Dietrich Bonhoeffer Werke. Band 1 Sanctorum Communio: Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche
 9783641106959

Table of contents :
Inhalt
Zur Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffers Werken
Vorwort des Herausgebers
Vorwort
1. Kapitel: Zur Begriffsbestimmung von Sozialphilosophie und Soziologie
2. Kapitel: Der Christliche Personbegriff Und Die Sozialen Grundbeziehungsbegriffe
3. Kapitel: Der Urstand Und Das Problem Der Gemeinschaft
4. Kapitel: Die Sünde Und Die Gebrochene Gemeinschaft
5. Kapitel: Sanctorum Communio200
Anmerkungen Des Herausgebers
Verzeichnis Der Von Bonhoeffer Zitierten Literatur
Nachwort des Herausgebers
Auswahlbibliographie zu "Sanctorum Communio"
Register

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Dietrich Bonhoeffer Werke Band 1

DI ET RICH BONHOEFFER WERKE Herausgegeben von Eberhard Bethge (†), Ernst Feil (†), Christian Gremmels, Wolfgang Huber, Hans Pfeifer (†), Albrecht Schönherr (†), Heinz Eduard Tödt (†), Ilse Tödt Erster Band

DI ET RICH BONHOEFFER

SANCTORUM COMMUNIO Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche Herausgegeben von Joachim von Soosten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 1986 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Das E-Book gibt den Textbestand der Dietrich Bonhoeffer Werke – Sonderausgabe, Gütersloh 2015, wieder. Sie wurde gedruckt mit Unterstützung der Internationalen Dietrich Bonhoeffer-Gesellschaft und der Adolf-Loges-Stiftung, die die Sonderausgabe in besonderer Weise förderte. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlaggestaltung: Ingeborg Geith, München ISBN 978-3-641-10695-9 www.gtvh.de

Inhalt

Zur Neuausgabe der Werke Dietrich Bonhoeffers Vorwort des Herausgebers .

IX 1

Vorwort . . . . . . . . . .

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1 . KAPITEL : ZUR BEGRIFFSBESTIMMUNG VON SOZIALPHILOSOPHIE UND SOZIOLOGIE

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2. KAPITEL : DER CHRISTLICHE PERSONBEGRIFF UND DIE SOZIALEN GRUNDBEZIEHUNGSBEGRIFFE

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A. Die vier Schemata der sozialen Grundbeziehungsbegriffe und die Auseinandersetzung des christlichen Person- und Grundbeziehungsbegriffs mit diesen . . . .

19

B. Gottesbegriff und soziale Grundbeziehungen unter dem Begriffe des Ich-Du-Verhältnisses

32

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3. KAPITEL : DER URSTAND UND DAS PROBLEM DER GEMEINSCHAFT .

A. Methodische Probleme . . . . . . . . . B. Das sozialphilosophische Problem : Die menschliche Geistigkeit und die Sozialität . I. Die strukturelle Offenheit des personalen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die strukturelle Geschlossenheit personalen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das soziologische Problem . . . . . . . . . I. Soziale Gemeinschaft als Willensgemeinschaft II. Typologie der sozialen Gemeinschaften . IIl. Der objektive Geist . . . . . . . . . . . . . .

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36 36 39 39 45 51 51 55 62

VI

Inhalt

4. KAPITEL : DIE S ÜNDE UND DIE GEBROCHENE GEMEINSCHAFT .

69

A. Die Erbsünde . . . . . . . . . .

70

B. Die ethischen Kollektivpersonen

74

5. KAPITEL: SANCTORUM COMMUNIO

A. Grundsätzliches

77

. . . . . . . . . . . . .

77

l. Zusammenschluß des Vorangegangenen im

Kirchenbegriff Rückblick und A usblick

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77

II. Leitsätze über die Anschauung des Neuen Testaments von der Kirche . . . . .

85

B. Positive Darstellung: Hinführung zu den Grundproblemen und ihre Entfaltung . I. Die in und durch Christus gesetzte Kirche Die Realisierung . . . . . . . . . . . . . .

87 90

I!. Der heilige Geist und die Kirche]esu Christi -

Die Aktualisierung der wesentlichen Kirche

100

a) Die Geistvielheit . . . . . . . . . . b) Geistgemeinschaft . . . . . . . . . c) Die Geisteinhei t der Gemeinde - Die Kollektivperson . . . . . . .

103 106 128

III. Die empirische Gestalt der Kirche . . .

140

a) Der obj ektive Geist der Gemeinde und der heilige Geist . . . . . . . . . . . . b) Logische Verhältnis bestimmung von empirischer und wesentlicher Kirche c) Soziologische Gestalten und Funktionen der empirischen Kirche . . . . . . . .

Die gottesdienstliche Versammlung 2. Sanctorum communio als Träger des ,Amts ' . . . . . . . . . . . . . . . 3. Soziologische Bedeutung der kultischen Handlungen . . . . . . . . . . . . . . 1.

140 147 154 154 159 163

VII

Inhalt

4. Das soziologische Problem der Seelsorge

d) Autorität und Freiheit in der empirischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Kirche als selbständiger soziologischer Typus und ihre Einordnung in die soziologische Typologie . . . . . . . . Kirche und Sekte . . . . . . . . . . . . f) Der Glaube an die sanctorum communio und das , Erlebnis der Kirche'

170 172

173 185 188

IV Kirche und Eschatologie . . . . . . . .

193

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . Verzeichnis der von Bonhoeffer zitierten Literatur . Nachwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . Auswahlbibliographie zu Sanctorum Communio Bibelstellenregister Personeneregister Sachregister . . . .

200 299 306 328 330 333 337

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Zur Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffers Werken

I Zur Zeit findet wohl kein deutschsprachiger Theologe so viel Beachtung und Resonanz in der Weltchristenheit wie Dietrich Bonhoeffer. Die Verbreitung seiner Bücher macht das sichtbar. Deren Gesamtauflage hat die Zahl einer halben Million längst überstiegen. "Nachfolge" und "Widerstand und Ergebung" wurden in mehr als 16 Sprachen übersetzt, "Gemeinsames Leben" liegt in der 20. Auflage vor. Die konfessionellen Gren­ zen sind überschritten, unter Katholiken ist Bonhoeffer ebenso bekannt wie unter Protestanten; die verschiedensten Frömmig­ keitsrichtungen und kirchenpolitischen Gruppierungen finden Zugang zu ihm. Viele achten ihn als Blutzeugen des christlichen Glaubens. In weiten Teilen der Ökumene steht Bonhoeffers Name für die Gruppen und Personen, die den Kirchenkampf unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entschieden und mit höchstem Einsatz geführt haben. Der Weg vom klaren Wider­ spruch aus theologischen Gründen in die umfassende Opposi­ tion, in den Ungehorsam gegen Unrechtsmaßnahmen der Partei und des Staates, in den Kampf für die bekennende Kirche und für die gej agten Juden und schließlich in die Konspiration mit dem Ziel, Recht und Freiheit in Deutschland und in Europa wiederherzustellen, dieser Weg ist von Bonhoeffer unter man­ chen schweren B elastungen, aber schließlich unbeirrt im Glau­ bensgehorsam gegangen worden. Mit kirchlichen Widerstands­ bewegungen in den von Deutschland besetzten Ländern, be­ sonders in Skandinavien, hielt er Kontakt. Zu verschiedenen Zeitpunkten, an denen der deutsche Widerstand Friedensbedin­ gungen mit England nach einem Sturz Hitlers auszuhandeln versuchte, hat er als ein wichtiger Vermittler gedient. Er ge­ hörte zu denen, die die Absetzung beziehungsweise die Beseiti­ gung Hitlers als unabdingbare Voraussetzung für die Beendi­ gung des Zweiten Weltkrieges erkannten und vorbereiteten. Männern des Widerstandes wurde er zum Gewissensberater.

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Ihre Probleme, ihre Konflikte hat er ethisch durchdacht und theologisch verarbeitet. Dies tat er nicht aus sicherer Distanz, sondern unter Übernahme des vollen Risikos für sein Leben, für seine Familie und seine Freunde. Jeder seiner Texte zeugt dafür, daß Bonhoeffer - in aller Anfechtung - beharrlich den Weg der Nachfolge suchte ; jeder seiner Texte zeigt aber auch den nüchternen Sinn für die Wirklichkeit, mit der er zu tun hatte. Gerade diese enge Verbindung, die , Einheit von Biogra­ phie und Theologie' (Eberhard B ethge, Christian Gremmels), macht die Begegnung mit Bonhoeffer lohnend - besonders für die, die es schwer haben, als Christen unter einem Unrechts re­ gime den Weg zu finden, den ihnen der Glaube gebietet. Aber die nahezu singuläre Verbindung von Theologie und Widerstand war nach seiner Hinrichtung am Galgen in Flossen­ bürg am 9. April 1945 auch vielen ein Hindernis, die Bedeutung seines Werkes zu erkennen. Insbesondere im deutschen evange­ lischen Kirchentum ist - anders als in vielen Teilen der Öku­ mene - das Verhältnis von Glaube und Politik so umstritten und ungeklärt, daß schon Bonhoeffers Beteiligung am Wider­ stand ihn für manche verdächtig und zum kirchlichen Außen­ seiter machte. Nach 1945 hat zunächst keine kirchliche, keine akademische oder staatliche Institution die Verbreitung seines Werkes gefördert. Ohne den Freund Eberhard Bethge wären weite Teile von Bonhoeffers Werk in Vergessenheit geraten. Die zahlreichen hinterlassenen Manuskripte, Briefe und Auf­ zeichnungen wären wohl kaum veröffentlicht worden. Der Chr. Kaiser Verlag wagte es, 1949 die von Bethge redigierten unvollendeten Manuskripte zu Bonhoeffers"Ethik" herauszu­ bringen. 1951 folgte "Widerstand und Ergebung". Mit diesem Buch war der Durchbruch in die Öffentlichkeit erzielt. Wegen der unerwartet starken und vielfältigen Resonanz, wegen der zahlreichen Rückfragen nach Bonhoeffers Leben und Werk konnte Bethge jetzt darangehen, die vielen verstreuten Briefe, Aufsätze, Dokumente, Predigten und anderen Hinterlassen­ schaften in Jahrzehnten zu sammeln und von 1958 an in den "Gesammelten Schriften" beim Chr. Kaiser Verlag herauszu­ bringen. Der erste Band präsentierte Bonhoeffers Wirken in der Ökumene und brachte damit zum Ausdruck, wie sehr es Bon­ hoeffer am Herzen gelegen hat, daß die Christenheit aus ihrer

