Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene: Das Verhältnis betrieblicher und tariflicher Rechtsetzung auf der Grundlage rechtstatsächlicher Erkenntnisse [1 ed.] 9783428511051, 9783428111053

Holger Brecht analysiert das Spannungsverhältnis tariflicher und betrieblicher Rechtsetzung. Zunächst stellt er die Erge

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Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene: Das Verhältnis betrieblicher und tariflicher Rechtsetzung auf der Grundlage rechtstatsächlicher Erkenntnisse [1 ed.]
 9783428511051, 9783428111053

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HOLGER BRECHT

Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 215

Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene Das Verhältnis betrieblicher und tariflicher Rechtsetzung auf der Grundlage rechts tatsächlicher Erkenntnisse

Von

Holger Brecht

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Hans Böckler Stiftung

Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-11105-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Meinen Eltern

Vorwort Das Verhältnis von Tarifverträgen und betrieblichen Regelungen ist in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand lebhafter öffentlicher Debatten gewesen. Nicht zuletzt in der politischen Diskussion erlebte das Thema nach Phasen mehrmonatiger scheinbarer Ruhe in unregelmäßigen Abständen plötzlich erneut größte Aufmerksamkeit. Der Streit entzündete sich dabei zumeist an der Frage nach der Zulässigkeit betrieblicher Bündnisse für Arbeit, am Vorschlag einer gesetzlichen Änderung des Günstigkeitsprinzips oder an der Forderung nach einer gesetzlichen Einschränkung des Tarifvorbehalts. Ein dauerhaftes Ende der Debatte erscheint derzeit nicht absehbar. Auffällig ist die Pauschalität, mit der hierbei vielfach argumentiert wird: Eine genaue Betrachtung der Anwendungsbedingungen von Flächentarifverträgen in den Betrieben findet zumeist nicht statt. Die empirische Untersuchung dieser betrieblichen Wirklichkeit stellt einen Schwerpunkt der Arbeit dar. Die rechtstatsächlichen Erkenntnisse bilden zugleich die Grundlage zur rechtlichen Bestimmung des Spannungsverhältnisses von tariflicher und betrieblicher Rechtsetzung. Darüber hinaus soll versucht werden, tarifpolitische Ansatzpunkte für eine sinnvolle Verzahnung beider Regelungsebenen aufzuzeigen. Die vorliegende Untersuchung ist die aktualisierte Fassung meiner im Wintersemester 2001 /2002 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg eingereichten Dissertation. Für die Veröffentlichung wurde die neuere Literatur bis November 2002 berücksichtigt. Herzlich danken möchte ich in erster Linie Herrn Prof. Dr. Armin Höland, der als Leiter des Forschungsprojekts "Flächentarifvertrag und Günstigkeitsprinzip" mein Interesse auf das Themengebiet lenkte. Als Betreuer der Dissertation hat er mich in allen Phasen der Arbeit bestärkt und unterstützt. Sein Anspruch als Wissenschaftler, mit möglichst großer Offenheit an unbekannte Sachverhalte heranzugehen, ist für mich ein Vorbild. Ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin ich Dr. Uwe Reim, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter maßgeblich zum Gelingen des genannten Forschungsprojekts beigetragen hat. Die Dissertation wäre ohne die empirischen Erhebungen im Rahmen des Forschungsprojekts nicht möglich gewesen. Herrn Prof. Dr. Klaus Moritz danke ich nicht allein für die Anfertigung des Zweitgutachtens. Vielmehr hat er bereits das Forschungsprojekt aufmerksam verfolgt und durch kritische Anmerkungen einen konstruktiven Beitrag geleistet.

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Vorwort

Mein herzlicher Dank für hilfreiche Diskussionen über einzelne Abschnitte der Arbeit gilt Julia Lorenz, Thomas Rossmanith, Birte Heitzmann und Dott. Aurelia Colombi Ciacchi. Bedanken möchte ich mich ferner bei PD Dr. Josef Falke für zahlreiche weiterführende "Flurgespräche". Besonders dankbar bin ich dem Zentrum für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen, in dessen Arbeit ich eingebunden war und dem ich mich auch nach Abschluss des Forschungsprojekts weiter zugehörig fühlen durfte. Schließlich richtet sich mein Dank an die Hans Böckler Stiftung, die das Promotionsvorhaben mit einem Stipendium unterstützt und die Veröffentlichung durch einen Druckkostenzuschuss ermöglicht hat. Ich widme dieses Buch meinen Eltern. Hamburg, im März 2003

Holger Brecht

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

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Teil]

Empirische Untersuchung § 1 Forschungsziele und Methodik I. Ziel der Untersuchung

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Ho Untersuchungsmethode

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§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen 10

Lernen der Tarifvertragsparteien von betrieblichen Modellen

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Ho Angleichungsdruck auf Tarifverträge durch betriebliche Regelungen 1. Kenntnisnahme der Tarifvertragsparteien ........ 20

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Die Bedeutung von Großbetrieben

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b) Betriebliche Aushandlungsprozesse c) Zwischenergebnis

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Die Nutzung von Abweichungen als Verhandlungsmittel a) Tarifverhandlungen

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Offengelassene tarifvertragliche Regelungen

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Präjudizwirkung am Beispiel von Arbeitszeitkonten in der Metallindustrie a) Leber-Kompromiss

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b) Ausweitung des Ausgleichszeitraums auf Monate 6

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c) Abschluss des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung d) Aktuelle Situation

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e) Reaktionsmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien

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Inhaltsverzeichnis 6. Präjudizwirkung am Beispiel der Philipp Holzmann AG

65

a) Darstellung der Ereignisse ..............................................

65

b) Schlussfolgerungen .....................................................

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111. Ergebnis .....................................................................

70

§ 3 Anwendung des GÜDstigkeitsprinzips ...........................................

72

I. Betriebspraktische Bedeutung des Günstigkeitsprinzips .......................

72

1. Geltendes Verständnis von Günstigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

2. Veränderter Günstigkeitsmaßstab ..........................................

76

a) Nutzung des Günstigkeitsprinzips zur Rechtfertigung abweichender Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

b) Mögliche Konsequenzen für das Tarifsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

11. Präjudizwirkung durch begünstigende Betriebsvereinbarungen ...............

84

111. Ergebnis .....................................................................

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§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis ..................

87

I. Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Schriftlich fixierte und von den Betriebsparteien unterzeichnete Vereinbarungen ..................................................................

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2. Schriftlich fixierte Vereinbarung ohne beiderseitige Unterschrift ...........

89

3. Mündliche Vereinbarung................................................ . ..

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4. Stillschweigende Vereinbarung ............................................

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11. Regelungsbereiche ...........................................................

92

1. Absprachen zur Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat .........

92

2. Betriebliche Regelungen ...................................................

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3. Handhabungsabsprachen ...................................................

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111. Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Gründe für den Verzicht auf Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

1. Vertrauensbeweis ..........................................................

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2. Taktische Überlegungen ...................................................

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3. Flexible Anpassung an betriebliche Belange ...............................

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Inhaltsverzeichnis

11

4. Venneidung unerwünschter Öffentlichkeit ...................... . ...... . ... 100 5. Rechtliche Gründe ......................................................... 102 6. Zwischenergebnis ......................................................... 105 V. Faktische Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Bindungswirkung für Betriebsparteien ..................................... 106 2. Bindungswirkung für Arbeitnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Fehlende einzelvertragliche Umsetzung von Regelungsabreden ......... 108 b) Individuelle Entscheidungssituation bei einzelvertraglicher Umsetzung. 108

3. Fazit.......................................................................

110

VI. Ergebnis .....................................................................

111

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat . . . . . . . . 112

I. Stil der Mitbestimmung ...................................................... 113

11. Typische Einflussfaktoren für Verhandlungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Rückhalt in der Belegschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Wirtschaftliche Situation des Betriebs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Erfahrenheit und Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien ............... 120 4. Nutzung von Austauschprozessen .......................................... 122 5. Trennung von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz ...... . .. 125 6. Infonnationslage des Betriebsrates......................................... 126 7. Abhängigkeit von unternehmerischen Entscheidungen..................... 128 III. Strukturelles Ungleichgewicht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 IV. Ergebnis ....................... . ............................................. 135 § 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen ........................ 136

I. Einigungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 11. Tarifliche Schlichtungsstellen ................................................ 141 III. Paritätische Kommissionen................................................... 146 IV. Ergebnis ..................................................................... 148

12

Inhaltsverzeichnis

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten ..... . ........ . ........ . ..................... 149 1. Klagen einzelner Arbeitnehmer...............................................

149

H. Klagen der Betriebsparteien .................................................. 152 1. Allgemeine Streitigkeiten. .. . . . . . . .. . . . ... . . .. . . ... . . . .. . . ... . . .. . . . .. . . . . . 152 2. Sonderfall: ,,13 %-Regelung" .............................................. 154 a) Zustimmungsverweigerung gemäß § 99 Abs. 2 Nr. I BetrVG ........... 154 b) Unterlassungsanspruch .............. . .................................. 156 3. Zwischenergebnis ......................................................... 157 III. Klagen der Tarifvertragsparteien .. . . . .. . . .. . . . .. . .. .. . . ... . .... . . ... . ... . .. . .. 158 1. Einwirkungsklage gegen den Arbeitgeberverband.......................... 158 2. § 9 TVG ................................................................... 162 3. Unterlassungsklage gegen den konkreten Arbeitgeber...................... 162 a) Unsichere Rechtslage zum Untersuchungszeitpunkt ............. . ....... 164 b) Opportunitätserwägungen als Klagehemmnis ........................... 165 c) Ausblick................................................................ 166 IV. Keine Materialisierung des Arbeitsrechts.................................. . .. 167 V. Ergebnis .....................................................................

168

Teil 2 Rechtswissenschaftliche Untersuchung

170

§ 8 Verhältnis von § 77 Abs. 3 BetrVG zu § 87 Abs. 1 BetrVG ...................... 170

I. Zwei-Schranken-Theorie ..................................................... 171 H. Vorrangtheorie ............................................................... 173 III. Praktische Konsequenzen .................................................... 176 1. Auswirkungen auf Betriebsvereinbarungen ................................ 176 a) Bestehen einer tariflichen Regelung .................................... 178 b) Nicht mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten ...................... 178

Inhaltsverzeichnis

13

c) Lediglich Tarifüblichkeit bei mitbestimmungsptlichtigen Betriebsvereinbarungen ............................................................ 178 d) Lediglich Tarifüblichkeit bei teilmitbestimmungsptlichtigen Betriebsvereinbarungen ......................................................... 179 e) Zwischenergebnis ...................................................... 180 2. Folgen für Regelungsabreden .............................................. 180 3. Konsequenzen im Rahmen von § 23 Abs. 3 BetrVG ....................... 183 IV. Stellungnahme ............................................................... 183 1. Auslegung von § 77 Abs. 3 BetrVG ........................................ 183 a) Geltung für formelle Arbeitsbedingungen ............................... 184 b) Anwendbarkeit bei Betriebsnormen ..................................... 186 c) Sperrwirkung für Regelungsabreden .................................... 188 aa) Offene Regelungslücke ............................................ 189 bb) Planwidrigkeit der Gesetzeslücke .................................. 189 cc) Vergleichbarkeit der Sachverhalte.................................. 192 2. Auslegung von § 87 Abs. 1 BetrVG ........................................ 194 a) Zweck des Tarifvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Teilmitbestimmte Betriebsvereinbarungen am Beispiel von § 87 Abs. I Nr. 10 BetrVG .......................................................... 196 c) Zwischenergebnis............. .. ....................................... 198 3. Gesamtbetrachtung ........................................................ 198 a) Wortlautinterpretation .................................................. 199 b) Entstehungsgeschichte . . . . .. . . . . .. . . . .. . . . . .. . . .. . . .. . .. . .. . .. . . . . .. . . .. 199 c) Systematische Auslegung ............................................... 200 d) Teleologische Auslegung ..................................... . ......... 202 V. Ergebnis ..................................................................... 205

§ 9 Geltung des Günstigkeitsprinzips zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag ........................................................................... 207 I. Verhältnis von § 4 Abs. 3, 2. Alt. TVG und § 77 Abs. 3 BetrVG .............. 207 1. Meinungsstand ................ . ........................................... 207 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209 a) § 4 Abs. 3, 2. Alt. TVG ................................................. 209

14

Inhaltsverzeichnis b) § 77 Abs. 3 BetrVG

211

c) Konkurrenzverhältnis beider Vorschriften............................... 212

11. Verhältnis von § 4 Abs. 3,2. Alt. TVG und § 87 Abs. 1 BetrVG .............. 215 1. Meinungsstand ............................................................ 215 2. Stellungnahme............................................................. 218 a) Sperrwirkung des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG .................... 218 b) Keine Verdrängung des Tarifvorrangs durch das Günstigkeitsprinzip .... 219 111. Konkreter Günstigkeitsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220

1. Vergleichs gegenstand .............................. . ....................... 220 2. Günstigkeitsmaßstab ....................................................... 221 3. Vergleichsperspektive .............................. . ............... . ....... 222 IV. Rechtsfolge ................................................................. .

223

1. Umdeutung in einzel vertragliche Vereinbarung ............................ 223 a) Objektive Voraussetzungen für Umdeutung in Vertragsangebot . . . . . . . . .. 224 b) Mutmaßlicher Parteiwille ............................................... 225 c) Vertragsannahme, § 151 BGB .......................................... 226 d) Schlussfolgerung ....................................................... 226 2. Tarifliche Öffnung ......................................................... 227 a) Generelle Öffnungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 227 b) Rückwirkende Öffnungsklausel ......................................... 227 c) Ergänzungstarifvertrag .. ,.............................................. 229 aa) Haustarifvertrag eines verbandsgebundenen Arbeitgebers .......... 229 bb) Firmenbezogener Verbandstarifvertrag ............................. 230 V. Ergebnis

231

§ 10 Gerichtliche Kontrolle von Betriebsvereinbarungen ........................... 232

I. Rechtsprechung des BAG .................................................... 232 11. Meinungsstand in der Literatur ............................................... 237

111. Stellungnahme ............................................................... 239 1. Fehlende Angemessenheitsvermutung ..................................... 239

Inhaltsverzeichnis

15

2. Rechtsgrundlage ........................................................... 242 a) Abstrakte Billigkeitskontrolle ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. 243 b) Konkrete Billigkeitskontrolle ........................................... 244 IV. Ergebnis ..................................................................... 246

§ 11 Grenzen einer Öffnung des Tarifvertrages für die Betriebsebene .. . . . . . . . . . . .. 247 I. Tarifliche Öffnungsklauseln .................................................. 247 1. Begriff .................................................................... 247 2. Typologisierung ........................................................... 249 a) Vorliegen tatbestandlicher Voraussetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 249 b) Vorgaben hinsichtlich der Rechtsfolge .................................. 249 c) Verfahrensregelung ..................................................... 250 d) Tarifliche Norm mit Doppelcharakter ................................... 250 H. Betriebliche Rechtsetzung für Nichttarifgebundene ........................... 251 1. Freiwillige Betriebsvereinbarungen aufgrund von Öffnungsklauseln ........ 251 a) Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit ............................. 251 b) Umfassende Regelungskompetenz der Betriebsparteien ................. 252 c) Stellungnahme ......................................................... 254 aa) § 88 BetrVG als Auffangnorm ..................................... 254 bb) Umkehrschluss aus § 77 Abs. 3 S. I BetrVG ....................... 255 cc) Schutz vor Grundrechtseingriffen der Betriebsparteien ............. 256 dd) Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit ................. 257 d) Zwischenergebnis ...................................................... 258 2. Erweiterte Zuständigkeit der Einigungsstelle ............................... 259 a) Meinungsstand

259

b) Stellungnahme

261

aa) BetrVG nur einseitig zwingendes Recht. ... ... . ... ... .. . ....... .. .. 261 bb) Negative Koalitionsfreiheit ........................................ 262 c) Zwischenergebnis ...................................................... 265 III. Keine analoge Anwendung von Art. 80 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

16

Inhaltsverzeichnis IV. Grenzen der Selbstentäußerung ............................................... 267

1. Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 268 a) Unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . .. 268 b) Drittwirkung von Grundrechten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 270 c) Differenzierende Auffassungen ......................................... 271 aa) Unterscheidung zwischen Freiheitsrechten und Gleichheitssatz . . . .. 272 bb) Unterscheidung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.......... 272 cc) Praktische Konkordanz ............................................ 272 d) Stellungnahme ......................................................... 273 2. Schutzpflicht der Tarifvertragsparteien ..................................... 276 a) Übertragbarkeit auf die Tarifvertragsparteien ........................... 276 b) Verstoß gegen das Schutzgebot bei zu weitgehender Öffnungsklausel ... 277 c) Folgen eines Verstoßes gegen das Untermaßverbot .............. . ....... 278 V. Ergebnis ..................................................................... 279 § 12 Gerichtliche Durchsetzbarkeit durch die Tarifvertragsparteien ............... 281

1. Quasi-negatorischer Unterlassungsanspruch .................................. 282 1. Notwendigkeit eines Unterlassungsanspruchs ...................... . ....... 283 2. Inhalt des Anspruchs ...................................................... 284 3. Absolut geschütztes Rechtsgut .......... . .................................. 285 4. Verletzung der Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 287 a) Kollektiver Tatbestand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 287 aa) Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 288 bb) Regelungsabreden ................................................. 289 cc) Tarifverstöße ohne Mitwirkung des Betriebsrates .................. 290 b) Normative Geltung des Tarifvertrages .......................... . ....... 292 aa) Keine Tarifbindung auf Arbeitgeberseite ........................... 292 bb) Keine Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite ......................... 294 c) Schwere des Eingriffs .................................................. 296 5. Rechtswidrigkeit .......................................................... 297 6. Verschulden ............................................................... 298

Inhaltsverzeichnis

17

7. Wiederholungsgefahr ...................................................... 299 8. Verwirkung des Unterlassungsanspruchs ................................... 299 11. Unterlassungsanspruch gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG ........................... 301 1. Inhalt des Anspruchs ...................................................... 301

2. Betriebsverfassungsrechtliche Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 301 3. Grober Verstoß ............................................................ 304 4. Wiederholungs gefahr ...................................................... 306 III. Konkurrenzverhältnis der Unterlassungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 IV. Beschlussverfahren ......................................................... .. 308 V. Ergebnis ..................................................................... 310

Teil 3

Tarifpolitische Konsequenzen

312

I. Probleme bei Öffnung des Flächentarifvertrages .............................. 312 1. Risiken bei Verlagerung von Rechtsetzung auf die Betriebsebene .......... 312 2. Dilemma der Tarifvertragsparteien ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 11. Lösungsansätze .............................................................. 314 1. Begrenzung der Öffnungsermächtigung ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 315

2. Tarifvertragliche Regelung für den Fall der Nichteinigung ................. 315 3. Erweiterung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates ................ 315 4. Informationspflichten und Zustimmungsvorbehalte ........................ 316 5. Ergänzungstarifverträge ................................................... 317 6. Schlussfolgerung .......................................................... 318 III. Ergebnis ..................................................................... 319

Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 320 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 326 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 353

2 Brecht

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

Abs. AcP

Absatz Archiv für die civilistische Praxis

AG AGBG

Aktiengesellschaft Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen

AiB AK-GG

Arbeitsrecht im Betrieb AIternativkommentar zum Grundgesetz

Alt.

Alternative

a.M. Anm.

amMain Anmerkung

AP Arbeitsbed.

Arbeitsgerichtliehe Praxis Arbeitsbedingungen

ArbG ArbGG

Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrecht in der Gegenwart

ArbRGgwart ArbuR

Arbeit und Recht

Art. AT-Angestellte AT-Mitarbeiter

Artikel außertarifliche Angestellte außertarifliche Mitarbeiter

AuA Aufl. AV

Arbeit und Arbeitsrecht Auflage Arbeitsverträgen

BAG BAGE

Bundesarbeitsgericht EntscheidungssammIung des Bundesarbeitsgerichts

BB Bd.

Betriebsberater Band Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände

BDA BetrAVG betriebl. BetrVG BGB BGH BGHZ BMAS

Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung betrieblicher Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

Abkürzungsverzeichnis BR BR-Drs. BT-Drs. BV BVerfG BVerfGE bzw. C ca. DAG

Betriebsrat Drucksachen des Bundesrats Drucksachen des Bundestags Betriebsvereinbarung Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise chemische Industrie circa Deutsche Angestellten Gewerkschaft

DB d.h. D/K/K DM dpa

Der Betrieb das heißt Däubler / Kittner / Klebe Deutsche Mark Deutsche Presse Agentur

Dr. d. Verf.

Doktor der Verfasser Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch

EGBGB Einf. v. Ein!. EntgeltTV ErbbauVO ErfK ErgänzungsTV erzwingb. ES e. V. evt!. EzA f. ff. FDP FemAbsG F/K/H/E/S Fn. Frhr. FS. FTV GBR gern. GG ggf. 2'

Einführung vor Einleitung Entgelttarifvertrag Erbaurechtsverordnung Erfurter Kommentar Ergänzungstarifvertrag erzwingbarer Eingangssatz eingetragener Verein eventuell Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts folgende fortfolgende Freie Demokratische Partei Fernabsatzgesetz Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schrnidt Fußnote(n) Freiherr Festschrift Flächentarifvertrag Gesamtbetriebsrat gemäß Grundgesetz gegebenenfalls

19

20

Abkürzungsverzeichnis

GK-BetrVG

Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz

GL GmbH GMTV HaKo-BetrVG

Geschäftsleitung Gesellschaft mit begrenzter Haftung

HausratsVO HausTWG

Verordnung über die Behandlung der Ehewohnung und des Hausrats Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften

hins. h.M.

hinsichtlich herrschende(r) Meinung

Hrsg. H/S/G HTV

Herausgeber Hess / Schlochauer / Glaubitz

HWWA

i. Br. i. d. F. v. IG IGBAU IGM insbes. IRWAZ i. S. d. i. S. v. i. V. m. JuS JZ

KBR KR KSchG LAG LAGE lit. lt. M MIDIH/S Mio. mitbest.freiem mitbest.pfI. MTV MüKo MünchArbR m.w.N.

Gemeinsamer Manteltarifvertrag Handkommentar zum Betriebsverfassungsgesetz

Haustarifvertrag Hamburger Weltwirtschaftsarchiv im Breisgau in der Fassung vom Industriegewerkschaft Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt Industriegewerkschaft Metall insbesondere individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit Juristische Schulung Juristenzeitung Konzernbetriebsrat Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz Kündigungsschutzgesetz Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte litera (lateinische Bezeichnung für Buchstabe) laut Metall- und Elektroindustrie Maunz / Dürig / Herzog / Scholz Millionen mitbestimmungsfreiem mitbestimmungspflichtigen Manteltarifvertrag Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht mit weiteren Nennungen

Abkürzungsverzeichnis NJ

NJW Nr.

n. v. NZA o. a. o. g. PersVG ProdHaftG RdA

Rn.

S.

SachRBerG SAE SchuldRAnpG SGB sog. SprAuG tarifvertrag!. teilmitbest. TV TVG u. a. usw. v. VBM VerbrI

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Betrieb in einem wirtschaftliche Lage auf hohem Niveau Mehrbetriebsunter- und damit zufriedenstellend, branchennehmen typisch

9 (1)

11 (2)

FfV

FfV

FfV

402

ca. 500

860

C5

C6

C7

7

Betrieb in einem Auftragslage langfristig sehr gut, UmMehrbetriebsunter- satzverdopplung in den vergangenen 2 Jahren, derzeit jedoch Verluste, hoher nehmen Konkurrenzdruck aus dem Ausland insbesondere im Lohnbereich, Reorganisation zur Verbesserung der Gewinnerwartung geplant

Betrieb in einem "ziemlich" gut (GL), Gesamtumsatz Mehrbetriebsunter- 1997 knapp über der geplanten Höhe, nehmen BR: "sehr positiv"

I

I

I

Angaben zur wirtschaftlichen Situation beruhen auf Aussagen der Betriebsparteien, meist der Geschäftsleitung Die Zahl in Klammem bedeutet jeweils die Anzahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder. Ist diese mit einem Ausrufungszeichen versehen, sind mehr Betriebsratsmitglieder freigestellt als gesetzlich vorgeschrieben ist. *** Die Betriebe in Kursivschrift sind diejenigen, bei denen Gespräche mit der Geschäftsleitung nicht zu Stande kamen. Legende: AV Arbeitsverträgen GL Geschäftsleitung BR Betriebsrat HTV Haustarifvertrag EntgeltTV Entgeluarifvertrag KBR Konzernbetriebsrat ErgänzungsTV Ergänzungstarifvertrag MTV Manteltarifvertrag FfV Flächentarifvertrag TV Tarifvertrag

* **

Betrieb in einem 1998 gut, Gewinn im I. Halbjahr besser Mehrbetriebsunter- als erwartet, im 2. Halbjahr leichter nehmen Rückgang

9 (1)**

FfV

gute Auftragslage, Gewinne werden überwiegend wieder investiert

130

EinzeIbetriebsunternehmen

C4

keinBR

keine Tarifbindung, geplante Orientierung am EntgeltTV

wirtschaftliche Lage*

16

Struktur

C3

Betriebsrat

Tarifbindung

Beschäftigtenzahl

Betrieb

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36

Teil 1: Empirische Untersuchung

Auch angesichts der begrenzten Anzahl der durchgeführten Befragungen wird klar, dass die Auswahl der untersuchten Betriebe nicht als repräsentativ zu betrachten ist. Dies ergibt sich allerdings bereits aus der gewählten qualitativen Untersuchungsmethode, die eine exemplarische Analyse vorgefundener Problemfelder vornimmt. Im Vergleich der geführten Interviews lassen sich Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die schließlich mit theoretischen Ansätzen konfrontiert werden und so zu einer theoretischen Generalisierung führen. 13 Zu diesem Zweck erfolgte sofern die Interviewten hierzu ihr Einverständnis erklärten - eine Aufnahme der geführten Gespräche auf Tonband mit anschließender vollständiger Transkription. Außerdem wurden aufgrund schriftlicher Aufzeichnungen während des Interviews Zusammenfassungen erstellt, die Gesprächsinhalte teilweise wörtlich wiedergeben. Die Auswertung geschah auf der Grundlage dieser Kurzprotokolle, der transkribierten Gesprächsprotokolle sowie von Schriftquellen wie Betriebsvereinbarungen, Regelungsabreden oder (Ergänzungs-) Tarifverträgen, die von den Interviewpartnern zur Verfügung gestellt wurden. Bereits vor Durchführung der Interviews erfolgte eine Recherche im WSI-Tarifarchiv, um einen Überblick über die tariflichen Vorgaben für die Untersuchungsbetriebe zu erhalten. Vor dem Besuch einzelner Betriebe wurde zudem mittels Untemehmenshandbüchem l4 und der Auswertung von Pressemappen im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (HWWA) eine Vorrecherche durchgeführt. Für den Bereich der Chemischen Industrie kam außerdem ein Kurzfragebogen zum EinsatzY Von den 498 angeschriebenen Betrieben schickten 140 einen auswertbaren Fragebogen zurück. Die angeschriebenen Betriebe wurden über das HWWA auf der Grundlage der Datenbank "Markus" des Verbandes der Vereine CREDITREFORM e. V. ausgewählt. Die Auswahl erfolgte entsprechend der Größenschichtung sowie der Ost-I West-Verteilung in der Chemischen Industrie, die auf der Grundlage statistischen Materials des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) errechnet wurden. 16 Auf die Auswertung eines weiteren, ausführlicheren Fragebogens für Betriebsräte und Geschäftsleitungen der Chemischen Industrie 17 musste angesichts eines zu geringen Rücklaufs verzichtet werden. Ergänzend zu den genannten Erhebungsinstrumenten wurde schließlich noch eine Presserecherche zum Sanierungsfall Holzmann durchgeführt. Diese beruht Zur Auswertung von Experteninterviews siehe Meuserl Nagel, 1991, S. 451 ff. Hoppenstedt, Handbuch der Großunternehmen, 1997 und Hoppenstedt, Mittelständische Unternehmen, 12. Auf). 1997. 15 Der Fragebogen ist abgedruckt in Hölandl Reim I Brecht, 2000, S. 382 f. 16 Vgl. Arbeitsmarkt- und Sozial statistik des BMAS Hauptergebnisse 1996, S. 50 und 53. Dementsprechend wurden 57 Betriebe in den neuen Bundesländern (davon 2 mit mehr als 1.000 Beschäftigten und 55 mit weniger als 300 Beschäftigten) und 441 in Westdeutschland (davon 16 mit mehr als 1.000,28 mit zwischen 300 und 1.000 sowie 397 mit weniger als 300 Beschäftigten) angeschrieben. 17 Diese Fragebögen sind ebenfalls abgedruckt in HölandlReimlBrecht, 2000, S. 384 ff. 13

14

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

37

auf einer Auswertung von Pressemappen im HWWA sowie einer Internetrecherche von Pressemitteilungen der beteiligten Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaft IG BAU und der Philipp Holzmann AG.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen

auf tarifliche Normen

,,[ ... ] dann bricht der Damm. " (M20-BRl)

Nach herrschender Meinung ist das Verhältnis von Tarifverträgen zu Betriebsvereinbarungen durch den Vorrang der Tarifautonomie geprägt. 18 Die betriebliche Normsetzung muss sich damit nach den Vorgaben der geltenden Tarifverträge richten, was insbesondere in den §§ 77 Abs. 3 und 87 Abs. lEingangssatz BetrVG seinen Niederschlag gefunden hat. Die Beeinflussung betrieblicher Regelungen durch tarifliche Normen stellt somit den gesetzlich vorgegebenen Normalzustand dar. Entgegen der rechtlichen Vorgaben lässt sich faktisch jedoch feststellen, dass das Verhältnis tariflicher und betrieblicher Normsetzung keine Einbahnstraße ist. So berichtet - nicht ohne Stolz - der Betriebsrat des Großunternehmens M23 von Betriebsvereinbarungen, die Vorläufer tariflicher oder gesetzlicher Regelungen waren: M23-BR: Im Monatslohn 19 finden Sie einige Formulierungen, die finden Sie bei uns auch in der Betriebsvereinbarung. Nur: Unsere Betriebsvereinbarung ist älter. Wortwänlich teilweise übernommen. Im Grunde genommen lebt ja so ein Tarifvenrag auch von dem, was in den Betrieben gemacht wird. Oder unsere erste Betriebsvereinbarung zur betrieblichen Altersversorgung: Da findet man einige Formulierungen im Betriebsrentengesetz wieder.

Auch die Geschäftsleitung dieses Unternehmens berichtet von Wechselwirkungen betrieblicher und tariflicher Regelungen: M23-GL: Tarifvenräge bewirken eine Vereinheitlichung im Tarifgebiet. Im Grunde genommen kann der Tarifvenrag nicht Recht setzen nach dem Motto: " Betriebe, macht mal!" Es sind immer Dinge, die aus den Betrieben heraus kommen und dann eben, weil sie langsam Allgemeingut werden, Jestgehalten werden. Typisches Beispiel: Wir haben 1987 ein Programm für Wiedereinstellung nach Erziehungszeit entwickelt. Dies gilt für 18 Siehe nur F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 67 m. w. N.; a. A. Ehmann/Lambrich, NZA 1996, S. 346; vgl. auch unten § 8 und § 9. 19 Unter Monatslohn ist ein Verfahren der Abrechnung zu verstehen, dass nicht zwingend die im jeweiligen Monat konkret erbrachte Leistung abgilt, sondern hinsichtlich der Grundvergütung eine durchschnittliche Arbeitsleistung bezahlt; vgl. Ziepke/Weiss, 1998, § 15 Anm.1.

38

Teil 1: Empirische Untersuchung den Fall, wenn ein Mitarbeiter/eine Mitarbeiterin nach dem Erziehungsurlaub noch zu Hause bleiben wollte bis zum 7. Lebensjahr; bis zum Beginn der Schulzeit. Es sind andere Großunternehmen gefolgt und dann ist das im Tarijvertrai O aufgenommen worden. "Bottom up", würde man neudeutsch sagen und nicht eben "top down", dass einem die Tarifvertragsparteien das vorgegeben haben. Aber es kommt beides vor. Altersteilzeit durch das Altersteilzeitgesetz ist von oben vorgegeben worden, mit der Möglichkeit für betriebliche Regelungen. [ ... ]

Abstrakt lassen sich zwei Muster unterscheiden. So ist es einerseits möglich, dass auf betrieblicher Ebene neue Ideen entwickelt und erprobt werden. Diese können von den Tarifvertragsparteien als sinnvoll erkannt und daher in den Tarifvertrag aufgenommen werden. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass durch betriebliche Regelungen Tarifverträge inhaltlich abgeändert werden. Je mehr Betriebe derartige Abweichungen praktizieren, um so weniger bleibt es in der Hand der Tarifvertragsparteien, ob sie diese Entwicklung als tarifpolitisch sinnvoll ansehen und daher eine Übernahme in den Tarifvertrag wünschen. Vielmehr können sich dann die Tarifpartner eigentlich nur noch darum bemühen, die praktizierten Abweichungen in geordnete Bahnen zurück zu lenken. Der Unterschied besteht somit in der Motivation für die Tarifvertragsparteien zur Übernahme der auf betrieblicher Ebene praktizierten Regelung. Im ersten Fall geht es um eine qualitative Einschätzung, die zu einer Aufnahme in den Tarifvertrag führt. Dagegen ist im zweiten Fall die quantitative Häufigkeit der betrieblichen Praxis maßgeblich für die Übernahme der Regelung in den Tarifvertrag. Für beide genannten Muster eines Vorlaufs betrieblicher Regelungen lassen sich im Forschungsmaterial Hinweise finden. Diese sollen nachfolgend dargestellt werden.

20 Vgl. die nicht ganz so weitgehende Regelung in § 7 Ziff. 3 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (vom 1. 12. 1973 i. d. F. v. I. 11. 1997): "Arbeitnehmer, die im Anschluß an den gesetzlichen Erziehungsurlaub zur Betreuung eines Kindes aus dem Betrieb ausscheiden, haben einmalig einen Anspruch auf Wiedereinstellung im selben Betrieb auf einem vergleichbaren Arbeitsplatz, es sei denn, ein geeigneter Arbeitsplatz ist zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung nicht vorhanden und steht auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung. Voraussetzung ist eine mindestens 5jährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit. Der Anspruch ist bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres des Kindes begrenzt. Arbeitnehmern soll während der Kindererziehungszeit im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten Gelegenheit gegeben werden, an betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen und kurzfristige Vertretungen wahrzunehmen. Die Wiederaufnahme ist mindestens 6 Monate vorher anzukündigen. Betriebe mit weniger als 500 Beschäftigte sind von dieser Regelung ausgenommen." [Hervorhebung vom Verfasser]; eine inhaltsgleiche Regelung enthält beispielsweise auch § 24 Gemeinsamer Manteltarifvertrag für die Beschäftigten in der niedersächsischen Metallindustrie (vom 17. 10. 1994 i. d. F. v. 5. 12. 1996); weniger weitgehend - da nur als Empfehlung der Tarifvertragsparteien - ist die Protokollnotiz zu 11.1.3. des Manteltarifvertrags für die Arbeiter der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg (vom 10.3.1991 i. d. F. v. 6. 2. 1997).

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

39

I. Lernen der Tarifvertragsparteien von betrieblichen Modellen Die oben geschilderten Beispiele aus dem Metallbetrieb M23 lassen sich wohl eher dem erstgenannten Muster zuordnen: Es kann angenommen werden, dass sich die Betriebsparteien mit Situationen konfrontiert sahen, für die der Tarifvertrag keine adäquaten Lösungen anbot. Dementsprechend entwickelten sie eigene Modelle in ihren Betriebsvereinbarungen, die letztlich von den Tarifvertragsparteien als sinnvoll erachtet und deswegen übernommen wurden. Ein besonders eindrückliches Beispiel für ein Lernen der Tarifvertragsparteien von betrieblichen Modellen betraf den wohl am stärksten beachteten tarifvertraglichen Vorstoß des Jahres 1998, nämlich den Tarifvertrag zur Beschäftigungsförderung in der niedersächsischen Metallindustrie. 21 Die Eckpunkte dieses Tarifvertrags sehen vor, dass durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung die Arbeitszeit für einen Betrieb oder einzelne Betriebsteile abgesenkt werden kann, um insbesondere Langzeit-Arbeitslose neu einzustellen. Statt eines vom Arbeitgeber zu zahlenden Lohnausgleichs soll eine finanzielle Förderung durch einen von den Tarifvertragsparteien zu gründenden Verein erfolgen. Der vorläufigen finanziellen Ausstattung dieses Vereins in Höhe von 10 Millionen DM durch den Arbeitgeberverband steht als Gegenleistung der Verzicht der Gewerkschaft auf die monatliche Kontoführungsgebühr von DM 2,50 gegenüber. 22 Was für den Außenstehenden als eine Idee der Tarifvertragsparteien erscheint, hatte tatsächlich seinen Hintergrund in einer betrieblichen Initiative. Das bestätigt ein Vertreter der IG Metall: IGM-8: [ ... ] Bei . .. [Mll - d. Verf.] gab es dieses Modell schon. Da wollten 400 Beschäftigte ihre Arbeitszeit freiwillig verkürzen und die Geschäftsleitung wollte das auch mitmachen und 50 Leute einstellen. [ ... ]

Der Personalleiter des Unternehmens Mll beschreibt die Entstehungsgeschichte des Modells, die in einem Verwaltungsausschuss 23 des regional zuständigen Arbeitsamtes ihren Ausgangspunkt nahm: Mll-GL: [ .. . ]Im Verwaltungsrat beim Arbeitsamt sitzen Herr R. als Arbeitgebervertreter und einige andere Geschäftsführer aus der Region. [ ... ] Dieser Verwaltungsrat hat über das Budget abgestimmt, und dort ist diese Idee geboren worden: "Dann lasst uns das doch einfach mal überprüfen. " Die erste Aussage war: "Na, das kann ja alles nicht funktionieren, das kommt ja nicht hin, das klingt alles so einfach. Wenn das so einfach wäre, dass das Arbeitslosengeld in Summe höher wäre als der Lohnausgleich für die Mitarbeiter; Darstellung der Eckpunkte dieses Tarifvertrags bei Meine, ArbuR 1998, S. 356 ff. Meine, ArbuR 1998, S. 356, 357; Peters / Meine, WS I-Mitteilungen 1998, S. 648, 649 f. 23 Vgl. § 378 SGB III; gemäß § 380 Abs. 2 SGB III ist der Verwaltungsausschuss wie jedes Organ der Bundesanstalt für Arbeit paritätisch aus Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften zusammengesetzt. 2\

22

40

Teil 1: Empirische Untersuchung

die auf Arbeitszeit verzichten, dann hätten wir das doch schon lange gemacht." [ ... ] Schließlich ist es über die Gewerkschaftler, die in diesem Verwaltungsrat waren, in die Gremien der Gewerkschaft in H. geleitet worden. Und das ist dann eben Gegenstand der Verhandlungen. Das war in der Presse und es gab vielfältige Diskussionen.

Im Gegensatz zu den Eckpunkten des Tarifvertrags zur Beschäftigungsförderung sah das betriebliche Modell also vor, dass die Bundesanstalt für Arbeit den finanziellen Ausgleich für den Verzicht auf Arbeitszeit übernehmen sollte. Gegen das Modell gab es in inhaltlicher Hinsicht einige Widerstände: Mll-GL: [ ... ) Die Hauptcrux kann ich Ihnen sagen: Vom Arbeitslosengeld werden auch noch Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. D. h., für ... [Mll - d. Verf.] bliebe die Lohnsumme gleich, und das, was wir für die 400 bezahlt haben, würden wir auch für 466 an Sozialversicherung zahlen. Nullsummenspiel für den Betrieb. Aber die Sozialversicherungsbeiträge für das Arbeitslosengeld, für die 66 bisher Arbeitslosen, erreichen die Sozialversicherungsträger nicht mehr. Das fehlt in den Sozialversicherungskassen, Krankenkasse, Rentenversicherung. [ ... ]

Letztendlich scheiterte die betriebliche Erprobung des Modells jedoch nicht an diesen inhaltlichen Bedenken, sondern an formalen Gründen, nämlich einer fehlenden Gesetzesgrundlage: Mll-GL: [ ... ] Das hat fast zum Eklat mit der Arbeitsverwaltung geführt, weil der Arbeitsdirektor sich außerstande sah, da überhaupt eine Lösung herbeizuführen. Nürnberg [gemeint ist die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg - d. Verf.] hat auch im ersten Schritt abgelehnt mit der Begründung, die derzeitige Rechtslage, SGB III, ließe solche Förderungen nicht zu. Das Einzige, was man hätte, wäre der sog. Experimentiertopf, und da sollte man das mal mit... [Mll - d. Verf.] machen. Was natürlich Quatsch ist. Entweder macht man es wirklich konsequent oder nicht. [ ... ]

Eine betriebliche Erprobung dieses Modells fand somit im Betrieb Mll nicht statt. Die Ausgangsidee gelangte jedoch über die Gremien der Tarifvertragsparteien letztlich in einen Tarifvertrag. Dieser hat nach Auffassung der Tarifpartner Experimentiercharakter: Die Praxis werde zeigen, inwiefern das angedachte Modell eine relevante Akzeptanz finde. 24 Es lässt sich vermuten, dass den Tarifvertragsparteien eine tatsächliche betriebliche Erprobung des Modells durchaus recht gewesen wäre. Die Möglichkeit eines praktischen Tests vor Abschluss eines Tarifvertrags erlaubt "Lernschlaufen": So lassen sich auf diesem Wege unpraktikable Modelle frühzeitig ausschließen. Ferner kann durch rechtzeitiges Erkennen praktischer Umsetzungsschwierigkeiten in Detailfragen verhindert werden, dass solche Probleme in einer Vielzahl weiterer Fälle auftreten. Im geschilderten Fall scheiterte eine Umsetzung an außerhalb des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts liegenden Gründen. Die Möglichkeit einer betrieblichen Lernschlaufe ging somit verloren und die Tarifvertragsparteien mussten selbst die Experimentierphase übernehmen. 25

24

Meine, ArbuR 1998, S. 356, 357.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Nonnen

41

Das Beispiel zeigt jedoch, dass es prinzipiell sinnvoll sein kann, der Übernahme einer Regelung in den Tarifvertrag einen betrieblichen Probelauf vorzuschalten. Dabei sollten die Tarifvertragsparteien intensiv in die Durchführung eines derartigen Tests einbezogen werden, um eine angemessene tarifliche Umsetzung der gesammelten Erfahrungen sicherzustellen. Sofern es sich um Modelle handelt, die Normen des Tarifvertrags modifizieren, stellt sich das Problem der Unzulässigkeit einer entsprechenden Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 3 S. I BetrVG oder ggf. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG. 26 Die daraus folgende Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung kann durch Abschluss eines Ergänzungstarifvertrags27 verhindert werden. Der Probecharakter eines solchen Ergänzungstarifvertrags lässt sich ggf. durch eine zeitliche Befristung des Modells herausstellen. Will man darüber hinaus die Nachwirkung 28 ausschließen, bedarf es einer Klausel, wonach beim Auslaufen des Modells die ursprüngliche Regelung wieder in Kraft tritt. Jedoch dürfte in nicht wenigen Fällen eine zeitliche Befristung problematisch erscheinen, da z. T. mit der betrieblichen Erprobung schwer umkehrbare Fakten geschaffen worden sein können. 29

25 Ein weiteres Beispiel für einen Tarifvertrag mit Experimentiercharakter stellt der federführend von der IG Metall ausgehandelte Tarifabschluss mit dem Personaldienstleister Adecco anlässlich der Expo 2000 dar: Der auf ein Jahr befristete Tarifvertrag regelt die Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer, die im Rahmen der Weltausstellung in Hannover eingesetzt werden. Nach Angaben von IG-Metall-Bezirksleiter Hartmut Meine sei der Abschluss ein "Experimentierfeld für mögliche spätere Flächentarifverträge"; vgl. "Leiharbeitnehmer bekommen erstmals Tarifvertrag", Frankfurter Rundschau vom 22.6. 1999. 26 Wäre im Betrieb Mll eine entsprechende Betriebsvereinbarung abgeschlossen worden, so hätte diese in Bezug auf die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Widerspruch zum Manteltarifvertrag gestanden. Insofern wäre die Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG demnach unwirksam gewesen. Dies hätte die Wirksamkeit der aufgrund dieser Betriebsvereinbarung erfolgten NeueinsteIlungen aber nicht tangiert. Der Arbeitgeber wäre in diesem Fall auf betriebsbedingte Kündigungen angewiesen gewesen. Dies zeigt die Notwendigkeit, zur Erprobung neuer betrieblicher Modelle rechtlich abgesicherte Fonnen zu wählen. Anderenfalls geht das Risiko einer rechtlichen Angreifbarkeit derartiger Betriebsvereinbarungen zu Lasten des Arbeitgebers sowie der von der Regelung betroffenen Arbeitnehmer. 27 Ergänzungstarifverträge können entweder als Haustarifvertrag (siehe das Beispiel BAG 28.4. 1998,3 AZR 681/96, n. v.) oder als finnenbezogener Verbandstarifvertrag (dazu LAG Baden-Württemberg 9. 11. 1998, 15 Sa 86/98, n. v.) gestaltet sein. Zur Frage der rechtlichen Zulässigkeit betrieblicher Ergänzungstarifverträge, die zwischen Gewerkschaft und einem einzelnen Arbeitnehmer vereinbart wurden, siehe unten § 9 IV. 2. c) aa). 28 Zur Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen siehe F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 177 ff. sowie unten § 4 IV. 5., Fn. 151. 29 Die Problematik einer schwierigen Urnkehrbarkeit betrieblicher Fakten aufgrund eines zeitlich befristeten Tarifvertrags ohne Nachwirkung findet sich beispielsweise auch in den Schlussbedingungen zum Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (vom 12. 12. 1996 i. d. F. v. 1. 11. 1997). Dieser nonniert in Abschnitt IV Ziff. 2 S. 2: "Die während der Laufzeit dieses Tarifvertrages nach Abschnitt III getroffenen Regelungen werden durch das Auslaufen des Tarifvertrages nicht berührt."

