mehr als das darstellende Übernehmen von ästhetisch erschlossenen Atmosphären. Das Dramatische greift natürlich in alle Bereiche menschlicher Kommunikation, ist jedoch nur eine Dimension der Vielfalt menschlicher Existenz in ethischer Reflexion. Das darstellende Sein, das Werden des Schauspielers zum kompetenten Schamspieler, hat vor allem eine Bedeutung für die Formung des kulturellen Gefüges. Das darstellende Sein fördert und fordert eine Kultur des Respekts und der Anerkennung, der achtsamen Nähe und Raum gebenden wie bergenden Distanz. Sie integriert den schwierigen Umgang mit Stärken und Schwächen von Menschen, mit Kraft und Kraftlosigkeit und ermutigt Menschen, Räume der Zwischenmenschlichkeit wahrzunehmen, in denen sie sich als Personen und nicht als Gegenstand der Häme und des Spotts darstellen können. Vielleicht ist der Ausblick auf eine Ethik des Schauspiels zu gewagt. Aber es wäre eine Ethik der angemessenen Spiegelung, Reflexion und Brechung. Sie stünde für die Authentizität in allen Relationen des menschlichen Lebens gut. Sie würde jeder dunklen Sehnsucht nach Rollenlosigkeit entgegenstehen. Das Antlitz des Anderen weist mich ein, aber nicht so, daß ich auf das fremde, nackte Gesicht starren müßte, sondern daß ich mich von der Darstellung des Anderen hinein nehmen lassen kann in die lebensermöglichende Dynamik von Entzug und Preisgabe, von Rückbehalt und Verausgabung. Nur unter diesem Vorzeichen menschenfreundlicher Praxis verweist mich die Scham auf das, was ich bin, ohne mich auf ein gläsernes Selbst zu reduzieren.