Die Vollendung des Paradigmenwechsels bei Ludwig Feuerbach [1 ed.] 9783428522422, 9783428122424

Ludwig Feuerbach zu einem materialistischen Denker zu bestimmen, greift zu kurz. Er war, wie schon sein Lehrmeister Hege

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Die Vollendung des Paradigmenwechsels bei Ludwig Feuerbach [1 ed.]
 9783428522422, 9783428122424

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F I L A D E L F O LINARES

Die Vollendung des Paradigmenwechsels bei Ludwig Feuerbach

Philosophische Schriften Band 66

Die Vollendung des Paradigmenwechsels bei Ludwig Feuerbach

Von

Filadelfo Linares

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-12242-9 978-3-428-12242-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706© Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Michael den unglücklichen

Sohn,

der in der Heimat alles hätte werden können, aber in der Fremde tragisch enden sollte in der Blüte der Jugend

Motto „Ein neues Prinzip tritt immer mit einem neuen Namen auf; d.h., es erhebt einen Namen aus einem niedrigen, zurückgesetzten Stande in den Fürstenstand macht ihn zur Bezeichnung des Höchsten. Wenn man den Namen der neuen Philosophie, den Namen »Menschen4, mit Selbstbewußtsein übersetzt, so legt man die neue Philosophie im Sinne der alten aus, versetzt sie wieder auf den alten Standpunkt zurück, denn das Selbstbewußtsein der alten Philosophie, als abgetrennt vom Menschen , ist eine Abstraktion ohne Realität. Der Mensch ist das Selbstbewußtsein." Ludwig Feuerbach , Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. Kleinere Schriften II., S. 261.

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

I.

Zur Frage des Paradigmenwechsels

13

1. Der fortwirkende Konnex

21

n.

Reformation und Reform

43

HI.

Umhüllungsdialektik 1. Weltanschauungskomplex

47 47

2. Theologische Vorstellungen

60

IV.

Pantheismus und Idealismus

69

V.

Idealismus und Empirismus

72

VI.

Positivistische Sichtweisen

84

VII. Hegel in Feuerbachs Sicht Exkurs über „Die Grundzüge der Philosophie der Zukunft"

89 101

VIII. Feuerbachs politische Streifzüge 1. Religion und Politik 2. Gott und Staat 3. Religion und Politik im revolutionstheoretischen Kontext 4. Feuerbachs Verhältnis zur Politik

104 104 109 111 113

Schlußbemerkung

116

Literaturverzeichnis

118

Namensverzeichnis

121

Einleitung Ludwig Feuerbachs Denkleistung ist nicht immer sachlich beurteilt worden. Tatsächlich ist die Beurteilung in den meisten Fällen tendenziös gewesen. Einmal galt die Beurteilung dem religiösen Denker, ein andermal dem philosophischen. Die vorherrschende Festlegung war als Religionsphilosoph, wobei sich dies auf sein Hauptwerk Das Wesen des Christentums stützte. Gewiß war er Religionsphilosoph, und dies gar vom Fach, ebenso vom Fach war er aber auch Philosoph. Geht man überdies davon aus, daß die Metaphysik, als prima philosophia die wahre Philosophie, eine „verkappte" Theologie, die wissenschaftliche Fundierung der Religion, ist, war Feuerbach beides, Religionsphilosoph und Metaphysiker, also (reiner) Philosoph.1 Das Bestreben geht nun aber dahin, Feuerbach als Philosophen im Sinne des Materialismus festzulegen. Dabei vergißt man allzu gern, daß Feuerbachs philosophisches Denken im Deutschen Idealismus geschult wurde. Tatsächlich war Feuerbach ein spekulativer Denker, wie seine Lehrmeister, Hegel zumal, ein solcher Denker aber, der Bodenberührung behielt, der also nicht der absoluten Spekulation verfiel. Das Ganze des Seienden behielt er im Blick. Für beides steht die vollbrachte Leistung, religionsphilosophisch als Reformation, und philosophisch als Reform firmierend. Als ein solcher einheitsstiftender Denker will Feuerbach denn auch angesehen werden: „Ich vermisse in der spekulativen Philosophie das Element der Empirie und in der Empirie das Element der Spekulation; meine Methode ist daher, beide, aber nicht den Stoff, sondern das Element, d.i. die empirische Tätigkeit mit der spekulativen Tätigkeit, zu verbinden. Und das Verbindungsglied dieser beiden wirklichen Gegensätze - nicht nur entgegengesetzter Bestimmungen, Abstraktionen - ist mir die Skepsis oder Kritik ebensowohl gegen das nur Spekulative als das nur Empirische." 2 Daß Feuerbach hingegen von ideologisch im Sinne des Materialismus Fixierten zu einem materialistischen Denker und somit zu deren Ahnherrn festgelegt 1

Damit wäre Gregor Nüdling einverstanden: „... was Feuerbach in seiner neuen Philosophie bietet, ist eine wahre, wenn auch naturalistische Metaphysik, ja ein neuer religiöser Glaube", G. Nüdling, Ludwig Feuerbachs Religionsphilosophie. „Die Auflösung der Theologie in Anthropologie". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1961, S. 103. 2 Ludwig Feuerbach (im weiteren Feuerbach lediglich), (Offener Brief) An Carl Riedel Zur Berichtigung seiner Skizze. Kleinere Schriften II., S. 12. Gesammelte Werke, Akademie Verlag, Berlin 1970.

Einleitung

12

werden sollte - so geschah es tatsächlich in Deutschland hauptsächlich seitens Karl Marx, Friedrich Engels und Arnold Rüge - , gegen eine solche Fixierung konnte Feuerbach verständlicherweise nichts ausrichten. Gewiß, Feuerbach war grundsätzlich offen für den materialistischen Gedanken und empfand dementsprechend starke Sympathien für den französischen Materialismus, zumal für den Pierre Bayles, dem Feuerbach übrigens eine eigene Abhandlung widmete, ein Quidproquo indessen fand bei ihm nicht statt. So galt für Feuerbach die Materie hauptsächlich als Sinnlichkeit, und Sinnlichkeit blieb für ihn fortan eine metaphysische Kategorie. So hat Feuerbachs Materie weniger gemein mit der Materie der Materialisten als vielmehr mit Spinozas Materie (extensio) als einem Attribut der Substanz. Was unsere Vorgehensweise anbetrifft, hinsichtlich der Zutageförderung des Denkens von Feuerbach zumal, so wollen wir uns an Nüdling anschließen: „Es wird dabei ratsam sein, nicht so sehr über die Dinge zu reden, sondern Feuerbach in reichem Maße selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn keine referierende Umschreibung wird jemals die ursprüngliche Kraft und Eigenart seiner eigenen Formulierungen erreichen können."3

3

Nüdling, ebd. S. 27.

I. Zur Frage des Paradigmenwechsels Daß und warum der Paradigmenwechsel zur Frage wird, ist auf seine Komplexität zurückzuführen. Diese Komplexität ist im Begriff selbst des Paradigmas immanent angelegt. Tatsächlich ist der Begriff des Paradigmas nicht einheitlich. So bestimmt sich das Paradigma einmal als substanzielle Größe und ein anderes Mal als begriffliche Größe. Und doch gehört zur Kategorie des Paradigmas die Einheitlichkeit. Diese Einheitlichkeit ist indes keine äußere, dem Paradigma transzendente Bestimmung. Die dem Paradigma als substanzieller Größe immanente Einheitlichkeit ist die Einheitlichkeit des Zugrundeliegenden, die Einheitlichkeit des Paradigmas als i)Ji;oxei|ievov. Ob als Materie etwa oder als Geist, das Paradigma als i)Jioxei{i8vov bleibt sich gleich. Bei dem Wechsel des Paradigmas Materie zum Paradigma Geist, beide als substanzielle Größen, wäre die Rede vom Paradigmenwechsel eine Contradictio in adjecto, da ein Wechsel die Einheitlichkeit des Paradigmas als \>JTOX8Î|JI6VOV in Frage stellen würde; ja mehr noch, ein Quid pro quo würde in einem solchen Fall stattfinden, in der Weise nämlich, daß begriffliche Größen für substanzielle Größen genommen werden würden. Wovon in einem solchen Fall die Rede sein dürfte, ist von einer Paiadigmenüberhöhung. In der Illustration: Das ujioxeijievov Materie entspringt der Antike gleichsam als Quellsprung, fließt dann unterirdisch weiter bis es in der Moderne als das ijjioxeijievov Geist wiederaustritt. Das vjtoxeijievov, das Zugrundeliegende, verändert sich in keinem Fall radikal, ja es bleibt im Wechsel der Erscheinungen, der Paradigmen als begriffliche Größen, sich gleich. Mag also die Begrifflichkeit des Paradigmas uneinheitlich sein, seine Substanzialität hingegen ist stets einheitlich. Komplementär dazu sei im Vorbeigehen auf die dialektische Strukturierung des Paradigmenwechsels hingewiesen. So ist er einmal absolut und einmal relativ. Absolut ist der Paradigmenwechsel in bezug auf das Vorhergehende, relativ hingegen ist er in bezug auf das Nachfolgende. Die Paradigmen als Zugrundeliegendes sind nicht Totes, sondern Lebendiges, sie wirken immer fort, ob aktuell oder lediglich potentiell, bleibt sich gleich. Für die Paradigmen, als zu der geistigen Welt gehörig, gilt gleiches wie in der physikalischen Welt: Der Nichtung verfallen sie nicht, sondern sie transformieren sich. Und wie bei den Kulturen die Rede von „ F i l i a t i o n " , von „Verpuppung" und von „Vorstufen" 4 durchaus zulässig ist, so auch bei den Paradigmen. 4 Vgl. hierzu Joseph Vogt, Wege zum historischen Universum. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1961. Im selben Kontext des Paradigmenwechsels wäre die Bemerkung zu

14

I. Zur Frage des Paradigmenwechses

Das erklärt, warum ein Paradigma in der Antike, die Skepsis etwa, in die Neuzeit wiedererscheint, und zwar in Gestalt des (kritischen) Bewußtseins. Gleiches gälte für die paradigmatische Kontinuität als Identität von Denken und Sein. So bei Parmenides und Hegel. Gewiß, der Unterschied ist unübersehbar. In der Tat, während Parmenides' Sein identisch ist mit Denken (xö yaQ auxo vosTv eaxiv T8 x a i eivai), ist Hegels Denken identisch mit Sein (Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.) Grundsätzlich gesagt, während Parmenides' Sein in einem ontologisch-metaphysischen Kontext steht, steht Hegels Sein in einem logisch-ontologischen Kontext. Und doch sind beide aufeinander bezogen, in der Weise nämlich, daß Hegel den Paradigmenwechsel, den Parmenides vollzieht, in einer neuen Wendung aufhebt. In den Fällen also, wo das i>Jtoxei|ievov sich gleichbleibt, konsubstanziell ist, handelt es sich um keinen Paradigmenwechsel. Nimmt man indessen die dabei zweifellos stattfindende Veränderung als eine lediglich funktionelle, insofern beide, Materie und Geist, als begriffliche Größen fungieren, so stünde die Veränderung für den Paradigmenwechsel.5 Ein Wechsel der Paradigmen ist insofern wertethisch besetzt, als er eine Wahl voraussetzt. Diese Wahl zeichnet sich selbstredend durch eine Wertkonnotation aus. Das im Prinzip. Wo es aber keine Wertskala gibt, wo jedes Paradigma dem anderen gleicht - und als solche gleichen die Paradigmen einander so gilt das eine dem anderen gleich, so sind beide also gleichwertig. E pur si mouve! Mögen die Paradigmen nun aber wertethisch sich gleichen, ontologisch sind sie indes nicht zwangsläufig gleich. Tatsächlich differieren sie ontologisch untereinander, und zwar gelten die einen, wie vorhin gesehen, als substanziell, die anderen aber als begrifflich. Vorhin wurde die Frage der Vollendung (des Paradigmenwechsels) gestreift. Tatsächlich gehört zur Frage des Paradigmenwechsels die implizite teleologische Frage der Vollendung. Vom Begriff der Vollendung des Paradigmenwechsels gibt es nun aber zwei Varianten. Die eine ist die Vollendung als Zuendegehen, als Abschluß, die andere die Vollendung als Krönung bzw. als Überhöhung der paradigmatischen Entwicklung. Eine auf den Deutschen Idealismus etwa bezogene Anwendung der Vollendung des Paradigmenwechsels stünde beispielsweise bei Hegel da als Ende, als Abschluß der Entwicklung in Gestalt des absoluten Geistes. Bei Schelling besehen, die Vogt aus Kurt Breysigs Kulturgeschichte zutage fördert, in der „das Altertum und das Mittelalter als Vorstufen der Neuzeit gedeutet" werden. So stellt Vogt fest: „Hier begegnet schon der Gedanke, daß die Einteilung der Geschichte nicht nach Zeiträumen, sondern nach Entwicklungsabschnitten zu erfolgen habe und daß in der alt- und in der neueuropäischen Geschichte eine Gleichläufigkeit zu beobachten sei", ebenda. 5 Im übrigen, der alte Wechsel des Paradigmas Materie zum Paradigma Geist gilt unreflektiert als der Paradigmenwechsel vom Materialismus zum Idealismus.

I. Zur Frage des Paradigmenwechses

deutete die Vollendung ebenfalls ein Ende (der Entwicklung), dies aber in dem Sinne, daß der absolute Geist sich dabei nicht - wie bei Hegel - in sich selbst (be-)gründet, sondern in einer Realität, die ihn transzendiert. So gesehen käme bei Schelling der Paradigmenwechsel nicht vollkommen zum Abschluß. Bei Feuerbach schließlich steht nämlich das Ganze in Funktion seines Denkens, begleitet eine Wertkonnotation die Vollendung, und sie bedingt, daß der Paradigmenwechsel bei ihm sich als Krönung bzw. als Überhöhung der Paradigmen darstellt, und zwar indem Geist und Materie zur Einheit gebracht werden. An dieser Stelle sei erneut, wohl noch pointierter, auf die dialektische Strukturierung des Paradigmen wechseis aufmerksam gemacht. Wenn das Subjekt des Paradigmenwechsels (Hegels Idee etwa) sich zum Objekt wird, indem es bei sich selbst bleibt, ist die dialektische Entwicklung eine immanente. Geht das Subjekt des Paradigmenwechsels aber aus sich selbst heraus, um sich Objekt zu werden, so ist die dialektische Entwicklung transzendent, genaugenommen, eine Transzendenz in der Immanenz. Setzen wir nun die Frage nach dem Paradigmenwechsel philosophiehistorisch fort. Daß der Paradigmenwechsel ein komplexer Vorgang ist und daß er nicht zusammenhanglos da steht, zeigt exemplarisch in der antiken griechischen Philosophie der von der älteren (ionischen) Naturphilosophie zur jüngeren Naturphilosophie stattfindende Paradigmenwechsel. Tatsächlich steht das tragende Element dieses Paradigmenwechsels, nämlich Anaxagoras' Novg, nicht isoliert da. Vorbereitendes war vorher geleistet worden: „Von der sinnlichen Anschauung aus sind die ersten griechischen Philosophen allmählich mehr und mehr zu Abstraktionen fortgeschritten; nachdem man aber auf diesem Wege in der eleatischen Philosophie zu dem abstraktesten aller Begriffe, dem Begriff des S e i n s , gelangt war, dabei jedoch die Möglichkeit einer Erklärung der Erscheinungen eingebüßt hatte, ging die Tendenz der Späteren dahin, das Prinzip selbst so zu fassen, daß ohne Verleugnung der Einheit und Konstanz des Seins doch wiederum ein Weg zu der Vielheit und dem Wechsel der Erscheinungen sich eröffne". 6 Die Vor-Leistung war nun da, „aber der Gedanke ist doch noch nicht als Gedanke zum Prinzip gemacht. Diesen Mangel beseitigte Anaxagoras [...]. Er machte den Verstand selbst, den Noög zum Prinzip der Dinge .. ." 7

6

Ueberweg, Geschichte der Philosophie. 1. Das Altertum, S. 90. Herausgegeben von Karl Praechter. Verlag E. S. Mittler & Sohn. Tübingen 1953. 7 Feuerbach, Rez. über: Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Kritiken und Abhandlungen I., S. 56.

16

I. Zur Frage des Paradigmen wechseis

Dieser Novg oder weltordnende Geist ist „rein und unvermischt". 8 „In dieser Reinheit des Nus erkennt Anaxagoras eine notwendige Voraussetzung der Herrschaft des Nus über alle Dinge." 9 Im übrigen, „(mit) dieser Lehre tritt an die Stelle des mythisch gefärbten Dualismus des Empedokles ein rein philosophischer. Einem solchen begegnen wir hier zum erstenmal in der abendländischen Philosophie". 10 Die Komplexität des Paradigmenwechsel genannten Vorgangs wird weiter thematisiert 11: 8

Ueberweg, ebd. S. 101. Ebenda. 10 Ebd. S. 97. 11 Darauf bezieht sich die wegweisende Theorie von Thomas Samuel Kuhn, wonach „das Fortschreiten naturwissenschaftlicher Erkenntnis sich nicht schrittweise und kontinuierlich vollzieht, sondern in Sprüngen [...]." Zitiert aus Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Fischer Verlag. Frankfurt/M., 1992, S. 687. Im übrigen, an einer diesbezüglichen Auseinandersetzung mit Kuhn lag mir nichts. Was er mit dem Begriff des Paradigmenwechsels im Bereich der Wissenschaftstheorie geleistet hat, versuche ich im Bereich der Geschichte der Philosophie. In diesem Kontext bestätigt selbstverständlich auch Max Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums, das zum Initialparadigma der Quantenphysik wurde, diese am Beispiel von Anaxagoras* NoCg gemachte Beobachtung. Tatsächlich vollzog sich der Paradigmenwechsel von der klassischen Physik zur Quantenphysik erst durch das Hinzutreten von Komplementärparadigmen, wie etwa die Hypothese der Lichtquanten (Albert Einstein), „die Entdeckung, daß Elektronen bestimmte Bahnen einnehmen bei ihrer Bewegung um die Kerne von Atomen" (Niels Bohr), die Entdeckung der Matrizenmechanik und der Wellenmechanik (Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger), wie auch die Entdeckung des Ausschließungsprinzips (Wolfgang Pauli). Das heißt also, daß Max Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums allein nicht den Paradigmenwechsel von der klassischen Physik zur Quantenphysik vollzogen hat. Die Anregung zu dieser Illustration des Paradigmenwechsels auch in der Physik entnahmen wir dem Essay von Anton Zeilinger „Ich dachte mir nicht viel dabei". Max Planck und die Geburt der Quantenphysik vor hundert Jahren. F.A.Z., Bilder und Zeiten. (9.12.2000). Der nämliche Vorgang des Paradigmenwechsels wird übrigens von A. J. Ayer um die Frage nach dem Fortschritt differenzierend thematisiert, d.h. offen bejahend im Falle der Naturwissenschaften, mit Reserven betrachtend in dem Fall der Philosophie. Da die Meinung also vorherrschend ist, in Gegensatz zu den Naturwissenschaften, sei der Fortschritt in der Philosophie nicht konstatierbar, sagt Ayer: „... I believe this charge to be unjust, even though the appearances are in its favour. What must be conceded is that if there is any progress in philosophy it does not take the linear form which characterizes the progress of a natural science [der Fortschritt als kontinuierlich, ineinandergehend, F. L.]. The historian of physics can show how the Ptolemaic system of astronomy was supplanted in the fifteenth century by the heliocentric system of Copernicus, how the Copernican system led to the development a century later of the theories of Kepler and Galileo, how these theories were improved and incorporated in Newton's classical mechanics, how Newton's principles came into conflict in the nineteenth century with the electromagnetic theory of Clerk Maxwell, himself building on the discoveries of Faraday, and how the conflict was resolved in Einstein's theories of relativity. [...] The transition is not always smooth, but however revolutionary the new theory may be, however much, like the quantum 9

I. Zur Frage des Paradigmenwechsels

17

„Bei den letzten Vertretern der Naturphilosophie bahnt sich bereits der Uebergang in die folgende Periode an, insbesondere in der Lehre des Anaxagoras von der selbständigen Existenz und der weltordnenden Macht des Novg, dem er als erster Vertreter eines entschiedenen Dualismus dem Stoff gegenüberstellt". 12 Anaxagoras Paradigmen Wechsel unterlag in der Antike selbst einem Wechsel. Denn „er erfaßte den Noug noch ganz abstrakt; er konnte deswegen auch das Bestimmte, Besondere nicht aus ihm ableiten." 13 Die Radikalität des nachfolgenden Paradigmenwechsels hielt sich jedoch in Grenzen, ging es dabei lediglich darum, „das Wesen der Welt zu erkennen". 14 „Die Entwicklung und der weitere Fortgang der Philosophie besteht daher in nichts anderem, als daß das Prinzip des Anax., der NoDg, der von nun an die bleibende Grundlage ist, nä-

theory, it breaks with established concepts, once it has proved its value as a tool of explanation and prediction, it wins general acceptance ..." So nun mit den Naturwissenschaften. Darin ist der Fortschritt, die dem Paradigmenwechsel immanente Dialektik, offenkundig. Anders steht es mit der Philosophie. Nicht so offenkundig gewiß, nicht so spektakulär, aber doch present: ,Jt is otherwise with philosophy. The historian of philosophy can, indeed, trace the influence of one philosopher upon another [...]. He can show, for example, how Berkeley reacted against Locke and in what ways Hume followed and repudiated both of them [...]. He can show the extent to which Descartes, the seventeenth century founder of modern western philosophy, still makes use of mediaeval concepts. He can show how Kant was inspired by what he saw as the need for refuting Hume, and what Hegel in his turn owed to Kant. There is, however, no question of one of these philosophers superseding another, except in the sense that his work may enjoy a period of greater popularity [Jeder für sich stand doch da als Vollender eines eigenen Paradigmenwechsels, v. Verf.]". Wie steht es nun mit dem Fortschritt in der Philosophie? Mit Ayers Worten: „In what then can the progress in philosophy consist? To find an answer, we must, I think, look not to the contributions which have been made to the subject by a series of eminent persons, but rather to the evolution of a set of perennial problems [wie sich also eine tragende Idee im Laufe der Zeit entwickelt, F. L.]." Abrundend sagt Ayer: „... the progress consists not in the disappearance of any of the age-old problems, not in the increasing dominance of one or other of the conflicting sects, but in a change in the fashion in which the problems are posed, and in an increasing measure of agreement concerning the character ot their solution. As in a guessing game, the players have not yet found the answers, but they have narrowed the area in which they can reside.", A. J. Ayer, Philosophy in the Twentieth Century, I. Philosophical Inheritance, S. 2, 13, 14. First Vintage Books Edition, New York, 1984. Apropos, den von Ayer, obzwar unthematisch, skizzierten Paradigmenwechsel statuiert Ludwig Feuerbach als Ansatz: „Jede Philosophie der Vergangenheit ist für eine spätere Zeit ein Paradoxon, eine Anomalie, ein Widerspruch mit ihrer Vernunft. Die Entwicklung hat die Aufgabe, diesen Widerspruch aufzulösen, dieses Paradoxon abzustreifen, den fremden Gedanken als einen wenigstens unter gewissen Bedingungen möglichen eignen Gedanken von uns nachzuweisen ...", Feuerbach, An Carl Riedel. Zur Berichtigung einer Skizze, Kleinere Schriften II., S. 7. 12 Ueberweg, ebd. S. 40. 13 Feuerbach, ebd. S. 56. 14

Ebenda.

