Goethes Faust und die Vollendung des Menschen [Reprint 2015 ed.] 9783111490144, 9783111123653

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Goethes Faust und die Vollendung des Menschen [Reprint 2015 ed.]
 9783111490144, 9783111123653

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VORWORT
EINLEITENDES
ZUEIGNUNG
VORSPIEL AUF DEM THEATER
DER TRAGÖDIE ERSTER TEIL
DER TRAGÖDIE ZWEITER TEIL
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G O E T H E S FAUST UND D I E VOLLENDUNG DES MENSCHEN

VON

P R O F E S S O R DR. K U R T L E V I N S T E I N LEITER DES FRANZÖSISCHEN GYMNASIUMS DOZENT AN DER BERLINER UNIVERSITÄT

B E R L I N 1948 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GOSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG / J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG / GEORG REIMER / KARL J. TRÜBNER / VEIT & CO.

Archiv-Nr. 4558 48 Druck: Heinrich Soltau, Buchdruckerei und Verlag (23) Norden (Ostfriesland)

Dem d e u t s c h e n Volk auf s e i n e m Wege zum W i e d e r a u f b a u zugeeignet *

VORWORT

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VORWORT 18 J a h r e sind vergangen, seit der unterzeichnete Verfasser sein Buch „Goethes F a u s t und die Erziehung des jugendlichen Menschen" veröffentlicht hat. Viele zustimmende Ä u ß e r u n g e n in der Tagespresse, in wissenschaftlichen Zeitschriften u n d eine größere Zahl von ausführlich auf den Gegenstand eingehenden Briefen b e k a n n t e r Faustforscher zeigten ihm, d a ß er augenscheinlich, auf dem r e c i t e n Wege w a r , als, er seine in seinem Deutschunter rieht bei der Faustl e k t ü r e von 6 verschiedenen Schülergenerationen gemachten E r f a h r u n g e n in Buchform der Öffentlichkeit zugänglich machte, u m möglichst viele Deutschlehrer dazu anzuregen, sich, der gewaltigen Arbeit einer lückenlosen D e u t u n g der Goetheschen Faustdichtung auf der obersten Stufe der „höh e r e n Schule", wie sie damals genannt wurde, nicht länger zu entziehen und vor allem auch den weit schwierigeren zweit e n Teil der Dichtung in seinem ganzen Umfang, am besten in einer wöchentlich stattfindenden Arbeitsgemeinschaft, vor d e n Sdiülern der obersten Klassen lebendig w e r d e n zu lassen. Die Zahl der Schülergenerationen, mit denen der Verfasser den „Faust" vom ersten bis zum letzten W o r t durchgearbeitet hat, h a t sich, unterdessen m e h r als verdoppelt, a u s 6 sind 16 geworden u n d jedes Mal befestigte sich in ihm die Überzeugung, daß es kein W e r k der deutschen L i t e r a t u r gibt, das bei der heranwachsenden Schülerschaft ein gleiches Interesse auslösen könnte wie das umfassende Lebenswerk Goethes. Das w a r schon damals so, als Deutschland noch, vor d e r furchtbaren Katastrophe stand, die es noch, vor k u r z e m völlig zu vernichten drohte. Wieviel bedeutungsvoller erscheint nun erst die Aufgabe heutzutage, wo unser deutsches Volk sich aus tiefster Erniedrigung langsam w i e d e r emporzuentwickeln beginnt und wo es sidi d a r u m handelt, sich, wieder auf die Großtaten deutschen Geistes der Vergangenheit zu besinnen, um daraus neuen Mut zu n e u e r E n t f a l t u n g deutschen W e s e n ? z u schöpfen! D a w i r d Goethes „ F a u s t " erst

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VORWORT

redit zum Wahrzeichen deutscher Kultur und Gesittung, und ès erwägst nicht nur die Pflicht, die heranwachsende Jugend an dies Werk heranzuführen, sondern jeden Menschen jeglichen Alters, jeglichen Geschlechts und jeglicher Bildungsstufe. In dieser Dichtung findet er alle die notwendigen Grundlagen vorgezeichnet, auf denen sich das zu gestalten vermag, was wir heutzutage mit „Wiederaufbau" zu bezeichnen pflegen. Aus seelischer Not, Verzweiflung, und Schuld ringt sich der Goetbesche Held empor zu klarer Erkenntnis des Sinns seines Daseins, zu scharfer Erfassung der letzten Ziele aller menschlichen Tätigkeit, kurz, zu bewußter Vollendung seines ganzen Wesens. Dieses „rechten Weges" mufi sich heute jung und alt bewußt werden, um das wieder zu erobern, dessen der deutsche Mensch in seinem „dunklen Drange" verlustig gegangen ist. Hierfür hat in erster Linie der deutsche Erzieher der Gegenwart zu sorgen. Er mufl sich immer stärker dieser seiner Schönsten Aufgabe widmen, seine Mitmenschen nicht nur durch äußere Ermahnungen, sondern vielmehr, von innen heraus, durch Erfüllung ihrer Seelen mit den fruchtbaren Gedanken unserer größten Dichter und Denker so auszurüsten, daß sie den Kampf mit allen Mächten der Finsternis, die stets am Wege lauern, siegreich durchfechten können. Darin besteht der letzte Sinn einer Faustdeutung in heutiger Zeit! Das vorliegende Buch setzt sich demnach, unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen, neue, erweiterte Ziele. Es will nicht mehr nur dem Lehrer der Schule, sondern auch dem Dozenten an Volkshochschulen und an den neu den deutschen Universitäten angegliederten Pädagogischen Fakultäten eine Hilfe bei der Interpretation der Goetheschen Dichtung sein. Darüber hinaus will es auch jedem Leser unmittelbar zur Seite stehen, wenn er es unternimmt, sich durch die beiden Teile des umfangreichen Werkes hindurchzuarbeiten. Denn ohne einen mit den Ergebnissen der Faustwiss'enschaft vertrauten Führer lassen sich nun einmal viele Szenen der Dichtung, insbesondere ihres zweiten Teils, nicht verstehen. Das Buch wendet sich also in erster Linie an den Leser und nicht an den Zuschauer im Theater. Der bis heute vorliegende wissenschaftliche Apparat wird aber in diesem Buch nur soweit

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herangezogen, als es für das Verständnis des Werkes unumgänglich nötig ist. Denn im gegenwärtigen Augenblick kommt es weniger darauf an, sich über neue Forschungen zum „Faust" zu streiten, als das bereits Erforschte und bisher Anerkannte für einen ungestörten Genufi der Dichtung fruchtbar zu machen. Der Verlag de Gruyter in Berlin hat in' dankenswerter Weise die Neiiausgabe des Werkes übernommen, das seinerzeit mit engerer Zielsetzung bei Quelle & Meyer in Leipzig erschien. Möge ihm in der neuen, erweiterten Gestalt der gleiche Erfolg beschieden sein wie der ersten Ausgabe des Jahres 1930, wenn es nunmehr ein Führer zu werden versucht auf dem Wege zu einer immer mehr in die Tiefe dringefaden geistigen und sittlichen Ertüchtigung unseres ganzen deutschen Volkes. K. L.