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Zersplitterung zur Einheit der Kirche Jesu Christi finde . Drei weitere nach thematischen und biographischen Gesichtspunk­ ten zusammengestellte Bände und schließlich zwei Ergänzungs­ bände folgten. Natürlich konnte die Anordnung der sechs Bände nur provisorisch sein; sie konnte eine strenge Chronolo­ gie schon deshalb nicht einhalten, weil ständig neue Materialien aufgetaucht waren. J0rgen Glenth0j gab ergänzend den B and "Dokumente zur Bonhoeffer-Forschung 1928-1945" bei Chr. Kaiser 1969 heraus. Aber auch das bedeutete keinen Abschluß. Noch 1985 wurden unter anderem in der Schroederbank in London Bonhoeffer-Briefe gefunden. Der Nachlaß von Julius Rieger, dem Pfarrerkollegen Bonhoeffers in London, wird erst jetzt zugänglich. Aus Ungarn sind kürzlich Nachschriften aus Bonhoeffers Kollegs in den Jahren 1932/33, darunter die ein­ zige aus Bonhoeffers Hegel-Seminar, zur Verfügung gestellt worden. Die Briefe Bonhoeffers an seine Braut Maria von Wedemeyer sind freilich einstweilen der Forschung und der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich. Alles in allem zeigt sich, daß eine Ges'amtausgabe der Werke Dietrich Bonhoeffers im strengen Sinne auch j etzt noch nicht möglich ist. Dennoch erschien es 1981 dem Internationalen Bonhoeffer Komitee Sektion Bundesrepublik Deutschland in Absprache mit dem Bonhoeffer Komitee beim Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik geboten, eine wissenschaftliche Neuausgabe zu erarbeiten. Wichtiges bisher unveröffentlichtes Material geht in sie ein. Aber es wird darauf verzichtet, alle von Bonhoeffer erhaltenen Aufzeichnun­ gen wiederzugeben. Da der Gesamtnachlaß im Bundesarchiv in Koblenz auf Mikro-Fiches archiviert und ein Nachlaßverzeich­ nis hergestellt wird, ist künftig das ganze Material, mit Aus­ nahme der Briefe an Bonhoeffers Braut, für die Forschung unter Archivbedingungen zugänglich . Die Werkausgabe braucht daher Texte, die für nur wenige Leser von Interesse sein werden, nicht abzudrucken, wenn auch auf sie an ihrem chronologischen und sachlichen Ort hingewiesen wird. Das gilt zum Beispiel für bloße Stoffsammlungen, die sich der Student Bonhoeffer aus Kompendien zusammengestellt hat. Die Ausgabe der Werke jetzt in Angriff zu nehmen, ist dringlich, weil der Kreis der lebenden Zeitgenossen, Bekann-

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ten, Verwandten und Freunde Dietrich Bonhoeffers von Jahr zu Jahr kleiner wird. Möglichst viele Auskünfte aus diesem Kreis sollen in der kommentierten Werkausgabe verarbeitet werden. Diese Ausgabe soll Bonhoeffers Werke in textkritisch überprüfter Form mit knappen Sachkommentierungen nach heutigem Kenntnisstand darbieten. Eine möglichst weitgehende formale Übereinstimmung in der Bearbeitung aller Bände wird angestrebt. Es sind insgesamt 16 Bände mit rund 8000 Seiten vorgesehen . Als Band 1 bis 8 werden die von Bonhoeffer selbst publizierten und die drei von Eberhard Bethge posthum zusammengestell­ ten Bücher vorgelegt. Da zwei der letzteren eine bedeutende eigene Wirkungsgeschichte haben, wäre es ungut gewesen, in ihnen enthaltene Texte in die , biographischen' Bände 9 bis 16 einzuordnen, was unter formalen Gesichtspunkten durchaus denkbar gewesen wäre, so zum Beispiel den Inhalt von" Wider­ stand und Ergebung" in den Band 16 "Konspiration und Haft 1939-1945". Die Bände 9 bis 16, die chronologisch acht Zeitabschnitte berücksichtigen, werden in sich drei im ganzen übereinstim­ mende, im einzelnen aber leicht variierende Teile enthalten: einen ersten mit Briefen, Tagebüchern, Dokumenten, einen zweiten mit Ausarbeitungen, Aufsätzen, Gutachten, einen drit­ ten mit Predigten, Meditationen, geistlichen Texten. Innerhalb dieser drei Sachgruppen wird streng chronologisch verfahren. Bei einer solchen Gliederung, die literarische Genera und chro­ nologisches Schema kombiniert, wird für den Leser wie für den Forscher die größtmögliche Übersichtlichkeit erreicht. Einer­ seits bleibt zum Beispiel die Beziehung zwischen den einzelnen Briefen erhalten, andererseits kann der Leser schnell erkennen, was Bonhoeffer zur gleichen Zeit in Tagebuchnotizen, Konfe­ renzvorbereitungen und Predigten beschäftigt hat. Die textkritischen Probleme sind für die einzelnen Bände höchst unterschiedlicher Natur. Darüber geben die Vorworte der Einzelbände Auskunft. Bei der Kommentierung streben die Bandherausgeber möglichst weitgehende Zurückhaltung in der theologischen und historischen Interpretation an. D em Leser soll erspart werden, sich gegen eine bevormundende Auslegung im Sinne theologischer oder kirchlicher Richtungen oder sub-

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jektiver Herausgeberurteile wehren zu müssen. Doch neben den unentbehrlichen Sachinformationen werden Verweise auf vermutlich zugrundeliegende theologische, philosophische oder sonstige Texte und auch auf vergleichbare Äußerungen Bonhoeffers an anderer Stelle aufgenommen . Sie sollten nicht aus puristischem Obj ektivismus dem Leser vorenthalten wer­ den, zumal sie j ederzeit überprüfbar sind. Dabei ist nicht vergessen worden, daß schon die Auswahl dessen, was man mit einer Anmerkung versieht, was man also für erklärungs- oder verweisbedürftig hält, vom persönlichen Urteil des Herausge­ bers - und derer, mit denen er sich berät - abhängt. Allzugroße Zurückhaltung macht freilich die Anmerkungen langweilig, so daß j eder Herausgeber den rechten Ausgleich zwischen Objek­ tivität und Deutlichkeit seiner Kommentierung finden muß. Um dem Leser einen zuverlässigen Einblick in die Verfah­ rensweise des Bandherausgebers zu geben, legt dieser im Nach­ wort Überlegungen zu seiner Bearbeitung und Interpretation des Textes vor. Hier kann er einen größeren Spielraum für persönliche Auffassungen beanspruchen. Das editorische Vor­ wort hingegen zielt auf rpöglichst straffe Information über die Entstehungsgeschichte des Textes und die Regeln für die Erar­ beitung der vorgelegten Textgestalt. Die Herausgeber sahen sich verpflichtet, nicht nur an den Leser zu denken, der mit deutschem Kirchenturn, deutscher Theologie und Geschichte vertraut ist. Macht man mit der Erkenntnis Ernst, daß Bonhoeffer heute der Weltchristenheit gehört, so müssen die kommentierenden Anmerkungen auch Informationen bringen, die dem Leser in Lateinamerika oder Japan wichtig, im deutschen Sprachraum aber überflüssig sein könnten. Freilich kann das für die akademisch-wissenschaftli­ chen Bücher Bonhoeffers, nämlich Band 1 und 2, nur in einge­ schränktem Maße praktiziert werden, da sonst die Zahl der Anmerkungen ins Unabsehbare ansteigen würde. Im übrigen aber sollen die Bände dem interessierten Gemeindeglied wie dem Studenten, dem Teilnehmer an der Erwachsenenbildung wie dem Widerstandsforscher, dem Sucher nach religiöser Wahrheit wie dem geschichtlich Interessierten möglichst zu­ gänglich sein und Bonhoeffer endlich auch verstärkten Eingang in die reguläre Theologenausbildung verschaffen.

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Zur Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffers Werken

All denen, die durch ihre Mitarbeit den Start der "Dietrich Bonhoeffer Werke" ermöglicht haben, sagen die Herausgeber ihren herzlichen Dank. Das kann an diesem Ort leider nicht namentlich geschehen. Die Liste der zu Nennenden würde zu lang. Wir wollen allerdings nicht unerwähnt lassen, daß ohne eine großzügige Stiftung von Herrn Heinrich Ludewig das Erscheinen der beiden ersten Bände zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen wäre und daß ohne erhebliche Druckkosten­ zuschüsse der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und der Evangelischen Kirche der Union die Bände wesentlich teurer angeboten werden müßten. Der Chr. Kaiser Verlag setzt seine Tradition, Dietrich Bonhoeffers Werke herauszubringen, mit dem Wagnis dieser neuen Werkausgabe fort. 11

Dem Urteil des Lesers über das Werk, die Theologie und die Bedeutung Dietrich Bonhoeffers vorzugreifen, kann nicht die Aufgabe der Herausgeber sein. Jedoch wird mancher fragen, warum dieser Kreis. eine etwa zehn Jahre lange mühevolle Arbeit auf sich genommen hat, um dieses Werk neu herauszu­ geben. Der anfangs genannte Hinweis auf Bonhoeffers Aktuali­ tät für die Weltchristenheit deutet schon in die Richtung einer Antwort. Dies wird vielleicht dem nicht genügen, der fragt, welche theologische Zukunftsbedeutung die Bearbeiter selbst dem Werk Bonhoeffers beimessen. Da in einem Herausgeber­ kreis auch bei grundsätzlicher Übereinstimmung verschiedene Sichtweisen zusammenkommen, will ich für mich persönlich Auskunft geben. Die Rezeption der Theologie Bonhoeffers scheint mir trotz vieler zum Teil hochqualifizierter Untersuchungen erst in den Anfängen zu stehen. Einer der Hauptgründe dafür liegt in dem fragmentarischen Charakter des Nachlasses dieses Mannes, der die letzten zwölf Jahre seines Lebens durch Kirchenkampf, Opposition und konspirativen Widerstand gegen den National­ sozialismus in Atem gehalten wurde und schon als neunund­ dreißigjähriger sein Leben verlor. Die"Ethik", die sein Lebens­ werk werden sollte, liegt nur in Fragmenten vor. Die "Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft", in denen sich die Umrisse