42

Teil 1: Empirische Untersuchung

11. Angleichungsdruck auf Tarifverträge durch betriebliche Regelungen Unbeschadet der Vorzüge einer praktischen Erprobungen neuer Modelle darf allerdings nicht verkannt werden, dass sich hieraus eine Eigendynamik entwickeln kann, die dann nur noch schwer von den Tarifvertragsparteien steuerbar ist. Diese Eigendynamik soll nachfolgend als Angleichungsdruck bzw. Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf den Tarifvertrag bezeichnet werden. Der Begriff der Präjudizwirkung ist dabei nicht in dem rechtlichen Sinne einer verbindlichen gerichtlichen Grundsatzentscheidung zu verstehen, sondern beschreibt den faktischen Vorgang, dass die Betriebsparteien mit ihren Regelungen der tariflichen Rechtsetzung vorgreifen. Ein Beispiel für dieses Phänomen schildern wiederum die Betriebsparteien des Unternehmens M23: M23-BR: Wir haben auch im Entgeltsystemfür Arbeiter, also in der Arbeitsbewertung, die Analytik. Der Tarifvertrag sieht in Bayern die Summarik 30 vor, obwohl inzwischen 50 oder 60 % aller Organisierten in einem analytischen System arbeiten. Erst letzte Woche hat die Tarifkommission der IG Metall in Bayern den Beschluss gefasst, mit den Arbeitgebern darüber zu verhandeln, in Zukunft auch die Analytik zuzulassen. Da sind wir in den Betrieben so ein bisschen die Vorreiter. Wir haben es ausprobiert, natürlich mit Zustimmung der IG Metall, das ist klar. Wir arbeiten nicht am Tarifvertrag vorbei, sondern mit den Tarifvertragsparteien. Sonst könnten wir so ein System nicht einführen. M23-GL: Das können wir uns als Großbetrieb nicht leisten, da das sofort öffentlich würde.

Auch in diesem Fall handelt es sich um eine der Schaffung einer tariflichen Norm vorgeschaltete betriebliche Anwendung eines "neuen,,31 Modells - hier hinsichtlich der anzuwendenden Methodik der Arbeitsbewertung. Der qualitative Unterschied zu den zuvor genannten Beispielen liegt jedoch in der Häufigkeit der betrieblichen Anwendung. Bei einer Zahl von über 50 % - wie sie hier vom Betriebsrat angenommen wird - kann nicht mehr von einer betrieblichen Erprobung ausgegangen werden. Vielmehr klafft in diesem Fall eine Lücke zwischen tariflicher Theorie und betrieblicher Praxis. Bei einer derartig starken Verbreitung geht es nicht mehr um die Frage, wie man diese Arbeitsbewertungsmethodik einschätzt. 32 Stattdessen ist der nicht im Tarifvertrag vorgesehene Fall bereits zur betrieblichen Normalität geworden. In einem solchen Fall verliert der Tarifvertrag in diesem Bereich seine Ordnungsfunktion. 33

30 Vgl. hierzu Anhang 4 zu § 15 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (vom 1. 12. 1973 i. d. F. v. 1. 11. 1997). 31 Die Bezeichnung dieses Modells als "neu" erscheint angesichts seiner Anwendung seit den 50er Jahren etwas skurril; vgl. Birkwaldl Pornschlegel, 1973, S. 259 ff. 32 Kritisch: Däubler, Arbeitsrecht 2, 1999, Rn. 758 f. Auch PfarrlBertelsmann, 1989, S. 327 f., weisen auf diskriminierende Effekte analytischer Arbeitsbewertungsmethoden hin.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Nonnen

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Im Folgenden sollen die zu einem Angleichungsdruck führenden Faktoren einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Dabei ist zunächst zu klären, inwiefern die Tarifvertragsparteien von betrieblichen Regelungen Kenntnis erlangen. Eine Leitbildfunktion spielen Großbetriebe, die daher einer besonderen Betrachtung unterzogen werden. Es schließt sich die Frage an, inwiefern vom Tarifvertrag abweichende betriebliche Regelungen als Verhandlungsmiuel in Tarifverhandlungen sowie auf Betriebsebene genutzt werden können. Anschließend erfolgt die Darstellung der Problematik offengelassener tarifvertraglicher Regelungen, die zu spezifischen Präjudizwirkungen führen können. Zum Abschluss soll der Angleichungsdruck betriebs bezogener Vereinbarungen auf Tarifnormen anhand der Beispiele der Arbeitszeitkonten in der Metallindustrie sowie der Auseinandersetzungen im Sanierungsfall Holzmann illustriert werden. 1. Kenntnisnahme der Tarifvertragsparteien

Ein Angleichungsdruck betrieblicher Regelungen auf Tarifverträge kann nur entstehen, wenn die Tarifvertragsparteien Kenntnis von den betrieblichen Modellen erlangen. Daher ist zunächst nachzuvollziehen, auf welchen direkten oder indirekten Wegen diese Informationen von den Betrieben an die Tarifvertragsparteien gelangen. Auf welche konkrete Weise die Tarifvertragsparteien in den für das Unternehmen M23 genannten Beispielen von den Regelungen Kenntnis erlangten, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen. Es erscheint aber keinesfalls als gewagte Spekulation anzunehmen, dass zumindest die Gewerkschaft vom Betriebsrat über die entsprechenden Betriebsvereinbarungen informiert wurde. So äußerte sich der Betriebsrat von M23 generell zum Mitwirken der Gewerkschaft beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen: M23-BR: [ ... ] Dass wir natürlich unsere Gremien - das heißt die Hauptamtlichen, die Bevollmächtigten - über diese Dinge in/onnieren, das ist klar. [ ... ]

Eine weitgehende Einbeziehung der Gewerkschaft bei der Aushandlung von Betriebsvereinbarungen stellte sich in den geführten Interviews als typisch dar?4 Schwieriger zu beurteilen ist hingegen die Frage, inwiefern der Arbeitgeberverband von einer entsprechenden Betriebsvereinbarung in Kenntnis gesetzt wird. Eine generelle Praxis der Einbeziehung erscheint hier aufgrund eines anderen Verständnisses fraglich, da der Arbeitgeberverband eher in einer Dienstleistungsfunktion gesehen wird. 35 Dies bringt auch die Geschäftsleitung von M23 zum Ausdruck: 33 Zur Ordnungsfunktion von Tarifverträgen vgl. Wiedemann/ H. Wiedemann, TVG, 1999, Einleitung Rn. 13 ff. m. w. N.; kritisch: Reutet; ZfA 1995, S. 1,37 ff.; Rieble, 1996, Rn. 1307. 34 Vgl. hierzu Höland I Reim I Brecht, 2000, S. 227 ff.

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Teil 1: Empirische Untersuchung M23-GL: [ ... ] Andererseits ist es wieder relativ einfach, weil wir dem Arbeitgeberverband noch nicht einmal unsere Betriebsvereinbarungen zur Kenntnis geben, sondern sagen: "Das sind unsere Angestellten, die kriegen von uns Beiträge, die Funktionäre werden von uns bezahlt, da sind wir Arbeitgeber für die. " [ ... ]

Dies schließt dennoch nicht aus, dass die Information über ein solches Modell an den Arbeitgeberverband als TariJvertragspartei gelangt. Aus dem oben genannten Dienstleistungsverständnis heraus dürfte es dabei weniger um die Einholung einer Genehmigung zur Abweichung vom Tarifvertrag gehen. Wichtiger erscheint vielmehr die Abstimmung in Gremien wie der Tarifkommission der Arbeitgeber, in der insbesondere große Unternehmen vertreten sind und ihre Erfahrungen einbringen können. Doch nicht nur in den offiziellen Gremien wie der Tarifkommission werden Erfahrungen und Informationen auf Arbeitgeberseite weitergegeben. Dies schildert etwa ein Vertreter des Unternehmens M22: M22-GL2: Bei uns auf Arbeitgeberseite läuft ein Erfahrungsaustausch zu aktuellen Themen, wie gerade z. B. zum Arbeitszeitkonto. Da sitzen wir in der Gruppe öfter zusammen und sammeln die Erfahrungen. Außerdem gibt es natürlich eine Informationssammlung vom Verband: " Wo zwickt es denn, wo müssten wir erweitern, wo ist es eng und wo passt es alles?"

Absolut spiegelbildlich zum Vorgehen der Arbeitgeber erfolgt unter Vermittlung der Gewerkschaft ebenfalls ein Wissens- und Erfahrungsaustausch unter Betriebsräten. Typisch hierfür ist die Aussage eines Gewerkschaftsvertreters: IGM-7: [ ... ] Ich mache alle 6 Wochen eine sogenannte Betriebsratsvorsitzenden-Informationstagung, so eine Art Dienstgespräch von 13 -15 Uhr. Da wird dann diskutiert: Wie ist Stand der Arbeitszeitdiskussion? Wie ist Stand der Entlohnung? Was gibt es Neues aus tariflicher Sicht? Wo greifen Arbeitgeber an? Also: Informationsaustausch.

In Einzelfällen wurde darüber hinaus auch von informellen Abstimmungen zwischen Arbeitgebern unabhängig von Verbandsstrukturen berichtet: IGM-IO: [ ... ] Wir wissen merkwürdigerweise ganz genau, dass, wenn aus Firma C etwas kommt, irgendwann das Gleiche aus der Firma A genauso kommt. Dann wissen wir: Die waren da wieder irgendwo zusammen und haben irgendetwas Tolles ausgebrütet. [ ... ] Daran wird deutlich, dass das mit dem Tarifvertrag oder dem Arbeitgeberverband nichts zu tun hat, weil das auch ganz verschiedene Verbände sind. Es ist aber die Ausnahme und hat keinen Einzug in Arbeitgeberverbandspositionen und damit evtl. in eine mehrheitliche Arbeitgeberstruktur gefunden.

Die Aussagen zeigen, dass der Informationsaustausch zwischen den Akteuren einzelner Betriebe und die Kenntnisnahme durch die Tarifvertragsparteien hinsichtlich neuer betrieblicher Modelle auf vielfältige Weise geschehen kann. In eini-

35 Zur Bedeutung des Arbeitgeberverbands im betrieblichen Interaktionsverhältnis siehe Hölandl Reim I Brecht, 2000, S. 252 ff.; als besonders fragil muss der Verbandsbezug in den neuen Bundesländern angesehen werden, vgl. insofern Artus, 2001, S. 242 ff.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

45

gen Fällen berichteten Vertreter der Betriebsparteien jedoch auch von Betriebsvereinbarungen, die sie bewusst den Tarifvertragsparteien nicht zur Kenntnis gaben: M9-GL: Es gibt manchmal so Betriebsvereinbarungen, wo man nicht möchte, dass die das Unternehmen verlassen, dass die an die Tarijvertragsparteien gelangen, so dass man ruhig mal sagt: "Mensch, wir machen jetzt mal einen gemeinsamen, so einen halbseidenen. .. Wir wissen, wir ecken mit diesem und jenem Punkt an, aber das muss wirklich unter uns bleiben. .. [ ... ]

Auch ein Vertreter des Betriebsrates im Unternehmen M20 schilderte eine solche bewusste Nichteinbeziehung von Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, die in der Form einer Protokollnotiz zu einer Betriebsvereinbarung erfolgte: M20-BRl: [ ... ] Wir wollen vielleicht den BegriffProtokollnotiz ein bissehen näher erklären. Bei uns wird eine Protokollnotiz dann gemacht, wenn wir vermeiden wollen, dass bestimmte Dinge nach draußen dringen, teilweise nicht einmal nach ... [weiterer Betrieb des Konzerns - d. Verf.]. Es ist keine Vorbereitung zu einer Betriebsvereinbarung, sondern das ist eigentlich ein Thema, wo wir sagen: "Da möchten wir noch etwas reinschreiben, aber wir können das weder nach . .. [Sitz der Konzernleitung - d. Verf.] schicken, das können wir weder dem VBM oder der IG Metall irgendwie verkaufen. Das sind Dinge, die wollen wir wirklich bei uns behalten, und dazu machen wir eine Protokollnotiz, in Ergänzung zu einer Betriebsvereinbarung . .. [ ... ]

Inwiefern dieses gezielte Vorgehen an den Tarifvertragsparteien vorbei von Betriebsrat und Geschäftsleitung tatsächlich durchgehalten wird, mag zweifelhaft sein. Angesichts der vielfachen Möglichkeiten nicht steuerbarer Kommunikationsabläufe erscheint jedenfalls eine dauerhafte Geheimhaltung nur unter besonderen Umständen möglich. Informationsquellen der Gewerkschaft sind beispielsweise Vertrauensleute, die alle in dieses Schweigekartell einbezogen werden müssten. Hinzu kommt die Möglichkeit von Anfragen durch Gewerkschaftsmitglieder etwa im Rahmen des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes. Ferner können solche Regelungen auch in Betriebsversammlungen thematisiert werden, in denen (abgesehen von Kleinbetrieben) typischerweise auch Gewerkschaftsvertreter anwesend sind. Bereits durch diese Faktoren dürfte langfristig eine Kenntnisnahme zumindest durch die Gewerkschaft zu erwarten sein, sofern es sich nicht um einen sehr kleinen Betrieb oder eine unbedeutende Regelung handelt. 36 Indirekte Kenntnisnahme kann ferner über einen Umweg erfolgen, wenn andere Betriebe von solchen Regelungen erfahren und sie ggf. selbst ebenfalls praktizieren wollen. Ausgangspunkt können dabei institutionell nicht gesteuerte Kontakte sein, die sich mehr oder weniger zuflillig ergeben. So machten nicht selten Interviewpartner detaillierte Angaben über betriebliche Regelungen benachbarter Unternehmen. Denkbare Erklärungen hierfür sind Kontakte zwischen Arbeitnehmern verschiedener Betriebe, wobei die gewonnenen Informationen über Vorgesetzte

36

Vgl. hierzu auch Höland! Reim! Brecht, 2000, S. 247.

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Teil I: Empirische Untersuchung

oder gewerkschaftliche Vertrauensleute an Arbeitgeber oder Betriebsrat weitergelangen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche nicht vorhersehbare direkte oder indirekte Weitergabe von Informationen erfolgt, wächst mit der Größe des Betriebes und der zeitlichen Dauer der betrieblichen Praxis. Einen weiteren Faktor stellt die Bedeutung des betrieblichen Modells dar: Je bedeutender eine solche Regelung erscheint, desto stärker ist auch das öffentliche Interesse und damit ihre Thematisierung. Das kann im Extremfall sogar durch eine Veröffentlichung über die (örtliche) Presse geschehen, aber auch durch die Klärung der Zulässigkeit derartiger Regelungen im Wege arbeits gerichtlicher Verfahren. Diese Überlegungen legen nahe, dass selbst wenn die Betriebsparteien bewusst auf eine Verbreitung ihrer neuen Regelung verzichten, eine Geheimhaltung keinesfalls gesichert ist. 37

2. Die Bedeutung von Großbetrieben Wie soeben ausgeführt ist die öffentliche Aufmerksamkeit bei großen Unternehmen deutlich höher. Dies gilt auch für die Wahrnehmung der Tarifvertragsparteien. Folglich ist der Angleichungsdruck, der von einer vom Tarifvertrag abweichenden betrieblichen Regelung eines Großbetriebes ausgeht, höher als bei einer entsprechenden Praxis eines kleinen oder mittelständischen Unternehmens. Große Unternehmen spielen auch eine besondere Rolle in Tarifverhandlungen. Durch ihre personelle Präsenz in den Tarifgremien sowie ihre wirtschaftliche Bedeutung hat ihre Meinung ganz besonderes Gewicht. Dies schildern insbesondere die Parteien des größten von uns untersuchten Betriebs: M23-BR: [ ... ] Die IG Metall setzt sich aus Mitgliedern zusammen . ... [M23 - d. Verf.] allein hat 22.000. Die Verwaltungsstelle als drittgrößte ... [im Tarifbezirk - d. Verf.] hat 36.000 Mitglieder. Das bedeutet, dass wir ein nicht ungewichtiges Wort in Tarifkommissionen haben. Unser Betriebsratsvorsitzender ist auch Mitglied der Verhandlungskommission. Aufgrund unserer Mobilisierungsbereitschajt und -fähigkeit - bei dem Organisationsgrad! - steht die Bude. Wir bei. " [M23 - d. Verf.] haben seit 1954 nicht gestreikt! Aber wenn die IG-Metall-Bezirksleitung einen Betrieb braucht, bei dem sie sicher ist, dass Arbeitskampfmaßnahmen vernünftig geführt werden, dann ist ... [M23 - d. Verf.] der Betrieb. Aufgrund unserer Vertrauensleute können wir das innerhalb einer Stunde organisieren. [ ... ]. Das heißt, wir spielen unsere Rolle; und aufgrund der Tatsache, wie wir diese Rolle innerhalb der IG Metall spielen, in Bayern und auch darüber hinaus, haben wir da auch eine Akzeptanz. Wir hatten im Betriebsrat eine Angestellten-Kollegin, die auch ehrenamtliches Vorstandsmitglied der IG Metall war. Ich selbst bin Mitglied der Ortsverwaltung, die mehrheitlich von Kollegen von . .. [M23 - d. Verf.] gebildet wird. Das ist klar und den Anspruch lassen wir uns auch nicht nehmen. Genau das Gleiche in der Vertreterversammlung. Wir sind zwar bereit, Plätze an andere Betriebe abzutreten und das tun wir 37 Zum Beispiel einer "Schubladenvereinbarung" siehe auch unten in § 4 IV. 4. die Regelung eines Langzeitarbeitskontos im Betrieb M21.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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auch; in der Tarifkommission ebenfalls. Sie müssen ja versuchen, alle Betriebe einzubinden. Aber immer so, dass wir in diesen Gremien als . .. [M23] bei der Mitgliederzahl die Mehrheit haben. Das ist uns schon wichtig. [

... ]

M23-GL: Bei uns ist das - glaube ich - schwieriger. Erst mal haben wir wie kleine Betriebe als Unternehmen nur eine Stimme im Arbeitgeberverband. Andererseits sind wir natürlich in der Tarifkommission und in sonstigen Ausschüssen vertreten, weil wir uns das "manpower"-mäßig leisten können. Da können wir natürlich einen gewissen Einfluss nehmen, was dann wieder auf entsprechenden Ärger bei den kleinen Firmen stößt. Das sind die Diskrepanzen zwischen Groß- und Mittel- bzw. Kleinunternehmen. Bei Abstimmungen brauchen wir die Kleinen aber. Die machen uns dann wieder Vorwürfe, sind aber andererseits ganz froh. Wenn wir sagen: "Kümmert Euch doch, geht mit in die Kommission und nehmt da Einfluss und schimpft nicht über die Großen, sondern macht selber mit", dann kommen die nicht. So dass die Großen wieder diejenigen sind, die in der Kommission mit dabei sind. Das ist eine sehr ambivalente Geschichte [ ... ]

Große Betriebe nehmen somit intensiven Einfluss auf die Gestaltung des Flächentarifvertrages. Auf der anderen Seite hat der Tarifvertrag für kleinere Betriebe aber auch eine besondere Schutzfunktion. Gerade Betriebsräte größerer Unternehmen reflektieren dies häufig in Aussagen, wenn es um die Frage von tarifvertraglichen Abweichungen in ihrem Betrieb geht. Aufgrund ihrer Stärke trauen sich diese Betriebsräte eher die Entwicklung eigener betrieblicher Modelle (und somit die Rolle einer Ersatztarifpartei) zu. Die Gefahr einer Schwächung des Flächentarifvertrags, auf dessen Schutz kleinere Betriebe in stärkerem Maße angewiesen sind, wird dabei mitunter offen benannt. So äußert der Betriebsratsvorsitzende von M21: M21-BRl: [ ... ] Glauben Sie mir; die großen Betriebsräte [ ... ] machen auch Politik. Das muss man dazu sagen, für den Vorstand gilt das dann schon ein bisschen etwas, wenn 300.000 Beschäftigte dahinterstehen. Das ist ja was. Dann kann man natürlich sagen: "Mensch, da setze ich mich darüber hinweg und mache halt was. " Nur; damit helfen Sie den Kleinen gar nicht. Im Gegenteil: Sie machen die Kleinen noch viel schwächer; weil sie nicht in der gleichen Lage sind. Also ich verstehe ja, wenn man groß ist, man kann was bewegen und sagen: "Warum schreibt der mir das unbedingt vor? Das möchte ich so gar nicht. " Aber es gibt halt Kleine, die froh sind, wenn sie nicht in diese Nöte kommen. Deswegen ist der Flächentarifvertrag vom Prinzip her richtig. [ ... ]

Insofern spielen große Betriebe auch eine Vorbildrolle. Eine bei ihnen praktizierte Abweichung entwickelt größere Auswirkungen als dies bei anderen Unternehmen der Fall wäre. Anschaulich aus der Praxis berichten die Betriebsräte von M20: M20-BRl: [ ... ], aber wir haben eigentlich kein Problem mit der IG Metall. Sicher; wenn es um Betriebsvereinbarungen geht, inwieweit die einen Tarifvertrag tangieren oder hart an einem Tarifvertrag gerade noch im Rahmen sind oder vorbeischrammen, ja, da gibt es immer wieder sachliche Diskussionen. Weil wir als größter Betrieb immer eine Musterfunktion haben. [ ... ] Also die Arbeitgeberverbände schauen natürlich auch darauf, was in den großen Buden passiert.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

M20-BR2: Auch dadurch, dass der GBR-Vorsitzende natürlich jetzt aus ... [Standort von M20 - d. Verf.] kommt, wird da auch innerhalb . .. [des Konzerns - d. Verf.] auf uns geschaut. M20-BRl: Und das heißt, die IG Metall wird natürlich auch darauf schauen, dass wir da nicht irgendetwas im luftleeren Raum vereinbaren, das dann die IG Metall in M. oder in der Verwaltungsstelle von einem anderen Betriebsfürsten wieder um die Ohren gehauen bekommt. Also das heißt, wir haben als Betriebsrat schon für die Fläche eine Verantwortung, Betriebsvereinbarungen abzuschließen, die im Rahmen bleiben. Frage: Das ist ein interessanter Punkt, dass es bei Betriebsvereinbarungen noch einen Unterschied macht, ob die Betriebe eine Art Leitbildfunktion haben wie Ihr Betrieb hier oder ob man eher versteckt und diskret in einem kleineren Betrieb irgendetwas macht, wo man eher Augen zudrücken kann, weil es gar nicht so auffällt? M20-BRl: Wenn eine kleine Bude, um überleben zu können, mit dem Betriebsratsgremium Samstagsarbeit vereinbart - also die 6- Tage- Woche, in welchem Schichtrhythmus auch immer -, wenn das bekannt wird, kriegen wir es auch um die Ohren gehauen: "Warum geht das in der kleinen Bude und warum geht es bei uns nicht?" In der kleinen Bude stimmt die IG Metall zu, bei uns am Standort . .. [M20 - d. Verf.] geht es nicht. So, und das sind halt dann die Konfrontationen, weil wir sagen: "Wenn wir es aufweichen: Die kleine Bude braucht es zum Überleben, wir brauchen es nicht unbedingt zum Überleben. Aber bei uns hat es dann eine Folgewirkung für alle anderen Standorte. " M20-BR2: Und dann kommt ja innerhalb . .. [des Konzerns - d. Verf.] dieser Druck natürlich, genauso: "In den Werken in K. und in E. geht es. Warum geht es in ... [bei M20d. Verf.] nicht?" Also, der Druck kommt eigentlich aus zwei Richtungen: Einerseits aus dem regionalen Umfeld mit Zustimmung der IG Metall und dann gibt es natürlich innerhalb ... [des Konzerns - d. Verf.] Betriebsräte - ich will die auch nicht schlecht machen-, die aus bestimmten Beweggründen an der Stelle vielleicht nachgeben, woanders vielleicht auch was dafür an Zusicherung kriegen. Und dann pickt sich natürlich unsere Firmenseite das raus und sagt beispielsweise: "Jetzt haben die dort Samstagsarbeit eingeführt. " Unser Werk in E. hat ja auch bestimmte Zugeständnisse. M20-BRl: Die haben wieder die 38-Stunden-Woche, die haben den Samstag, die haben einen rotierenden 3-Schichten-Betrieb ... M20-BR2: Das sind so Punkte, die natürlich dann auch uns wieder aufs Butterbrot geschmiert werden, wenn gesagt wird: "Warum machen die das?" Oder ein anderes Beispiel: Betriebsversammlungen haben wir jetzt aktuell wieder aufs Butterbrot geschmiert bekommen: Wir wenden angeblich zuviel Zeit für Betriebsversammlungen auf Wir machen drei im Jahr; alle anderen machen bloß zwei im Jahr. Vier sollen es sein. 38 [ ... ]

M20-BRl: Also, wir sind uns klar; auf uns wird geschaut. Und fällt bei uns in A. mit 4.000 Beschäftigten der Samstag, dann ist . .. [im Konzern - d. Verf.] Feuer unterm Dach und auch in der Region.

Die betriebliche Praxis großer Unternehmen hat somit eine besondere Bedeutung für die tarifvertragliche Entwicklung. Zum einen sind Vertreter dieser Betrie-

38

Nach § 43 Abs. 1 BetrVG finden Betriebsversammlungen vierteljährlich statt.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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be in recht hohem Maße unmittelbar an Tarifverhandlungen beteiligt. Des Weiteren haben solche Unternehmen eher die Kapazitäten, die zumeist aufwendige Entwicklung neuer betrieblicher Modelle zu praktizieren. Schließlich erfahren diese Unternehmen in der öffentlichen Wahrnehmung gerade auch durch die Tarifvertragsparteien eine herausgehobene Aufmerksamkeit. Alle diese Faktoren tragen mit dazu bei, dass sich die Betriebsparteien in großen Unternehmen gerne in einer Vorreiterrolle tariflicher Entwicklungen sehen.

3. Die Nutzung von Abweichungen als Verhandlungsmittel

Abweichungen vom Tarifvertrag können auf verschiedenen Ebenen als Druckmittel in Verhandlungen eingesetzt werden. Zu beachten ist zum einen der Angleichungsdruck aufgrund abweichender betrieblicher Regelungen auf andere Betriebe. Ein entsprechender Druck kann aber auch in Tarifverhandlungen genutzt werden.

a) Tarifverhandlungen

Der Angleichungsdruck auf die Tarifvertragsparteien durch eine einzelne vom Tarifvertrag abweichende betriebliche Regelung - unabhängig davon, ob es sich um eine Betriebsvereinbarung, eine Regelungsabrede oder einen Haus- bzw. Ergänzungstarifvertrag handelt - erscheint noch vergleichsweise gering. Der von solchen Regelungen ausgehende Druck beruht in erster Linie darauf, inwiefern eine Übernahme als tarifpolitisch sinnvoll und gewünscht anzusehen ist. Trotzdem wird bereits mit der ersten Abweichung ein Präzedenzfall geschaffen. Insbesondere wenn die Tarifvertragsparteien in die Schaffung der betrieblichen Regelung einbezogen sind, müssen sie damit rechnen, in zukünftigen Fällen mit ihrer Zustimmung konfrontiert zu werden. Dies spiegelt sich auch in der Überlegung des Ersten Bevollmächtigten der Verwaltungsstelle IGM-ll wider: IGM-ll: [Bei einer Abweichung - d. Verf.] nach unten wiirde allein in einer Branche schon die Gefahr bestehen, wenn jetzt der Tarifvertrag fiir den Betrieb anders gestaltet ist. Dann dauert es 20 Minuten. Da ist das Gespräch beim Mitkonkurrenten: "Die arbeiten zu anderen Bedingungen. Warum wir nicht? Ich muss dort mitkonkurrieren. " Und dann ist der Betriebsrat so unter Druck und wir auch, dass wir dort auch etwas machen miissen, egal wie die wirtschaftliche Lage ist. [ ... ]

Die Verweigerung einer erneuten Zustimmung würde somit erheblichen BegTÜndungsaufwand erfordern, dessen Erfolgsaussichten dennoch zweifelhaft sein können. Eher noch als in anderen Fällen wäre es dann auch wahrscheinlich, dass sich die Betriebsparteien in einem solchen Fall über eine ablehnende Haltung der Tarifvertragsparteien hinwegsetzen würden. 4 Brecht

Teil 1: Empirische Untersuchung

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Je mehr Unternehmen Abweichungen vom Tarifvertrag praktizieren, desto stärker rücken weitere Gesichtspunkte in den Vordergrund. Zum einen wird argumentiert, dass eine vielfach praktizierte Abweichung vom Tarifvertrag für die Vernünftigkeit einer solchen Regelung spreche. 39 Zum zweiten gefährdet die weit verbreitete Missachtung einer tariflichen Norm die Ordnungsfunktion des Flächentarifvertrags. Die Übernahme in den Tarifvertrag - beispielsweise durch eine Öffnungsklausel - soll dann dazu dienen, die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems zu erhalten. Die Thematisierung abweichender betrieblicher Regelungen als Argument in Tarifverhandlungen kommt in folgendem Auszug zum Ausdruck: IGM-ll: [ ... ) Die [Abweichungen - d. Yerf.) werden dann wieder genutzt, um bei der nächsten Tarifrunde zu sagen: "Da haben wir ja schon zahlreiche Beispiele, wo Abweichungen des Tarifvertrages da sind. Warum seid Ihr von der IG Metall nicht bereit, diese Abweichungen zur Norm zu machen? Oder Öjfnungsklauseln zu machen?"

Allerdings ist es nicht so, dass durch vom Tarifvertrag abweichende Regelungen ein Anpassungsdruck lediglich auf die Gewerkschaft entsteht. Prinzipiell besteht die Möglichkeit, dass auch der Arbeitgeberverband einem Druck durch geschaffene betriebliche Fakten ausgesetzt sein kann. Je nach Art der Regelung ist somit denkbar, dass der Arbeitgeberverband durch abweichende betriebliche Modelle ebenfalls in seiner tarifpolitischen Gestaltungsfreiheit eingeschränkt wird. So machten die Betriebsparteien im Unternehmen M21 die Erfahrung, dass beide Tarifvertragsparteien dem betrieblichen Modell eines Langzeitarbeitskontos aufgrund befürchteter Präjudizwirkungen zurückhaltend begegneten: M21-GL: [ ... ) Aber er [der Betriebsratsvorsitzende - d. Yerf.) hat eine Menge Schwierigkeiten dadurch gekriegt. Er ist öfter in der Zeit in Frankfurt [Sitz der IG-Metall-Hauptverwaltung - d. Yerf.) gewesen und hat dort mit dem Vorstand gesprochen und hat auch, wie gesagt, ein Vier-Augen-Gespräch mit einem Vorstandsmitglied für mich ermöglicht, um darüber zu diskutieren. Er hat sich hier natürlich auch durchgesetzt gegen die örtliche IG-Metall-Leitung. Also das war sicherlich nicht einfach auf der Seite. Für mich war das nicht einfach auf Seite des Arbeitgeberverbandes. Die waren da natürlich wenig erpicht auf solche Dinge. Die fanden das zwar subjektiv und einzelfallbezogen toll, das man so etwas machen kann, aber haben natürlich Angst gehabt, Präjudizien in der einen oder anderen Richtung zu schaffen, bevor da tarifvertraglieh etwas geregelt ist. Das ist ein Problem, das ist ganz klar. [ ... )

Festzuhalten bleibt somit, dass insbesondere durch die Häufigkeit betrieblicher Abweichungen die präjudizierende Wirkung auf Tarifverträge zunimmt. Dies lenkt den Blick auf die Frage, wie es zu solchen Ergebnissen auf Betriebsebene kommt.

39

So argumentieren beispielsweise Ehmann/Th. B. Schmidt, NZA 1995, S. 193,203.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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b) Betriebliche Aushandlungsprozesse

Die Bereitschaft der Betriebsparteien zur Abweichung vom Tarifvertrag hängt von zahlreichen Faktoren ab. Hierbei spielen der Stil der Mitbestimmung, die Größe des Betriebes und andere Einflüsse eine wesentliche Rolle. 4o Zu fragen bleibt, inwiefern durch vom Tarifvertrag abweichende betriebliche Modelle eine Präjudizwirkung auf andere Betriebe ausgeht. Wie bereits festgestellt wurde, verläuft der Informationsfluss zwischen Betrieben auf unterschiedlichen Wegen. Dementsprechend vermag es nicht zu verwundern, dass von den betrieblichen Akteuren in den geführten Interviews immer wieder auf Abweichungen anderer Betriebe Bezug genommen wurde. Dies weist darauf hin, dass in den betrieblichen Aushandlungsprozessen entsprechend argumentiert wird. So schildert der Geschäftsführer eines ostdeutschen Unternehmens, für das eine (von den Betriebsparteien vorausgehandelte) Härtefallregelung41 gilt, die Wettbewerbssituation: M3-GLl: [ ... ] Was hier dazugehört, sind die Rahmenbedingungen, die im Umfeld liegen, sprich: Welche Bedingungen haben unsere Mitbewerber? Und da ist eben von Herrn B. schon angedeutet worden: Wir haben sehr viele Firmen, die bei uns hier spezielle Arbeiten ausführen lassen, die sie selber nicht können, die von der Sache her Wettbewerber sind, aber überhaupt nirgendwo tarifgebunden sind. Sie bewegen sich in Stundensätzen bei mindestens 1 Mark bis 2 Mark niedriger. Und das sind natürlich Größenordnungen, das sind Welten. Und wenn es dann weitergeht und man hört, dass andere Betriebe weder die Anfahrt zur MontagesteIle - was wir ja auch teilweise machen - bezahlen noch sonstige Vergünstigungen geben, die der Montagetarifvertrag vorsieht. Bei denen spielen solche Dinge überhaupt keine Rolle. Das machen wir alles tarifkonform. [ ... ]

Wie Regelungen aus anderen Betrieben in die Verhandlungen eingebracht werden, schildern zwei Vertreter des Betriebsrates im Unternehmen M4. Sie wurden von dem Geschäftsführer mit einer Betriebsvereinbarung konfrontiert, die er als Inhaber eines anderen Unternehmens mit dem dortigen Betriebsrat abgeschlossen hatte: M4-BRl: [ ... ] Der Arbeitgeber will z. B. eine Arbeitszeitregelung, flexizeitmäßig, die weit über das hinausgeht, was wir bereit sind, zuzugestehen. Er will eine 46-Stunden-Woche. Er will bis 150 Stunden plus. Er will die 46-Stunden-Woche ohne Wochenpausen dazwischen. Da sehen wir erst mal nicht ein, warum wir ihm das jetzt geben sollen. Wir sehen diesen hohen Flexibilisierungsbedarf nicht. Zum zweiten sagen wir ganz klar: "Die Löhne in unserer Firma sind nicht so, dass wir solche Belastungen den Mitarbeitern zumuten

Näher hierzu Höland / Reim / Brecht, 2000, S. 211 ff. Die in den Tarifverträgen der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie geregelten Härtefallverfahren erlauben eine Absenkung tariflicher Standards durch die Tarifvertragsparteien für Unternehmen in wirtschaftlichen Krisensituationen; siehe hierzu auch die empirischen Untersuchungen Hickell Kurtzke, 1997 bzw. Hickell Kurtzke, WS I-Mitteilungen 1997, S. 98 ff. sowie ArtuslR. SchmidtlSterkel, 2000, S. 68 ff.; vgl. ferner Sontowski, 1998. 40 41

4*

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Teil 1: Empirische Untersuchung

wollen. .. Ganz platt: Bei höheren Löhnen würden die Mitarbeiter auch manches wegstekken, was sie so nicht wegstecken.

M4-BR2: D. h., die Flexibilisierungsvereinbarung, [ ... ] die ist gekündigt. Und da sind wir im Augenblick in Verhandlungen. M4-BRl: Sie wirkt aber nach, bis eine neue Betriebsvereinbarung abgeschlossen ist. Wir gehen da mit Ruhe heran. Er [der Geschäftsführer - d. Verf.] hat uns da eine Betriebsvereinbarung vorgelegt von dem Betrieb ... [weiterer Betrieb des Geschäftsführers - d. Verf.]. Das ist für uns ein ganz übles Machwerk. Das würden wir niemals unterschreiben. M4-BR2: Eine tägliche Arbeitszeit von 8.00 bis 22.00 Uhr, nötigenfalls bis 24.00 Uhr und solche Sachen sind da drin. Ich kann nicht begreifen, wie ein Betriebsrat so etwas unterschreiben kann.

Diese Ausführungen der Betriebsräte legen nahe, dass sie sich durch Vorlage einer solchen Betriebsvereinbarung erheblich unter Druck gesetzt fühlen. Entsprechend engagiert legten sie ihre Gegenargumentation dar. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass nicht jeder Betriebsrat die Kraft und Erfahrenheit aufbringt, sich bei entsprechenden Vorschlägen der Arbeitgeberseite zu verweigern. Insofern kann der Tarifvertrag auch eine Rückzugslinie darstellen, auf die sich die Betriebsräte berufen können. Wenn dieser Schutz nicht mehr greift - etwa weil der Tarifvertrag aufgrund zunehmender Abweichungen seine Ordnungsfunktion nicht mehr voll zur Geltung bringen kann - hängt vieles von der faktischen Stärke des Betriebsrates ab. Die Problematik schildert der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Unternehmens MII: Mll-BR: [ ... ] Es sollte nicht zu sehr auf die Betriebsräte verlagert werden, weil die nach meiner Meinung da überfordert sind. Das ist dann zu sehr auf die Firma gesehen und man ist nicht immer in der Lage, es von außen mit etwas Abstand zu sehen. Wir sehen manchmal den Aha-Effekt: Da haben wir nicht dran gedacht. Wenn ich dann sehe, dass so ein Betriebsrat, wie es bei uns in der Vergangenheit war, als von neun Mitgliedern acht neu waren, ins kalte Wasser geschmissen wird und überhaupt keine Ahnung hat und dann total überfordert ist. Der läuft doch ins offene Messer.

Allerdings sind die Stärke und Erfahrenheit eines Betriebsrates kein Garant dafür, dass tatsächlich die von anderen Unternehmen praktizierte Regelung verhindert werden kann. Der als sehr erfahren und durchsetzungsstark anzusehende Betriebsrat im Unternehmen M20 bringt dies auf den Punkt: M20-BR2: Wenn der Flächentarifvertrag kaputt gemacht wird [ ... ] und im Umkreis von 5 km hat jeder Betrieb die Samstagsarbeit, dann können wir an dem Standort noch so gut sein, dann bricht der Damm.

c) Zwischenergebnis

Abweichungen vom Tarifvertrag können auf verschiedenen Ebenen als Verhandlungsressource eingesetzt werden. Zunächst erfolgt eine solche Präjudizwirkung

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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auf betrieblicher Ebene. Die Wirkung des Angleichungsdrucks ist je nach Stärke des Betriebsrates unterschiedlich stark ausgeprägt. Dieser Faktor verliert jedoch an Bedeutung, in je größerem Umfang von einer tarifvertraglichen Regelung abgewichen wird. Spätestens an diesem Punkt geraten auch die Tarifvertragsparteien unter erheblichen Handlungszwang. Die Legalisierung einer abweichenden betrieblichen Praxis dient dann vorrangig dazu, die Funktionsfähigkeit des Flächentarifvertrags zu erhalten. Demgegenüber tritt das aus der Tarifautonomie resultierende tarifpolitische Gestaltungsvorrecht der Tarifvertragsparteien in den Hintergrund. 4. OfTengelassene tarifvertragliehe Regelungen

Spezifische Probleme präjudizierender Wirkungen betrieblicher Regelungen auf den Tarifvertrag ergeben sich in den Fällen, in denen die Tarifvertragsparteien implizit oder explizit auf die Normierung eines Regelungsbereichs verzichten. Solche Besonderheiten finden sich beispielsweise in Tarifverträgen für die neuen Bundesländer, in denen zum Teil in westdeutschen Taritbezirken übliche Regelungen noch nicht enthalten sind. Ein Beispiel hierfür ist der Monatslohn, wozu der Manteltarifvertrag für die Arbeiter in der sächsischen Metall- und Elektroindustrie (vom 1. 4. 1991 i. d. F. v. 1. 5. 1997) in § 16 feststellt: Die Tarifvertragsparteien werden zu gegebener Zeit Verhandlungen über die Einführung des Monatslohns aufnehmen.

Es handelt sich somit um einen Bereich, den die Tarifvertragsparteien bewusst noch nicht geregelt haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts liegt in solchen Fällen keine Tarifüblichkeit im Sinne von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG vor. 42 Damit besteht für die Betriebsparteien kein rechtliches Hindernis für den Abschluss freiwilliger Betriebsvereinbarungen. Dementsprechend ist der folgende Vorstoß der Betriebsparteien im Unternehmen M8 rechtlich nicht zu beanstanden: M8-BR: [ ... ] Dann sind wir dabei, eine Betriebsvereinbarung zum Monatslohn zum Abschluss zu bringen, weil in Sachsen im Tarifvertrag noch kein Monatslohn enthalten ist. [ ... ]

Die tarifvertragliche Formulierung "zu gegebener Zeit" lässt Raum für Spekulationen, wann der Monatslohn für das Tarifgebiet Sachsen geregelt werden soll. Ein wichtiger Faktor für die Tarifvertragsparteien, wann der Zeitpunkt für eine solche tarifvertragliche Normierung gekommen ist, stellt mit Sicherheit die betriebliche Praxis dar. Je mehr Betriebe eine entsprechende Regelung praktizieren, desto wahrscheinlicher wird die Aufnahme in den Tarifvertrag. Das Risiko einer starken Diversifizierung betrieblicher Regelungen, die nur noch schwer in eine einheitliche 42 F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 91; BAG 22.5.1979, AP Nr. 13 zu § 118 BetrVG 1972; BAG 23. 10. 1985, AP Nr. 33 zu § 1 TVG TV Metallindustrie.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

Tarifnonn umgesetzt werden kann, dürfte im vorliegenden Beispiel nicht ganz so hoch wie in anderen Fällen sein; denn schließlich orientieren sich die Tarifverträge der sächsischen Metall- und Elektroindustrie an denen Bayerns. Dort ist in § 16 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Monatslohn eingehend geregelt. Also besteht für die Betriebsparteien eine Orientierungsmöglichkeit, wodurch die Einheitlichkeit leichter gewahrt werden kann. Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass die sich entwickelnde betriebliche Praxis nicht allzu heterogen sein wird. Lassen die Tarifvertragsparteien jedoch die Regelung eines für die betriebliche Praxis relevanten Themas offen, ohne dass die Möglichkeit einer festen Orientierung für die Betriebsparteien besteht, so ergibt sich leicht die Gefahr eines Auseinanderlaufens der betrieblichen Umsetzungen. Ein Beispiel hierfür ist die Gleitzeit, um deren Regelung sich die Tarifvertragsparteien 1974 vergeblich bemühten. Damit wurde die Umsetzung allein der betrieblichen Praxis überlassen. 43 Die hieraus resultierende Problematik schildert der Betriebsrat des Unternehmens M23: M23-BR: [ ... ] Über die Tarifkommissionen von IG Metall oder Arbeitgeberverband ver-

suchen wir, Dinge zu regeln im Tarifvertrag, an denen wir Interesse haben, dass sie geregelt werden. Das klappt nicht immer. Ich habe einmal im Rahmen einer Bezirkskonferenz der IG Metall mit der Verwaltungsstelle ... zusammen einen Antrag eingebracht, die Gleitzeit endlich im Tarifvertrag zu regeln. Das ist ja nirgendwo geregelt. Es steht zwar drin, es kann Gleitzeit gemacht werden, das ist es aber. Der Antrag wurde abgeschmettert - mit der Begründung: "Das ist schon Jahre her und dann sind auf einen Schlag 5.000 Betriebsvereinbarungen in Bayern nicht mehr tarifvertragskonfonn. Weil jeder was anderes macht." "Okay", sage ich, "dann machen wir so weiter."

Die entsprechende Nonnierung in § 2 Ziff. 4 des Manteltarifvertrags für die gewerblichen Arbeitnehmer der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (vom 1. 12. 1973 i. d. F. v. 1. 11. 1997) lautet: Regelungen über eine gleitende Arbeitszeit sind mit dem Betriebsrat unter Hinzuziehung der Tarifvertragsparteien zu vereinbaren.

Der bayerische Manteltarifvertrag sieht somit - im Gegensatz zu manch anderen Tarifverträgen der Metallindustrie - eine Einbeziehung der Tarifvertragsparteien vor. Generell erscheint es sinnvoll, zur Sicherstellung einer einheitlichen betrieblichen Praxis die Konsultierung der Tarifvertragsparteien vorzusehen. Fraglich bleibt aber, ob eine so vage Fonnulierung wie "unter Hinzuziehung der Tarifvertragsparteien" geeignet ist, eine starke Diversifizierung zu venneiden. Ein schärferes Kontrollmittel wäre hingegen, eine Zustimmung der Tarifvertragsparteien zwingend vorzusehen. Die Wirksamkeit eines solchen Mittels hängt jedoch von zwei Faktoren ab: Zum einen bedarf es der Anwendung einheitlicher Kriterien, in 43 Vgl. Ziepke/Weiss, 1998, § 4 Anm. 7 Ziff. 4. Eine Rahmenregelung zur gleitenden Arbeitszeit enthält hingegen § 3 Ziff. 7 Manteltarifvertrag für die Metallindustrie Nordwestliches Niedersachsen - Wilhelmshaven (vom 18.5.1990 i. d. F. v. 3. 2.1997).