EINLEITENDES

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EINLEITENDES A n die Spitze einer wirkungsvollen E i n f ü h r u n g des Lesers in die Goethesche Faustdiditung gehört vor allem eine k l a r e Herausarbeitung i h r e r Bedeutung f ü r j e d e n Menschen, wie geartet er audi sein möge. Damit ist der erste, w i c h t i g s t e Gesichtspunkt der Betrachtung von vornherein in den V o r d e r g r u n d gerückt. Der Leser sieht, es geht u m durchaus g r e i f b a r e Dinge: das Bild des s t r e b e n d e n , zunächst i r r e n d e n , dann aber sich allmählich vollendenden Menschen w i r d vor ihn hingestellt; er ahnt, daß es auch ihm selbst viel zu sagen hat. Unmittelbare Lebensnähe weht ihn an, e r ist sofort gefesselt u n d bald auch, stark innerlich beteiligt. Vom Gegenstande d e r Dichtung, i h r e m Helden, findet sich schnell der Übergang zu ihrem Schöpfer, zu Goethe. Die Blicke des Lesers w e r d e n auf den Dichter gelenkt, den sein W e r k durch ein langes Leben t r e u begleitet; der sich selbst in seinem Helden spiegelt und vieles, was e r erlebt, in seine Dichtung hineinwebt; der sie in jugendlich-stürmischer Begeisterung in Angriff nimmt, sich d a n n oft im G e f ü h l erl a h m e n d e r K r a f t von ihr abwendet, aber immer wieder in n e u g e s t ä r k t e r Arbeitsfreude zu ihr zurückkehrt, bis er schließlich k u r z vor seinem Tode die G e n u g t u u n g empfinden darf, sein Lebenswerk vollendet zu sehen. Dies stellt einen zweiten wesentlichen Gesichtspunkt der Betrachtung dar: es wird ein Einblick in die W e r k s t a t t eines großen Dichters möglich und damit in die Probleme des künstlerischen Schaffens, d. h. in die F r e u d e n und Leiden des schöpferischen Genius. Indessen Goethes Auge schweift in die Weite. Er ist ein Kenner auf fast allen Forschungsgebieten des menschlichen Geistes. So bedeutet sein „Faust" m e h r als ein starkes dichterisches Bekenntnis: e r wird zum Niederschlag eines umfassenden Wissens um alle menschlichen Dinge, auch der

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EINLEITENDES

längst vergangenen. Es entstehen Kulturbilder mannigfacher Art. Die Welt der Antike wird lebendig; eine anschauliche, auf Quellenkenntnis gestützte Darstellung des Zeitalters des ausgehenden Mittelalters sowie der beginnenden Neuzeit wird gegeben, und außerdem offenbart sich Goethe mehr oder weniger bewußt auch als Kind seiner unmittelbaren Umgebung, mit deren Ausstrahlungen er eng verwächst. Vergangenheit und zeitgenössische Gegenwart sprechen somit veieint aus den verschiedenen -Teilen der Dichtung zu uns. Dies ergibt einen dritten fruchtbaren Gesichtspunkt der Betrachtung. Darüber hinaus sendet Goethe seinen prophetischen Blick in die Zukunft, wie es allen wahrhaft genialen Künstlern eigen ist. So reiht sich eine weitere Aufgabe an: es sind die Linien zu ziehen, die von Goethes Werk, d. h. von s e i n e r Gegenwart in die u n s e r e führen uñd uns diese verständlicher machen können. Immer wieder muß es StaunenJ erregen, wie vieles Goethe von dem, was wir heutigen Menschen erleben, vorgeahnt und gerade im „Faust" niedergelegt hat. Eine Fülle feingeprägter Worte trifft unser Ohr, die sich von dem Geschehen einer vorübergehenden Zeitströmung loslösen und für alle Zeiten, alle Menschen, insbesondere .aber für uns, die wir im gegenwärtigen1 Augenblick mit allerlei schwierigen, von u n s e r e r Zeit aufgeworfenen Problemen ringen, Geltung beanspruchen können. Eine ganz anders geartete Gruppe von Beobachtungen wird der formalen, Seite von Goethes Kunstwerk gelten müssen. Sprache und Stil, Vers und Rhythmus stellen sich hier in denDienst eines überreichen geistigen Inhalts und geben der ganzen Dichtung eine letzte Abrundung, die ihre Gesamtwirkung auf Leser und Zuschauer nicht unbeträchtlich erhöht. Auch hierfür den Blick des Lesers von vornherein zu schärfen, erscheint als eine unabweisliche Notwendigkeit; denn Liebe zum deutschen Schrifttum heißt zugleich Freude an der Muttersprache ebenso wie Verständnis für die Schönheit und Kraft ihrer Ausdrudtsformen hervorrufen. Und welches deutsche Dichterwerk könnte auch nach dieser Richtung vielseitigere Anregung bieten als Goethes.„Faust", in dem so viele verschiedenartige stilistische und metrische

EINLEITENDES

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Kunstmittel mit überlegener Meisterschaft zur Anwendung gelangen! Endlich ein letzter Gesichtspunkt: wir können nicht umhin, den vielen Schwierigkeiten ins Auge zu sehen, die die Faustdichtung dem Leser darbietet. Das tun wir natürlich nicht, um ihn zu entmutigen, sondern vielmehr, um ihn zu e r mutigen und zu ernsterem Nachdenken anzuregen. Wir müssen Verständnis dafür erwecken, daß ein großer, umfassend gebildeter· Dichter oft Dinge nur andeutet, anstatt sie auszuführen, und mit Symbolen arbeitet, die zunächst dunkel erscheinen und richtig verstanden sein wollen; daß weitere Schwierigkeiten des Verständnisses sich daraus ergeben, daß des Dichters Arbeit an diesem Werk mehrere Menschenalter gedauert hat und oft unterbrochen worden ist. Und nun ersteht etwas Neues vor dem Geist des Lesers, dem er näher und näher treten muß, wenn er die umfangreiche Dichtung bis in alle Einzelheiten verstehen will, nämlich die F a u s t w i s s e n s c h a f t . Mit unermüdlichem Fleiß hat sie in alle Teile des Werkes hineinzuleuchten gèsucht, eine Fülle des Spürsinns ist aufgeboten worden, um die Bedeutung mancher schwer verständlichen Stelle zu erforschen. Der Name E r i c h S c h m i d t fällt, der U r f a u s t wird lebendig. Dadurch wird der Leser von Anfang an mit Ehrfurcht auch für die philologische Kleinarbeit erfüllt, die er dann im Laufe der Lektüre gelegentlich selbst leisten muß. Alles dies darf natürlich zunächst nur skizzenhaft und vordeutend besprochen werden, als verheißungsvoller Auftakt zu kommender, ernsterer Interpretationsarbeit. So ist denn die zu lösende Aufgabe nach den verschiedensten Richtungen klar umrissen. Die eine Betrachtungsweise muß natürlich die andere sinnvoll ergänzen, damit die E i n h e i t l i c h k e i t der Gesamtarbeit nicht dadurch Schaden leidet.