18

I. Zur Frage des Paradigmen wechseis

her bestimmt und entwickelt wird." 1 5 Gewiß, „es beginnt ein neuer Anfang, eine neue Epoche für (die Philosophie)" 16 , ein Bruch, geschweige denn ein radikaler Bruch findet aber nicht statt: „Indem der ... Gedanke als Gedanke als das Prinzip der Dinge gesetzt ist, wird jetzt das Denken Gegenstand des Denkens ... Eine Folge hievon ist, daß jetzt auch das denkende Subjekt, der Mensch, in sich selbst gerichtet und vertieft, seiner Wesenhaftigkeit und Realität bewußt und gewiß wird, die Subjektivität als die Form des Absoluten erfaßt." 17 Damit hört die Subjektivität auf eine menschliche zu sein und wird eine göttliche. Dieser für das Mittelalter bestimmende Paradigmenwechsel vollzieht sich im Zeichen der Theologie und steht im großen und ganzen für die Scholastik. Insofern ist der für das Mittelalter charakteristische Paradigmenwechsel negativ besetzt. Das Denken ist ja immerwährende Tätigkeit. Die Denktätigkeit vollzieht sich in Gestalt eines Paradigmenwechsels. Inhaltlich kann die Denktätigkeit einen Fortschritt oder einen Rückschritt beinhalten. Entsprechend ist dann die Konnotation des Paradigmenwechsels. Bricht die inhaltliche Gemeinsamkeit ab, so ist der Paradigmenwechsel als negativ zu bewerten. Paradigmata, die substanziell sind, verglühen in der Geschichte nicht wie Meteoriten in dem Himmel. Sie bleiben doch, wie schon angedeutet, präsent, wirken offen oder im Verborgenen weiter. So auch bei Feuerbach. Er läßt in der Tat den Paradigmenwechsel der Neuzeit, sowohl hinsichtlich der Hinwendung zur Naturphilosophie als auch zur aufklärerischen Rationalität, an den Paradigmenwechsel der Antike, konkret an den von Anaxagoras vollzogen Paradigmenwechsel in Gestalt des Novg anknüpfen. Insofern hat Wolfgang Wahl recht: „Die Resultate seines Denkens ... beruhen im wesentlichen auf einer positiven Rezeption philosophischer Traditionsbestände, die weit hinter Hegel ansetzen".18 Dazu gehört das Urteil, „daß in Feuerbachs Denken verschiedene Traditionen zusammenfließen , . . " 1 9 In diesem Sinne ist Feuerbachs Satz selbstredend: „Wie die griechische Philosophie mit der Natur beginnt, so beginnt auch die neuere Philosophie mit der Naturphilosophie des Telesius" 20 . Für die Hinwendung zum Novg als aufklärerisch wirkendem Rationalitätsprinzip steht 15

Ebenda. Ebenda. 17 Ebd. S. 56-57. 18 Wolfgang Wahl, Das Prinzip Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs Transformation der spekulativen zur sinnlichen Vernunft. Philosophisches Jahrbuch, 107. Jahrgang 2000, S. 179. 19 Ebd. S. 177. 20 Ludwig Feuerbach, Werke in sechs Bänden. 2. Kritiken und Abhandlungen I (1832-1839), S. 164 (Rezension über J. E. Erdmanns Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie). Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1975. 16

I. Zur Frage des Paradigmenwechses

der Satz: „Das Wort Freiheit ist das fiat y das Schöpfungswort der neueren Zeit. Auf einem Freiheitsakt beruht vom Anfang an die neuere Philosophie. Macht euch frei vom Autoritätsglauben, frei von der Herrschaft des Aristoteles! waren die Worte, mit denen ein Patricius, ein Petrus Ramus, Ludovicus Vives, Telesius die befangene Menschheit aufweckten und den Morgen der neueren Zeit verkündeten ... Auch die spätem Philosophen beseelte das Schöpfungswort der neueren Zeit". 2 1 Das hängt damit zusammen, daß jedes neue Paradigma, das als solches nicht absolut da steht, einen Wechsel beinhaltet. So bei Giordano Bruno und seiner Einheit der Gegensätze. So bei Francis Bacon mit der Hinwendung zur Empirie. So bei Descartes mit dem Cogito ergo sum. So bei Spinoza mit der einen Substanz. So bei Leibniz mit der Monade. So bei Kant mit dem kategorischen Imperativ. So bei den Denkern des Deutschen Idealismus mit der Hinwendung zur Subjektivität. Noch plakativer zeigt sich das, wie bereits bemerkt, bei dem in dem Freiheitsbegriff zentrierten Paradigmenwechsel: Die Freiheit des Cogito ergo sum als Freiheit des Geistes von der Materie. 22 Die Freiheit der Substanz als Causa sui. Die Freiheit der Monade als Selbsttätigkeit. Im übrigen, dieser von Spinoza und Leibniz zum Paradigma erhobene Begriff der Freiheit war nach Feuerbach noch unvollkommen. In der Tat, „beide faßten die Freiheit in unfreien Formen ... Sie sprachen das Wort Freiheit nicht voll und selbständig aus", d.h., für beide „war (die Freiheit) nur ein Attribut, ein Adjektivum des Wesens".23 Das Paradigma der Freiheit nahm erst bei Kant, Fichte und Jakobi eine vollendetere Form ein. Sie „erhoben das Wort zu einem Substantiv, zum Hauptwort ihrer Philosophie".24 Ein so erhabenes Paradigma machte nun aber die Frage nach dem Ursprung unumgänglich: „Aber woher stammt das Wort, war jetzt die Frage. Kant leitete es aus dem kategorischen Imperativ ab; Jakobi hielt sich an das bloße Dasein des Worts ...", romantisch eingehaucht wollte er „das Geheimnis des unmittelbaren Wissens" nicht enthüllen; „Fichte erkannte in dem Wort ... die Ichheit überhaupt", die Ichheit an und für sich, d.h. das Recht des Ichs, da „selbst absolut, absolut zu postulieren". 25

21

Feuerbachs Rezension zu „Die Idee der Freiheit und der Begriff des Gedankens" von K. Bayer. Ebd. S. 137. 22 Ebd. S. 137-38. 23 Ebd. S. 138. 24 Ebenda. 25 Ebenda.

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I. Zur Frage des Paradigmen wechseis

Als Paradigma blieb die Freiheit jedoch unvollkommen, und zwar insofern, als sie in ihrem Seins- und Wirkungsbereich eingeschränkt wurde: „ . . . sie kamen alle darin überein, daß sie behaupteten: Das Wort ist ein reines Produkt des Geistes, es hat keine Wurzel in der Natur, ja, es hat nur Sinn im Gegensatze gegen die Natur begriffen und ausgesprochen".26 Gegen das Fernhalten der Göttlichkeit der Freiheit von der Natur erhob Schelling Einspruch. Schellings Hauptanliegen galt ja der Naturphilosophie. Als Idealist hätte er aber auch den Geist, nicht allein die Natur, zum System erheben sollen und in eine Philosophie der Freiheit einmünden lassen. Unter dem Einfluß der Mystik von Jakob Böhme blieb das aber aus. 27 Bis 1797 wäre das indessen möglich gewesen, als Böhmes Einfluß noch nicht fühlbar war und der Geist den Mittelpunkt von Schellings Denken bildete: „Bei Schelling ist (Geist) zwar 1795-97 regierender Fundamentalbegriff gewesen, dann aber - das ist auffällig und bedenkenswert nicht mehr ... bei ihm ist (Geist) nach 1797 nicht mehr Grundwort .. . " 2 8 Erst mit Hegels Geistesphilosophie (Idealismus) sollte das Paradigma der Freiheit zur Vollendung kommen: „Freiheit war dem Manne, in bezug auf das Fichtesche Nicht-Ich - und wie vieles in ihm ist nur aus historischen Relationen erklärbar? - sich zu seinem Anderen nicht als zu einem Gegensatze, sondern zu ihm als einem Wesen seines Wesens, als zu sich selbst zu verhalten. Freiheit war dem ... echt wissenschaftlichen [der Mystik abholden, v. Verf.] ... Manne nur der objektive, wissenschaftliche Geist - nicht die Vernunft als innerer Akt, als Akt der Einsicht, wie dem Spinoza, sondern die Vernunft als wirkliche Wissenschaft. Und Freiheit war ihm die Wissenschaft, weil sich hier der Geist zum Gegenstande nicht als einem Gegensatz, sondern als gedachtem, als in sein eignes Element versenktem, als dem seinigen verhält, weil hier der Geist bei sich selbst ist. Beisichselbstsein war ihm Freiheit". 29 So - mit der Vollendung der Philosophie der Subjektivität - vollendet sich bei Hegel der Paradigmenwechsel in Gestalt der Freiheit. Bei der prozeßhaften Bestimmung des Freiheitsbegriffes mit all den Facetten ist eines festzuhalten: „Die Freiheit bleibt das Fundament".30 Jeder Paradigmenwechsel, deuteten wir vorhin an, steht zwar für seine Zeit, darin jedoch nicht frei schwebend. Dies zeigt sich beim Paradigmenwechsel eines Anaxagoras, der ja zu dem Paradigmenwechsel der älteren ionischen Naturphilosophie in einer Beziehung der Hin- und Abwendung stand: 26

Ebenda. Ebd. S. 139. 28 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, S. 198. Schwabe & Co. Verlag. Basel/Stuttgart 1974. Herausgegeben von Joachim Ritter. 29 Feuerbach, ebenda. 30 Ebd. S. 137. 27

1. Der fortwirkende Konnex

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„Die jüngeren Naturphilosophen werden durch den Gegensatz der eleatischen Spekulation gegen die ältere Naturphilosophie zu Vermittlungsversuchen veranlaßt; sie nehmen mit den Eleaten die Unveränderlichkeit des Seienden, mit den voreleatischen Philosophen aber eine Vielheit des Seienden an und erklären die anscheinenden Veränderungen für Verbindungen und Trennungen unwandelbarer Urstoffe". 31 Von diesen Übergangsdenkern war Anaxagoras bekanntlich der Hauptvertreter.

1. Der fortwirkende Konnex So wie in der Antike, so zeigt sich auch im (christlichen) Mittelalter das Fortwirken des paradigmatischen Konnexes, wobei das Paradigma Gott in Hinwendung und Abwendung zum Paradigma Noög steht. Nicht die Rationalität ist wohl dabei bestimmend, sondern die Religiosität, nicht die Philosophie, sondern die Theologie. Ähnliches ist zu konstatieren bei der neueren Philosophie mit dem Paradigma der rationalen Spekulation, welche in einem Verhältnis der Hinwendung und Abwendung zur scholastischen Spekulation steht, wie die Philosophie zur Theologie. Auf diese Ideenkomplexität, von der ja der Paradigmenwechsel getragen wird, macht Feuerbach ausdrücklich aufmerksam: „Ist Cart. frei von historischen Reminiszenzen? Ist Leibniz nicht der Restaurator der substantiellen Formen? Am Ende dürfte man erst mit Kant die neuere Philosophie beginnen. Aber sind nicht Kants Nachfolger 32 auf das Prinzip der Koinzidenz der Gegensätze zurückgekommen, welches Bruno ausgesprochen33, und könnte man sie daher nicht auch als Restauratoren der italienischen Philosophie bezeichnen?"34 So stünde der Paradigmenwechsel, den Kants Erkenntnistheorie darstellt, nicht im luftleeren Raum 35 da, sondern gestützt auf festen, tradierten Boden: 31

Ueberweg, ebd. S. 40. Feuerbach meint hier vor allem Schelling und dessen Identitätsphilosophie. 33 „... das erhabene Prinzip ,della coincidenza de contraria ist das Prinzip der neuern Zeit und Philosophie", Feuerbachs Rezension über J. E. Erdmanns „Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung ...", S. 133. Erst spät nach Feuerbach hat die philosophische Forschung, so die von Walter Schulz, herausgestellt, daß Giordano Bruno dieses Prinzip von Nicolaus Cusanus („coincidentia oppositorum") hatte. Ob auf dem Umweg über Johannes Reuchlin („In mente datur coincidere contraria et contradictoria, quae in ratione longissime separantur", ebd., zweite Abt., S. 166) oder direkt, bleibt dahingestellt. 34 Ebd. S. 164. 35 Wie nachträglich festgestellt, verwendet auch Friedrich Jodl in seinem schönen Werk über Feuerbach diesen Topos, und zwar in einem ähnlich gelagerten Zusammen32

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

„ . . . so enthält gerade die Philosophie Kants die ihr vorangegangenen Philosophien des Idealismus, des Empirismus und Skeptizismus, ihren allgemeinen Prinzipien nach. So wesentlich sich auch Kant von einem Locke und dem Skeptiker David Hume durch den Umfang und die Tiefe seiner Untersuchungen, namentlich dadurch unterscheidet, daß er die allgemeinen Begriffe, die jene aus der Erfahrung entspringen ließen, vielmehr als die apriorische Bedingung und Möglichkeit der Erfahrung erkannte, so ist doch sein allbekanntes Resultat das Resultat des Empirismus, nämlich daß die reale Erkenntnis nur auf das Gebiet der Erfahrungsobjekte beschränkt ist, obwohl Kant dadurch wieder von dem eigentlichen Empiristen sich unterscheidet, daß er die Gegenstände der Erfahrung als bloße Erscheinung erkennt." 36 Das ist ja der notwendige Fort-Gang des Paradigmenwechsels: Anknüpfung am Vorhergehenden und Abstandnahme davon, wobei das „nil novi sub sole" 37 im Dämmerlicht aufscheint: „Die spätere Philosophie hat zu den frühern Systemen ein ebenso negatives als positives Verhältnis, sie ist die Kritik derselben. Was dem frühern System als das Absolute selbst galt, wird von dem spätem nur zu einem Moment des Absoluten herabgesetzt. Wenn übrigens Anaximander das ÖJIEIQOV als Prinzip setzte, so war dieses offenbar kein wesentlich andres als das Wasser des Thaies, denn das Wasser war dem Thaies in Beziehung auf die besondern, bestimmten hang. Die intellektuelle Redlichkeit gebietet, dies nicht einfach zu übergehen, sondern es festzuhalten: „Kein Gedanke, auch nicht der genialste, fällt fertig vom Himmel; keine Philosophie entsteht gleichsam im luftleeren Räume, abgelöst von einer geschichtlichen Situation, unabhängig von ihren logischen Voraussetzungen. Wie im Bereich der Naturwissenschaft und Technik, so sind auch auf philosophischem Gebiete bestimmte Probleme jeder Generation und jedem Individuum durch die Arbeiten der Früheren gegeben und gewisse Lösungen nur auf Grund dieser Vorarbeiten möglich. So wenig Newtons Entdeckungen denkbar wären ohne Kopernikus, Galilei, Kepler, so wenig sind Spinoza und Leibniz zu verstehen ohne Descartes, so wenig Kant ohne Locke und Hume, Schelling ohne das Bindeglied Fichte, welches ihn mit der Philosophie Kants verknüpft. Ein Einblick in diesen Zusammenhang ist für das Verständnis Feuerbachs und der Motive seiner philosophischen Gedankenarbeit fast unerläßlich. Denn die wichtigsten, die grundlegenden Sätze der Philosophie Feuerbachs erwachsen als Antithesen gegen die Hegeische Philosophie; ja vielleicht läßt sich die ganze historische Stellung Feuerbachs am kürzesten und schlagendsten so bezeichnen, daß man sagt, er nimmt mit der Philosophie Hegels eine Revolution vor gleich der, welche Kopernikus mit der Astronomie des Ptolomaeus vorgenommen hatte: was dort Zentrum des Alls gewesen war, der absolute Geist, rückt als bloße Projektion an die Peripherie; die Natur, dort eine Selbstentäußerung des Geistes, wird Zentralbegriff und Trägerin des geistigen Lebens", Friedrich Jodl, Ludwig Feuerbach. Ausgangspunkt der Philosophie Feuerbachs. I. Kapitel, S. 12. Fr. Frommanns Verlag. Stuttgart 1921. In unserem Kontext wäre auch der Vergleich mit Martin Luthers Leistung durchaus passend gewesen: „... er nimmt mit der Philosophie Hegels eine Revolution vor gleich der, welche" Martin Luther mit der Reformation vorgenommen hatte. 36 Feuerbach, Kritiken und Abhandlungen I., S. 92, Kritik des „Anti-Hegels". Zur Einleitung in das Studium der Philosophie. 37 Ebd., Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung ..., S. 131.

1. Der fortwirkende Konnex

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Dinge das unbestimmte Allgemeine, das ajisiQOV, das er aber unter dem Namen und der Gestalt des Wassers fixierte. Anaximander abstrahierte nur von diesem sinnlichen Substrat und nannte es schlechtweg das ajisiQOV. Anaximenes hob das Prinzip des ajteiQOV, das Unendliche, nicht auf, sondern bestimmte es nur wieder, und zwar als Luft, und scheint so beide in sich zu fassen und zu vermitteln, denn die Luft ist zugleich, wie das Wasser, wieder ein sinnliches Substrat, zugleich aber ein unbestimmteres, feineres, immaterielleres Prinzip als jenes. Es ist hier also der innigste Zusammenhang der Entwicklung." 38 Daran angeschlossen wäre nach der Quelle zu fragen, woraus der Paradigmenwechsel schöpft. Nun, „von jeher war es nur die Persönlichkeit und das Genie des Philosophen, das die Schranke des ihm zunächst vorangegangenen Systems durchbrach und so auf einen universelleren Standpunkt es erhob, obwohl dieser mit Notwendigkeit aus jenem hervorging, ja, das Genie nur dadurch als Genie sich beurkundete, daß es Vollstrecker dieser innern Notwendigkeit war." 39 Zum Beleg dafür sollen Fichte und Spinoza dienen. Im Falle Fichtes z.B. hat er die Gültigkeit des Kantischen Paradigmas des Ding-an-sich durch das Paradigma des Selbstbewußtseins außer Kraft gesetzt. Und Spinoza z.B. hat das Paradigma der zwei Substanzen, der res cogitans und der res externa, eines Cartesius durch das Paradigma der einen, alleinigen, universellen, göttlichen (göttlich insofern, als sie „in sich ist und durch sich vorgestellt wird" - in se est et per se concipitur 40) hinter sich gebracht. 41 So steht übrigens zu Recht Feuerbachs Schlußfolgerung: „Cartesius als den ausschließlichen Anfang [der neueren Philosophie] bestimmen ist gerade soviel, als wollte man etwa mit Anaxagoras, in dem allerdings die Philosophie Griechenlands erst zu Verstände kam, den Anfang machen." 42 (Die Bemerkung „zu Verstände kam" hängt zusammen mit Aristoteles' Urteil über Anaxagoras, dieser „sei durch die Ausstellung des Begriffs eines weltordnenden Geistes (Novg) wie ein Nüchterner unter Trunkene"). 43 Das gilt ebenfalls für den Zweifel, dessen sich schon Campanella bediente, freilich nicht als Methode, welche die Epoche der Kritik eröffnen sollte und woran Descartes das Hauptverdienst zustand: „Die Italiener ... erkannten doch schon den Wert und die Notwendigkeit des Zweifels, so Campanella (...). Wahr ist es, daß der Zweifel erst bei Cart. charakteristische Bedeutung hat ... Aber dessenungeachtet bezeichnet C. nicht den

38 39 40 41 42 43

Ebd., Zur Einleitung in das Studium der Philosophie, S. 90. Ebd., Kritik des „Anti-Hegel", S. 91. Ueberweg, ebd. 3, S. 282-3. Feuerbach, Kritik des „Anti-Hegels", ebd. S. 91. Ebd. Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung, S. 164. Ueberweg, ebd. S. 103.