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eines überraschend neuartigen Entwurfes der Theologie ab­ zeichneten, waren erste Versuche der Selbstverständigung, vor allem im brieflichen Gespräch mit dem Freunde Eberhard Bethge. Sie waren keineswegs in dieser Form für die Veröffent­ lichung bestimmt. So muß der Interpret selbständig weiterden­ ken und Verbindungen herstellen, die der Autor, hätte er selbst nach 1 945 publizieren können, vermutlich aufgezeigt hätte. Dieses Weiterdenken ist überaus reizvoll, aber auch schwer, soll es in verantwortlicher Weise geschehen. Man muß das ganze Werk Bonhoeffers dabei vor Augen haben, insbesondere die Dynamik seines theologischen Lebensweges . Karl Barth, dieser große Calvinist, zu dem Dietrich Bon­ hoeffer als bewußter Lutheraner - bei allen Differenzen im einzelnen - unbeirrt stand, als Barth im Kirchenkampf isoliert wurde, bezeichnet in der Kirchlichen Dogmatik IV12 1 955 Bonhoeffers Buch "Nachfolge" als "mit Abstand das Beste, was dazu geschrieben ist", und erklärt, daß er wohl versucht sein könnte, große Abschnitte dieses Buches"einfach als großes Zitat einzurücken, weil ich wirklich nicht der Meinung bin, etwas Besseres dazu sagen zu können, als da gesagt ist". Bon­ hoeffer selbst betrachtete 1 944 dieses Buch als nur eine Station auf seinem theologischen Weg. Neue theologische Erkenntnisse kamen hinzu und drängten ihn zu einem umfassenderen Neu­ entwurf der Theologie, in den die Gedanken der"Nachfolge" aufgehoben wurden . In welchen Hinsichten wir inhaltlich Wichtiges, Unentbehr­ liches von Bonhoeffers Theologie zu erwarten haben, macht man sich am besten durch einen Vergleich klar. Ich wähle dazu die vier Systematischen Theologen, welche in dem von Carl Heinz Ratschow ab 1 9 8 1 herausgegebenen "Handbuch Syste­ matischer Theologie" zu den Klassikern unseres Jahrhunderts erhoben worden sind : Karl Barth, Paul Tillich, Werner EIert und Paul Althaus. Ihnen allen war vergönnt, in einer reichlich bemessenen Lebenszeit große Darstellungen ihrer Theologie vorzulegen. EIert und Althaus gelten bis heute als die maßge­ benden Repräsentanten der Theologie des deutschen Luther­ tums im 20. Jahrhundert. Aber für das christlich-jüdische Ge­ spräch, das nach dem Holocaust zu einer Notwendigkeit für uns Christen geworden ist, lassen sie uns ganz im Stich. Das

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Thema ,Judenfrage', zu dem sie sich freilich in den Jahren um 1 933 ausgiebig und verhängnisvoll geäußert haben, kommt nach 1 945 bei ihnen nicht mehr vor. Bonhoeffer hingegen hat nicht nur im April 1 93 3 seine berühmte Stellungnahme "Die Kirche vor der Judenfrage" verfaßt, sondern konfrontierte in Lehrveranstaltungen, vor allem im Predigerseminar Finken­ walde, seine Kandidaten und Hörer beständig mit den biblisch­ theologischen Grundfragen dieses Problems. Das Thema war für ihn theologisch dringlich, und zugleich hat er sich, auf die Dauer unter großer eigener Gefahr, unablässig um praktische Hilfe für Juden ohne Rücksicht auf ihre religiöse Zugehörigkeit bemüht. Er las das Alte Testament ganz anders als EIert und Althaus. Seine theologischen Überlegungen berühren sich stark mit Barths späterer Israeltheologie. Die Haftaufzeichnungen zum Problem der Mündigkeit der Welt und einer kommenden Religionslosigkeit gerieten in den sechziger J ahren in den Sog der Emanzipations- und Säkulari­ sierungswelle. Einseitig naiv rezipiert, vermittelten sie ein ver­ zerrtes Bild von dem Theologen Bonhoeffer. Dadurch wurde verdeckt, wie sehr eine tief durchdachte und zugleich lebensbe­ zogene Christologie und Ekklesiologie das Zentrum von Bon­ hoeffers Werk ist. Was allerdings der Theologie Bonhoeffers ihre einzigartige Spannung gibt, das ist die Dichte, mit der er Wirklichkeitserfahrung und christologisch-ekklesiologische Erkenntnis z�sammenbringt. Wenn er in den Briefen aus der Haft, sich selbstkritisch einbeziehend, der Bekennenden Kirche und Karl Barth den Vorwurf eines "Offenbarungspositivis­ mus" machte, so war das nur die Kehrseite dieser Leidenschaft, Theologie nicht von der menschlichen Erfahrungswirklichkeit abzusondern, sie nicht in einen Ideenhimmel oder ein abstrak­ tes Gedankensystem zu verwandeln, sondern sie vom Eindrin­ gen des Reiches Gottes in die Lebenszusammenhänge dieser Welt sprechen zu lassen. Für seine "Ethik" schrieb er : ·"Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirk­ lichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus. Die christliche Ethik fragt nun nach dem Wirklichwerden dieser

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Gottes- und Weltwirklichkeit, die in Christus gegeben ist, in unserer Welt. " Es ist hier nicht darzustellen, wie auch Barth in seiner späten Theologie weit über seine theologischen Schriften der dreißiger Jahre hinaus die Konfrontation von Offenba­ rungswirklichkeit und Weltwirklichkeit - zum Beispiel in poli­ ticis, etwa in der Frage atomarer Bewaffnung - herbeigeführt hat. Angesichts der reifen Gestalt von Barths Theologie erledigt sich zwar Bonhoeffers früher Vorwurf des Offenbarungspositi­ vismus. Dennoch bleiben charakteristische Unterschiede. Bei Bonhoeffer war diese grundsätzliche Ausrichtung, dieses lei­ denschaftliche Sich-Bewegen des Christusglaubens auf die Weltwirklichkeit hin, schon ganz früh wirksam. Aber in voller Klarheit wurde es erst in seinen letzten Lebensj ahren in der bedrängten Situation des am Widerstand Beteiligten expliziert, so zum Beispiel unter den Stichworten der Diesseitigkeit des Glaubens und der weltlichen Interpretation der biblischen Bot­ schaft. Das Wirklichkeitsverständnis von EIert und Althaus war, wenn man von der Theologischen Ethik des Politischen redet, gegen große Errungenschaften der Neuzeit gerichtet. Verfas­ sungsstaat, Menschenrechte, Demokratie, Emanzipation zur rechtlichen Gleichheit aller Bürger galten ihnen als , westliche' Verirrungen und wurden auch nach 1945 nur mühsam von ihnen rezipiert. Insofern repr?sentieren sie in hohem Maße das deutsche Neuluthertum vor der Mitte des zwanzigsten Jahr­ hunderts. Bonhoeffer erkannte die Gefahr dieser anti-neuzeitli­ chen Bindungen neulutherischer Theologie und bemühte sich gerade als lutherischer Theologe - um den Durchbruch der theologischen Ethik zu einem Wirklichkeits- und Politikver­ ständnis, welches das faktisch vollzogene Mündigwerden der Welt, also eben die Neuzeit, begriff und verarbeitete. Mündig­ keit hieß für ihn, daß die Welt die Gesetze, nach denen sie sich bewegt und mit deren Hilfe sie das Leben verantwortlich zu gestalten hat, zu durchschauen lernt, daß sie also die Möglich­ keit der Selbststeuerung anstelle des schicksalhaft Getrieben­ werdens ins Auge faßt. Daß ein solcher Schritt tiefgreifende Folgen für das theologische - und das heißt Bibel und Tradition neu auslegende - Gottesverständnis hat, brachte Bonhoeffer sofort zur Sprache. Nunmehr muß von Gottes Vorsehung und

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Zur Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffers Werken

Weltregiment anders geredet werden als unter vorneuzeitlichen Bedingungen. Bonhoeffers Sprechen von der gewollten Ohn­ macht Gottes in der Welt, seine Aufforderung an uns Christen, in der Fülle der Diesseitigkeit zu leben und darin die Leiden Gottes an seiner Welt mitzuleiden, machen das deutlich. Er drang damit tiefer in die Probleme der Säkularisierung ein als Friedrich Gogarten, der zwei Jahre nach der Veröffentlichung dieser Gedanken Bonhoeffers mit dem Buch"Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit - Die Säkularisierung als theologisches Problem" 1 953 gar nicht in den Blick bekam, wie sehr das Gottesverständnis und die Christologie durch das Mündigwer­ den der Welt - in all seiner gefährlichen Ambivalenz - betroffen wird. Die Leidenschaft, mit der Bonhoeffer davon zu sprechen suchte, wie Gottes Wirklichkeit in ihrer Offenbarung durch Christus in die Weltwirklichkeit eindringt, trieb ihn an, die Weltwirklichkeit möglichst adäquat zu erfassen und in ihr verantwortlich zu handeln. Ich kenne keinen am konspirativen Widerstand gegen das nationalsozialistische Gewaltregime Be­ teiligten, der so engagiert und betroffen, so präzise und so schonungslos - auch gegen sich selbst - die Gewissenskonflikte, die menschlichen und die ethischen Probleme des Standhaltens gegen Hitler durchreflektiert hat wie Dietrich Bonhoeffer. Die "Rechenschaft an der Wende zum Jahre 1 943" mit der Über­ schrift "Nach zehn Jahren" läßt das j eden heutigen Leser erkennen, obwohl in diesem Text, der damaligen Umstände wegen, viele der Sachverhalte chiffriert sind. Das zugleich schmerzhafte - die Frage eigener Schuld aufwerfende - und befreiende Bedenken des eigenen verantwortlichen HandelI).s gewinnt in Bonhoeffers Theologie eine Bedeutung wie wohl bei kaum einem anderen europäischen Theologen. Hier zeigt sich eine überraschende Nähe zu einigen Tendenzen in den Befrei­ ungstheologien und in der Minjung-Theologie Asiens, die eine dem Schicksal der Niedrigen im Volk nahe Theologie sein will. BonhoeHer gingen im Gefängnis die Augen dafür auf, was es bedeutet, aus der Sicht , von unten' den Glauben zu denken und in ihm zu leben. Von daher wurde ihm klar, daß auch das Verhältnis von theologischen Gedanken und christlichem Tun künftig anders bestimmt werden muß . Seine Generation,

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meinte Bonhoeffer, habe "zu stark in Gedanken gelebt", habe zu sehr durch Bedenken im voraus das eigene Tun absichern wollen. In einer künftigen Generation werde das Denken nicht mehr"der Luxus des Zuschauers" sein dürfen ; vielmehr werde das Denken der Verantwortungs bereitschaft dienen müssen, die dem nötig werdenden Wagnis nicht ausweicht. Gerade das hielt er für biblisch zentral angesichts der Evangelienworte, die dazu mahnen, den Willen Gottes zu tun, um so innezuwerden, daß Leben in der Nachfolge Christi Leben aus Gott ist (Matthäus 7,2 1 ; J ohannes 7, 1 7) . Gewiß ist die Situation, in der Bonhoeffer lebte und dachte, nicht in unsere Gegenwart übertragbar. Daß aber Theologie sich immer wieder auf ihren Ursprung nicht in Gedanken, sondern im Tun des Beters und des verantwortlich Handelnden besinnen und daraus Konsequenzen ziehen soll und darf, das hat Dietrich Bonhoeffer uns in ungewöhnlicher Luzidität vorgelebt und vorgedacht. Es wäre auch noch davon zu reden, wie tiefgreifend Bon­ hoeffer die Lehre von der Kirche und ihre Gestalt in Bewegung bringt. Aber das führt über die hier nur möglichen kurzen Hinweise hinaus. Sie sollten zeigen, daß wir ein volleres Ver­ ständnis und ein tieferes Wirken von Bonhoeffers Theologie nicht hinter uns, sondern größtenteils noch vor uns haben. Darum scheint mir die Neuausgabe der Wer�e nötig. III Eine große Vielfalt erwartet den Leser in Bonhoeffers Werken. Bonhoeffer fesselt nicht nur in seinen theologisch-programma­ tischen Schriften, sondern auch in den anderen Genera seiner Mitteilungen und Äußerungen. Die Entwürfe für Ansprachen im Kindergottesdienst zum Beispiel, die den Ausbildungsj ahren entstammen, überraschen durch die unverwüstliche Frische ihrer religiösen Gedanken. In den B riefen zeigt sich schon früh eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich dem Partner mitzuteilen und ohne Angst rückhaltlose Anfragen an ihn wie an die eigene Person auszutauschen. Die Bereitschaft, für sich und den Adressaten die vollen Konsequenzen auf sich zu nehmen, kün­ digt sich an. So führen die Briefe wie auch die Tagebücher