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ZUEIGNUNG

ZUEIGNUNG Die eigentliche Arbeit der Ausdeutung beginnt mit der Behandlung der „Zueignung". Wir gehen von dem Jahre 1797 aus. Goethe befindet sich in einer abgeklärten, stark rückwärts gewandten Stimmung. Er fühlt sich verzehrt von Sehnsucht nach seiner Jugendzeit und den damaligen gleichstrebenden Freunden. Ihnen ist denn auch die kleine Dichtung zugeeignet. Der Leser muß Verständnis für diese wehmütige Stimmung des Dichters gewinnen, die sich noch stets für das poetische Schaffen auf lyrischem Gebiet als besonders fruchtbar erwiesen hat. Er ist zunächst überrascht, vielleicht sogar enttäuscht über diese Art der Einleitung zu Goethes großem Werk. Er hätte eher einen feierlichen Prolog mit Fanfarenstößen erwartet, etwa wie ihn Schiller seiner Wallensteintrilogie voranstellt oder wie er aus den jubelnden C-DurAkkorden des Meistersinger-Vorspiels R. Wagners uns entgegenklingt. Aber nein! Hier offenbart sich die Besonderheit der goetheschen Dichtweise. Er will zunächst keine Einleitung in den S t o f f seines Werkes geben; er geht, wie es seine Art ist, von der eigenen Stimmung aus, in der er sich gerade befindet, und so enthüllt sich auch hier, wie so oft in seinen Dichtungen, eins der vielen „Bruchstücke einer großen Konfession". Leise und entsagungsvoll klingt es aus den ersten Strophen: „Schwankende Gestalten" umschweben den Dichter, „aus Dunst und Nebel" steigt eine längst entschwundene Zeit auf, Sein Busen fühlt sich „jugendlich erschüttert"; aber sein Lièd „ertönt der unbekannten Menge"; kurz, wir stehen vor einem ergreifenden Bekenntnis seelischer Vereinsamung, dessen dichterische Schönheit uns sofort zum Bewußtsein kommt.

ZUEIGNUNG

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Ist dieser eigentümliche Stimmungsgehalt der Dichtung klargelegt, dann erst ist der Augenblick gekommen, an die Vertiefung des behandelten Stoffes zu denken. Um die „Zueignung" ni dit nur zu g e n i e ß e n , sondern auch zu v e r s t e h e n , bedarf es der Kenntnis der näheren Umstände ihres Werdens. Den Ausgangspunkt bildet abermals das Jahr 1797. Goethe pflegt zu dieser Zeit engsten Verkehr mit Schiller, die beiden Freunde arbeiten vor allem gemeinsam an ihren Balladen. Der bekannte Brief Goethes an Schiller vom 22. Juni 97 gibt hierüber Aufschlug und leitet zum „Faust" über: „Unser Balladenstudium hat mich wieder auf diesen D u n s t - u n d N e b e l w e g gebracht", heißt es darin. „Dunst und Nebel", das sind die Worte, die soeben in der „Zueignung" gelesen worden sind. Der enge Zusammenhang zwischen Leben und Dichten wird erkannt; wie Wortgruppen aus Briefen ohne weiteres in das Dichterwerk übergehen können, wird beobachtet. So gewinnt der Leser allmählich tieferes Interesse für die äußeren Umstände, unter denen dies Kunstwerk entsteht. Eine kurze Ubersicht über Goethes Arbeit am „Faust" von ihren ersten Anfängen bis zum Jahre 1797 wird das Verständnis der Dichtung nicht unerheblich erleichtern. Die Arbeit beginnt in den Jahren 1773—1775, unter dem Einfluß der Zeit des Sturms und Drangs; der „Urfaust" stammt aus dem Jahre 1775. Dann tritt eine lange Unterbrechung der Faustarbeit ein. Erst im Jahre 1788, auf der italienischen Reise, erfolgt ihre Wiederaufnahme, die „Hexenküthe" wird zu den bisherigen Teilen des Werkes hinzugedichtet. 1790 ist das Jahr der ersten Veröffentlichung der nun vorhandenen Bruchstücke unter dem Titel „Faust, ein Fragmen¡t". Dann bleibt die Arbeit wieder liegen, bis Schiller im Jahre 1794 zu ihrer Fortführung mahnt. Erst im Jahre 1797 aber faßt Goetfie den Entschluß, Schillers Drängen zu folgen, und nun dichtet er hintereinander die drei einleitenden Stücke: „Zuéignung", „Vorspiel auf dem Theater" und „Prolog im Himmel". Jetzt kann es an die Ausdeutung der „Zueignung" im einzelnen gehen. Sie führt weiter in die wissenschaftliche Betrachtungsweise hinein. Mit den „schwankenden Gestalten" sind die Hauptgestalten der Dichtung gemeint: Faust, Mephistopheles, Gretchen. Kaum sind sie zum ersten Mal genannt,

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ZUEIGNUNG

erhebt sich auch die Frage, wie Goethe auf sie gekommen ist, und jetzt ist der Augenblick da, näheres über Goethes allmähliches Bekanntwerden mit den Einzelheiten des Stoffes mitzuteilen. Es ist zunächst an das Puppenspiel zu erinnern, und die Ausführungen, die Goethe darüber in „Dichtung und Wahrheit" macht. Dann muß auf die verschiedenen Volksbücher vom Doktor Faust und auf Lessings Faustfragment hingewiesen werden. Audi die Bilder in Auerbachs Keller sind nicht zu vergessen. Eine weitere Stelle der „Zueignung", die zu Erklärungen Veranlassung bietet, ist die Strophe, die mit den Worten beginnt: „Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage". Die Straßburger Zeit Goethes wird hier lebendig. Bei den Worten „erste Lieb'" denkt man an F r i e d e r i k e , bei „Freundschaft" an H e r d e r . Beider Bedeutung für Goethes Entwidmung sind aus seiner eigenen Darstellung in „Dichtung und Wahrheit" bekannt. M e r c k und L e n z sind zu nennen,! wenn es sich um „die Guten" handelt, die, „vom Glück getäuscht", schon längst „hinweggeschwunden"; F. H. J a k o b i . K l i n g e r u. a., wenn in der dritten Strophe auf diejenigen Freunde angespielt wird, die zwar nodi am Leben sind, aber in der Welt zerstreut umherirren. Zusammenfassend kann man die ganze „Zueignung" als eine Huldigung Goethes an die Freundschaft bezeichnen und die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, Vergleiche mit Schillers pathetischen Hymnen auf denselben Gegenstand zu ziehen. Die verschiedene Wesensart der beiden Großen! Weimars tritt dann klar in die Erscheinung. Zum Schluß sei mit einigen Worten auf die Form, insbesondere das Versmaß der „Zueignung" eingegangen. Es handelt sich um den fünffüßigen Jambus, den Ramler f ü r das klassische deutsche Drama nutzbar gemacht hat. L e s s i n g s „N a t h a η", ebenso die großen Dramen aus der Reifezeit G o e t h e s und S c h i l l e r s , zeigen alle dasselbe Versmaß.