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

Anfang der neuern Philosophie schlechtweg, sondern nur eine neue Epoche in der neuern Philosophie oder bestimmter die Epoche der Kritik" 44 Die Italiener können aber für sich das Verdienst beanspruchen, mit der Idee der Einheit einen Paradigmenwechsel vollzogen zu haben: „Nach allen Gesetzen der vernünftigen Logik und Historie gebührt aber nicht der Kritik, dem Unterschied, der Trennung der Anfang, sondern der Einheit. Und eben die Idee der Einheit repräsentieren die Italiener 45 - daher ihr Haß gegen den distinguierenden Aristoteles." 46 Über diese Idee sagt Feuerbach in Abgrenzung vom mittelalterlichen Denken: „ . . . im Unterschied von dem toten, formalen, Scholastizismus des Mittelalters ...", war diese Idee, als Koinzidenz der Gegensätze, „das charakteristische Prinzip der lebendigen neuern Philosophie [...]." 4 7 An anderer Stelle betont Feuerbach das Unterscheidungsmerkmal: „Dieses ist das Prinzip des Lebens selber, und nur durch dieses unterscheidet sich die neuere Philosophie von dem stagnierenden Scholastizismus des Mittelalters, der das trockne Gesetz der formalen Identität zu seinem Maße und Prinzipe hatte." 48 Zu dem (wohl vielfältigen) Paradigmenwechsel, der die Abnabelung vom Mittelalter mit sich brachte, steht bei der Hinwendung zur Naturphilosophie, was eine Wiederanknüpfung am griechischen naturphilosophischen Denken bedeutete,49 nicht allein Telesius da, sondern auch und wohl vor allem Francis Bacon. Im übrigen, die sachlich fundierte Entgegensetzung findet bei Feuerbach nicht zwischen Telesius und Bacon statt, sondern zwischen Bacon und Descartes. Dabei unterscheidet Feuerbach zwischen dem mittelbaren Vater der neuern Naturphilosophie und dem unmittelbaren Vater. Ist René Descartes kraft der spekulativen oder theoretischen Befassung („... setzt doch dem Wesen nach das Prinzip des selbstbewußten, sich im Unterschiede von der Natur erfassenden und sie als sein wesentliches Objekt sich gegenübersetzenden Geistes"50) der mittelbare Vater der neuern Naturphilosophie bzw. der Naturwissenschaft, so ist Francis Bacon der unmittelbare oder sinnliche Vater, sprach sich (in ihm) zuerst 44

Feuerbach, Rez. über J. E. Erdmanns, ebd. S. 166. Daß das Verdienst eher einem Deutschen, dem Cusanus gebührt, wurde bereits vermerkt. 46 Feuerbach, ebenda. 47 Ebd. S. 165. 48 Ebd., (erste Abt.), S. 133-134. 49 „Als der denkende, »freie 4 universelle Geist wiedererwacht war und sich ein objektives Dasein gab, war es daher eine notwendige Folge, daß [...] die Natur wieder zu Ehren kam [...], wurde daher jetzt [wie in der Antike, v. Verf.] wieder unmittelbarer Gegenstand der Anschauung, ihre Erforschung ein wesentliches Objekt der Philosophie ...", Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, Einleitung, § 7, S. 33. Akademie Verlag, Berlin 1960. 50 Ebd. S. 36. 45

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das Prinzip der Erfahrung als Methode aus.51 Übrigens steht für Bacon der Plural: „Naturwissenschaften". Das ist wohl ein Hinweis auf die höhere Bewertung der Erfahrungswissenschaften seitens Bacon. Später läßt Feuerbach Bacon gelten als „(den) wahren Vater der Naturwissenschaft, denn er ist es, der zuerst die Originalität der Natur erkannte - erkannte, daß die Natur nicht aus mathematischen, logischen und theologischen Voraussetzungen, Antizipationen, sondern nur aus sich selbst begriffen und erklärt werden könne und dürfe, während Cartesius seinen mathematischen Kopf zum Original der Natur macht." 52 Feuerbach faßt nun den Unterschied zwischen Descartes und Bacon zusammen: „B. nimmt die Natur, wie sie ist, bestimmt sie positiv, durch sich selbst, C. nur negativ, als das Gegenteil des Geistes; B. hat zu seinem Gegenstand die wirkliche Natur, C. nur eine abstrakte, mathematische, gemachte Natur." 53 Feuerbach hat diesbezüglich gar kein Verständnis dafür, daß man Bacon allein als Naturwissenschaftler betrachtet, nicht aber auch als Philosoph („Aber warum soll denn nun gar Bacon von der Geschichte der neuern Philosophie ausgeschlossen werden?" 54 ). Feuerbachs Interesse, Bacon als zur neueren Philosophie zugehörig, als ernsthaften Philosophen also anerkannt zu wissen, war zwar sachlich fundiert, eine persönliche Motivation begleitete aber auch dieses Interesses. Fürs erstere steht: „Er fordert wie Cartesius, als unerläßliche Bedingung der Erkenntnis die Verleugnung aller vorgefaßten Meinungen und den Zweifel an das unmittelbare Zeugnis der Sinne . . . " 5 5 Des weiteren attestiert ihm Feuerbach die Erfüllung der Bedingung, die einen Wissenschaftler zum Philosophen macht. Tatsächlich begründet Bacon die Bedeutung, „welche die Materie in der neuern Philosophie spielt, denn nur da, wo die Materie an sich, die Materie, wie sie Objekt der Metaphysik ist, zu Ehren kommt, positive wesenhafte Bedeutung hat, kann die Materie, wie sie bestimmte, wie sie Objekt der Sinne, der Empirie ist, die Augen der Menschheit entzünden und an sich, als ein der Erkenntnis würdiges Objekt fesseln. So hängt die Empirie mit der Metaphysik zusammen."56 So will Feuerbach auch angesehen werden: als ein Denker, der der Sinnlichkeit, der Materie, der Empirie metaphysischen Rang zuweist. Erich Thies' Beurteilung steht in dieser Linie. „Die positive Einbeziehung der Materie in das philosophische Denken ist für Feuerbach eines der großen Verdienste von Baco von Verulam und seiner Zeit." 5 7

51 52 53 54 55 56 57

Ebenda. Ebenda. Ebd. S. 37. Ebd., (zweite Abt.), S. 166. Ebd. S. 168. Ebd. S. 169. Ebd. Anmerkung 87, S. 361.

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

An dem Paradigmenwechsel der neueren Philosophie von der mittelalterlichscholastischen nahm also Bacons „Attribut der Empirie" eine zentrale Stellung ein. 58 Eine nicht mindere Rolle spielte er aber auch in dem Zug zur Originalität in Gestalt des Quellenstudiums: „Die neuere Philosophie beginnt, wo das Quellenstudium (in eigentlicher und metaphorischer Bedeutung) beginnt, wo nicht mehr das Kopierte, das Abgeleitete, das Überlieferte, das Mittelbare, sondern nur das Ursprüngliche das befriedigende Objekt des Geistes ist, wo daher - denn wie das Objekt, so der Geist unmittelbarer, urgründlicher, ursächlicher, d.i. primitiver Geist sich erhebt. Und ein solcher Geist, der nichts mehr in der Mitte zwischen sich und dem Objekt duldete, war auch in seiner Art und Weise Bacon." 59 Es sei hier im Vorbeigehen festgehalten, wie seriös und fundiert Feuerbach als Philosophiehistoriker war. Gewiß handhabt er das Begriffsinstrumentarium nicht wie die reinen, zumal späteren Philosophiehistoriker, wie Rudolf Eisler etwa über Bacon, 60 Scharfblick hat er aber im großen Maße. Und daß Feuerbach kein philosophisch systematischer Kopf war, wie Hegel etwa, stimmt wohl. Damit hat Wolfgang Wahl recht. 61 Und recht hat er auch damit: „Seine Schriften insgesamt bilden kein einheitliches System oder eine in sich geschlossene Lehre." 62 Aber auch diese abwertende Beurteilung hat Hegel zum Maßstab. Was die nächste Beurteilung Feuerbachs anbetrifft, so fällt sie sachlicher aus, weist immerhin auf den originellen Denker hin, der Feuerbach doch war, zu dem Vorwurf der Orientierungslosigkeit und Planlosigkeit („Er ist in philosophisches Neuland eingetreten, hat sich darin allerdings, mangels ge58

Ebd. S. 168. Ebd. S. 167. An dieser Stelle wollen wir die Anmerkung des Herausgebers in voller Länge übernehmen: „In den ,Erlanger Vorlesungen über die Geschichte der neuern Philosophie4 (1835/36) geht F. ausführlich auf diesen Zusammenhang ein: „Die erste Erscheinung des neuern Geistes in der Philosophie war daher ... die, daß man den Aristoteles von Angesicht zu Angesicht kennen lernte, ihn in seiner ursprünglichen Gestalt wieder herstellte ... und nicht den Aristoteles allein, sondern auch die übrigen Philosophien des Altertums ... erneuerte und unmittelbar aus sich selbst in ihren Originalwerken studierte. Das exklusiv-monotheistische Prinzip des Mittelalters hatte sich in der Philosophie in der alleinigen, ausschließlichen Herrschaft des Aristoteles ausgesprochen. Jener universale, pantheistische Sinn äußerte sich daher darin in der Philosophie, daß sich jetzt in ihr ein allgemeiner Sinn für Philosophie überhaupt und damit auch für unterschiedene Arten oder Systeme der Philosophie, eine Fähigkeit, sich die Gedanken Anderer anzueignen, ja die verschiedenartigsten, sich entgegengesetztesten Anschauungen in sich zu vereinen [entwickelte] ..." (SchrN I, S. 33). 60 ,3acon gehört zu den Begründern der neueren Philosophie, indem er scharf dem rein begrifflich-syllogistischen Verfahren der Scholastik entgegentritt, auf das Studium der Natur verweist und als Grundlage des Erkennens die Erfahrung und Induktion ansieht, so daß er der Begründer des neueren Empirismus ist", Rudolf Eisler, Philosophen-Lexikon. 61 Wolfgang Wahl, ebd. S. 178. 62 Ebd. S. 177. 59

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nauer Orientierungsmittel, ziemlich planlos bewegt." 63 ) indes wäre Wolfgang Wahl zu fragen, nach wessen Plan denn hätte sich Feuerbach bewegen sollen. Hier messen wir der Beurteilung von J. H. Ebrard mehr Bedeutung bei, denn er hat Feuerbach am Pult in Erlangen unmittelbar erlebt: „ . . . Weit entfernt, nach Art der Berliner Hegelianer, eines Michelet und Werder, die Geschichte der Philosophie in das vorher fertige Prokrustesbett der Hegeischen Begriffsentwicklungskategorien zu spannen, gab Feuerbach eine auf gründlichstem Quellenstudium ruhende, sehr treue und objektive Darstellung der einzelnen Systeme, insbesondere der Leibnizschen Monadenlehre, die mich mit ihrem streng theistischen Charakter in hohem Grade anzog .. Z' 6 4 Unter den modernen Feuerbach-Interpreten finden wir aber S. Rawidowicz' Ansatz durchaus angemessen: „Im Gegensatz zu verschiedenen neuen Äußerungen muß aber hinzugefügt werden, Feuerbach verdient eine viel ernstere philosophische Beachtung als manche glauben. Eine objektiv-historisch orientierte Betrachtung der Philosophie muß Feuerbach gerechter werden. Feuerbach ist nicht immer auf philosophisch-begrifflicher Höhe. Er hat zu seinem Schaden viele wichtige philosophische Disziplinen seines Meisters vernachlässigt. Man braucht aber doch keineswegs Feuerbachianer zu sein, um zu sagen, daß wir es hier mit einem der großen Wortführer der philosophischer Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts zu tun haben, daß er uns den Schlüssel für manche philosophischen und geisteswissenschaftlichen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts schmiedet, ja, daß er uns auch das Tor zu Hegel und seiner Schule öffnet." 65 Nun, daß Feuerbach ein origineller und in seiner Art systematischer Kopf, ja unseretwegen kein Philosoph, wohl aber ein Denker war, daran wollen wir festhalten und danach unser Vorgehen ausrichten. Im übrigen, als Retourkutsche zu dem unvorteilhaften Vergleich mit Hegel könnte Feuerbach selbst in Richtung Hegel einwenden: „Die Hegeische Philosophie ist überhaupt in ihrer Methode viel zu einförmig, in ihren Übergängen viel zu kompliziert, in ihren Bestimmungen viel zu abgesondert von der Anschauung des Menschen in der Natur, in ihrem ganzen Wesen viel zu widerspruchsvoll, in ihren historischen Beziehungen viel zu sehr noch behaftet mit allerlei Antiquitäten, als daß nicht auch hier, d.h. also auf dem Gebiete der Philosophie ebensogut wie anderwärts, die Scheidung des Lichts von der Finsternis, der Notwendigkeit von der Willkür, der Einheit vom Widerspruch, des Wesens vom Scheine, der Wahrheit vom Irrtum, ein dringendes Bedürfnis sein sollte." 66 63

Ebd. S. 178. Ludwig Feuerbach, Nachlaß I. Erlangen 1829-1832. Gesammelte Werke, 13. Vorbemerkung II., S. XVIH. 65 S. Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie. Ursprung und Schicksal. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1964, S. 507. 64

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

Beiläufig gesagt, anders als seine Beurteiler hat sich Feuerbach selbst hoch eingeschätzt. Sein „Wesen des Christentums" zumal erhebt er in den Rang einer prima philosophia und sich selbst hält er für einen zweiten Martin Luther 57: „Übrigens dürfen nur die Grundsätze dieser Schrift auf die übrigen Teile der Philosophie angewandt werden, um eine Reformation der gesamten Philosophie zu bewerkstelligen." 68 Feuerbachs Philosophie setzt in der Tat den Protestantismus Lutherischer Prägung voraus. Von der Gesamtaufgabe der neueren Zeit nämlich, und das heißt die „Verwirklichung und Vermenschlichung Gottes - die Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthropologie" 69 , besorgte der Protestantismus „die

66

Ludwig Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift „Das Wesen des Christentums", in: Kleinere Schriften II, S. 238. Akademie Verlag Berlin, 1970. 67 Der Vergleich mit Martin Luther ergab sich bei uns aus der direkten Beschäftigung mit Feuerbach, und zwar im Kontext des Deutschen Idealismus. Tatsächlich wäre ohne die Reformation, ohne den Protestantismus, Luthers Werk also, der Deutsche Idealismus nicht möglich gewesen. Tatsächlich liefert die protestantische Reformation die theoretische Grundlage für den Deutschen Idealismus. Nicht umsonst waren sämtliche Denker des Deutschen Idealismus, darin eingeschlossen Feuerbach selbst, Protestanten. Nicht ein Reformator im theologischen Bereich wollte Feuerbach sein, wohl aber im philosophischen Bereich. Er wollte in der Tat nicht eine neue Religion stiften, sondern eine neue Philosophie. Er wollte in einem Vollender und Verwinder des Deutschen Idealismus sein. Daß Feuerbachs Konnex mit Martin Luther bereits von anderen Forschern gesehen worden war, so in neuerer Zeit von S. Rawidowicz zum Beispiel (S. 161-162), zeigt übrigens, wie schwer es ist, originell zu sein. 68 Ebd. S. 239, Anmerkung. Es sei noch einmal bekräftigt, daß Feuerbach keine Stiftung einer neuen Religion intendierte, sondern auf der Grundlage der reformierten Religion (der Reformation also) wollte er eine reformierte Philosophie entstehen lassen, reformiert insofern, als darin die Theologie noch im Verborgenen wirkte. Des weiteren galt es bezüglich der Religion, (die Fesseln) „des religiös-negativen Geistes des Mittelalters" abzuschütteln, und der Philosophie, den in Aristoteles zentrierten Magister dixit durch den „denkenden, freien und universellen Geist" (Carlo Ascheri) abzulösen. Es sei an diese Stelle Feuerbachs ambivalentes Urteil über den Protestantismus festgehalten: „Das ambivalente Urteil über den Protestantismus wird jedoch in Feuerbach eine Konstante bleiben: Auf der einen Seite steht die vollkommene Bejahung des Säkularisierungs- und Humanisierungsprozesses des Lebens, wie ihn der Protestantismus auf moralischer und praktischer Ebene erwirkt, auf der anderen Seite stehen die Vorbehalte gegen den religiösen Wert des Protestantismus, den er in den frühen Schriften mit einem mittelalterlich-mystischen Christentum vergleicht und in den späten mit einem ursprünglichen frühkatholischen", Carlo Ascheri, Feuerbachs Bruch mit der Spekulation. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt 1969, S. 74, 75. So stehen also, wie Ascheri bemerkt, die „Vorläufigen Thesen zu einer Reform der Philosophie" den „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft" Pate (ebd., S. 104.) Nachher, mit dem „Wesen des Christentums", kommt die Präzisierung: Nicht mehr ein der Welt transzendenter Gott sollte obwalten, sondern ein der Welt immanenter, nämlich der Mensch selbst. 69 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 1, ebd., S. 265.

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religiöse oder praktische Weise". 70 Diesbezüglich schätzt Feuerbach den Protestantismus hoch: „Da der Protestantismus aus dem Wesen desselben Geistes hervorging, aus welchem die neuere Zeit und Philosophie entsprang, so steht er zu dieser in der innersten Beziehung, obgleich natürlich ein spezifischer Unterschied zwischen der Art, wie der Geist der neuern Zeit sich als religiöses Prinzip, und der Art, wie er sich als wissenschaftliches Prinzip verwirklichte, stattfindet. Wenn er bei Cartesius heißt: „Ich Denke, ich bin", d.h., mein Denken ist mein Sein, so heißt es dagegen bei Luther: Mein Glauben ist mein Sein. Wie jener die Einheit von Denken und Sein und als diese Einheit den Geist, dessen Sein nur das Denken ist, erkennt und als Prinzip der Philosophie setzt, so erfaßt dagegen dieser die Einheit von Glauben und Sein und spricht diese als Religion aus." 71 Auf den näheren Kontext, in dem beide stehen, geht Feuerbach weiter ein: „Wie ferner das Prinzip der neuern Zeit, wie es sich als Philosophie aussprach, mit dem Zweifel an der Realität und Wahrheit der sinnlichen Existenz anhob, so begann ebendasselbe, wie es als religiöser Glaube sich aussprach, mit dem Zweifel an der Realität einer historischen Existenz, an der Autorität der Kirche. Und eben diese Gewißheit des Geistes von seiner Objektivität ist es, die den Protestantismus in eine nahe Verwandtschaft mit der neuern Philosophie setzt." 72 Dadurch nun daß der Protestantismus „keine spekulative oder kontemplative Tendenz (mehr) hat", „(ist) er nicht mehr Theologie - er ist wesentlich nur Christologie, d.i. religiöse Anthropologie." 73 Feuerbachs Aufgabe wird dann sein, die Christologie in die Anthropologie aufgehen zu lassen, d.h. die religiöse Bestimmung der Anthropologie durch eine philosophische zu ersetzen. Dazu gehört aber auch die zu der „religiösen oder praktischen Weise" komplementäre Seite dieser Denkbewegung, nämlich die von Hegel herrührende philosophische oder spekulative („rationelle oder theoretische") Seite: „Die rationelle oder theoretische Verarbeitung und Auflösung des für die Religion jenseitigen, ungegenständlichen Gottes ist die spekulative Philosophie." 74 Für Feuerbach wäre denkunmöglich gewesen, unvermittelt aus Gott den Menschen werden zu lassen. Hegels Vermittlungsdialektik war dazu notwendig. Das Resultat dieser Dialektik, die Vermittlung, war nun Christus. In Christus geht also Gott ein und der Mensch auf. Diese Philosophie, die die Verabsolutierung 70

Ebd., § 2. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, Einleitung § 6, S. 27-28. 72 Ebd. S. 29. 73 Ebd. S. 28. 74 Ebd., § 4, S. 266. 71

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I. Zur Frage des Paradigmen wechseis

des Geistes in sich trägt, trägt in der Tat auch die Verabsolutierung des Menschen in sich: „Ihre [der Philosophie der Zukunft] Aufgabe war, aus der Philosophie des Absoluten, d.i. der Theologie, die Notwendigkeit der Philosophie des Menschen, d.i. der Anthropologie, abzuleiten und durch die Kritik der göttlichen Philosophie die Wahrheit der menschlichen zu begründen." 75 Ein solches Denken steht übrigens in einem noch größeren Kontext als in dem des „anthropologischen Materialismus" 76 , in dem Kontext nämlich der abendländischen Metaphysik. So hat sich Feuerbach selbst in seinen „Grundsätze^) ..." verstanden: die „menschlichen Empfindungen", betont Feuerbach, „haben ... keine empirische, anthropologische Bedeutung im Sinne der alten transzendenten Philosophie, sie haben ontologische, metaphysische Bedeutung." 77 Tatsächlich steht der Feuerbachsche Mensch in einer Linie mit dem (Anaxagorischen) Noug, dem (Platonischen) övxcag öv, dem (Aristotelischen) öv F| öv, dem (wiederum Aristotelischen) JTQÖTOV xivoftv, und nicht zuletzt mit dem pantheistischen ev x a i Jiav, und schließlich mit dem scholastischen Ens realissimum. Für die Neuzeit gilt das nicht minder: „Nur der Mensch ist der Grund und Boden des Fichteschen Ichs, der Grund und Boden der Leibnizschen Monade, der Grund und Boden des Absoluten." 78 Mit dem Menschen kommt also die geistesgeschichtliche Entwicklungslinie zum Abschluß: NovgGott-Geist-Mensch. Und doch steht sich der Mensch selbst im Wege. Gewiß, „der Mensch tritt an die Stelle des theologischen Gottesbegriffes und der idealistischen Vernunft. Der Mensch wird praktisch als das Absolute gesetzt ..." Aber, „so sehr auch Feuerbach den Menschen in der Anthropologie erhoben, und als höchstes Prinzip der Philosophie hingestellt hat, er kann ihn nicht einfach auf sich selbst stellen ..." Mit dem späten Schelling ausgedrückt: Der Mensch kann sich nicht in sich selbst begründen. Die Selbstbegründung vermag allein die Natur zu leisten. So muß Feuerbach den Menschen „notwendig einordnen in die Gesamtheit des Seins, die als Sinnlichkeit oder Natur bezeichnet wird ..." So steht bei Feuerbach letzten Endes „der Naturalismus über den Anthropologismus, die Metaphysik über die Philosophie."79

75

Ebd., Vorwort, S. 265. Die Skepsis über diese Betitelung teilen wir mit Alfred Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Piper Verlag, München. 1988, S. 75. 77 Ebd. S. 190. 78 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, Kleinere Schriften II, S. 262. 79 Nüdling, Ludwig Feuerbachs Religionsphilosophie. „Die Auflösung der Theologie in Anthropologie", 1961, Paderborn. S. 69; 82; 83. 76

1. Der fortwirkende Konnex

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Den Gang der Ausdifferenzierung der neuzeitlichen Philosophie als den der neueren Philosophie wollen wir nun weiterverfolgen. Feuerbach redet von der neueren Philosophie als von der Philosophie der Neuzeit. Der Komparativ („neuere") steht aber nicht isoliert da, vielmehr weist er auf das Korrelat hin - auf das dem Komparativ korrelierende Adjektiv: neu (das Neue, die neue Philosophie). Feuerbach, der ja historisch denkt, übersieht nicht den ideengeschichtlichen Kontext. 80 Welche ist nun aber die neue Philosophie, mit der die neuere korreliert? Die in dem Kontext gemeinte neue Philosophie ist weder eine gegenwärtige noch eine zukünftige Philosophie. Die neue, als der Rückbezug der neueren, Philosophie liegt bereits hinter dieser, nicht jedoch als eine tote, sondern als eine noch im Hintergrund wirkende. Das Neuere der Philosophie der Neuzeit war zunächst mal der Komparativ zum Mittelalter, das seinerseits im Vergleich zur Antike das Neue, das (substantivierte) Adjektiv darstellte, historisch zwar, aber auch philosophisch: das christlich bestimmte theologische Denken im Gegensatz zu dem heidnisch bestimmten ontologisch-rationalistischen Denken (Noug). Das Neuere der neueren Philosophie war aber auch der für die neuzeitliche Philosophie fruchtbare Komparativ zu dem Neuen, das die spekulative Scholastik darstellte hinsichtlich des in der neueren Philosophie wirkenden idealistisch-spekulativen Moments. Andererseits war das Neuere der neueren Philosophie auch der Komparativ zu dem Neuen, welches das Denken eines Anaxagoras darstellte im Vergleich zum vorhergehenden Denken, das in Folge zum alten 80 Das gilt natürlich auch für den Kontext Mittelalter-Antike: „Obgleich nämlich die scholastische Philosophie im Dienste der Kirche stand [...], ging sie doch hervor aus einem wissenschaftlichen Interesse, weckte und erzeugte sie doch freien Forschungsgeist und Sinn für die Erkenntnis. Sie machte die Gegenstände des Glaubens zu Gegenständen des Denkens [...], und indem sie die Sachen des bloßen Autoritätsglaubens zu beweisen und durch Gründe zu bekräftigen suchte, begründete sie gerade dadurch größtenteils wohl wider Wissen und Willen, die Autorität der Vernunft und brachte sie so ein anderes Prinzip in die Welt, als das der alten Kirche war, das Prinzip des denkenden Geistes, das Selbstbewußtsein der Vernunft, oder bereitete sie es doch wenigstens vor." Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, Einleitung, § 5, S. 21. Der Kontext, in dem das scholastische Denken steht, mit dem der antik-heidnischen Denktradition, eines Anaxagoras zumal, kommt klar zum Vorschein in diesen Sätzen. Feuerbach hegt freilich Zweifel über diese von ihm herausgestellte Fortschrittstendenz scholastischen Denkens. Dies wird ersichtlich in dem einschränkenden Satzteil „wohl wider Wissen und Willen", und ebenso in der einschränkenden Bewertung: „... oder bereitete sie es doch wenigstens vor". Offensichtlich rührt Feuerbachs Unsicherheit bei dieser Beurteilung daher, weil es ihm bewußt wird, daß sie eher für das ausgehende Mittelalter zutrifft, als für das ganze Mittelalter. Im übrigen wird der Kontext des Rückbezuges schöpferisch: „... so gelangte der menschliche Geist auch in neurer Zeit nur durch die Anschauung seiner als eines Objektes, d.i. die Erkenntnis und Assimilation des ihm im Innersten verwandten Geistes der Werke des klassischen Altertums zum wahrhaft selbständigen Selbstbewußtsein und damit zur Produktivität", Feuerbach, ebd., § 7, S. 31.