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direkt in die Ereignisse und Stimmungen, die Gedanken und die Hoffnungen der Jahre zwischen 1918 und 1945 ein. Zahlreich sind die Schriften und Ausarbeitungen zu besonderen Anlässen, insbesondere in der ökumenischen Arbeit, dem Kirchenkampf, der Theologenausbildung und - hier freilich in verschlüsselter Form - zur Existenz im Widerstand. Sie bringen theologische Grundsatzüberlegungen in unmittelbaren Kontakt mit den be­ teiligten Personen und den aktuellen Entscheidungen. Die Rede- und Argumentationsweise Bonhoeffers ist deut­ lich der damaligen Zeit zuzuordnen. Manches klingt für den heutigen Leser zu autoritativ, zu apodiktisch. Aber auch junge Menschen empfinden, wenn sie sich mit Bonhoeffers Schriften befassen, daß sich in ihnen ein Mensch authentisch äußert. Bei Bonhoeffer behalten selbst Gelegenheitsschriften, die doch in der Regel schnell veralten, eine erstaunliche Brisanz. Das gilt für die Stellungnahme vom April 1933 zur "Judenfrage", von der Klaus Scholder geschrieben hat : "Hier wurde mit unver­ gleichlicher Präzision die theologische Problematik staatlichen Handelns auf einen Begriff gebracht, der auch unter den verän­ derten Bedingungen der Gegenwart noch immer Gültigkeit besitzt." Es gilt ebensosehr für den im August 1934 vorgetrage­ nen Aufruf zu einem ökumenischen Friedenskonzil der Kirche Jesu Christi, der im Sommer 1985 von Carl Friedrich von Weizsäcker erneuert worden ist. Die geistlichen Texte, besonders Predigten und Meditatio­ nen, verweisen am dringlichsten auf das Zentrum eines Lebens in der Gemeinschaft mit Jesus Christus. Von ihnen geht Forde­ rung und Trost, Wegweisung und Ermutigung aus und etwas, was man vielleicht mit dem Wort Erleuchtung charakterisieren darf. Hier wird die Sprache, je mehr Bonhoeffer sich von seiner akademischen Jugendzeit entfernt, immer freier von theologi­ schen und kirchlichen Sprachkonventionen, entwickelt in sich selbst aber eine hohe Disziplin. So zupackend sie wirkt, so sicher weiß sie falsche Töne zu vermeiden und den nachdenkli­ chen Leser zu gewinnen. Die Neuausgabe ergreift die Chance, durch übersichtliche Zusammenstellung zeitlich zusammengehöriger Texte den Le­ ser vor die "Polyphonie" der Lebensäußerungen Bonhoeffers zu stellen. Dieses Wort benutzte Bonhoeffer gern in den Brie-

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fen aus der Haft. Er sah sich durch den Glauben ermächtigt, "mehrdimensional-polyphon" zu denken und zu leben. Heidelberg, im Advent 1985

Heinz Eduard Tödt für den Herausgeberkreis

Vorwort des H eraus g ebers

I Die Anfänge sind denkbar profan . Nach einer telephonischen Verabredung vereinbarte Dietrich Bonhoeffer mit dem Berliner Dogmengeschichtler Reinhold Seeberg auf einem Begleitgang zum Bahnhof Mitte September 1 925 um sieben Uhr morgens sein Dissertationsthema : " Es bezieht sich auf das Thema über

die religiöse Gemeinschaft, von dem ich Euch ja mal abends irgendwann erzählte, daß es mich interessieren würde. " 1 Die Briefe Bonhoeffers lassen erkennen, daß der Entschluß zur Promotion wahrscheinlich im Sommersemester 1 925 fiel. Der selbstverständliche Ton, mit dem in den Briefen der Eltern mit dem Sohn im Sommer 1 925 erwogen wird, ob eine "künftige Arbeit" 2 bei Adolf von Harnack, Kar! Holl oder Reinhold Seeberg ratsam wäre, macht deutlich, daß sich die akademi­ schen Ambitionen Dietrich Bonhoeffers bruchlos in die fami­ liären Gepflogenheiten einfügten. Das Thema der theologi­ schen Doktorarbeit wird aus den Nachwirkungen des Romauf­ enthaltes3 herausgewachsen, an der Berliner Fakultät gereift und durch die Unruhe des theologischen Umbruchs forciert worden sein. In aufbruchshafter Stimmung kündigte Bonhoef­ fer seinen Eltern mit demselben Brief, mit dem er seinen definitiven Entschluß , bei Seeberg zu promovieren, mitteilte, den Beginn an der Arbeit an und bat um Geld für die ersten nun benötigten Bücher. Von - wie Bonhoeffer in einem überaus selbstkritischen Rückblick feststellte - "wahnsinnige(m) Ehr­ geiz ,,4 getrieben, reichte er seine Dissertation im Juli 1 927 der Fakultät ein. Daneben hatte Bonhoeffer sein Studium zu Ende geführt und in derselben Zeit, in der er an der Dissertation arbeitete, sieben Seminararbeiten und neun katechetische und 1

DBW 9, 1 56. DBW 9, 1 54. 3 V gl. DBW 9, 1 1 4 f. ; vgl. auch DB 8 3 ff. 4 DBW 1 4, 1 1 2 . 2

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homiletische Entwürfe angefertigt. "Die hochwürdige Theolo­ gische Fakultät der Friedrich-Wilhelm Universität Berlin bitte ich unter Beifügung der A rbeit ,Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung ' um Zulassung zur Promotion. "5 Das Exemplar, das Bonhoeffer der Fakultät einreichte, trägt den Vermerk des damaligen Dekans, Prof. Arthur Titius, vom 8. 7. 1 92 7 und eine Notiz des Doktorvaters Reinhold Seeberg, aus der hervorgeht, daß er die Arbeit am 1 8 . 7 . 1 927 nebst einer Beurteilung zurückgereicht hat. In seinem Gutachten gab Reinhold Seeberg folgendes Urteil über die Dissertation Dietrich Bonhoeffers ab : "Der Verfasser ist nicht nur auf theologischem Gebiet gut orientiert, sondern hat sich auch mit Verständnis in die Soziologie eingearbeitet. Er verfügt entschieden über eine starke systematische Begabung, wie die Dialektik im Aufbau seiner Arbeit im ganzen wie im einzelnen zeigt. Er bemüht sich seine Wege selbständig zu finden. Er ist immer bereit zu geschickter Auseinandersetzung mit anderen Meinungen. Auch wenn man seine Urteile nicht immer zu teilen vermag, wird man doch das wissenschaftliche Interesse und die Energie der Beweisführung gern anerkennen. Charakteristisch für die Stellung des Verfassers ist seine starke Betonung des christlich ethischen Elementes, das ihm immer als Ausgangspunkt dient und von dem aus e� gegen die Weltan­ schauung des , Idealismus' vielfach ankämpft. Die starke Skepsis erinnert an Heim, hier und da finden sich auch Berührungen mit Barth, wie schon die Terminologie (an-rufen, ant-worten) zeigt. Aber diese Einwirkungen werden von anderen durch­ kreuzt und sind nicht maßgebend für die Gedankenbildung des Verfassers . Die Darstellung ist im ganzen recht geschickt, wenn auch die bisweilen allzu strenge Systematik Wiederholungen mit sich führt. Die dialektischen Beweise des Autors sind nicht immer überzeugend . So etwa der wunderliche Beweis, daß ein Ich nur auf dem Umweg über Gott zur Erkenntnis eines Du kommen könne. Ebenso möchte ich nicht alles unterschreiben, was der Verfasser über die Struktur der empirischen Kirche dialektisch deduziert, z. B . ob der Typus , Gesellschaft' wirklich eine notwendige Ergänzung zu dem , Gemeinschafts'typus in 5

DBW 9 , 1 73: Auszug aus der Promotionsakte.

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der Kirche bildet. Im übrigen werden gerade in diesem Zusam­ menhang vortreffliche Beobachtungen ausgesprochen. Den hi­ storischen , Exkurs' S. 1 1 2 ff. 6 hätte der Verfasser sich schenken können, da er nichts Neues bringt. Ebenso sind die kritischen Bemerkungen über die kirchliche Praxis oder die Hoffnungs­ freudigkeit bezüglich des Proletariats sowie die Geringschät­ zung des Bürgerlichen überflüssig, da sie nicht aus den Prinzi­ pien der Arbeit herstammen, sondern nur subjektive Wertur­ teile bringen. Endlich kann man auch der Kritik nicht immer beistimmen, die der Autor an anderen Ansichten übt (z. B . Troeltsch!) . Indessen das alles sind Mängel, wie sie j eder Jugendarbeit anhaften . Sie sind schließlich nur Kehrseiten der großen Vor­ züge der Arbeit, der Begeisterung für das Christentum, der straffen Systematik in dem Aufbau der ganzen Studie, der inneren Hingabe an seine Aufgabe, der erfreulichen Selbstän­ digkeit seiner Auffassung und des kritischen Vermögens sie wider andere Auffassungen zu vertreten. Im Ganzen kann die Arbeit als ein sehr erfreuliches Specimen erster wissenschaftli­ cher Erudition bezeichnet werden. Ich beantrage daher, daß die hochwürdige Fakultät sie als Lizentiatenarbeit annimmt und schlage zu ihrer Beurteilung die Note 1-11 vor. ,,7 Nach der Rigorosumsprüfung und der öffentlichen Verteidi­ gung seiner Promotionsthesen in der Alten Aula der Universi­ tät, bei der Robert Stupperich, Walter Dreß und Helmut Roeß­ ler opponierten, erwarb Dietrich Bonhoeffer am 1 7. 1 2 . 1 92 7 den Grad eines Lizentiaten der Theologie mit dem a n der Berliner Theologischen Fakultät äußerst selten erteilten Urteil summa cum laude . 8 Bonhoeffer hat in seinem Vikariatsj ahr 1 928 in Barcelona seine Lizentiatenarbeit für den Druck überarbeitet. " Was nun

meine eigentliche theologische A rbeit angeht, so bin ich . . . am Streichen und Kürzen meiner Arbeit, die ich Ihnen dann, wie 6 In der vorliegenden Ausgabe S. 236 H. Anm. 1 07.