VORSPIEL A U F DEM THEATER

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VORSPIEL· AUF DEM THEATER Nach der „Zueignung" e r w a r t e t man, nun a n d e n eigentlichen Fauststoff heranzukommen. Aber noch einmal wird die Geduld des Lesers auf die P r o b e gestellt. Das zweite einleitende Stück ,d.as „Vorspiel auf dem Theater", f ü h r t in eine ganz andere Welt hinein als in die des faustischen Strebens: es g e w ä h r t einen Einblick in die Verhältnisse des T.hèaters, insbesondere der Bühne. Aber auf ihr soll sich j a später die Fausttragödie abrollen, und so gelangt die Bedeutung dieses Vorspiels i n n e r h a l b der Gesamtdichtung bald ins allgeméine Bewußtsein. Man sieht, wie gründlich Goethe sie nach allen Seiten hin vorbereitet, ehe er seine Leser mit d e m ' z u behandelnden Stoff b e k a n n t macht; sie erfahren, d a ß auch das Genie sich nicht willkürlich seinen Eingebungen überläfit, sondern planmäßig, in strenger geistiger Zucht sein Werk einleitet und langsam vor- ihren Augen erstehen läßt. Sobald sie d a r ü b e r ins K l a r e gekommen sind, ist die anfänglich bestehende H e m m u n g überwunden, u n d sie gehen mit gleicher F r e u d e an diese zweite Einleitung wie an die erste. Ja, mehr als das! Kaum sind die ersten Verse gelesen, so stellt sich lebhaftes Interesse ein; denn die in dem Vorspiel zur D a r stellung gebrachte bunte Bühnenwelt ist uns allen bekannt. D r e i verschiedene Gestalten t r e t e n einem hier entgegen, j e d e scharf umrissen und von individueller P r ä g u n g , gleichzeitig aber auch von typischer Bedeutung. Im Mittelpunkt steht der T h e a t e r d i r e k t o r . E r vertritt die praktischmaterialistische Einstellung. Ihm geht es n u r u m den äußeren Erfolg; er weiß, was den Beifall der Menge findet, und d a r u m lautet seine Mahnung: „Besonders aber laßt genug geschehen!" E r k e n n t sein P u b l i k u m genau u n d k a n n es dah e r in seiner Wesensart anschaulich schildern. Mit wenigen, aber bezeichnenden Strichen e n t w i r f t e r aus dem Leben gegriffene Bilder, die jedem Leser leicht eingehen. Dieser läßt sich schnell von der feinen Beobachtungsgabe des Dichters

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VORSPIEL AUF DEM

THEATER

fesseln, b e w u n d e r t die Treffsicherheit seiner Ausdrucksweise u n d fühlt, w i e alles mit natürlichem H u m o r , oft mit launigem Witz u n d gelegentlich auch mit bitterem Sarkasmus gewürzt ist. Diese Anspielungen auf den r o h e n Geschmack des Publikums, wie sie aus dem Munde des v i e l e r f a h r e n e n Theatermannes zu uns dringen, scheinen unmittelbar auch auf unsere G e g e n w a r t gemünzt zu sein; sie h a b e n k a u m etwas an W a h r heit und Frische eingebüßt. „Man kommt zu schauen, m a n will am liebsten sehn", „Gebt i h r ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Solch ein Ragout, es m u ß euch g l ü c k e n ' — w e r w i r d hier nicht an Erscheinungen u n s e r e r Zeit denken, an Auswüchse im Bereich des Films, an Abwege im Schauspiel-, O p e r n - u n d Operettenbetrieb! Wie t r e f f e n d , wenn auch stark aufgetragen, weiß der Direktor die Stimmung und das Verhalten d e r Zuschauer während der A u f f ü h r u n g zu schildern! „Beseht die G ö n n e r in d e r Nähe! H a l b sind sie kalt, h a l b sind sie roh", „Wenn diesen Langeweile treibt — Kommt j e n e r satt vom übertischten Mahle". Diese Verse gewinnen noch an Interesse, wenn man d a r a n denkt, d a ß Goethe selbst T h e a t e r d i r e k t o r in W e i m a r w a r u n d alle diese Dinge aus eigener Beobachtung kannte, d a ß er selbst mit den Schwierigkeiten, ein P u b l i k u m zu fesseln -und zu erziehen, ehrlich gerungen hat. In diesem Zusammenhang ist an jenen d e n k w ü r d i g e n T h e a t e r a b e n d zu erinnern, an dem Goethe aus seiner Loge h e r a u s dem sich ungebührlich benehmenden P u b l i k u m sein „Man lache nicht" mit lauter Stimme entgegenschleuderte Die Klage des Direktors über die oft beobachtete Zerstreutheit des Publikums w ä h r e n d der A u f f ü h r u n g läßt fern e r an die verschiedenen Versuche denken, die u n t e r n o m m e n w o r d e n sind, um bei V o r f ü h r u n g besonders weihevoller Stoffe die Feierlichkeit der Stimmung zu sichern. Die alte Sitte der Passionsspiele in O b e r a m m e r g a u , ebenso in u n s e r e r Zeit der Bau des Bayreuther Festspielhauses durch R. Wagn e r können u n t e T dem Eindruck dieses Teiles des „Vorspiels" leicht zu tieferem Verständnis gebracht w e r d e n . G a n z a n d e r e Gedankengänge treten in den Vordergrund, wenn sich die Betrachtung der Gestalt des D i c h t e r s im Vorspiel zuwendet. Hier w i r d Goethes Kunst in der Gegenüberstellung starker Gegensätze wie so oft e r k e n n b a r . D e m