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Denken wurde. Bezüglich des Neuen des mittelalterlichen Denkens bedeutete das Neuere des neuzeitlichen Denkens zwar eine Anerkennung, gleichzeitig beinhaltete es aber eine Distanzierung, woraus es auch die Berechtigung schöpfte, als Adjektiv (in substantiver Bedeutung) aufzutreten, das Neue also zu vertreten. Das will auch heißen, daß die neuere Philosophie keinen Bruch, keinen radikalen Paradigmenwechsel darstellt, weder bezüglich der mittelalterlichen Philosophie noch bezüglich der antiken Philosophie. Andererseits ist der paradigmatische Prozeß zwar ein fortschreitender, nicht aber (inhaltlich) ein kontinuierlicher. Die solchermaßen charakterisierte neuere Philosophie ist offenkundig janusköpfig: Einmal nimmt sie teil an der theologisch bestimmten Philosophie des Mittelalters, und ein anderes Mal an der voüg-bestimmten antiken Philosophie. Darauf bezieht sich Karl Löwith: „Der neuzeitliche Geist ist unentschieden, ob er christlich oder heidnisch denken soll. Er sieht auf die Welt mit zwei verschiedenen Augen: mit dem des Glaubens und mit dem der Vernunft." 81 Hat also das empiristische und rationalistische Paradigma der neueren Philosophie seine Wurzel in der Antike, so hat das rational-spekulative Paradigma der neueren Philosophie seine Wurzel in dem scholastisch spekulativen Mittelalter. Letzteres wird deutlich in dem spekulativen Denken des Deutschen Idealismus. Dazu steht bei Feuerbach in aller Kürze: „Das Wesen der spekulativen Philosophie ist nichts andres als das rationalisierte, realisierte, vergegenwärtigte Wesen Gottes." 82 Ungeachtet des abgeleiteten Ursprungs trat aber die neuere Philosophie mit dem Anspruch auf, die neue zu sein. Während nun das Paradigma des Mittelalters in den Hintergrund gerät, tritt, wie gesagt, das neue, ja das erneuerte Paradigma den Siegeszug an. Der neue Paradigmenwechsel, der für die neuere Philosophie steht, soll fortan die Weiterentwicklung des philosophischen Denkens bestimmen. Der Blick wird also nicht mehr nach oben gerichtet, sondern augustinisch - nach innen. Die Wendung zur Subjektivität, nicht aber zu meiner oder zu deiner, sondern zur absoluten Subjektivität ist nun gegeben, und gegeben ist damit eine neue Variante des Paradigmen wechseis. Mit Feuerbach ausgedrückt: „Die neuere Philosophie suchte etwas unmittelbar Gewisses. Sie verwarf daher das grund- und bodenlose Denken der Scholastik, gründete die Philosophie 81 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 2. Aufl., S. 189. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1953. 82 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd., § 5, S. 266.

1. Der fortwirkende Konnex

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auf das Selbstbewußtsein, d.h. sie setzte an die Stelle des nur gedachten Wesens Gottes, des obersten, letzten Wesens der scholastischen Philosophie - das denkende Wesen, das Ich, den selbstbewußten Geist [. ..]." 83 Vertritt die Antike geschichtlich das Alte, das Mittelalter aber das vergleichsweise Neue, so kehrt sich die Relation philosophisch um: das Mittelalter vertritt das Alte, die Antike das Neue. So nun, indem das Paradigma der Neuzeit an das Paradigma der Antike anknüpft, zeigt sich der Paradigmenwechsel als Fortgang, in der Entgegensetzung aber zu dem Paradigma des Mittelalters zeigt sich der Paradigmenwechsel als Rückgang. Das neuzeitliche Paradigma setzt also die Neuheit des antiken Paradigmas fort. In diesem Kontext steht bei Ueberweg der Satz: „Die Philosophie der neueren Zeit beginnt mit einer Erneuerung der philosophischen Denkweisen und Schulrichtungen des Altertums. Aber es handelt sich dabei doch nicht bloß um eine Rezeption." 84 Während das Mittelalter philosophisch und geschichtlich für das Alte steht, steht die Neuzeit für das Neue. Die Frage ist nun, ob das in der Entgegensetzung zum Mittelalter auftretende Paradigma der Neuzeit, dem die Bestimmung Paradigmenwechsel zu Recht zusteht, auch bezüglich des anaxagorischen Paradigmas als Paradigmenwechsel gelten sollte. Gehen wir davon aus, daß die Geschichte des Denkens bei all den auftretenden Brüchen strukturell und funktionell sich als Kontinuum vollzieht, so ist die Einsicht zwingend, daß auch die Paradigmen, zumal wenn sie wesensverwandt sind, wie das antike und das neuzeitliche, nicht naturnotwendig zum Wechsel tendieren, sondern eher zum Wiederanknüpfen an ursprüngliche Paradigmen, so wie nicht Revolutionen, sondern eher evolutionäre Prozesse den Gang der (Welt-)Geschichte bestimmen. Daß ein solches Wiederanknüpfen kein automatisches, zwingendes sein kann, versteht sich von selbst, kann aber als Bewahrheitung des Dictums von Salomo dienen, wonach es unter der Sonne nichts Neues gäbe. Andererseits ist es aber doch so, daß, wie bereits angedeutet, der größte Fortschritt im philosophischen Denken von dem Paradigmenwechsel herrührt, für dessen Grundzug im Grundsätzlichen Feuerbachs Feststellung steht.85 Halten wir nun in großen Zügen rekapitulierend fest: Mit dem Novg als Prinzip der Philosophie vollzog die griechische Antike in der Person des Anaxagoras den Paradigmenwechsel, der für die Geistesgeschichte des Abendlandes bestimmend werden sollte. So erlangte im christlichen Mittelalter der über Plotin

83 84

S. 5. 85

Feuerbach, ebd., § 38, S. 320. Ueberweg, Geschichte der Philosophie, Band 3. Die Philosophie der Neuzeit, Siehe das Motto.

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I. Zur Frage des Paradigmenwechsels

tradierte Paradigmenwechsel volle Geltung. Dieser Paradigmenwechsel stand, wie bereits angedeutet, im Zeichen der Theologie. 86 Die von den Neuplatonikern vollzogene „Kehre" wurde also dadurch möglich, daß sie den NoCg (Geist, Denken, Vernunft) von der Materie auseinander hielt. Galt demnach vorher die Feststellung: „Die alte Philosophie ließ etwas außer dem Denken bestehen - einen Rest gleichsam übrig, der nicht in das Denken aufging. Das Bild dieses Seins außer dem Denken ist die Materie - das Substrat der Realität. [...]. Die alte Philosophie lebte noch im Unterschied vom Denken und Sein, ihr war noch nicht das Denken, der Geist, die Idee die alles befassende, d.i. die einzige, die ausschließliche, die absolute Realität. [.. .]" 87. So galt nunmehr die Feststellung: „Den Neuplatonikern dagegen ist die Materie, die materielle, die wirkliche Welt überhaupt, keine Instanz, keine Realität mehr." 88 Und: „Wo der Mensch aber nichts außer sich mehr hat, da sucht und findet er alles in sich, da setzt er an die Stelle der wirklichen Welt die imaginäre, die intelligible Welt, in der alles ist, was in der wirklichen, aber auf abstrakte, vorgestellte Weise. Selbst die Materie findet sich bei den Neuplatonikern in der immateriellen Welt, aber hier ist sie nur eine ideale, gedachte, imaginäre. Und wo der Mensch kein Wesen außer sich mehr hat, da setzt er sich in Gedanken ein Wesen [...]. Dieses Wesen ist Gott - das höchste Gut der Neuplatoniker." 89 So also, sozusagen von der Materie gereinigt, wurde der anaxagorische NoCg, die heidnische Philosophie überhaupt, zum Bestandteil des Paradigmenwechsels des christlichen Mittelalters - mit der Theologie als Achse. So lebte übrigens die einst stolze heidnische Philosophie zwar fort, aber, denaturiert, als theologische Philosophie bzw. als philosophische Theologie. So wurde sie schließlich zu einer ancilla theologiae. Als reiner Geist oder reine Vernunft trat schließlich Gott an die Stelle des Noög. 86 „Die neuplätoriische Philosophie unterscheidet sich von der alten [heidnischen, v. Verf.] nur dadurch, daß sie Theologie ist, während jene nur Philosophie ist", Feuerbach, ebd., § 29, S. 309. Daß sie Theologie wurde, ergab sich daraus, daß sie das, was die alte Philosophie außer dem Denken (dem NoCg) bestehen ließ, nämlich die Materie („die materielle, die wirkliche Welt überhaupt", ebenda) beiseite schob. Sie nahm also vorlieb mit dem von der Materie gereinigten Denken, mit dem reinen Denken also, und wurde so zur Theologie. 87 Ebenda. 88 Ebd. S. 310. 89

Ebenda.

1. Der fortwirkende Konnex

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Dem folgte die Neuzeit mit einem Paradigmenwechsel, der, obwohl nicht ganz urwüchsig, ebenso folgenreich werden sollte. Der Geist, nunmehr spekulativ orientiert, stand im Mittelpunkt des neuzeitlichen Paradigmenwechsels. Im Kontext der Neuzeit trat schließlich ein neuer Paradigmenwechsel in Erscheinung, der dazu bestimmt war, die Vollendung des Paradigmenwechsels zu vollziehen. Der Mensch bildete das Herz dieses Paradigmenwechsels. Der Mensch, eine eher metaphysische als im gemeinen Sinne anthropologische Kategorie, ließ nunmehr die neuere Philosophie sowie die im Zuge des Deutschen Idealismus, Hegels insbesondere, als neue auftretende Philosophie zur alten werden, und die von Feuerbach inaugurierte wurde dann zu der wirklich neuen Philosophie. Anders ausgedrückt: Bezeichnet Feuerbach die spekulative Philosophie, die Philosophie der absoluten Subjektivität, als die neuere Philosophie, insofern sie den jenseitigen Gott der Scholastik durch das Ich, das selbstbewußte Sein ersetzt, so bezeichnet er sie in Abgrenzung gegen seine eigene Philosophie als die alte, die eigene bezeichnet er folgerichtig als die neue.90 Besteht das Alte der alten Philosophie darin, daß sie „die Sinne nur in das Gebiet der Erscheinung, der Endlichkeit verstoßen [...]," 9 1 , so besteht das Neue der neuen Philosophie in der Rolle, die darin das Sinnliche spielt, das Sinnliche, d.h. das Wahre und Göttliche, das Sonnenklare und daher keines Beweises Bedürftige, das also, was kein Vermitteltes mehr ist, sondern Unmittelbares, das die Vermittlung bereits hinter sich gelassen hat. 92 So wird, mit Marx gesagt, die neuere Philosophie zur Vorgeschichte und die neue zur Geschichte. Mit Nüdling unpolemisch ausgedrückt: ,Jetzt ist die Zeit gekommen, wo die Geschichte Gericht hält über die neuere Zeit." 9 3 Das richterliche Korrektiv, Feuerbachs eigene Position, die neue Zeit, birgt indessen Kontroverses in sich, befindet sich ja die neue Zeit im Kampf mit der in der Gegenwart noch geltenden neueren Zeit. 90

Grob skizzierend sei das Ganze noch einmal festgehalten: Die alte Philosophie, das ist zunächst die scholastische. Gott ist ihr Prinzip. Das ist die hohe Zeit der Theologie. Das Mittelalter. Die alte Philosophie wird nun zur neueren Philosophie, indem Gott zur Vernunft wird. Das ist die Zeit des Rationalismus. Die Neuzeit. Die neuere Philosophie fällt aber in die alte Philosophie zurück, in die Theologie, wohl in die spekulative Theologie, indem die Vernunft verabsolutiert wird. Das ist die Zeit des Deutschen Idealismus. Die neue alte Philosophie wird nunmehr zur neuen Philosophie, indem die absolute, die göttliche Vernunft zur menschlichen Vernunft wird, d.h., indem die spekulative Theologie zur Theologie des Menschen, zur Anthropologie wird. Das ist also nach Feuerbach die neue Zeit, die Zeit der Anthropologie - Feuerbachs Zeit. Verständlicherweise beinhaltet das neue Alte eine andere Qualität als das alte Alte, ist es doch das Resultat eines Vermittlungsprozesses. Obwohl unterschiedlich, ist das (qualitative)Verhältnis zwischen dem Alten (Hegel) und dem Neuen (Feuerbach) doch enger, wird doch dabei der absolute Geist absoluter Mensch. 91 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd., § 40, S. 322. 92 Ebd., § 39, S. 321. 93 Nüdling, S. 102.

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

Angesichts dessen bleibt Feuerbach nichts anderes übrig, als die Erfüllung der neuen Zeit in die Zukunft zu projizieren, aus der Philosophie der Gegenwart in die Philosophie der Zukunft. Mit Nüdling erneut ausgedrückt: „Die Philosophie der Zukunft eröffnet die neue Zeit und zieht den Schlußstrich unter die Vergangenheit." 94 Gegen diese Wendung argumentiert Feuerbach indes: „Allein das Selbstbewußtsein der neuern Philosophie ist selbst wieder nur ein gedachtes, durch Abstraktion vermitteltes, also bezweifelbares Wesen. Unbezweifelbar, unmittelbar gewiß ist nur, was Objekt des Sinns, der Anschauung, der Empfindung ist." 9 5 Komplementär dazu steht der Satz, in dem die ontologische Metaphysik der Sinnlichkeit konkrete Gestalt annimmt: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch." 96 Als Bekräftigung der neuen Richtung der ontologischen Metaphysik ist der darauffolgende Satz zu verstehen: „Das Sein als Gegenstand des Seins - und nur dieses Sein ist erst Sein und verdient erst den Namen des Seins - ist das Sein des Sinns [...]." 97 Mit Hegels Begriffsinstrumentarium nimmt sich Feuerbach dann Hegel selbst vor. So zunächst differenzierend: „(Sagte) die alte Philosophie ...: Nur das Vernünftige ist das Wahre und Wirkliche, so sagt dagegen die neue Philosophie: Nur das Menschliche ist das Wahre und Wirkliche; denn das Menschliche nur ist das Vernünftige, der Mensch das Maß der Vernunft" 9* Dann aber noch entschiedener in Richtung Vollendung des Paradigmenwechsels: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit und Totalität, der Gegenstand der neuen Philosophie, ist auch nur einem wirklichen und ganzen Wesen Gegenstand. Die neue Philosophie hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht den absoluten, d.i. abstrakten, Geist, kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen.

94 95 96 97 98

Ebd. S. 103. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 38, S. 320. Ebd., § 32, S. 316. Ebd., § 34, S. 317. Ebd., § 51, S. 333.

1. Der fortwirkende Konnex

Die Realität, das Subjekt der Vernunft nicht das Ich, nicht die Vernunft." 99

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ist nur der Mensch. Der Mensch denkt,

Hegels Satz, „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig", 100 ist damit nun zur Makulatur geworden. Indem der Mensch sich durch die Vernunft definiert (der Mensch als Vernunftwesen) und da er die einzige Realität ist, definiert er durch sich selbst die Vernunft, und zwar als menschliche, nicht göttliche Vernunft. Sein und Vernünftigsein sind wohl weiterhin ein und dasselbe, das Verhältnis voneinander bestimmt aber nunmehr das Sein, der Mensch, nicht die Vernunft. Der Mensch, nicht die Vernunft als solche, ist seinsstiftend. Während Feuerbach hiermit auf Distanz zu Hegel geht, rückt er an Protagoras näher. Tatsächlich ist bei dem Satz Feuerbachs, der Mensch das Maß der Vernunft, der Homo-mensura-Sztz des Protagoras nicht zu übersehen: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind - Jidvxoov X Q ^ o n ^ v ^letQov ävÖQCojiog, TTT)V |X£V OVTCOV (bg EGTL, Xä)V 0 8 O I W OVTOOV (bg O V X E O T I V . 1 0 1

Die ontologisch-metaphysische Stiftung ist bei beiden, Feuerbach und Protagoras, wesensverwandt. Ein solcher Mensch ist nicht mehr wie bei Heidegger „der Hirt des Seins", sondern das Sein selbst. Dies wollen wir abstützen mit einer Bemerkung von Gerhart Schmidt: „Die ,neue Philosophie4, deren Programm Feuerbach zusammen mit der Hegelkritik entwickelt, mimt nicht nur die Sprache der Ontologie, sondern stellt sich selbst als Ontologie vor: als eine Lehre von Sein und Denken, von Wirklichkeit und Schein, von Entstehen und Vergehen." 102 Im Zuge des Paradigmenwechsels will Feuerbach - in Wirklichkeit bleibt das Vorhaben weitgehend postulativ - den radikalen Bruch mit dem Deutschen Idealismus, zumal mit Hegel, und der von ihnen fortgesetzten theologischen Denktradition vollziehen. Der Bruch soll radikal werden, also nicht allein der Art nach, sondern ebenso der Gattung nach, nicht zuletzt damit Feuerbachs eigene Philosophie den Anspruch erheben kann, die neue zu sein. Damit geht einher die Einstufung der vorhergehenden Philosophie, der Hegeischen vor allem, als die alte. Feuerbach will ja das Versäumnis seiner philosophischen „Vorar99 Ebenda. Bei Alfred Schmidt lesen wir diesbezüglich: „Es ist hier auf die anthropologische Kritik des idealistischen Ichbegriffs zurückzukommen. Nicht die res cogitans, das Selbstbewußtsein oder Denken denkt, sondern der leibhafte, individuell geprägte Mensch", A. Schmidt, S. 177. 100 G. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede, S. 14. Felix Meiner Verlag. 4. Aufl., 1955. 101 Diogenes Laäertius IX,51. Zitiert aus Rudolf Eislers Philosophen-Lexikon. 102 Gerhart Schmidt, Einleitung zu: Ludwig Feuerbachs „Grundsätze der Philosophie der Zukunft". Klostermann Verlag. Frankfurt/Main 1967, S. 21.

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

heiter" meiden, bei der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition auf halbem Wege geblieben zu sein: „Die bisherigen Reformversuche in der Philosophie unterscheiden sich mehr oder weniger nur der Art, nicht der Gattung nach von der alten [der scholastischen wohl, v. Verf.] Philosophie .. , " 1 0 3 Daß der Deutsche Idealismus, Hegel eingeschlossen, bei der Distanzierung von der Tradition nicht radikal vorging, war der Nachweis dafür, daß er doch eine verkappte Theologie geblieben ist. Tatsächlich erstrebte der Deutsche Idealismus, Hegel insbesondere, die Auflösung der Theologie nicht „im ganzen, wirklichen Wesen des Menschen", sondern lediglich „in der Vernunft" 104 . Das zeigt sich vor allem in Hegels „Wissenschaft der Logik". In der Tat: „Die Hegelsche ,Logik' ist die zur Vernunft und Gegenwart gebrachte, zur Logik gemachte Theologie" 105 Und damit zusammenhängend stellt Feuerbach fest: „Die spekulative Philosophie ist die wahre, die konsequente, die vernünftige Theologie." 1 0 6 Blieb das Denken des Deutschen Idealismus, das Hegeische zumal, aus Mangel an Radikalität noch an die Theologie gebunden, es hatte ja die Auflösung lediglich intellektuell, nicht aber auch existentiell vollzogen, so will Feuerbach den radikalen Bruch mit der Theologie vollziehen, indem er, jede Einseitigkeit meidend, sie ganz in der Anthropologie, im ganzen Menschen auflöst: „Die neue [Feuerbachs eigene, v. Verf.] Philosophie ist die vollständige, die absolute, die widerspruchslose Auflösung der Theologie in der Anthropologie; denn sie ist die Auflösung derselben nicht nur, wie die alte [die Hegeische insbesondere, v. Verf.] Philosophie, in der Vernunft, sondern im Herzen, kurz, im ganzen, wirklichen Wesen des Menschen." 107 Dabei vergißt Feuerbach - im Bewußtsein, daß er in einer Denktradition steht - nicht, die von den anderen geleistete Vorarbeit anzuerkennen: „Aber sie ist auch in dieser Beziehung nur das notwendige Resultat der alten Philosophie . . . " 1 0 8 In diesem Kontext steht der inhaltsreiche und bedeutungsvolle Satz, mit dem Feuerbach seine „Beurteilung der Schrift ,Das Wesen des Christentums 1" abschließt: „Die neue Periode der Philosophie beginnt mit der Inkarnation der Philosophie. Hegel gehört in das Alte Testament der neuen [Feuerbachs eigenen, v. Verf.] Philosophie. Hegel überwindet das Wesen der Philosophie als einer abstrakten Fakultät, aber selbst nur in abstracto; es ist nicht überwunden, er ist 103 104 105 106 107 108

Feuerbach, Kleinere Schriften II, ebd., § 67, S. 340. Vgl. hierzu ebd., § 53, S. 335. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 245. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd. § 5, S. 266. Feuerbach, ebd., § 53, S. 335. Ebenda.