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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welchen Fällen eine Zustimmung erteilt oder versagt werden soll. Angesichts der fehlgeschlagenen Einigung dürfte es den Tarifvertragsparteien erhebliche Schwierigkeiten bereiten, sich auf eine solche Linie festzulegen. Zum anderen müssen sich die Tarifvertragsparteien der Frage stellen, wie sie sicherstellen können, dass die Zustimmung durch die Betriebsparteien tatsächlich eingeholt wird. Festzuhalten bleibt also, dass der bewusste Verzicht auf tarifliche Regelungen die Möglichkeit einer stark diversifizierten betrieblichen Praxis mit sich bringt. Ob diese Diversifizierung tatsächlich eintritt, hängt insbesondere davon ab, welche Orientierungsmöglichkeiten den Betriebsparteien zur Verfügung stehen und in welchem Maße sie hiervon Gebrauch machen. Läuft die betriebliche Praxis in großem Umfang auseinander, ist es nur noch schwer möglich, diese Entwicklung durch einen Tarifvertrag wieder "einzufangen". Dies muss nicht unbedingt als negativ betrachtet werden, da eine solche Vielfalt auch individuelle Vorteile beinhalten kann. Allerdings müssen sich die Tarifvertragsparteien bewusst sein, dass sich mit dem Verzicht auf tarifliche Regelung eine nicht mehr steuerbare Eigendynamik entwickeln kann. Die Tarifvertragsparteien geben damit für einen solchen Bereich die Ordnungswirkung des Flächentarifvertrags auf. 5. Präjudizwirkung am Beispiel von Arbeitszeitkonten in der Metallindustrie Der Bereich, in dem am häufigsten in den untersuchten Betrieben vom Tarifvertrag abgewichen wurde, betraf die Arbeitszeit. Auch wenn die befragten Unternehmen keine repräsentative Auswahl darstellen, so kann man dennoch von einer generellen Tendenz ausgehen. Das bestätigen auch Aussagen von Gewerkschaftsvertretern. Insbesondere die Frage der Arbeitszeitkonten erweist sich in der Metallund Elektroindustrie als problematisch. Dies gilt prinzipiell für Unternehmen im gesamten Bundesgebiet,44 jedoch in besonderem Maße für die neuen Bundesländer. 45 Dementsprechend schildern (unabhängig voneinander) zwei ostdeutsche Vertreter der IG Metall das Phänomen besonders nachdrücklich: IGM·l: [ ... ] Es gibt mittlerweile in sehr vielen Betrieben Arbeitszeitkonten, Flexibilisierungen der Arbeitszeit, die sich nicht mehr hundertprozentig mit dem Tarifvertrag decken. 44 Vgl. die sich hauptsächlich auf Betriebsvereinbarungen der Metallindustrie stützende Studie von LindeckelLehndorff, WS I-Mitteilungen 1997, S. 471, 474 f.; generell bestätigen diese Tendenz auch OppolzerlZachert, 2000, S. 219; vgl. ferner Artus, 2001, S. 128 und WS/-Projektgruppe, WSI-Mitteilungen 1998, S. 653, 663. 45 ArtuslR. SchmidtlSterkel, 2000, S. 55 f., stellen in ihrer Untersuchung für die ostdeutsche Metallindustrie fest: "Die Einhaltung der tariflichen Bestimmungen zur Lage und Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit war in den Untersuchungsbetrieben die Ausnahmt!. Fast überall existierten entweder informelle oder (häufiger) offiziell über Betriebsvereinbarungen geregelte Möglichkeiten der Flexibilisierung, Variabilisierung und Differenzierung der Arbeitszeit, die eindeutig über die tariflich vorgesehenen Möglichkeiten hinausgingen."

Teil 1: Empirische Untersuchung

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Da geht es um Ausgleichszeiträume und ähnliches. Ansammlungen von Plusstunden. In der Arbeitszeitjrage deckt sich einiges nicht mehr mit dem Tarifvertrag. Das muss man so deutlich sagen. [ ... ]

***

IGM-3: [ ... ] Ich vermute mal, dass von den 30 % der Betriebe, die tarifgebunden sind, mindestens die Hälfte schon mal im Bereich der Arbeitszeit Regelungen angewendet hat, die nicht tarifvertragskonform waren. [ ... ]

Es stellt sich die Frage, welche Wechselwirkungen zwischen den tarifvertraglichen Vorgaben und solchen abweichenden betrieblichen Regelungen bestehen. Dazu soll nachgezeichnet werden, welchen Entwicklungsverlauf tarifliche und betriebliche Regelungen auf dem Gebiet der Arbeitszeit in den letzten 20 Jahren genommen haben.

a) Leber-Kompromiss

Bis 1984 galt in der Metall- und Elektroindustrie ein Ausgleichszeitraum von einer Woche in Einschicht-, 2 Wochen in Zwei schicht- und 3 Wochen in Dreischichtbetrieben. 46 Mit dem die schrittweise Verkürzung auf 35 Stunden pro Woche einleitenden Leber-Komprorniss47 von 1984 fand die über einen längeren Zeitraum zu erbringende "individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit" (lRWAZ) Eingang in den Tarifvertrag. So lautete beispielsweise der damalige § 7.5 des Manteltarifvertrags für die Arbeiter und Angestellten in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (gültig ab 1.4. 1985):48 Die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit kann gleichmäßig oder ungleichmäßig auf 5 Werktage in der Woche verteilt werden. Die wöchentliche Arbeitszeit muss im Durchschnitt von 2 Monaten erreicht werden.

Diese Regelung legte den Grundstein für die Schaffung von Arbeitszeitkonten. Das Führen eines solchen Kontos beschreibt auch der Betriebsrat des UnternehmensM23: M23-BR: [ ... ] Wir machen das seit 1987188. Damals war das noch nicht geregelt. Aber wir haben gesagt, es gibt bestimmte Dinge, die kriegen wir sonst einfach nicht in den Griff. Aufgrund der unregelmäßigen Verteilung der Arbeitszeit war ein Zeitkonto damals schon erforderlich, um auf die betriebliche oder durchschnittliche tarifliche Arbeitszeit zu kommen, Anders herum: 1984185 ist aufgrund der Entkoppelung von Betriebsnutzungszeit und Arbeitszeit - damals die 38,5 Stunden und die sog. Maschinenlaufzeit, die ja teilweise noch bei 40 Stunden bzw. bei uns im Dreischichtbetrieb bei 24 Stunden lag - das Führen eines Zeitkontos erforderlich geworden, um die Zeit, die über die tarifliche Arbeitszeit

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47 48

G. Boschl Engelhardt 1Hermannl Kurz-Scherf1 H. Seifert, 1988, S. 64. Vgl. ZiepkelWeiss, 1998, § 3 Anm. 1. Zitiert nach: Pabst, 1995, S. XXXI.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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hinausgeht, irgendwo zu erfassen und sie dann entsprechend dem Tarifvertrag zum Beispiel abzufeiern. Diese Entkoppelung von Betriebsnutzungszeit und individueller regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit, die hat das eigentlich notwendig gemacht. Und Sie haben bei Gleitzeit schon immer Zeitkonten gehabt.

Die Möglichkeit zur Variabilisierung der Arbeitszeit wurde anfänglich auf betrieblicher Ebene nur für einen geringen Teil aller Arbeitnehmer praktiziert. 49 Allerdings zeigte es sich in einer Studie von 1988 zur Umsetzung der 38,5-StundenWoche50 bereits, dass in diesen Fällen der tarifliche Ausgleichszeitraum von zwei Monaten in immerhin 18 % der ausgewerteten Betriebsvereinbarungen nicht eingehalten wurde. In mehr als 3/4 dieser Fälle reichte der Ausgleichszeitraum über ein Vierteljahr hinaus. 51 Auffällig ist die Tatsache, dass vor allem größere Betriebe die Ausdehnung vorantrieben. Während in der Untersuchung nur in etwa 10 % der Betriebe bis 100 Beschäftigte eine unzulässige Ausweitung erfolgte, wies fast jede vierte Betriebsvereinbarung in Betrieben über 500 Beschäftigte einen Ausgleichszeitraum von mehr als zwei Monaten auf. 52 b) Ausweitung des Ausgleichszeitraums auf 6 Monate

Der nächste Schritt der Arbeitszeitverkürzung war die Einführung der 37-Stunden-Woche zum 1. 4. 1989.53 Parallel hierzu erfolgte eine Ausweitung des Ausgleichszeitraums auf nunmehr 6 Monate. 54 Ein Beispiel für die in der westdeutschen Metallindustrie seither gebräuchlichen Tarifklauseln ist § 3 Ziff. (3) Abs. 3 des Gemeinsamen Manteltarifvertrags (GMTV) für die niedersächsische Metallindustrie (vom 17. 10. 1994 i. d. F. v. 5. 12. 1996): Die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit sowie die wöchentliche Ausbildungszeit kann grundsätzlich gleichmäßig oder ungleichmäßig auf 5 Werktage von Montag bis Freitag verteilt werden. Eine davon abweichende Verteilung kann nach Maßgabe der betrieblichen Erfordernisse mit dem Betriebsrat vereinbart werden. Diese wöchentliche Arbeitszeit muss im Durchschnitt von 6 Monaten erreicht werden. In den Betriebsvereinbarungen über die Arbeitszeit sind auch Beginn und Ende der Ausgleichszeiträume festzulegen.

Eine beachtenswerte Erweiterung stellt die Tatsache dar, dass eine explizite Benennung der Ausgleichszeiträume in den Betriebsvereinbarungen erforderlich ist. Ellguth/R. Schmidt/Trinczek, WS I-Mitteilungen 1990, S. 170, 175 f. G. Bosch/Engelhardt/Hermann/Kurz-Scherf/H. Seifert, 1988, S. 64. 51 G. Bosch/Engelhardt/Hermann/Kurz-Scherf/H. Seifert, 1988, S. 64; zu beachten ist, dass in 23% der untersuchten Betriebe die Informationen aus den Betriebsvereinbarungen ohne Kenntnis der betrieblichen Praxis eine Beurteilung nicht zuließ. 52 G. Bosch/Engelhardt/Hermann/Kurz-Scherf/H. Seifert, 1988, S. 65. 53 Ziepke/Weiss, 1998, § 3 Anm. I. 54 Ziepke/Weiss, 1998, § 4 Anm. 7 Ziff. 2. 49

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Teil 1: Empirische Untersuchung

Eine solche tarifvertragliche Vorschrift kann als Reaktion darauf gesehen werden, dass in einem erheblichen Teil der Betriebsvereinbarungen zur Umsetzung der 38,5-Stunden-Woche eine solche Bestimmung fehlte. Aufgrund dessen war es auch in der o. g. Studie in 23 % der untersuchten Betriebsvereinbarungen nicht möglich zu beurteilen, ob in der betrieblichen Praxis der damalige Ausgleichszeitraum tatsächlich beachtet wurde. 55 Die fehlende Benennung des Ausgleichszeitraums kann ein Indiz für eine stillschweigend praktizierte Abweichung vom Tarifvertrag sein. Die Pflicht zur expliziten Festlegung der Ausgleichszeiten vermag natürlich nicht zu verhindern, dass abweichende Regelungen praktiziert werden. Zumindest erhöhen sich jedoch die Hürden: Statt einer stillschweigenden Umgehung bedarf es einer sich deutlicher nach außen manifestierenden Abweichung. Insofern reagierten die Tarifvertragsparteien also neben der zeitlichen Ausdehnung der Ausgleichszeiträume auch durch eine Verfahrensvorschrift auf eine vom Tarifvertrag abweichende Praxis. c) Abschluss des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung

Auch vor dem Abschluss des Tarifvertrags zur Beschäftigungssicherung gab es Betriebe, die dessen Regelungen - insbesondere eine Ausweitung des Ausgleichszeitraums über 6 Monate hinaus - bereits praktizierten. Ein Beispiel hierfür ist das Unternehmen M13, das einen Ausgleichszeitraum von zwei Jahren geregelt hat: M13-BR: [ ... ] Z. B. in Fragen der Arbeitszeitjlexibilisierung. dort legen wir den Tarifvertrag sehr großzügig aus. Dort setzen wir auch neue Akzente. Wir haben z. B. den Beschäftigungssicherungstarifvertrag bei uns im Betrieb schon angewandt. da war er noch gar nicht gültig bei uns. Da wussten wir schon. wie das geregelt wird. was es da gibt und was da mal kommt und haben den angewandt. Wir haben dort auch teilweise in Absprachen mit der Bezirksleitung Betriebsvereinbarungen gemacht. die teilweise über den Rahmen des damals noch nicht geltenden Beschäftigungssicherungstarifvertrages hinausgegangen sind. In der Arbeitszeitregelung sind wir sehr großzügig.

Beachtlich ist an dieser Aussage, dass der Betriebsrat bewusst neue Akzente setzt. Er weist damit darauf hin, dass durch dieses Verhalten auch Druck auf die Tarifvertragsparteien entsteht. In einer Untersuchung über betriebliche Arbeitszeitpolitik in der MetaIIindustrie Anfang der 90-er Jahre nimmt Promberger56 die Entwicklung zum Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung vorweg: [ ... ] es besteht jedoch bei einer Minderheit von Betriebsräten durchaus die Bereitschaft, mit dem lokalen Management über Abkommen zu Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigungssicherung auch jenseits der derzeit gültigen Tarifbestimmungen zu verhandeln, wie das Beispiel des Maschinenbauunternehmens Schlafhorst zeigt. Diese Entwicklung kann

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G. Bosch/Engelhardt/Hermann/Kurz-Scherj/H. Seifert. 1988, S. 64. Promberger, WS I-Mitteilungen 1994, S. 171,177.

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möglicherweise auf die IG Metall einen gewissen Druck in Richtung der Öffnung der Tarifverträge zur Vereinbarung betriebsspezifischer Lösungen ausüben.

Tatsächlich kam es in einer Einigung zwischen IG Metall und Gesamtmetall vom 5.3. 1994 zum Abschluss eines entsprechenden Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung. Dabei wurde auch eine Verlängerung des Ausgleichszeitraums auf ein Jahr festgesetzt. 57 Insofern setzte sich eine Forderung der Arbeitgeberseite durch, die bereits in den Tarifverhandlungen von 1990 aufgebracht worden war. 58 Zu beachten ist, dass die Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung jeweils nur für ein Jahr unter Ausschluss der Nachwirkung abgeschlossen wurden. 59 Der als repräsentatives Beispiel für die neue Ausgleichsregelung anzusehende § 5 des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung für die niedersächsische Metallindustrie (vom 26. 1. 1998) lautet: Abweichend von § 3 Ziff. (3) Abs. 3, Satz 3 GMTV muss die wöchentliche Arbeitszeit im Durchschnitt von längstens 12 Monaten erreicht werden. In Ausnahmefällen kann mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien auch ein längerer Ausgleichszeitraum vereinbart werden.

Weitergehender ist der Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für NordrheinWestfalen (Fassung vom 7. Oktober 1997), der in § 4 Nr. 3 regelt: Ist am Ende des Ausgleichszeitraums die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Beschäftigten über- bzw. unterschritten, so muss die Differenz innerhalb der folgenden 4 Monate durch Freistellung bzw. Nacharbeit ausgeglichen werden. [ ... )

Realistisch erscheint die Einschätzung, dass dies de facto zu einem 16-monatigen Ausgleichszeitraum für die Betriebe führt. 6o d) Aktuelle Situation

In den derzeit gültigen Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie finden sich somit keine umfassenden Regelungen zur Frage der Arbeitszeitkonten. Zwar ist beispielsweise in einer Anmerkung zu § 2 Ziff. 1 Abs. (VI) des bayerischen Manteltarifvertrages die Möglichkeit der Führung eines Arbeitszeitkontos genannt, ohne dass jedoch eine wesentliche inhaltliche Ausgestaltung erfolgt. Insbesondere Bispinck, WS I-Mitteilungen 1995, S. 145, 156. Bispinck, WS I-Mitteilungen 1991, S. 129, 138. 59 Eine Besonderheit gilt für die Tarifgebiete I (vom 10. 5. 1990 i. d. F. v. 7. 1. 1997, gültig für Berlin) und 11 (vom 10. 3. 1991 i. d. F. v. 6. 2. 1997, gültig für Berlin und Brandenburg), in denen ein entsprechender Ausgleichszeitraum in § 2.4.2. Abs. 2 des Manteltarifvertrags für die Arbeiter der Metall- und Elektroindustrie normiert wurde. Speziell für diese Regelung sieht § 18.6 jedoch eine besondere Kündigungsfrist ohne Nachwirkung vor, so dass wieder ein 6-monatiger Ausgleichszeitraum gelten würde. 60 So auch Ziepke /Weiss, 1998, § 4 Anm. 7 Ziff. 2. 57

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Teil 1: Empirische Untersuchung

fehlt es an der Definierung von Ober- und Untergrenzen eines solchen Kontos. Auch wenn der Tarifvertrag jedoch keine ausdrücklichen Grenzen vorsieht, so enthält er über die Festschreibung von täglichen bzw. wöchentlichen Maximalarbeitszeiten sowie von Ausgleichszeiträumen implizit eine Einschränkung für den Aufbau von Plus-Stunden. 61 Den Zusammenhang von Ausgleichszeitraum und Maximalumfang des Arbeitszeitkontos dokumentiert die betriebliche Praxis im Unternehmen M20. Die einschlägige Betriebsvereinbarung sieht hierbei eine sog. "Ampelvereinbarung,,62 vor: Das Zeitkonto darf ein Zeitguthaben von maximal + 150 Stunden bzw. eine Zeitschuld von maximal -50 Stunden aufweisen. Über +150 Stunden hinaus findet kein weiterer Aufbau mehr statt. Zeitschulden über -50 Stunden können zur Einkommenskürzung führen. Erreichen einzelne Mitarbeiter einen Saldowert von +120 Stunden oder -30 Stunden, so sind mit der Führungskraft unverzüglich notwendige Maßnahmen zu vereinbaren, mit dem Ziel, den Saldowert entsprechend zu reduzieren. Bei Erreichen der Reaktionsmarke von 0 +100 Stunden innerhalb eines Organisationsbereichs (z. B. Abteilung, Fertigungslinie) sind mit der paritätischen Kommission63 Beratungen aufzunehmen, um geeignete personelle Maßnahmen anzustreben.

Die Betriebsvereinbarung legt keinen Ausgleichszeitraum fest. In der betrieblichen Praxis ergab sich jedoch im Zuge des Anlaufs eines Produktes eine Zuspitzung, der durch folgende Protokollnotiz der Betriebsparteien vom April 1998 Rechnung getragen wurde: [ ... ] die Personalkapazität [wird] zum einen befristet um mindestens 6 Mitarbeiter erhöht, und zum anderen das gestiegene Volumen mit Überstunden abgearbeitet. [ ... ] Das Zeitkonto darf im Rahmen dieser Protokollnotiz ein Zeitguthaben von maximal +320 Stunden bzw. eine Zeitschuld von maximal -50 Stunden aufweisen. Über +320 Stunden hinaus findet kein weiterer Aufbau mehr statt. Zeitschulden über -50 Stunden können zu Einkommenskürzungen führen. Erreichen einzelne Mitarbeiter einen Saldowert von +250 Stunden oder -50 Stunden, so sind mit der Führungskraft unverzüglich notwendige Maßnahmen zu vereinbaren, mit dem Ziel, den Saldowert entsprechend zu reduzieren. Bei Erreichen der Reaktionszeit von 0 + 250 Stunden für die Mitarbeiter der ... [Abteilung - d. Verf.] sind mit der paritätischen Kommission Beratungen aufzunehmen, um geeignete Maßnahmen anzustreben. Nach Ablauf der Wirksamkeit sind wieder die Saldogrenzen lt. Rahmenbetriebsvereinbarung gültig. Um dies zu erreichen, wird die Reaktionsmarke stufenweise reduziert. Folgende Stufen sind vorgesehen:

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62 63

Auf diesen Zusammenhang verweist das WS] Tarifhandbuch 1998, S. 55. Vgl. hierzu Lindecke/Lehndorff, WS I-Mitteilungen 1997, S. 471, 478. Zu den paritätischen Kommissionen siehe unten § 6 III.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

·250 Stunden bis Ende 10. ·200 Stunden bis Ende 01. • 150 Stunden bis Ende 04. • 120 Stunden bis Ende 06.

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1998 1999 1999 1999

Aufgrund des Ausweitens der (nicht explizit im Tarifvertrag definierten) Obergrenze ist es in diesem Fall nicht mehr möglich, den tariflichen Ausgleichszeitraum von einem Jahr einzuhalten. Allein bis zum Erreichen der in der Rahmenbetriebsvereinbarung vorgesehenen Reaktionsgrenze von +120 Stunden bedarf es nach Planung der Betriebsparteien eines Zeitraums von 15 Monaten. Hinzu käme die dann noch benötigte Zeit, um die Konten insgesamt wieder auf Null zu bringen. Inwiefern dies tatsächlich gelingt, ist dabei eine andere Frage. Ein Mitglied des Betriebsrates benennt die generelle Problematik: M20-BR2: Auf der einen Seite wollen wir damit Beschäftigung schaffen. Auf der anderen Seite sagen die eigenen Leute: "Ich komme mit der Zeit, mit dem Rahmen nicht aus. Ich bin jetzt bei 150 Stunden, ich bräuchte 250 Stunden. " Es ist aber für uns die politische Verantwortung, dem klarzumachen: "Pass auf, dann verlagerst Du Dein Problem auf den Zeitpunkt, wo Du an der 250-Stunden-Grenze bist. " Und irgendwann sammelt er so viele Stunden an, dass er gar nicht mehr zu Hause bleiben kann, denn wenn der einmal beispielsweise 600 Stunden auf dem Konto hat, müsste er 4 Monate am Stück zu Hause bleiben. Dann ist er raus aus dem Geschäft. Ein Entwickler ist dann weg vom Fenster.

Die Überschreitung der in den Betriebsvereinbarungen festgelegten Grenzen durch einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen wurde auch von weiteren Betriebsräten geschildert. 64 Nach Aussage eines Vertreters der IG Metall steht dahinter ein prinzipielles Problem: IGM-4: [ ... ] Wir haben auf der Vertreterversammlung mal so eine kleine Arbeitsgruppe gemacht. Da hat sich dann erstaunlicherweise ein Großteil der Vertreter gemeldet, wo es um diese Frage Arbeitszeit ging. Und da haben die mal ihre Modelle auf den Tisch gelegt. Da sind viele erschrocken darüber, welche Dimension das mittlerweile angenommen hat. Aber das sind eigentlich alles keine Unbekannten. Aus meiner Sicht haben wir das Hauptproblem momentan nicht bei der Frage der Arbeitszeitkonten, sondern wir haben das Hauptproblem bei der Frage: Was ist im Tarifvertrag nicht geregelt? Es gibtformal in den Arbeitszeitregelungen, die die Betriebsräte abgeschlossen haben, überall eine Obergrenze. Wir kommen in Konflikt, weil die Unternehmer mit unterster Personalkapazität fahren und wir mit dem Abfeiern Probleme bekommen, wenn die Arbeitszeitkonten voll werden. Das ist durchgängig.

Die fehlende tarifvertragliche Regelung befördert die Tendenz einer Ausweitung der Arbeitszeitkonten. Dieses Phänomen wird verstärkt durch die wechselseitige Bezugnahme auf Arbeitszeitpraktiken in anderen Betrieben. Ein Beispiel für solche Argumentationsmuster liefert der Personalleiter von M19: Frage: Das Kontovolumen wurde von + 1- 70 Stunden auf + 1- 140 Stunden erhöht? 64 Auch LindeckelLehndorfi, WS I-Mitteilungen 1997, S. 471, 479, sehen hierin eines der schwierigsten Probleme.

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M19-GL: Ja, plus/minus. Das heißt, ich kann 2 Monate regeln. [ ... ] Andere Betriebe, die für sich eine Orientierung gefunden haben, auch in der Belegschaftsvertretung, die haben inzwischen 200, 250 Stunden Volumen. Was uns fehlt - so wie sich die Wirtschaft bewegt - ist, dass man in der guten Zeit ganz bewusst Vorsor.ge für eine Krise treffen muss. Und das geben die Flächentarifverträge nicht her. Da sagen die: "Jetzt wird Geld verdient und jetzt wollen wir etwas davon abhaben. " Wer macht denn das, dass er Vorsorge trifft? Wenn mir heute jemand sagt: "Pass mal auf, es kann wieder schlechter werden ", dann sage ich: "Jaja, lass mal, das werden wir dann schon sehen."

Aus Sicht des Betriebsrates wurde der Verhandlungsverlauf folgendermaßen nachgezeichnet: M19-BRl: Die Geschäftsleitung ist angetreten mit + / - 200 und man kann es eigentlich gar nicht mehr so richtig nachvollziehen, warum wir uns jetzt bei 140 geeinigt haben. Die einen haben gesagt: "Gut, damit kann man leben." Die Geschäftsleitung und wir haben gesagt: "Wir können damit auch leben. " Das könnten genauso 150 sein oder 130, also die 140 sind jetzt nicht ir.gendwo zu begründen. [ ... ] Das ist ein Verhandlungsergebnis. [ ... ] Da gibt es ja eine Spanne zwischen 70 bis 300 Stunden in verschiedenen Betrieben.

Der Betriebsrat hat somit selbst die Sichtweise übernommen, dass ein solches Volumen als normale betriebliche Praxis anzusehen sei. Gleichzeitig hat er diese angenommene Normalität weiter verfestigt, so dass sich die Spirale weiter drehen kann. Berechtigterweise wirft der Personalleiter von MI7 die Frage auf, wo das Ende dieses Prozesses liegen soll: M17-GL: Wir wissen ja auch nicht, wo der Grenzbereich ist. Wir haben ihn ja nicht definiert. ich weiß jetzt schon ein Unternehmen, das sagt: ,,1.000 Stunden ist für mich der Grenzbereich. " Das wäre er für mich nicht, muss ich ganz klar sagen, bei 1.000 Stunden meine ich, da ist mit der Personalkapazität irgendetwas nicht in Ordnung, da muss ich anders reagieren. [ ... ]

Die Zielrichtung vieler Arbeitgeber geht dahin, Langzeit-Arbeitskonten zu schaffen. Neben die Tendenz zur Ausweitung der Obergrenzen tritt somit die Ausdehnung des Arbeitszeitausgleichs. Die Argumentation hierfür schildert erneut der Personalleiter von M19: M19-GL: [ ... ] Ich muss Zeitbereiche belegen können in der Hochauslastung, um sie dann in der Niederauslastung einzubringen, damit man ein gleiches Gehalt hat. Ein gleiches Monatseinkommen. Das ist ja der Hintergrund; denn das, was einmal die Arbeitslosenversicherung dargestellt hat, ist es ja nicht mehr. Wenn Sie heute Kurzarbeitergeid beantragen, dann ist das für den Betrieb sehr teuer und das ist teuer für den Mann und noch teurer ist es, wenn man zur Entlassung schreiten muss wegen Unterbeschäftigung. Das könnte man vermeiden, wenn man anders reagieren könnte mit Hilfe von Zeitkonten. Das ist nicht vor.gesehen. Sie sehen das selber an unseren Auftragsverläufen. Was nutzt mir ein 6-monatiger Ausgleich, selbst ein einjähriger Ausgleich ist eine Farce. Sehen Sie, selbst wenn ich jetzt 1 Jahre einen Boom habe, die [ .. . ]-Industrie hat sich irgendwann wieder eingedeckt mit Kapazität, da gehen die Aufträge zurück. Jetzt habe ich genau im falschen Zeitraum den Ausgleich zu schaffen. Soll ich alle Leute nach Hause schicken und die Arbeit liegen lassen? [ ... ]

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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Die einschlägige Betriebsvereinbarung im Unternehmen benennt keine Ausgleichszeiträume. Im Gespräch nennen die Betriebsparteien eine Zeitspanne von einem Jahr, was der Geltungsdauer der Betriebsvereinbarung entspricht: Diese Betriebsvereinbarung tritt arn 1. Januar 1998 in Kraft. Ihre Geltungsdauer ist bis zum 31. 12. 1998 befristet. Falls eine Verlängerung nicht vereinbart wird, gelten nach Ablauf der Befristung die am Tag vor Inkrafttreten bestehenden betrieblichen Regelungen insbesondere zur betrieblichen Festlegung von Arbeitszeitregelungen -, die mit dem Betriebsrat bereits vereinbart worden sind. Ein Vertreter des Betriebsrates räumt aber ein, dass dieser 12-monatige Ausgleichszeitraum mehr theoretischer Natur sei. Sofern die Betriebsvereinbarung verlängert wird, lassen die Betriebsparteien einen Übertrag des Kontostandes ins nächste Jahr zu. De facto bedeutet dies das Fehlen eines festen Ausgleichszeitrahmens: Frage: Wie groß ist der Ausgleichszeitraum? M19-BRl: Im Prinzip 12 Monate. Also, er muss es ja nicht ausgleichen. Rein theoretisch kann er diese 140 Stunden auch ins nächste Jahr mit hinübernehmen. Wir haben also nur vereinbart: Die Laufzeit sind 12 Monate. Wenn wir verlängern, kann er auch ... Also, er muss nicht am Jahresende auf Null sein.

Gerade für große Betriebe in der Metallindustrie gilt, dass dies kein Einzelfall ist. Das Fehlen eines ausdrücklichen Ausgleichszeitraums in den einschlägigen Betriebsvereinbarungen ließ sich neben den genannten Fällen auch bei den Betrieben M17, M18, M21, M22 und M23 feststellen. Im Unternehmen M16 war als Ergebnis eines tarifvertraglichen Schlichtungsstellenverfahrens 65 ebenfalls kein Ausgleichszeitraum festgelegt. Es zeigt sich somit, dass insbesondere große Unternehmen die Ausdehnung einer Variabilisierung der Arbeitszeit vorantreiben. Von Vertretern kleiner und mittlerer Unternehmen wird diese Entwicklung zum Teil mit Skepsis verfolgt: M14-BR: [ ... ] Und dann machen wir bei der flexiblen Arbeitszeit den Zeitausgleich über die 12 Monate. Aber darüber hinaus ist nichts verhandelbar. Wenn jetzt irgendwann die Arbeitgeberseite mit der Organisation was verhandelt und sagt: "Da werden 18 Monate draus. " Gut, dann werde ich mich mit Sicherheit auch nicht mehr sträuben können. 1ch werde zwar versuchen, das bei 12 Monaten zu halten, weil ich alles, was darüber hinausgeht, eigentlich nur für Kosmetik halte. Denn das, was ich in 12 Monaten nicht packe, packe ich in 18 Monaten auch nicht. [ ... ]

Damit ist die Ausweitung variabler Arbeitszeit-Modelle nicht nur ein Prozess, der sich selbst verstärkt. Er hat auch eine Breitenwirkung auf andere Betriebe, die diesem Druck nicht standhalten können. Zu bestätigen ist somit die von Lindecke und Lehndorff ebenfalls festgestellte Gesamttendenz: "Am tariflich vorgegebenen Ausgleichszeitraum wird gebaut, gefeilt und gebohrt.,,66 Das wirft die Frage auf, 65 66

Siehe dazu unten § 6 II.

Lindecke/Lehndorff, WSI-Mitteilungen 1997, S. 471, 474.

64

Teil 1: Empirische Untersuchung

in welcher Weise die Tarifvertragsparteien auf diese Entwicklung reagieren können.

e) Reaktionsmöglichkeiten der TariJvertragsparteien

Die Tarifvertragsparteien sind konfrontiert mit einer zunehmenden Praxis abweichender betrieblicher Vereinbarungen zur individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit, die den von ihnen gesetzten Rahmen überschreiten. Wollen sie ihre Steuerungsmöglichkeiten in diesem Bereich nicht preisgeben, müssen sie versuchen, die sich vervielfältigende betriebliche Praxis zu kanalisieren und auf einen gemeinsamen Rahmen zurückzuführen. Dies kann durch informelle oder formelle Reaktionsmechanismen geschehen. Beide Formen der Reaktion laufen darauf hinaus, ein Ausufern abweichender betrieblicher Regelungen zu begrenzen. Gleichzeitig besteht dabei die Tendenz, dem Angleichungsdruck nachzugeben. Damit werden die Tarifvertragsparteien ihrerseits zum Akteur jener Spirale, die sie ggf. selbst zu begrenzen suchen. Eine Form der Steuerungsmöglichkeit besteht in informellen Absprachen, die keinen verbindlichen Charakter haben. Der Grad ihrer Verbindlichkeit richtet sich danach, wie stark sie von den betrieblichen Akteuren als Maßstab ihres Handeins akzeptiert werden. Ein Beispiel für eine solch informelle Steuerung in einem Tarifgebiet erläutert der Erste Bevollmächtigte der IG-Metall-Verwaltungs stelle IGM-4: IGM-4: [ ... ] Also wo wir das beeinflussen können, sind in der Regel die Industriebetriebe. Da ist der größte Teil in dem Flächentarifvertrag. Und dort gibt es überall natürlich in der Frage z. B. der Lage der Arbeitszeit, der Arbeitszeitkonten, Arbeitszeitmodelle, Regelungen, die im Tarifvertrag explizit so nicht formuliert sind, die sich aber in der Regel alle in dem Rahmen bewegen, den die [ ... ] Tarifkommission als Orientierung beschlossen hat. Also es gab mal eine Diskussion, wo wir gesagt haben: "Lasst uns mal eine Grenze diskutieren, 250 Stunden Plus, 250 Stunden Minus Arbeitszeitkonten auf ein Jahr." Ich denke, in diesem Rahmen sind wir in den meisten Bereichen. [ ... ]

Letztlich ist dies die Vorstufe für den Abschluss eines solchen Tarifvertrags, was von dem Gesprächspartner auch deutlich gemacht wird: IGM-4: Es gibt ja mittlerweile auf Antrag der IG Metall ein Gespräch mit dem Arbeitgeberverband. Wir haben ja das Ziel, dass diese Arbeitszeitkonten in den Tarifverträgen geregelt werden. [ ... ]

Wie wenig Wahlmöglichkeiten den Tarifvertragsparteien aufgrund des von den abweichenden betrieblichen Regelungen ausgehenden Angleichungsdrucks tatsächlich zur Verfügung stehen, bringt der Betriebsratsvorsitzende von Ml3 auf den Punkt: M13-BR: [ ... ] Wenn die Tarifvertragsparteien nicht bald etwas bringen mit Arbeitszeitkorridoren oder Langzeit-Arbeitskonten, dann wird es weiterhin Verletzungen des Tarifvertrages geben. [ ... ]

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

65

In einzelnen Tarifverträgen der Metallindustrie haben über 12 Monate hinausreichende Arbeitszeitkontenmodelle bereits Eingang gefunden. So sieht der Haustarifvertrag für die Volkswagen AG beispielsweise generell den Ausgleich innerhalb eines Jahres vor. Dieser kann jedoch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, wenn der Freizeitausgleich zweckgebunden für eine längere Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses oder für den Übergang in den Ruhestand verwendet wird. 67 Für das Werk Nordenharn der DaimlerChrysler Airbus AG einigten sich der Arbeitgeber und die IG Metall Küste im Mai 1999 auf einen Ergänzungstarifvertrag68 über betriebliche Langzeit-Arbeitszeitkonten. Dieser sieht ein Volumen von bis zu 300 Stunden vor. 69 Inwiefern solche Langzeit-Arbeitszeitkonten tarifpolitisch wünschenswert sind, ist eine zumindest in Gewerkschaftskreisen umstrittene Frage. 70 Es erscheint allerdings wahrscheinlich, dass die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet weniger aufgrund der inhaltlichen Bewertung solcher Modelle erfolgen wird. Stattdessen gewinnt der Faktor der "nonnativen Kraft des Faktischen" zunehmend an Bedeutung. 6. Präjudizwirkung am Beispiel der Philipp Holzmann AG Ein weiteres Beispiel für die präjudizierende Wirkung abweichender betriebsbezogener Regelungen auf den Flächentarifvertrag stellt der Fall der Philipp Holzmann AG dar, was nachfolgend anhand von Pressemeldungen dargestellt und analysiert werden soll. a) Darstellung der Ereignisse

Am 15. November 1999 berichtete überraschend der Vorstand der Philipp Holzmann AG von einer Überschuldung des Baukonzerns. Für den Fall des Scheiterns von Sanierungsverhandlungen mit Gläubigem und Arbeitnehmern müsse ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden. 71 Wenige Tage später wurde der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Jürgen Mahneke in der Süddeutschen Zeitung zitiert, "das 'Berliner Modell' könne Holzmann vor dem Aus bewahren". Inhalt dieses Modells sei ein sechsprozentiger Lohnverzicht bei gleichzeitig steigender Wochenarbeitszeit auf 43 Stunden. 72 Da jedoch in den Verhandlungen eine Deckungslücke von ca. 250 Millionen DM nicht geschlossen werden konnte, stellte der Baukonzern Bispinck. WS I-Mitteilungen 1996, S. 414, 420. Zum Begriff des Ergänzungstarifvertrags siehe oben Fn. 27. 69 "Durchbruch in der Tarifpolitik". dpa-Meldung im Weser-Kurier vom 29.5. 1999. 70 Zur gewerkschaftlichen Diskussion um Arbeitszeitfragen vgl. beispielsweise Bispinck. WS I-Mitteilungen 1996, S. 412 ff. 71 "Philipp Holzmann steht vor dem Konkurs", Die Welt vom 16. 11. 1999. 72 "Holzmann bangt ums Überleben", Süddeutsche Zeitung vom 22.11. 1999. 67

68

5 Brecht

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Teil I: Empirische Untersuchung

am 23. 11. 1999 den Antrag auf Einleitung eines Insolvenzverfahrens. 73 Am folgenden Tag erzielte Bundeskanzler Schröder in einer persönlichen Intervention die Zustimmung zu einem gemeinsamen Sanierungspaket. 74 In einer Pressemitteilung begrüßte der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Walter, zwar das Verhandlungsergebnis, warnte aber davor, dass die Rettung der Holzmann-Arbeitsplätze nicht zu zusätzlichen Wettbewerbsverzerrungen führen dürfe. Mit Sorge verfolge der Hauptverband daher Überlegungen zum Abschluss eines speziellen Haustarifvertrages für Holzmann mit einer vom Tarifvertrag abweichenden Absenkung der Löhne und Gehälter um 6 % sowie vierstündiger Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 43 Stunden.75 Im Rahmen der Sanierungsverhandlungen verständigten sich daraufhin am 2. Dezember 1999 der Vorstand der Philipp Holzmann AG sowie die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden verschiedener Holzmann-Unternehmen über eine Rahmenvereinbarung, die einen entsprechenden Verzicht der Arbeitnehmer auf tarifliche Leistungen vorsah. 76 Bereits am folgenden Tag äußerte sich der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie erneut und stellte - zutreffend 77 - die Unwirksamkeit einer derartigen Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG fest. Für den Fall einer Duldung durch die IG BAU drohte der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands, dass die Gewerkschaft damit selbst den Flächentarifvertrag für Westdeutschland zur Disposition stelle: "In diesem Fall würde der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie alle Bauunternehmen auffordern, mit ihren Betriebsräten in Gespräche über Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerung einzutreten." Nur so könne die Chancengleichheit auf dem deutschen Baumarkt wiederhergestellt werden. 78 Weitere drei Tage später zog auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nach. Ihr Hauptgeschäftsführer erklärte unter Bezugnahme auf den Sanierungsfall Holzmann, dass die "notwendige Abweichung vom Tarifvertrag" auch den Wettbewerbern möglich sein müsse. Deshalb empfehle er den Tarifvertragsparteien der Bauindustrie "rückwirkend tarifvertragliehe Öffnungs73 "Schröder will heute mit den Banken über eine Rettung von Holzmann verhandeln", Franlifurter Allgemeine Zeitung vom 24.11. 1999. 74 "Gläubiger stimmen Holzmann-Sanierung zu", Franlifurter Allgemeine Zeitung vom 25. 11. 1999. 75 Presserneldung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie vom 25. 11. 1999. 76 "Holzmann-Betriebsrat kann einlenken", Börsenzeitung vom 4. 12. 1999; einen anschaulichen Eindruck über den Verlauf der Verhandlungen gibt der Bericht "Die sind ein bisschen beleidigt", Der Spiegel vom 6. 12. 1999. 77 Den Widerspruch zum geltenden Tarifrecht gestand u. a. auch der Betriebsratsvertreter Oskar Schröder ein und rechtfertigte ihn mit dem Vergleich, "als wenn man im Notfall auf dem Weg zur Intensivstation über eine rote Ampel flihrt"; zitiert nach "Großen greift die Politik unter die Arme - Kleine lässt sie hängen", Franlifurter Rundschau vom 26. 11. 1999. Eine Holzmann-Sprecherin räumte ebenfalls die rechtliche Problematik ein, indem sie die Rahmenvereinbarung als "eine Gratwanderung" bezeichnete, vgl. "Die Holzmann-Vereinbarungen stoßen auf heftige Kritik", Franlifurter Allgemeine vom 4. 12. 1999. 78 Presserneldung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie vom 3. 12. 1999.