VORSPIEL AUF DEM THEATER

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der Wirklichkeit zugewandten, illusionslosen Direktor antwortet der Idealist, der alles in poetischer Verklärung zu sdiauen gewohnt ist. Er geht als Träumer durch die Welt und empfängt seine Gesichte aus höheren Regionen, Die Verherrlichung der Dichtkunst aus seinem Munde gehört zu den schönsten Bekenntnissen Goethes über das Wesen der von ihm ausgeübten Kunst und findet schnell den Weg zu dem Herzen der Leser. Die berühmte Stelle, die mit den Versen beginnt: „Wodurch bewegt er alle Herzen? Wodurch besiegt er jedes Element? . . . " wird jedem Besonderes zu sagen haben, und niemand wird yon dem dichterischen Schwung dieser Ausführungen unberührt bleiben. Hier ist es leicht, die Linien auch zu dem Werke Goethes zu zieheny in dem er das Wesen des Dichters am tiefsten erfafit und am liebevollsten darstellt, zum „Tasso". Selbst an wörtlichen Übereinstimmungen fehlt es nicht. Im Vorspiel" heifit es: „Ist es der E i n k l a n g nicht, der aus dem Busen dringt", und im „Tasso": „Sein Ohr vernimmt den E i n k l a n g der Natur". Es interessiert, zu beobachten, wie ein Dichter sich gelegentlich wiederholt und Anleihen bei sich selbst macht. Hier kann auf Beethoven hingewiesen werden, der mehrfach, bewufit oder unbewußt, Themen aus eigenen Sonaten und Kammermusikwerken in seinen Symphonien, und auch umgekehrt, verwertet. Oft kommt es zwar zu keinen wörtlichen Anklängen, aber doch zu einer völligen Übereinstimmung des Sinnes. Im „Vorspiel auf dem Theater" heißt es: „Wer ruft das E i n z e l n e zur a l l g e m e i n e n Weihe", im „Tasso": „Das w e i t Z e r s t r e u t e s a m m e l t sein Gemüt". Auch ein kurzer Hinweis auf die „Lehrjahre" ist angebracht, wo Goethe im zweiten Kapitel des zweiten Buches eine ausführliche Prosaschilderung des dichterischen Schaffens gibt. Weiterhin kommen wir dann zu der Stelle, an der der Dichter seiner Jugendzeit gedenkt. Sehnsuchtsvoll ertönt sein Aufschrei: „So gib mir auch die Zeiten wieder, da ich nodi selbst im Were' λ war". Er kommt, wie wir wissen, zugleich aus dem übervollen Herzen Goethes, und schnell ist die innere Verbindung mit der soeben gelesenen „Zueignung" hergestellt. in der das Wiederaufleben der „Bilder froher Tage" den Dichter in eine ähnliche, wehmütig-entsagungsvolle Stimmung versetzt. 2 L e v i n s t e i n ,

Goethes

Faust

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PROLOG IM HIMMEL

Wiederum in scharfem Gegensatz zu dem Poeten steht die dritte Gestalf des Vorspiels, die L u s t i g e P e r s o n . Sie nimmt alle Dinge leicht und setzt sich mit unbekümmertem Humor über alle Sorgen hinweg. Beim Dichter herrscht das melancholische, hier das sanguinische Temperament vor. Dafi die Lustige Person für den Augenblickserfolg eintritt und deshalb die stete Verbindung des Ernstes mit dem Scherz fordert» liegt in ihrem Wesen begründet. Ihre Mahnung „nich.t ohne Narrheit!" führt zur Behandlung eines interessanten Kapitels der literarischen Stoffgeschichte. Es liegt nahe auf Shakespeare einzugehén und die Verwendung des Narren in seinen Dramen. Daran knüpft sich leicht eine vergleichende Betrachtung der komischen Figur im Drama überhaupt, von den1 ältesten Zeiten an. Des Kaspers oder Hanswursts des 16. Jahrhunderts und der Folgezeit ist za gedenken, ferner des Pickelhärings des 17. Jahrhunderts, audi Gottscheds Kampf gegen den Hanswurst im 18. Jahrhundert sei erwähnt, und so gelangt man dann schnell in die neuere und neueste Zeit, in der die Figur des Clowns noch immer Heiterkeitsstürme zu entfesseln weiß. Mit der Mahnung: „Der Worte sind genug gewechselt, — Laßt ntich auch endlich T a t e n sehen" gibt der Direktor zum Schluß das Zeichen zum Beginn des Stückes und bereitet in knapper Zusammenfassung auf seine Eigenart vor: „Vom Himmel durch die Welt zur H o l l e". Nach der vielsagenden Verheißung dieses letzten Verses sieht jeder dem Anfang der Haupthandlung mit besonderer Spannung entgegen, die nun schnell befriedigt wird.

PROLOG IM HIMMEL Jetzt ertönen, den Hauptstoff einleitend, volle Akkorde, wenn im Himmel die drei Erzengel vortreten; wenn Raphael die Sonne und Gabriel die Erde preisen, und wenn schließlich Michael die Stürme besingt, die um die Wette vom Meer aufs Land und wieder vom Land aufs Meer brausen. Die Welt K l o p s t o c k s wird lebendig. Daran schließt sich dann wirksam die Huldigung an den Herrn an, die aus dem Munde der drei gemeinsam erklingt und in den Worten gipfelt: „Und alle deine hohen Werke — Sind herrlich wie am ersten

P R O L O G IM H I M M E L

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Tag". Was vorher zu f r ü h e r w a r t e t wurde, stellt sich, also jetzt im dritten Vorspiel ein: das jubelnde Fortissimo als festlicher Auftakt, der die ewige Macht Gottes veransthaulicht und an rauschende Klange aus H a y d n s Sdiöpfung erinnert. Sdinell aber w i r d das Interesse nadi einer ganz anderen Seite hingelenkt. Im schroffsten Gegensatz zu dem Lobgesang der Engel steht die erste R e d e des Mephistopheles. E r stellt sich sofort als nüchterner K r i t i k e r dar, der n u r die negativen Seiten von allen Dingen sieht und sehen will. Alles auf der E r d e findet er ..herzlidi schlecht", die Menschen, dauern ihn „in ihren Jammertagen", so daß sogar er mit ihnen Mitleid haben mufi. Das sind Töne, die durchaus nicht fremd klingen und keineswegs unsympathisch wirken. Man horcht auf, w e n n man nun aus des Teufels Munde die erste treffende C h a r a k t e r i s t i k des Helden der ganzen Dichtung erhält. „Und alle Näh' und alle F e r n e —• Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust". In diesen Worten spiegelt sich eines der Hauptprobleme der gewaltigen Tragödie. Es handelt sich um den Edel- oder Übermenschen, der in t i t a n e n h a f t e m D r a n g e nach dem Höchsten greifen, das Sichtbare wie Unsichtbare erforschen will und nie befriedigt in i n n e r e r Unrast dauernd vorwärts strebt. Diesem Problem f ü h l t sich mancher Leser innerlich verwandt, und an dieser Stelle kommt ihm das, was Goethe mit seiner Faustdichtung bezweckt, zum ersten Male zu k l a r e r e r Erkenntnis. E r beginnt zu verstehen, wie Goethe aus eigener K r a f t der ü b e r l i e f e r t e n Faustsage einen tieferen Sinn gibt, w e n n er jetzt auf die erste wichtige V e r ä n d e r u n g a u f m e r k s a m wird, die der Dichter an seinem Stoff vornimmt. Dadurch nämlich, daß Goethe das b e k a n n t e Motiv der Wette schon hier im „Prolog im Himmel", angeregt durch die ähnliche Wette im Buch Hiob, anklingen läßt, schafft er einen deutlich sichtbaren Faden, der sich durch die ganze Dichtung zieht und sie in allen ihren mannigfaltigen Teilen fest zusammenhält. Auf der einen Seite steht der Herr, der in göttlich überlegener Sicherheit darauf vertraut, daß F a u s t den Weg des Rechten niemals d a u e r n d verlassen wird, auf der a n d e r e n der T e u f e l ; er will es unternehmen, Faust, den der H e r r als seinen Knecht bezeichnet, von der Bahn des Guten abzubringen u n d der Hölle als willkommene Beute zu über2*