1. Der fortwirkende Konnex

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selbst noch im Scholastizismus befangen. Die menschgewordene Philosophie ist allein die positive, d.i. wahre Philosophie." 109 Da verfährt Feuerbach ganz historisch. Die historische Einschätzung behält er bei, besonders Hegel gegenüber: „Die neue Philosophie ist die Realisation der Hegeischen, überhaupt bisherigen Philosophie - aber eine Realisation, die zugleich die Negation, und zwar widerspruchlose Negation, derselben ist." 1 1 0 An anderer Stelle: „Die Vollendung der neueren Philosophie ist die Hegeische Philosophie. Die historische Notwendigkeit und Rechtfertigung der neuen Philosophie knüpft sich daher hauptsächlich an die Kritik Hegels. iil u Feuerbachs eigene Philosophie steht also nicht für die ganze Geschichte der Philosophie, sondern lediglich für eine Periode, wohl für die Periode der postneuzeitlichen Philosophie. Gegen die bloß abstrakte, spekulative, also scholastische Philosophie, in deren Fängen auch ein Hegel gefangen blieb, bringt Feuerbach eine neue Philosophie ins Spiel, nämliche die eigene, die menschgewordene, die anthropologische, die im wahren Sinne positive Philosophie. Damit meint Feuerbach nicht „die sogenannte positive Philosophie", denn eine solche, bloß spekulative Philosophie, ist „das Ende der Philosophie." 112 An anderer Stelle bestimmt Feuerbach näher die von ihm gemeinte positive Philosophie: „Die neue, die allein positive Philosophie ist die Negation aller Schulphilosophie, ob sie gleich das Wahre derselben in sich enthält, ist die Negation der Philosophie als einer abstrakten, partikularen, d. h. scholastischen, Qualität: ... Die neue Philosophie ist keine abstrakte Qualität mehr, keine besondere Fakultät [wie es bei Hegel der Fall ist, v. Verf.] - sie ist der denkende Mensch selbst - der Mensch, der ist und sich weiß als das selbstbewußte Wesen der Natur, als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Staaten, als das Wesen der Religion - der Mensch, der ist und sich weiß als die wirkliche (nicht imaginäre [wie insbesondere bei Schelling und Hegel, v. Verf.]) absolute Identität aller Gegensätze und Widersprüche f...]." 1 1 3

109 Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift „Das Wesen des Christentums", ebd. S. 242. 110 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd., § 20, S. 295. 111 Ebd., § 19. 112 Feuerbach, Rez., über: Über das Wesen und die Bedeutung der spekulativen Philosophie und Theologie in der gegenwärtigen Zeit, mit besonderer Rücksicht auf die Religionsphilosophie. Spezielle Einleitung in die Philosophie und spekulative Theologie, von Dr. Sengler. in: Kritiken und Abhandlungen I., S. 180. 113 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, Kleinere Schriften I., S. 259-260.

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I. Zur Frage des Paradigmenwechses

Feuerbachs Zug zur Objektivität zeigt sich auch hier, wo er bei der Stiftung einer (eigenen) Religion(sphilosophie), die Rolle Hegels anerkennt. Feuerbach vertreibt Hegel also nicht aus dem neuen biblischen Paradies. Zwar spielt Hegel keine (aktive) Rolle in dem (für das Christentum) zentralen Testament, in dem Neuen nämlich, das reserviert Feuerbach für sich selbst, aber er läßt Hegel immerhin in dem auch zur Bibel gehörigen Alten Testament präsent sein. 114 Daß Feuerbach auf Ausgleich bedacht ist, zeigt auch der Satz: „Die neue Philosophie hat sich als Religionsphilosophie ebenso negativ als positiv ausgesprochen." 115 Zu der Definition e contrario, mit der Feuerbach seine Philosophie frei von Mißverständnissen halten will, fügt er hinzu: „Die neue Philosophie ist die Negation ebensowohl des Rationalismus als des Mystizismus, ebensowohl des Pantheismus als des Personalismus, ebensowohl des Atheismus als des Theismus; sie ist die Einheit aller dieser antithetischen Wahrheiten [...]." 116 Nun definiert Feuerbach seine Philosophie affirmativ: „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur; als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie - die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft. " 117 So, als Universalwissenschaft, die alles ergründet und begründet und die den Menschen als Einheit von Geist und Natur, ja das Seiende im ganzen zum Gegenstand hat, wird die Anthropologie zur prima philosophia. Feuerbachs griechisch-ionischen Hintergrund seines Denkens, der ja auch zu den Wurzeln seines Paradigmenwechsels zählt, legt er nun in programmatischer Weise offen: ,JDie Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden. Diese auf gegenseitiges Bedürfnis, auf innere Notwendigkeit gegründete Verbindung wird dauerhafter, glücklicher und fruchtbarer sein als die bisherige Mesalliance zwischen der Philosophie und Theologie." 118 114

S. 242. 115

Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift „Das Wesen des Christentums", ebd.

Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 260. Ebenda. 117 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd., § 55, S. 337. Friedrich Albert Lange verfolgte zweifellos eine richtige Fährte, als er Feuerbach ob der Bezeichnung „Universalwissenschaft" für die Anthropologie einen Idealisten hieß, vgl. hierzu Alfred Schmidt, S. 128. 118 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 262. 116

1. Der fortwirkende Konnex

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Für Hegels „absoluten Geist", den Widerpart des Menschen, hat Feuerbach zum Schluß nur Hohn übrig: Der „absolute Geist" ist der „abgeschiedene Geist" der Theologie, welcher in der Hegeischen Philosophie noch als Gespenst umgeht." 119 Diese beziehungsreiche Gespenstermetapher wird im übrigen nachher von Max Stirner übernommen und bei der Kritik am Deutschen Idealismus als Mongolentum angewandt. 120 Stellen wir abschließend fest: Vor allem die „Grundsätze der Philosophie der Zukunft" enthalten das Programm des Paradigmenwechsels, den Feuerbach vollbringen und vollenden sollte. Mit Recht sagt Feuerbach: „Die Konsequenzen dieser Grundsätze werden nicht ausbleiben." 121 Zu diesem Programm gehört der Wahlspruch (Feuerbachs): „Homo sum, humani nihil a me alienum puto - dieser Satz, in seiner universellsten und höchsten Bedeutung genommen, ist der Wahlspruch des neuen Philosophen/' 122 Der Paradigmenwechsel vollendet sich bei Feuerbach in doppelter Weise, philosophisch und religiös: In einem Atemzug stiftet er eine neue Philosophie und eine neue Religion, wobei die Philosophie das eigentliche Paradigma bildet, das für die Einheit beider steht: „Die alte Philosophie hat eine doppelte Wahrheit - die Wahrheit für sich selbst, die sich nicht um den Menschen bekümmerte - die Philosophie - , und die Wahrheit für den Menschen - die Religion. Die neue Philosophie dagegen, als die Philosophie des Menschen, ist auch wesentlich die Philosophie für den Menschen - sie hat [...] wesentlich eine praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische, Tendenz; sie tritt an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion." 123 Dieses Ergebnis ist übrigens bereits thematisiert worden in dem Werk „Das Wesen des Christentums", wofür der selbstredende Satz steht, mit dem die Vollendung des Paradigmenwechsels im weit- und religionsgeschichtlichen Kontext erscheint:

119

Ebd. S. 247. Vgl. hierzu Filadelfo Linares, Max Stirners Paradigmen Wechsel. Georg Olms Verlag. Hildesheim 1995. 121 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Kleinere Schriften II., Vorwort, S. 265. Darüber sagt Gerhart Schmidt: „Die Konsequenzen, die Feuerbach schließlich zog, führten von der Ontologie weg und machten die ,neue Philosophie' überflüssig", vgl. hierzu Gerhart Schmidt, S. 25. 122 Feuerbach, ebd., § 56, S. 337. (Kleinere Schriften II.) 123 Feuerbach, ebd., § 66, S. 340. 120

I. Zur Frage des Paradigmen wechseis

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,Jiomo homini Deus est - dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte." 124 Es sei abschließend, gleichsam als Zusammenfassung, festgehalten, daß der in der Neuzeit (neuere Philosophie) vollzogene Paradigmenwechsel bei Hegel zwar zur Vollendung kommt, diese Vollendung jedoch keine abschließende ist, sondern eine vermittelnde, mit der Aufgabe nämlich, der neuen (Feuerbachs) Philosophie den Weg zum Paradigmenwechsel zu bahnen. Der dabei zu vollziehende Paradigmenwechsel steht als Übergang des theologischen in das anthropologische Denken. Wo der Mensch nun zum Ens realissimum, wo die Theologie zur Anthropologie und diese selbst letzten Endes zur Metaphysik wird, da erreicht die Vollendung des Paradigmenwechsels den höchsten Grad, da kommt der Paradigmenwechsel zum Abschluß. Nun aber, da in der Frage des Paradigmenwechsels geschichtlich und dialektisch ein Ende sich von selbst verbietet, sei darum der Abschluß mit einem Satz aus dem einleitenden Motto versehen: „Ein neues Prinzip tritt immer mit einem neuen Namen auf; d.h. es erhebt einen Namen aus einem niedrigen, zurückgesetzten Stande in den Fürstenstand - macht ihn zur Bezeichnung des Höchsten [...]."

124

Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 28. Kapitel, Schlußanwendung, S. 390. Kritische Ausgabe. Philipp Reclam jun. Leipzig 1904.

II. Reformation und Reform Feuerbach ändert in der Ausgabe B der „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie" Reformation durch Reform. Was verbirgt sich dahinter? Ist diese Änderung substantiell, inhaltsreich, oder beinhaltet sie lediglich eine begriffliche Präzisierung? Bedenkt man, daß Feuerbach seine eigene Philosophie als die neue bezeichnet, und zwar in Abhebung von der alten, der theologisch getragenen spekulativen Philosophie des Deutschen Idealismus, so steht das Neue seiner Position für die Wendung des religiösen und philosophischen Diskurses, wobei das Theologisch-spekulative des alten Diskurses durch das „Theorie und Praxis verbindende" Anthropologische des neuen Diskurses ersetzt wird. Anders ausgedrückt: Indem Feuerbach Reformation durch Reform ersetzt, und sei es im Grunde lediglich postulativ, verläßt er den religionsphilosophischen Diskurs und tritt ein in den philosophisch-anthropologischen. So gesehen ist die Einschätzung von Nüdling - eine Einschätzung, die von der Anekdote Rawidowiczs getragen wird, Feuerbach halte sich für einen zweiten Martin Luther - kontrovers: „Feuerbach will Reformator sein nicht nur auf dem Gebiete der Philosophie, sondern vor allem und zunächst auf dem Gebiete der Theologie." 125 Mehr für sich hat seine andere, auf Karl Grün gestützte Beurteilung: „Feuerbach sieht es als seinen Beruf an, die Philosophie durch die Religion und die Religion durch die Philosophie zu reformieren." 126 Für diese Wendung stünde eher Reform denn Reformation, mit der Konnotation einer Säkularisierung religionsphilosophischen Denkens im Zeichen eines neuen Paradigmenwechsels, die Erhebung nämlich der Anthropologie zur Theologie, bzw. die Erniedrigung der Theologie zur Anthropologie. 127 Komplementär dazu stünden die Betrachtungen von Rawidowicz: „In seinen ,Thesen4 will Feuerbach die Reform und Erneuerung der Philosophie durch ihre Umstellung herbeiführen: durch Umstellung von Gott auf den Menschen, von der Theologie auf den Empirismus, auf die Natur- und Menschwirklichkeit. Nachdem Feuerbach im ,Wesen des Christentums4 die Theologie in Anthropologie aufgelöst zu haben glaubt, schreitet er in den »Thesen4 zur Auflösung der idealistischen Philosophie in Theologie" 128, in eine Theologie freilich, die wiederum in Anthropologie aufgeht. 125 126 127 128

Nüdling, S. 207. Ebenda. Nüdling zitiert aus K. Grün II. 119 u. 121. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, ebd. S. 43. S. Rawidowicz, S. 120.

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I

Reformation und Reform

Man staunt nicht wenig, wenn man von Feuerbach vernimmt, wie unschuldig das von ihm ausgelöste ideologische Beben sein soll: „Ich tue der Religion auch der spekulativen Philosophie oder Theologie - nichts weiter an, als daß ich ihr die Augen öffne . . . " 1 2 9 Nicht in der Stiftung einer neuen Religion sieht Feuerbach seine Aufgabe, wohl aber in einer radikalen Reform der Philosophie, die zwar eine religionsphilosophische Komponente hat, jedoch frei sein soll von der traditionellen (spekulativen) theologischen Komponente, welche den Deutschen Idealismus trägt. Denn zwar bewegt sich Feuerbachs Denken im Kontext des Deutschen Idealismus, eine unkritische Übernahme oder gar Neuauflage des Deutschen Idealismus intendiert Feuerbach aber nicht. 1 3 0 Nüdlings Beurteilung ist diesbezüglich zutreffend: „Das Unternehmen des Idealismus, alles Sein aus dem Begriff, alles Objektive aus dem Subjekt, wenn auch aus einem absoluten Subjekt, abzuleiten", bereitet nach Feuerbachs Auffassung „keine Garantie, die Wirklichkeit selbst zu treffen und im logischen Begriff zu fassen. [...] Der Gegenstand ist das dem Subjekt wirklich Entgegenstehende, das schlechthin Gegebene; das Denken hat nicht die Aufgabe, ihn aus sich hervorzubringen, aus sich zu entwickeln, es hat nur die Aufgabe, ihn hinzunehmen, seine Struktur erkennend sich zu eigen zu machen." 131 Im übrigen, daß der Begriff Reformation bei Feuerbach nicht partout religionsphilosophisch getragen ist, daß er eher den Sinn von Reform hat, zeigt der Satz: „Die Notwendigkeit und die Bedingungen einer totalen Reformation der Wissenschaften [sie! v. Verf.]. Die objektive Bedingung aber einer gründlichen Reformation der Wissenschaften ist, daß sie wieder auf die Erfahrung und die Naturphilosophie, von der sie sich seither losgerissen haben, zurückgeführt werden." 1 3 2 Daß Feuerbach nicht päpstlicher als der Papst, bzw. lutheranischerer als Luther sein wollte, daß er eher an Reform als an Reformation gedacht hat, als er den Begriff Reformation benutzte, sehen wir an einer anderen Stelle bestätigt, 129

Feuerbach, ebenda. So gesehen ist die Einschätzung von Rawidowicz zuzustimmen: „Viel mehr als all die anderen Wortführer der verschiedenen Abarten des Naturalismus, Materialismus und Positivismus in der deutschen Philosophie nach Hegel stand Feuerbach in innerer Beziehung zum deutschen Idealismus und zur Spekulation überhaupt, aus denen er herausgewachsen ist, und mit denen er sich auf kritischem Wege beinahe sein ganzes Leben hindurch auseinandergesetzt hat", S. Rawidowicz, S. 9. 131 G. Nüdling, S. 136. 132 Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, S. 64-65. 130

II. Reformation und Reform

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und zwar im Zusammenhang mit einer Rezension seiner Schrift „Das Wesen des Christentums": „Die welthistorische Frucht und Bedeutung des Protestantismus ist nicht die Religion, sondern die Wissenschaft." 133 In einer Art eschatologischer Erwartung reichen Reformation und Reform sich die Hand in Feuerbachs Denken, wobei Feuerbachs Sendungsbewußtsein unübersehbar wird. Das kommt deutlich zum Vorschein in Nüdlings nachfolgenden Ausführungen: „Feuerbach glaubt, daß die Menschheit in seiner Zeit ähnlich wie am Ausgang des Mittelalters an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer weltanschaulichen Orientierung angekommen ist. Die religiöse Reformation und die spekulative Philosophie haben in der Vergangenheit die alte Welt der Theologie aufgelöst und abgelöst, jetzt ist die Zeit gekommen, wo die Geschichte Gericht hält über die neuere Zeit. In der Gegenwart schlägt der Pantheismus um in Atheismus, der Idealismus wandelt sich in Anthropologismus." 134 Steht Reformation nun für eine vollbrachte religionsphilosophische Leistung, so steht Reform für eine zu vollbringende anthropologisch-philosophische Leistung. Anders gewendet: Religionsphilosophisch orientierte Feuerbach sich an dem Geiste der Reformation, an Martin Luther also, philosophisch (metaphysisch) orientierte er sich an Hegels idealistischer Spekulation. Für beides steht die eigene vollbrachte Leistung. Religionsphilosophisch ist Feuerbach Reformator, philosophisch Reformer. Daß Feuerbach indes den Begriff Reformation vor dem Begriff Reform bevorzugt, erklärt sich nicht zuletzt aus der größeren Sprengkraft des Begriffes Reformation, eine Sprengkraft, die sich in der Religionskritik bereits bewährt hat und von der Feuerbach sich dieselbe positive Wirkung erhofft in der Übertragung auf die Philosophiekritik. So sagt er: „Die Methode der reformatorischen Kritik der spekulativen Philosophie überhaupt unterscheidet sich nicht von der bereits in der Religionsphilosophie angewandten." 135 In der Schrift „Das Wesen des Christentums" lesen wir diesbezüglich: „Übrigens dürfen nur die Grundsätze dieser Schrift auf die übrigen Teile der Philosophie angewandt werden, um eine Reformation der gesamten Philosophie zu bewerkstelligen." 136

133 Feuerbach, Rez. über „Das Wesen des Christentums", Kleinere Schriften II, S. 205. 134 G. Nüdling, S. 102-103. 135 Feuerbach, ebd. S. 244. 136 Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift „Das Wesen des Christentums", Kleinere Schriften II, S. 239.

II. Reformation und Reform

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Die mit der Neuzeit eingeleitete Wendung zur Subjektivität in Gestalt der Anthropologie, mit der eine radikale Trennung von Religion und Theologie erfolgte, nennt Feuerbach nicht ganz zutreffend „neue Religion": „Die große Wendung der Religion zum Menschen, die seiner [Feuerbachs, v. Verf.] Auffassung nach in der Reformationszeit erfolgte, will er ganz zu Ende führen, der Religion einen rein menschlichen Inhalt geben." 137 Es ging indes dabei eher um eine Neubewertung des Menschen als um eine Neubewertung der Religion. So heißt die als „neue Religion" ausgegebene (neue) Philosophie Anthropologie 138: „Die Anthropologie will eine völlige Umorientierung im Denken und Handeln der Menschheit bringen; sie will an die Stelle der Gottesliebe die Menschenliebe als die einzige wahre Religion setzen, an die Stelle des Gottesglaubens den Glauben an den Menschen an sich .. . " 1 3 9 Und als Bekräftigung dessen, daß es sich dabei wohl um eine neue Philosophie handelt, wird der einheitsstiftende Zug herausgestellt: „Die Anthropologie soll das dualistische Mensch- und Weltbild der alten Religion und Theologie ablösen durch eine neue Einheitslehre .. . " 1 4 0 Das will auch heißen, daß Martin Luthers Leistung, indem er Religion und Theologie nicht radikal trennte, unvollständig blieb. Als Vorbereitung zum nächsten Abschnitt gilt nun der Hinweis, daß die Reformation, als Ergebnis der Entbergung einer verborgenen Wahrheit, ihrerseits eine Wahrheit in sich birgt, nämlich eine theologisch unbelastete Religion, die als solche einem austauschbaren Gott den Weg bereitet.

137 138 139 140

G. Nüdling, S. 210. Ebd. S. 207. Ebd. S. 210-211. Ebd. S. 208.

QI. Umhüllungsdialektik 1. Weltanschauungskomplex In einem Konnex mit den vorhergehenden Betrachtungen steht das eigentliche Anliegen von Feuerbach, nämlich den inneren Zusammenhang von Theologie, Philosophie und Anthropologie in einem Prozeß des Entbergens zutage zu fördern. Alle und jede dieser Weltanschauungen für sich sollen demnach ein Geheimnis, eine Wahrheit in sich tragen, jede soll ein Geheimnis verbergen, die sich als die Wahrheit der anderen ent-birgt. Es wird nun klar, was Feüerbach in den Grundsätzen intendiert, nämlich „aus der Philosophie des Absoluten, d.i. der Theologie, die Notwendigkeit der Philosophie des Menschen, d.i. der Anthropologie, abzuleiten." 141 Damit ist auch gesagt, daß Feuerbach weder die Existenzberechtigung der Theologie noch die der Philosophie an und für sich in Frage stellt. Was er in Frage stellt, ist eine ideologisierte Theologie wie auch eine ideologisierte Philosophie, die im Zeichen der Selbstentfremdung stehen. Eine solche selbst entfremdete Theologie ist die spekulative Theologie und eine solche selbst entfremdete Philosophie ist die spekulative Philosophie. Erst als spekulativ werden sie dann auch „geheimnisvoll", enthalten sie ein Geheimnis. Indessen, daß Feuerbach weder der Theologie noch der Philosophie an und für sich eine Absage erteilt, ja erteilen kann, ergibt sich aus dem Umstand, daß seine eigene Anthropologie sowohl theologisch als auch philosophisch besetzt ist. Was ist nun im einzelnen die Wahrheit, das Geheimnis, das diese Weltanschauungen, jede für sich, verbirgt? Was ist zum Beispiel die Wahrheit, das Geheimnis der Theologie? Geht man davon aus, daß die Theologie von Gott handelt, dann kann Gott selber, in Person, nicht das Geheimnis der Theologie sein. Sachgemäß muß die Frage somit lauten: Was verbirgt sich hinter Gott? Welches Geheimnis hütet er? So einfach ist die Enthüllung aber nicht. Bei der Theologie muß in der Tat unterschieden werden zwischen einer vordergründigen und einer hintergründigen Wahrheit. Die vordergründige Wahrheit der Theologie ist bekanntlich Gott. Hinter dieser Wahrheit verbirgt sich aber eine wohl tiefere, im Hintergrund wirkende Wahrheit, nämlich die Wahrheit des Menschen. Hinter Gott verbirgt sich also der Mensch und als Gott entbirgt der Mensch sich. Dafür steht der Satz: „Das Geheimnis der Theologie ist die An141 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Kleinere Schriften II, S. 265.

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III. Umhüllungsdialektik

thropologie .. , " 1 4 2 Mit F. Jodl ausgedrückt: „Das Geheimnis der Theologie löst die Anthropologie , . . " 1 4 3 Wie ersichtlich, steht Feuerbachs Gattungswesen Mensch theologisch für Gott. Die Anthropologie als die verhüllte Wahrheit der Theologie, damit steht Feuerbach in der Tradition der Identitätsphilosophie. Der Mensch, das Subjekt und Objekt der Anthropologie, wird zum Subjekt-Objekt der Theologie. Und nun, so wie die im Vordergrund wirkende Wahrheit der Theologie als spekulativ gilt, so gilt ihre im Hintergrund wirkende Wahrheit als empirisch, konkret. Feuerbachs Mensch soll ja keine Abstraktion sein. Dem gilt übrigens Feuerbachs Stellungnahme vor allem gegen die (nicht ganz falsche) Mißdeutung von Stirner. 144 Wie steht es nunmehr mit der Philosophie? Welches Geheimnis verbirgt sie? wie lautet ihre Wahrheit? Es sei zunächst eine begriffliche Präzisierung durchgeführt. Wie vorhin mit der Theologie, so auch jetzt mit der Philosophie. Auch die Philosophie hat zwei Ausrichtungen, eine spekulative (abstrakte) und eine empirische. Nach der spekulativen Ausrichtung ist die Wahrheit der Philosophie, ihr Geheimnis, das Absolute. Was spekulativ philosophisch für das Absolute gilt, gilt spekulativ theologisch für Gott. So ist „das Geheimnis der spekulativen Philosophie die spekulative Theologie." 145 Und so ist wiederum die spekulative Theologie die Wahrheit der spekulativen Philosophie. Im Gegensatz dazu steht die empirische Ausrichtung der Philosophie, welche „aus der Philosophie des Absoluten, d.i. der Theologie, die Notwendigkeit der Philosophie des Menschen, d.i. der Anthropologie" ableiten „und durch die Kritik der göttlichen Philosophie die Wahrheit der menschlichen begründen ... (will)." 1 4 6 Das heißt also: Hinter dem Absoluten, dem Gegenstand der spekulativen Philoso142 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd., S. 243. Daß die Theologie Anthropologie ist, hält Feuerbach übrigens für längst bewiesen, jedenfalls hat er es im „Wesen des Christentums" bereits vorgebracht: „Was nämlich in dieser Schrift sozusagen a priori bewiesen wird, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist, das hat längst a posteriori die Geschichte der Theologie bewiesen und bestätigt", Feuerbach, Das Wesen des Christentums, ebd. S. 27. Zu demselben Ergebnis kommt Feuerbach nachher von der Anthropologie her betrachtet: „So nur bekommen wir eine wahre, in sich befriedigte Einheit des göttlichen und menschlichen Wesens mit sich selbst - so nur, wenn wir nicht mehr eine besondere, von der Psychologie oder Anthropologie unterschiedene Religionsphilosophie oder Theologie haben, sondern die Anthropologie selbst als Theologie erkennen", ebd. S. 341. 143 Friedrich Jodl, S. 113. 144 Vgl. hierzu Feuerbach, Über das „Wesen des Christentums" in Beziehung auf den „Einzigen und sein Eigentum", Kleinere Schriften II, ebd. 27 ff. 145 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebenda. 146 Ebd. S. 265. (Vorwort. Bruckberg, den 9. Juni 1843.) Im Gegensatz zu der spekulativen, neueren Philosophie hat also die Feuerbachsche, „die neue Philosophie zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich ..., die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen", Alfred Schmidt, S. 169-170.