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

67

klauseln, die allen Betriebsräten und Arbeitgebern mehr betrieblichen Rege1ungsraum für abweichende Betriebsvereinbarungen geben.,,79 Kritik kam ferner vom mittelständischen Zentral verband des Deutschen Baugewerbes. 80 Das Argument der Wettbewerbsverzerrung führte auch zu Forderungen nach gleichartigen Regelungen in einzelnen Betrieben. So berichtete das Handelsblatt Mitte Dezember 1999: Unterdessen wurde bekannt, dass die Betriebsräte der zur Walter-Gruppe gehörenden Baukonzerne Dyckerhoff & Widmann (Dywidag) und Ed. Züblin von ihren Unternehmensleitungen kurz nach der Holzmann-Rettung Ende November zum Abschluss eines entsprechenden Lohnverzichts aufgefordert wurden. Der Inhaber der Walter-Gruppe, Ignaz Walter, ist Präsident des Bauindustrieverbands. Als Arbeitgebervertreter hat der Verband die Bau-Tarifverträge verhandelt und unterzeichnet. Der Betriebsrat von Züblin kündigte an, den Lohnverzicht nicht zu unterstützen. Walter gab sich gegenüber dem Handelsblatt optimistisch, dass die Betriebsräte seiner Unternehmen einem Lohnverzicht zustimmen werden: "Anders können sie ihre Firmen gar nicht wettbewerbsfähig halten". Eine Klage gegen den Tarifbruch bei Holzmann dauere zu lange. Walter lobte die schnelle Reaktion der beiden Unternehmen, die schon vor der ersten Unterschrift bei Holzmann gleiches von den eigenen Betriebsräten gefordert hatten. 81

Nach Abschluss der Rahmenvereinbarung bei Holzmann wurde deren rechtliche Zulässigkeit in der Folgezeit von der Presse immer wieder in Frage gestellt. 82 Auch die IG BAU, die offensichtlich eine stillschweigende Duldung des Tarifbruchs in Erwägung gezogen hatte,83 musste sich zu dieser öffentlichen Resonanz verhalten. Am 17. Dezember erklärte sie die Vereinbarungen von Betriebsrat und Vorstand der Philipp Holzmann AG für unzulässig und drohte eine Unterlassungsklage gemäß §§ 23 Abs. 3, 77 Abs. 3 BetrVG bzw. §§ 1004, 823 BGB i. V. m. Pressegespräch von Dr. GöhneT; Hauptgeschäftsführer der BDA, 6. 12. 1999. "Arbeitnehmer finden Lösung für ihren Beitrag bei Holzmann", Frankfurter Allgemeine vom 11. 12. 1999. 81 "Holzmann-Lösung auf wackeligem Fundament", Handelsblatt vom 13. 12. 1999; Hervorhebungen im Original. 82 Vgl. etwa "IG-Bau in der Zwickmühle", Die Welt vom 13. 12. 1999; "Wiesehügels Eiertanz", Die Woche vom 10. 12. 1999; "Holzmann-Betriebsrat umgeht Bautarifvertrag", Handelsblatt vom 6. 12. 1999; "Rechtlich nicht haltbar", Hamburger Abendblatt vom 4. 12. 1999; "Die Holzmann-Vereinbarungen stoßen auf heftige Kritik", Frankfurter Allgemeine vom 4.12. 1999; "Alle schauen beim Tarifbruch zu", Süddeutsche Zeitung vom 3.12.1999; "Deutungssache", Börsen-Zeitung vom 3.12.1999; "Auf Sand gebaut", Die Zeit vom 2.12. 1999. 83 So äußerte die Gewerkschaft: "Durch den massiven Druck, den einzelne Bauunternehmen in den letzten Wochen mit Verweis auf Holzmann auf ihre Betriebsräte ausgeübt haben, ist die Möglichkeit einer stillschweigenden Duldung, wie sie in anderen Branchen durchaus üblich ist, völlig unmöglich geworden", vgl. Stellungnahme der IG BAU zum HolzmannKonflikt vom 17. 12. 1999. Der IG-Bau-Vorsitzende Wiesehügel hatte allerdings bereits im Vorfeld der Rahmenvereinbarung geäußert: "Mit uns gibt es weder einen Haustarifvertrag noch eine Betriebsvereinbarung, die gegen bestehende Tarifverträge verstößt", zitiert nach "IG Bau stellt sich gegen Ho1zmann-Betriebsrat", Handelsblatt vom 1. 12. 1999. 79

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Teil 1: Empirische Untersuchung

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Art. 9 Abs. 3 GG84 an. Gleichzeitig forderte die Gewerkschaft zu Verhandlungen mit dem Vorstand der Philipp Holzmann AG auf, wobei am Abschluss einer Sanierungsvereinbarung die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes beteiligt werden müssten. 85 In den daraufhin einsetzenden Gesprächen zwischen der IG BAU und der Philipp Holzmann AG rückten die Verhandlungsparteien vom sechsprozentigen Lohnverzicht ab. 86 In der Zwischenzeit einigten sich Betriebsrat und Management für die zwei größten Holzmann-Unternehmen auf einen Sozialplan für die von Entlassung betroffenen Arbeitnehmer. Mit einem Personalabbau von ca. 3.500 der insgesamt 17.000 Beschäftigten fiel dieser höher aus, als ursprünglich vorgesehen. 87 Am 21. Januar 2000 erklärten die IG BAU und die Philipp Holzmann AG den Abschluss eines Sanierungstarifvertrages. Dieser trete in Kraft, wenn die Verbände der Bauarbeitgeber ihre Zustimmung erteilten. Er sehe eine auf 18 Monate begrenzte wöchentliche Mehrarbeit von fünf Stunden vor, die in einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden. Sofern Philipp Holzmann wieder Gewinne schreibe, käme das Arbeitszeitguthaben ab Mitte 2002 den Arbeitnehmern - möglichst als Freizeitausgleich - wieder zugute. 88 Der Sanierungstarifvertrag erhielt jedoch nicht die in diesem Falle notwendige Zustimmung der Bauarbeitgeberverbände. 89 Das Zustimmungserfordernis erklärt sich aus einer Besonderheit des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe, der in § 19 die Tarifvertragsparteien verpflichtet, keine vom Rahmentarifvertrag abweichenden Tarifverträge mit anderen Organisationen oder einzelnen Arbeitgebern zu vereinbaren. Ansonsten kann die andere Tarifvertragspartei verlangen, dass die abweichende Bestimmungen ganz oder teilweise Inhalt des Rahmentarifvertrages werden. 9o Auf dieser Grundlage erneuerten die Bauarbeitgeberverbände etwa zwei Wochen vor Beginn der Lohnverhandlungen im Baugewerbe die Forderung, die Flexibilisierungsmöglichkeiten des Holzmann-Sanierungstarifvertrages in den Bundesrahmentarifvertrag zu übernehmen. 91 Der Zusammenhang zwischen Zur gewerkschaftlichen Unterlassungsklage siehe unten § 7 III. 3. sowie § 12. Stellungnahme der IG BAU zum Ho1zmann-Konflikt vom 17.12.1999. 86 "Lohnverzicht bei Holzmann vom Tisch", Frankfurter Allgemeine vom 24. 12. 1999. 87 "Holzmann will mehr als 3.000 Stellen abbauen", Handelsblatt vom 12. 1. 2000. Bis September 2001 fiel die Zahl der Belegschaft weiter bis auf 11.000, wobei eine weitere Reduzierung um 600 bis 700 Stellen absehbar war, vgl. "Mehr Stellen bröckeln ab", Frankfurter Rundschau vom 1. 9. 2001. 88 Siehe die wortgleichen Pressemitteilungen der IG BAU und der Philipp Holzmann AG vom 21. 1. 2000. 89 Vgl. die Pressemitteilungen 14 und 15/2000 des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes vom 26. 1. 2000 sowie - etwas zurückhaltender - die Presserneldung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie vom 28. 1. 2000. 90 Vgl. Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 3.2. 1981 i. d. F. v. 30. 6. 1999. 91 So explizit die Pressemitteilungen 17 und 18/2000 des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes vom 9. 2. 2000; ebenfalls auf die bevorstehende Lohnrunde nimmt die 84 85

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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der Auseinandersetzung um den Sanierungstarifvertrag für Holzmann und die Lohntarifverhandlungen in der Bauindustrie wurden auch in der Presse immer wieder benannt.92 Auch der Vorstandsvorsitzende von Holzmann, Konrad Hinrichs, äußerte die Überzeugung, mit dem Sanierungstarifvertrag in eine Art Stellvertreterkrieg geraten zu sein: Eigentlich gehe es darum, in der aktuellen Tarifrunde am Bau eine Öffnungsklausel durchzusetzen. 93 Trotz der fehlenden Zustimmung der Bauarbeitgeberverbände wurde der Sanierungstarifvertrag bei Holzmann ab dem 1. Februar 2000 angewendet. 94 Der Vorsitzende der JG BAU, Klaus Wiesehügel, erklärte nach Ablauf der verlängerten Zustimmungsfrist, dass die Lohnabrechnungen erst Mitte März kämen und die Gewerkschaft sich bis dahin nochmals um eine Lösung bemühen werde. 95 Unterdessen einigten sich die Tarifvertragsparteien der westdeutschen Bauwirtschaft Ende März 2000 auf einen Lohntarifvertrag mit 24-monatiger Laufzeit, der Lohnsteigerungen in zwei Etappen um 2,0 % und 1,6 % vorsah. Eine Öffnungsklausel für Firmen in wirtschaftlicher Krise wurde dabei nicht vereinbart. 96 Nur wenige Tage darauf kam es erneut zum Abschluss eines leicht geänderten Sanierungstarifvertrages für Holzmann, der durch ein "Aktienwertsteigerungsprogramm" ergänzt wurde. 97 Die Arbeitgeberseite verwies darauf, dass sie sich nicht vor Abschluss der gesamten Tarifrunde auch im Osten äußern werde. 98 b) Schlussfolgerungen

Der Verlauf macht deutlich, welche Dynamik von einer abweichenden betrieblichen Regelung ausgehen kann. Aufgrund der großen Bedeutung eines UnternehPresserneldung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie vom 9. 2. 2000 Bezug. Die FDP-Bundestagsfraktion nahm den Fall Holzmann sogar zum Anlass, eine gesetzliche Öffnungsklausel zu fordern, vgl. Pressemitteilung "BRÜDERLE: Holzmann ist Lehrstück für notwendige Reform des Tarifvertragsrechts" vom 31. I. 2000. 92 Vgl. u. a. "Tarifexperten: kein Ausweg für Holzmann", Financial TImes Deutschland vom 6. 3. 2000; "Holzmann für alle", Süddeutsche Zeitung vom 23. 2. 2000; "Die Baugewerkschaft ist auf starke Kontrahenten angewiesen", Die Welt vom 23. 2. 2000; "Holzmann-Krise belastet Bau-Tarifverhandlungen", Frankfurter Allgemeine vom 22. 2. 2000; "Fall Holzmann heizt Tarifrunde am Bau an", Frankfuner Rundschau vom 10. 2. 1999; "IG Bau will Tarifvertrag für Firmen in Not öffnen", Handelsblatt vom 9. 2. 2000; "Holzmann Set To Lengthen Its Workweek", The Wall Street Journal vom 24. 1. 2000. 93 Zitiert nach "Hinrichs droht mit Verbandsaustritt", Süddeutsche Zeitung vom 21. 2. 2000. 94 "Holzmann: Kompromiss gesucht", Süddeutsche Zeitung vom 1. 2. 2000. 95 "Tarifvertrag zur Sanierung von Holzmann endgültig gescheitert", Handelsblatt vom 1.3.2000. 96 "Bauarbeiter erhalten stufenweise mehr Lohn", Handelsblatt vom 31. 3. 2000. 97 "Holzmann-Beschäftigten winkt Erfolgsprämie", Frankfuner Rundschau vom 6.4.2000. 98 "IG Bau unterzeichnet Sanierungstarifvertrag", Frankfuner Rundschau vom 11. 4.2000.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

mens wie der Philipp Holzmann AG für die Baubranche reicht in diesem Beispiel bereits eine einzige Abweichung aus, um die gleiche Wirkung zu entfalten, die ansonsten erst von einer größeren Anzahl von Abweichungen ausgeht. Es zeigt sich ferner, wie eine vom Tarifvertrag abweichende Praxis auf betrieblicher Ebene als Druckmittel in Tarifverhandlungen eingesetzt werden kann, um mit dem Argument der Wettbewerbsverzerrung eine gleichartige tarifliche Regelung zu fordern. Dabei erfolgt eine Loslösung der Abweichung aus ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang: Die Forderung nach einer generellen Öffnung des Bautarifvertrages beschränkt sich nicht auf Unternehmen in einer wirtschaftlichen Krisensituation, sondern bezieht sich auf alle Unternehmen der Branche unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation. Das Gleiche lässt sich in Bezug auf einzelne Konkurrenzunternehmen feststellen. Wie das geschilderte Beispiel bei Dywidag und Ed. Züblin zeigt, kann die Abweichung vom Tarifvertrag ebenfalls als Grundlage zur Forderung nach gleichartigen Regelungen auf betrieblicher Ebene eingesetzt werden. Die Tatsache, dass dies ausgerechnet in Unternehmen des Arbeitgeberverbandsvertreters Walter geschah, weist auf die Verknüpfung beider Ebenen hin: Je mehr Betriebe vom Tarifvertrag abweichen, desto leichter lässt sich in Tarifverhandlungen eine entsprechende Regelung fordern. Bemerkenswert ist am Fall Holzmann schließlich, dass nicht nur Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, sondern auch Haustarifverträge eine präjudizierende Wirkung auf den Flächentarifvertrag ausüben können. Eine Gewerkschaft, die mit einem Arbeitgeber einen Haustarifvertrag unterhalb des Niveaus ihres Flächentarifvertrages abschließt, muss sich somit ebenfalls der hieraus resultierenden Folgewirkungen bewusst sein. Der Unterschied zu Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat besteht jedoch darin, dass derartige Regelungen der Betriebsparteien die Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien beeinträchtigen und damit einen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie darstellen. Im Falle eines Haustarifvertrages ist es hingegen eine Tarifvertragspartei, die sich dadurch in ihrer Handlungsfreiheit selbst einschränkt. Die Zulässigkeit eines solchen Tarifvertrages hängt dann davon ab, inwiefern die Gewerkschaft aufgrund schuldrechtlicher Verpflichtungen gegenüber dem zuständigen Arbeitgeberverband zum Abschluss eines entsprechenden Haustarifvertrages berechtigt ist.

III. Ergebnis Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es eine Wechselwirkung tariflicher und betrieblicher Normsetzung gibt. Für die Beeinflussung tariflicher Normen durch betriebliche Regelungen sind zwei verschiedene Varianten möglich: Einerseits kann eine betriebliche Praxis von den Tarifvertragsparteien als sinnvoll erkannt und aufgrund ihrer qualitativen Vorzüge in den Tarifvertrag übernommen werden. Hierfür können die Tarifvertragsparteien eine neue Regelung vor der

§ 2 Präjudizwirkung betrieblicher Regelungen auf tarifliche Normen

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Übernahme in den Tarifvertrag auf betrieblicher Ebene hinsichtlich ihrer Praktikabilität überprüfen. Die Betriebe dienen dabei nicht nur als Ideengeber, sondern auch als überschaubares Erprobungsfeld. Auf diese Weise können frühzeitig nicht funktionale Regelungen erkannt sowie problematische Detailfragen korrigiert werden. Um einen optimalen Lernprozess zu ermöglichen, erscheint eine enge Einbeziehung der Tarifvertragsparteien in die betriebliche Erprobung wichtig. Als rechtliches Regelungsmittel bietet sich das Instrument des Ergänzungstarifvertrags an. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass durch die Häufigkeit abweichender betrieblicher Regelungen ein Angleichungsdruck auf tarifliche Normsetzung erfolgen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die betriebliche Praxis auf eine Betriebsvereinbarung stützt oder aufgrund einer Regelungsabrede der Betriebsparteien erfolgt. Entscheidend ist vielmehr die Kenntnisnahme anderer Betriebe und schließlich der Tarifvertragsparteien von der betrieblichen Praxis. Aufgrund nicht steuerbarer Kommunikationsprozesse kann auch eine versuchte Geheimhaltung betrieblicher Regelungen eine Präjudizwirkung nicht zuverlässig verhindern. Dies gilt insbesondere bei Regelungen von großer Bedeutung, bei einer längerfristigen Praxis sowie bei großen Betrieben. Gerade große Unternehmen spielen aufgrund stärkerer öffentlicher Beachtung, ihrer starken Präsenz in Gremien der Tarifvertragsparteien sowie ihrer größeren Kapazitäten zur Entwicklung eigener Regelungsmodelle bei der Transformation betrieblicher Praxis in Tarifrecht eine prägende Rolle. In Verhandlungen auf betrieblicher wie auf tariflicher Ebene können Abweichungen vom Tarifvertrag als Verhandlungsmittel genutzt werden, um eine gleichartige Regelung zu fordern. Diese Forderung hat umso mehr Chancen sich durchzusetzen, je häufiger entsprechende Abweichungen praktiziert werden. Zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Flächentarifvertrags geraten die Tarifvertragsparteien in einem solchen Fall unter erheblichen Handlungszwang, die abweichende betriebliche Praxis durch Schaffung entsprechender tariflicher Normen wieder zu legalisieren. Ihr aus der Tarifautonomie folgendes tarifpolitisches Gestaltungsvorrecht tritt demgegenüber in den Hintergrund. Zudem kann die Ausweitung betrieblicher Handlungsspielräume zur Legalisierung abweichender betrieblicher Praxis Ausgangspunkt für neue, noch weitergehende Abweichungen sein. Eine nicht mehr steuerbare Eigendynamik ist insbesondere dann möglich, wenn die Tarifvertragsparteien bewusst auf eine Regelung verzichten bzw. eine unbeschränkte Öffnung für betriebliche Gestaltung in einem Regelungsbereich vorsehen. Vereinheitlichung durch eine nachfolgende tarifliche Vorschrift ist hier aufgrund starker Diversifizierung kaum noch möglich. Aus den empirischen Beobachtungen lässt sich somit nachweisen, dass von abweichenden betrieblichen Regelungen eine präjudizierende Wirkung auf Tarifverträge ausgehen kann.

Teil I: Empirische Untersuchung

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§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips "Damit waren wir noch nicht konfrontiert." (MIO-BR)

Das Günstigkeitsprinzip ist eine arbeitsrechtliche Kollisionsregel. Es kommt zur Anwendung, wenn Regelungen unterschiedlicher Hierarchieebenen zueinander in Widerspruch geraten. 99 Gesetzlich kodifiziert ist das Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3, 2. Alt. TVG. Demnach sind vom Tarifvertrag abweichende Abmachungen zulässig, soweit sie eine Änderung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Das Bundesarbeitsgericht hat allerdings in einer Entscheidung des Großen Senats das Günstigkeitsprinzip als Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes bezeichnet, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle und auch außerhalb des TVG Geltung beanspruche. lOo Etwas anderes gilt jedoch für das Verhältnis von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen: Das Betriebsverfassungsgesetz erwähnt das Günstigkeitsprinzip nicht. Mit § 77 Abs. 3 BetrVG besteht aber eine Sonderregel, wonach durch Tarifvertrag geregelte Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Die herrschende Meinung wendet diese Vorschrift daher auch auf Betriebsvereinbarungen an, die im Vergleich zum Tarifvertrag für den Arbeitnehmer günstigere Regelungen enthalten. Insofern gilt also das Günstigkeitsprinzip nicht. 101 Im Folgenden soll zunächst die generelle Bedeutung des Günstigkeitsprinzips in der betrieblichen Praxis untersucht werden. Anschließend wird die Frage beleuchtet, ob auch von günstigeren betrieblichen Regelungen eine präjudizierende Wirkung auf Tarifverträge ausgeht.

I. Betriebspraktische Bedeutung des Günstigkeitsprinzips In der arbeitsrechtlichen Literatur der letzten Jahre spielt die Diskussion um Geltung und Auslegung des Günstigkeitsprinzip im Verhältnis von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung eine erhebliche Rolle. 102 Nach der Rechtsprechung des Höland, Lexikon des Rechts, Stand 1998, "Günstigkeitsprinzip" unter A. BAG (Großer Senat) 16.9.1986, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972 unter C. 11. 3. a). 101 Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BAG 24. 1. 1996, AP Nr. 8 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt (Leitsatz 1); BAG 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972 unter B. 11. 2.; so auch die herrschende Meinung, D/K/K-Berg, 2002, § 77 Rn. 11; F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 97; Herrmann, ZfA 1989, S. 577, 588 f.; Kempen/Zachert, TVG, 1997, § 4 Rn. 175; Löwisch/Rieble, TVG, 1992, § 4 Rn. 162; Rieble, RdA 1996, S. 151, 153; Wiedemannl Wank, TVG, 1999, § 4 Rn. 556 ff. m. w. N.; a. A. Blomeyer, NZA 1996, S. 337, 344 ff., EhmannlTh. B. Schmidt, NZA 1995, S. 193, 197, G. Müller, ArbuR 1992, S. 257, 261; Th. B. Schmidt, 1994, S. 56 ff. Ausführlich zu der Streitfrage siehe unten § 91. und § 911. 102 Die Debatte begann mit einern Aufsatz von Adomeit, NJW 1984, S. 26 ff.; vgl. ferner: Bengelsdoif, ZfA 1990, S. 563 ff.; Bergner, 1995; Blomeyer, NZA 1996, S. 337 ff.; Buchner, 99

100

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

73

BAG müssen die zu vergleichenden Regelungen miteinander in einem sachlichen Zusammenhang stehen ("Sachgruppenvergleich,,).103 Maßstab des Vergleichs ist das Individualinteresse des konkret betroffenen Arbeitnehmers, in der Vergleichsperspektive wird dabei allerdings auf eine objektiv-hypothetische Betrachtungsweise abgestellt. I04 Dieser Konzeption werden in der jüngeren rechtswissenschaftlichen Literatur neue Auffassungen zum Günstigkeitsmaßstab entgegengesetzt. 105 Nachfolgend soll zunächst untersucht werden, welche Bedeutung dem Günstigkeitsprinzip nach der Auslegung des Bundesarbeitsgerichts in der betrieblichen Praxis zukommt. In einem zweiten Schritt ist zu fragen, ob in den untersuchten Betrieben ein verändertes Verständnis von Günstigkeit zu verzeichnen ist und wie sich eine solche Auslegung praktisch auswirken würde.

1. Geltendes Verständnis von Günstigkeit

Die Bedeutung des Günstigkeitsprinzips in der betrieblichen Wirklichkeit wird offenkundig unter dem Eindruck von arbeitsgerichtlichen Entscheidungen und der umfangreichen rechtswissenschaftlichen Diskussion überschätzt. 106 Einen Hinweis hierauf liefern die im Rahmen eines Kurzfragebogens lO7 erhobenen Daten zur Anwendung des Günstigkeitsprinzips in 140 Unternehmen der Chemischen Industrie. Ungeachtet der aufgrund relativ geringer Anzahl befragter Unternehmen begrenzten Aussagekraft lässt sich dennoch die Tendenz einer geringen Nutzung des Günstigkeitsprinzips ablesen. Wie aus Tabelle 3 deutlich wird, spielt in ca. vier von fünf Betrieben das Günstigkeitsprinzip keine Rolle. Die Bedeutung des Günstigkeitsprinzips nimmt tendenziell bei größeren Betrieben zu. Stellt man allein auf die Tarifbindung ab, so wird dennoch nur in etwa jedem achten tarifgebundenen Betrieb eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips bejaht (siehe Tabelle 4).

DB 1990, S. 1715 ff.; Freihube, 2001; le Friant, NZA 2000, S. 81 ff.; Frik, NZA 1998, S. 525 f. Gitter; in: FS. Wlotzke, 1996, S. 297 ff.; Heinze, NZA 1991, S. 329 ff.; Herrmann, ZfA 1989, S. 577 ff.; Höland, Lexikon des Rechts, Stand 1998, "Günstigkeitsprinzip"; HölandlReimlBrecht, 2000; Junker; ZfA 1996, S. 383 ff.; Käppler; NZA 1991, S. 746 ff.; Körner; RdA 2000, S. 140 ff.; Krauss, 1995; Krummei, 1991; Lesch, DB 2000, S. 322, 324 f.; Löwisch, in: FS. Rittner, 1991, S. 381 ff.; Löwisch, BB 1991, S. 59 ff.; Mäckler; in: FS. Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, 1999, S. 381 ff.; Richardi, DB 2000, S. 42, 47; Th. B. Schmidt, 1994; Schweibert, 1994; Tyska, 1994; Yurtsev, 1996. 103 BAG 20. 4. 1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG unter B. III. 1. b) aa); BAG 23. 5. 1984, BAGE 46, S. 50, 58; siehe auch unten § 9 III. 1. 104 Vgl. Höland, Lexikon des Rechts, Stand 1998, "Günstigkeitsprinzip" unter C. 105 Siehe dazu unten Fn. 113 bis 116. 106 Siehe auch Hölandl Reiml Brecht, 2000, S. 107 ff. 107 Näheres oben unter § 1 II. Der Fragebogen ist abgedruckt in Hölandl Reim I Brecht, 2000, S. 382 f.

74

Teil I: Empirische Untersuchung Tabelle 3

Betriebsgröße und Anwendung des Günstigkeitsprinzips Günstigkeitsprinzip

Anzahl der im Betrieb Beschäftigten 1-5 6-10 11-20

Gesamt

21100

101500

5012.000

über 2.000

n

%

Spielt keine Rolle

6

15

22

33

29

3

2

110

78,6%

Findet Anwendung

0

0

1

3

3

2

1

10

7,1 %

Keine Angaben

0

1

6

8

3

2

0

20

14,3 %

Summe

6

16

29

44

35

7

3

140 100,0 %

Quelle: Eigene Befragung von Betrieben der Chemischen Industrie mit Hilfe von Kurzfragebögen im November 1998

Tabelle 4

Taritbindung und Anwendung des GÜDStigkeitsprinzips Günstigkeitsprinzip

Taritbindung

Gesamt

Keine

Taritbindung

Keine Angabe

n

%

Spielt keine Rolle

59

48

3

110

78,6%

Findet Anwendung

2*

8

0

10

7,1 %

Keine Angaben

13

7

0

20

14,3 %

Summe

74

63

3

140

100,0%

* Diese Nennungen sind offensichtlich fehlerhaft, da eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips nur bei Geltung eines Tarifvertrages Sinn macht.

Quelle: Eigene Befragung von Betrieben der Chemischen Industrie mit Hilfe von Kurzfragebögen im November 1998

Die Ergebnisse der schriftlichen Befragung spiegeln sich auch in den Äußerungen der Experteninterviews wider. Insbesondere in Kleinbetrieben äußerten die Befragten, dass eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips in ihren Unternehmen keine Rolle spiele. Als typisch lässt sich insofern die Aussage des Geschäftsführers im Betrieb MI ansehen: Frage: Jetzt kommen wir zum Günstigkeitsprinzip: Tarifverträge setzen ja Mindeststandards. Die Unternehmen können jederzeit nach oben davon abweichen, z. B. eine höhere Vergütung zahlen oder mehr Urlaub gewähren. Praktizieren Sie so etwas? MI-GL: Nein, im Moment nicht. Das gibt unsere wirtschaftliche Lage nicht her.

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

75

Neben der Nennung übertariflicher Leistungen für leitende Angestellte gab es jedoch auch in einer Reihe von Betrieben Hinweise auf betriebliche Regelungen, die günstiger als der Tarifvertrag sind. Die klassischen Regelungsbereiche, in denen dies vor allem vorkommt, nennt der Personalleiter im Traditionsunternehmen M9: M9-GL: Gut, dass draufgesattelt wird, passiert relativ häufig. Ich sage das beim Weihnachtsgeld und bei der Urlaubsgeldzahlung, also beim Termin usw. Es gibt viele Dinge, bei der Schichtzulage und ähnlichen Dingen wird oben draufgesattelt. [ ... ]

Bemerkenswert erscheint, dass es sich regelmäßig nicht um individualvertragliche Regelungen handelt, sondern zumeist die Regelungsform der Betriebsvereinbarung gewählt wird. Ein solches Beispiel schildert der Personalleiter im Betrieb Mll: Mll-GL: [ ... ] So, und diese Weihnachtsgratifikation ist, was das Günstigkeitsprinzip betrifft, so mehr eine historische Geschichte, weil es die schon sicherlich seit 20 Jahren gibt, und die stellt die Mitarbeiter eben besser als der Tarifvertrag. Ganz einfache Regelung: 1 - 5 Jahre 50 %, so war damals auch der Tarif, als Weihnachtsgeld, Weihnachtsgratifikation; ab 5 Jahre bis 10 Jahre 75 % eines durchschnittlichen Monatslohns oder Monatsgehalts, und ab 10 Jahren eben ein 13. Monatsgehalt. Und der Tarif hat ja die Staffelung in Abhängigkeit von der Beschäftigung, ich glaube 25, 35 bis maximal 60 %. Das wäre, sage ich mal, eine eindeutige Regelung, die ganz anders ist als der Tarifvertrag, weil er wirklich nur als Aufhänger die Betriebszugehörigkeit hat und nicht irgendwelche anderen Daten und in aller Regel dann eben für den Mitarbeiter günstiger ist. Aber eine deutliche Abweichung von dem, was der Tarif eigentlich will. Frage: Ist das als Betriebsvereinbarung abgeschlossen?

Mll-GL:Ja. [ ... ]

Mll-GL: Es gibt eine Klausel darin, die das schon wieder dann rechtlich sicher macht, weil wir jedes Jahr Vergleichsrechnungen machen. Sollten in irgendeinem Falle - aus welchem Grund auch immer - die tariflichen Regelungen günstiger sein [ ... ] kann es dazu kommen, dass der [betreffende Arbeitnehmer - d. Yerf.] auch mal tarifliches Weihnachtsgeid bekommt. [ ... ]

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind jedoch auch solche abweichende Betriebsvereinbarungen, die eindeutig günstigere Regelungen als der Tarifvertrag enthalten, wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unzulässig. 108 Die Rechtsfolge einer Unwirksamkeit solcher Regelungen wird jedoch häufig durch Umdeutung der Betriebsvereinbarung in eine vertragliche Einheitsregelung vermieden, sofern die Voraussetzungen des § 140 BGB vorliegen. 109 Eine weitere Möglichkeit besteht in der rückwirkenden Genehmigung der Tarifvertragsparteien in Form einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel. 110 Im genannten Beispiel bedarf 108 109

110

Siehe oben Fn. 10 1. Näheres hierzu unten § 9 IV. 1. Ygl. unten § 9 IV. 2. b).

76

Teil I: Empirische Untersuchung

es eines solchen Vorgehens allerdings nicht, da der maßgebliche Flächentarifvertrag eine Öffnungsklausel für bereits bestehende günstigere betriebliche Regelungen enthält. 111

2. Veränderter Günstigkeitsmaßstab Der geltenden Konzeption des Günstigkeitsvergleichs in Form einer objektivhypothetischen Betrachtungsweise werden in der jüngeren Literatur unterschiedliche, sich zum Teil jedoch überschneidende Auffassungen entgegengesetzt. Das betrifft zunächst die Frage des Wahlrechts. Der Große Senat des BAG hatte es hinsichtlich einer Altersgrenzenregelung als für den Arbeitnehmer günstiger erachtet, zwischen weiterer Fortsetzung seiner Arbeit und Ruhestand wählen zu können. 112 Von einigen Autoren wird diese Entscheidung über den Bereich einer Begrenzung der Lebensarbeitszeit hinaus auf alle Regelungsbereiche verallgemeinert. Als Konsequenz soll es nach ihrer Ansicht für den Arbeitnehmer günstiger sein, wählen zu können, ob er über die tariflich festgesetzte Wochenarbeitszeit hinaus ll30der auch am Samstag l14 arbeiten möchte. Noch einen Schritt weiter gehen die Bemühungen, als Vergleichsperspektive eine subjektiv-reale Betrachtungsweise heranzuziehen. Demnach soll es allein auf die konkrete Beurteilung des einzelnen Arbeitnehmers ankommen, welche von zwei konkurrierenden Regelungen als günstiger zu bewerten ist. 115 Die dritte Steigerungsform stellt schließlich eine Günstigkeitsbewertung des Tauschs von Konditionenverschlechterung gegen Beschäftigungssicherung dar. Beispielsweise soll es nach dieser Auffassung für einen Arbeitnehmer im Falle einer wirtschaftlichen Krise des Unternehmens günstiger sein, weniger Lohn zu erhalten, wenn dieser Abweichung vom Tarifvertrag eine Zusage der Beschäftigungssicherung gegenübersteht. 116 Das Argument hierzu lautet: Weniger zu verdienen sei immer noch besser, als gar keinen Arbeitsplatz zu haben. Die intensive rechtswissenschaftliehe Diskussion spiegelt sich auch in der starken Beachtung einiger arbeitsrechtlicher Entscheidungen wider. Große Aufmerk111 Der gemeinsame Manteltarifvertrag für die Beschäftigten in der niedersächsischen Metallindustrie (vom 17. 10. 1994 i. d. F. v. 5.12. 1996) regelt in § 28 Abs. 2: "Bisher bestehende günstigere betriebliche [ ... ) Arbeits- und Entge1tbedingungen werden durch den Abschluß dieses Tarifvertrages nicht berührt." 112 BAG (Großer Senat) 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972 unter C. II. 3. b). 113 So Bengelsdoif, ZfA 1990, S. 563, 598. 114 Vgl. hierzu Buchner, OB 1990, S. 1715, 1720. 115 Blomeyer, NZA 1996, S. 337, 344; Gitter in FS. Wlotzke, 1996, S. 297, 299 f. 116 So auch die Forderung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nach einer entsprechenden gesetzlichen Erweiterung des Günstigkeitsprinzips im BOA Geschäftsbericht 1999, S. 43.

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

77

samkeit fand insbesondere der sogenannte Fall "Viessmann": 117 Zur Vermeidung einer Produktionsverlagerung nach Tschechien schlossen die Betriebsparteien gegen den Widerstand einer Minderheitsfraktion im Betriebsrat eine Vereinbarung, die eine einzelvertraglich zu vereinbarende unbezahlte Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit um drei Stunden vorsah. Als Gegenleistung für diese auf drei Jahre angesetzte Arbeitszeitverlängerung erklärte der Arbeitgeber seinen Verzicht auf betriebsbedingte KündigungenYs Im Rechtsstreit mit der IG Metall beriefen sich der Arbeitgeber sowie die Mehrheitsfraktion des Betriebsrates darauf, dass die Regelung für die betroffenen Arbeitnehmer als günstiger zu bewerten sei. 119 Nachfolgend wird zunächst der Frage nachgegangen, inwiefern ein verändertes Verständnis des Günstigkeitsprinzips in der betrieblichen Praxis zur Rechtfertigung abweichender Regelungen verwendet wird. Anschließend soll anhand eines konkreten Beispiels dargelegt werden, welche Folgen sich aus einer Subjektivierung des Günstigkeitsvergleichs für das Tarifvertragssystem ergeben könnten. a) Nutzung des Günstigkeitsprinzips zur Rechtfertigung abweichender Regelungen

Aufgrund der lebhaften rechtswissenschaftlichen Debatte sowie der geschilderten arbeits gerichtlichen Streitfälle bestand zu Beginn des Forschungsvorhabens die Vermutung, dass ein erheblicher Teil des Flexibilisierungsbedürfnisses tarifgebundener Betriebe unter Bezugnahme auf ein verändertes Verständnis von Günstigkeit befriedigt werden könnte. Diese Annahme lässt sich nach den geführten Interviews jedoch nicht bestätigen. Ein expliziter Hinweis auf das Günstigkeitsprinzip zur Rechtfertigung einer vom Tarifvertrag abweichenden Regelung, die nicht offensichtlich objektiv günstiger für den Arbeitnehmer ist, stellte einen Ausnahmefall dar. Das Argument tauchte lediglich im Zusammenhang mit einer über die tarifliche Vorgaben hinausgehende Wochenarbeitszeit von 40 Stunden auf, insbesondere durch den Inhaber des Unternehmens M16. Dieser Arbeitgeber lehnte allerdings ein Interview ab, so dass insofern lediglich die Aussagen des Betriebsrates herangezogen werden können: M16-BR: [ ... ] Ein ganz großer Bereich ist diese 40-Stunden-Arbeitszeit, bezogen auf das Günstigkeitsprinzip: Es ist günstiger, 40 Stunden zu arbeiten und mehr Geld zu bekommen. Da haben wir als Betriebsrat versucht, etwas zu regeln, haben die IG-Metall-Verwaltungsstelle, Bezirksleitung und den Vorstand eingeschaltet; es ist uns nicht gelungen, da eine Regelung zu treffen, denn diese Einzelverträge, die sind nicht unter unserer Kontrolle . ..

117 Vgl. hierzu ArbG Marburg 7. 8. 1996, NZA 1996, S. 1331-1337 und ArbG Marburg 7. 8. 1996, NZA 1996, S. 1337 - 1340 sowie ArbG Frankfurt a. M. 28. 10. 1996, NZA 1996, S. 1340-1342. 118 ArbG Marburg 7.8. 1996, NZA 1996, S. 1331, 1332. 119 ArbG Marburg 7.8. 1996, NZA 1996, S. 1331, 1336.

78

Teil I: Empirische Untersuchung Frage: Das heißt also, bei nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern. .. ? M16-BR: Nein, das ist auch bei den Mitgliedern . .. Alle, die eingestellt werden im gewerblichen Bereich, werden mit einer Arbeitszeit von 40 Stunden eingestellt. ..

Aus Sicht des Betriebsratsvorsitzenden war die individuelle Bewertung durch die betroffenen Arbeitnehmer durchaus unterschiedlich: Frage: Sie haben gesagt, dass bei den NeueinsteIlungen die Leute zum Teil auch gerne länger arbeiten wollen, weil sie dann mehr verdienen. Heißt das, dass es auf der anderen Seite auch Leute gibt, die das eher nicht wollen, die sich aber aufgrund der Situation darauf einlassen? M16-BR: Ja, die müssen einfach, weil sie sonst die Arbeitsstelle nicht kriegen, das ist das Problem. Es ist so, dass die, die neu eingestellt werden, bei denen werden 40-Stunden-Verträge gemacht. Bei den anderen, die schon länger in der Firma sind, da ist das unterschiedlich gehandhabt worden. Also, das hat es mal zu Beginn, also in "erlauchten Kreisen" (in Anführungszeichen) gegeben, das waren die Leitenden und AT-Angestellten, die also vierzig Stunden weitergearbeitet haben, während wir Arbeitszeitverkürzung gemacht haben. Und da hat es eine Bewegung gegeben, dass viele zu diesem erlauchten Kreis gehören wollten und die haben dann auch vierzig Stunden weitergearbeitet. Haben gesagt, sie möchten also auch vierzig Stunden arbeiten. Das setzt sich jetzt einfach durch die ganze Firma durch, dass die, die vierzig Stunden arbeiten, das sind die Wichtigen. Frage: Hat der Arbeitgeber versucht bei Arbeitnehmern, die länger schon im Betrieb sind, mit Änderungskündigungen einzelvertraglich 40 Stunden zu vereinbaren? M16-BR: Nein, das mit Änderungskündigungen hat er nicht gemacht. .. Frage: Das hat er nicht versucht? M16-BR: ... nur in Gesprächen, wobei in Einzelbereichen, da weiß ich zum Beispiel jetzt einen Fall, wo der Vorgesetzte gesagt hat: " Wenn Du keine vierzig Stunden arbeitest, dann ist Deine Karriere beendet in der Firma . .. ".

Die Aussagen weisen auf ein erhebliches Maß an Druck hin, mit dem den betreffenden Arbeitnehmern nahegelegt wurde, was sie als günstiger zu betrachten haben. Das Ungleichgewicht in der Verhandlungssituation wird insbesondere bei Betrachtung der Gegenleistung für den Verzicht auf tarifliche Rechte deutlich: M16-BR: Das was ich gesagt habe, der Urlaub: 24 Tage oder der gesetzliche Mindesturlaub wird einzelvertraglich vereinbart. .. Frage: Was ist dann das Pendant? Der Arbeitnehmer gibt halt 6 Tage Urlaub her - und was bekommt er dafür? M16-BR: Einen Arbeitsvertrag. [ ... ]

Realistisch erscheint die Einschätzung des zuständigen Gewerkschaftssekretär, in welcher Lage sich die Betroffenen befinden: IGM-ll: [ ... ] Und bei der NeueinsteIlung ist der Arbeitnehmer in der schwächsten Position. Der kommt von der Universität - als Ingenieur beispielsweise - oder auch aus der Arbeitslosigkeit und dann legt ihm der Arbeitgeber einen 40-Stunden-Vertrag hin. Soll der

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

79

sofort dann diesen Kampf beginnen - Arbeitsvertragsrecht. Da gefährdest Du das Arbeitsverhältnis, also da machen wir uns nichts vor. Der unterschreibt alles. [ ... ]

Das Beispiel macht anschaulich, welche Folgen ein verändertes Verständnis von Günstigkeit für den einzelnen Arbeitnehmer haben kann. Ein Grundgedanke des Arbeitsrechts besteht im Schutz des Arbeitnehmers, der sich in einem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis befindet. 120 Auch Tarifverträge dienen dieser Schutzfunktion. 121 Aufgrund der schwachen Verhandlungsposition des einzelnen Arbeitnehmers ist daher auch ein Verzicht auf tarifliche Rechte gemäß § 4 Abs. 4 S. I TVG grundsätzlich ausgeschlossen. 122 Ein verändertes Verständnis von Günstigkeit könnte diese Schutzwirkung vereiteln. Ein weiterer interessanter Aspekt des Falles besteht darin, dass es sich bei dem Firmeninhaber des Betriebs MI6 um einen hochrangigen Vertreter des regionalen Arbeitgeberverbands handelt. Das könnte einen Hinweis auf die Frage geben, wie sich die offensichtliche Diskrepanz zwischen rechtswissenschaftlicher Diskussion und betrieblicher Praxis erklären lässt. Die Vertreter einer veränderten Interpretation des Günstigkeitsprinzips greifen ein Bedürfnis nach Flexibilisierung auf, das in den Betrieben wiederholt formuliert wird. Allerdings finden sich die von juristischer Seite vorgeschlagenen rechtlichen Kategorien in der betrieblichen Wirklichkeit zumeist nicht wieder. Es ergibt sich somit der Eindruck, dass der Praxis theoretische Konzeptionen angeboten werden, die Theorie sich jedoch nicht mit den in den Betrieben bislang gebräuchlichen Kategorien deckt. Als Verbandsvertreter ist davon auszugehen, dass der Firmeninhaber von MI6 mit der rechtswissenschaftlichen Diskussion konfrontiert wurde und diesen Ansatz in den eigenen Betrieb hineintrug. Insofern folgt die betriebliche Praxis einer theoretisch entwickelten Konzeption. Es ist aber nicht erkennbar, dass die Theorie die betriebliche Realität widerspiegelt. Ausdrücklich bestätigt wird dies beispielsweise vom Leiter der Personalabteilung im Betrieb M17: Frage: Spielt das Günstigkeitsprinzip in der praktischen Anwendung eine Rolle? M17-GL: Für die AT-Mitarbeiter unter Umständen natürlich. Im Tarifvertrag wird sich das wohl weniger auswirken. Vielleicht gibt es ein paar Regelungen, die unternehmensintern noch günstiger sind. Da muss man ja immer diese Gesamtheitsbetrachtung anstellen. Da ist ja auch bei den 40 Stunden immer wieder zur Diskussionen gekommen, ob das nicht nach dem Günstigkeitsprinzip ohnehin außerhalb des Tarifvertrag in jedem Fall möglich ist. Aber es hat für uns keine große, überwältigende Bedeutung.

Frage: Sie argumentieren nicht rechtlich mit dem Günstigkeitsprinzip? M17-GL: Nein. Vielleicht inzident an der einen oder anderen Stelle, aber direkt deklaratorisch in dem Sinne nicht. Schaub, 2002, § 2 Rn. 5. Wiedemannl H. Wiedemann, TVG, 1999, Einleitung Rn. 3 ff. 122 WiedemannlWank, TVG, 1999, § 4 Rn. 651. Bereits nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts war ein Verzicht auf tarifliche Rechte dann ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer unter einem wirtschaftlichen Druck stand; vgl. Nikisch, 1959, S. 457 [§ 84 1.2.]. 120 121

80

Teil 1: Empirische Untersuchung

Die Aussage weist darauf hin, dass Günstigkeitserwägungen in den Betrieben durchaus angestellt werden. Wie zahlreiche Interviews bestätigen, spielen betriebswirtschaftliche Überlegungen und das Interesse an der Wirtschaftlichkeit des eigenen Betriebs für beide Betriebsparteien eine wichtige Rolle. Auch Betriebsräte haben sehr genau vor Augen, dass der Bestand der Arbeitsplätze mit der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens verknüpft ist. Angesichts einer drohenden Insolvenz äußert beispielsweise der Betriebsratsvorsitzende im ostdeutschen Betrieb M3 zu den Gründen, weshalb der Betriebsrat eine Härtefallvereinbarung unterstützte: M3-BR: Vor dieser Situation stehen wir und deshalb muss man auch mit Betriebsvereinbarungen oder mit allem, was man hier macht, sehr sehr vernünftig umgehen. Und was nützt mir JOO % zu fordern, wenn ich mit 90 % das Unternehmen weiterführen kann, das ist doch in dieser Situation wichtiger. Und wenn es genug Arbeit gäbe, würden die Kollegen sich von alleine darum kümmern, sich eine bessere Arbeit in einem anderen Betrieb zu beschaffen. Das ist aber nicht so. Sie sind alle hier dran geklammert. Und da müssen wir versuchen, ein vernünftiges Verhältnis insgesamt in der Belegschaft und auch zwischen den Geschäftsführern aufrecht zu erhalten.

Eine ähnliche Reaktion gab es im Betrieb M2, dessen Betriebsratsvorsitzender auf die Frage nach einem neuen Verständnis von Günstigkeit äußerte: M2-BR: Also im neue ren Sinne würde ich diese Härtefallregelung sehen. Das ist ja eigentlich der Grund, warum wir die abgeschlossen haben: Um die Arbeitsplätze zu sichern, um den Betrieb erst einmal aufzubauen und ein materielles Polster auch zu schaffen. Also für mich schon ein ganz klassischer Fall eigentlich.

Was der Befragte - ausgelöst durch die gezielte Frage nach entsprechenden Praktiken - als einen klassischen Fall eines veränderten Verständnisses von Günstigkeit bezeichnet, hat allerdings nichts mit dem Günstigkeitsprinzip im rechtlichen Sinn zu tun. Insofern ist die Bemerkung zugleich ein Beispiel für die missverstandene Wahrnehmung rechtlicher Kategorien in der betrieblichen Praxis. Die Härtefallregelungen werden von den Tarifvertragsparteien vereinbart und modifizieren insoweit den geltenden Tarifvertrag - für einen Günstigkeitsvergleich bleibt diesbezüglich also kein Raum. Auch der Betriebsrat im Betrieb M5 bestätigt eine eher hintergründige Bezugnahme auf Günstigkeitserwägungen jenseits einer rechtlichen Kategorisierung. Der Hinweis auf Interessen des Betriebes - und damit verbunden der Belegschaft wirkt folglich als Druckmittel in Verhandlungen: M5-BR: Natürlich sagt er [der Arbeitgeber - d. Verf.], wenn wir hier über flexible Arbeitszeiten sprechen, dass es natürlich für die Arbeitnehmer günstiger ist, jetzt Kurzarbeit oder flexibel zu arbeiten, als wenn wir entlassen müssten. Das nimmt er schon mal in den Mund. Das weiß er auch, aber das weiß ich auch. Also, ich weiß nicht, das würde ich nicht als Günstigkeitsprinzip ansehen. Das weiß ich selbst, was für die Arbeitnehmer günstiger ist. Aber das ist ja alles im Rahmen sozusagen dessen, was da tarifvertraglich und gesetzlich vielleicht möglich ist. [ ... ]

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

81

Als Zwischenergebnis lässt sich an dieser Stelle somit festhalten, dass die Bezugnahme auf das Günstigkeitsprinzip zur Rechtfertigung vom Tarifvertrag abweichender Regelungen in den befragten Betrieben einen absoluten Ausnahmefall darstellte. Die in der juristischen Literatur der vergangenen Jahre entwickelte Abwandlung des Rechtsprinzips lässt sich somit in der Praxis der untersuchten Betriebe nicht wiederfinden. Zwar enthalten die Äußerungen der Betriebsparteien immer wieder Abwägungen zwischen Belegschaftsnutzen, Tarifnutzen und Betriebsnutzen. Diese erfolgen jedoch nicht in den rechtlichen Kategorien des Günstigkeitsprinzips, sondern spielen vielmehr im Rahmen betrieblicher Aushandlungsprozesse eine Rolle. Welche Gefahren für den einzelnen Arbeitnehmer mit einer Abkehr von der objektiv-hypothetischen Betrachtungsweise verbunden wären, lässt sich am Beispiel des Unternehmens M16 ablesen. Der Arbeitnehmer wäre dem Druck eines Verzichts auf tarifliche Rechte ausgesetzt, die gerade aus diesem Grund seiner Dispositionsbefugnis entzogen sind. Insofern könnte ein verändertes Verständnis von Günstigkeit die Schutzfunktion des Tarifvertrages ins Leere laufen lassen. b) Mögliche Konsequenzen für das Tarifsystem

Eine veränderte Interpretation des Günstigkeitsprinzips würde sich allerdings nicht nur auf das individuelle Arbeitsverhältnis auswirken, sondern hätte auch Folgen für das Tarifsystem. Dies soll anhand des im Betrieb C4 vorgefundenen Beispiels dargestellt werden. Der Betriebsratsvorsitzende schildert den Hintergrund der Regelung: C4-BR: [ ... ] An oberster Stelle wäre eigentlich, Mehrarbeit nur noch in Freizeit zu vergüten. Aber er [der Tarifvertrag - d. Verf.] bietet halt 'ne Menge Möglichkeiten, dieses zu umgehen. Das haben wir z. B. getan, indem wir für Wochenenddienste regelmäßiger Art jedes Wochenende wird hier Material angeliefert; das muss ausgepackt und verladen werden - eine pauschale Vergütung haben und diese nicht in Freizeit ausgeglichen werden. [ ... ]

Dementsprechend schlossen die Betriebsparteien im November 1997 eine Betriebsvereinbarung "Pauschale für Mehrarbeit an Samstagen", die für alle Mitarbeiter aus den Bereichen Versand und Lager gilt. Darin heißt es: Aufgrund der Landtransporte muß an Samstagen gearbeitet werden. Da ein Zeitausgleich aus arbeitsorganisatorischen Gründen schwierig ist (§ 3 MTV, Abs. 7), wird die Mehrarbeit abweichend von § 4 MTV pauschal mit einem Betrag von DM 200,- pro Einsatz vergütet. Eine Mitteilung der geleisteten Stunden erfolgt nicht.

Wie der Betriebsratsvorsitzende andeutete, steht diese Regelung im Gegensatz zu dem in § 3 Abschnitt lAbs. 5 S. 1 MTV Chemie 123 genannten Grundsatz, wo123

Manteltarifvertrag für die chemische Industrie (vom 24.6.1992 i. d. F. v. 19. 12. 1996).

6 Brecht

82

Teil 1: Empirische Untersuchung

nach geleistete Mehrarbeit durch Freizeit auszugleichen ist. Eine Ausnahme enthält allerdings § 3 Abschnitt lAbs. 7 MTV Chemie: Bei notwendiger Mehrarbeit für einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen, für die ein Zeitausgleich aus betrieblichen oder arbeitsorganisatorischen Gründen nicht oder schwierig durchzuführen ist, kann der Arbeitgeber die geleisteten Mehrarbeitsstunden zuschlagspflichtig abgelten.

Gemäß § 4 Abschnitt IV Nr. 1 MTV Chemie können Zuschläge für Mehrarbeit pauschal abgegolten werden. Dennoch bestehen erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit dieser Betriebsvereinbarung. 124 Da es sich nicht um einen Gegenstand der erzwingbaren Mitbestimmung gemäß § 87 Abs. I BetrVG handelt, liegt eine freiwillige Betriebsvereinbarung i. S. d. § 88 BetrVG vor. Auch für solche freiwilligen Betriebsvereinbarungen gilt die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG. 125 Demnach dürfen durch Tarifvertrag geregelte Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, sofern nicht der Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Der geltende Manteltarifvertrag erlaubt zwar eine Abweichung vom Grundsatz des Freizeitausgleichs für geleistete Mehrarbeit, diese ist allerdings geknüpft an betriebliche oder arbeitsorganisatorische Gründe. Die Regelung soll jedoch einen anderen Zweck verfolgen, wie der Betriebsratsvorsitzende freimütig einräumt: Frage: Sind diese Ausnahmeregelungen mit dem Tarifvertrag vereinbar? Also das heißt doch, Sie ziehen bestimmte Situationen und bestimmte Belegschaftsgruppen aus dem Grundsatz des § 3, den wir eben uns angeschaut haben: "Geleistete Mehrarbeit ist durch Freizeit auszugleichen ", heraus? C4-BR: Wobei der Arbeitnehmer noch immer selber entscheidet, ob er Freizeitausgleich nimmt oder die Bezahlung. Nur der Tarifvertrag, wenn man hier oben irgendwo aufhört zu lesen, schließt finanzielle Vergütungen aus. Wir ermöglichen sie. Und der Arbeitnehmer entscheidet weiterhin, was er will. Er konnte ja früher sowieso entscheiden, was er will. Diese Entscheidung hat ihm der Tarifvertrag ja irgendwann genommen, nämlich im Mai '96.