1 Archiv der Humboldt-Universität Berlin. Bestand : Theologische Fakultät, Nr. 1 1 6, BI. 42 e. R.-f. R. Vollständig abgedr. in: DBW 9, 1 74- 1 76. s DBW 9, 1 8 1 - 1 83: Auszug aus der Promotionsakte.

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Vorwort des Herausgebers

verabredet, Anfang November gerne schicken mächte ", schrieb Dietrich Bonhoeffer aus B arcelona an Reinhold Seeberg9 und teilte ihm Mitte Oktober 1 928 mit, daß er mit seiner Umarbei­ tung fast fertig sei10• In der umgehenden Antwort unterrichtete Seeberg Bonhoeffer, daß er sich mit der Drucklegung seiner Arbeit wahrscheinlich zu gedulden habe, da der Verlag auf­ grund seines Besitzerwechsels "entsetzlich langsam" arbeite. 1 1 , Sanctorum Communio' sollte in den , Neuen Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche' erscheinen, einer Reihe im Verlag Trowitzsch & Sohn, in der Reinhold Seeberg vor allem dogmengeschichtliche Arbeiten herausgab . Nachdem für die Drucklegung Beihilfen des Ministeriums für Wissen­ schaft, Kunst und Volksbildung, der Notgemeinschaft für die deutsche Wissenschaft und der Reinhold Seeberg-Stiftung ge­ währt werden konnten12, lag das Manuskript der Arbeit Ende März 1 93 0 beim Verlag1 3• Am 2. September 1 93 0 überreichte der Verlag Bonhoeffer die ersten gedruckten Exemplare seiner Arbeit. Aufgrund der vom Verlag erwarteten schweren Ver­ käuflichkeit betrug der Ladenpreis des Buches 1 8 Reichsmark. 1 4 Für die von Bonhoeffer zugesagte Summe von 9 0 0 Mark stellte ihm der Verlag 66 Exemplare zur Verfügung, für nachträgliche redaktionelle Veränderungen wurden zusätzliche 99 Arbeits­ stunden im Verlag nötig, die mit weiteren 297 Mark zu Buche schlugen. In seinem Antwortschreiben teilte Bonhoeffer dem Verlag eine Liste mit Adressen mit, "an die ich bitte, Exemplare

zu versenden . Den Rest bitte ich mir ins Haus zur weiteren Versendung zu schicken. Die finanzielle Regelung übernimmt meine Mutter, Frau Geheimrat Bonhoeffer, meine Adresse. See berg-Stiftung und das Ministeriu m werden vermutlich von sich aus direkt überweisen . ,,15 9 10

DBW 1 0, 84. DBW 1 0, 1 02. 11 DBW 1 0, 1 06. 12 Vgl. DB 1 65 und das Vorwort Bonhoeffers zu "Sanctorum Commu­ nio" , in der vorliegenden Ausgabe S. 1 3 . 13 N L A 2 7, 5 : Brief des Verlags Trowitzsch an Dietrich Bonhoeffer vom 2 8 . 3 . 1 930. 1 4 Ebd. : Brief des Verlags Trowitzsch an Dietrich Bonhoeffer vom 2 . 9 . 1 93 0. 1 5 DBW 10, 196: Brief Bonhoeffers an den Trowitzsch-Verlag vom 4. 9. 193 0 .

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Das Echo auf Bonhoeffers erste theologische Veröffentli­ chung war überaus spärlich, das verzögerte Erscheinen mag dazu beigetragen haben. Die"Theologische Literaturzeitung", die "Reformierte Kirchenzeitung" und das "Protestantenblatt" brachten Besprechungen. Ernst Wolf erwähnte das Buch am Rande eines 1 93 3 in "Zwischen den Zeiten" erschienenen Auf­ satzes. 16 Bonhoeffer selbst reiste noch Ende des Jahres 1 93 0 zu einem Studienaufenthalt nach Amerika ab . Der Verlag, der um die noch ausstehende Bezahlung der Druckkosten besorgt war, schrieb an den Vater:"Andererseits mußten wir es als kränkend empfinden, daß Ihr Herr Sohn, auf dessen besonderen Wunsch wir die Drucklegung mit größter Beschleunigung zu Ende geführt hatten, sich nach Fertigstellung des Buches nicht mehr um dessen weiteres Schicksal kümmerte. " 17 Tatsächlich hat Bonhoeffer für sein Buch nicht gerade ge­ worben. Der Verbleib der übernommenen Exemplare ist unge­ klärt, ein Handexemplar, in das sich Bonhoeffer Notizen ge­ macht hätte, findet sich nicht in seiner Bibliothek, seinen Freunden gegenüber erwähnte er seine erste Veröffentlichung nicht. 18 Die Denkform von , Sanctorum Communio' hat sich auf die Weiterentwicklung und den Lebensweg von Dietrich Bonhoeffer nachhaltig ausgewirkt. Hierin dürfte auch einer der Gründe dafür liegen, daß Ernst Wolf im Jahr 1 954 das Buch als Band 3 der Reihe ,Theologische Bücherei. Neudrucke und Berichte aus dem 20. Jahrhundert' beim Chr. Kaiser Verlag München wiederveröffentlichte . 19 Ernst Wolf schrieb damals in seinem Vorwort : "Und doch ist die Dissertation innerhalb der verhältnismäßig geringen Zahl neuerer Monographien zur Lehre von der Kirche wohl die scharfsinnigste und vielleicht tiefsinnigste Behandlung der Frage nach der wesenhaften Struk­ tur der Kirche, danach, ob und wie die empirische und die 16 Vgl. ThLZ 56 ( 1 9 3 1 ) , 590 f. ; RKZ 81 ( 1 93 1 ), Literaturbeilage März, 4 ; PrLB 6 4 ( 1 9 3 1 ) , 7 1 7 ff. ; und E . Wolf, Der Mensch und die Kirche i m katholi­ schen Denken, in : ZZ 1 1 ( 1 933), 55 f. 17 NL A 2 7, 5 : Brief des Verlags Trowitzsch an Karl Bonhoeffer vom 26. 1 . 1 93 1 . 18 Vgl. DB 1 66 f. 19 Vgl. E . Wolf, Vorwort zur Neuauflage von D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio (TB 3), München 1 954, 5 f.

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wesentliche Kirche logisch und soziologisch und in bei dem zugleich theologisch unter einen B egriff zu bringen seien ..."2 0 Die 3.Auflage in dieser Reihe besorgte dann 1960 Eberhard B ethge, der das Buch auch um einen Anhang, in dem die wichtigsten von Bonhoeffer gestrichenen Passagen dokumen­ tiert wurden, erweiterte. 1969 erschien von dieser erweiterten Ausgabe eine 4.Auflage.2 1 11

Die vorliegende Neuausgabe basiert auf der von Dietrich Bon­ hoeffer 1930 zum Druck beförderten Fassung seiner Disserta­ tion : - Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (26. Stück der Neuen Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche. Hg. v. Reinhold Seeberg), Berlin und Frankfurt/Oder: Trowitzsch & Sohn, 1 930.

Daneben liegen vor : - Das von Dietrich Bonhoeffer 1927 bei der Theologischen Fakultät der Universität Berlin eingereichte Exemplar seiner Dissertation Sanctorum Communio. Eine dogmatische Unter­ suchung (Sigle : A). Dieses Exemplar umfaßt 354 maschinen­ schriftliche Seiten und trägt die Vermerke von Arthur Titius und Reinhold Seeberg ("Herrn Kollegen D. Seeberg zum Refe­ rat ergebenst, überreicht B erlin 8.7.27, Titius dec. ; Mein Be­ richt liegt bei, Seeberg 18.7.27"). Das Exemplar enthält die handschriftlichen Seitenbemerkungen Reinhold Seebergs sowie die handschriftlichen Kürzungen und Korrekturen von Diet­ rich Bonhoeffers Hand für den späteren Druck. Es befindet sich im Nachlaß Dietrich Bonhoeffers im Besitz von Eberhard B ethge . 22 - Zwei handschriftliche Zusätze zur Dissertation : 1 . Vier hsl. Seiten, für die Druckfassung überarbeiteter Beginn von 20

A. a. 0.,

5. 1 963 erschien eine englische und japanische, 1 964 eine amerikanische, 1 969 eine spanische und 1 9 72 eine italienische Ausgabe. 22 NL A 1 6 . 21

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Kapitel 3"Der Urstand und das Problem der Gemeinschaft, A. Methodische Probleme" (s. S. 36 ff. Anm . 1) und 2 . drei hsl. Seiten, für die Druckfassung neu eingearbeiteter Abschnitt "Autorität und Freiheit in der empirischen Kirche" (s. S. 1 72 f. Anm. 366 ) . 23 - Die Beurteilung der Dissertation durch Reinhold Seeberg (s. o. S. 2 f. ) findet sich in der Promotionsakte Dietrich Bon­ hoeffers im Archiv der Humboldt-Universität Berlin. 24 - Die"Theologischen Thesen" für die öffentliche Verteidi­ gung der Promo tion, Promotionsurkunde sowie Auszüge aus der Promotionsakte 2 5 sind in DBW 9 ab g edruckt. Die Druckvorlage für den Verlag Trowitzsch & Sohn exi­ stiert nach unserer Kenntnis nicht mehr; Eine Nachfrage bei dem Verlag M. H. Scharper, Hannover, in den der Trowitzsch­ Verlag 1 952/5 3 übergegangen ist, ergab, daß im Verlagsarchiv keine Unterlagen hinsichtlich des Druckes von , Sanctorum Communio' mehr aufzufinden sind . 2 6 Neben der Grundregel, den von Bonhoeffer für den Druck autorisierten Text möglichst unangetastet zu lassen, sind für die Textgestalt der Neuausgabe folgende Richtlinien maßgebend : - Sperrungen werden im Text kursiv wiedergegeben. An wenigen Stellen wurde die Schreibweise und Zeichensetzung stillschweigend verbessert. Ungebräuchliche Abkürzungen Bonhoeffers werden aufgelöst. - Worte, Sätze oder Passagen, die Bonhoeffer für den Druck gestrichen oder überarbeitet hat, werden im Apparat des Her­ ausgebers präsentiert. Die textkritischen Anmerkungen wollen den Leser in die Lage versetzen, neben der zum Druck beför­ derten Fassung von 1 9 30 die 1 92 7 der Fakultät eingereichte ursprüngliche und längere Fassung von , Sanctorum Commu­ nio' zu lesen. Zu diesem Zweck wurden für die vorliegende Neuausgabe beide Fassungen miteinander verglichen. Alle 2l 24

25 26

NL A 1 7, 1 . s . o . Anm. 7. NL A 17,2-4; DBW 9,476-479, 173-176, 181-183. Brief des Verlags M. H . Schaper an den Herausgeber vom 3. 1 2 . 1 984.