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phie, verbirgt sich Gott, (der Gegenstand der spekulativen Theologie), in der Entbergung aber wiederum dahinter der (konkrete, wirkliche) Mensch. Nun, so wie die spekulative Philosophie eine verkappte Theologie ist, so ist die spekulative Theologie eine verkappte Anthropologie. Durch die wesensimmanente Entwicklung erweist sich die Theologie als Anthropologie. So sagt Feuerbach: „Die Theologie ist längst zur Anthropologie geworden. So hat die Geschichte realisiert, zu einem Gegenstande des Bewußtseins gemacht, was an sich - hierin ist die Methode Hegels vollkommen richtig, historisch begründet - das Wesen der Theologie war." 1 4 7 Um das Ganze in den Griff zu bekommen, sei hierbei verweilt. Feuerbach ist, wie gesagt, nicht gegen die Theologie im allgemeinen, wohl aber gegen eine Theologie, die den Menschen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Gott setzt. Diese Theologie nennt er spekulative Theologie. Spekulativ ist diese Theologie, weil sie von einer bloßen Idee getragen wird. Und wiederum ist Feuerbach nicht gegen die Philosophie im allgemeinen, sondern gegen eine Philosophie, die nicht Konkretes, Wirkliches zum Gegenstand hat, sondern eine bloße Idee. Eine solche Philosophie nennt Feuerbach bekanntlich spekulative Philosophie. Und da beide, spekulative Theologie und spekulative Philosophie, die Idee zum Gegenstand haben, darum setzt Feuerbach sie beide als gleichbedeutend. So kommen die spekulative Theologie und die spekulative Philosophie negativ zur Deckung. Ist nun aber der Gegenstand der Philosophie keine Idee, nichts Abstraktes, sondern etwas Wirkliches, der Mensch also, so bejaht Feuerbach sie. Und ist wiederum der Gegenstand der Theologie keine bloße Idee, Gott als abstraktes Wesen etwa, sondern etwas Wirkliches, Konkretes, Sinnliches, der Mensch also, so bejaht Feuerbach sie. So kommen sie beide positiv zur Dekkung, und zwar als Anthropologie. Und nun, so wie die Theologie nicht aufhört, wenn die Anthropologie an deren Stelle tritt, wenn der Mensch an Gottes Stelle tritt („Indem ich die Theologie zur Anthropologie erniedrige, erhebe ich vielmehr die Anthropologie zur Theologie" 148 ), so hört die Philosophie nicht auf, wenn die Idee durch den Menschen ersetzt wird. In der Tat, indem die Philosophie Anthropologie wird, wird die Anthropologie Philosophie. Dabei wird aber die Philosophie zur ancilla anthropologiae. Tatsächlich nimmt Feuerbach das Wort Anthropologie „in einem unendlich höhern und allgemeineren Sinne" 149 , wohl in dem Sinne von prima philosophia. Ist aber die Anthropologie nicht ebenso spekulativ, d.h. abstrakt, wie die spekulative Philosophie bzw. wie die spekulative Theologie? Definiert sich eine 147 148 149

Feuerbach, Das Wesen des Christentums, ebd. S. 28. Ebd. S. 43. Ebenda.

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Wissenschaft durch den Gegenstand, so ist die Anthropologie nicht spekulativ, abstrakt, sondern vielmehr konkret, bestimmt, soll doch ihr Gegenstand, das Gattungswesen Mensch, konkret, bestimmt, wirklich sein. Die der spekulativen Philosophie eigentümliche Realität, das heißt, ihr eigentümlicher Gegenstand, das ist, wie schon angedeutet, das Absolute, die Substanz, die Idee, der Geist. Das Absolute, die Substanz, die Idee, der Geist als Gegenstand der spekulativen Philosophie, ist eigentlich kein Geheimnis. In der Tat, was sich hinter dem Absoluten, der Substanz, der Idee, dem Geist verbirgt, deren Geheimnis, ist „die andere Realität". Diese andere Realität ist die Realität Gottes. Das Absolute, die Substanz, die Idee, der Geist, das sind bekanntlich substitutive Begriffe für Gott. Gott ist, das steht inzwischen fest, das Geheimnis der spekulativen Philosophie. Indem Gott zum Gegenstand der spekulativen Philosophie wird, wird diese zur spekulativen Theologie. Die spekulative Philosophie als spekulative Theologie hat ein letzthiniges und alles tragendes Geheimnis. Hinter diesem radikalen Geheimnis verbirgt sich, wie schon gesehen, stellvertretend für die Theologie, die Anthropologie, und das heißt, stellvertretend für Gott, der Mensch. Steht der Mensch für Gott, so steht er für das Absolute, für die Substanz, die Idee, den Geist. So ist die Anthropologie das Geheimnis der spekulativen Philosophie. Der Mensch zeigt sich nun als die einzige, an und für sich seiende Realität; er ist letztens der Gegenstand sowohl der spekulativen Theologie als auch der spekulativen Philosophie. An und für sich betrachtet, als letztbegründend, als prima philosophia, verbirgt die Anthropologie kein Geheimnis, alles liegt in ihr doch offen vor. Jedoch, indem Gott und Mensch eins sind (Gott ist Mensch, der Mensch ist Gott), so ist die Anthropologie zwar keine „geheimnisträchtige" (natürliche) Theologie, wohl aber eine geoffenbarte Theologie. (Bekanntlich beruht hauptsächlich darauf Stirners Vorwurf an Feuerbachs Adresse.) Feuerbach setzt nun aber Theologie und spekulative Philosophie - als spekulative Theologie - in Gegensatz. Die Begründung dafür ist der Gegenstand, die „Ausrichtung" beider. In diesem Kontext steht die Differenzierung der spekulativen Theologie von der gemeinen Theologie. Darüber sagt Feuerbach: „ . . . die spekulative Theologie, welche sich dadurch von der gemeinen unterscheidet, daß sie das von dieser aus Furcht und Unverstand in das Jenseits entfernte göttliche Wesen ins Dieseits versetzt, d.h. vergegenwärtigt, bestimmt, realisiert." 15° Während nun die spekulative Theologie, anthropologisch ausgerichtet, von einem diesseitigen Gott ausgeht, geht die gemeine, metaphysisch ausgerichtet Theologie von einem jenseitigen Gott aus. Während also der Gegenstand der gemeinen (theistisch getragenen) Theologie ein welttranszendenter Gott ist, ist 150

Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 243.

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der Gegenstand der (pantheistisch getragenen) spekulativen Theologie ein weitimmanenter Gott. Gott als weltimmanentes Prinzip, darauf baut im übrigen Spinoza nach Feuerbach die Einheit von Gott und Welt, dabei gestützt auf den spekulativen Satz Deus sive Natura. War die Philosophie vor Spinoza gemeine Theologie, so wurde sie bei ihm durch die spekulative Einheit von Gott und Natur spekulative Theologie bzw. spekulative Philosophie. 151 Darum stellt Feuerbach fest: „.Spinoza ist der (eigentliche) Urheber der spekulativen Philosophie." 152 Durch die spätere spekulative Einheit (Identität) von Geist und Natur soll Schelling nach Feuerbach der Wiederhersteller der spekulativen Philosophie (bzw. Theologie) sein, und als deren Vollender, mit der Zentrierung der Einheit in dem absoluten Geist, läßt Feuerbach Hegel erscheinen. 153 Das Hauptverdienst dabei steht zweifellos Spinoza zu. Tatsächlich wird erst mit Spinoza die spekulative Philosophie modern, und zwar indem er die Natur 151 Schließen wir an diese Stelle die bereits angedeutete Bemerkung an, daß Feuerbach nicht gegen die Theologie im allgemeinen ist, steht ja der Mensch theologisch für Gott, und freilich auch nicht gegen die Philosophie im allgemeinen, steht doch der Mensch philosophisch für den absoluten Geist. Wogegen Feuerbach ist, sind zwar beide, aber als spekulative. 152 Ebenda. 153 Vgl. hierzu ebenda. Philosophiehistorisch ist Feuerbachs Schlußfolgerung zweifellos korrekt. Anders steht es aber mit dem Wirken und Fortwirken der Metaphysik des Deutschen Idealismus. In der Tat, vor allem nach den Forschungen von Walter Schulz, gilt es als ausgemacht, für uns durch das zusätzliche persönliche Gespräch in Tübingen als unumstritten, daß Schelling, nicht Hegel, das Verdienst des Vollenders des Deutschen Idealismus zusteht. Wir zitieren wegen der Übersichtlichkeit aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie: „Nach Walter Schulz ist Schelling ,der Vollender des D.I., insofern er dessen Grundproblem, die Selbstvermittlung, bis zum Begreifen der Unbegreiflichkeit des reinen Setzens radikalisiert'; denn ,in der Spätphilosophie Schellings ist erstmalig diese Bewegung vollzogen, in der die sich zu sich ermächtigen wollende Subjektivität gerade durch die Erfahrung ihrer Ohnmacht zum eigentlichen Verständnis ihrer selbst kommt4", Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, S. 36. Herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Schwab und Co. Verlag. Basel/Stuttgart. Freilich, zu bedenken gälte es auch hier, eine Sache ist das Denken an sich selbst und eine andere dessen Fortwirkung. Nach der letzteren zu beurteilen stünde doch Hegel das Verdienst des Vollenders zu. Was die Fortwirkung des Denkens anbetrifft, so steht zweifellos zu Recht die komplementäre Bemerkung von Walter Schulz, nämlich, es sei unvernünftig, zwischen Idealismus und Nachidealismus eine unüberbrückbare Kluft aufzureißen (ebenda). Das ist übrigens bei Feuerbach leicht einsehbar. Allein der Satz, der erste und letzte Begriff der Denktätigkeit sei das anfangslose Sein, weist schon in diese Richtung. Vgl. hierzu Feuerbach, Zur Kritik der Hegeischen Philosophie, ebd. S. 55. Obwohl Schelling mit seiner positiven Philosophie (worauf wir nachher eingehen werden) über den Idealismus hinaus fortwirkte, zu einer kontextuellen Vollendung, wie bei Hegel, kam sein Denken aber nicht. Im Kontext des Paradigmenwechsels, der uns beschäftigt, bedeutet das, daß es berechtigt ist, in Feuerbach den Vollender des Paradigmenwechsels zu sehen, welcher mit der Neuzeit den Anfang nahm.

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als Substanz in den Mittelpunkt eines neuen Monismus stellt, mit dem die Identitätsphilosophie, auf der die Denker des Deutschen Idealismus aufbauen sollten, Gestalt annimmt 154 . Dazu gehört Feuerbachs Bemerkung: „Die Identitätsphilosophie unterschied sich nur dadurch von der Spinozischen, daß sie das tote, phlegmatische Ding der Substanz mit dem spiritus des Idealismus begeisterte." 155 Zur „Ausgestaltung" der Identitätsphilosophie gelangt man nun aber schrittweise. In der Tat, „während Fichte die Natur als ein Produkt des Geistes, des Ich, als etwas Ideelles, Wesenloses, als totes, starres, in sich beschlossenes Dasein" betrachtet, „das nur Mittel für geistig-sittliche Zwecke ist", ist „nach Schelling die Natur der Inbegriff des Objektiven, die reale Seite des »Absoluten4. [...] Die Natur ist ursprünglich produktiv, voll Leben", nicht wie bei Spinoza, „»erstarrte', blinde, bewußtlose Intelligenz [...]. Die Natur ist der »sichtbare Geist4 ..., unbewußte Vernunft. Natur und Geist sind die beiden ,Pole4 des Absoluten [...]." Hegel seinerseits, bestimmt die Natur als Veräußerung des an sich bestehenden Geistes, der „Idee", als Durchgangsstufe in der „dialektischen" Entfaltung derselben. Die Natur ist die Idee in der Form des Andersseins, das ,yAus-sich-heraustreten der Idee", der „sich entfremdete Geist" 1 5 6 . Dazu steht bei dem Hegelkenner Feuerbach: „Allerdings entspricht bei H. [Hegel, v. Verf.] auch die Natur in ihrem Sein der Idee, aber, notabene, nicht der Idee an und für sich, nicht der absoluten Idee, d.i. der Idee in ihrem wahren, adäquaten Sein, sondern der Idee in ihrem Anderssein oder der Idee von dem Anderssein der Idee. H. bestimmt nämlich bekanntlich in einer abstrakten Sprache die Natur im allgemeinen als die Idee in ihrem Anderssein oder als das Anderssein der Idee, d.h. also, da die Idee von ihm als die absolute Identität des Begriffs und der Objektivität bezeichnet wird, als die Identität in ihrem Anderssein oder in der Form des Anderssein." 157 Auf das Ganze stützt sich nach Rudolf Lorens, das sei vorgreifend gesagt, Feuerbachs pantheistische Tendenz. In der Tat, Feuerbachs „Gottesbegriff trägt 154

„S. ist der Begründer des neueren Pantheismus als System einer Identitätsphilosophie eines universalen Monismus", Rudolf Eisler, S. 695. 155 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 244. 156 Vgl z u d e n ganzen Ausführungen Eislers Handwörterbuch der Philosophie. Schlagwort Natur. Bei Feuerbach lesen wir: „Die Natur ist keine bloße Materie, kein nur Sinnliches, sondern sie [ist] eine bestimmte, eine geformte und gestaltete Natur, jede Bestimmung aber der Materie, d.h. jede Beschaffenheit, jede Qualität, wenn sie gleich auch eine sinnliche ist, ist eine Idealisierung der Materie, eine Negation des nur noch Materiellen; die Materie ist als eine durchaus bestimmte, eine durchaus beseelte, begeistigte, die daher in dem Geiste und an ihm nicht einen Gegensatz, sondern ihr Wesen hat [...] Die Vernunft ist das Wesen der Natur", Feuerbach, Nachlaß I., ebd. S. 39^0. 157 Feuerbach, Kritik des „Anti-Hegels". Zur Einleitung in das Studium der Philosophie [1835], in: Kritiken und Abhandlungen I., S. 80-81.

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pantheistische Züge. Gott ist nicht bloß Fürsichsein, nicht bloß Person. Er ist Person zugleich und alle Wesen. Indem Gott von sich selbst weiß, unterscheidet er sich von sich, und dies von seiner Persönlichkeit unterschiedene und doch wieder zur Einheit zusammengefaßte Wesen ist die Natur. Die Natur ist, hegelisch ausgedrückt, das Anderssein Gottes. Gott ist selbst Natur. Feuerbach verteidigt den Pantheismus, schon in seiner Dissertation (S. 29) und auch in den »Gedanken4 (S. 25-26) durchaus im Sinne Hegels." 158 Zu demselben Ergebnis gelangt man mit dem Substanzbegriff. Es gibt bei Spinoza bekanntlich nur einen Gott, eine Substanz, eine Natur. Da aber diese verschiedenen Begriffe dasselbe meinen, identisch sind (Deus sive substantia sive natura), ist man dadurch wiederum bei der Identitätsphilosophie. Anders aber als in dem Fall der Deutschen Idealisten ist diese spinozistische Identitätsphilosophie prinzipiell mangelhaft, aus dem Grunde nämlich, daß der Substanzbegriff nach Feuerbach ein mechanischer, statischer Begriff ist ( „ . . . das tote, pflegmatische Ding der Substanz." 159 ). Der Grund des Ungenügens liegt nach Feuerbach darin, daß in der Substanz das Prinzip des Unterschieds, der Bestimmtheit, fehlt; 1 6 0 konkret rührt dieser Mangel daher, daß Spinoza „die Substanz nicht als Geist bestimmte, den Geist nicht als die Substanz erkannte." 161 An anderer Stelle: „Der hauptsächliche Vorwurf, der dem Sp. zu machen ist, besteht nicht etwa darin, daß er Gott als das eine und alle Sein faßte oder die Substanz zum einzigen Inhalt der Philosophie machte, sondern darin, daß er die Substanz weiter nicht als nur als das schlechthin Wirkliche, als das uneingeschränkte Sein faßte, sie nicht wahrhaft bestimmte. 44162 Feuerbach bringt die Kritik auf den Punkt: „Hätte Sp. den Geist als Substanz oder die Substanz als den Geist bestimmt und erkannt, so würde er in ihr nicht nur das Prinzip der Einheit, sondern auch das Prinzip des Unterschieds gefunden haben. 44163 Darum verfehlte Spinoza nach Feuerbach, in der Substanz beides zu finden, das Prinzip der Einheit und des Unterschieds. 164 158

Rudolf Lorens, Zum Ursprung der Religionsphilosophie Ludwig Feuerbachs. Evangelische Theologie, 17. Jahrgang 1957, S. 178. 159 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 244. 160 Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Baco von Verulam bis Benedikt Spinoza, ebd. S. 446. 161 Ebenda. Tiefer noch lag doch der Grund des Ungenügens, nämlich in der Gleichwertigkeit der Attribute, genauer noch, in einer Verlagerung zu Gunsten der Materie und zu Lasten des Geistes: »Allein das Denken [Geist] ist nicht mit mehr Recht als die Ausdehnung [Materie] Attribut der Substanz [...], es ist selbst nichts andres als die geistige Materie [...]. Die Substanz wird daher nicht zum Geiste bestimmt.", ebenda. 162 Ebd. S. 443. 163 Ebd. S. 450. Dieser Vorwurf von Feuerbach an Spinozas Adresse verkennt, und dies sei en passant bemerkt, daß Spinoza nicht Hegel war.

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III. Umhüllungsdialektik

Indes, so ganz statisch ist der Substanzbegriff doch nicht. Mag die Substanz an sich wie ein totes Ding erscheinen, lebendig wird sie aber durch ihre Attribute. Durch diese (cogitatio, Denken, Geist, und extensio, Materie) erfolgt die Offenbarung bzw. Realisation der Substanz. Die Attribute stellen in der Tat den Weltbezug der Substanz her. Zu den Attributen gesellen sich die Modi, alle besondere Dinge wie auch Menschen, welche als „Affektionen der Attribute", diese „auf eine bestimmte Weise ausdrücken" 165, zum Ausdruck bringen. Es stellt sich hier die Frage, ob die Attribute der Substanz (Gottes), den Charakter der 6[ioovoia (Gottgleichheit) oder der ö\ioivoia (Gottähnlichkeit) an sich tragen, um es in der Sprache des Konzils von Nicäa auszudrücken. 166 Nun, da die Attribute mit der Substanz direkt verbunden und somit göttliche Wesenheiten sind, sind sie 6|iooiJöiog, gottgleich also; die Modi hingegen, da sie über die Vermittlung der Attribute mit der Substanz, mit Gott (passiv) verbunden sind, sind sie lediglich ö|i0LU0i0g, gottähnlich. Die Gottgleichheit für die Attribute und die Gottähnlichkeit für die Modi finden den Beleg in den entsprechenden Propositionen der „Ethica": „Propositio I. Cogitatio attributum Dei est, sive Deus est res cogitans. Propositio II. Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa. Propositio IV. Cujuscunque attributi modi Deum, quatenus tantum sub illo attributo, cujus modi sunt... pro causa habent. (Die Modi eines jeden Attributes haben Gott nur insofern zu ihrer Ursache, als er unter dem Aspekt des Attributes angesehen wird, dessen Modi sie sind .. . ) " 1 6 7 Die Gottgleichheit der Attribute konstatiert denn auch Feuerbach bei Spinoza: „Wie nach Spinoza (Ethik, P. I, Defin. 3 u. Propos. 10) das Attribut oder Prädikat der Substanz die Substanz selbst ist." 1 6 8 Die Substanz, Gott, zeigt sich, offenbart sich indes nicht selbst, unvermittelt. Das ist ein agnostischer Zug des spinozistischen Pantheismus. Zu der Wirklichkeit Gottes gehört doch sich zu offenbaren. Das tut er wie bekannt vermittels seiner Attribute, vor allem der Attribute cogitatio und extensio. Durch diese 164

Ebenda. Ebd., § 90, S. 410. 166 Im „Wesen des Christentums" (ebd. S. 145) vermerkt Feuerbach darüber in einem historisch-theologischen Zusammenhang und wohl in seinem Sinne: „Der heftige Streit über das Homousios und Homoiusios war kein leerer, obwohl nur ein Buchstabe den Unterschied ausmacht. Es handelte sich hier um die Gottebenbürtigkeit, die göttliche Würde der zweiten Person ..." Über diese unterschiedlichen Begriffe, insbesondere über den Begriff Homoiusios (wesensähnlich) lesen wir im Meyers Enzyklopädischen Lexikon: „... im nizän. theologischen Streit als Vermittlungsformel zwischen Nizänern und Antinizänern eingeführter Begriff, der das Verhältnis zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn bestimmen soll. Danach wäre der Sohn dem Vater nicht wesensgleich, sondern nur wesensähnlich." 167 Benutzt wird die von Wölfgang Bartuschat bei Felix Meiner besorgte zweisprachige Ausgabe der Ethik Spinozas. 168 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 245. 165