Frage: Und Sie stellen die Entscheidungsfreiheit jetzt wieder her? C4-BR: Für einige Bereiche, eigentlich für alle Gruppen, für alle Bereiche. Unter diesen Voraussetzungen. Gut, hier diese Tätigkeitspauschale für Mehrarbeit Versand/Lager, das ist natürlich überall dieselbe Gruppe. Das ist klar. Die kommen am Samstag her; laden den LKW ab und fahren wieder nach Hause. Irgendwann ruft der LKW an: "Ich bin jetzt da und da, ich bin in einer Stunde hier auf dem Hof" Und dann fahren die zu Hause weg, laden das Ding mit dem Stapler ab und fahren wieder nach Hause. Das ist natürlich nur eine bestimmte Gruppe, aber ansonsten treffen diese Regelungen im Prinzip auf alle Arbeitnehmer zu. Jeder Arbeitnehmer kann eine Projektarbeit machen letzten Endes, wo man sich vorher darüber unterhält; Vorgesetzter und Betriebsrat: "Das und das soll es sein, kann man das als Projekt machen?" Oder jeder kann in die Lage versetzt werden, eine mehrtägige Dienstreise zu unternehmen. Also das kann schon alle betreffen. In einigen 124

125

Ausgiebiger hierzu Höland/ Reim/Brecht, 2000, S. 98 ff. D/K/K-Berg, 2002, § 88 Rn. 2; F/K/H/E/S, 2002, § 88 Rn. 6.

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

83

Bereichen sicherlich auch nur eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeit· nehmern.

Frage: Wie reagieren die Arbeitnehmer tatsächlich? Wollen die das Geld oder wollen die die Freizeit? C4·BR: Also es ist so, dass viele schon noch das Geld wollen. Weil ansonsten hätten wir uns als Betriebsrat da vielleicht auch gar nicht so für eingesetzt und gesagt: "Brauchen wir nicht". Also viele wollen es schon. Aus der Vergangenheit heraus auch. Die, die schon immer Freizeit haben wollten, machen es auch weiterhin. Und die, die schon immer Geld haben wollten, die sind froh, wenn sie unter solchen Vereinbarungen eine Tätigkeit aus· üben und sie dann das Geld kriegen und nicht die Freizeit nehmen müssen. So kann man das eigentlich sagen.

Es geht also nicht um die Frage, ob entgegenstehende betriebliche oder arbeitsorganisatorische Gründe vorliegen, sondern die Betriebsvereinbarung bezweckt die Schaffung eines Wahlrechts zwischen Vergütung und Freizeitausgleich für die betroffenen Arbeitnehmer. Gerade dieses Wahlrecht war jedoch durch die Neufassung von § 3 Abschnitt lAbs. 5 MTV Chemie abgeschafft worden. Die mittels der Betriebsvereinbarung erfolgende Umkehrung der Ausnahme in einen Regelfall ist somit nicht durch den Tarifvertrag gedeckt. Folglich verstößt die Regelung gegen § 77 Abs. 3 BetrVG. Es bleibt zu klären, welche Konsequenzen es hätte, wenn derartige Regelungen aufgrund des Günstigkeitsprinzips zulässig wären. Der Betriebsratsvorsitzende betrachtet die durch die Betriebsvereinbarung geschaffene Wahloption für den Arbeitnehmer als günstiger, wie sich aus dem folgenden Interviewauszug schließen lässt: Frage: Man kann sich auch die Frage stellen: Ist das durch das Günstigkeitsprinzip ge· deckt? Kann man sagen: Es ist günstiger, Geld zu bekommen, als Freizeit zu bekommen? C4-BR: Das muss jeder für sich individuell entscheiden. Oder es ist günstiger, wählen zu dürfen.

Der Befragte bezieht sich somit auf eine Auslegung des Günstigkeitsprinzips, wonach ein Wahlrecht für den Arbeitnehmer stets als günstiger anzusehen sein soll. Im Hinblick auf die Betriebsvereinbarung würde allerdings auch eine solche Interpretation nichts an der Unwirksamkeit ändern, da das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag keine Anwendung fin· det. Das Beispiel veranschaulicht jedoch die Konsequenzen, die sich aus der Zulässigkeit derartiger Regelungen ergeben könnten. Ziele des Tarifabschlusses von 1996, der das zuvor bestehende Wahlrecht zwischen Vergütung und Freizeitausgleich abschaffte, waren nach Angaben der Tarifvertragsparteien die Beschäftigungssicherung und Beschäftigungsförderung. 126 Dahinter steht die tarifpolitische Konzeption, dass in Zeiten hoher Arbeitslosenzahlen eine Verteilung der Arbeit 126

S.13. 6*

"Zwei Prozent mehr Lohn in der Chemie", Frankfurter Allgemeine vom 30. 3. 1996,

Teil 1: Empirische Untersuchung

84

auf möglichst viele Arbeitnehmer erfolgen soll. Die Einführung eines Wahlrechts konterkariert dieses Ziel, da der gewünschte Erfolg einer Umverteilung von Arbeit in Frage gestellt wird. Damit wäre den Betriebsparteien die Möglichkeit gegeben, tarifpolitische Vorgaben auszuhebeln.

11. Präjudizwirkung durch begünstigende Betriebsvereinbarungen Wie bereits erwähnt besteht in der Rechtswissenschaft Uneinigkeit über die Frage, ob sich die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG auch auf im Vergleich zum Tarifvertrag günstigere Betriebsvereinbarungen erstreckt. 127 Von Th. B. Schmidt wird eine Anwendung des § 77 Abs. 3 BetrVG mit dem Argument abgelehnt, die Tarifautonomie bedürfe nicht des absoluten Tarifvorbehaltes. Der Nachweis für eine Gefährdung der Tarifautonomie durch begünstigende Betriebsvereinbarungen sei nicht ansatzweise erbracht. 128 Diese Aussage muss vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse in Frage gestellt werden. Es wurde gezeigt, dass von abweichenden betrieblichen Regelungen eine präjudizierende Wirkung auf Tarifverträge ausgehen kann. 129 Eine Unterscheidung zwischen den Arbeitnehmer begünstigenden oder nicht begünstigenden betrieblichen Regelungen wurde dabei nicht gemacht. Von der theoretischen Argumentationsstruktur her besteht allerdings kein Unterschied, ob der Angleichungsdruck "nach oben" oder "nach unten" geht. Ein Beispiel für eine die Arbeitnehmer begünstigende Präjudizwirkung schildert der Personalleiter von C6: C6-GL: Es [das Günstigkeitsprinzip - d. Yerf.] spielt eine Rolle in unserem Betrieb in K. Da liegen wir mitten im Chemie-Gürtel, müssen uns also 'wehren' gegen die w's, B.s und wie sie alle heißen. Hier sind wir alleine Chemiebetrieb und müssen aufgrund des Tarifvertrages mehr zahlen als die umliegenden Firmen, d. h. hier besteht der Bedarf einfach gar nicht. Frage: Das ist interessant. D. h., in der Gegend von K., weil da umliegend verschiedene Chemiebetriebe bestehen. .. ? C6-GL: Aufgrund der Konkurrenzsituation . .. In K. mussten wir vor Jahren schon im gewerblichen Bereich eine Erhöhung vereinbaren. Wir haben das gemacht in Form bestimmter Zulagen von 20 %. Frage: Ein Chemie-Gürtel-Zuschlag sozusagen. C6-GL: Ja, ja. Wir haben es damals "Arbeitsmarktzulage" genannt. Es war einfach notwendig.

127 128

129

Siehe oben Fn. 101; ausführlich unten § 9. Th. B. Schmidt, 1994, S. 113 f. Siehe oben § 2.

§ 3 Anwendung des Günstigkeitsprinzips

85

Eine Schwäche der Argumentation für die Möglichkeit eines Angleichungsdrucks "nach oben" besteht allerdings darin, dass eine solche Situation wie ein Relikt aus wirtschaftlich besseren Zeiten erscheint. Die Gewährung übertariflicher Leistungen für alle Arbeitnehmer eines Betriebs ist ein Phänomen, das an Bedeutung verloren hat. l3O In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit wirkt daher die Vorstellung einer zu übertariflichen Leistungen führenden Konkurrenzsituation anachronistisch. Die Argumentation lässt sich theoretisch aufrecht erhalten, in der betrieblichen Praxis dürfte sie jedoch allenfalls noch eine marginale Rolle spielen. Eine tatsächliche Gefahr für die Tarifautonomie geht damit nicht von solchen begünstigenden Betriebsvereinbarungen aus, die in der "traditionellen" Form übertarifliche Leistungen festschreiben. Es erscheinen vielmehr jene betrieblichen Regelungen prekär, die sich auf einen subjektivierten Günstigkeitsmaßstab oder ein Wahlrecht des Arbeitnehmers berufen. l31 Das Fehlen eines objektiven Maßstabs bei der Handhabung des Günstigkeitsvergleichs gefährdet nicht nur die Rechtssicherheit. Es bietet vor allem das Einfallstor für individuelle Wertentscheidungen, mit denen tarifvertragliche Modelle ausgehebelt werden können. Dies kann zu einem Verlust der tarifpolitischen Steuerungsmöglichkeiten führen, was eine eindeutige Gefährdung der Tarifautonomie darstellen würde. Folglich lässt sich feststellen, dass auch begünstigende Betriebsvereinbarungen eine Gefahr für die Tarifautonomie bewirken können. Im traditionellen Bereich des Günstigkeitsprinzips - insbesondere des Lohns - lässt sich eine solche Gefährdung durch theoretische Erwägungen begründen. In der betrieblichen Praxis erscheinen derartige Überlegungen in der aktuellen gesamtwirtschaftlichen Situation jedoch eher hypothetisch. Eine reale Gefahr stellen hingegen begünstigende Betriebsvereinbarung dar, die auf einem subjektivierten Günstigkeitsvergleich oder einem Wahlrecht des Arbeitnehmers beruhen. Dies gilt jedenfalls für solche betrieblichen Regelungen, die zu einer Aushebelung tarifvertraglicher Modelle führen können.

IH. Ergebnis Entgegen der intensiven rechtswissenschaftlichen Diskussion erscheint die Bedeutung des Günstigkeitsprinzips im betrieblichen Alltag gering, da es in vielen Betrieben keine oder nur eine geringe Rolle spielt. Sofern auf das Günstigkeitsprinzip in der betrieblichen Praxis Bezug genommen wird, geschieht dies vor allem im klassischen Anwendungsbereich übertariflicher Leistungen. In einer Reihe 130 Siehe dazu oben § 31. 1. Ein Betriebsratsvertreter des ostdeutschen Betriebs M15 führte den Abbau übertariflicher Leistungen in den westdeutschen Betrieben des Konzerns auf den Angleichungsdruck aufgrund einer geringeren Vergütungsstruktur in den neuen Bundesländern zurück. l3l Vgl. hierzu die obigen Ausführungen in § 3 I. 2. b).

86

Teil I: Empirische Untersuchung

von Betrieben lassen sich aber auch übertarifliche Regelungen, die auf Betriebsvereinbarungen beruhen, feststellen. Diese Praxis steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach § 77 Abs. 3 S. I BetrVG auch solche vom Tarifvertrag abweichenden Betriebsvereinbarungen untersagt, die für den einzelnen Arbeitnehmer als günstiger zu betrachten sind. Zur Vermeidung einer Unwirksamkeit solcher Regelungen wird allerdings im Regelfall überprüft, ob eine Umdeutung in eine vertragliche Einheitsregelung möglich ist oder eine rückwirkende Öffnungsklausel durch die Tarifvertragsparteien vorliegt. In der juristischen Literatur der vergangenen Jahre finden sich vermehrt Ansichten, die eine Abkehr von der geltenden objektiv-hypothetischen Betrachtungsweise im Rahmen des Günstigkeitsvergleichs fordern. Die Bezugnahme auf derartige Interpretationen zur Rechtfertigung abweichender Regelungen, die nicht objektiv günstiger als der Tarifvertrag sind, kann im Hinblick auf die untersuchten Betriebe als absolute Ausnahme charakterisiert werden. Zwar treffen auch Betriebsräte nicht selten Günstigkeitserwägungen zwischen Belegschafts-, Tarif- und Betriebsnutzen. Das verläuft aber nicht im Rahmen rechtlicher Kategorisierungen, sondern vor dem Hintergrund betrieblicher Aushandlungsprozesse. Dabei geht es also nicht um die rechtliche Bewertung der Verhandlungsergebnisse, sondern vielmehr um die Frage, welche Forderungen im Rahmen betrieblicher Verhandlungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens aufgestellt werden können. Wie sich anhand einzelner Fallbeispiele ableiten lässt, wären die in der Rechtswissenschaft diskutierten Ansätze eines subjektivierten Günstigkeitsvergleichs sowohl im Hinblick auf den einzelnen Arbeitnehmer als auch das Tarifsystem insgesamt mit erheblichen Risiken verbunden. So könnte die tarifvertragliche Schutzfunktion verloren gehen, wenn der individuelle Arbeitnehmer dem Druck eines Verzichts auf tarifliche Rechte ausgesetzt wäre. Im Hinblick auf das Tarifsystem würde dies ferner einen Weg eröffnen, mit dem sich tarifpolitische Konzeptionen aushebein ließen. Auch von zugunsten des Arbeitnehmers abweichenden betrieblichen Regelungen kann eine präjudizierende Wirkung auf den Flächentarifvertrag ausgehen. Die faktische Gefährdung der Tarifautonomie erscheinen in der derzeitigen gesamtwirtschaftlichen Situation im klassischen Bereich des Günstigkeitsprinzips jedoch eher hypothetisch. Angesichts der möglichen Aushebelung tarifpolitischer Konzeptionen ergeben sich hingegen bei abweichenden betrieblichen Regelungen, die auf einem veränderten Günstigkeitsvergleich beruhen, handfeste Gefahren für die Tarifautonomie.

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

87

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis ,,[ ... ] und mir hat auch noch kein Jurist da einen Unterschied erklären können." (M9-GL)

Die betriebliche Praxis kennt zahlreiche Formen, in denen Absprachen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat getroffen werden. 132 In juristischer Hinsicht wird zwischen Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden 133 unterschieden. Gesetzliche Erwähnung finden dabei lediglich Betriebsvereinbarungen, die gemäß § 77 Abs. 2 BetrVG schriftlich niederzulegen und von beiden Betriebsparteien zu unterzeichnen sind. Nach § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG entfalten Betriebsvereinbarungen unmittelbare und zwingende Wirkung für die einzelnen Arbeitsverhältnisse. Eine gesetzliche Definition für die Regelungsabrede fehlt hingegen. Der Gesetzgeber verwendet in § 77 Abs. 1 S. 1 BetrVG die Bezeichnung "Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber" als Oberbegriff. 134 In der arbeitsrechtlichen Literatur wird die Regelungsabrede zumeist in Abgrenzung zur Betriebsvereinbarung erläutert: Es handelt sich um einen formlosen Vertrag zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, der lediglich schuldrechtliche Verpflichtungen zwischen den Betriebsparteien regelt. Die Regelungsabrede entfaltet somit keine unmittelbare und zwingende Wirkung auf das Einzelarbeitsverhältnis. J35 Vielmehr bedarf eine Regelungsabrede der Umsetzung im Rahmen des Direktionsrechts des Arbeitgebers oder falls die Regelung über das Direktionsrecht hinausgeht - durch eine individualvertragliche Vereinbarung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. 136 Das Unterscheidungsmerkmal der unmittelbaren und zwingenden Wirkung erweist sich in der betrieblichen Praxis jedoch als weniger präzise, als dies in der juristischen Theorie angenommen wird. Nachfolgend soll untersucht werden, inwiefern sich Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden in ihrer praktischen Anwendung unterscheiden. Dazu soll zunächst eine Kategorisierung hinsichtlich der Formen und Regelungsbereiche sowie eine quantitative Einordnung erfolgen. Daran anschließend ist zu fragen, welche Gründe die Betriebsparteien zu einem Verzicht von Betriebsvereinbarungen zuBirk spricht insofern von einem "hollywoodish picture"; ZfA 1986, S. 73, 107. Alternative Bezeichnungen für Regelungsabrede sind Regelungsabsprache, Betriebsabsprache, Betriebsregelung, betriebliche Absprache oder betriebliche Einigung; vgl. D/K/K-Berg, 2002, § 77 Rn. 79; MünchArbR-Matthes, 2000, § 328 Rn. 97; Richardi, BetrVG, 2002, § 77 Rn. 224; Schaub, 2002, § 231 Rn. 3; grundlegend zur Regelungsabrede vgl. Adomeit, 1961; Giesler; 1997; Molodovsky, 1959; Schipprowski, 1995; Senne, 1995; Straßner; 1998. 134 GK-BetrVG-Kreutz, 2002, § 77 Rn. 1; Schaub, 2002, § 231 Rn. 1. J35 MünchArbR-Matthes, 2000, § 328 Rn. 97; Stege I Weinspach/ Schiefer; 2002, § 77 Rn. 45; vgl. auch BAG 14. 8. 2001, DB 2002, S. 902 unter III. 1. 136 F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 217. 132 J33

88

Teil 1: Empirische Untersuchung

gunsten von Regelungsabreden bewegten. Schließlich bleibt zu klären, ob beide Vereinbarungsfonnen sich hinsichtlich ihrer faktischen Bindungswirkung unterscheiden.

I. Formen Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat finden sich in zahlreichen unterschiedlichen Fonnen. Sie lassen sich unterteilen in schriftlich fixierte Absprachen mit und ohne Unterschrift sowie mündliche und stillschweigende Vereinbarungen. Innerhalb dieser Kategorien kennt die betriebliche Praxis vielfache Ausprägungen. 1. Schriftlich fixierte und von den Betriebsparteien

unterzeichnete Vereinbarungen

Auf die Frage nach sonstigen betrieblichen Absprachen neben Betriebsvereinbarungen nannten einige betriebliche Praktiker Regelungsabreden, die allerdings schriftlich niedergelegt und von beiden Seiten unterzeichnet werden. Als generelle Praxis bestätigt dies der Personalleiter des Unternehmens MII: Frage: Machen Sie diese Regelung auch immer schriftlich? Mll-GL: Immer schriftlich. Frage: Und die wird von beiden Seiten unterzeichnet? Mll-GL: Die wird von beiden Seiten unterzeichnet, wie eine Betriebsvereinbarung. Frage: Und drüber steht: "Regelungsabrede" ? Mll-GL: Absprache.

Da eine solche Absprache die in § 77 Abs. 2 BetrVG genannten Fonnerfordernisse an eine Betriebsvereinbarung erfüllt, können sich Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben. Diese werden auch von dem Personalleiter gesehen: Mll-GL: [ ... ] Ob das nicht teilweise dann eine Betriebsvereinbarung wird, sei mal dahingestellt, rein rechtlich.

Tatsächlich reicht die Bezeichnung einer Vereinbarung als Regelungsabrede nicht aus, um sie von der Betriebsvereinbarung abzugrenzen. Entscheidend ist vielmehr der Bindungswillen der Betriebsparteien: Wollten sie eine Regelung mit unmittelbarer und zwingender Wirkung für die einzelnen Arbeitsverhältnisse schaffen, so handelt es sich unbeschadet der Bezeichnung als Regelungsabrede um eine Betriebsvereinbarung. 137 Gleiches gilt für Vereinbarungen, die in Anlehnung an 137 Insofern zutreffend Heinze, NZA 1994, S. 580, 586; im Umkehrschluss ebenso Walker, ZfA 2000, S. 29, 35.

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

89

tarifliche Praxis als Protokollnotiz zu Betriebsvereinbarungen bezeichnet und diesen als Anlage beigefügt werden. 138

2. Schriftlich fixierte Vereinbarung ohne beiderseitige Unterschrift Vereinbarungen zwischen den Betriebsparteien werden häufig schriftlich festgehalten, ohne dass eine Unterschrift erfolgt. Typische Fonnen hierfür sind Aktennotizen oder Besprechungsprotokolle, die zumeist beiden Betriebsparteien zugehen bzw. im Betrieb ausgehangen werden. Ihre diesbezügliche Praxis schildert ein Geschäftsführer auf die Frage nach mündlichen Absprachen zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung: M4-GLl: [ ... ] Wir achten auch im Moment darauf, dass alles nur noch schriftlich gemacht wird, d. h. auch Versetzungen. Wir haben etliche Sachen, die wir mündlich besprechen, die aber sofort anschließend schriftlich gemacht werden. Also z. B. diese Versetzungen, das war ein Punkt, den ich mündlich gemacht hatte. Was es gibt, was dem nahe kommt: Wir haben eine regelmäßige Sitzung zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung, wo ich Protokoll führe im Beisein des Betriebsrates. Da protokolliere ich, während er dabei ist. Sprich: Wir sitzen zusammen, wir besprechen etwas, ich protokolliere und frage anschließend, nachdem ich protokolliert habe: "Ist das alles so richtig?" Und jetzt wäre ja die juristische hochinteressante Frage: Ist das bindend oder nicht? Denn das Protokoll bekommt der Betriebsrat. Was ich nicht tue: Bei der nächsten Sitzung das Protokoll genehmigen zu lassen. Das würde der nie tun. Frage: Das Protokoll wird auch nicht von beiden Seiten unterschrieben? M4-GLl: Das wird nicht unterschrieben. Von keinem. Das ist einfach, wenn Sie so wollen, eine Gedankenstütze. [ ... ]

Auf die von dem Befragten aufgeworfene Frage nach der Bindungswirkung solcher Absprachen lässt sich zunächst festhalten, dass es sich mangels Unterschrift nicht um Betriebsvereinbarungen handelt. Eine nonnative Wirkung für das individuelle Arbeitsverhältnis besteht somit nicht. Betrachten beide Parteien das Besprochene als verbindlich, so handelt es sich in solchen Fällen um schriftlich fixierte Regelungsabreden. Zu beachten ist allerdings, dass auch bei derartigen Regelungsabreden nach herrschender Meinung eine ordnungsgemäße Beschlussfassung durch den Betriebsrat erforderlich bleibt. 139 138 Ein Beispiel hierfür ist die unter § 2 11. 5. d) zitierte Protokollnotiz zur Rahmenbetriebsvereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit im Betrieb M20. Angesichts der schriftlichen Fonn, Unterschriften von Arbeitgeber und Betriebsrat sowie expliziter Regelung der Wirksamkeitsdauer dieser Vereinbarung besteht an der rechtlichen Qualität als Betriebsvereinbarung kein Zweifel. 139 Giesler; 1997, S. 237; Schipprowski, 1995, S. 192; F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 218 m. w. N.; nach anderer Auffassung reicht es aus, wenn ein führendes Betriebsratsmitglied durch schlüssiges Verhalten zu erkennen gibt, dass eine Willenserklärung seitens des Betriebsrates vorliegt, sofern der Arbeitgeber alle für eine wirksame Willens bildung des

90

Teil 1: Empirische Untersuchung

Eine weitere Variante stellen Betriebsvereinbarungen dar, deren Gültigkeit zwar inzwischen ausgelaufen ist, die aber weiterhin von den Betriebsparteien als maßgeblich betrachtet werden. Dieses Phänomen lässt sich vor allem bei Sozialplänen 140 finden, wie in dem durch den Betriebsrat von MlO geschilderten Fall: MIO-BR: [ ... ] Wir haben einen Sozialplan gehabt, der im Dezember 1997 ausgelaufen ist. Wir haben jetzt Distributionsveränderungen; da werden Mitarbeiter wahrscheinlich freigesetzt werden. Wir haben im Vorfeld abgeklärt, dass diese Mitarbeiter nach dem daITUlligen Interessenausgleich im Sozialplan freigesetzt werden. Da sagen wir "Ja" dazu. Da muss ITUln keinen neuen vereinbaren. Die haben zwar eine Aktennotiz geschrieben, aber das gilt. Das hat etwas mit gegenseitigem Vertrauen zu tun und das ist wichtig.

Auch in solchen Fällen handelt es sich mangels Einhaltung der Formerfordernisse bzw. angesichts des Ablaufs der Gültigkeit nicht um wirksame Betriebsvereinbarungen.

3. Mündliche Vereinbarung Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber können ferner in mündlicher Form getroffen werden, ohne dass es zu einer schriftlichen Fixierung der Absprache kommt. So berichtet beispielsweise ein Vertreter des Unternehmens M5 über eine Verlängerung des Ausgleichszeitraums für Arbeitszeitkonten: Frage: Die Vereinbarung des Ausgleichszeitraums bis Ende März nächsten Jahres ist eine mündliche Absprache zwischen Ihnen und dem Betriebsrat? M5-GLl: Das ist absolut mündlich. Da haben sie signalisiert, dass sie da mitlTUlchen wollen.

Natürlich lässt sich nicht ausschließen, ob nicht doch von einer der Betriebsparteien die Absprache in den eigenen Unterlagen schriftlich fixiert wird. Es darf sogar angenommen werden, dass dies allein schon als Gedächtnisstütze regelmäßig erfolgt. Insofern verschwimmt daher die Unterscheidung zu der oben genannten Vereinbarung mit schriftlicher Fixierung. Für die rechtliche Qualifizierung als Regelungsabrede ist die Schriftform ohnehin unerheblich. Der praktische Unterschied besteht jedoch darin, dass es keine schriftliche Aufzeichnung gibt, die von beiden Seiten als authentische Wiedergabe des Vereinbarten betrachtet wird.

Betriebsrates erforderlichen Voraussetzungen beachtet und eingehalten hat; vgl. Heinze, NZA 1994, S. 580, 584. 140 Sozialpläne haben gemäß § 112 Abs. 1 BetrVG die Wirkung von Betriebsvereinbarungen, allerdings gilt für sie die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht.

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

91

4. Stillschweigende Vereinbarung Eine Besonderheit stellen stillschweigende Vereinbarungen zwischen den Betriebsparteien dar. Dabei geht es um betriebliche Praktiken, von denen der Betriebsrat weiß, ohne dass er von Arbeitgeberseite offiziell hiermit konfrontiert worden wäre. Aufgrund der Umstände - beispielsweise in einem Kleinbetrieb - kann aber der Arbeitgeber von einer Kenntnis des Betriebsrates ausgehen. Es besteht somit ein stillschweigendes Einverständnis der Betriebsparteien, die betriebliche Praxis zu tolerieren. Ein Beispiel für eine solche Konstellation liefert der Betriebsratsvorsitzende im Unternehmen M3: Frage: Gibt es sonstige betriebliche Absprachen? M3-BR: Nein, gibt es nicht. Weil ich das aus Prinzip nicht mache, was abgesprochen ist, das muss geregelt werden, bis auf diese stillschweigenden Verletzungen der Vereinbarung [gemeint ist eine vom Tarifvertrag abweichende Praxis der Mehrarbeit - d. Yerf.].

Frage: Bezüglich der Mehrarbeit könnte man von einer Art Regelungsabrede sprechen: Solange die Leute sich hier nicht beschweren, solange der Betriebsrat da nicht den Eindruck hat, dass es gegen den Willen der Leute erfolgt, wird es stillschweigend so toleriert? M3-BR: Das könnte man so als Absprache betrachten.

Die Aussage zeigt die Ambivalenz der Situation: Obwohl es keine ausdrückliche Absprache zwischen den Betriebsparteien gibt, fühlt sich der Betriebsratsvorsitzende durch die stillschweigende Hinnahme der Abweichung gegenüber dem Arbeitgeber in seinem zukünftigen Verhalten gebunden. Ob in rechtlicher Hinsicht eine Regelungsabrede vorliegt, erscheint jedoch fraglich. Grundsätzlich stellt das Schweigen im Rechtsverkehr keine Willenserklärung dar. 141 In Betracht kommt allenfalls die Abgabe einer "stillschweigenden Willenserklärung" durch schlüssiges Verhalten. Dabei nimmt der Erklärende Handlungen vor, die mittelbar einen Schluss auf einen bestimmten Rechtsfolgewillen zulassen. 142 Die schweigende Hinnahme einer betrieblichen Praxis durch den Betriebsrat erfüllt allerdings diesen Erklärungstatbestand nicht, da kein aktives Tun vorliegt. In rechtlicher Hinsicht ist damit der Betriebsrat durch seinen unterlassenen Protest gegen das Vorgehen des Arbeitgebers nicht gebunden. 143 Doch selbst wenn keine Regelungsabrede vorliegt, kann von einem derartigen stillschweigenden Einverständnis eine starke faktische Bindungswirkung für die Beteiligten ausgehen.

Palandtl Heinrichs, 2002, Einf. v. § 116 Rn. 7. Larenz I Wolf, Allgemeiner Teil, 1997, § 24 Rn. 19 ff. 143 Im Ergebnis ebenso Schipprowski, 1995, S. 193 ff.; ausnahmsweise für ein stillschweigendes Zustandekommen einer Regelungsabsprache bei Anwendung allgemeiner zivilrechtlicher Regeln: Giesler, 1997, S. 237 ff. 141

142

92

Teil I: Empirische Untersuchung

11. Regelungsbereiche In inhaltlicher Hinsicht lassen sich ebenfalls Kategorien für Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat bilden.

1. Absprachen zur Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat können darin bestehen, Regelungen über die Zusammenarbeit beider Parteien zu treffen. Ein Beispiel hierfür nennt ein Vertreter der Geschäftsleitung von M12: M12-GL: [ ... ] Was mir da spontan einfällt ist, dass wir beispielsweise für die Durchführung von Wirtschajtsausschusssitzungen so eine Absprache getroffen haben, die dann regelt, welche Infonnationen der Betriebsrat zur Verfügung gestellt bekommen soll und in welchem Zeitraum und mit welcher Besetzung solche Wirtschajtsausschusssitzungen stattfinden sollen.

Die Bedeutung derartiger Absprachen beschränkt sich somit auf das Innenverhältnis der Betriebsparteien. Als rein schuldrechtliche Vereinbarung ohne normative Bedeutung für das individuelle Arbeitsverhältnis stellt die Regelungsabrede das angemessene rechtliche Instrument für derartige Fragen dar. 2. Betriebliche Regelungen Ein Großteil der Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat bezieht sich auf Regelungen des betrieblichen Ablaufs. Bezugspunkt solcher Absprachen können sowohl Einzelfälle als auch solche Fragen sein, welche die Mehrzahl oder sogar sämtliche Arbeitnehmer des Betriebs betreffen. Angesichts der beabsichtigten unmittelbaren und zwingenden Wirkung für individuelle Arbeitsverhältnisse ist die Betriebsvereinbarung die naheliegende Form solcher Regelungen. Je kleiner die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer oder je kürzer die Geltungsdauer der Absprache ist, desto eher wird allerdings in der betrieblichen Praxis die Form der Regelungsabrede gewählt. Das bestätigt u. a. die Aussage des Betriebsratsvertreters von Mll: Mll-BR: Wenn es jetzt nur um eine bestimmte Abteilung für einen bestimmten Zeitraum geht - z. B. Deckel stanzen, das ist ein abgeschlossener Bereich, betrifft 5 Mitarbeiter -

machen wir schon einmal eine Regelungsabsprache. Für den Druckbereich - 150 Leute würden wir nie eine Regelungsabsprache treffen. Da würde eine Betriebsvereinbarung gemacht. [ ... ] Die Regelungsabsprache gilt nur für ein Wochenende, für eine Woche, also nur wirklich für einen kurzen Zeitraum. Sonst kommt das überhaupt nicht in Frage.

Die vom Betriebsrat beschriebene Vorgehensweise kann als repräsentatives Beispiel angesehen werden: Eine ganze Reihe ähnlicher Aussagen anderer Gesprächs-

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

93

partner weisen darauf hin, dass Regelungsabreden anstelle von Betriebsvereinbarungen insbesondere dann gewählt werden, wenn der zu regelnden Angelegenheit von den Betriebsparteien nicht so große Bedeutung beigemessen wird. 3. Handhabungsabsprachen Ein weiterer wichtiger Bereich für Regelungsabreden stellen Handhabungsabsprachen dar. Hierbei wird zwischen den Betriebsparteien abgesprochen, wie bestimmte Normen aus Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen in der betrieblichen Praxis ausgelegt und umgesetzt werden sollen. So war beispielsweise nach Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. 10. 1996 zwischen den Tarifvertragsparteien der Metallindustrie höchst umstritten, ob nach den damals geltenden Manteltarifverträgen die Entgeltfortzahlung von nur noch 80 % oder die ursprüngliche gesetzliche Regelung von 100 % galt. l44 Dies war für die Betriebsparteien im Unternehmen M6 Ausgangspunkt für eine Handhabungsabsprache: M6-GL: Wir haben, als die letzte Tarifrunde stattfand, mit ... [dem Betriebsratsvorsitzenden - d. Verf.] darüber gesprochen, [ ... ] dass wir auch weiterhin eben die 100 % bezahlen und nicht gleich reduzieren [... ], sondern [ ... ] abwarten, was dann überhaupt bei dieser Lohnrunde herauskommt. Also, so etwas machen wir dann schon und da stehen wir auch zu unserem Wort. Das war dazumal der Wunsch von ... [dem Betriebsratsvorsitzenden - d. Verf.], was wir aber nicht schriftlich fixiert haben, sondern das war per Handschlag mit ihm so vereinbart.

Während es in diesem Fall um eine juristisch vertretbare Auslegung des Tarifvertrages ging, werden nicht selten in der betrieblichen Praxis mittels Regelungsabreden auch solche Interpretationen vorgenommen, die eindeutig nicht mehr mit dem Wortlaut der Norm in Übereinstimmung zu bringen sind. Ein Beispiel hierfür schildern die Betriebsparteien im Unternehmen M22. In einer Betriebsvereinbarung legten sie die Grenzen der Arbeitszeitkonten auf + / - 150 Stunden fest, weichen hiervon aber in der betrieblichen Praxis teilweise ab. Frage: Was passiert mit den Stunden, die über 150 Stunden hinaus geleistet werden? M22-BR: Bei 90 % der Beschäftigten klappt die Regelung. Wir haben momentan Riesenprobleme mit dem Arbeitszeitkonto in einem Bereich, der von einer Halle in die andere umzieht. Aufgrund der Umzugsaktivitäten liegen wir da teilweise bei 180 bis 200 Stunden und darüber. [ ... ]

Frage: 1n dieser Abteilung wird der Rahmen weitgehend ausgeschöpft? M22-BR: Und darüber hinaus. Aber das tolerieren wir, weil gerade jetzt ein Umzug von einer Halle in die andere stattfindet und wir von der Unternehmensleitung die Zusage haben, dass - wenn der Umzug beendet ist - genau diese Leute bevorzugt in Freischichten gehen können. [ ... ] 144

Vgl. Ziepke/ Weiss, 1998, § 9 Anm. 18.

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Teil I: Empirische Untersuchung

Die Besonderheit derartiger Handhabungsabsprachen besteht also darin, dass sie eine Präzisierung oder Modifikation geltender nonnativer Regelungen vornehmen. Dabei bleibt deren nonnative Geltung fonnal unangetastet. Bewegt sich jedoch die Absprache außerhalb des Rahmens juristisch vertretbarer Interpretationen, so kann sich hieraus eine faktische Abbedingung der Nonn ergeben.

111. Häufigkeit Die Verwendung von Regelungsabreden erweist sich in der betrieblichen Praxis als ein üblicher Vorgang. Allerdings gibt es auch Betriebe wie das Chemieunternehmen C6, die grundsätzlich auf Regelungsabreden verzichten und stattdessen stets Betriebsvereinbarungen abschließen: Frage: Das heißt, al/es was Sie auf betrieblicher Ebene regeln, machen Sie als Betriebsvereinbarung ? C6-GL: Ja, wenn es Gültigkeit hat. Allein schon deswegen, damit man eben nicht diese fatale betriebliche Übung hat, wo man doch recht schlecht von weg kommt. Und damit es halt auch für jeden nachlesbar und zweifelsfrei ist.

Eher eine Ausnahme stellt die rein mündliche Regelungsabrede dar: In der überwiegenden Mehrzahl der von den Betriebsparteien geschilderten Fällen erfolgte eine schriftliche Fixierung in einer Fonn, die von beiden Seiten als authentische Wiedergabe des Vereinbarten angesehen wird. Sofern Arbeitgeber und Betriebsrat dennoch auf eine schriftliche Fixierung ihrer Absprache verzichteten, geschah dies überwiegend in Betrieben mittlerer Größe mit kooperativem Interaktionsmuster. Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Stil der Mitbestimmung und der Regelungsfonn wird von dem Betriebsrat des Unternehmens MlO benannt: BR-MIO: [ ... ] Also bei uns gilt das gesprochene Wort viel, sogar sehr viel. Sie werden einige Sachen nicht so festiert in einer Betriebsvereinbarung wiederfinden, wie z. B. in Kampjbetrieben, wo es nur auf der Konfrontations- oder Gesetzesschiene abläuft.

Der Hintergrund für die häufigere Verwendung mündlicher Absprachen in Betrieben mit kooperativem Interaktionsmuster besteht sicherlich darin, dass angesichts möglicher Beweisschwierigkeiten ein starkes Vertrauensverhältnis bei lediglich mündlichen Abreden vorauszusetzen ist. Geradere dieser Gesichtspunkt wurde in den geführten Interviews immer wieder besonders hervorgehoben: M9-GL: [ ... ] Ich strebe eine Zusammenarbeit an und die habe ich eigentlich mit dem Betriebsrat hier: Ein gesagtes Wort gilt etwas. Ich sage: " Wenn das und das passiert, dann reagiere ich so und so darauf". Oder ich sage zu, dass dann und dann das passiert. Dann kann man sich darauf verlassen. Gut, es gibt aber Dinge, die nicht im Kurifristbereich, sondern im Langfristbereich liegen. Da sage ich: "Na gut, weiß ich, ob ich morgen den Betriebsrat noch habe oder weiß der Betriebsrat, dass er mich morgen noch als Personalleiter hat? Wer weiß es, was da passieren kann?" Und insofern gibt es über bestimmte Dinge Betriebsvereinbarungen und die Notwendigkeit, welche zu schreiben. [ ... ]

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

95

Gegen eine rein mündliche Vereinbarung spricht also auf der anderen Seite der Gedanke einer zuverlässigen Dokumentation, insbesondere wenn Absprachen langfristig Gültigkeit behalten sollen. Je überschaubarer der betriebliche Rahmen ist, desto stärkere Bedeutung dürften jedoch die mündlichen Abreden haben. Auf diesen Zusammenhang weist auch der Personalleiter eines Unternehmens mit 530 Beschäftigten hin: MIO-GL: [ ... ] Und jetzt bin ich halt bei dem Punkt Vertrauen. Das gehört einfach dazu. Es gibt dann die eine oder andere Vereinbarung, wo wir miteinander zwischen den Zeilen etwas lesen. Frage: Das setzt natürlich auch eine gewisse Kontinuität auf beiden Seiten voraus? MIO-GL: Ja. Das ist sicher in einem kleineren Unternehmen wie dem unseren leichter als in einem Riesenrahmen, weil es dort sofort anonym wird. Wir haben hier ja auch im täglichen Geschäft miteinander zu tun.

Die Gründe für eine weniger häufige Verwendung mündlicher Absprachen in Kleinbetrieben lässt sich aus dem Forschungsmaterial nicht unmittelbar ableiten. Allerdings ist aus den geführten Interviews ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Anzahl gültiger Betriebsvereinbarungen und der Unternehmensgröße erkennbar. Bestätigt wird dies ebenfalls durch die schriftliche Befragung von Betrieben der Chemischen Industrie (vgl. Tabelle 5). Auch wenn diese Zahlen nicht den Anspruch von Repräsentativität erheben, so ist dennoch der Zusammenhang zwischen Betriebsgröße und Anzahl von Betriebsvereinbarungen unverkennbar: Mit zunehmender Betriebsgröße steigt die Wahrscheinlichkeit einer höheren Anzahl von Betriebsvereinbarungen. Es erscheint daher naheliegend, die niedrigere Zahl von Regelungsabreden in kleinen Unternehmen als Ausdruck einer insgesamt geringeren Regelungsdichte zu bewerten. Tabelle 5

Betriebsgröße und Anzahl von Betriebsvereinbarungen

Anzahl der Betriebsvereinbarungen Keine

Anzahl der im Betrieb Beschäftigten 1-5 6-10 11-20 21-100 101-500 501-2.000 über 2.000 6

Unter 10

-

10 bis 25

-

26 bis 50

Über 50

-

-

-

15

1

-

13

3

-

14

20

25

3

2

7

14

-

1

3

1

-

2

1

1

-

1

1

2

2

-

Keine Angaben

-

-

-

1

1

-

-

Summe der Betriebe

6

16

29

44

35

7

3

Quelle: Eigene Befragung von Betrieben der Chemischen Industrie mit Hilfe von Kurzfragebögen im November 1998

96

Teil 1: Empirische Untersuchung

Die Palette der in der betrieblichen Praxis durch Regelungsabreden aufgegriffenen Themen ist vielfältig. Sie spiegelt die gesamte Bandbreite betrieblicher Regelungsbereiche wider. Bemüht man sich trotz dieser Heterogenität um eine quantitative Erfassung, so waren Arbeitszeitregelungen, Absprachen über übertarifliche Leistungen sowie Fragen der betrieblichen Ordnung die von den befragten Betriebsparteien am häufigsten genannten Beispiele für nicht als Betriebsvereinbarungen geregelte Absprachen. Festzuhalten bleibt somit, dass schriftlich fixierte Regelungsabreden eine vielfach praktizierte Form betrieblicher Vereinbarungen darstellen, während mündliche Absprachen vor allem in Betrieben mittlerer Größe mit kooperativem Mitbestimmungsstil anzutreffen sind.

IV. Gründe für den Verzicht auf Betriebsvereinbarungen Als Vorzüge einer Betriebsvereinbarung gegenüber einer Regelungsabrede wurden vor allem Gründe der Rechtssicherheit und Dokumentation genannt. Vielfaltig sind hingegen die von den Befragten angegebenen Gründe, weshalb anstelle einer Betriebsvereinbarung die Form der Regelungsabrede gewählt wurde. Die unterschiedlichen Motive sollen nachfolgend in fünf Fallgruppen typisiert dargestellt werden. 1. Vertrauensbeweis

Wie bereits erwähnt, ist der Verzicht auf eine an besondere Formerfordernisse gebundene Betriebsvereinbarung oftmals an das Bestehen eines starken Vertrauensverhältnisses zwischen den Betriebsparteien gekoppelt. In einem Fall ergab sich hier eine Zuspitzung, so dass die Forderung nach schriftlicher Fixierung als Ausdruck von Misstrauen bewertet wurde. So äußerte der geschäftführende Gesellschafter von M5: MS-GLl: Das gibt es, dass sie [der Betriebsrat - d. Verf.] sagen: "Geben Sie uns das doch bitte schriftlich. " So gern mache ich das nicht, weil ich noch so einer von altem Schrot und Kom bin. Ich sage immer: "Wenn der Geschäftsführer und Partner D. eine Aussage macht unter Zeugen, dann ist das ein Gesetz und dann hält er sich daran. " Aber gelegentlich machen wir das um des lieben Friedens willen auch schriftlich. Das ist nicht so häufig. Aber es kommt vor. Ich versuche immer erst zu sagen: "Wir akkordieren hier nach der Bremer Klausel mit Handschlag. "

Sicherlich ist eine solche Sichtweise, die in dem Wunsch nach Schriftform Misstrauen erkennt, nicht unbedingt typisch. Im Fall des Unternehmens M5 lässt sich dies vor dem Hintergrund eines stark konfliktiven Mitbestimmungsstils in der Vergangenheit, dessen Folgen in die Gegenwart fortwirken, verstehen. Losgelöst von derartigen Extrembeispielen wird man dennoch annehmen können, dass der Verzicht auf eine förmliche Betriebsvereinbarung teilweise als ein bewusstes Signal

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des Vertrauens in die Zuverlässigkeit des Verhandlungspartner verstanden und auch eingesetzt wird.

2. Taktische Überlegungen In einer Reihe anderer Fälle wurde die Form der Regelungsabrede mit Blick auf den Eindruck gewählt, den der Abschluss einer Betriebsvereinbarung bei den betroffenen Arbeitnehmern erzeugt hätte. Ein Beispiel hierfür schildern die Betriebsparteien von M23: M23-BR: Auch die Konditionen und Abläufe im Mitarbeiterj'ahrzeuggeschäft - also Jahreswagen oder Leasing-Konditionen usw. - werden von der Untemehmensleitung nicht offiziell diskutiert. Aber wir unterhalten uns trotzdem darüber. Und dann gibt's ein Papier, das unterschreiben der Herr Dr. H. und der Herr Dr. W, der für den Bereich zuständig ist, und dann ist das Thema erledigt.