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PROLOG IM HIMMEL

antworten. A u s dieser von Mephisto allerdings n u r vorgeschlagenen Wette, auf die d e r H e r r nicht eingeht, entwickelt sich, von vornherein eine spannende Handlung, die in d e r F r a g e gipfelt: w i r d es dem T e u f e l gelingen, gestützt auf die vom H e r r n erhaltene „Erlaubnis", Faust auf den Weg des Bösen zu f ü h r e n ? Damit h a t Goethe dem alten Stoff eine n e u e W e n d u n g gegeben, die das Interesse des Lesers schnell erweckt und durch die ganze Dichtung wachhält. I n diesem Prolog sind aüch schon die beiden K e r n w o r t e enthalten, die, jedes für sich, als Motto über der ganzen Dicht u n g stehen könnten: „Es i r r t der Mensch, solang' ετ strebt" Und „Ein g u t e r Ménsdi, in seinem dunklen D r a n g e — Ist si^h des rechten Weges wohl bewußt". Das erste stellt den I r r t u m in den Mittelpunkt, dem der Mensch auf dem steilen W e g zur Höhe n u r allzu leicht verfällt; das zweite dagegen v e r t r a u t auf die Z i e l s i c h e r h e i t des g u t e n Menschen, der, trotz allen Irrens, doch schließlich den rechten Weg zu finden weiß. Diese beiden W o r t e f ü g e n zur spannenden H a n d l u n g d e n tieferen Kern. Dadurch w i r d bei dem Leser neben dem ä u ß e r e n Interesse f ü r den S t o f f zugleich jdas innere Bemühen um d e n S i n n geweckt. D a s entspricht durchaus seinen Wünschen. Die bloße Wiedergabe von Vorgängen allein, so spannend sie auch sein mögen, reizt nicht. Sein B e d ü r f n i s nach einer s i n n v o l l e n Handlung, die seine geistigen K r ä f t e zugleich in Bewegung setzt, befriedigt Goethes „ F a u s t " in besonderem Maße. D a r a u s e r k l ä r t sich d e r starke Widerhall, d e n gerade diese Dichtung bei j u n g u n d alt findet u n d der schon beim Lesen des „Prologs im Himmel" mit ganzer Stärke einsetzt. Hinzu k o m m e n die Leichtigkeit der Darstellung u n d die Gemütlichkeit des Tons, die bei einem an u n d f ü r sich so schwierigen u n d von so tiefen Problemen durchsetzten Stoff n u r dem ganz großen Meister gelingen. W i e köstlich ist d e r H e r r gezeichnet! Kein schweres Pathos, k e i n aufdringliches Predigen sind ihm eigen. Alles, was e r sagt, ist getragen, von fast schalkhaftem Humor, v e r b u n d e n mit gütigem Verständnis f ü r die Schwächen des Menschengeschlechtes. Ja, a u c h seinem unerbittlichen Gegner Mephisto gegenüber findet e r k e i n scharfes W o r t und schlägt den fast freundschaftlichen Ton einer gewissen· Kollegialität an, der sich trotzdem nichts

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vergibt u n d der sieghaften U n n a h b a r k e i t des Beherrschers des Alls keinen Abbruch tut. Audi Mephisto benimmt sich höflidi u n d wohlerzogen. E r weiß die Vornehmheit des H e r r n zu schätzen und begegnet ihm mit Aditung. Er tritt ihm sachlich zwar sdiarf entgegen, indem er seine Schöpfung tadelt, aber er t u t es doch in redit mafivoller, fast ritterlicher F o r m , und seine b e k a n n t e n Schlufiworte „Von Zeit zu Zeit seh' idi den Alten g ê r n . . . " geben dem Streit einen ganz friedlidi versöhnenden Absdilufi. Und hier ist auf eine weitere g r u n d legende V e r ä n d e r u n g hinzuweisen, die Goethe am Fauststoff vorgenommen hat. Er schafft einen Teufel, der eigentlich kein Teufel ist, der weit hinauswädist über den von u r a l t e r Sage überlieferten T y p u s des Seelenfängers, der fast zum M e n s c h e n wird, und zwar zu einer ETsdieinung, wie wir sie alle aus dem täglidien Leben kennen. Der Gegner alles Hohen steht vor uns, der Verächter der Ideale, der Spötter, der gern Erhabenes in den Staub zieht und dem w i r dodi nie ganz gram sein können, weil er die Gabe des schnell versöhnenden Humors besitzt und oft mit schlagendem Witz den Nagel auf den Kopf trifft; Niemand erkennt die Bedeutung eines solchen Wesens f ü r den strebenden Menschen besser als der H e r r selbst. Dies zeigen seine b e k a n n t e n Worte: ..Von allen Geistern, die verneinen . . . " . Damit ist die Rolle, die Mephisto in der goetheschen Dichtung spielt, klar gekennzeichnet. Er tritt neben den Helden! der Dichtung, als V'erkörperung eines· Prinzips, mit dem "jeder höher strebende Mensch, sich auseinandersetzen mufi, ja. dessen Wirk u n g er oft in seiner eigenen Seele spürt; das ihn herniederziehen will, w ä h r e n d er sich a u f w ä r t s zu entwickeln h o f f t ; das er entweder siegreich überwindet oder dem e r schwächlich unterliegt. Jeder Mcnsch kennt audi diesen inneren Kampf zwisdien gut und böse, zwischen Pflidit und Neigung, zwischen Sdrwäche u n d Stärke, der a u d i in der eigenen Brust oft zu entbrennen beginnt und dessen Ausgang meist recht zweifelhaft ist. Mit u m so s t ä r k e r e r innerer Anteilnahme wird er die nun beginnende eigentliche F a u s t h a n d lung verfolgen.