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Textvarianten und gestrichenen Passagen, die angemerkt wer­ den, beziehen sich folglich auf das 1 927 bei der Berliner Theo­ logischen Fakultät eingereichte Exemplar. Dieses Fakultätsex­ emplar wird in der vorliegenden Ausgabe mit der Sigle A bezeichnet. Auf die Wiedergabe stilistischer Verbesserungen von der Hand Bonhoeffers wird in der Regel verzichtet. Ergibt sich allerdings eine Nuancierung der Bedeutung, so wird der ursprüngliche Text im Apparat dokumentiert. - Bei der Wiedergabe der Texte in ihrer ursprünglichen Gestalt wird zwischen ersatzlosen Streichungen (angemerkt durch : In A gestr. :" . . . ") und ersetzenden Korrekturen (ange­ merkt durch : ersetzt A : " . . . " oder : " . . . " ersetzt A : " . . . ") unterschieden . Bei Passagen, die Bonhoeffer so stark überarbei­ tet hat, daß Einzelverweise zu Unübersichtlichkeit geführt hätten, schien es angebracht, die ursprüngliche Fassung insge­ samt im Apparat des Herausgebers zu präsentieren. Schließlich wird angemerkt, an welchen Stellen Bonhoeffer Absätze einge­ fügt und an welchen er Absätze zurückgenommen hat. Ferner wird vermerkt, wo ein ursprünglich im Text stehender Ab­ schnitt in der Druckfassung von Bonhoeffer zu einer Anmer­ kung verwandelt worden ist. Nicht angemerkt wird hingegen, an welchen Stellen Sperrungen von Bonhoeffer zurückgenom­ men wurden. - Abkürzungen von Autorennamen und Buchtiteln in Bon­ hoeffers Anmerkungsapparat wurden aufgelöst ; darüber hinaus wurde in die Anmerkungen nicht eingegriffen. Offensichtliche Inkonsequenzen formaler Art wurden allerdings stillschwei­ gend korrigiert. Zitate Bonhoeffers wurden überprüft und Ab­ weichungen von den Quellentexten im Apparat des Herausge­ bers vermerkt. - Bonhoeffers Literaturangaben sind nicht im Herausgeber­ apparat, sondern in einem eigens angefügten Verzeichnis der von Bonhoeffer benutzten Literatur verifiziert. Dort finden sich auch Verweise auf leichter zugängliche Ausgaben dieser Texte. - Auf Seitennachweise in bestimmten Editionen für Zitate von Platon, Aristoteles sowie Thomas von Aquins "Summa theologica" und der zweiten Auflage von Friedrich Schleierma­ chers "Der christliche Glaube" wurde verzichtet, da die von

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Bonhoeffer angegebenen Paragraphen und Stellen in verschie­ denen leicht zugänglichen Ausgaben eingesehen werden kön­ nen. - Schließlich werden die Randbemerkungen des korrigieren­ den Doktorvaters Reinhold Seeberg, sofern sie entziffert wer­ den konnten, wiedergegeben ; sie werden durch das Kürzel , Korr. ' eingeleitet. - Die Restbibliothek Dietrich Bonhoeffers im Besitz von Eberhard Bethge wurde eingesehen. An ausgewählten Stellen wird auf Anstreichungen, Unterstreichungen oder Randbemer­ kungen in den von Bonhoeffer für "Sanctorum Communio" benutzten Büchern im Apparat des Herausgebers hingewiesen. - Lateinische Zitate Bonhoeffers werden im Herausgeberap­ parat übersetzt. - Die Anmerkungen Bonhoeffers werden kapitelweise durchlaufend gezählt. Im Unterschied zu den Herausgeberan­ merkungen sind die Ziffern der Anmerkungen Bonhoeffers mit einer kleinen runden Klammer versehen . Aus drucktechnischen Gründen wird der Apparat des Her­ ausgebers entgegen den editorischen Verabredungen der Aus­ gabe Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) nicht am Fuß der Seite wiedergegeben, sondern in einem Anhang abgedruckt. - Herausgeber-Zusätze innerhalb von Texten Dietrich Bon­ hoeffers im Herausgeberapparat werden in eckige Klammern [ . . . ] gesetzt. - Für Hervorhebungen wird die Kursive verwendet ; insbe­ sondere gilt dies für Stichworte aus dem Bonhoeffer-Text, auf die sich die Anmerkung des Herausgebers bezieht. - Die Anmerkungen des Herausgebers werden nach der Lesefolge gezählt ; die Zählung selbst erfolgt kapitelweise durchlaufend. Gemäß den editorischen Richtlinien für die Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffers Werken erteilt der Anmerkungsapparat des Herausgebers fernerhin die nötigen Auskünfte über An­ spielungen in Bonhoeffers Text. Nachgewiesen werden Anspie­ lungen auf Bibeltexte, zeit- und kirchenpolitische Ereignisse, traditionelle Topoi der Philosophie und Theologie sowie zeit­ genössische Kontroversen. Die Hinweise, die gegeben werden,

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Vorwort des H erausgebers

sind in erster Linie an der von Bonhoeffer selbst benutzten Literatur orientiert. Sie wollen auf die Quellen aufmerksam machen, aus denen Bonhoeffer geschöpft hat, und sie möchten dem Leser einen Zugang zu der geistigen Landschaft eröffnen, in der Bonhoeffer sich zu bewegen begann. Hierbei ist zu beachten, daß Bonhoeffer nicht nur die zeitgenössische philo­ sophische wie theologische Terminologie aufgreift oder auf sie anspielt, sondern daß er sich vielfach in wichtigen Elementen und methodischen Entscheidungen seines eigenen Denkens von den Einsichten anderer leiten läßt. Dabei liegt sein Interesse nicht vorrangig darin, die Argumentation der Autoren, an die er anknüpft, nachzuvollziehen, eher bricht er das für seine eigene Argumentation wichtige Material aus ihnen heraus. Die­ ser Umstand hängt mit der stark konstruktivistischen Arbeits­ weise Bonhoeffers zusammen . Die Anmerkungen des Heraus­ gebers wollen die Einflußströme, aus denen sich das Werk speist, und die Einzelelemente, mit denen Bonhoeffer arbeitet, freilegen. Dadurch soll der Blick des Lesers für die Klärung der Frage nach dem , Einfluß' theologischer Denkrichtungen und dem speziellen Aneignungsmodus Bonhoeffers geschärft wer­ den . Nicht zuletzt verbindet sich damit die Hoffnung, daß der Leser nicht nur die vielfältige Spannung, die durch Bonhoeffers Aneignungs- und Darstellungsweise erzeugt wird, und die ihn mitunter über Abgründe des Verstehens hinwegträgt, sondern auch die Frage, die gleichsam , hinter' dem Werk steht, selbst ermessen kann. Die vorliegende Ausgabe wird bescblossen durch ein Ver­ zeichnis der von Bonhoeffer zitierten Literatur, ein Nachwort des Herausgebers und eine Auswahlbibliographie der Sekun­ därliteratur zu "Sanctorum Communio" sowie Bibelstellen- , Personen- und Sachregister. Die Innenpaginierung verweist auf die Seitenzahl der alten Ausgabe von "Sanctorum Communio" in der"Theologischen Bücherei" . Die genannten Seiten beginnen jeweils nach dem senkrechten Strich. Abkürzungen im Apparat des Herausgebers richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis der"Theologischen Realen­ zyklopädie" (TRE), Berlin/New York 1 9 76 . Abweichend da­ von bedeuten DB: E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe-

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Christ - Zeitgenosse ( 1 9 67 u. ö . ) ; DB W: Dietrich Bonhoefer Werke, Bd. 1_1 72 7 ; Korr. : Randbemerkung des Korrektors See­ berg; und NL: Nachlaß Dietrich Bonhoeffer. Ein Verzeichnis . Archiv und Bibliothek, hg. v. E. Bethge, München 1 9 86. Die vorliegende Edition ist kaum das Werk eines Einzelnen . Der Herausgeber hat daher für vielfache Hilfe bei der Textre­ daktion, der Arbeit an den Anmerkungen und der Drucklegung herzlich zu danken . Die Ausgabe hätte ihre j etzige Gestalt nicht ohne das Gespräch, den Rat und die Kritik von Wolfgang Huber finden können. Mit ihm wurden die Anmerkungen kritisch durchgesehen und editorische Einzelfragen erörtert. Ernst Feil übernahm die Aufgabe der aufmerksamen Durch­ sicht des Manuskripts . Für umsichtigen Rat in Einzelfragen schulde ich Heinz Eduard Tödt und Christian Gremmels auf­ richtigen Dank. Frau Renate Bethge und Eberhard Bethge gewährten dem Herausgeber Einsicht in die Restbibliothek Dietrich Bonhoeffers ; für ihre Gast- und Gesprächsfreund­ schaft danke ich herzlich. Wertvolle Dienste leisteten C . -J. Kal­ tenborn , der im Archiv der Humboldt-Universität Berlin das Promotions gutachten Reinhold Seebergs recherchierte, Frau Ilse Tödt, die das Gutachten wie auch die nur schwer lesbaren Randbemerkungen Reinhold Seebergs im Originalexemplar der Dissertation entzifferte, und Christoph Burger und das Institut für Spätmittelalter und Reformation der Universität Tübingen , die einige schwer auffindbare Lutherzitate verifizierten. Wolf­ gang Heger und Alfred Roos halfen bei der Kollationierung des Textes, Annette Lechner bei der Vervollständigung bibliogra­ phischer Angaben ; Eva von Tilinsky und Ute Wolfsdorf sorg­ ten für die sorgfältige Erstellung des Manuskripts, Anna Frese las die Druckfassung mit. Ralph Möllers unterstützte die Arbei­ ten am Register. Schließlich gilt mein Dank Ulrich Kabitz vom Chr. Kaiser Verlag und Herben Anzinger für die Fertigstellung des Manuskripts für die Drucklegung. Joachim von Soosten

Heidelberg, den 1 8 . Dezember 1 9 85

2 7 Bethges Bonhoeffe r-Biographie erschien inzwischen i n 9. Auflage Gü­ tersloh 2005; die D BW-Bände kamen in 1. Auflage zum Abschluß Gütersloh 1 999.

SAN CTO RUM C O MM UN I O E I N E DOGMATI S C H E U NTE R SUC HUNG ZU R SOZ IOLOG I E D E R K I R C H E

VO N L i c. D I ETR I C H B O N H O E FF E R

D I E D R U C K LE G U N G E R F OLGTE MIT U N TERSTOTZ U N G DER N OTGEM E I NS C H A FT DER D E UTS C H E N W I S S E NSCHAFT

TROWITZSCH & SOHN ' BERLIN UND FRANKFURT/ODER

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Vorwort !