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Attribute oder Prädikate wird dem Menschen die Wirklichkeit Gottes zugänglich und die eigene Wirklichkeit konstituiert. Noch präziser formuliert: Gott, „die Substanz drückt sich also sowohl im Rahmen des Attributs cogitatio wie im Rahmen des Attributs extensio vollständig, d.h. lückenlos aus, woraus dann die Harmonie, modern ausgedrückt der »Parallelismus4, zwischen dem physischen und dem psychischen Reich der modi ohne weiteres folgt. 4 ' 1 6 9 An anderer Stelle: „Bekanntlich ist nach Spinoza das höchste Wirkliche die substantia mit ihren unendlich vielen Attributen, von denen freilich nur zwei, Ausdehnung (extensio) und Denken (cogitatio) dem menschlichen Geiste zugänglich sind. 1 7 0 Jedes Attribut zerfällt in ein Reich von modi, und die Gesamtheit der modi im Rahmen des Attributs »Ausdehnung4 ist das, was wir Natur nennen. 44171 Durch die cogitatio wird der Mensch res cogitans, ein denkendes Ding, und durch die extensio wird er res extensa, ein ausgedehntes Ding. Durch beide, cogitatio und extensio, (wohl als Modi) konstituiert sich also die Wirklichkeit des Menschen. Die Seinsweise des Menschen ist demnach nicht mit Gott unmittelbar verbunden, sondern in der Vermittlung durch die Attribute. Mit Ziegenfuss ausgedrückt: „Der Mensch ist nicht Substanz; er besteht aus dem Modus des Denkens, der Seele, und dem Modus der Ausdehnung, dem Körper. 44172 Als ein Modus der Schöpfung existiert also der Mensch. Damit ist die Frage der Zugehörigkeit des Menschen zur Schöpfung beantwortet. Diese Zugehörigkeit ist, wie schon angedeutet, eine abgeleitete, eine durch die Attribute vermittelte und durch die Modi ausgestaltete. Anders gewendet: Die Wirklichkeit des Menschen leitet sich nicht direkt aus Gott ab, sondern indirekt aus den Attribu169 Handbuch der Philosophie. Abt. II., Spinoza, S. 34. Verlag von R. Oldenbourg. München u. Berlin 1927. Herausgegeben von A. Baeumler u. M. Schröter. 170 Feuerbach macht auf die Widersprüchlichkeit aufmerksam, die im Wesen der (spinozistischen) Substanz liegt, indem sie sich als undefinierbar definiert. Das wollen wir nun festhalten: „(Spinoza) spricht von unendlich vielen Attributen der göttlichen Substanz, aber außer Denken und Ausdehnung nennt er keine. Warum? [...], weil ich mit allen diesen unzählig vielen Prädikaten doch immer dasselbe sagen würde, was ich mit diesen zweien, dem Denken und der Ausdehnung, sage. Warum ist das Denken Attribut der Substanz? Weil nach Spinoza es durch sich selbst begriffen wird, weil es etwas Unteilbares, Vollkommenes, Unendliches ausdrückt. Warum die Ausdehnung, die Materie? Weil sie in Beziehung auf sich dasselbe ausdrückt. Also kann die Substanz unbestimmt viele Prädikate haben, weil nicht die Bestimmtheit, der Unterschied, sondern die NichtVerschiedenheit, die Gleichheit sie zu Attributen der Substanz macht. Oder vielmehr: die Substanz hat nur deswegen unzählig viele Prädikate, weil sie [...] eigentlich kein Prädikat, d.i. kein bestimmtes, wirkliches Prädikat hat44, Feuerbach, Das Wesen des Christentums, ebd. S. 83. An anderer Stelle ergänzt Feuerbach: Die Unendlichkeit der Attribute ist auf den Umstand zurückzuführen, daß ihnen eine innere Wert-, Bedeutungs- und Interessenlosigkeit anhaftet, Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie, S. 446. 171 Handbuch der Philosophie, S. 33. 172 Werner Ziegenfuss (im weiteren Ziegenfuss), Philosophen-Lexikon, S. 590.

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ten. Die Vermittlung durch die Attribute ermöglicht der Substanz, nicht in dem Schöpfungsakt aufzugehen, über ihrer Schöpfung zu stehen. Das soll kein Präjudiz gegen die Modi sein. Denn: „Es gehören nicht nur alle Attribute Gott an [...], sondern es sind auch alle Modi als Affektionen der Substanz in Gott.. . u 1 7 3 . Es geht lediglich um die substanzielle Rangordnung. Indes, so wie die Substanz nicht in der Schöpfung, in ihrem Werk aufgeht, so gehen auch nicht die Attribute in der Substanz auf. So wie die Modi auf die Attribute angewiesen sind, so ist doch auch die Substanz auf die Attribute angewiesen. Mit Kants Begrifflichkeit ausgedrückt, ohne die Attribute wäre die Substanz blind und leer. Die extensio betrifft bekanntermaßen nicht allein den Menschen, sie betrifft ebenfalls die Welt. Mensch und Welt nehmen an der extensio teil. Die cogitatio hingegen betrifft allein den Menschen, und zwar als Geist. Steht die cogitatio für den Menschen als Geist, so steht die extensio für den Menschen als Materie. Mensch und Geist bzw. Welt und Materie gehören als Binom zusammen. So also, aus der Teilnahme an der cogitatio und der extensio, bildet sich die Wirklichkeit des Menschen. Daß Mensch und Welt nicht Ergebnis einer unmittelbaren Schöpfung, eines unvermittelten Schöpfungsaktes sind, ergibt sich aus der Faktizität von Mensch und Welt, daraus daß sie lediglich Modi sind, nicht Prädikate. Während die Göttlichkeit des Menschen als Ens compositum eine abgeleitete ist, ist die Göttlichkeit der Materie als Einzelschöpfung eine ursprüngliche: „Die Materie wird bei Spinoza vergöttlicht, und zwar voll vergöttlicht; sie stammt nicht nur von Gott; Gott stellt sich in ihrer Gesamtheit vollständig dar." 1 7 4 Aus der Vergöttlichung der Materie wird im übrigen ersichtlich, daß Spinoza zwar Pantheist ist, nicht jedoch Atheist. An der Eruierung des Stellenwertes der Materie dreht sich bei Spinoza wohl alles. Tatsächlich ist sie bei ihm schließlich, als Attribut der Substanz, als Attribut Gottes, göttliche Wesenheit. 175 Darum gilt seine Philosophie als „theologischer Materialismus" 176 . Entsprechend bestimmt Feuerbach die neuere (die seiner eigenen, als die neue bestimmte, vorhergehenden) Philosophie: „Die Vergötterung des ... materiell Existierenden ... ist aber das Wesen der neuern Zeit." 1 7 7 173 174 175 176 177

Üeberweg, ebd., III. Teil, S. 286. Handbuch der Philosophie, S. 34. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 15, S. 285. Ebd., § 23, S. 299. Ebd., § 15, S. 285.

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Erkennt man nun aber der Materie, als extensio Attribut der Substanz, Göttlichkeit an, so muß man ebenso der Vernunft, als cogitatio ebenfalls Attribut der Substanz, Göttlichkeit anerkennen: „Die Erhebung der Materie zu einer göttlichen Wesenheit ist unmittelbar zugleich die Erhebung der Vernunft zu einer göttlichen Wesenheit [...]". Beide sind beim Seinsvollzug aufeinander angewiesen. Und doch: „Die Materie ist der wesentliche Gegenstand der Vernunft. Wäre keine Materie, so hätte die Vernunft keinen Reiz und Stoff zum Denken, keinen Inhalt. [...]". Andererseits, Kant sei erneut bemüht, was wäre die Materie ohne die Vernunft, ohne eine Vernunft zumal, welche, wie die Materie, zu einer göttlichen Wesenheit erhoben wird? So ist die Schlußfolgerung zu verstehen: „Materialisten sind Rationalisten. [...] Der Pantheismus" mit seinem Vernunft-(cogitatio)-Komponenten „führt notwendig zum Idealismus ...", zu einem Idealismus, welcher „die direkte Apotheose der Vernunft ist." 1 7 8 Feuerbach, und damit nehmen wir den Leitfaden wieder auf, ist peinlich darauf bedacht, die bei der Bestimmung der Attribute lauernde polytheistische Gefahr zu umschiffen: „Aber gerade darin, daß Geist und Materie, jedes für sich und in sich selbst begriffen werden, beide in ihrem Begriffe unabhängig sind, drücken sie nicht sich selbst, sondern die Substanz, Gott, aus. Der Geist ist Substanz, die Materie ist Substanz; denn das Wesen der Materie besteht in der Ausdehnung, das Wesen des Geistes im Denken." 179 So gehört also nach Spinoza „zur Wesenheit des Absoluten", nicht nur „die wesentliche Eigenschaft des Geistes, Denken, sondern auch die wesentliche Eigenschaft der Materie, die Ausdehnung." 180 Feuerbach bemängelt an Spinoza, keine fertige, abgeschlossene Philosophie hinterlassen zu haben. Zum Glück für den weiteren Fortgang der Philosophiegeschichte!, wäre dazu zu sagen. Das gilt auch für Schellings Begriff des Absoluten: „Auch Schelling ... hatte sich zu einem »absoluten4 Standpunkt erheben wollen. Aber Hegel findet darin zweierlei zu tadeln: Das Absolute erscheine bei Schelling ,wie aus der Pistole geschossen4. Schelling begnüge sich damit, das Absolute auf Grund einer »genialischen4 intellektuellen Anschauung plötzlich einzuführen, anstatt zu zeigen, wie sich nach dialektischem Gesetz der Geist von Stufe zu Stufe schließlich zum Absoluten erhebt . . . 4 4 1 8 1 178

Ebd., § 17, S. 289. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Baco von Verulam bis Benedikt Spinoza, ebd. S. 371. 180 Feuerbach, Brief an Riedel, in: Kritik und Abhandlungen I, S. 209. 181 Hans Joachim Störig, S. 462. 179

III. Umhüllungsdialektik

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Nun, das sollte Hegel vorbehalten bleiben. Hätte sich Schelling das Absolute dialektisch erschlossen, so wäre Hegel überflüssig gewesen, so hätte dieser keinen Paradigmenwechsel vollzogen. 182 Indes die Idee des Absoluten, die teilt Hegel mit Schelling. Also nicht der Idee des Absoluten an und für sich steht Hegel kritisch gegenüber, sondern dem Weg, den Schelling zu dem Absoluten nahm. Darüber sagt Feuerbach: „Die Idee der absoluten Identität oder des Absoluten überhaupt war ihm [Hegel, v. Verf.] schlechtweg eine objektive Wahrheit, und nicht nur eine, sondern die absolute Wahrheit, die absolute Idee selbst - die absolute, d.h. die nicht bezweifelbare [ . . . ] . " 1 8 3 Feuerbach geht kritisch einen Schritt weiter als Hegel, tatsächlich führt er eine einschränkende Distintion in die Idee des Absoluten ein: „Aber gleichwohl war die Idee des Absoluten ihrer positiven Bedeutung nach nur die Idee der Objektivität im Gegensatz gegen die Idee der Subjektivität der Kantisch-Fichteschen Philosophie. Die Schellingsche Philosophie haben wir daher nicht als die ,absolute' Philosophie, wofür sie ihren Anhängern galt, sondern als den Gegensatz der kritischen Philosophie zu begreifen." 184 Feuerbach rundet seine Stellungnahme im Grundsätzlichen ab und stellt sie in einen breiteren Kontext, und zwar unter die Frage, ob es eine Wissenschaft des Absoluten gäbe. Nun: 182 An diese Stelle sei eine kurze Charakterisierung Schellings seitens Feuerbach angefügt: „Die positive Bedeutung der Schellingschen Philosophie liegt aber ... nur in der Mzfwrphilosophie, im Gegensatz zu der Beschränktheit des Fichteschen Idealismus, der nur ein negatives Verhältnis zur Natur hatte, daher man sich auch nicht zu verwundem hat, daß der Urheber der Naturphilosophie das Absolute nur von seiner realen Seite dargestellt hat, denn die Darstellung desselben von seiner idealen Seite lag ursprünglich schon hinter der Naturphilosophie im Fichteanismus. Allerdings stellte die Identitätsphilosophie eine verlorene Einheit wieder her, aber nicht insofern, als sie diese Einheit als das Absolute, als ein gemeinschaftliches und doch wieder von Geist und Natur unterschiedenes Wesen vergegenständlichte - denn dieses Absolute war nur ein unentschiedenes Zwitterding von Idealismus und Naturphilosophie, entsprungen aus dem Zwiespalt des Urhebers der Naturphilosophie zwischen sich als Idealisten und Naturphilosophen - , sondern nur insofern, als der Begriff dieser Einheit eben der Begriff der Natur als Subjekt-Objekt, also die Wiederherstellung der Natur überhaupt war ...", Feuerbach, Zur Kritik der Hegeischen Philosophie, Kleinere Schriften II, S. 50. Feuerbach läßt es aber nicht bei dieser positiven Bewertung der Naturphilosophie Schellings bewenden, sondern er lenkt die Aufmerksamkeit ebenfalls auf ihre negative Seite, nämlich auf den Anspruch, das Absolute zu vertreten, „die vernünftigen Grenzen der Vernunft", was „das Positive des Deutschen Idealismus" bildete, überschreiten zu dürfen, das heißt, Unerkennbares, so das Ding an sich, nicht unerkennbar sein zu lassen (ebenda). 183 Ebd. S. 46. 184

Ebenda.

1. Weltanschauungskomplex

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„Eine Wissenschaft des Absoluten als solchen gibt es nicht, sondern nach wie vor entweder eine Wissenschaft des Absoluten als Natur oder des Absoluten als Geist, entweder also Naturphilosophie oder Idealismus oder, wenn auch beides zugleich, doch so, daß die Naturphilosophie nur Philosophie des Absoluten als Natur ist, der Idealismus nur Philosophie des Absoluten als Geist. [...] Ich kann also geradezu das Absolute aus der Naturphilosophie wegstreichen; denn das Absolute gilt ebensogut vom Geiste als der Natur .. . " 1 8 5 Feuerbachs positive Wendung lautet: „Die Natur ... ist die Basis ... des ... Geistes, und sie ist die Basis des Geistes, weil sie selbst schon Geist ist." 1 8 6 Zur Bekräftigung des (neuern) pantheistischen Einschlags sei hinzugefügt, daß er nicht auf Spinoza beschränkt blieb. In der Tat, „nahezu jede neuere Metaphysik hat einen Einschlag zum P., so das identitätsphilosophische System Schellings mit der Gleichsetzung von Geist und Natur, das panlogisch-evolutionistische System Hegels, nach dem sich Gott durch den dialektischen Prozeß der Welt selbst verwirklicht.. " 1 8 7 Um Spinozas Weg von Mißverständnissen frei zu halten, sei an dieser Stelle Feuerbachs Rehabilitierungsversuch Spinozas vom Vorwurf des Atheismus festgehalten: „Der Philosophie des Spinoza hat man die Vorwürfe gemacht [...], daß sie Atheismus sei oder Pantheismus im gewöhnlichen, abgeschmackten Sinne 188 , das Unendliche mit dem Endlichen identifiziere (verwechsle), das Endliche zum Unendlichen mache. Allein diese Vorwürfe sind grundlos, ja, lächerlich, um sie einer besondern Kritik zu unterwerfen, denn keiner hat mehr Existenz, mehr Realität, mehr Macht Gott eingeräumt als er und keiner noch Gott so erhaben, so frei, so objektiv, so gereinigt von allen Endlichkeiten, Relativitäten und Menschlichkeiten gedacht als er." 1 8 9 Diese positive Einschätzung Spinozas setzt Feuerbach fort: „Die historische Bedeutung und Würde Spinozas liegt eben gerade hierin, daß er, im Gegensatze zur christlichen Religion und Philosophie, die Natur vergötterte, die Natur zum Gott und Ursprung des Menschen machte, während jene [die christlichen Philosophen und Theologen] das menschliche Wesen zum Gott und Ursprung der Natur machten. Spinozas Gott, die Natur, dieser philosophi185

Ebd. S. 49-50. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, ebd. S. 227. 187 Brockhaus Enzyklopädie, 14. Band. 188 Feuerbach lehnt für Spinoza bekanntlich nur einen solchen Pantheismus ab, nicht aber den Pantheismus an und für sich. 189 Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, ebd., § 100. Kritische Schlußbetrachtungen, S. 439. Eine solche Reinigung wurde Spinoza nicht zuletzt durch die Anwendung der mathematisch-deduktiven Methode möglich gemacht. 186

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sehe Gott ist, im Gegensatz zu dem Gott der Theologie bzw. der Religion, ein Gott ohne menschliche Attribute, ohne Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. [...] (Dieser Gott) ist nichts andres als die Natur. Spinoza spricht dies selbst deutlich genug aus, wenn er sagt: ,... die Kraft und Macht der Natur ist die Kraft und Macht Gottes selbst . . . ' " 1 9 0 Was den Vorwurf des Atheismus anbetrifft, so umgeht Spinoza diesen, indem er das Wesen der Natur zum Wesen Gottes macht. Später vollzieht er die angedeutete Wende vollkommen, indem er Gott zum Subjekt erhebt und die Natur zum Prädikat. Im Gegensatz zu dieser positiven Feuerbachschen Rezeption des Spinozismus steht die Bemerkung von Alfred Schmidt, wonach Feuerbach die „mechanistischen Züge" (des Spinozismus) „nicht weniger kritisiert als die theologischen." 191 So im Speziellen mag es nun angehen. Wie dem auch sei! Zu einem Atheisten im eigentlichen Sinne will Feuerbach Spinoza nicht herabwürdigen lassen. Aber mit dem Gott des Spinoza, mit ihm kann und will sich der anthropologisch und zugleich theistisch ausgerichtete Feuerbach nicht anfreunden: „Ein Gott, der nicht wie wir, nicht Bewußtsein, nicht Einsicht, d.h. nicht persönliches Bewußtsein hat, wie etwa die Substanz des Spinoza, ist kein Gott. t...]."192

2. Theologische Vorstellungen An die Erörterung des Weltanschauungskomplexes wollen wir die damit zusammenhängende Frage der theologischen Vorstellungen Theismus, Atheismus, Pantheismus, Monotheismus und Polytheismus anschließen. Obwohl diese theologischen Vorstellungen in einem gemeinsamen Konnex stehen 193 , gilt die eine als originär, so der Theismus, und als abgeleitet die anderen, nämlich Atheismus, Pantheismus, Monotheismus und Polytheismus. Diesbezüglich ist es unnötig, uns dadurch irreführen zu lassen, daß Feuerbach mit den Vorstellungen beginnt, die unter die abgeleiteten fallen, und daß er sie, so in dem Fall des Pantheismus und des Atheismus, in Anführungszeichen schreibt. Bevor wir in medias res treten, wollen wir den Fragenkomplex en bloc festhalten:

190

Ebd. S. 447. Alfred Schmidt, S. 146-147. 192 Feuerbach, Das Wesen des Christentum, ebd. S. 318. 193 Diese im Konnex stehenden theologischen Vorstellungen macht Feuerbach zum Gegenstand seines Nachdenkens, mit der klaren Vorgabe, sie im Zuge eines neuen Paradigmenwechsels in einer neuen theologisch-philosophischen Vorstellung aufzuheben, in der Vorstellung nämlich des Anthropotheismus. 191

2. Theologische Vorstellungen

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„Der »Pantheismus4 ist die notwendige Konsequenz der Theologie (oder des Theismus) - die konsequente Theologie; der »Atheismus4 die notwendige Konsequenz des »Pantheismus4, der konsequente »Pantheismus4 4 4 . 1 9 4 Bekanntlich steht Spinoza da Pate. Indem der Pantheismus alles zu Gott, zu einem Gott macht, ist er pantheistischer Monotheismus. Der Monotheismus enthält bereits in sich seine eigene Infragestellung: den Polytheismus. Steht der pantheistische Monotheismus für die Substanz (in der Leseart Spinozas), so steht der Polytheismus für die Prädikate oder Attribute der Substanz, noch genauer ausgedrückt: „Polytheismus ist, wenn man Gott und Natur einander gegenüberstellen und nicht in eins setzen .. . 4 < 1 9 5 kann. Die „Götter 44 des Polytheismus sind die Prädikate des einen, einzigen Wesens: „Der Pantheismus ist der Monotheismus mit dem Prädikate des Polytheismus, d.h. der Pantheismus macht die selbständigen Wesen des Polytheismus zu Prädikaten, Attributen des einen selbständigen Wesens .. . 4 < 1 9 6 , der an und für sich seienden Substanz. Das heißt also, daß Monotheismus und Polytheismus einfache theologische Vorstellungen im pantheistischen Kontext sind. Nun, während die „Götter 44 des Polytheismus zu dem einen Gott (Monotheismus bzw. Pantheismus) stehen wie die Attribute cogitatio und extensio zu der Substanz, steht der Mensch, das Kreatürliche, auf einer noch niedrigeren Stufe als die Attribute der Substanz, nämlich auf der Stufe der modi. Die weitere Spezifikation entnehmen wir dem „Handbuch der Philosophie44: Natura naturans ist ihm [Spinoza, v. Verf.] die Substanz mit ihren Attributen, natura natu rata aber die Gesamtheit der modi im Rahmen jedes der Attribute, so daß also auch die Gesamtheit aller modi im Rahmen des Attributs cogitatio [das gilt wohl auch grundsätzlich für das Attribut extensio , v. Verf.] naturierte Natur ist." 1 9 7 Über den diesbezüglich leitenden dialektischen und historisierenden Kontext sagt Nüdling: „Er [Feuerbach, v. Verf.] ist überzeugt, daß nicht äußere Begebenheiten, sondern Wandlungen der religiösen Grundanschauung maßgebend sein müssen für die Periodisierung der Menschheitsgeschichte (II. 216). Demnach unterscheidet er nach der herrschenden Religionsform die Zeit des »Katholizismus4, des »Protestantismus4, des »Realismus4, oder er spricht in demselben Sinne von der »alten Zeit 4 , der »neueren Zeit 4 und der »neuen Zeit 4 (vgl. II. 221). Dieselbe Stufenfolge bezeichnet er nach ihrem weltanschaulichen Gehalt als »Theismus Pantheismus - Atheismus4 oder als »Theologie - spekulative Philosophie - An194 195 196 197

Feuerbach» Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 243. Nüdling, S. 47. Feuerbach, ebd. S. 244. Handbuch der Philosophie, ebenda.