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DER TRAGÖDIE ERSTER TEIL Nacht D i e Spannung löst sich, man erblickt, nach der vorbereitend e n C h a r a k t e r i s t i k im Prolog, zum ersten Male Faust selbst, „ u n r u h i g auf seinem Sessel am Pult, i m hochgewölbten, engen gotischen Zimmer". Man muß sich zunächst in die Stimmung Fausts hineinversetzen u n d 'mit dem Gedankengehalt dieses Monologs v e r t r a u t werden. Man lernt in dem g r ü b e l n d e n Doktor einen zwar hochbegabten G e l e h r t e n kennen^ der aber von seinem Wissen nicht befriedigt ist, der an seinem Beruf und seinem Lebensglück verzweifelt. Auf natürlichem W.ege ist er nicht zu seinem Ziele gelangt: zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält". Desh a l b h a t er sich der Magie ergeben, um auf diese Weise hinter die letzten Geheimnisse der N a t u r zu kommen. Aber a u d i dies Streben bleibt zunächst erfolglos, und so qmpfindet er glühendes Verlangen nach der lebendigen N a t u r und nach Bergeshöhn, die er im D ä m m e r des Mondenscheins so gern durchstreifen w ü r d e . Aus dieser Stimmung e r k l ä r t sich ein haßerfüllter Ausbruch gegen das „verfluchte, dumpfe Mauerlodi", gegen „angeraucht P a p i e r " und „Urväter Hausrat". Solche Gefühlsausbrüche finden schnell Eingang in die Seelen jedes Lesers. Wem pflegen sie ganz f r e m d zu sein? Dürstet nicht j e d e r nach Freiheit und tummelt sich lieber in schöner Natur, anstatt im Zimmer hinter Büchern zu hocken u n d Kenntnisse aufzuspeichern? Und nicht minder willig geht der Leser mit. w e n n F a u s t seinen Blick zu höh e r e n Regionen geheimnisvoll erhebt u n d im Zauberbuch des Nostradamus das Zeichen des Makrokosmus erblickt. Er begreift seine Enttäuschung, w e n n es ihm nicht gelingt, von hier aus die „Quellen alles Lebens, an denen Himmel und E r d e hängt", zu entdecken. Danach w i r d er Zeuge seiner Erniedrigung durch den Erdgeist, den Gewaltigen; der den ü b e r seine irdische Sphäre h i n a u s d f i n g e n d e n Menschen verhöhnt u n d mit d e n Worten: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst" zu Boden schleudert. Eine nur k u r z e Szene, die aber von starker (dramatischer Wucht ist u n d den K e r n der Tragödie des strebenden Menschen aufdeckt.

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Sind alle diese Vorgänge zu tiefer, menschlicher Wirkung gelangt, heißt es Halt machen und das Gelesene auch wissenschaftlich vertiefen. Wir stehen vor einer Dichtung der goetheschen Frühzeit. Die Eingangsverse „Habe nun, ach! Philosophie..." bezeichnen nidit nur den Anfang der Jugenddiditung Goethes, sondern stellen sich zugleich als ältester Bestandteil der Faustiiberlieferung dar, die diesen Anfangsmonolog mit den ersten Versen· von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt. Jetzt ist es Zeit, immer von der Dichtung selbst ausgehend, die Entwicklung der Faustsage eingehender zu beleuchten. Die Urformen der FauStgestalt erregen Interesse. An ihrer Spitze steht Georgius Sabellicus oder Faustus junior. Der Mythus bemächtigt sich dieser Gestalt und überträgt allerlei Wundergeschichten auf sie, ähnlich wie es dem Till Eulenspiegel ergeht. Der Teufel begleitet Faustus in Hundsgestalt, schließlich erwürgt er ihn in einem württembergischen Dorfe. Weiter ist auf die Sage von Joh. Faust (Fust) aufmerksam zu machen, der aus Auerbachs Keller auf einem Faß hinausgeritten und mit einem Zaubermantel durch die Luft geflogen sein soll u. a. Diese Geschichten sind in einer Reihe von Faustberichten gesammelt, die für Goethes Dichtung von Bedeutung sind. Es kommen in Betracht: 1. das in F r a n k f u r t a. M. im Jahre 1587 von S p i e s herausgegebene; 2. das von W i d m a n n in H a m b u r g (1599) veröffentlichte; 3. das Faustbuch des Arztes P f i t z e r , N ü r n b e r g (1674); 4. das Buch des C h r i s t l i c h M e i n e n d e n , F r a i j k f u r t a.- MC (1728), das Goethe besonders gut kannte Daneben ist die englische Entwicklungslinie wichtig. An ihrem Anfang begegnet man Chr. Marlowes Drama „Doktor Faustus" mit dem bekannten Eingangsmonolog und der hochdramatischen Schlußszene, in der Faust um Mitternacht vom Teufel geholt wird. Die weitere Entwicklung des Stoffes führt zu den englischen Komödianten des 17. Jahrhunderts, durch deren Vermittlung er in Deutschland bekannt wird. Das Volksschauspiel vom Doktor Faust .entsteht, und bald entbrennt der Kampf, den der beim „Vorsp. auf dem Theater" schon erwähnte Gottsched im 18. Jahrhundert gegen das Volksschauspiel führt. Er endet mit der Übersiedlung des Fautstoffes auf die Marionettenbühnen, wo ihn

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Goethe als Kind kennenlernt. Lessings in der Einleitung schon gestreiftes F a u s t f r a g m e n t schließt diese Betrachtungsreihe ab. Seine Arbeit a n der Veredlung des Stoffes f ü h r t vorwärts. Faust ist nidit mehr der alte F r e v l e r an allem Heiligen, sondern ein Liebling Gottes, der vom Streben n a d i Wahrheit e r f ü l l t ist. Hervorzuheben ist, dafi Lessing hier schon zum ersten Male die Rettung Fausts im Auge hat, wie es aus d e n Sdilußworten der Engel zu den T e u f e l n : „Ihr sollt ni dit siegen", hervorgeht. Nachdem in die Geschichte des Fauststoffes tiefer eingedrungen w o r d e n ist, ist j e d e r in d e r Lage, genauer zu übersehen, w a s Goethe an Quellen f ü r seine Dichtung vorfindet, an welche von ihnen er a n k n ü p f t u n d wie er sie dann selbständig weiter ausgestaltet. D e r Leser f ä n g t an, sich ü b e r den Stoff zu erheben u n d w i r d somit allmählich in den Stand gesetzt, Goethes große Leistung am Fauststoff zu begreifen u n d a u d i k r i t i s c h zu würdigen. Noch nach einer ande'ren Seite läßt sich der Gesichtskreis erweitern. Goethe begnügt sich nicht damit, im ersten Faustmonolog ein Seelengemälde seines Helden zu entwerfen, sondern hier ist die Stelle, an der er es versucht, ein Bild von dem Geist des ausgehenden Mittelalters u n d der beginnenden Neuzeit zu entrollen. Es gilt also, nadh dem in der Einleitung Gesagten, den Blick a u d i f ü r diese Seite der Dichtung zu schärfen, u n d d a f ü r zu sorgen, daß -das kulturgeschichtliche Wissen des Lesers an der H a n d \der Lektüre v e r m e h r t wird. Die W o r t e „Heiße Magister, heiße Doktor g a r " geben Gelegenheit, auf Wesen u n d Einrichtungen d e r mittelalterlichen Universitäten hinzuweisen, insbesondere auf die damalige Bedeutung der philosophischen oder artistischen F a k u l t ä t . Ein Eingehen auf die Stellung von Astrologie u n d Magie in der mittelalterlichen Wissenschaft w i r d besonderes Interesse w a d i r u f e n . In Nostradamus lernt m a n den b e k a n n t e n Astrologen und Arzt des 16. Jahrhunderts, M i t t e l de Notre Dame, einen Zeitgenossen Fausts, k e n n e n . Schon aus den Titeln seiner Werke, „Witterungslehre" und „Prophezeiungen", k a n n m a n seine Geistesrichtung erschließen. Das Zeidien des Makrokosmus f ü h r t dann hinein in die mystisdi-kabbalistisdie Lehre von den drei Welten: die übersinnlich-seelische, die himmlische und