Sozialphilosophie und Soziologie sind in der vorliegenden Un­ tersuchung in den Dienst der Dogmatik gestellt. Nur mit dieser Hilfe schien sich die Gemeinschaftsstruktur der christlichen Kirche dem systematischen Verständnis erschließen zu lassen. Die Arbeit gehört nicht in die Disziplin der Religionssoziolo­ gie, sondern in die Dogmatik. Die Frage nach einer christlichen Sozialphilosophie und Soziologie ist, weil sie nur vom Kirchen­ begriff aus beantwortet werden kann, eine echt dogmatische. Je länger sich der Blick auf die Bedeutung der soziologischen Kategorie für die Theologie richtete, desto klarer trat die soziale Intention sämtlicher christlichen Grundbegriffe heraus. ,Per­ son', , Urstand' , , Sünde', , Offenbarung' lassen sich nur im Bezug auf die Sozialität voll begreifen. Geben sich echte theolo­ gische Begriffe als je nur in einer eigenen sozialen Sphäre gesetzt und erfüllt zu erkennen, so läßt sich von hier aus der spezifisch theologische Charakter einer Untersuchung zur So­ ziologie der Kirche wahren. Die Arbeit, die vor mehr als drei Jahren geschrieben wurde, konnte vor dem Druck nicht mehr völlig neu abgefaßt werden . Es mußte bei teilweisen Veränderungen bleiben. Das ist im Hinblick auf die fortgeschrittene Debatte ein Mangel. Das Recht zur Veröffentlichung entnehme ich der Grundeinstellung zur Bewältigung des Problems, die mir nach wie vor durch die Sache gefordert und gerechtfertigt scheint. Herrn Geheimrat Reinhold Seeberg, der diese Arbeit vom Entstehen an mit dem freundlichsten Interesse bedacht hat, möchte ich meinen besonderen Dank sagen. - Dem Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung spreche ich für die mir gewährte Beihilfe zur Drucklegung meinen Dank aus . Die Notgemeinschaft für deutsche Wissenschaft, wie ein Beitrag aus der Reinhold-Seeberg-Stiftung haben den Druck vollends ermöglicht. Ich darf auch hierfür an dieser Stelle danken. Juli 1 93 0 .

ERSTES KAPITEL Zur Begriffsbestimmung von Sozialphilosophie und Soziologiel

Sozialphilosophie und Soziologie sind als zwei Disziplinen2 mit verschiedenem Gegenstand streng voneinander zu scheiden . 1) Wo dies übersehen wird, entsteht heillose begriffliche Verwir­ rung, unbeschadet freilich der Möglichkeit weitgehender Rich­ tigkeit in den Einzelergebnissen. Die Sozialphilosophie verhält sich zur Soziologie derart, daß diese auf den Ergebnissen j ener aufbaut, freilich oft, ohne um diese zu wissen, und in jener die dauernde Norm dieser besteht. Beide Disziplinen sind nicht N atur- sondern Geisteswissenschaften. Als selbständige Wis­ senschaften müssen Sozialphilosophie und Soziologie je ihren eigenen Gegenstand haben . 2) I 1) An dieser strikten Unterscheidung ist neben vielem andern auch die sogen. B eziehungslehre v . Wieses und Vierkandts vorübergegangen. Ohne es zu wissen, ruht sie auf einem sozialphilosophischen Atomismus, den sie doch überwinden will. Die Personen sind feste, isolierte, nicht in den Sozialprozeß hineingezogene Gegenstände, deren gewisse soziale , Anlagen' Beziehungen zu anderen Personen ermöglichen und herstellen . Vg!. Litt, " Individuum und Gemeinschaft", 3. Auf! . , 1 926, S . 205 ff., S . 221 ff. ; Vierkandt, " Gesellschafts­ lehre", S . 5 1 , S. 4 8 ; v . Wiese, " Soziologie" I, Beziehungslehre, 1 924, S. 6 ff. ' 2) Die Unsicherheit in der Beantwortung der Frage nach dem Gegenstand der Soziologie ist das Kriterium für die obwaltenden begrifflichen Unklarhei­ ten. Wahrend die enzyklopädisch-universalistische Gruppe der Soziologen (vg!. Troeltsch, Weltwirtschaft!. Archiv Bd. 8 , S . 259 ff. " Zum Begriff und zur Methode der Soziologie" bzw. Ges. Schriften IV 705 ff. ; Vierkandt a. a. O. S. 1 1 ff. ; zum Geschichtlichen P. Barth , "Soziologie als Philosophie der Ge­ schichte" . 2 . Auf!. 1 920) Soziologie zum Sammelnamen für sämtliche Geistes­ wissenschaften, zur Universalwissenschaft schlechthin machen will, damit aber unbewußt Soziologie als selbständige Wissenschaft überflüssig macht (vg!. u. a. Oppenheimer, " System der Soziologie", S. 1 35), wollen die Formalsoziologen die Formen der konkreten Vergesellschaftung untersuchen, womit scheinbar ein selbständiger Gegenstand gefunden ist, der aber doch durch die Anwen­ dung von empiristischen Methoden - man ist nur selten über sie hinausgekom­ men und hat Ansätze zu einer wirklichen Soziologie als Wissenschaft gemacht ­ nicht in seiner völligen Eigenheit erkannt, sondern in die historische Forschung eingereiht wird. Vg!. Schumann, Ztschr. f. Syst. Theo!. , 1 926-27, H. 4, der das

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Erstes Kapitel

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Die Sozialphilosophie fragt nach den letzten Beziehungen sozialer Art, die v o r allem Wissen und Wollen zur empirischen Gemeinschaft liegen, nach den , Ursprüngen' der Sozialität in der menschlichen Geistigkeit und ihrem wesenhaften Zusam­ menhang mit dieser. Sie ist 5 Wissenschaft von der ursprüngli­ chen Wesensart der Sozialität schlechthin. Sie ist Normwissen­ schaft insofern, als ihre Ergebnisse das notwendige Korrektiv für die Deutung soziologischer Tatbestände sind . Soziologie ist die Wissenschaft von den Strukturen der empirischen Gemein­ schaften. Also nicht die Entstehungsgesetze der empirischen Vergesellschaftungen sind ihr eigentlicher Gegenstand, sondern die diese j eweils konstituierenden Strukturgesetze. Soziologie ist mithin keine historische, sondern eine systematische Wis­ senschaft. Es ist prinzipiell möglich, Soziologie zu treiben ohne sozialphilosophische Grundlegung, solange man sich dieser Grenze bewußt bleibt. 6 Was Struktur der Gemeinschaft heißt, kann erst im Laufe der Untersuchung völlig klar werden. Hier nur soviel, daß sie sich in den Beziehungen oder Wechselwir­ kungen nicht erschöpft, obwohl diese freilich Träger der sozia­ len Lebendigkeit sind. Es handelt sich in der Soziologie darum, die mannigfachen Wechselwirkungen auf gewisse geistige We­ sensakte, die die Eigenart der Struktur bezeichnen, zurückzu­ führen. Zur Struktur der Gemeinschaft aber gehören ebenso die Personeinheiten als Aktzentren, wie die Einheit I der Gruppe als , Gebilde' . Erst in diesen drei Bestimmtheiten ist die allgemeine Struktur der empirischen Vergesellschaftung erschöpft. 7 Dieser Sachverhalt hat seine Konsequenzen für die Methode : nicht morphologisch-deskriptiv (Durkheim)8, sondern geistes­ wissenschaftlich auf die wesenhafte Struktur des geistigen Phä­ nomens der Gruppe ist die soziologische Betrachtung gerichtet. Aus dem systematischen Charakter der Soziologie folgt die Methode der phänomenologischen Betrachtung9 ; sie sucht in den empirischen Akten die soziologisch-konstitutiven Wesens­ akte zu erfassen . 3) 1 1 Sie allein vermag die genetische FragestelProblem sehr scharf erfaßt ; insgesamt bestehen fast ebensoviel Gegenstandsbe­ stimmungen der Soziologie als es soziologische Werke gibt.4 J ) Diese Methode ist, solange die formale Soziologie besteht, angewandt worden, anfangs unbewußt (Simmel, " Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung" 1 908 ; Tännies, " Gemeinschaft und Gesell-

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Zur Begriffsbestimmung von Sozialphilosophie und Soziologie

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lung, die die Soziologie zu einem Teilgebiet der Historie macht, zu überwinden. Religionssoziologie treiben heißt mithin, die strukturelle Eigenart der Religionsgemeinschaften phänomenologisch zu untersuchen . 4) 16 Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist schaft", 1. Aufl. 1 8 86, 3. Aufl. 1 9 1 9 ; " Soziologische Studien und Kritiken" , 2 Bde . , 1 924) ; später mit B etonung der Absicht - Vierkandt ; freilich liegt gerade bei ihm noch die genetische mit der phänomenologischen B etrachtung in Fehde und schafft so mancherlei Unklarheit. Es ist dieser Widerstreit in seinem B egriff der Soziologie als B eziehungslehre gelegen, der an sich die empiristische Methode forderte. Auch bei Seheler, " Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik", 3. Aufl. 1 927, S . 495 ff. , ist dieser Fehler noch zu beob­ achten ; vgl. hierzu die Arbeiten aus der phänomenologischen Schule : Edith Stein, " I ndividuum und Gemeinschaft" , Jahrb. f. Philos. und phänomenologi­ sche Forschung V, 1 922, S. 1 1 6 ff. Gerda Walther, " Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften", ebendort, VI, 1 92 3 . Samuel'OKrakauer, " Soziologie als Wissenschaft", 1 924. - Vgl. ferner Theodor Litt, " Individuum und Gemein­ schaft", 1 926. 4 ) Es ist kaum verständlich, wie Max Weber dort von Religionssoziologie reden konnte, wo er die Beziehungen von Politik, Wirtschaft und Religion, d. h. mehrerer verschiedener Kulturgebiete zu einander darstellte, mithin histo­ rische Arbeit leistete. " (Vgl. " Aufsätze zur Religionssoziologie", 3 Bd. ; auch die scheinbar systematische " Religionssoziologie" in "Wirtschaft und Gesell­ schaft", 1 922, S . 227 bis 363 ist letztlich nur historisch interessiert. Vgl. folgende Definition der Soziologie : " Soziologie soll heißen, eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend versteht, und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich ( ! ) erklären will. ,, 1 3 Daraus wird die Weite der Weberschen Abhandlungen verständlich. V gl. auch " Ü ber einige Kategorien der verstehenden Soziologie", Logos IV, 1 903) . 1 4 Auch die vorangegangene Religionssoziologie hatte freilich fast nie etwas anderes als Religionsgeschichte unter allgemeingeschichtlichem oder politisch wirtschaftlichem Aspekt getrie­ ben. (V gl. etwa H. Speneer, " Soziologie" , IV, S . 3 bis 202 ; Sehäffle, " Bau und Leben des sozialen Körpers" , 1 8 75, IV, S . 1 44 ff. , systematischer eingestellt Bd. 1 , S. 689 ff. ; Othmar Spann, " Gesellschaftslehre" , 1 9 1 9 , S. 323-349. Auch hier überwiegt das religionsgeschichtliche Interesse. ) Auszunehmen wäre hier höchstens Durkheim in seiner Untersuchung über den Totemismus als die ursprüngliche Gesellschaftsform der Menschen. (Les formes eJementaires de la vie religieuse, Paris 1 9 1 2) . Aber auch hier ist das Interesse mehr religions ge­ schichtlich-ethnologisch als systematisch. Den ersten Versuch einer systemati­ schen Religionssoziologie hat m. W. Simmel in seinem Buche " Die Religion" ( 1 9 1 2, 2 . Aufl. ) gemacht. Hier werden wirklich Strukturfragen religiöser Verge­ sellschaftung behandelt. 15 E. Troeltseh hat in seinen " Soziallehren der christli­ chen Kirchen und Gruppen" 1 9 1 1 die Geschichte der christlichen Gemein­ schaftsideen entwickelt mit selbständigem systematisch-soziologischem Inter­ esse. Freilich steht im Vorde � grunde die Betrachtung der historisch zufällig -