Frage: Warum gibt es da keine Betriebsvereinbarung ? M23-GL: Das ist ein bissehen Optik auch insofem. Das sind Dinge, bei denen von der Untemehmensseite kein offizielles Mitbestimmungsrecht vorliegt. Oder nehmen wir jetzt hier die Richtlinie, die auf einer Betriebsvereinbarung beruht, da ist eben dann eine Unterschrift nicht mehr nötig. Aber auch bei diesen Dingen muss man ja gut zusammenarbeiten. Dabei hat man immer das Problem, dass schnell der Eindruck entstehen kann, dass wir zusammenarbeiten. Dass der Betriebsrat bei Mitarbeiterkonditionen die Interessen der Belegschaft vertreten muss, ist an sich klar. Und wenn er das unterschreibt, dann kann nachher auch schnell gesagt werden, dass er was schlechtes rausgeholt hat. So aber kann der Betriebsrat sagen: "Das ist von Untemehmensseite festgesetzt. "

In die gleiche Richtung zielen die Beweggründe des Betriebsratsvorsitzenden von M5, der sich an einem "heißen Eisen" lieber nicht die Finger verbrennen wollte: M5-BR: [ ... ] Und dann haben wir eine sogenannte Parkplatzordnung. Da haben wir auf dem Gelände Parkplätze, aber nicht für alle. Und wer kriegt jetzt einen Parkplatz und wer kriegt keinen? Das ist allerdings so, dass wir da die Möglichkeit hätten, erzwingbar eine Betriebsvereinbarung dazu abzuschließen. Das war früher mal ein Lieblingsthema von mir. Ich habe gemerkt: Das ist ein ganz heißes Eisen, absolut eher unwichtig aus meiner Sicht, aber bei der Belegschaft absolut wichtig, und da habe ich denn die Finger von gelassen. Und dann haben wir das, was hier ewig schon war, als Regelungsabrede akzeptiert. [ ... ] Das heißt, wer hier am längsten ist, der hat einen Parkplatz, und wer hier weniger lang ist, der hat keinen. [ ... ]

Als ein Thema mit erheblicher praktischer Relevanz erweist sich der Umgang mit Alkoholabhängigkeit, der in mehreren Betrieben in Form von Regelungsabreden zwischen den Betriebsparteien abgestimmt wurde. So schildert ein Betriebsratsvertreter von M9: M9-BRl: [ ... ] Das Problem Alkohol haben wir eigentlich auch nur mündlich vereinbart. [ ... ] Alles das, was mit Alkohol zu tun hat, wird sofort zwischen Arbeitgeber und Be7 Brecht

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Teil!: Empirische Untersuchung

triebsrat abgestimmt. Und dem Einzelnen wird innerhalb von Sekunden die Kündigung vorgelegt und anschließend geht er dann zur Kur. Und da haben wir also eine riesengroße Erfolgsquote mit, dass nur dieser spontane, sofortige gemeinsame Druck auf den Alkoholabhängigen auch den Erfolg bringt. Das haben wir nie schriftlich vereinbaren müssen und wir hatten auch noch nie irgendwo eine Disharmonie da in der Richtung. Und nur das funktioniert. Also es wird keiner gedeckt, ob der nun in leitender Funktion ist oder nicht in leitender Funktion. [ ... ]

Frage: Es wird gekündigt mit Wiedereinstellung. ..

M9·BRl: Nein, es wird nicht gekündigt. Er hat jetzt nur die Möglichkeit, sich da eine Viertelstunde Gedanken drüber zu machen, dass er zur Kur geht. Um dann zur Kur zu gehen, muss er sagen: "Ja ". Und ansonsten ist der draußen. Und es ist noch nie einer rausgeflogen. Weil die sind dann alle zur Kur gegangen. [ ... ]

Die Wirksamkeit ihres Vorgehens sehen die Betriebsparteien in diesem Fall vor allem durch den Überraschungseffekt gewährleistet. Die Festlegung des Ablaufs in Form einer Betriebsvereinbarung würde zu einem Bekanntwerden der verfolgten Strategie führen, was die beabsichtigte überraschende Wirkung gefährden könnte. Auch taktische Überlegungen von Seiten des Arbeitgebers können maßgeblich dafür sein, weshalb eine Regelungsabrede statt einer Betriebsvereinbarung gemacht wird. Dies zeigen insbesondere die Beispiele ausgelaufener Sozialpläne, die ohne formale Gültigkeit weiterhin von den Betriebsparteien als maßgeblich betrachtet werden. Der Personalleiter des Metallbetriebes M12 äußert hierzu: M12·GL: Was jetzt z. B. die Abwicklung der Kündigungen, die wir durchführen müssen, angeht, gibt es einen zentralen Sozialplan, der noch aus . .. Zeiten stammt [gemeint ist, dass der Sozialplan zu einem Zeitpunkt abgeschlossen wurde, als der Betrieb noch Teil eines großen Konzerns war - d. Verf.]. Der wird weiterhin angewandt, zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat einvernehmlich. [ ... ] Man muss vielleicht dazu sagen, dass die Personalfreisetzungen, die hier erfolgen, eigentlich zum überwiegenden Teil mehr oder weniger einvernehmlich - das darf man nicht so laut sagen - gemacht werden in Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat. Das heißt sie werden einfach sozialverträglich gestaltet. Zum einen geht man auf Leute zu, wo man weiß, dass da ein gewisses Interesse da ist, aufzuhören, sei es aus Alters- oder sonstigen Gründen. Das heißt eine normale Abbaumaßnahme, die von Interessenausgleich und Sozialplanverhandlung begleitet wird, trifft bei uns in dem Sinne nicht zu. [ ... ]

Frage: Man hätte das auch als Betriebsvereinbarung abschließen können? M12·GL: Ich muss das vielleicht von der praktischen Seite her beleuchten: [ ... ] Wenn Sie die Kündigung aussprechen, die Regelungen nach dem Sozialplan hat dann jeder Mitarbeiter in der Tasche. Nur wenn es vors Arbeitsgericht geht, dann ist es quasi nur die Basis und der Vergleich im Arbeitsgericht liegt zwangsläufig immer darüber. Das heißt, wenn wir jetzt sagen, das was wir jetzt mündlich geregelt haben, schreiben wir so fest, dann haben wir unsere Basis einfach nur nach oben verschoben. Für den Fall, dass mal wirklich haarige Fälle auf uns zukommen, müssten wir dann aufgrund der arbeitsgerichtlichen Praxis von dieser Basis aus zwangsläufig wieder nach oben gehen.

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

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Sowohl Betriebsrat als auch Arbeitgeber können somit unter Umständen aus taktischen Gründen die Form der Regelungsabrede einer Betriebsvereinbarung vorziehen. 3. Flexible Anpassung an betriebliche Belange Wie bereits erwähnt, verzichten Betriebsrat und Arbeitgeber insbesondere dann auf den Abschluss einer Betriebsvereinbarung, wenn es sich um eine Angelegenheit von untergeordneter oder lediglich kurzfristiger Bedeutung handelt. In diesen Fällen lässt sich eine pragmatische Herangehensweise der Betriebsparteien vermuten, die angesichts der angenommenen geringen Relevanz eine weniger formale Handhabung der Angelegenheit als ausreichend betrachten. Teilweise erweist sich der Verzicht auf Betriebsvereinbarungen aber auch als Ausdruck eines Verständnisses von Flexibilität, das sich gegen als zu "starr" empfundene normative Vorgaben wendet. Das formale Regelwerk einer Betriebsvereinbarung wird hierbei zugunsten einer an den betrieblichen Belangen orientierten Handhabung "flexibilisiert". So äußerte ein Betriebsratsvorsitzender auf die Frage nach den Gründen für den Abschluss von Regelungsabreden: eS-BR: Weil es doch hin und wieder mal irgendwo Veränderungen gibt. Da muss man sich wieder mit der ganzen Geschichte neu auseinandersetzen. Und so kann man sagen: ,,0. k., da haben sich Veränderungen ergeben. Das müssen wir so und so dann jetzt neu regeln. " Und da haben wir auch eine gewisse Flexibilität da drin zu behalten. Wenn man dann so eine Kladde zusammengestellt hat - eine Betriebsvereinbarung -, dann hat man sehr starre Richtlinien. Und wir sind eigentlich hier so aus unserem Gremium sehr auf Flexibilität bedacht. Damit das Ganze auch sehr harmonisch läuft, auch zum Betrieb hin. Dass man da auf dem schnellen, kurzen Dienstweg das Ganze dann regelt. Es gibt auch schon mal Vereinbarungen mit einer Protokollnotiz oder irgendwas, wo man das dann eben festschreibt: "So, das ist dann erst mal so Fakt. " Ja, und irgendwann ist es dann wieder mal weg. Dann verändert man das wieder, das eine oder andere. Wir haben hier so einen kleinen Betriebsteil, da müssen wir von der Arbeitszeit her unheimlich beweglich sein. [ ... ] Die sind da sehr starken Schwankungen unterlegen. [ ... ] Und da zauben man dann die unmäglichsten Schichtpläne zusammen. Die Kollegen tragen das aber mit, weil die eben sagen: "Das sichen unseren Arbeitsplatz. " Und dann ist es auch so in Ordnung.

Ein üblicher Anlass für die Vereinbarung einer Regelungsabsprache besteht ferner darin, zunächst einen Probelauf durchzuführen. Erweist sich die Absprache als praktikabel, kann eine schriftliche Fixierung in Form einer Betriebsvereinbarung erfolgen. Dieser Beweggrund wird von einem Mitglied der Geschäftsführung des Metallbetriebs M21 hinsichtlich der Einführung eines Langzeitarbeitskontos genannt: M21·GL: [ ... ] Wenn ich noch einmal auf das dicke Beispiel Zeitkonten zurückgehe: Als wir das angefangen haben, da haben wir ein ganzes Paket auch mit neuen Schichtmodellen definien, wir haben da ein neues Vierschichtmodell kreien als Teil dieses Flexi-Paketes, wir haben versetzte Zweischichtmodelle kreien, wir haben mit Springern gearbeitet, was 7*

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Teil 1: Empirische Untersuchung

es nicht gab, usw., und das war ja doch Neuland für beide Seiten. Und ich habe damals mit L. [Betriebsratsvorsitzender - d. Verf.] vereinbart: "Unterschreiben wir das mal nicht, sondern machen wir das ab morgen und lernen einfach mal. Wenn das in einem Jahr dann "feingetuned werden kann, dann machen wir davon mal eine Betriebsvereinbarung. D. h., wir haben mit diesen Zeitkonten angefangen, ohne dass die eine Seite eine Unterschrift der anderen Seite hatte. Das war ja für beide ein gewisses Vabanquespiel, aber auch ein Vertrauen zu sagen, wenn das nicht geht, wenn wir den politischen Druck nicht aushalten oder so viel Druck von der Belegschaft kriegen. .. Da waren ja nicht unbedingt alle begeistert. [ ... ] Das war auch ein Prozess und weil wir das gesehen haben und auch für uns Unwägbarkeiten damit verbunden waren, haben wir gesagt: "Wir machen das im Rahmen einer Absprache und machen da gar nicht erst ein formales Papier draus, das machen wir in einem Jahr, wenn wir wissen, wie läuft es [ ... ]. H

H

H

Sowohl die Erprobung neuer betrieblicher Modelle als auch die abweichende Praktizierung bestehender Normen weisen damit eine Gemeinsamkeit auf: In beiden Fällen geht es um eine Abbedingung gültiger tariflicher oder betrieblicher Regelungen zugunsten einer an bestimmten betrieblichen Belangen ausgerichteten Praxis. 4. Vermeidung unerwünschter Öffentlichkeit Wie bereits dargestellt wurde,145 haben die Betriebsparteien mitunter ein Interesse daran, dass von ihnen getroffene Vereinbarungen nicht nach außen gelangen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt kann hierbei die Vermeidung einer Kenntnisnahme durch die Konzernleitung sein,146 allerdings geht es in Einzelfällen auch um eine Geheimhaltung tarifwidriger Vereinbarungen gegenüber den Tarifvertragsparteien. 147 Die örtliche Unabhängigkeit gegenüber der Konzernleitung bestätigt der Betriebsrat von es als maßgebliches Motiv für den Abschluss einer Regelungsabrede: Frage: Wie sieht das aus mit Regelungsabsprachen: Stimmen Sie die auch mit der Gewerkschaft ab?

CS·BR: Nein.

Frage: Die machen Sie hier. .. ? CS-BR: Das machen wir selber. Die stimmen wir auch nicht mit L. [Sitz der Konzemleitung - d. Verf.] ab. Das sind so Dinge, die wir dann hier selber regeln. Wo wir sagen: "Da fahren wir besser mit als in L Und das bleibt dann auch hier bei uns, dass das nicht irgendwo rüberschwappt nach da hinten hin, dass die sagen: "Ach, die machen das ja so [ ... ] H.

H.

Siehe oben § 2 11. 1. Ein solches Beispiel schildert auch A. Bosch, 1997, S. 163 f. 147 Vergleiche hierzu auch die dargestellten Beispiele aus den Betrieben M9 und M20 oben unter § 2 11. 1. 145

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§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

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Frage: Aber das ist interessant. D. h., es könnte sein, dass Sie mitunter eine Regelungsabsprache treffen, damit die das in L. nicht mitbekommen? C5-BR: Ja klar.

Um welche Art von Absprachen es in derartigen Fällen gehen kann, beleuchtet die Aussage zweier Betriebsratsvertreter des Betriebes M9: M9-BR2: Es gibt da bestimmte Sachen, die als Regelungsabsprache hier im Werk bleiben. Wenn es eine Betriebsvereinbarung ist, dass man die eventuell dann auch in G. [Sitz der Konzernleitung - d. Verf.] absegnen oder auch vorlegen muss. Von daher ist das eine Sache, die man hier machen kann. [ ... ]

M9-BRl: Ja. Also es ist so, [ ... ] dass viele Arbeitnehmer ins Angestelltenverhältnis gehören würden aufgrund ihrer Tätigkeit. Und normalerweise müsste man das mit Handstreich umsetzen, dann wären das so ungefähr noch mal 30 mehr. Da wir aber wissen, dass diese 30 mehr in der Geschäftsleitung in ... [Sitz der Konzernleitung - d. Verf.] gesehen wird als: "Der Wasserkopf wird aufgebläht", haben wir so ein stillschweigendes Abkommen und sagen: ,,0. k., jedes Jahr zwei". Die lassen wir so nach und nach reinrücken.

Im Fall des Betriebs M9 handelt es sich zwar um eine tarifwidrige Eingruppierungspraxis, Grund für die Vermeidung des Bekanntwerdens ist aber nicht eine befürchtete Reaktion seitens der Tarifvertragsparteien, sondern die Angst vor Rationalisierungsdruck durch die Konzernleitung. Es lassen sich jedoch auch Beispiele benennen, in denen mittels tarifwidriger Handhabungsabsprachen eine Kenntnisnahme durch eine oder beide Tarifvertragsparteien verhindert werden soll. Dementsprechend äußert sich der Personalleiter von MlO: Frage: Welche Ursache hat dieses Zwischen-den-Zeilen-lesen? Wenn man etwas einvernehmlich regeln will, könnte man es ja auch reinschreiben. MIO-GL: Unser Betriebsrat tut sich halt bei manchen Formulierungen hart, weil er dann wieder Probleme mit der IG Metall bekommt und dann macht man es halt so.

Die Verwendung von Regelungsabreden zur Vermeidung unerwünschter Öffentlichkeit kann allerdings auch unter Einbeziehung der Tarifvertragsparteien erfolgen. Dies lässt sich besonders gut an der Einführung eines Langzeit-Arbeitszeitkontos im Betrieb M21 nachvollziehen. Eine solche Vereinbarung, die mit den geltenden Tarifverträgen der Metallindustrie nicht in Übereinstimmung zu bringen war, stellte tarifpolitisch ein "heißes Eisen" dar. Dementsprechend bestand auch von Seiten der Tarifvertragsparteien ein Interesse daran, einen derartigen Versuch mit einem gewissen Modellcharakter möglichst nicht publik werden zu lassen. Dieses Interesse bestätigt ein Arbeitgebervertreter: M21-GL: [ ... ] Das war auch für ihn [den Betriebsratsvorsitzenden - d. Verf.] ein heißes Eisen und ich hatte dann auch ein Vier-Augen-Gespräch mit einem Vorstandsmitglied der IG Metall, wo wir Konditionen vereinbart haben. Das hieß damals 94/95: Ich gebe kein Interview - weder an das Managermagazin, noch sonst wo - über diesen tollen Erfolg und dafür schluckt die IG Metall einfach die Fakten, wie sie sind, und auch der Betriebsrat sagt: " Wir gehen damit nicht an die große Glocke ".

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Teil 1: Empirische Untersuchung

Die Vorzüge einer infonnellen Vereinbarung benennt der Erste Bevollmächtigte der zuständigen IGM-Verwaltungsstelle: Frage: Wie lang ist dieses Arbeitszeitkonto ? IGM-7: 3 Jahre. Dadurch. dass die Vereinbarung nicht unterschrieben ist. gibt es das Ding eigentlich gar nicht. [ ... ]

Die mündliche Fonn dieser Regelungsabrede hat somit den scheinbaren l48 Vorteil, dass je nach Opportunität die Vereinbarung als nicht existent bezeichnet werden kann.

5. Rechtliche Gründe Teilweise wurden von den befragten Gesprächspartner auch rechtliche Gründe für die Wahl einer Regelungsabrede anstelle einer Betriebsvereinbarung angegeben. Mitunter findet sich die etwas diffuse Vorstellung von einer weniger starken rechtlichen Bindung durch eine Regelungsabrede. Auf die Frage nach den Motiven bei der gewählten Regelungsfonn äußert der Personalleiter von M 11: Mll-GL: Ja. da gibt's mehrere Gründe. Zunächst einmal sehe ich die Regelungsabsprache als das etwas schwächere rechtliche Rahmenwerk. was die Bindungspflicht von beiden Seiten angeht. Das hat ja gewisse Hintergründe. Wenn Sie eine Betriebsvereinbarung haben und jemand kommt. der diese Hintergründe nicht kennt. nicht am Entstehungsprozess beteiligt und zeitlich nicht präsent war, der weiß nicht. wieso so eine Regelung X zu Stande gekommen ist. Wenn Sie eine Regelungsabsprache haben. dann haben Sie meiner Meinung nach eben auch viel über Hintergrund, Entstehungsgeschichte einer solchen Vereinbarung und dadurch eigentlich das, was die Vertragsparteien wollen, stärker ausgedrückt als in Form einer Betriebsvereinbarung. Bei der Betriebsvereinbarung sind Sie gezwungen, klare, eindeutige Regelungen zu treffen. Regelungsabsprachen lassen noch Diskussionsspielräume, in gewissem Maße. Ich bin sowieso ein Freund von Regelungsabsprachen. Ob das nicht teilweise dann eine Betriebsvereinbarung ist, sei mal dahingestellt, rein rechtlich.

Die von dem Personalleiter geäußerten Zweifel an der rechtlichen Qualität der Vereinbarung weisen darauf hin, dass die Verbindlichkeit einer solchen Regelungsabrede nicht geringer ist als bei einer entsprechenden Betriebsvereinbarung. Der Hintergrund erscheint vielmehr in einer als leichter empfundenen Möglichkeit zu bestehen, sich von derartigen Vereinbarungen wieder lösen zu können. Diesen sowie einen weiteren Aspekt beleuchtet der folgende Auszug aus dem gleichen Interview: Mll-GL: [ ... ] Hier habe ich zum Beispiel eine Regelungsabsprache über die Zurverfügungstellung von Arbeitsbekleidung, Sicherheitsschuhen für Aushilfen. Das könnte man auch in einer Betriebsvereinbarung machen. Das machen wir aber nicht. Weil das fließend ist. Jedes Jahr wird neu beurteilt. Es kann ja sein. dass im nächsten Jahr verhandelt wird, 148 Zu den faktischen Grenzen einer solchen Geheimhaltung vgl. die Ausführungen oben unter § 211. 1. (am Ende).

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

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dass die Schüler und Studenten als Einstelllohn zwei Mark mehr bekommen. So, und ich würde sagen: "Im Gegenzug müssen wir dann die getroffene Regelungsabsprache auflösen. " Deswegen gibt es auch nicht diese Klauseln, die in einer Betriebsvereinbarung sind: Ab wann gilt sie? Wann endet sie? Wie ist sie kündbar? Wie wird sie ersetzt? Wird sie ersetzt oder läuft sie einfach so aus? Das finden Sie in aller Regel in der Regelungsabsprache nicht. Das ist für mich rechtlich der große Unterschied. Es ist eine Absprache, auf die beide Betriebsparteien verweisen können, die aber eben einen bestimmten Hintergrund hat und meistens auch eine bestimmte Zeit. Hier habe ich eine Regelungsabsprache für Sonderschichten an Wochenenden für bestimmte Bereiche, Pausenregelung und Bezahlung. Da gibt's dann auch ganz ausführlich die Gründe, Hintergründe. Weil Sie dann sofort wieder teilweise in die Bredouille kämen, wenn Sie eine Betriebsvereinbarung machen, dass dann irgendwo nach einem halben Jahr jemand kommt aus einem anderen Bereich und sagt: "Ich will das jetzt aber auch. " Betriebsrat und Untemehmensleitung waren sich aber einig: Das ist ein Sonderfall, aus den und den Gründen - die und die Anlage, besondere Situation, Reparatur oder sonst etwas - und das soll eben nur für diesen Bereich gelten. Aber wenn Sie eine Betriebsvereinbarung haben, müssen Sie sich auch jederzeit am Gleichbehandlungsgrundsatz messen lassen. Das ist auch der Unterschied. Das heißt, es können also Themen aus bestimmten Bereichen sein, es können zeitlich begrenzte Themen sein, es können erklärungsbedürftige Themen sein. Dann wähle ich in aller Regel die Regelungsabsprache.

Der Verweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz ist in rechtlicher Hinsicht problematisch. Nach diesem Grundsatz dürfen Arbeitnehmer, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, nicht aus sachfremden Gründen vom Arbeitgeber unterschiedlich behandelt werden. 149 Demzufolge kommt es allein auf das Verhalten des Arbeitgebers und nicht darauf an, ob der rechtliche Hintergrund einer Ungleichbehandlung in einer Regelungsabrede oder einer Betriebsvereinbarung besteht. Allerdings kann sich in optischer Hinsicht ein Unterschied ergeben: Ein aus einer Betriebsvereinbarung folgender Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz wird eher auffallen als eine stärker verdeckte Ungleichbehandlung aufgrund einer Regelungsabrede. 150 Insofern ist der Grund für die Wahl der Regelungsform kein originär rechtlicher, sondern es handelt sich vielmehr um eine Frage der nach außen hin erzielten Optik. Das auch durch den Personalleiter von Mll zum Ausdruck gebrachte Gefühl, sich leichter von einer Regelungsabrede wieder trennen zu können, stellt für viele Arbeitgeber ein wesentliches Motiv dar. Ebenfalls bestätigt dies der Betriebsratsvorsitzende von M7: M7-BRl: [ ... ] Das [z. B. Schmutzzulage oder Fahrkostenzuschuss - d. Verf.] sind alles Dinge, die wir zwar per Betriebsvereinbarung hätten regeln können, aber leider nicht geregelt gekriegt haben, weil die [die Geschäftsleitung - d. Verf.] sich verweigert haben. Dann haben sie weitgehend unsere Forderung aufgenommen und per einseitiger Ankündi-

MünchArbR-Richardi, 2000, § 14 Rn. 1. Auch Däubler weist auf das Problem heimlicher Diskriminierungen hin, vgl. Däubler, Arbeitsrecht 2, 1998, Rn. 541. 149

150

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gung rausgehängt. Stets der Gefahr ausgesetzt, dass sie sie auch wieder zurückziehen können.

Frage: Das war auch der Grund, warum es nicht zu einer Betriebsvereinbarung gekommen ist, diese Möglichkeit, sich von Regelungsabreden oder von einseitigen Ankündigungen einfacher wieder lösen zu können? M7-BRl: Ja. Das ist der einzige Grund. Frage: Hat das denn faktisch Bedeutung? [ ... ] M7-BRl: Ja, Nachwirkungen. Bei der klassischen Betriebsvereinbarung zu den Gegenständen, die man laut Betriebsverfassung regeln darf, haben wir eine Nachwirkung - solange, bis was Neues verabschiedet ist. Diesen Rechtszustand gibt es bei der Regelungsabrede nicht. Wenn die einseitig erklären - in der Regel schreiben sie es auch rein: "Das ist eine übertarifliche, freiwillige, jederzeit widerrujbare Leistung. " -, dann ist das halt weg. Per einseitiger Willenserklärung. [ ... ]

Wie von dem Betriebsrat benannt, besteht ein rechtlich relevanter Unterschied zwischen Regelungsabrede und Betriebsvereinbarung in der Frage der Nachwirkung: Betriebsvereinbarungen zu Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung gelten gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG auch nach Ablauf oder erfolgter Kündigung solange weiter, bis eine neue Abmachung getroffen wirdY1 Umstritten ist hingegen, ob in entsprechender Anwendung der Vorschrift auch eine gekündigte Regelungsabrede zu mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten nachwirkt. 152 Einigkeit besteht allerdings in der Literatur darin, dass Regelungsabreden zu Fragen außerhalb des Themenkatalogs von § 87 Abs. I BetrVG keine Nachwirkungskraft entfalten. 153 Die vom Betriebsratsvorsitzenden aufgezählten Beispiele betrafen jedoch gerade solche nicht mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten, so dass auch eine entsprechende Betriebsvereinbarung nicht gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG nachwirken würde. Entgegen der Aussage fehlt also dem genannten Motiv für die Vermeidung einer Betriebsvereinbarung die zugeschriebene rechtliche Bedeutung. Ein anderer Betriebsratsvorsitzender ist sich dessen bewusst, dass insofern ein rechtlicher Unterschied zwischen einer Regelungsabrede und einer freiwilligen Be151 D/K/K-Berg, 2002, § 77 Rn. 59; F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 177; Klein, 1997, S. 60 ff.; Schaub, BB 1995, S. 1639, 1640 f. Zu Problemen der Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen, die sowohl mitbestimmungspflichtige als auch nichtmitbestimmungspflichtige Teile enthalten, vgl. Roßmanith, DB 1999, S. 634. 152 BAG 23. 6. 1992, AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit; BAG 27. 10. 1998, AP Nr. 99 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung unter B. I. 3. b); D/K/K-Berg, 2002, § 77 Rn. 82; F/K/H/E/S, 2002, § 77 Rn. 226; Stege/Weinspach/Schiefer; 2002, § 77 Rn. 45; Weiss/Weyand, BetrVG, 1994, § 77 Rn. 27. Gegen eine analoge Anwendung von § 77 Abs. 6 BetrVG auf Regelungsabreden sprechen sich aus: BAG (Großer Senat) 3. 12. 1991, AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung unter C. I. 4. c); Galperinl Löwisch, BetrVG, 1982, § 77 Rn. 105; Heinze, NZA 1994, S. 580, 584; GK-BetrVG-Kreutz, 2002, § 77 Rn. 21 und 398; MünchArbR-Matthes, 2000, § 328 Rn. 103; Raab, SAE 1993, S. 167, 171 f.; Richardi, BetrVG, 2002, § 77 Rn. 234; Senne, S. 66 ff. 153 Giesler; 1997, S. 51.

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

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triebsvereinbarung nach § 88 BetrVG nicht besteht. Dennoch strebt er eine Betriebsvereinbarung an: C4-BR: [ ... ] Dann haben wir [ ... ] 10 vom Arbeitgeber erlassene Richtlinien, wobei wir bei einer Richtlinie gerade dabei sind, die zu einer Betriebsvereinbarung zu machen.

Frage: Warum wollen Sie die Richtlinie in eine Betriebsvereinbarung umgewandelt ha-

ben?

C4-BR: Es geht da um den Tarifvertrag. 1m Tarifvertrag steht etwas drin über Erschwerniszulagen. Und da gibt es hier eine Richtlinie, wenn mit Gehörschutz, mit Maske, gearbeitet wird [ ... ], ist eine Erschwerniszulagen zu zahlen, die über dem liegt, was der Tarifvertrag vorsehen würde. Irgendwann hatte man sich mal darauf geeinigt. Und da hat der Arbeitgeber ein Stück Papier voll geschrieben und gesagt: "Das zahle ich. " Kann er natürlich jederzeit nicht mehr tun. Deswegen drängen wir auf eine Betriebsvereinbarung. Auch das ist zwar nur eine freiwillige Betriebsvereinbarung, die wäre nicht erzwingbar. Auch die könnte er jederzeit kündigen. Aber die hat immer noch einen etwas anderen rechtlichen Stellenwert als so eine Richtlinie. In dieser Betriebsvereinbarung steht auch nichts weiter drin als das, was in der Richtlinie ist. Es heißt dann Betriebsvereinbarung und wird von beiden Seiten unterzeichnet. Ist eigentlich unterschriftsreif und ist noch nicht zur Unterzeichnung gekommen.

Obwohl ein maßgeblicher rechtlicher Unterschied nicht besteht und auch nicht behauptet wird, hätte aus Sicht des Betriebsrates eine Betriebsvereinbarung "einen etwas anderen rechtlichen Stellenwert". Die von den jeweiligen Betriebsräten gemachten Aussagen decken sich in der Hinsicht, dass die Gefahr der arbeitgeberseitigen Kündigung einer Betriebsvereinbarung als weniger groß betrachtet wird als die Rücknahme einer aufgrund einer Regelungsabrede gewährten freiwilligen Arbeitgeberleistung. Es spielt dabei offensichtlich keine Rolle, dass die Möglichkeit einer einseitigen Kündigungserklärung in beiden Fällen gleich ist. Dementsprechend handelt es sich nicht originär um einen rechtlichen Grund für die Wahl der Regelungsform, sondern es dürften eher psychologisch motivierte Entscheidungsgründe vorliegen: Die Kündigung einer Betriebsvereinbarung erscheint wenn auch nicht rechtlich, so doch zumindest faktisch schwieriger als die Rücknahme einer freiwilligen Arbeitgeberleistung.

6. Zwischenergebnis Es zeigt sich, dass die Gründe für einen Verzicht auf Betriebsvereinbarungen zugunsten von Regelungsabreden vielfältig sein können. So kann beispielsweise eine nicht formgebundene Absprache als ein Vertrauenssignal eingesetzt werden. Eine informelle Abstimmung zwischen den Betriebsparteien verfolgt mitunter auch den Zweck, die Mitarbeiter über die Existenz einer entsprechenden Absprache im Unklaren zu lassen. Für den Betriebsrat kann dies insbesondere dann von Bedeutung sein, wenn er keine formelle Verantwortung für unangenehme Entscheidungen übernehmen möchte. Auf eine Betriebsvereinbarung wird in der be-

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Teil 1: Empirische Untersuchung

trieblichen Praxis ferner häufig dann verzichtet, wenn die betreffende Regelung nur kurzfristiger Natur oder von geringer Bedeutung ist. Teilweise erfolgt aber auch mittels Regelungsabrede die Erprobung neuer betrieblicher Modelle sowie die abweichende Handhabung betrieblicher oder tarifrechtlicher Normen. Gerade in derartigen Fällen kann ein Interesse der Betriebsparteien bestehen, ein öffentliches Bekanntwerden ihrer Vereinbarung zu vermeiden. Zielrichtung der durch die Form der Regelungsabrede angestrebten Geheimhaltung war in den erfassten Fällen überwiegend die Konzernleitung, teilweise jedoch auch die Tarifvertragsparteien. Es fällt auf, dass das wichtigste rechtliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede - die unmittelbare und zwingende Wirkung der Betriebsvereinbarung - von den Befragten nicht als Grund für die Wahl der Regelungsform angeführt wurde. Die benannten rechtlichen Gründe halten einer genaueren Prüfung hinsichtlich ihrer juristischen Stichhaltigkeit nicht stand. In der Wahrnehmung der Betriebsparteien hat die Betriebsvereinbarung jedoch im Hinblick auf ihre Dauerhaftigkeit einen höheren Stellenwert als die Rege1ungsabrede. Die (arbeitgeberseitigen) Möglichkeiten eines einseitigen Lösens von Regelungsabreden werden im Vergleich zur Betriebsvereinbarung als größer betrachtet.

V. Faktische Verbindlichkeit Zu klären bleibt die Frage, welche faktische Verbindlichkeit Regelungsabreden entfalten. Dabei ist zwischen der Bindungswirkung für die Betriebsparteien sowie der Bindungswirkung für die einzelnen Arbeitnehmer zu unterscheiden. 1. Bindungswirkung für Betriebsparteien

In der betrieblichen Praxis findet sich nicht selten die teilweise etwas unklare Vorstellung von einer schwächeren rechtlichen Wirkung der Regelungsabrede im Vergleich zur Betriebsvereinbarung. 154 Es stellt sich somit die Frage, ob hieraus eine geringere Verbindlichkeit von Regelungsabreden im Verhältnis zwischen den Betriebsparteien abzuleiten ist. Die Äußerungen der Betriebsparteien legen allerdings nahe, dass sie sich in starkem Maße auch an solche Absprachen gebunden fühlen, die nicht die rechtliche Qualität einer Betriebsvereinbarung aufweisen. Das Nebeneinander dieser Faktoren schildert ein Vertreter des Betriebsrates im UnternehmenC4:

154

Vgl. oben unter § 4. IV. 5.

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

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C4-BR: [ ... ] Der Unterschied ist halt, dass eben Regelabsprachen nicht ganz so kräftig in der Rechtssprache ist wie eine Betriebsvereinbarung. Aber das Ding [gemeint ist eine bestimmte Regelungsabrede - d. Yerf.] ist beiderseits akzeptien. [ ... ]

Einerseits wird hier der Regelungsabrede eine geringere Rechtswirkung zugesprochen, anderseits jedoch die beiderseitige Akzeptanz der Absprache hervorgehoben. Es finden sich eine ganze Reihe von Hinweisen, dass Betriebsrat und Arbeitgeber sich durch Vereinbarungen in Form von Regelungsabreden genauso stark gebunden fühlen wie durch Betriebsvereinbarungen. Teilweise wird überhaupt kein Unterschied zwischen beiden Regelungsformen gesehen, wie die Aussage eines Betriebsratsvertreters von M9 belegt: M9-BRl: Ja, wenn nw.n den Mut nicht hatte, "Betriebsvereinbarung" drüberzuschreiben, dann heißt das anschließend Regelungsabrede. Der Charakter ist für mich immer schon gleich geblieben. Solange beide Unterschriften drunter stehen, könnte man das auch Vertrag nennen.

Ebenso sieht dies der Personalleiter des Unternehmens: M9-GL: [ ... ] Ob da "Regelungsabrede" oder "Betriebsvereinbarung" oder sonst etwas draufsteht . .. Ich sage: "Ich schreib' noch ,Aushang' drüber und ich hänge das gleich nach draußen. " Das ist eine Willensbekundung beider Paneien und. .. Für mich ist es kein Unterschied und mir hat auch noch kein Jurist da einen Unterschied erklären können.

Wie bereits dargelegt,155 kann es sich in solchen Fällen tatsächlich um Betriebsvereinbarungen handeln. Das Beispiel belegt aber den in der Praxis häufig anzutreffenden Fall, dass ein klarer rechtlicher Unterschied von Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede nicht benannt werden kann. Folglich wird auch im Hinblick auf die Bindungswirkung ein solcher Unterschied nicht gesehen, was auch eine zutreffende rechtliche Beschreibung ist: In schuldrechtlicher Hinsicht verpflichten Betriebsvereinbarungen wie auch Regelungsabreden in gleicher Weise die Vertragsparteien zur Einhaltung des Vereinbarten. Zwar werden mitunter die Chancen einer Lösung von Regelungsabreden als höher bewertet, hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine rechtliche Unterscheidung. Insofern lassen sich hinsichtlich der Bindungswirkung zwischen den Betriebsparteien weder rechtliche noch faktische Unterschiede feststellen. 2_ Bindungswirkung für Arbeitnehmer Regelungsabreden entfalten im Gegensatz zu Betriebsvereinbarungen keine unmittelbare und zwingende Wirkung auf das einzelne Arbeitsverhältnis. Um rechtlich verbindlich zu werden, bedürfen sie daher einer Umsetzung im Rahmen des Direktionsrechts oder durch individualvertragliche Vereinbarung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht in faktischer Hinsicht Regelungsabreden eine vergleichbare Bindungswirkung entfalten wie Betriebsvereinbarungen. 155

Siehe oben unter § 4 1. 1.

108

Teil I: Empirische Untersuchung

a) Fehlende einzelvertragliche Umsetzung von Regelungsabreden

In einigen Betrieben werden Regelungsabreden wie Betriebsvereinbarungen behandelt, indem ihr Inhalt unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Ein Beispiel hierfür schildert ein Geschäftsführer des Betriebs M4 auf die Frage nach der Umsetzung von Regelungsabreden: Frage: Also wenn Sie z. B. sagen würden: " Wir verlegen die Mittagspause um eine halbe Stunde vor oder zurück in so einem Protokoll" [durch den Geschäftsführer protokollierte Absprachen von Betriebsrat und Arbeitgeber - d. Verf.]. Dann müssten Sie das noch durch Änderung der Betriebsordnung meinetwegen verbindlich machen.

M4-GLl: Das tun wir eben nicht. Das machen wir eben über s Protokoll. Wir haben z. B.

die Ausdehnung der Arbeitszeit an der Kundentheke. Das war ein konkretes Beispiel. Wir haben unten am Annahmeschalter die Betriebszeiten geändert. Das haben wir nur übers Protokoll gemacht. Da gibts auch keinen Aushang zu, da gibts auch keine separate Vereinbarung zu. Das haben wir nur übers Protokoll gemacht.

Frage: Wobei im Grunde genommen aus Ihrer Sicht auch nichts dagegen sprechen würde, das wie eine Betriebsvereinbarung praktisch umzusetzen, also eine Betriebsvereinbarung darüber zu machen, die beide Seiten dann unterschreiben. Wird das nur deswegen nicht gemacht, weil man den Aufwand scheut?

M4-GLl: Ja sicher, den Aufwand, aber man hats ja besprochen. Was soll ich da noch?

Eine fehlende ausdrückliche Umsetzung der Absprache für das individuelle Arbeitsverhältnis zeigt eine faktische Gleichwertigkeit von Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede in der betrieblichen Praxis. Auch wenn einer solchen Protokollnotiz nicht der rechtliche Status einer Betriebsvereinbarung zukommt, wird sie dennoch so behandelt, als ob sie diese rechtliche Qualität aufweise. In derartigen Fällen entspricht die faktische Bindungswirkung von Regelungsabreden der von Betriebsvereinbarungen.

b) Individuelle Entscheidungssituation bei einzelvertraglicher Umsetzung

Erfolgt von Seiten des Arbeitgebers die ausdrückliche individualvertragliche Umsetzung einer Regelungsabrede, so ist zu fragen, wie frei der einzelne Arbeitnehmer in der Vereinbarung einer entsprechenden einzelvertraglichen Absprache tatsächlich ist. Eine direkte Befragung betroffener Arbeitnehmer zur Beantwortung dieser Frage wäre zwar wünschenswert, war jedoch im Rahmen der durchgeführten Untersuchung nicht möglich. Insofern lässt sich mit dem vorliegenden Forschungsmaterial nur über Aussagen der Betriebsparteien ein indirekter Einblick in individuelle Entscheidungssituationen nehmen. Die Betriebsparteien nehmen aber bei der Umsetzung ihrer eigenen Vereinbarungen keine neutrale Position ein, so

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

109

dass es fraglich erscheint, ob die Betriebsparteien entsprechende Konfliktfälle benennen würden. Einen Einblick in die Entscheidungssituation einzelner Arbeitnehmer gewähren jedoch Aussagen mancher Betriebsräte über Konfliktsituationen, in denen der Arbeitgeber gegen den Willen des Betriebsrates eine Regelung durch individualvertragliche Vereinbarungen durchzusetzen versuchte. Im Unternehmen M4 schildert ein Betriebsratsvertreter dies für den Fall einer "freiwilligen" Ableistung von Überstunden: M4-BRl: [ ... ] Es gab immer wieder diese Bestrebungen: "Ach der Betriebsrat, was brauchen wir einen Betriebsrat? Wir machen das auf freiwilliger Basis. " Dann gehen die Abteilungsleiter rum und fragen einzelne Kollegen. Dagegen haben wir aufs Schärfste protestiert. Das gab auch richtig Stunk. Man muss sagen: Mittlerweile ist da der Sprengstoff raus. Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit den Abteilungsleitern ist viel, viel besser geworden. Es ist heute so, dass die Abteilungsleiter vorher zu uns kommen, das mit uns diskutieren: "Wie können wir es machen?" Und diese eigenständigen Sachen sind eher eine Seltenheit geworden, dass man versucht, uns über die Kollegen auszuspielen. Weil: Sie können sich das vorstellen, wenn man einen einzelnen Kollegen als Abteilungsleiter anspricht: "Willst Du Überstunden machen?" Da ist ein Hierarchiegefälle. Und dann ist diese Freiwilligkeit nicht mehr gegeben. Da reagieren wir dann auch in aller Schärfe, wenn wir das merken.

Die scharfe Reaktion des Betriebsrates lässt sich mit seiner Schutzfunktion begründen. Nicht allein die arbeitgeberseitige Anordnung, sondern bereits die Duldung freiwillig geleisteter Überstunden unterliegt der Mitbestimmung des Betriebsrates nach § 87 Abs. I Nr. 3 BetrVG. 156 Die Einräumung eines Mitbestimmungsrechts soll sicherstellen, dass tatsächlich nur erforderlich werdende Überstunden geleistet werden und keine Überlastung einzelner Arbeitnehmer erfolgt. 157 Der einzelne Arbeitnehmer bedarf aufgrund der bestehenden Machtasymmetrie eines solchen kollektiven Schutzes. Allerdings kann auch der Betriebsrat nicht stets diesen Schutz bewirken, wie ein Beispiel aus dem Betrieb Ml6 belegt. Obwohl der für das Unternehmen geltende Tarifvertrag eine Befristung des Arbeitsverhältnisses von maximal 24 Wochen vorsieht, erfolgen befristete Neueinstellungen für zwei Jahre entsprechend der in § I Abs. I BeschFG genannten Höchstgrenze. Dieser klare Verstoß gegen den Tarifvertrag wird vom Betriebsrat hingenommen: Frage: [ ... ] Das ist Konsens zwischen Personalleiter und Ihnen als Betriebsrat, dass man nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz einstellt? M16-BR: Wir akzeptierten das und unternehmen halt nichts. Im Prinzip müsste auch der Einzelne selber was unternehmen. Da hat es dann auch mal Schwierigkeiten gegeben, und zwar dahingehend, dass ein Arbeitnehmer gegen die Befristung geklagt hatte - er hätte vennutlich auch gewonnen. Dann ist das so gewesen, dass der Personalchef alle befriste156 F/K/H/E/S, 2002, § 87 Rn. 144; BAG 27.11. 1990, AP Nr. 41 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit unter B. 11. 1.; BAG 16.7.1991, AP Nr. 44 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit unter B.n.1. 157 BAG 27.11. 1990, AP Nr. 41 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit unter B. n. 1. a) bb).

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Teil I: Empirische Untersuchung

ten Arbeitnehmer; bei denen eine Verlängerung anstand, ins Personalbüro geholt und gefragt hat, ob sie Gewerkschaftsmitglieder sind: .. Wer Gewerkschaftsmitglied ist, kann nicht mehr weiterbeschäftigt werden. " Und das hat dann zu Austritten geführt. Mittlerweile haben wir es dann aber so geregelt, dass wir also diese 24 Monate Befristung akzeptieren und wir als Betriebsrat nichts unternehmen, um da etwas gegen zu machen.

Auch in diesem Fall versuchte der Arbeitgeber eine Regelung gegen den Willen des Betriebsrates mittels einzelvertraglicher Vereinbarungen durchzusetzen. Wahrend jedoch im Unternehmen M4 durch die Intervention des Betriebsrates dieses Bemühen abgewehrt werden konnte, gelang es dem Betriebsrat im Unternehmen M16 nicht, die tarifwidrige Praxis zu verhindern. Der Hinweis, dass der einzelne Arbeitnehmer tätig werden müsste,158 erscheint wenig überzeugend: Wenn nicht einmal der Betriebsrat in der Lage ist, die tarifwidrige Praxis zu unterbinden, wird man dies noch weniger von dem in einer viel stärkeren Abhängigkeitsposition stehenden Arbeitnehmer erwarten können. Der Zustimmungsdruck zum Abschluss eines befristeten Vertrages war vielmehr so stark, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer dem nicht entziehen konnten. Folglich wurde ein Gewerkschaftsaustritt der drohenden Arbeitslosigkeit vorgezogen. Obwohl der Betriebsrat eigentlich gegen die tarifwidrige Befristungspraxis war, konnte er somit in diesem Fall nicht seiner Funktion einer Überwachung der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Normen (vgl. § 80 Abs. I Nr. 1 BetrVG) gerecht werden. Es ist keinesfalls überraschend, dass sich der einzelne Arbeitnehmer in einer derartigen Situation dem auf ihn ausgeübten Druck nicht entziehen kann. Hieraus lassen sich Schlussfolgerungen auf die Entscheidungssituation von Arbeitnehmern in solchen Fällen ziehen, in denen eine zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarte Regelungsabrede mittels individual vertraglicher Vereinbarung umgesetzt werden soll. Wenn ein Arbeitnehmer in bestimmten Situationen faktisch nicht einmal seine Zustimmung verweigern kann, obwohl der Betriebsrat eine entsprechende Regelung ablehnt, so gilt dies erst recht, wenn hinsichtlich der zu vereinbarenden einzelvertraglichen Regelung Einigkeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat besteht. Die Existenz einer Regelungsabrede führt dann zu einer schuldrechtlichen Bindung des Betriebsrates, die verhindert, dass er eine Schutzfunktion für solche Arbeitnehmer ausüben kann, die eine derartige Regelung ablehnen.

3. Fazit Regelungsabreden entfalten in der betrieblichen Praxis einen hohen Grad an faktischer Verbindlichkeit. Das zeigt sich zum einen darin, dass die Bindungswirkung zwischen den Betriebsparteien nicht geringer ist als bei Betriebsvereinbarungen. 158 In rechtlicher Hinsicht ist die Lage eindeutig: Ein Arbeitgeber darf die Einstellung eines Bewerbers nicht davon abhängig machen, dass dieser nicht Mitglied einer Gewerkschaft ist; vgl. BAG 20.3.2000, EzA Nr. 61 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung unter 11.2. d) aa).

§ 4 Bedeutung von Regelungsabreden in der betrieblichen Praxis

111

Zwar besteht mitunter die Wahrnehmung, sich faktisch leichter von Regelungsabreden als von Betriebsvereinbarungen wieder lösen zu können. Dadurch wird jedoch die Verbindlichkeit der Regelungsabrede für die Dauer ihrer Geltung nicht in Frage gestellt. Im Hinblick auf die durch die Regelungsabrede entfaltete tatsächliche Bindungswirkung für die betroffenen Arbeitnehmer lässt sich nicht feststellen, dass diese geringer ist als bei Betriebsvereinbarungen. Teilweise wird sogar auf eine individualvertragliche Umsetzung verzichtet, so dass die Regelungsabrede unmittelbar und zwingend auf das einzelne Arbeitsverhältnis Anwendung findet, als ob es sich hierbei um eine Betriebsvereinbarung handelt. Sofern eine Regelungsabrede mittels einzelvertraglicher Vereinbarung umgesetzt wird, ist von einem erheblichen Zustimmungsdruck auf den Arbeitnehmer auszugehen. Aufgrund des bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses kann sich ein Arbeitnehmer einer solchen Regelung schwerlich verweigern. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Betriebsrat sich durch die Regelungsabrede schuldrechtlich gegenüber dem Arbeitgeber bindet, womit ihm die Ausübung einer Schutzfunktion für einen sich gegen eine entsprechende einzelvertragliche Vereinbarung wendenden Arbeitnehmer nicht möglich ist.