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die elementare, die untereinander in Wechselwirkung stehen. Erst wenn der Leser darüber unterrichtet ist, kann er die Stelle: „Wie Himmelskräfte auf. und nieder steigen — Und sich die goldenen Eimer reichen" richtig verstehen. Schließlich kommt das Zeichen des Erdgeistes zur Erörterung. Er erscheint als Welten- und Tatengenius, als Geist der elementaren Welt. So ergibt sich hier eine Fülle neuer Anregungen für ein vertieftes Verständnis mittelalterlicher Gebräuche und Anschauungen. Gleichzeitig tut sich Goethes eigenes Zeitalter in diesem Monolog auf. Die Sehnsucht nach der Natur, die aus dei* Versen Fausts glüht, ebenso wie seine Abneigung gegen Bücher und trockenes Wissen, versteht man als Kennzeichen des „Sturms und Drangs". Die eindrucksvolle Gestalt Rousseaus wird dadurch zum Leben erweckt, denn es ist bekannt, daß unsere Großen, Goethe, Schiller, Herder als begeisterte Jünger in seinem Sinne gedichtet und gewirkt haben. Nachdem der Drang nach. Wissensstoff befriedigt ist, kehrt der Leser gern zum Fortgang der Handlung zurück, um so mehr, als sich nun zu dem auf dem Eingangsmonolog lastenden Ernst einige erheiternde Wirkungen hinzugesellen. Während Faust nach dem Verschwinden des Erdgeistes zusammenstürzt, klopft es, und anstatt des mächtigen Geistes erscheint der „trockene Schleicher", Famulus Wagner, in Schlafrock und Nachtmütze, die Lampe in der Hand; der kleine, selbstzufriedene Stubengelehrte^ der verkörperte Philister neben de'm ins Weite strebenden, nie befriedigten Genius Faust! Dieser Gegensatz, der im täglichen Leben so häufig zu beobachten ist, offenbart sich in dem Gespräch zwischen Faust und Wagner in seiner ganzen Schärfe. Er ist der stärksten Anteilnahme sicher; denn wir verabscheuen alle nichts so sehr als pedantische Trockenheit und geben uns daher den aus tiefem Herzen kommenden Offenbarungen des faustischen Geistes mit um so größerer Zustimmung hin. Wenn Faust von der Höhe seiner wahren Bildung diesen auf sein angehäuftes äußeres Wissen so stolzen Schwätzer überlegen abfertigt, gewinnt der Leser den zuverlässigen Maßstab für das Erkennen des fruchtbaren Wissens und der wirklichen Größe gegenüber aller Schein-

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gelehrsamkeit und leeren Prahlerei. Faustische Worte, wie; „Es trägt Verstand und rechter Sinn — Mit wenig Kunst sich selber v o r " oder „Erquickung hast du nicht gewonnen — Wenn sie dir nidit aus eigener Seele quillt" oder das Bekenntnis „Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen" werden in Ohr und Sinn jedes Lesers haften bleiben und „seinem Urteil höhere Gesetze geben". Und wenn schließlich Wagner Faust mit den Worten verläßt: „Zwar weiß ich viel, doch, möcht' idi alles wissen", dann versteht man nur zu gut, daß sich Faust durch diesen „Geist" in der F ü l l e seiner Gesichte nur gestört fühlen kann und solch, einer Kreatur gegenüber sein verlorenes Selbstbewußtsein allmählich zurückgewinnt. Allerdings nur für kurze Zeit; denn kaum hat Wagner das Zimmer verlassen, versinkt er wieder in zermarterndes Grübeln. D e r Einfluß der tiefschwarzen Nadit und die Polgen der Zurückweisung, die er durch den Erdgeist erfahren hat, madien sich geltend. Sein Blick heftet sich auf die Phiole, das dickbäuchige Gefäß mit langem Hals, das in der Alchemie einst so häufig Verwendung fand. Der Gedanke, seinem nutzlosen Leben ein schnelles Ende zu bereiten, erfaßt ihn mit stürmischer Kraft; er greift zur „kristallnen reinen Sdiale" und füllt sie mit Gift. E r ist fest entschlossen, sie zu leeren ,und zwar in vollem Bewußtsein der Ungewißheit des Menschen über das ihm nach dem Tode bevorstehende Schicksal. Aber in seine letzten, dem Morgen geltenden Abschiedsworte tönen bereits die Frühglocken und der Chorgesang des Ostertages hinein, und man steht vor einer der ergreifendsten Stellen, der ganzen Dichtung. Faust hält inne, lauscht den ihm bekannten Klängen und wird von Rührung übermannt bei dem Gedanken an seine Kindheit, während der er so oft diese Lieder gehört und wohl auch selbst gesungen hat. E r ist dem Leben zurückgegeben und fühlt neue Kraft in sich, weiter seine Bürde zu tragen. Die Bedeutung dieser Szene liegt in der poetischen' Verklärung, in der die Kindheit hier erscheint. Sie zeigt, daß Kleinmut schnell in neue Lebenskraft, verzweifelnde Schwäche in hoffnungsbelebte Stärke umschlagen kann, und daß dem Menschen die Fähigkeit innewohnt, trübe Anwandlungen unter dem Eindruck froher Bilder der Kindheit erfolgreich niederzukämpfen. So wird der dem

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Leben zurückgewonnene Faust eine vielsagende Offenbarung für manchen Menschen werden, der schon die Macht des Leides in seiner Seele gespürt hat. Besondere Beachtung ist aus diesem Grunde den Ostergesängen zu schenken, deren Inhalt der Stimmung Fausts sinnvoll angepaßt ist. Aus dem ersten Chor der Engel tönt das Wort F r e u d e an Fausts Ohr, der zweite enthält den Gedanken der P r ü f u n g . Der Chor der Jiüiger singt die Verse: „Adi, àn der Erde Brust — Sind wir zum L e i d e da", und den Abschluß bildet der jubelnde Schliißgesang der Engel: „Christ ist erstanden — Aus der Verwesung Schoß. Reißet von Banden freudig euch los!" Aus diesen Worten erkennt Faust, daß es sich audi für ihn um eine P r ü f u n g handelt, die es zu bestehen gilt; daß auch er si