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Erstes Kapitel

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aber zu I bemerken : die vorliegende Arbeit über die sanctorum communio ist nicht eigentlich religions soziologisch, sondern theologisch. Sie wird sich auf dem Boden christlicher Dogmatik vollziehen, und hierfür sollen die rein sozialphilosophischen und soziologischen bzw. religionssoziologischen Grundein­ sichten fruchtbar gemacht werden. Es handelt sich also darum, die in der Offenbarung in Christus gegebene Wirklichkeit einer Kirche Christi sozialphilosophisch und soziologisch strukturell zu verstehen. Das Wesen der Kirche aber kann nur von innen heraus cu m ira et studio! 7 verstanden werden, nie hingegen von unbeteilig- I ter Seite. Nur wer den Anspruch der Kirche ernst nimmt und diesen nicht an anderen derartigen Ansprüchen oder seiner eigenen Vernünftigkeit relativiert, sondern ihn aus dem Evangelium heraus versteht, hat Aussicht, etwas von ihrem Wesen ! 8 zu schauen. So wird unser Problem von zwei bzw. drei Seiten her angegriffen werden : von der Dogmatik, der Sozial­ philosophie und der Soziologie. Nachdem im nächsten Kapitel der christliche Personbegriff als nur in der Sozialität wirklich erwiesen wird, soll in einem sozialphilosophischen Teil die allgemeine Geistigkeit des Men­ schen als 19 ebenfalls nur in der Sozialität möglich und wirklich dargetan werden . 20 Erst hierauf soll von den Strukturen der empirischen Gemeinschaften2! in einem rein soziologischen Teil gehandelt werden ; denn erst j etzt kann grundsätzlich der individualistische Gesellschaftsatomismus widerlegt werden. Und erst wieder mit dem nun gewonnenen Einblick in das Wesen der Gemeinschaft vermögen wir einem begrifflichen Verständnis der christlichen Gemeinschaft, der sanctorum communio, nahezukommen. I

gewordenen Sozial gebilde, nicht aber der sozialen Wesensstruktur christlicher Art. Schließlich hat Max Scheler (Formalismus s . o . ) den Abriß einer systemati­ schen Soziologie, mit starkem Interesse für das Problem einer christlichen Soziologie verknüpft, gegeben, ein großer Entwurf, mit dem wir uns noch auseinander zusetzen haben. Erinnern wir noch an den genannten scharfsinni­ gen Aufsatz von Schumann, der sich wesentlich um ein systematisches Ver­ ständnis der Soziologie bemüht, so sieht man, daß allmählich die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit des alten Begriffs von Religionssoziologie aufdäm­ mert.

ZWEITES K A P I T E L Der christliche Personbegriff und die sozialen Grundbeziehungsbegriffe

A. Die vier Schemata der sozialen Grundbeziehungsbegriffe und die Auseinandersetzung des christlichen Person- und Grundbeziehungsbegriffs mit diesen

] eder Gemeinschaftsbegriff steht in wesentlicher Beziehung zu einem Personbegriff. Die Beantwortung der Frage, wodurch sich Gemeinschaft konstituiere, ist nicht möglich, ohne die andere Frage zu stellen, wodurch sich eine Person konstituiere. Da das Ziel der vorliegenden Untersuchung das Verständnis eines Gemeinschaftsbegriffs, nämlich der sanctorum communio ist, wird es nötig, zur vollen Erfassung desselben den zugehöri­ gen Personbegriff zu untersuchen ; damit stellt sich das Problem konkret als die Frage nach dem christlichen Personbegriff her­ aus . Mit dem Verständnis von Person und Gemeinschaft ist zugleich über den Gottesbegriff Entscheidendes gesagt. Person­ begriff, Gemeinschaftsbegriff und Gottesbegriff stehen in un­ löslicher wesentlicher Beziehung. 1 Wo ein Gottesbegriff ge­ dacht ist, da wird er in Beziehung auf Person und Personge­ meinschaft gedacht. Wir könnten, um zum Wesen des christli­ chen Gemeinschaftsbegriffes zu gelangen, prinzipiell ebensogut vom Gottesbegriff wie vom Personbegriff ausgehen. Und in­ dem wir den letzteren zum Ausgangspunkt wählen, werden wir nicht ohne dauernde Bezugnahme auf den Gottes- I begriff zu einer gegründeten Ansicht über ihn selbst wie über den Ge­ meinschaftsbegriff gelangen . 2 Der christliche Personbegriff und der zugehörige soziale Grundbeziehungsbegriff soll nun in der Auseinandersetzung mit den von der Philosophie her zur Verfügung stehenden vier Schemata sozialer Grundbeziehungsbegriffe dargestellt wer­ den . 3 Es handelt sich vorerst nicht um die Frage nach einer etwaigen sozialen Provinz im Menschen, die religiös oder sonstwie begründet sein könnte, noch ist die Rede von empiri-

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Zweites Kapitel

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schen Willensgemeinschaften oder auch nur sozialen Akten, vielmehr allein von den ontischen Grundbeziehungen sozialen Seins überhaup t . 4 In den ontischen Grundbeziehungen ist Norm und Grenze für alle empirische Sozialität gesetzt, ein Satz, der beim Kirchenbegriff von größter Bedeutung wird . Weil aber von ontischen Grundbeziehungen die Rede ist, wer­ den nicht die Typen der Sozialtheorie, sondern die diesen vorangehenden der Philosophie herangezogen. 1 . Das metaphysische Schema des Aristoteles läßt den Menschen nur Person werden, soweit er an der Gattungsver­ nunft teilnimmt. Die Kollektivgestalt ist daher der Einzelper­ son, als der Gattung näherkommend, übergeordnet. Der Mensch ist �00v nOAL't'LXOV, der Staat ist die höchste Kollektiv­ gestalt und seinem Wesen nach vor allem Einzelnen da. Nur teilweise wird von der Einzelperson die Identität von voü � na{h]1;LxO� und nOL'YltLXO� erreicht, wie auch nach Platos Ti­ maios nur der vernünftige, d. h. sich zum Allgemeinen erhe­ bende Teil der Seele unsterblich ist. 1) Wesentliches Sein liegt somit jenseits des individuell-personalen Seins. Die Antithese zwischen Mensch und seiner Bestimmung ist die Antithese von Individuum und Allgemeinem - mit dem Versuch, dies sozial­ philosophisch auszudrücken : von Individuum und Gattung. Dementsprechend ist auch der aristotelische Gottesbegriff un­ persönlich . 2) 6 I 2 . Die Stoa hat zum erstenmal in der Geschichte der Philoso­ phie den Begriff der ethischen Person gebildet durch ihren Begriff des TJycfWVLXOV. Person wird der Mensch durch Unter­ stelltsein unter ein höheres Soll. Das Soll aber ist ein Allgemein­ gültiges und das soweit, daß durch den Gehorsam gegen das­ selbe die Personen zu einem Vernunftreich zusammengeschlos­ sen werden, indem jede sich dem Soll unterstellende Seele der ewigen Vernunft und somit auch der Seele der anderen Perso­ nen gleichgeartet ist. 1)

W Winde/band, " Lehrbuch der Geschichte der Philosophie", § 1 3 . Die sozialphilosophisch nicht unbedeutsamen Wendungen des Aristote­ lismus im Mittelalter, deren Probleme sich bis zur Frage nach dem principium individuationis bei Spinoza und Leibniz verfolgen lassen, müssen hier übergan­ gen werden . 5 2)

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Christlicher Personbegriff

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Damit greift aber auch hier trotz entschiedener Betonung des ethischen, , persönlichen' Moments das die eigentliche Person Ausmachende über die individuelle Person hinaus. Das ethische Vernunftsein der Person ist ebenso ihr Wesen, als es sie als individuelle Person aufhebt. 3) 8 Es besteht zwischen der aristotelischen und der stoischen Lehre aber darin der erste prinzipielle Unterschied, daß bei der letzteren das Ich prinzipiell selbstgenügsam ist, die volle Ver­ nunfthöhe erreicht ohne einen anderen, daß hingegen beim ersteren erst die Gattung in der Idee des Staates vorgestellt die Vernunfthöhe besitzt und somit der Einzelne nur als Teil der Gattung zu denken ist. Der Eine tritt mit dem anderen nach Aristoteles in Verbindung nur in der Richtung auf die Gattung, und um das Individuelle zu überwinden. Die Gattung ist gegenüber dem Individuum etwas schlechthin Überlegenes, sie ist das begrifflich Primäre. Für den Stoiker ist mit dem B egriff der I Gattung nichts prinzipiell Neues gegeben. Mit dem Ver­ nunftreiche ist nur ein Reich von Gleichgearteten vorhanden. Somit ist für ihn die Person9 doch etwas an sich Abgeschlosse­ nes, Fertiges, Letztes . Das Vernunftreich bleibt als Reich von Personen gedacht. Wesentlich ist für uns, daß als Grundschema hier nicht das metaphysisch-intellektualistische von Individuel­ lem und Allgemeinem anzusehen ist, sondern vielmehr sich Individuelles und Allgemeines eng durchdringen und die Per­ son als irgendwie endgültiglO angesehen wird und so das Ver­ hältnis von sittlicher Person zu sittlicher Person, immer als eines von Gleichgearteten gedacht, das sozial-philosophische Grundverhältnis ist. I I 3 . Ausgehend von der Atomtheorie Demokrits, diese aufs Soziale und Ethische übertragend, behauptet der Epikureismus, Vergesellschaftung der Menschen diene nur der Erhöhung der J) Mit dieser stoischen Auffassung von der Person läuft die christliche der altkirchlichen Väter zusammen. Nur ist das persönliche Element hier viel kraftvoller ausgedrückt ; das hat seinen Grund in dem persönlichen Gottesbe­ griff, mit seinem Ich-Du-Verhältnis als der Grundbeziehung von Mensch und Gott, wie auch in der Lehre von dem persönlichen Leben nach dem Tode, die die antike Philosophie nicht anerkannte. Hier genügt es, das sozial-philosophi­ sche Schema der Stoa festzustellen, das sich aus dem neuen Personbegriff ergibt. 7

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Zweites Kapitel

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Lust j edes einzelnen, sei also rein utilitaristisch begründet, entstehe nur auf Grund einer olJv'I'l1p