VI. Ergebnis Regelungsabreden stellen eine gängige Regelungsform in der betrieblichen Praxis dar, die sich in vielfältigen Formen und mit unterschiedlichen Inhalten finden. Überwiegend erfolgt eine schriftliche Fixierung von Regelungsabreden. Rein mündliche Absprachen sind hingegen vor allem in Betrieben mittlerer Größe mit kooperativem Mitbestimmungsstil anzutreffen. Das Spektrum der Gründe für einen Verzicht auf Betriebsvereinbarungen zugunsten von Regelungsabreden ist breit. So wird häufig dann eine eher informelle Regelung bevorzugt, wenn den Betriebsparteien aufgrund der geringen oder lediglich kurzfristigen Bedeutung der zu regelnden Angelegenheit ein größerer Aufwand als nicht lohnenswert erscheint. Darüber hinaus kann der Verzicht auf eine Betriebsvereinbarung auch ein Vertrauenssignal darstellen, den Betriebsparteien im Hinblick auf die weniger nach außen gerichtete Wirkung gegenüber betroffenen Arbeitnehmern taktisch vorzugswürdig erscheinen oder ihnen den Eindruck einer größeren Flexibilität zur Berücksichtigung betrieblicher Belange vermitteln. Ferner wird die Form der Regelungsabrede teilweise gewählt, um eine Kenntnisnahme durch die Konzernleitung oder die Tarifvertragsparteien zu verhindern. Rechtliche Gründe werden von den Betriebsparteien zwar mitunter angeführt, erweisen sich bei genauerer Betrachtung allerdings als nicht stichhaltig. Die betrieblichen Akteure verbinden des Öfteren mit der Regelungsabrede die Vorstellung, sich von einer derartigen Vereinbarung leichter wieder lösen zu können. In

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Teil!: Empirische Untersuchung

diesen Fällen, die jeweils Fragen außerhalb des Katalogs erzwingbarer Mitbestimmungsrechte gemäß § 87 Abs. I BetrVG betrafen, besteht ein solcher Unterschied jedoch nicht. Was als rechtliches Motiv bezeichnet wurde, muss somit letztlich als ein psychologischer Faktor angesehen werden. Regelungsabreden entfalten einen hohen Grad an Verbindlichkeit. Aussagen der Betriebsparteien zeigen, dass sie sich hierdurch nicht weniger gebunden fühlen als bei einer Betriebsvereinbarung. Die nicht selten anzutreffende Vorstellung einer leichteren Lösbarkeit führt bei Arbeitgeber und Betriebsrat also nicht dazu, sich weniger an bestehende Regelungsabreden gebunden zu fühlen. Im Hinblick auf die betroffenen Arbeitnehmer ist ebenfalls kein Unterschied bei der faktischen Verbindlichkeit beider Regelungsinstrumente festzustellen. Mitunter finden Regelungsabreden sogar unmittelbar und zwingend Anwendung auf das einzelne Arbeitsverhältnis, als ob es sich hierbei um Betriebsvereinbarungen handelte. Für den Fall einer einzelvertraglichen Umsetzung von Regelungsabreden ist davon auszugehen, dass sich der einzelne Arbeitnehmer dem hieraus folgenden Zustimmungsdruck kaum entziehen könnte. Die Regelungsabrede entfaltet also auch insofern eine der Betriebsvereinbarung vergleichbare Bindungswirkung. Es lässt sich somit insgesamt bilanzieren, dass sich in der betrieblichen Praxis die Unterschiede zwischen Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden weitgehend relativieren.

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ,,[ •.. ] » Wenn Ihr den Interessenausgleich durchzieht, dann mach' ich dicht.«" (M4-BRl)

Arbeitgeber und Betriebsrat sind Verhandlungspartner mit unterschiedlichen Handlungsbedingungen, was auch ihre jeweilige Verhandlungsstärke beeinflusst. In der Industriesoziologie wird allgemein ein Verhandlungsungleichgewicht zwischen den Betriebsparteien angenommen und mit dem anschaulichen Begriff der Machtasymmetrie gekennzeichnet. 159 In der Rechtswissenschaft, die für derartige Konstellationen von gestörter Vertragsparität 160 spricht, herrscht hierüber hingegen Uneinigkeit. Wahrend das Bundesarbeitsgericht u. a. auf die Abhängigkeit der Be159 Artus/Liebald/Lohr/E. Schmidt/R. Schmidt/Strahwald, 2001, S. 167; Artus/R. Schmidt/Sterkel, 2000, S. 50; A. Basch, 1997, S. 37 ff.; A. Basch, 1996, S. 884; A. Basch/ Ellguth/R. Schmidt/Trinczek, 1999, S. 48; R. Schmidt/Trinczek, 1999, S. 124; Trinczek, Zeitschrift für Soziologie 1989, S. 444, 449; vgl. ferner Artus, 2001, S. 102 ff. sowie Höland, 1985, S. 324, 334 und insbesondere 342 ff. 160 BVerfG 5.8.1994, NJW 1994, S. 2749, 2750.

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat

113

triebsratsmitglieder gegenüber dem Arbeitgeber abstellt,161 wird dies von einigen Arbeitsrechtlern in Frage gestellt: Von einer Abhängigkeit des Betriebsrates und einer deswegen gestörten Vertragsparität könne angesichts der rechtlichen Absicherung der rechtlichen Stellung der Betriebsratsmitglieder nicht ausgegangen werden. 162 Vor dem Hintergrund dieses Streits soll nachfolgend untersucht werden, inwiefern das Risiko einer gestörten Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat besteht. Dazu ist zunächst die Bedeutung betrieblicher Interaktionsmuster zu thematisieren. Daran anschließend soll herausgearbeitet werden, welche Faktoren typischerweise einen wesentlichen Einfluss auf Verhandlungsergebnisse der Betriebsparteien haben. In einem dritten Schritt bleibt zu fragen, inwiefern ein Zusammenspiel dieser Faktoren das Risiko eines strukturellen Ungleichgewichts begründen kann.

I. Stil der Mitbestimmung Seit den 80er Jahren ist die betriebliche Gestaltungsebene immer stärker in den Blick der industriesoziologischen Forschung genommen worden. Seither wurde in einer Reihe von Untersuchungen Typologisierungen betrieblicher Mitbestimmungsstrukturen vorgenommen. 163 Die jeweils verwendeten Typologien sind unterschiedlich weit ausdifferenziert. So beschränken sich beispielsweise R. Schmidt und Trinczek auf eine Dreiteilung, nämlich die Trennung zwischen harmonisierendem, konfliktorischem und kooperativem Interaktionsmuster. l64 In neueren Untersuchungen wurde diese Typologie verfeinert, so dass zwischen "konfliktorischem Typus innerbetrieblicher Austauschbeziehungen", "interessenorientierter Kooperation", "integrationsorientierter Kooperation", "harmonistischem Betriebspakt" , "patriarchalischer Betriebsfamilie" und dem "autoritär-hegemonialen Regime" unterschieden wird. 165 Dagegen stellen Müller-Jentsch und Seitz stärker auf die inhaltliche Ausrichtung der Betriebsratsarbeit ab; sie differenzieren zwischen dem 161 Siehe insbesondere BAG 30. 1. 1970, AP Nr. 142 zu § 242 BGB Ruhegehalt unter B. IV. 3. b) und BAG 16.11. 1967, AP Nr. 63 zu § 611 BGB Gratifikation. 162 MünchArbR-Matthes, 2000, § 328 Rn. 86. 163 Siehe insbesondere Artus I Lieboldl Lohr I E. Schmidt I R.Schmidtl Strohwald, 2001, S. 163 ff.; A. Bosch, 1996, S. 881 ff.; A. Boschl EliguthlR. SchmidtlTrinczek, 1999; Kotthoff, 1994; Kotthoff, 1981; Müller-Jentschl Seitz, Industrielle Beziehungen 1998, S. 361 ff.; R. SchmidtI Trinczek, 1989, S. 135 ff. 164 R. SchmidtlTrinczek, 1989, S. 135, 141 f. 165 A. BoschlEliguthlR. SchmidtlTrinczek, 1999; ebensoA. Bosch, 1996, S. 885 ff. In der Paralleluntersuchung für die ostdeutsche Industrie kam der Mitbestimmungstypus der patriarchalischen Betriebsfarnilie nicht vor, stattdessen fand sich zusätzlich die Interaktionsform des Co-Managements; vgl. Artus I Liebold I Lohr I E. Schmidt I R. Schmidt IStrohwald, 200 1, S. 163 ff. und 285 ff. 8 Brecht

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Teil 1: Empirische Untersuchung

konventionellen, dem engagierten und dem ambitionierten Betriebsrat sowie dem Betriebsrat als Co-Manager. 166 Kotthoff schließlich trennt zwischen defizienter und wirksamer Interessenvertretung, denen er jeweils mehrere Partizipationsmuster zuordnet. Als defiziente Mitbestimmungsstrukturen betrachtet er den "ignorierten Betriebsrat", den "isolierten Betriebsrat" sowie den "Betriebsrat als Organ der Geschäftsleitung", während der "standfeste Betriebsrat", der "Betriebsrat als konsolidierte Ordnungsmacht", der "Betriebsrat als aggressive Gegenmacht" und der "Betriebsrat als kooperative Gegenmacht" eine wirksame betriebliche Mitbestimmung verkörpem. 167 Die jeweiligen Typologien lassen sich zumindest teilweise miteinander in Einklang bringen, was an dieser Stelle jedoch keiner vertieften Darstellung bedarf. 168 Entscheidend kommt es hier vielmehr auf die Erkenntnis an, dass das Verhältnis von Betriebsrat und Management durch historisch gewachsene, in der Interaktionsbeziehung bewährte Muster geprägt iSt. 169 Die innerbetriebliche Machtbeziehung wird somit maßgeblich durch das herrschende Partizipationsmuster bestimmt, was unmittelbare Auswirkungen auf die jeweiligen Verhandlungsergebnisse hat. Hinsichtlich der vorherrschenden Interaktionskultur zwischen den betrieblichen Akteuren ist festzustellen, dass als Folge eines weitverbreiteten Prozesses der Entpolitisierung und Versachlichung inzwischen ein "sachbezogener Pragmatismus" das dominante innerbetriebliche Kommunikationsmuster darstellt. 170 Die - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß feststellbare - Kooperationsbereitschaft eines "sachlich-fairen Miteinanders" war dementsprechend in der Untersuchung der vorliegenden Studie ebenfalls der dominante Partizipationsstil. Nur in zwei Fällen (MI und M3) ließ sich die Interessenvertretung als defizient charakterisieren, wobei beide dem von Kotthoff als "ignoriert" bezeichneten Betriebsratstypus (d. h. insbesondere patriarchalische Führung bei fehlender Beteiligung des Betriebsrates an Entscheidungen)171 angehörten. In lediglich vier Betrieben (M4, M5, M7 und M16) war das Interaktionsmuster als im Wesentlichen konfliktiv zu bezeichnen, womit es sich in der Typologie Kotthoffs um "standfeste Betriebsräte"l72 handelte. Im Übrigen dominierten kooperative Interaktionsmuster, wobei jedoch die Übergänge zu harmonisierenden Partizipationsformen teilweise fließend waren. 173 Müller-JentschlSeitz, Industrielle Beziehungen 1998, S. 361, 383 ff. Kotthoff, 1994, S. 63 ff. und 275 ff. 168 Zur Überschneidung der Typologien siehe Hölandl Reim I Brecht, 2000, S. 192 ff. 169 So explizitA. Bosch, 1996, S. 882. 170 A. Bosch, 1997, S. 185; auch R. SchmidtlTrinczek, 1989, S. 135, 142 weisen mit Blick auf die Meta1lindustrie darauf hin, dass der kooperative Typ der Mitbestimmung am weitesten verbreitet sei. 171 Zum Partizipationsmuster des ignorierten Betriebsrates siehe Kotthoff, 1994, S. 63 und Kotthoff, 1981, S. 46 ff. 172 Kotthoff, 1994, S. 275 ff. 173 Ausführlicher Höland I Reim I Brecht, 2000, S. 196 ff. 166

167

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat

115

Allein die Zuordnung zu einem defizienten Partizipationstypus rechtfertigt allerdings noch nicht die Bejahung einer strukturellen Disparität, wie sich anband des ignorierten Betriebsrates im Betrieb MI zeigen lässt. Einerseits liegen zwar seitens des Arbeitgebers offensichtliche Missachtungen von Mitbestimmungsrechten (etwa bei Neueinstellung oder der Anordnung von Überstunden) vor. Gleichzeitig trägt aber auch der Betriebsrat eine Teilverantwortung für die bestehende Situation, da er seine Rechte und damit verbunden seine Aufgaben als Interessenvertreter nicht hinreichend wahrnimmt. Dementsprechend äußert der Geschäftsführer des Betriebs: MI-GL: Gut, ich hab' solche Sachen gemacht. Ich hab' Leute eingestellt, ohne dass der

Betriebsrat gehört wurde, weil mir das zu langwierig war. Warum soll ich den Betriebsrat erst hören, wenn ich sag': "Den stell' ich jetzt ein"? Und wie gesagt, der Betriebsrat hier sieht seine Interessen sehr begrenzt. Wenn ich Verkäufer entlasse oder einstelle, das interessiert ihn nicht, obwohl es ihn eigentlich interessieren müsste. [ ... ] [ ... ]

MI-GL: Da redet man nicht erst mit dem Betriebsrat. Dann sagt man zu dem Schlosser: "Kannst Du heute noch eine Stunde länger machen?" [ ... ]

Im Gegensatz zu defizienten Interessenvertretungen wehren sich Betriebsräte in konfliktorischen Interaktionsbeziehungen gegen die Missachtung von Mitbestimmungsrechten durch Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel. 174 Die allgemein beobachtbare Abneigung von in dauerhafte soziale Beziehungen eingebundenen Personen gegen konfliktive Mobilisierung von Recht 175 wird aufgrund des besonderen Charakters der betrieblichen Interaktion in diesen Fällen deutlich relativiert. Auf der anderen Seite wissen solche Betriebsräte, dass sie nur dann Chancen auf eine Durchsetzung ihrer Vorstellungen haben, wenn sie sich damit in einer gesicherten rechtlichen Position befinden. Mit einem Entgegenkommen des Arbeitgebers können sie ohne ein entsprechendes Druckmittel nicht rechnen, wie das folgende Beispiel aus einem Betrieb mit konfliktorischem Interaktionsmuster demonstriert: MS-BR: [ ... ] Diese betriebliche Altersversorgung - das ist ja nicht ganz unwichtig. Die ist aber schon so alt, das ist die einzige Vereinbarung, wo meine Unterschrift nicht 'unter ist. /eh habe mich bemüht, da auch eine Verbesserung reinzubekommen, qualitativ, also dass da vielleicht ein paar mehr Märker ausgeschüttet werden. Das wollte Herr D. [der Geschäftsführer - d. Verf.] nicht. Das ist ein Bereich, wo keine erzwingbare Mitbestimmung drin ist. Von daher blieb es dann beim "Bitte, bitte". Das hat also nicht geklappt.

Dagegen sind die Gestaltungsspielräume in kooperativen Partizipationsmustern wesentlich größer, wie etwa die Betriebsräte im Betrieb MI9 schildern: 174 Zur Bedeutung von Einigungsstellenverfahren, Schlichtungsstellenverfahren und arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren in Betrieben mit konfliktorischen Interaktionsmustem siehe unten § 6 1., § 6 II. und § 7 II.; typischerweise trägt bereits die Drohung mit einem solchen Verfahren zur Konfliktlösung bei. 175 Vgl. Höland/Reim/Brecht, ZERP-Diskussionspapier 1/2000, S. 17.

8*

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Teil 1: Empirische Untersuchung

M19-BRl: [ ... ] Wir sehen uns manchmal durchaus so als Co-Management. Also, jetzt nicht, dass wir Unternehmensziele verfolgen, sondern wir kümmern uns halt um viele organisatorische Abläufe, auch gerade in den Segmenten, also Entlohnung in den Segmenten, Organisation in den Segmenten. Wir haben uns z. B. eingemischt [ ... ] bei der Frage der Vergabe von Arbeiten an Fremdfirmen, und zwar dahingehend, dass wir eine Betriebsvereinbarung oder eine Verfahrensanweisung mit dem Vorstand haben, dass bevor eine Arbeit aus der mechanischen Bearbeitung nach außen geht, das Segment abschließend noch mal die Möglichkeit hat, zu entscheiden, wir machen es zum selben Preis wie der draußen. Da haben wir uns eigentlich durchaus auch in Verfahrensweisen eingemischt, bei denen man jetzt klassisch sagen würde: "Die gehen nur den Arbeitgeber an. " [ ... ] M19-BR2: Wir beeinflussen auch - weil die Kolleginnen und Kollegen der Segmente das heute entscheiden - was für Maschinen eingekauft werden. [ ... ] Aber technische Dinge, da haben wir sicherlich auch entscheidend mitzubestimmen.

Entsprechende Entwicklungen lassen sich als Resultat eines Prozesses verstehen, der mit dem Begriff "attitudinal structuring"176 bezeichnet wird. Gemeint ist der Effekt, dass sich die Bewertungs- und Verhandlungsweisen der Parteien im Laufe der Zeit auf das Verhandlungen innewohnende Ziel der Verständigung und des Ausgleichs von Interessen einstellen. Dies fördert die Bereitschaft zum Kompromiss und eine weitreichende Einbeziehung der Gegenseite. Wenn dies zu einer co-manageriellen Beteiligung des Betriebsrates führt, so bedeutet das für ihn einerseits einen erheblichen Zuwachs an Gestaltungsmöglichkeiten. Zugleich liegt darin aber auch ein gewisses Risiko: Je stärker ein Betriebsrat in die unternehmerische Verantwortung einbezogen wird, desto höher ist auch der Zustimmungsdruck zu für die Arbeitnehmer ungünstige Maßnahmen. Insofern lässt sich aus der Art der Interaktionsbeziehung in interessenswirksamen Mitbestimmungsstrukturen noch nicht unmittelbar die Machtbeziehung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat bestimmen. Hier hängt es von einer ganzen Reihe weiterer Faktoren ab, inwiefern der Betriebsrat eigene Vorstellungen durchsetzen kann. Die Form der Partizipation wirkt allerdings dahingehend strukturierend, ob und in welchem Grad eine Nutzung dieser Machtfaktoren überhaupt in Betracht gezogen wird.

11. Typische Einflussfaktoren für Verhandlungsergebnisse Betriebliche Interaktion ist auf Dauer ausgerichtet und damit einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt. Es wäre anmaßend zu glauben, alle relevanten Faktoren aufzählen zu können. Schließlich handelt es sich bei den Verhandlungssituationen um sehr komplexe Vorgänge, denen man mit eindimensionalen Erklärungsmustern nicht gerecht werden kann. Die nachfolgende Aufzählung von Einflussfaktoren für betriebliche Verhandlungsergebnisse erhebt daher nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Es handelt sich aber um Handlungsbedingungen der betrieblichen Akteure, 176

WaltonlMcKersie, 1991, S. 162.

§ 5 Risiko gestörter Vertrags parität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat

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die sich im Rahmen der durchgeführten Untersuchung als wiederkehrende Fallkonstellationen erwiesen und somit als typisierbare Verhandlungseinflüsse angesehen werden können. 1. Rückhalt in der Belegschaft Zahlreiche Aussagen der Betriebsparteien weisen darauf hin, dass der Rückhalt des Betriebsrates in der Belegschaft eine zentrale Bedeutung für sein Verhandlungsgewicht hat. l77 Auch Kotthoff erachtet in seiner Typologie unterschiedlicher Mitbestimmungsmuster das Verhältnis von Betriebsrat und Belegschaft als einen wichtigen Unterscheidungsfaktor: Während defiziente Interessenvertretungsstrukturen grundsätzliche keine enge Beziehung zwischen Betriebsrat und Belegschaft aufweisen,l78 ist bei den Typologiemustern wirksamer Interessenvertretung die Art der Einbeziehung ein wesentliches Abgrenzungskriterium. 179 Die wichtige Bedeutung der Belegschaft im innerbetrieblichen Machtverhältnis fasst prägnant der folgende Betriebsratsvorsitzende zusammen: M21-BRl: [ ... ] Der Betriebsrat ist halt schon so stark. wie es die Belegschaft auch ist oder wie er versteht. das zu vermitteln. was er vorhat. [ ... ]

Typischerweise erweist sich der gewerkschaftliche Mobilisierungsgrad bzw. die Intensität der Vertrauensleutearbeit als ein guter Indikator dafür, wie stark der Rückhalt des Betriebsrates in der Belegschaft ist. Umgekehrt ergibt sich hieraus auch Verhandlungsstärke für den Betriebsrat. So stellte der Betriebsrat im Betrieb C5 mit Bedauern fest, dass es in der Chemieindustrie im Gegensatz zum MetalIbereich nur wenige Betriebe mit einem starken Vertrauensleutekörper gebe, die dann auch entsprechend mehr bewirken könnten. Fehlt dieser Rückhalt oder ist er nicht so stark ausgeprägt, schränkt das auch die Möglichkeiten betriebsrätlichen Handeins ein. Frage: Das finde ich aber interessant: Eine starke Vertrauensleutestruktur gibt dem Betriebsrat auch Verhandlungsmacht? eS-BR: Ja klar; richtig. Das haben wir einfach nicht. Wenn ich unseren Haufen hier sehe . .. Wir hatten früher mal einen relativ starken. sagen wir mal aktiven Vertrauensleutekörper. Aber ein Generationswechsel hat langsam stattgefunden. Die Jungen interessieren sich nicht dafür. [ ... ]

Ebenso A. Bosch. 1996, S. 884. Siehe Kotthoft. 1994, S. 63 f. sowie ausführlicher in der Vorgängeruntersuchung Kotthoft. 1981, S. 62, 100 und 136; am engsten ist hier das Verhältnis noch beim "Betriebsrat als Organ der Geschäftsleitung", wo er im Dienst des Arbeitgebers als Autoritätsfigur gegenüber der Belegschaft auftritt. 179 Kotthoft. 1994, S. 275, 293, 299 und 306. 177 178

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Teil 1: Empirische Untersuchung

Dagegen verhilft die Mobilisierungsfähigkeit der Belegschaft und die Bereitschaft, diese als "Kampfmittel" einzusetzen, dem Betriebsrat zu einer starken Verhandlungsposition. Dementsprechend äußerte der Betriebsrat im Betrieb M8 auf die Frage nach dem Zustandekommen angestrebter Betriebsvereinbarungen: M8-BR: [ ... ] Grundsätzlich haben wir, wenn wir eine Betriebsvereinbarung wollten, auch erreicht, dass eine abgeschlossen wurde. Das ist ja auch immer ein bissehen eine Machtfrage gewesen. Da wir in der Lage waren und das auch geübt haben, unsere Belegschaft innerhalb von 1 Stunden auf den Hof oder auf die Straße zu bekommen - da war ein gewaltiges Druckpotenzial da. Vor allen Dingen das Wissen von der anderen Seite, dass wir es machen, wenn wir es für nötig halten, das ist ja das Entscheidende.

Es dürfte vor allem zwei Gründe geben, weshalb der Rückhalt in der Belegschaft dem Betriebsrat Verhandlungsmacht verleiht: Zum einen hat der Arbeitgeber ein Interesse daran, dass Störungen des Betriebsfriedens verhindert werden. Unmut in der Arbeitnehmerschaft wirkt sich negativ auf deren Kreativität und Leistungsbereitschaft aus. Zum anderen kann der Betriebsrat mit Hinweis auf die Meinung der Belegschaft Grenzen seiner Konzessionsfähigkeit aufzeigen; denn ein Betriebsrat ist von der Zufriedenheit der Belegschaft abhängig, will er die Chancen seiner Wiederwahl nicht gefährden. Viele Betriebsräte legen daher großen Wert auf eine frühzeitige Einbeziehung aller Arbeitnehmer, wie der folgende Auszug belegt: M12-BRl: [ ... ] Sie sehen also, es ist nicht das Überstülpen und morgen hat die Belegschaft eine Betriebsvereinbarung. Nein, nein, sie ist da schon mit drin. Denn alles andere, so verstehen wir unsere Arbeit, ist letztendlich tödlich für die Betriebsratsarbeit. Jedenfalls was so einen kleinen Kreis angeht. Vier Jahre l80 sind schnell um. Wir wären ja borniert oder der Betriebsrat wäre ja borniert, wenn er etwas gegen die Belegschaft macht. Sicher, irgendwo muss man Kompromisse eingehen, aber dann muss man sie auch vernünftig begründen können und das bitteschön nicht im Nachhinein, sondern im Vorhinein. Und dazu haben wir unsere Abteilungsversammlungen. Und da wird heftig diskutiert.

Gerade aus seiner Abhängigkeit von der Belegschaft kann der Betriebsrat somit deren Meinung zu einem starken Verhandlungsargument machen. 2. Wirtschaftliche Situation des Betriebs Ein ebenfalls äußerst wichtiger Faktor für die jeweilige Verhandlungsstärke der Betriebsparteien ist die wirtschaftliche Situation des Betriebs sowie der Branche insgesamt. In vielen Interviews nahmen die Gesprächspartner immer wieder Bezug auf wirtschaftliche Fragen und Rahmenbedingungen. Das weist darauf hin, dass betriebs wirtschaftliche Argumente für die innerbetriebliche Interaktion ein großes Gewicht haben. Die Bedeutung dieser Frage bestätigt aus Arbeitgebersicht der Personalleiter des Betriebs M21: 180

Die regelmäßige Amtszeit des Betriebsrates beträgt vier Jahre, § 21 S. 1 BetrVG.

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M21-GL: [ ... ] Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation müssen wir dauernd gucken, wie wir kostengünstiger und damit effizienter werden können. Das braucht uns keiner sagen oder braucht keiner eine Wenn-dann-Beziehung herstellen oder so was, sondern das ergibt sich implizit aus der Gesamtlage, insofern reden wir dauernd über irgendwelche Dinge, wie wir effizienter werden können und sagen: "Gibt es bessere Schichtmodelle ?" oder: "Ist unsere Prämiennummer o. k.; kann man hier oder da irgendwas machen oder besser werden?" [ ... ] Und das weiß auch der Betriebsrat.

Der Hinweis des Personalleiters auf die entsprechende Sicht des Betriebsrates deutet an, dass auch von Seiten der Arbeitnehmervertretung betriebswirtschaftliche Fragen eine zunehmend stärkere Rolle spielen. Erstaunlich hierbei erscheint, dass diese Haltung auch sogar bei einem ausgesprochen konfliktbereiten Betriebsrat anzutreffen war: M5-BR: [ ... ] In den letzten Jahren ist eigentlich mehr hier im Betriebsrat diskutiert worden, eigentlich mehr weg von diesem Leistungslohnsystem, weil das viel zu teuer für den Betrieb ist. In den letzten Jahren haben wir auch [ ... ] gelernt, mehr betriebswirtschaftlich zu denken. Das ist in Gewerkschaftslehrgängen - ich habe ja nun meine Kurse da nun zur Genüge alle besucht - immer so dargestellt worden: "Das ist Aufgabe von den Betrieben. Und Betriebswirtschaft das ist Gift für uns. " So ungefähr. Da wollten sie nicht viel von wissen. Ich habe da schon immer eine andere Einstellung zu gehabt. Jedenfalls, insgesamt im Betriebsrat sind wir jetzt eigentlich der Auffassung: Auch wir müssen betriebswirtschaftlich denken, wir müssen auch dazu beitragen, weil letztendlich haften ja unsere gesamten Arbeitsplätze daran, dass der Betrieb betriebswirtschaftlich funktioniert. Und da kam jetzt zuletzt die Idee von Gruppenarbeiten - was eigentlich von der Arbeitgeberseite hereingetragen wird - die Idee kam von uns. Auch da ist uns sehr viel Gegenwind entgegengebracht worden.

Eine Abwehrhaltung von Gewerkschaftsseite gegenüber betriebswirtschaftlichen Argumentationsmustern erscheint plausibel, da dies häufig zu einer Schwächung der Arbeitnehmerposition bei Verteilungskämpfen führen kann. Lässt sich ein Betriebsrat auf die unternehmerische Logik ein, dann dürfte ihn das in vielen Fällen bereits im Vorhinein von manchen Forderungen abhalten. Diese Selbstbeschränkung erwähnt ein Betriebsratsvorsitzender in einem wirtschaftlich angeschlagenen Betrieb: M3-BR: Sicherlich ist es so, dass gesagt wird: "Guckt was in anderen Betrieben verdient wird und was wir bezahlen ". Das passiert natürlich immer. Aber das ist sicherlich der Grundlage geschuldet, dass im Betriebsportemonnaie nicht mehr drin ist. Wenn natürlich Gewinn da wäre - keine Frage -, da würden wir noch ganz anderes verhandeln können.

Allerdings können Betriebsräte mit einer auf die wirtschaftliche Situation des Unternehmens bezogenen Argumentation durchaus auch eigene Verhandlungsmacht entwickeln. Für einen Betriebsratsvertreter handelt es sich hierbei geradezu um ein Grundaxiom betrieblicher Verhandlungsstärke: M9-BR1: In Phasen, wo der Betrieb brummt, wo viele Aufträge da sind, ist die Position des Betriebsrates stärker. In Zeiten, wo man kurz vor Kurzarbeit steht, ist die Position des Arbeitgebers stärker. Das ist das natürliche Kräfteverhältnis. Dann ist man froh, wenn

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Teil 1: Empirische Untersuchung

man eine Regelung zu Kurzarbeit trifft, wo der eine oder andere Vorteil für den Beschäftigten drin ist. Dann hält man natürlich den Mund mit Fragestellungen zu weitergehenden Betriebsvereinbarungen, der Entlohnung oder so 'was. Da hält man sich zurück. Aber im Moment ist wieder so eine Phase, wo es im Betrieb brummt.

Aus Sicht des Managements bestätigt der Personalleiter dieses Betriebs die daraus resultierenden Vorteile für den Betriebsrat - nicht ohne zugleich eine entsprechende Gegenargumentation aufzuzeigen: M9-GL: [ ... ] Wenn es dem Unternehmen relativ gut geht (unserem Unternehmen geht es relativ gut), dann - ist natürlich - haben Sie es da schwer. Also der Leidensdruck spielt dabei eine Rolle. Und da ist für mich eine menschliche Schwäche. Veränderungen müssen Sie einleiten, wenn es einem gut geht. Meist, wenn es einem schlecht geht, hat man nicht mehr die Zeit dazu, um diese Dinge dann auszudiskutieren, zu vereinbaren und umzusetzen. Das steht dahinter. [ ... ]

Dennoch bleibt festzuhalten, dass die wirtschaftliche Situation des Betriebs eine wesentliche Rahmenbedingung für die Betriebsparteien darstellt. Insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten ist ein Betriebsrat einem starken Argumentationsdruck ausgesetzt, der seine Verhandlungsposition schwächt. Je besser sich die wirtschaftliche Position des Unternehmens hingegen darstellt, desto größer sind die Chancen des Betriebsrates, eigene Vorstellungen durchsetzen zu können.

3. Erfahrenheit und Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien

Da betriebliche Regelungen Verhandlungsergebnisse sind, ist es selbstverständlich, dass hierin auch subjektive Einflüsse durch die jeweils handelnden Personen ihren Niederschlag finden. Die Erfahrenheit und das Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien wirken sich somit automatisch auf die betrieblichen Regelungen aus. Im Einzelfall kann dies auch zu einer taktischen Überlegenheit des Betriebsrates führen, wie sich in der folgenden Aussage eines Personalleiters zeigt: Mll-GL: Ich habe hier eine Betriebsvereinbarung, die nie gekündigt wurde, vom Mai 1946, die allen Mitarbeitern zu Weihnachten einen Zentner Kartoffeln zusagt. Und die ist nie gekündigt worden. Was mache ich denn, wenn die Mitarbeiter jedes Jahr zu Weihnachten ankommen: "Ich hätte gerne den halben Sack Kartoffeln". Ja, den Gedanken findet man ernsthaft manchmal. Dann gab es das Schlitzohr von ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden, der gesagt hat: "Also entweder, Sie machen es jetzt so, wie ich es mache, oder wir kommen mit den Kartoffelsäcken". Das ist gar nicht so einfach. [ ... ]

Typischerweise dürften sich persönlichen Einflüsse aber eher zugunsten der Geschäftsleitung auswirken, da Vertreter des Managements bereits aufgrund ihrer Position eine gewisse Autorität verkörpern. Sich demgegenüber zu behaupten, erfordert von einem Betriebsrat Rückgrat und die Bereitschaft zur Konfliktaustragung. So äußerte ein Betriebsratsvertreter zu den Hintergründen eines Wandels im Verhältnis zur Geschäftsleitung:

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M8-BR: [ ... ] Es trägt sicher dazu bei, dass bekannt ist, dass wir da ohne Hemmungen sind. Und man muss das auch persönlich über den Hof tragen können, wenn man den Chef trifft, dass man ihn bei Gericht verklagt hat. Das muss man auch als Person erst mal trainieren, dass man das durchhält.

Gerade unerfahrene Betriebsräte haben dabei jedoch einen schweren Stand. Es erscheint allerdings wenig verwunderlich, dass die Betroffenen derartige Faktoren nur ungern preisgeben. In der folgenden Bemerkung eines Betriebsratsvertreters findet sich dennoch - abgeschwächt durch den impliziten Hinweis einer inzwischen veränderten Situation - das Eingeständnis einer anfangs bestehenden persönlichen Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitgeber: Mll-BR: [ ... ] Wenn ich dann sehe, dass so ein Betriebsrat - wie es bei uns in der Vergangenheit war, als von neun Mitgliedern acht neu waren - ins kalte Wasser geschmissen wird und überhaupt keine Ahnung hat und dann total überfordert ist. Der läuft doch ins offene Messer.

Die Möglichkeiten, "ins offene Messer zu laufen", sind zahlreich. So weist ein erfahrener Betriebsratsvertreter darauf hin, dass es stets vorteilhaft ist, selbst zu agieren als nur zu reagieren. Er macht das daran fest, lieber über eigene Entwürfe für betriebliche Regelungen als über Vorschläge des Arbeitgebers zu diskutieren: Frage: Aufwessen Initiative wurden diese Betriebsvereinbarungen abgeschlossen? M8-BR: Beiderseitig. Sie werden allerdings sehr häufig von uns ausgearbeitet. Weil wir lieber unseren Vorschlag diskutieren. Da ist man immer in der Vorhand. Da steckt man ganz anders drin, wenn man sich damit befasst hat. Es ist allerdings ein sehr erheblicher Zeitaufwand.

Eine weitere Frage des Verhandlungsgeschicks ist beispielsweise die Wahl des günstigsten Augenblicks, um eigene Vorstellungen durchsetzen zu können. Seine Strategie in dieser Hinsicht schildert ein Betriebsratsvertreter mit 25-jähriger Amtserfahrung: M6-BR: [ ... ] Wir machen das im Betriebsratsgremium so, dass die Kolleginnen und Kollegen mich ständig damit beauftragen, etwas in der Schublade zu haben. Der Personalchef hat schon mal gesagt: "Wenn ich mal einen Wunsch habe, kommst Du eigentlich immer mit einem Gegenwunsch. Du hast immer irgendwas. " Und zu solch einem Zeitpunkt hab' ich das auch mit dieser Vereinbarung durchbekommen. Zu einem Zeitpunkt, wo die Geschäftsleitung von uns mal etwas wollte. Und so, so arbeite ich eigentlich ständig. Das ist immer ein Geben und Nehmen. Man muss einfach nur den richtigen Zeitpunkt abpassen.

Es ließen sich mit Sicherheit eine ganze Liste weiterer Umstände aufzählen, wo das Aushandlungsergebnis durch geschickte Verhandlungsführung maßgeblich beeinflusst wird. Sowohl die Persönlichkeit der Beteiligten als auch ihre Erfahrenheit gehen somit selbstverständlich in das Verhandlungsergebnis mit ein.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

4. Nutzung von Austauschprozessen

Eine sehr große Rolle im betrieblichen Alltag spielen Austauschprozesse: "Geben und Nehmen" ist ein von den Betriebsparteien immer wieder verwendetes Schlagwort. Gerade in kooperativen Interaktionsbeziehungen stellen Kompromisse geradezu eine Grundvoraussetzung für das einvernehmliche Verhältnis der Betriebsparteien dar. Doch auch für konfliktive Mitbestimmungsformen sind Austauschprozesse ein unverzichtbares Element, wie die Schilderungen des Betriebsratsvorsitzenden im Betrieb M7 (ein nach seinen Aussagen Betrieb mit "entwickelter Streitkultur") zeigen: M7-BRl: [ ... ] Tauschen kann man an anderen Stellen. Das haben wir auch gemacht. [ ... ] Beim Projekt CAD. Da sollten zusätzlich befristete eingestellte Beschäftigte außerhalb der betriebsüblichen Nutzungszeiten arbeiten, die Geometrie einpjlegen. Das hat hier zu großem Entsetzen bei den Beschäftigten in der Konstruktion geführt. Die arbeiten immer noch nicht in Schichtarbeit, befürchten aber seit Jahren, nämlich seitdem CAD eingeführt wurde, dass das wegen der hohen Investition, die die Einführung erfordert hat, auch in Schicht genutzt werden könnte. Und plötzlich sollten hier Leute reinkommen, die nur in Spätschicht die Geometrie in das CAD-System einpjlegen, was eine Startbedingung für CAD ist. Darüber gab es Auseinandersetzungen. Wir haben dem letztlich zugestimmt, indem wir dann aber durchgesetzt haben, dass für dieses Projekt nur Arbeitslose für die zunächst geplanten 12 Monate eingestellt wurden. In den 12 Monate konnte das Projekt aber nicht beendet werden. Die Zeit hat nicht gereicht. Dann musste die befristete Betriebsvereinbarung verlängert werden. Die haben wir aber nur verlängert, wenn die Geschäftsleitung gleichzeitig erklärte - das steht auch in der Vereinbarung -, dass dann die Beschäftigten unbefristet übernommen werden müssen. Da haben wir zwar diese Schichtarbeit, die wir nicht wollten, für einen befristeten Zeitraum in Kauf genommen, dafür aber dann unbefristete Einstellungen durchgesetzt.

Kompromisse sind nicht nur ein wichtiges Mittel zur Konfliktlösung. Sie ermöglichen den Verhandlungspartnern auch Dinge durchzusetzen, die mangels eines erzwingbaren Mitbestimmungsrechts ohne solche eigenen Zugeständnisse nicht realisierbar wären: M14-BR: [ ... ] Aber diese Pakete, die werden geschnürt heute. Das läuft so. Das bleibt ja auch gar nicht aus. Ich sage das ganz offen und ehrlich: Wenn ich eine Sache versuche, mit ihm zu regeln und ich weiß, dass ich auf ein bisschen schwachen Beinen dabei stehe, weil das mehr oder weniger eine freiwillige Sache ist, die er mit mir vereinbaren muss oder soll, dann nehme ich natürlich irgendwas anderes da mit rein und sage: "Wenn Du hier nicht, dann kannst'e da auch arrivederci sagen ". Ist klar. Also irgendwo muss ich ja ein Druckmittel haben, sonst klappt das nicht. Also insofern bleibt das heute gar nicht mehr aus: "Gibst Du mir; gebe ich Dir" und wie auch immer. Es passt mir zwar nicht immer; weil ich sage: "Das ist nicht so ganz die faire Art, aber es hilft ja nichts". Ich habe ja nun mal nicht die Chance, der anderen Seite die Pistole auf die Brust zu setzen [ ... ].

Austauschprozesse sind keinesfalls auf Regelungsfragen begrenzt, die zueinander in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehen. Ein besonders schil-

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lerndes Beispiel für derartige Kompromisse beschreibt der Betriebsratsvorsitzende vonM9: M9-BRl: [ ... ] Der Arbeitgeber wollte das Chronarid durchsetzen der Firma Otto & Otto. Das ist ein Gerät, um an Akkordarbeitsplätzen Zeitaufnahmen zu machen. Das nennt sich hier nur komplizierter. Und dann steht hier drin im ersten Punkt: "Ja, das macht der Betriebsrat mit". Im zweiten Punkt heißt es dann, dass Frau L. nach ihrer abgeschlossenen Ausbildung für zwei Jahre übernommen wird. Im dritten Punkt heißt es, dass der Betriebsrat der Einstellung von Frau S. [ ... zustimmt]. Da hatten wir nämlich eine andere Meinung zu. Und der vierte Punkt ist, dass wir vereinbart haben, dass an einem Arbeitsbereich Leistungslohn bis Ende 1995 eingeführt wird. Und dann haben wir hier als fünften Punkt noch geregelt, dass die Betriebsvereinbarung Gleitzeit erneuert wird. Das waren also fünf Punkte, die in einer Vereinbarung getroffen wurden, wo also jeder mal so ein . .. Und jeder hatte noch so ein Problemehen und das wurde über diesen Weg geregelt.

Es erscheint wenig erstaunlich, dass sich Austauschprozesse auch nicht nur auf betriebliche Fragen beschränken, sondern ebenfalls tarifliche Relevanz haben können. Eine solche Verquickung deutet der folgende Betriebsratsvertreter an: M21-BR2: [ ... ] Ich sage nur ein typisches Beispiel: Da hat unser Arbeitsdirektor [ ... ] ganzfürchterliche Watschen bekommen [ ... ] zum Thema Lohnfortzahlung. Unser Arbeitsdirektor hat erklärt, wie das da mit der Lohnfortzahlung war, die ist 80 %: "Wir machen als . .. [M21] da nicht mit. " Das hat er öffentlich erklärt. Ich meine, da hat der . .. [regionale Arbeitgeberverband - d. Verf.], der hat schon bissehen einen Rundumschlag gemacht, weil ... [M21] als Betrieb sicherlich bei den Gewerkschaften und auch bei den Arbeitnehmern ein gewichtiges Wort mitzureden hat und [ ... ] da hat er ein paar blaue Flecken einstecken müssen. Aber o. k., es gibt ja Schmerzensgeld in so einem Betrieb und manchmal nicht wenig.

Der Arbeitgeber bestätigte die Kritik des Arbeitgeberverbandes an seiner öffentlichen Erklärung, die hundertprozentige Lohnfortzahlung beizubehalten. Zugleich erläuterte er, worin das "Schmerzensgeld" bestand: M21-GL: [ ... ] und intern - das habe ich natürlich auch keinem erzählt beim Verbandhabe ich zeitgleich mit L. [dem Betriebsratsvorsitzenden - d. Verf.] über bestimmte Veränderungen von Überstundenroutinen gesprochen, die uns mehr Geld gespart haben, jetzt in der Zukunft, als wir gespart hätten, wenn wir dieses Gesetz so in Lohnfortzahlungskürzungen machen. Insofern ist das immer. .. Aber das geht natürlich nur, wenn Sie so zusammen arbeiten, wenn Sie ehrlich sind und wenn Sie sagen: "Jawohl, ich stehe dazu und ich nehme auch den Ärger im Verband in Kauf" Dann ist es ein Erfolg für uns als Unternehmen, das ist ein Erfolg für den Betriebsrat, der sagt: "Wir haben in Gesprächen mit der Geschäftsleitung ausgehandelt. .. ", wo es gar kein Handel war, aber das sind auch so Dinge: "Erzähle es, wie Du es willst, und wenn Du da das erzählst, dass wir 3 Tage und Nächte verhandelt hätten, wenn es hilft, warum nicht. Da kann ich mit leben." Und das andere läuft dann mehr still und heimlich, aber das ist halt auch Betriebsalltag heute.

Die Verknüpfung von tariflichen Leistungen und betrieblichen Regelungen ist keinesfalls selten. Gerade wenn es um die Unterzeichnung eines Anerkennungstarifvertrages geht, spielen betriebliche Vereinbarungen in den Verhandlungen eine wichtige Rolle; denn in diesem Bereich sind Kompromisse möglich, ohne den Gel-

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tungsanspruch des Flächentarifvertrages in Frage zu stellen. Eine solche Koppelung von betrieblicher Regelung und tariflicher Vereinbarung nennt folgender Betriebsrat: Mll-BR: [ ... ] Die wollten ja keinen Anerkennungstarifvertrag. Der war ja aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten und hat gesagt: "Dann brauch' ich gar keinen." Und die Kollegen - auch mit Hilfe der Gewerkschaft - haben gefordert, diese Anerkennung zu bekommen, um eben tariflich abgesichert zu sein. Und weil es zu der Zeit ja darum ging, die bezahlten Pausen wegzunehmen, haben wir andersherum gesagt: "Dafür wollen wir eben etwas als Gegenleistung, was wir den Leuten geben können und wo wir sagen können: ,Es lohnt sich, dafür auf das zu verzichten '. " Und da haben wir halt die Beschäftigungssicherung bekommen. [ ... ]

Frage: Also, dann haben Sie doch mehr erreicht. Sie haben nicht nur einen Tarifvertrag anerkannt, sondern Sie haben Zusagen bekommen, was die Beschäftigungssicherung betrifft. Das steht ja nicht im Tarifvertrag. So dass das ein Koppelungsgeschäft war, das beinhaltete Anerkennung des Tarifvertrages plus Vereinbarung über Beschäftigungssicherung gegen das Zugeständnis der Abschaffung der bezahlten Pause? Mll-BR:Ja.

Immer wieder trifft man jedoch auch auf das umgekehrte Phänomen, dass tarifliche Vorschriften zum Verhandlungsobjekt auf betrieblicher Ebene werden. Ein häufiger Anwendungsbereich ist dabei die Frage der Beschäftigungssicherung, wie im Fall des Betriebs Ml9: M19-BRl: [ ... ] wir gehen halt ein Problem nach dem anderen an. Das ist ja auch immer eine Frage von Verhandlungen und von Bedürfnissen auf beiden Seiten. Wir haben letztes Jahr eine Betriebsvereinbarung abschließen können über Arbeitszeitkonten. Es gibt also bei uns Arbeitszeitkonten. Das wollte der Arbeitgeber gerne haben, weil er damit natürlich in schlechten Zeiten ein bissehen jonglieren kann, aber auch in guten Zeiten ein bissehen jonglieren kann. Dafür haben wir gesagt, das machen wir nur, wenn wir eine Betriebsvereinbarung bekommen. Dafür haben wir eine Festschreibung auch in dieser Betriebsvereinbarung, dass es im Kalenderjahr 1998 keine betriebsbedingte Kündigung gibt. Das ist meistens auch so ein bissehen der Weg: Du brauchst was, ich brauch' was. ..