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thropologie 4 (W. ü. 244). Die jeweils folgende Stufe ist die »Wahrheit4 und »Konsequenz4 der vorausgehenden, sie tritt nicht unvermittelt der früheren entgegen, sondern führt nur zu Ende, was in der vorausgehenden schon unentfaltet enthalten war. 4 4 1 9 8 So erfolgt der Pantheismus mit Notwendigkeit aus dem Theismus und der Atheismus mit Notwendigkeit aus dem Pantheismus.199 Was sollen nun die Anführungszeichen in „Pantheismus44 und „Atheismus44 bedeuten, worauf sollen sie hinweisen? Das Geheimnis der Anführungszeichen besteht in der Tatsache, daß im Gegensatz zum Theismus, Pantheismus und Atheismus keine selbständigen Positionen darstellen. Tatsächlich sind der Pantheismus und der Atheismus auf den Theismus bezogen (von ihm abhängig), der erstere unmittelbar, der zweite mittelbar. Freilich bedeutet das nicht, daß sie beide allein abhängige Positionen darstellten. In der Tat, indem der Pantheismus den Theismus aufliebt, entsteht daraus eine eigene Position: Gott und Welt werden zu einer Einheit gebracht: „Eines ist Alles, Alles ist Eines. 44200 Darin ist Gott das „Ev x a i Jiav, das Allesumfassende. 44201 Diese Realität ist keine das Wesen Gottes transzendierende, vielmehr ist sie eine Gott wesensimmanente Realität. Gerhart Schmidt bringt es auf den Punkt: „Der Pantheismus ist der zu Ende gedachte Theismus: Gott als besonderes Dasein außerhalb der Welt wird aufgehoben, die Trennung von Gott und Welt beseitigt. 44202 Darin zeigt sich, nebenbei gesagt, wie eng sich Feuerbach doch an Spinoza anlehnt: „Die Identifikation von Gott und Welt enthält potentiell die von Gott und Mensch. 44203 Feuerbach führt diesbezüglich aus: „ . . . alle Dinge sind in Gott. [...] Haben wir aber einmal keine Dinge, keine Welt mehr außer Gott, so haben wir auch keinen Gott mehr außer der Welt - kein nur ideales, vorgestelltes, sondern ein reales Wesen, so haben wir mit einem Worte den Spinozismus oder Pantheismus.4'204 An anderer Stelle: „Der Theismus, welcher als die Position Gottes zugleich die Negation Gottes ist, oder, umgekehrt, als die Verneinung Gottes zugleich noch die Bejahung desselben, ist der Pantheismus." 205 Insofern steht Alfred Schmidts Satz zu Recht: „Feuerbachs Philosophie (bildet) das Endglied einer deutschen Denktradition des ,pantheistischen4 198

G. Nüdling, S. 102. Ebenda. Positiv gewendet führt der Pantheismus (auch) zum Idealismus, und zwar indem er „die Vernunft als eine göttliche Wesenheit bejaht", ja indem ihm Gott zum „Wesen der Vernunft selbst" wird. Vgl. hierzu Nüdling, S. 104, 107. 200 Feuerbach, Nachlaß II., S. 276. 201 Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution. Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 14. Fromman Verlag - Günther Holzbroog. 202 Gerhart Schmidt, S. 6 (§ 14) 203 Alfred Schmidt, S. 153. 204 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd. S. 284. 205 Feuerbach, ebd. S. 282. 199

2. Theologische Vorstellungen

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Materialismus . . . 4 4 2 0 6 Dazu gehört die Feststellung: „Feuerbachs Werk beschließt einen der ideologiegeschichtlich bedeutsamsten Vorgänge des achtzehnten Jahrhunderts: die »Spinoza-Debatte4 in der deutschen Aufklärung. 44207 In diesem einen Kontext wird übrigens das pantheistische Paradigma durch das anthropologische eher vollendet, denn ersetzt. Und so wie der Pantheismus die notwendige Konsequenz des Theismus ist, so ist der Atheismus die notwendige Konsequenz des Pantheismus. Diese für den Atheismus notwendige Konsequenz rührt von der Aufhebung der Trennung von Gott und Welt, rührt konkret daher, daß Gott dabei materiell wird. 2 0 8 Nach Alfred Schmidt nennt Feuerbach den Pantheismus den allein konsequenten Theismus; denn er weiß, daß „die materiellen Dinge nur aus Gott abgeleitet werden44 können, „wenn Gott selbst als ein materialistisches Wesen bestimmt wird. 4 4 2 0 9 Was den „A-Theismus44 betrifft, ist es andererseits so, daß, ungeachtet dessen, daß er eine negative Position ist, der Pantheismus seinerseits substantiell auf ihm aufbaut. Dazu sagt Gerhart Schmidt: „Die Materie als das widergöttliche Prinzip wird im Pantheismus selbst Gott: theologischer Atheismus. 44210 Daß die Materie lediglich Attribut der Substanz, lediglich Attribut Gottes ist, nicht Gott an und für sich selbst, ergibt sich, wie schon gesagt, aus der Notwendigkeit der Substanz, aus der Notwendigkeit Gottes sich zu offenbaren, sich zu realisieren. Im wesentlichen meint die Charakterisierung der Substanz als „substanziell44, nichts anderes als mächtig: „ . . . die Substanz (ist) dadurch Substanz, daß sie die absolute Kraft und Macht ist, durch den Unterschied nicht... auseinander gerissen zu werden ... 4 4 2 1 1 Nähern wir uns dem Thema dialektisch an. Theismus und Atheismus vertreten beide eine Position und eine Negation. Während der Theismus Gott bejaht und die Welt verneint („Der Theismus stellt sich Gott als ein pur immaterielles Wesen vor 4 4 2 1 2 ), bejaht der Atheismus die Welt und verneint Gott („Die Materie 206

Alfred Schmidt, S. 147. Ebd. S. 148. 208 Gerhart Schmidt, ebenda. 209 Alfred Schmidt, S. 129. 210 Gerhart Schmidt, S. 6 (§ 15). 211 Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie ..., S. 444. 212 Feuerbach, Grundzüge der Philosophie der Zukunft, ebd., § 14, S. 284. Immateriell meint (bei Feuerbach insbesondere) aber nicht unsinnlich : „Der Theismus stellt sich Gott, obwohl als ein denkendes oder geistiges, doch zugleich als ein sinnliches Wesen vor ...44 (Grundsätze, § 12, S. 278) „[...] Der Theismus verlegt [...] in Gott nicht nur das spekulative, sondern auch das sinnliche , empirische Wissen, und zwar in seiner höchsten Vollendung44, (ebenda). Jedenfalls soll Gott keine Abstraktion sein. Damit zeigt sich, daß von den theologischen Vorstellungen der Theismus dem Feuerbachschen Denken am nächsten liegt. Da es von Interesse ist, sei festgehalten, wie Feuerbach, den idealistischen Zug seines Denkens bekräftigend, einmal das Sinnliche in das Geistige verlegt, so in der Be207

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als das widergöttliche Prinzip ..."). Der Pantheismus nimmt eine vermittelnde Position zwischen Theismus und Atheismus ein. Er hebt das Positive des Theismus und das Negative des Atheismus in sich auf. „Der Pantheismus verbindet mit dem Theismus den Atheismus - mit Gott die Negation Gottes . . . " 2 1 3 Er versöhnt also beide Momente, das des Theismus (Gott) und das des Atheismus (Welt), und zwar so, daß die sich daraus ergebende Einheit als Negation der Negation zur schöpferischen Position wird: Gott und Welt sind eins. Anders gewendet: Der Pantheismus trennt und verbindet zugleich Theismus und Atheismus. Ist der Theismus Affirmation Gottes und Negation der Welt, und der Atheismus Negation Gottes und Affirmation der Welt, so ist der Pantheismus Affirmation beider affirmativen und Negation beider negativen Setzungen. Kehren wir zur Spinozas Begrifflichkeit zurück. Der Pantheismus vereint in sich in idealer Weise die cogitatio des Theismus und die extensio des Atheismus. Das, was im Pantheismus göttliches Wesen ist, Attribut Gottes bzw. der Substanz, nämlich die extensio, die Materie, darin ein positives Prinzip also, wird im Atheismus zu einem negativen Prinzip, nämlich als das Ungöttliche. Vom Standpunkte des Atheismus aus gesehen kommt es aber im Pantheismus zu einem wesentlichen Widerspruch, weil darin das widergöttliche Prinzip selbst Gott wird. Vertritt der Theismus das positive Prinzip, das Göttliche in Gestalt des Geistes (cogitatioso vertritt der Atheismus das negative Prinzip in Gestalt der Materie (extensio). Der Pantheismus indes, sich hierdurch einen neuen Weg bahnend, hebt beide Prinzipien in sich auf und vergöttlicht sie beide gleichermaßen: die cogitatio, der Geist, ist göttlich und ebenso göttlich ist die extensio, die Materie. Mag die begriffliche Unterscheidung zwischen Theismus und Pantheismus formell klingen, die darauffolgende hingegen ist eindeutig inhaltsreich: „Was den Theismus vom Pantheismus scheidet, ist einzig ... die Vorstellung Gottes als eines persönlichen Wesens. [ , . . ] . " 2 1 4 Diesbezüglich steht das historische Urteil fest: „Feuerbach würdigt den historischen Beitrag des Pantheismus zur Überwindung der personalen Gottes Vorstellung."215 Mit seiner Auffassung aber über den Pantheismus als Übergangsstadium zwischen Theismus und Atheismus 2 1 6 , in dem die vereinheitlichen spinozistischen Bestimmungen sive ... sive ... in: Deus sive substantia sive natura, zur Entscheidung gebracht werden: aut ... aut ... in: Aut Deus aut Natura 211, nimmt Feuerbach eine eigene Position

trachtung des Theismus; und ein anderes Mal das Geistige in das Sinnliche, so in der Betrachtung der Natur. Vgl. hierzu Feuerbach, Nachlaß I, S. 39-40. 213 Ebd. S. 285. 214 Ebd. S. 282. 215 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, S. 61. 216 Ebenda. 217 Ebenda.

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ein gegenüber Spinoza bzw. dem spinozistischen Pantheismus.218 Feuerbachs

218

Aus der stehenden Redewendung Spinozas „Deus sive substantia sive natura" (Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Freiburg 1952, S. 125), sei manches Kontroverses herausgestellt. Es geht dabei um die Frage der Berechtigung der Gleichung Gott = Natur, der Identität beider. Feuerbach neigt nun eindeutig zu der Infragestellung. Nach Feuerbach verwirft Spinoza zwar „den Dualismus von Gott und Natur ...; aber gleichwohl [liege dem, v. Verf.] (...) doch Gott als ein von der Natur unterschiedenes Wesen zugrunde (...), so daß Gott die Bedeutung des Subjekts, die Natur nur die des Prädikats hat", Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Baco von Verulam bis Benedikt Spinoza, ebd. S. 454. An anderer Stelle sagt Feuerbach radikal präzisierend: „Nicht ,Deus sive Natura', sondern ,Aut Deus aut Natura' ist die Parole der Wahrheit. Wo Gott mit der Natur oder umgekehrt die Natur mit Gott identifiziert (wird), da ist weder Gott noch Natur, sondern ein mystisches, amphibolisches Zwitterding. Dies ist der Grundmangel Spinozas", ebd. S. 454—455. Feuerbach reißt offenkundig der Geduldsfaden, am liebsten wäre es ihm, dem für Unfug Gehaltenen ein Ende zu bereiten: „.,. Hast du nicht ebensoviel Wahrheit, Wesenheit, Vollkommenheit ohne Gott als mit Gott? Ist er etwas andres als ein Name ...", ebd. S. 454. Die größte Schwierigkeit bei der Gleichung Gott-Natur ergibt sich schon daraus, daß Spinoza die Natur nicht gleichrangig mit Gott und der Substanz behandelt. Tatsächlich ist sie nicht an und für sich Gegenstand der ontologisch-metaphysischen Definitionen, mit denen Spinozas „Ethica Ordine Geometrico Demonstrata" eingeleitet wird. „De Deo. Definitiones: DI. - Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur; hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat. IV. - Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tanquam ejusdem essentiam constituens. V. - Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur. VI. - Per Deum intelligo ens absolute infinitum,hoc est substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit." Es fällt übrigens auf, daß Spinoza die Definitionen nicht mit Gott beginnt, sondern mit der Substanz. Zweifellos wollte er damit darauf aufmerksam machen, daß es ihm dabei primär um Ontologie und Metaphysik ging, nicht um Theologie. So holt er gleich darauf, mit der „Propositio XI.", das Versäumte nach, und zwar in der Weise, daß sein Identitätsgedanke kohärent wird: „Deus sive substantia constans infinitis attributis." Gewiß, die Gleichung Gott-Natur ist in der Ethik gegeben. So in „De Servitute Humana, Praefatio": „... aeternum ... et infinitum ens, quod Deum seu Naturam appellamus ..." Aber eine eigenständige Definition von Natur fehlt. Die Natur kommt da zur Geltung als Substanz, gleichsam instrumentalisiert, um das Schöpfungsgeschehen zu umreißen. So steht sie als Natura naturans für das Subjekt des Schöpfungsgeschehens, für den Schöpfer, und als Natura naturata für das Objekt des Schöpfungsgeschehens, für das Geschöpf. Mit Feuerbach ausgedrückt: „Unter der natura naturans nämlich muß man das verstehen, was in sich ist oder durch sich gedacht wird, oder solche Attribute der Substanz, welche ewige und unendliche Wesenheit ausdrücken, d.h. Gott, inwiefern er als freie Ursache betrachtet wird; unter der bewirkten Natur [Natura naturata, v. Verf.] aber alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines seiner Attribute folgt, d.h. alle Arten und Weisen [Modi, v. Verf.] der Attribute Gottes, inwiefern sie als Dinge betrachtet werden, welche in Gott sind und ohne Gott nicht sein noch gedacht werden können", Feuerbach, ebd. S. 411.

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III. Umhüllungsdialektik

Eigenständigkeit wird verstärkt, wo er dem Rekurs der Atheisten, die Materie (auf Spinozas extensio fußend) zu einem Prädikat oder Attribut Gottes, d.h. zu einem göttlichen Wesen zu erklären, eine Absage erteilt: „Aber die Materie ist nicht Gott, sie ist vielmehr das Endliche, das Ungöttliche, das Gott Verneinende . . . " 2 1 9 Zu der „Vergötterung" der Materie, „des Wirklichen, des materiell Existierenden ...", zu dem, was „in Materialismus, Empirismus, Realismus und Humanismus Gestalt annimmt", zu dem also, was „das Wesen der neuern Zeit" ist, 2 2 0 geht Feuerbach auf Distanz, und zwar in einer positiven Wendung, indem er die bereits erwähnte theologisch-philosophische Vorstellung des Anthropotheismus ins Spiel bringt. Der Anthropotheismus steht übrigens, und dies sei hier beiläufig angemerkt, als Bezeichnung für die Auflösung Gottes im Menschen bzw. für die Ablösung der (tradierten) Theologie durch die Religion, wohl durch eine Religion sui generis, eine Religion, die vom Menschen redet, nicht von Gott, oder wenn schon von Gott, dann von Gott im Menschen oder als Mensch. Eine Religion unter der Ägide der Philosophie: „Die Philosophie Die von Feuerbach skeptisch aufgenommene Kolportierung, „Spinoza hätte in seiner „Ethik" ursprünglich nur das Wort „Natur", nicht „Gott" gebraucht, aber auf die Vorstellung seines Freundes Meyer endlich an die Stelle des Wortes „Natur" den Namen „Gott" gesetzt" (Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Baco von Verulam bis Benedikt Spinoza, ebd. S. 455), ermangelt doch nicht der Rechtfertigung, bedenkt man, wie wenig zartfühlend der religiöse Fanatismus damals war. Im Einklang damit stünde Feuerbachs Satz: „Was ist denn, bei Lichte besehen, das, was Spinoza logisch oder metaphysisch „Substanz", theologisch „Gott" nennt?" Die Antwort lautet: ,»Nichts andres als die Natur. [...] Gott und Natur sind ihm gleichbedeutend", Feuerbach, ebd. S. 445. Thematisch kommt Natur (synonym für Gott, Substanz) indes im Anhang des wohl nicht zur Veröffentlichung bestimmten Kurzen Traktates („de Deo, Anima rationali, summa hominis felicitate" - Kurze Abhandlung über Gott, den Menschen und dessen Glück), der sogenannten „Ur-Ethik", entstanden lange vor der Ethik, „about the middle of 1660" (The collected Works of Spinoza. Princeton University Press, p. 50), vor: „Die Natur wird durch sich selbst erkannt und nicht durch irgendein anderes Ding. Sie besteht aus unendlichen Attributen, deren jedes unendlich und vollkommen in seiner Gattung ist und zu dessen Wesenheit die Existenz gehört, so daß außer ihr keine Wesenheit oder Sein mehr ist und sie genau übereinkommt mit der Wesenheit des allein herrlichen und hochgelobten Gottes", Johannes Hirschberger, S. 125. Die Natur wird verständlicherweise von Spinoza - ganz im Gegensatz zu Feuerbach - nicht sinnlich aufgefaßt, sondern intellektuell, spekulativ. Tatsächlich ist die Natur bei Spinoza ein ontologisch-metaphysisches Prinzip: „Die Natur ist ... das Prinzip, der Gott, das Wesen, die Vernunft Spinozas. Was wider die Natur, sagt er selbst, ist wider die Vernunft. [...] Aber die Natur ist dem Sp. nicht Gegenstand als sinnliches, sondern als unsinnliches, abstraktes, metaphysisches Wesen, so daß das Wesen der Natur bei ihm gar nichts andres ausdrückt als das Wesen des Verstandes, und zwar des Verstandes, der allein im Widerspruch oder Gegensatz gegen das Gefühl, den Sinn, die Anschauung erfaßt ist ...", Feuerbach, Die Geschichte der neuern Philosophie von Baco von Verulam bis Benedikt Spinoza, ebd. S. 448. 219 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, ebd., § 15, S. 285. Ebenda.

2. Theologische Vorstellungen

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hat die Aufgabe, die widerspruchsvollen Vorstellungen der Religion aufzulösen und zu einem wahren Einheitsdenken zu führen." 221 Nicht die Religion als solche wird negiert, sondern die Religion als Theologie. So ist in der Tat „(die) neue Philosophie ... als die Negation der Theologie ... die Position der Religion." 2 2 2 Nicht die Theologie an und für sich wird negiert, sondern die verstandesgeleitete, die spekulative Theologie, die als solche im Widerspruch steht zu der gefühlsgeleiteten Religion. 223 Daß weder die Theologie an und für sich, noch die Religion an und für sich negiert werden, ist verständlich angesichts des Umstandes, daß der Anthropotheismus beides ist, Theologie und Religion, beide freilich „innerhalb der Grenzen" der Anthropologie, um es unter einschränkender terminologischer Zuhilfenahme Kants auszudrücken. Damit ist auch gesagt, daß Feuerbachs Bedenken eher dem spinozistischen Pantheismus gelten, denn dem Pantheismus im allgemeinen. 224 Das kommt deutlich zum Ausdruck in dem Satz: 221

Nüdling, S. 101. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, ebd. S. 256. 223 Ebenda. 224 Für ein umfassendes Verständnis von Feuerbachs Position über Spinoza im Kontext des Pantheismus und damit zusammenhängend über seinen Begriff des Gattungswesens finden wir es hilfreich, uns einerseits Scotus Eriugenas Denkleistung zu vergegenwärtigen, und andererseits Alfred Schmidt zu Wort kommen zu lassen. So sagt Alfred Schmidt über Feuerbachs Gattungsbegriff: „Erkenntnistheoretisch gesehen, ist der Gattungsbegriff für Feuerbach kaum entbehrlich, weil es erforderlich ist, selbst innerhalb eines und desselben Individuums zwischen dem Notwendigen und Veräußerlichten, Individuellen im Sinne des Zufälligen, dem Wesentlichen und Unwesentlichen, dem Nähern und Entfernteren zu unterscheiden. - Essentialistische Momente, die Feuerbachs entschiedenen Nominalismus mildern", A. Schmidt, S. 175-176. Zu Scotus Eriugena wollen wir Wilhelm Windelband bemühen: „Kein Philosoph vielleicht hat deutlicher und unumwundener als er [Scotus Eriugena, v. Verf.] die letzten Folgerungen der Metaphysik ausgesprochen, welche von dem sokratisch-platonischen Prinzip aus, daß die Wahrheit und deshalb auch das Sein in dem Allgemeinen zu suchen sei, die Stufen der Allgemeinheit mit denjenigen der Intensität und der Priorität des Seins identifiziert. Das Allgemeine (der Gattungsbegriff) erscheint hier als das wesenhafter und ursprünglicher Wirkliche, welches das Besondere (die Art und schließlich das Individuum) aus sich erzeugt und in sich enthält. Die Universalien sind also nicht nur Substanzen [...], sondern sie sind den körperlichen Einzeldingen gegenüber die ursprünglicheren, die erzeugenden und bestimmenden, sie sind realeren Substanzen, und zwar sind sie um so realer, je allgemeiner sie sind. In dieser Auffassung werden daher die logischen Verhältnisse der Begriffe unmittelbar zu metaphysischen Beziehungen; die formale Ordnung erhält reale Bedeutung. Die logische Unterordnung verwandelte sich in ein Erzeugtsein und Beschlossensein des Einzelnen durch das Allgemeine. [...]. Die so zu metaphysischer Bedeutung erhobene Begriffspyramide gipfelt in dem Begriffe der Gottheit als des Allgemeinsten. Aber das letzte Produkt der Abstraktion, das absolut Allgemeine ist das Bestimmungslose. Daher identifiziert sich diese Lehre mit der alten ,negativen Theologie', nach der von Gott nur ausgesagt werden kann, was er nicht ist; und doch wird echt plotinisch auch hier dies höchste Sein als die „ungeschaffene, aber selbst schaffende Natur" bezeichnet. Denn dies Allgemeinste erzeugt 222

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III. Umhüllungsdialektik

„Ein Gott, der nicht ist, wie wir, nicht Bewußtsein, nicht Einsicht, d.h. nicht persönlichen Verstand, persönliches Bewußtsein hat, wie etwa die Substanz des Spinoza, 225 ist kein Gott. Die wesentliche Einheit mit uns ist die Hauptbedingung der Gottheit . . . " 2 2 6 Ob dieser Aussage ist man versucht, Feuerbach als Atheisten abzustempeln. Feuerbach unterscheidet indes zwischen echtem und unechtem, wahrem und unwahrem Atheismus: „Wenn der Atheismus nichts weiter wäre, als eine Verneinung, ein bloßes Leugnen ohne Inhalt, so wäre er untauglich. Aber der Atheismus, wenigstens der wahre, der nicht lichtscheue, ist zugleich Bejahung. Der Atheismus verneint nur das vom Menschen abstrahierte, das phantastische, durch die Einbildungskraft verselbständigte Wesen des Menschen, welches eben Gott genannt wird, und will an seine Stelle das wirkliche Wesen des Menschen setzen. 227 Der Theismus, der Gottesglaube, ist in Wahrheit verneinend; er verneint die Natur, die Welt und die Menschheit. Vor Gott ist die Welt und der Mensch nichts; er kann auch ohne sie sein." 228

aus sich die Gesamtheit der Dinge, die deshalb nichts anderes enthält als seine Erscheinung, und dies sich zu ihm verhält wie die besonderen Exemplare zur Gattung: sie sind in ihm und bestehen nur als seine Erscheinungsweisen. So ergibt sich aus diesen Voraussetzungen ein logischer Pantheismus: alle Dinge der Welt sind ,Theophanien', die Welt ist der in das Besondere entwickelte, aus sich herausgestaltete Gott (deus explicitus). Gott und die Welt sind eins. Dieselbe ,Natur* (