Wie bereits oben ausgeführt wurde, steht die Vereinbarung von Arbeitszeitkonten natürlich nicht im Widerspruch zu den Manteltarifverträgen der Metallindustrie. Diese sehen jedoch eine Begrenzung des Ausgleichszeitraums auf ein Jahr vor, was von den Betriebsparteien mit der Übertragung von Zeitguthaben beim erneuten Abschluss ihrer Betriebsvereinbarung zur flexiblen Arbeitszeit missachtet wurde. 181 Angesichts der Tatsache, dass im Interview von Managementseite ein längerer Ausgleichszeitraum explizit gefordert wurde, liegt der Schluss auf einen unmittelbaren Zusammenhang von Beschäftigungssicherungsvereinbarung und Missachtung der tariflichen Regelung nahe. In einem solchen Fall holt sich also der Betriebsrat Verhandlungsmacht aus einem Bereich, der eigentlich seiner Rege181

Siehe oben § 2 Ir. 5. d).

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lungskompetenz entzogen ist: Tarifliche Regelungen werden zugunsten betrieblicher Regelungen zur Disposition gestellt.

5. Trennung von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz Betriebsräte sind nicht selten mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass ihr betrieblicher Ansprechpartner in seinen Entscheidungskompetenzen begrenzt ist. Damit stellt der Gesprächspartner eine Art Puffer zu den eigentlichen Entscheidungsträgern dar. So äußerte ein Betriebsrat im Hinblick auf den Personalleiter: M17-BR4: Undfür uns wird es immer schwieriger mit den Ansprechpannern. Irgendwann sagt er: "Das kann ich nicht mehr entscheiden. " Das muss dann entweder der Betriebsleiter oder in der Regel die Rechtsstelle in M. entscheiden. Man hat also viele Diskussionsleute. Aber in Wirklichkeit kann keiner was entscheiden und alles geht nach M.

Eine begrenzte Kompetenz des Gesprächspartners ist nicht allein lästig für den Betriebsrat, sondern sie kann auch zu einer Schwächung seiner Position führen, wie die Äußerungen des folgenden Betriebsratsvertreters nahe legen: M20·BR2: Arbeitszeit haben wir mit dem Personalchef verhandelt. .. Der Personalchef hat gesagt: "Das kann ich als Arbeitgeber umsetzen und venreten, sowohl dem Verband als auch der Firma gegenüber" [ ... ] So, und das ist jetzt nicht mehr in der Form möglich. Wenn wir jetzt was ausmachen und einer von den Bereichsleitern sagt: "Das passt mir so nicht in den Kram rein ", dann geht das Verhandeln eigentlich wieder in dieser Untergruppe neu los. [ ... ] Da haben sich die Bereichsleiter zusammengeschlossen - quasi in 'nem sog. Nutzergremium - und nur wenn dieses Nutzergremium sich einig ist und das Okay gibt, dann da/fz. B. der Personalchefmit uns weiterverhandeln.

Kompromisse, die zwischen Betriebsrat und Personalleiter gefunden wurden, können somit erneut in Frage gestellt werden. Das Nachverhandeln droht dann zu Lasten des Betriebsrates zu gehen, der als selbst entscheidungsfähiger Verhandlungspartner bereits sein Einverständnis zu bestimmten Zugeständnissen signalisiert hat. Die Gefahr für den Betriebsrat besteht somit darin, dass diese Zugeständnisse als Status quo angesehen werden, während mögliche Gegenleistungen von Arbeitgeberseite wieder zur Disposition stehen. Besonders heikel wird es für einen Betriebsrat, wenn die Entscheidungsträger gänzlich außerhalb seines Einflussbereichs agieren. Eine solche Situation schildert folgender Managementvertreter: M21·GL: [ ... ] Strategische Entscheidungen - und damit auch Planung, Organisationsveränderung - trifft nicht die Geschäftsleitung hier, sondern werden in G. [Konzernsitz im Ausland - d. Verf.] getroffen und damit sind Leute verantwortlich, auch für das, was hier in Deutschland passiert, die sich nicht in diesem rechtlichen Rahmen der GmbH bewegen und damit logischerweise formal nicht ansprechbar auch für den Betriebsrat sein können. D. h., wenn man es jetzt mal personijizien: Der L. [Betriebsratsvorsitzender - d. Verf.] muss - kann gar nicht anders - mich möglicherweise prügeln für versäumte Informatio-

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nen, für Organisationsentscheidungen, mit denen ich - ich sage es jetzt ein bissehen schwarz/weiß - überhaupt nichts zu tun habe. Weil: Irgendeiner [ ... ] trifft z. B. eine Entscheidung, dass wir 20 Typen hier nicht mehr machen sollen, sondern in Poznan, in Polen, weil sie günstiger sind. Damit wird der Betriebsrat konfrontiert, als fertige Entscheidung. Er hat - brauche ich Ihnen nicht erzählen, Sie kennen es besser als ich - der hat keine Chance mehr; in die Planung im Prinzip einzugreifen, seine Meinung einzubringen, es ist nicht beraten worden, es ist niemals richtig infonniert worden, und, und, und... Und dann kommt er und sagt: "Du bist hier der Arbeitsdirektor und Geschäftsführer; Du bist der Schweinehund, auf den ich jetzt einprügeln muss, wohl wissend, dass Du der Falsche bist, aber den in G. kann ich nicht prügeln, weil da gibt's keine formal-rechtliche Beziehung. " [ ... ]

Der eigene Hinweis des Managementvertreters auf eine überspitzte Darstellung deutet darauf hin, dass solche externen Entscheidungsprozesse auch instrumentell eingesetzt werden können: Die Geschäftsführung kann sich somit unter Umständen auch hinter den auswärtigen Entscheidungsträgern verstecken. Ob dies auch im geschilderten Fall gilt, muss (und kann) jedoch offen bleiben. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass durch ein Auseinanderziehen von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz eine strukturelle Schwächung des Betriebsrates bewirkt werden kann.

6. Informationslage des Betriebsrates Die Informationspolitik des Arbeitgebers hängt natürlich ebenfalls eng mit dem praktizierten Mitbestimmungsstil zusammen. Angesichts der überwiegend kooperativen Interaktionsbeziehungen in den untersuchten Betrieben ist es nicht erstaunlich, dass die meisten Betriebsräte sich ausreichend informiert fühlten. Den Zusammenhang zwischen Partizipationsform und Unterrichtung des Betriebsrates erklärt der Personalleiter im Betrieb C6. Er macht darauf aufmerksam, dass ein offener Umgang mit Informationen eine enge Einbindung des Betriebsrates ermöglicht und damit seine Zustimmung zu belastenden Maßnahmen erleichtert: C6-GL: Wir haben uns angewöhnt, schon seit langem, die Betriebsräte und den Betriebsrat ziemlich ausführlich zu infonnieren. Das geschieht via Wirtschaftsausschuss, via Betriebsratssitzungen. So dass ich ganz ehrlich sagen muss, wir haben keine Probleme. Das macht sich bezahlt, wenn man die Leute offen und ehrlich infonniert. Dann ist niemand überrascht, wenn man mal irgendetwas tun muss, was vielleicht nicht so ganz glücklich ist für die Leute. Und aus dem Grunde haben wir keine Kontroversen oder irgendwelche Probleme in dem Sinne.

Je konfliktiver sich das Verhältnis zwischen den Betriebsparteien jedoch darstellt, desto problematischer ist hingegen zumeist die Informationspolitik von Arbeitgeberseite. Seine Schwierigkeiten in dieser Hinsicht äußert der Betriebsratsvorsitzende in dem durch ein konfliktorisches Interaktionsmuster geprägten Betrieb M16 auf die Frage nach der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens:

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M16-BR: Ja, also die wirtschaftliche Situation stellt sich nach den Informationen, die wir haben, relativ gut dar. Es ist nur ein Problem, dass wir zu wenig Informationen darüber bekommen, weil Wirtschaftsausschuss-Sitzungen - zumindest wie sie vorgesehen sind nicht stattfinden; sondern wir haben höchstens einmal im Jahr eine Zusammenkunft mit dem Arbeitgeber und da erfahren wir wirtschaftliche Daten, die aber teilweise auch schon veraltet sind.

Bei eindeutig unzureichender Weitergabe von Infonnationen stehen dem Betriebsrat allerdings bestimmte rechtliche Mittel zur Verfügung. In den §§ 106 ff. BetrVG ist geregelt, wie und worüber der Wirtschaftsausschuss zu unterrichten ist. So könnte sich der Betriebsrat im Betrieb M 16 darauf berufen, dass nach § 108 Abs. 1 BetrVG der Wirtschaftsausschuss einmal monatlich zusammentreten soll. Bei Meinungsverschiedenheiten über die Auskunft in wirtschaftlichen Angelegenheiten bestimmt § 109 BetrVG die Zuständigkeit der Einigungsstelle. Widersetzt sich der Arbeitgeber einem entsprechenden Spruch der Einigungsstelle, so steht dem Betriebsrat die Möglichkeit einer Erzwingung der Auskunftserteilung durch ein Beschlussverfahren ZU. 182 Insofern ist ein Betriebsrat also der Verweigerung von Infonnationen nicht schutzlos ausgeliefert. Dass allerdings auch die wirtschaftlichen Auskunftsrechte begrenzt sind, zeigt der Wunsch des folgenden Betriebsratsvertreters nach weitergehenden Regelungen: MS-BR: Dann wäre es aus meiner Sicht auch wünschenswert, den Bereich der wirtschaftlichen Informationen vielleicht tariflich zu bestimmen. Wünschenswert, aber wer wünscht sich das nicht, wenn sogar noch eine Mitbestimmung drin wäre, aber. .. gut. Aber ich wäre ja schon froh, wenn man da so ein gewissen Fundus hätte, wo man sagt: "So, und diese Information, die stehen mir mindestens auch zu. " Weil es gibt oftmals Bereiche, wo Herr D. [der Geschäftsführer - d. Verf.] dann zu mir sagt - oder er ist geneigt zu sagen: "Das ist ein Betriebsgeheimnis. " Und dann war es das.

Der Hinweis zielt auf die Regelung in § 106 Abs. 2 BetrVG: Danach hat der Unternehmer den Wirtschaftsausschuss rechtzeitig und umfassend über die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens zu unterrichten, soweit dadurch nicht die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens gefährdet werden. Die Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe weist zugleich auf die faktischen Grenzen der Auskunftsrechte hin, hängt doch viel von der tatsächlichen Bereitschaft des Arbeitgebers zur Auskunftserteilung ab. Gerade wenn es um strategische Planungen geht, stellt die rechtzeitige Unterrichtung des Betriebsrates ein Problem dar. 183 Gibt der Arbeitgeber nicht von sich aus seine Überlegungen preis, wird der Betriebsrat erst dann davon etwas erfahren, wenn es an die praktische Umsetzung geht. Dann hilft es ihm überhaupt nichts, sich auf die Verletzung von Infonnationspflichten zu berufen; denn am manifestierten Infonnationsvorsprung des Arbeitgebers sowie der unterbliebenen Beteiligung ändert dies nichts. Ähnlich sieht es mit der rechtlichen Erzwingung von Auskunftserteilungen aus, die zu einer 182 183

Ausführlicher hierzu F /K/H/E/S, 2002, § 109 Rn. 13 ff. Siehe hierzu Osterloh, ArbuR 1986, S. 332 ff.

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erheblichen zeitlichen Verzögerung führt. Der Betriebsrat erhält auf diesem Wege zwar die gewünschten Infonnationen, im ungünstigsten Fall kann er aber zum entsprechenden Zeitpunkt schon nichts mehr damit anfangen. Es geht somit nicht allein um ein rechtliches, sondern vor allem auch um ein faktisches Problem. Nachlässigkeit bei der rechtzeitigen und umfassenden Auskunftserteilung im betrieblichen Alltag gibt der folgende Geschäftsführer zu: M4-GLl: [ ... ] Gut, der Betriebsrat sagt uns immer mal wieder ab und zu: "Hör mal, da habt Ihr aber vergessen, uns zu informieren. " Es gibt so viele Dinge, über die wir informieren. Da kann man schon mal was vergessen . ..

Dass es sich hierbei nicht um Einzelfalle handelt,I84 zeigt auch die nachfolgende Aussage eines Betriebsratsvertreters: M14-BR: [ ... ] Bis zu einer gewissen Grenze sind sie immer freizügig, aber beim letzten Punkt, da bleibt es dann doch hinten vor mit der Information. Und dann heißt das dann nachher die große Entschuldigungstour: "Ja, haben wir nicht dran gedacht, haben wir vergessen. Beim nächsten Mal wird alles besser". Also diese Litanei, die kann ich hier schon runterbeten, ohne dass ich mich da groß bei anstrenge. [ ... ]

Es bleibt somit festzuhalten, dass die Infonnationslage des Betriebsrates ein potenzieller Schwachpunkt seiner Verhandlungsposition iSt. 185 Seine Möglichkeiten, die Vollständigkeit aller wichtigen Auskünfte zu überprüfen, sind in faktischer Hinsicht begrenzt. Spätere Entschuldigungen seitens des Arbeitgebers für unterbliebene Unterrichtungen ändern an der unterlassenen frühzeitigen Beteiligung des Betriebsrates nichts. Daher besteht in tatsächlicher Hinsicht eine starke Abhängigkeit des Betriebsrates von der Auskunftsbereitschaft des Arbeitgebers. 7_ Abhängigkeit von unternehmerischen Entscheidungen In zahlreichen Äußerungen von Betriebsräten und Gewerkschaftsvertretern wurde angeführt, dass die betrieblichen Arbeitnehmervertreter "erpressbar" seien. Hinter solchen Aussagen steht zumeist das Problem einer Abhängigkeit des Betriebsrates von unternehmerischen Entscheidungen des Arbeitgebers. Immer wieder schildeJ,ten Betriebsräte, dass sie mit der Androhung von Entlassungen konfrontiert wurden, falls sie sich nicht auf bestimmte Zugeständnisse einlassen sollten:

184 Instruktiv sind insofern auch die genannten Zahlen bei Müller-Jentsch/ Seitz, Industrielle Beziehungen 1998, S. 361, 370; während in einer Einschätzung des Informationsaustauschs mit der Betriebsleitung nur 14,1 % der befragten Betriebsräte diesen für "mangelhaft" erachteten, bewertete die große Mehrheit die Auskunftserteilung als "befriedigend" (35,7 %) oder "ausreichend" (29,5 %) und nur eine Minderheit sah insoweit die Zusammenarbeit als "gut" (18,4 %) bzw. "sehr gut" (2,4 %) an. 185 Zur Informationsasymmetrie zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat siehe auch Höland, 1985, S. 337 ff.

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M4-BRl: Das mit der 46-Stunden-Woche, das hat er mehr so als Spruch gebracht. Das ist aber hinter verschlossenen Türen mit den Abteilungsleitern durchaus diskutiert worden. Er hat uns mit auf den Weg gegeben: "Machen Sie sich schon mal Gedanken für 'ne 40-Stunden- Woche oder Entlassungen ", irgendwie so in dem Stil. [ ... ] [ ... ]

M4-BRl: [ ... ] Aber es ist für uns auch eine ganz schwierige Sache gewesen. Eine ganz, ganz schwierige Sache. Ich weiß bis heute nicht, ob es korrekt ist. Wir haben danach eben die Sache mit den Kündigungen gehabt. Und da ist uns wieder die Pistole auf die Brust gesetzt worden: "Wenn Ihr den Interessenausgleich durchzieht, dann mach' ich dicht. " [ ... ]

In die gleiche Richtung zielt die Drohung mit einer Auslagerung von Betriebsteilen, da dies ebenfalls zu betriebsbedingten Kündigungen führt. Im folgenden Beispiel war die entsprechende Aussage des Geschäftführers eine Reaktion auf die Forderung des Betriebsrates nach einem veränderten Leistungslohnsystem: M5-BR: [ ... ] Und mein Ziel war es [ ... ], Toleranzvorgaben zu geben. Das hätte allerdings dazu geführt, dass die Geschäftsleitung die Ermittlung von den Zeiten sehr aufwendig hätte machen müssen. Was bedeutet hätte, dass das sehr teuer geworden wäre. Und das wollten sie natürlich nicht. Da hat Herr D. [der Geschäftsführer - d. Verf.] wortwörtlich zu mir gesagt: "Herr E., passen Sie auf, was Sie sagen. Wir müssen uns dann überlegen, die Produktion nach außen zu verlagern ". Da habe ich einen Maulkorb verpasst bekommen. [ ... ]

Von manchen Betriebsräten wurde der Einsatz derartiger Druckmittel geradezu als eine Normalität angesehen: M21-BR2: Ja, o. k., also, Erpressungsmittel heißt: "Wenn Ihr das nicht macht, dann macht es möglicherweise der [ ... ] oder [ ... ] oder [ ... ] in Amerika oder weiß der Teufel, was", oder: "Es wird ausverlagert", oder: "Wir geben das nach Tschechien" oder. .. Das sind die üblichen Methoden, die überall herrschen.

Gewerkschaftsvertreter bestätigten diese Problematik und wiesen zugleich auf einen ebenfalls gewichtiges Druckmittel in der innerbetrieblichen Interaktion hin. Gerade in großen Konzernen besteht die Möglichkeit, einzelne Unternehmensstandorte gegeneinander in eine Konkurrenzsituation zu bringen, um die Betriebsräte zu Konzessionen zu veranlassen. Der folgende Vertreter der IG Metall, in dessen Zuständigkeitsbereich der Betrieb M15 flillt, äußerte nicht auch zuletzt mit Blick auf diesen Konzern: IGM-2: [ ... ] In diesem Standortwettbewerb, den inzwischen ja jeder Manager offenbar im ersten Semester lernt, dass man gegeneinander aufhetzen muss, ist natürlich jeder Betriebsrat leicht zu knebeln. Da wird gesagt: "Wir haben einen Parallelstandort, der ist billiger und besser und Ihr wollt sowieso nicht usw. " Das ist ein Druck - ich war selber lange genug Betriebsrat, um zu wissen, wie unerfreulich der ist. [ ... ]

Eine weitere Variante des gleichen Phänomens nennt der Erste Bevollmächtigte der Verwaltungsstelle IGM-lO: 9 Brecht

Teil I: Empirische Untersuchung

130

IGM-IO: Natürlich wird es auch so etwas geben und gibt es auch, weil das immer wieder probiert wird: "Die Investition kommt nur, wenn Ihr bereit seid, eine erhöhte Arbeitszeit mitzumachen. H

[

••• ]

Auch von einem Personalleiter (dessen Betrieb nicht im Zuständigkeitsbereich des zuletzt zitierten Gewerkschaftsvertreters liegt) wird die Verbindung von Investitionen und Zusagen des Betriebsrates bestätigt: M9-GL: [ ... ] Auf der anderen Seite fragen Sie: Gibt es jetzt Abhängigkeiten? Das heißt, so wie es der klassische Fall. .. Arbeitgeber sagt: " Wenn Ihr Mitarbeiter jetzt nicht da und da einlenkt, mache ich die Bude hier dicht und lass' in Tschechien produzieren Also ich will nicht sagen, dass das keine Rolle spielt bei uns. Also es spielt schon eine Rolle im Unternehmen, wenn auch vereinzelt, dass man so über gewisse Meilensteine 'rüber rauskommt. Ich weiß aus einem anderen Werk, dass da ein Investitionsstau erzeugt wurde, indem man gesagt hat: "So, das Wochenende muss fallen Wir konkurrieren mit Finnen, die in Billiglohnländern arbeiten, die rund um die Uhr arbeiten einschließlich Sonn- und Feiertagen. Und die Fixkosten, also die Maschinenkosten stehen an und die werden dann . .. die Summe wird auf die Anzahl gefertigter Stunden umgelegt. Und das ist ein Standortnachteil. Und da hat die Geschäftsführung dann schon drauf gedrungen und gesagt: "Also ich muss... Wochenende muss fallen, ansonsten investiere ich hier in dem Werk nicht mehr, sondern wir investieren dann dort, wo diese Rahmenbedingungen eben vorhanden sind Es passiert hier auch. Wir haben auch so einen Fall. [ ... ] Es gibt Amortisationszeiten. Sie müssen also eine Investition tätigen und müssen rechnen, d. h. früher hat man gesagt: ,,5 Jahre kann man amortisieren. Amis sagen: "Ein Jahr, allerhöchstens zwei Jahre muss das Geld wieder drin sein, sonst schlechte Investition H; dann investieren die auch konsequent nicht. Bei . .. [im Konzern von M9 - d. Verf.] heißt es bei größeren Investitionen: Vier Jahre. Höchstens. In vier Jahren muss das Geld wieder drin sein. Und wir hatten gerechnet dort und wir kamen auf 4 Jahre. Wenn wir konsequent bleiben würden, hätten wir gesagt: "Keine Investition, die Technologie verlässt das Haus. Und dann war die Frage ja: Wie können wir über Flexibilisierung was erreichen? Unser Betriebsrat hat große Probleme mit Samstagarbeit. [ ... ] Und insofern haben wir in dem Fall das erste Mal Folgendes gemacht, dass wir für das Jahr von den Mitarbeitern soundsoviel tausend Fertigungsstunden garantiert bekommen. H.

H.

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H

H

[

••• ]

Frage: In einem bestimmten Bereich? M9-GL: In einem Bereich, im Bereich dieser Maschine, die jetzt in den nächsten Tagen geliefert wird. Runde Million Mark kostet so ein Ding, und die ist dann so knapp über vier Jahre amortisiert sich die, wenn die im Jahr eben 8290 Stunden produziert. Das kann die aber nicht schaffen, wenn nur von montags bis freitags gearbeitet wird. Gut, wir müssen Investitionen in G. beantragen bei der Geschäftsleitung, die kriegen wir genehmigt und wir müssen eine Amortisation nachweisen und das kann man nur so. Na gut, man kann dann auch Erpressung sagen, aber das macht die andere Seite dann auch. Also das ist dann halt so. .. Wenn die Maschine hier erst steht. ..

Es gibt somit eine ganze Reihe von Druckmitteln, mit deren Androhung ein Arbeitgeber den Betriebsrat zu Konzessionen veranlassen kann. Die nach seiner Wahrnehmung gängigen Fallkonstellationen fasste ein Gewerkschaftsvertreter zusammen und gab zugleich eine Einschätzung über das Ausmaß:

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat

131

IGM-7: [ ... ] Aber dieses Druckmittel besteht schlichtweg darin, dass man die Leute erpresst: "Entweder Ihr macht es oder Ihr verliert Eure Jobs." Oder das zweite Druckmittel ist: "Entweder Ihr macht es oder Ihr kriegt die Investitionen nicht. " Oder: " Wenn Ihr das nicht macht, wenn Ihr da nicht zustimmt, dann können wir die befristet Beschäftigten nicht übernehmen. Wenn Ihr es aber macht, übernehmen wir die befristet Beschäftigten. " Also, das ist eine regelrechte Geiselnahme.

Frage: Sind das so Einzelfälle? IGM-7: Dies ist eigentlich momentan die Regel! Dass man das probiert, das ist die Regel. Wobei sich das insofern verändert hat, weil Arbeitslosigkeit zugenommen hat. Aber diese Forderungen der Arbeitgeber nach der 40-Stunden-Woche, nach Senkung des Urlaubs und Weihnachtsgeldes oder solche Dinge - oder nach Verlängerung der Arbeitszeit -, die sind nicht neu. Die hat es vorher schon gegeben. Auch das Druckmittel ist früher schon angewendet worden. Was sich vielleicht verändert hat ist, dass natürlich jetzt die Angst der Menschen größer geworden ist, solche Dinge zu akzeptieren.

Ob die Anwendung derartiger Druckmittel tatsächlich die Regel ist, kann angesichts der qualitativen Untersuchungsmethode der empirischen Studie nicht mit Sicherheit gesagt werden; andere Gewerkschaftsvertreter äußerten sich hierzu durchaus auch zurückhaltender. Die zahlreichen Schilderungen von betrieblichen Interviewpartner machen allerdings deutlich, dass es sich jedenfalls um ein verbreitetes Phänomen handelt. Ansatzpunkt ist jeweils die Frage derBeschäftigungssicherung. Daher erscheint die Einschätzung des letztgenannten Gewerkschaftsvertreters realistisch, dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit das Drohpotenzial betriebsbedingter Kündigungen besonderes Gewicht entfaltet. Im Regelfall werden betriebs bedingte Kündigungen auf ein unternehmerisches Konzept zur Angleichung des Personals an veränderten Arbeitsbedarf gestützt, das arbeitsgerichtlich nicht überprüfbar ist. 186 Damit hat es der Arbeitgeber allein in der Hand, Entscheidungszwänge herbeizuführen. Je glaubhafter die Androhung untemehmerischer Entscheidungen mit negativen Folgen für die Beschäftigungssituation erfolgt, desto größer ist die daraus resultierende Verhandlungsmacht des Arbeitgebers.

111. Strukturelles Ungleichgewicht Inwiefern ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Vertragsparteien besteht, lässt sich nicht ohne weiteres aus einem unangemessenen Verhandlungsergebnis ablesen. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass nicht jede Störung eines Verhandlungsgleichgewichts die Annahme einer gestörten Vertragsparität rechtfertigt. Vielmehr muss es sich hierzu um eine typisierbare Fallgestaltung han186 Schaub, 2002, § 131 Rn. 3 f.; zu den engen Ausnahmen einer gerichtlichen Kontrolle bei offenbar unsachlichen, unvernünftigen oder willkürlichen Entscheidungen siehe BAG 18. 8. 1999, AP Nr. 44 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl unter II. 2.; BAG 30. 4. 1987, AP Nr. 42 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung unter I.

9'

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Teil 1: Empirische Untersuchung

deIn, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt. 187 Die herausgearbeiteten Verhandlungseinflüsse sind daher darauf zu untersuchen, ob sie die Annahme einer strukturellen Disparität rechtfertigen. Die ersten drei der soeben erörterten Einflussfaktoren für betriebliche Verhandlungsergebnisse (Rückhalt in der Belegschaft, wirtschaftliche Situation des Betriebs und Erfahrenheit bzw. Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien) können zwar ein Ungleichgewicht zwischen den Betriebsparteien begründen, es muss dabei jedoch nicht zwangsläufig eine strukturelle Disparität vorliegen. Alle diese Faktoren sind nicht statisch, denn sie können sich sowohl zugunsten als auch zulasten des Betriebsrates auswirken. So kann es beispielsweise durchaus sein, dass ein Arbeitgeber die Belegschaft von eigenen Vorstellungen überzeugt und diesen Machtfaktor in betrieblichen Verhandlungen zu nutzen versteht. Auch die wirtschaftlichen Situation eines Betriebs kann je nachdem zu einer Stärkung des Betriebsrates oder des Arbeitgebers führen. Entsprechendes gilt ebenso für die Erfahrenheit und das Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien. Im Grundsatz sind diese drei Einflussfaktoren folglich als strukturell neutral hinsichtlich der Frage der Vertragsparität zu bewerten. Eine Besonderheit betrifft die Nutzung von Austauschprozessen. Der Tausch kann unter Umständen völlig unausgewogen erscheinen, so dass er häufig einen Indikator für eine Störung des Verhandlungs gleichgewichts darstellt. Das wird insbesondere dann gelten, wenn der Betriebsrat zur Kompensation einer Disparität Konzessionen hinsichtlich tariflicher Leistungen macht; er nutzt dann ein Tauschobjekt, das aus rechtlicher Perspektive nicht zu seiner Disposition stünde. Das strukturelle Ungleichgewicht folgt in solchen Fällen aber nicht aus dem Tausch, sondern ist vielmehr dessen Ursache. Die letzten drei Einflussfaktoren (Trennung von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz, Informationslage des Betriebsrates und Abhängigkeit von unternehmerischen Entscheidungen) begründen hingegen ein potenzielles Verhandlungsübergewicht des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat. Denn hier hat es jeweils der Arbeitgeber in der Hand, inwiefern der Betriebsrat in seiner Verhandlungsrnacht eingeschränkt wird. So kann bei einem Auseinanderziehen von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz die Mitbestimmung des Betriebsrates faktisch ins Leere laufen. Ähnlich ist es bei einer Missachtung von Informationspflichten: In beiden Fällen kann sich der Betriebsrat zwar darauf berufen, dass seine Rechte nicht beachtet wurden; an den ohne seine Beteiligung geschaffenen Fakten ändert sich hierdurch aber nichts. Verhindern kann er diese nur dann, wenn ihm im Hinblick auf die beschlossene Maßnahme ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht zusteht. Unterbliebene Unterrichtungs- und Beratungsrechte gewähren dem Betriebsrat hingegen kein Vetorecht. Am eindeutigsten ist schließlich das strukturelle Ungleichgewicht in den Fällen, in denen der Arbeitgeber durch Androhung unternehmerischer Entscheidungen den Betriebsrat zu bestimm187

BVeifG 5.8. 1994, NJW 1994, S. 2749, 2750.

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat

133

ten Konzessionen veranlasst. Dem Betriebsrat stehen keine rechtlichen Mittel zur Verfügung, um die unternehmerische Entscheidung zu verhindern. Seine Einflussmöglichkeiten beschränken sich vielmehr darauf, die sozialen Folgen der getroffenen Entscheidung (wie etwa durch Aushandlung eines Sozialplans gemäß § 112 BetrVG) abzumildern. Aus dieser Perspektive wird deutlich, weshalb sich manche Betriebsräte zur Verhinderung von Entlassungen auf die Duldung tarifwidriger Regelungen einlassen: So können sie (auch wenn ihnen dieses Mittel rechtlich gar nicht zusteht) unternehmerische Entscheidungen verhindern, die sie ansonsten hinnehmen müssten. Verhandlungen auf betrieblicher Ebene sind komplexe Prozesse, deren Ergebnis in der Regel nicht nur durch einen Faktor bestimmt werden. Vielmehr überlagern sich die verschiedenen Einflüsse, so dass mitunter strukturelle Disparitäten vom Betriebsrat durch Nutzung anderer Machtressourcen wie beispielsweise der Belegschaft relativiert werden können. Es besteht allerdings auch die realistische Gefahr für den Betriebsrat, dass in Fällen von Verhandlungsungleichgewichten an sich paritäts-neutrale Faktoren die Disparität noch verschärfen. Als Beispiel können die Schilderungen der folgenden Betriebsratsvertreter angesehen werden: M17-BRl: ( ... ) Aber wenn es um gewisse Dinge geht, die Firmen- oder Konzernstrategie sind, da wird dann ganz klar gesagt: "Jetzt machen wir das so. Wenn Ihr nicht wollt, wir sind europa- und weltweit engagien. .. " Dann heißt es schon: "Es gibt andere Werke. Wenn Ihr Euch nicht anpasst. .. " [ ... ]

Frage: Haben Sie eigentlich einen Europäischen Betriebsrat? M17-BRl: Ja. Der ist ganz neu. Da findet zwar auch nur ein Informationsaustausch statt. Das ist aber schon sehr interessant, wie uns mit den ausländischen Werken gedroht wird und den ausländischen Kollegen wird mit Deutschland gedroht. Das ist ein Ausspielen gegeneinander. [ ... ]

M17-BR4: Das ist genau unser Problem, dass man gegeneinander ausgespielt wird, dass der Druck kommt: " Warum geht es in G.? Warum geht es in D.? Warum legen sich die [in] T. quer?" So ungefähr wird man dann an die Wand gedrückt. Letztendlich sagt man: " Wenn nicht, dann gehen wir halt mit dem Produkt ins Ausland. Wir haben hier das ganze Werk segmentien. D. h., wir können ein Segment nehmen und können es eigentlich ohne Probleme irgendwohin verlagern. " Das ist akribisch genau vorbereitet. [ ... ]

M17-BRl: Die tendieren halt zum Modell BMW 4 Tage arbeiten und 3 Tagefrei und das rollierend, Samstag eingeschlossen. Wie man das schönschreibt, zeigt dieses Fabriktelegramm aus G. [liest]: "Durch unsere neuen Erzeugnisreihen glauben wir, dass wir europaweit gute Chancen für eine Stückzahlerhöhung bis über die Jahnausendwende hinaus haben. Deshalb prüfen wir derzeit sehr intensiv, in welchem unserer Kältestandone wir die erforderlichen Kapazitäten bereitstellen können. Hiervon kann auch G. betroffen sein. Die nächsten Wochen werden hier weitere Klärungen bringen. Um allerdings die dafür nötigen hohen zusätzlichen Investitionen für G. zu genehmigen, wird es nötig, mit den Betriebs-

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Teil 1: Empirische Untersuchung

räten alle Möglichkeiten für eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit und Arbeitskosten auszuschöpfen." G. hat über JOO Arbeitszeitmodelle. Die arbeiten jetzt schon am Samstag, zweischichtig, aber mit Zuschlägen. Wie man das hier schönschreibt: .. Mit den Betriebsräten reden. " Soll heißen: .. Wenn Ihr nicht wollt, dann gehen wir eben an andere Standorte. " Die anderen Standorte sind auch voll. Jetzt gehen wir in die Belegschaft hinaus und dann heißt es: .. Der Betriebsrat ist nicht gewillt, flexibel zu sein. " Dann haben Sie unter Umständen die Belegschaft im Kreuz und die sagen: .. Seid Ihr denn blöd? Lieber arbeiten wir doch samstags. Es geht ja um unsere Arbeitsplätze. " Man bereitet so ein Thema ganz clever auf. Da hat sich sehr viel geändert. Man geht nicht erst zum Betriebsrat oder gleichzeitig zum Betriebsrat und zur Belegschaft. Und in der heutigen Zeit bei 5 Mio. Arbeitslosen brauchen wir nicht reden. Die Leute sind kompromissbereit. Man muss nur gerade immer schauen, dass man einigermaßen noch im Tarifvertrag ist. Die würden viel mehr machen. Die sind bereit, zum Teil auch unter Tarif und mit extrem flexiblen Arbeitszeiten zu arbeiten.

In diesem Fall wird die Belegschaft, die typischerweise eine Machtressource des Betriebsrates darstellt, zum Druckmittel des Arbeitgebers. Im Zusammenspiel mit der Androhung, die Produktion an andere Standorte zu verlagern, steht der Betriebsrat hier also mit dem Rücken zur Wand. Es ist anzumerken, dass es sich bei dem Betrieb MI7 um das Interaktionsmuster des "Betriebsrates als kooperative Gegenmacht" handelt - also um den in der Untersuchung Kotthoffs als interessenvertretungswirksamsten bezeichneten Partizipationstypus. 188 Wenn demnach bereits eine außergewöhnlich effektive Arbeitnehmervertretung derartig unter Druck gerät, dann lässt das für weniger interessenvertretungswirksame Betriebsräte noch wesentlich drastischere Auswirkungen erwarten. Es gibt somit Handlungsbedingungen in der betrieblichen Interaktion, die potenziell eine strukturelle Disparität der Betriebsparteien begründen. Durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren können an sich nicht für eine gestörte Vertragsparität sprechende Einflüsse das Ungleichgewicht noch verschärfen. Es wäre allerdings verfehlt zu behaupten, dass sich eine solche Disparität in jedem Fall manifestiert. Gerade in Interaktionsbeziehungen, die auf Kooperation oder Harmonie ausgerichtet sind, erscheint es den Verhandlungspartnern vielfach nicht opportun, ihre Machtmittel auch wirklich einzusetzen. Es reicht hier vielmehr das gegenseitige Wissen um die Möglichkeit einer Mobilisierung der jeweiligen Machtressourcen, um sich im Wege des Kompromisses auf eine Regelung zu einigen. Die bestehenden Druckmittel brauchen daher gar nicht erst eingesetzt zu werden, damit sie ihre Wirkung entfalten. Daher erscheint es angebracht, von einer potenziellen Störung der Vertragsparität zu sprechen: Aufgrund der zur Verfügung stehenden Machtressourcen besteht also das Risiko einer Disparität zwischen den Betriebsparteien.

188

Vgl. Kotthoff, 1994, S. 66.

§ 5 Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat

135

IV. Ergebnis Betriebliche Interaktion ist eine auf Dauer ausgerichtete Verhandlungsbeziehung. Dementsprechend bilden sich Interaktionsmuster heraus, die das Verhalten der Betriebsparteien strukturieren. Das jeweilige Partizipationsmusters entscheidet darüber, inwiefern Machtressourcen von den betrieblichen Akteuren tatsächlich eingesetzt werden oder sich lediglich als ein im Hintergrund wirkendes Druckpotenzial im Verhandlungsergebnis niederschlagen. Als typische Einflussfaktoren der betrieblichen Interaktion konnten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Rückhalt des Betriebsrates in der Belegschaft, die wirtschaftliche Situation des Betriebs, die Erfahrenheit bzw. das Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien, die Nutzung von Austauschprozessen, ein Auseinanderziehen von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz, die Informationslage des Betriebsrates sowie seine Abhängigkeit von unternehmerischen Entscheidungen herausgearbeitet werden. Angesichts der Komplexität betrieblicher Verhandlungsprozesse erhebt diese Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit; es handelt sich aber um wiederkehrende Fallkonstellationen, die Einfluss auf betriebliche Verhandlungsergebnisse nehmen. Wahrend die ersten drei der genannten Faktoren (Rückhalt in der Belegschaft, wirtschaftliche Situation des Betriebs und Erfahrenheit bzw. Verhandlungsgeschick der Betriebsparteien) an sich noch kein strukturelles Ungleichgewicht der Betriebsparteien begründen, bewirken die letzten drei Fallkonstellationen (Trennung von Verhandlungsführung und Entscheidungskompetenz, Informationslage des Betriebsrates und Abhängigkeit von unternehmerischen Entscheidungen) eine Disparität zwischen den Betriebsparteien. Die Nutzung von Austauschprozessen - insbesondere die Duldung tarifwidriger Regelungen im Tausch gegen Beschäftigungssicherung - stellt ein nicht selten genutztes Mittel zur Kompensation disparitätischer Verhandlungssituationen dar. Faktoren, die ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber begründen, überlagern sich mit paritäts-neutralen Einflüssen und verschärfen folglich im Ergebnis das strukturelle Ungleichgewicht. Die in Teilbereichen bestehende Disparität wirkt sich damit negativ auf das Gesamtergebnis aus. Nicht jeder Arbeitgeber nutzt aktiv die aus der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit resultierenden Machtmittel aus mit der Folge, dass sich das strukturelle Ungleichgewicht in der Interaktionsbeziehung tatsächlich manifestiert. Vielfach reicht bereits das Wissen beider Seiten um den potenziellen Einsatz dieser Machtressourcen aus, um entsprechenden Einfluss auf das Verhandlungsergebnis zu entfalten. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, von einem Risiko gestörter Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zu sprechen.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen "Du weißt nicht, wie es ausgeht. " (IGM-IO)

Mit der Verlagerung tariflicher Entscheidungskompetenzen auf die betriebliche Ebene wird auch eine Quelle für Konflikte zwischen den Betriebsparteien geschaffen. 189 Dies lenkt den Blick auf die Frage, welche Verfahren den Betriebsparteien zur Lösung ihrer Konflikte zur Verfügung stehen. Diese sollen nachfolgend einer genaueren Betrachtung hinsichtlich ihrer Effektivität unterzogen werden.

I. Einigungsstellen Die Einigungsstelle ist gemäß § 76 Abs. I BetrVG für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat (ggf. auch Gesamtbetriebsrat oder Konzernbetriebsrat) vorgesehen. § 76 Abs. 2 BetrVG regelt, dass sie sich aus einer gleichen Anzahl von Beisitzern des Arbeitgebers und des Betriebsrates sowie einem unparteiischen Vorsitzenden zusammensetzt. Ihre Entscheidungen werden gemäß § 76 Abs. 3 BetrVG mit Stimmenmehrheit getroffen, so dass es im Fall einer Nichteinigung von Arbeitgeber und Betriebsrat im Rahmen des Einigungsstellenverfahrens letztlich auf die Meinung des Vorsitzenden ankommt. In Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung - insbesondere in sozialen Angelegenheiten (§ 87 BetrVG) sowie im Falle eines Sozialplans (§ 112 BetrVG) - wird die Einigungsstelle gemäß § 76 Abs. 5 BetrVG bereits auf Antrag einer Seite tätig. In allen anderen Fällen hingegen können sich die Betriebsparteien gemäß § 76 Abs. 6 BetrVG nur einvernehmlich auf ein Einigungsstellenverfahren verständigen. Die Kosten der Einigungsstelle hat nach § 76a BetrVG der Arbeitgeber zu tragen. 190 Überwiegend wird das Einigungsstellenverfahren in der Literatur als sinnvolle Einrichtung betrachtet. 191 Letztlich lässt es sich als logische Konsequenz des Verbots von Arbeitskämpfen der Betriebsparteien untereinander verstehen. 192 Die Nutzung einer Einigungsstelle stellte sich bei den untersuchten Betrieben als Ausnahme dar. Eine mehrfache Nutzung dieses Verfahrens zur Konfliktlösung konnte lediglich in den Betrieben M5, M8 und M16 festgestellt werden. Eine einmalige Einschaltung der Einigungsstelle erfolgte in den Betrieben M2, M7, M18, So auch Weitbrechtl Braun, 1999, S. 95. Umfassend zur Einigungsstelle einschließlich Literaturhinweisen vgl. MünchArbRJoost, 2000, § 320; U. WeberlEhrich, 1999; zu Fragen des praktischen Ablaufs von EinigungSstellenverfahren siehe Hunold, NZA 1999, S. 785 ff. und Rupp, AiB 2002, S. 335 ff. 191 Positiv: OechslerlSchänfeld, 1989, S. 96 f., m. w. N.; kritisch hingegen: MünchArbRJoost, 2000, § 320 Rn. 6 f. 192 F I KI HIEIS, 2002, § 76 Rn. 1. 189 190

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen

137

MI9, C6 und C7. Die überwiegende Mehrzahl der untersuchten Betriebe kam somit bislang ohne ein derartiges Verfahren aus. Eine relativ seltene Nutzung entspricht auch dem übereinstimmenden Ergebnis aller empirischen Untersuchungen über die Einigungsstelle. 193 Es stellt sich daher die Frage, wie diese geringe Häufigkeit zu erklären ist. Naheliegend erscheint es, den Grund hierfür in den nicht unbeträchtlichen Kosten des Einigungsstellenverfahrens zu suchen. 194 Dieser Kostendruck könnte gerade den Arbeitgeber veranlassen, ein solches Verfahren zu vermeiden. Entgegen ursprünglicher Erwartungen vor Untersuchungsbeginn erweist sich der Kostenfaktor nach Angaben von Arbeitgebervertretern jedoch als weniger bedeutsam. 195 Das bestätigt insbesondere der Personalleiter des Betriebs C6: C6-GL: Ich meine, der Druck liegt weniger in den Kosten, sondern darin, dass man wahrscheinlich - das hängt natürlich ein bissehen oder sehr vom Vorsitzenden ab - irgendetwas vereinbaren muss, was mit den betrieblichen Forderungen überhaupt nichts mehr zu tun hat. Das ist die Frage, die ich sehe.

Frage: Die Folgekosten sind dann höher als die Verfahrenskosten? C6-GL: Die sind erheblich höher.

Wichtiger als die Kostenfrage ist das bei vielen Betriebsvertretern bestehende Unbehagen bei der Vorstellung, Entscheidungsbefugnisse an externe Personen zu delegieren. 196 Die Betriebsparteien fühlen sich häufig besser in der Lage, betriebliche Probleme zu verstehen und zu lösen. Der Personalleiter von MI7 schildert dieses Misstrauen in die Kompetenz von Externen: M17-GL: [ ... ] Mit dem Einigungsstellenverfahren ist man ganz schnell am Ende. Aus meiner Sicht besteht bei diesem die Gefahr, dass irreversible Entscheidungen vielfach von Nichtfachleuten getroffen werden. Da haben die Parteien sich oft genug gewundert. [ ... ]

Die Skepsis zur fachlichen Kompetenz - zumeist handelt es sich bei dem Vorsitzenden um einen langjährigen Arbeitsrichter - lässt sich mit einer fehlenden Kenntnis des Vorsitzenden sowie externer Beisitzer hinsichtlich der spezifischen betrieblichen Situation erklären. Die gleiche Motivation veranlasst die Betriebspar193 KnuthlBüttnerlSchank, 1983, S. 264 f.; OechslerlSchönfeld, 1989, S. 12 ff.; vgl. ferner Müller-]entschISeitz, Industrielle Beziehungen 1998, S. 361, 370. 194 Die Kosten waren einer der meistgenannten Kritikpunkte in der empirischen Untersuchung von OechslerlSchönfeld, 1989, S. 98; sehr kritisch Glaubitz, DB 1983, S. 555, 557, dessen Untersuchung von 179 Einigungsstellenverfahren durchschnittliche - allerdings z. T. sehr stark schwankende - Kosten von ca. 8.600,- DM ergab; nach Angaben von Ziepkel Weiss, 1998, § 24 Anm. 3, liegen die Kosten für den Vorsitzenden bei ca. 3.000 bis 4.000 DM pro Verhandlungstag; für externe Beisitzer kann regelmäßig ein Honorar in Höhe von 70% des Vorsitzendenhonorars als angemessen angesehen werden, vgl. auch BAG 12. 2. 1992, AP Nr. 2 zu § 76a BetrVG 1972 unter B. 11. 3. a). 195 Zum gleichen Ergebnis kommt die Untersuchung von KnuthlBüttnerlSchank, 1983, S.285. 196 Die Skepsis gegenüber Außenstehenden schildert auch A. Bosch, 1997, S. 178.

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Teil I: Empirische Untersuchung

teien von M23, so lange selbst nach Lösungen zu suchen, bis ein tragfähiger Kompromiss gefunden ist: M23-GL: Wir versuchen, die Probleme zu lösen, bis der weiße Rauch aufsteigt. Wir holen keine Externen dazu - wir haben zum Beispiel nie ein Einigungsstellenverfahren gehabt, sondern rangeln so lange, bis ein Kompromiss rauskommt. Wir kennen im Grunde genommen am besten die Probleme, können am besten die Lösung erzeugen. Ein Externer - ein Unternehmensberater - dient ja häufig nur dazu, nach außen hin etwas zu verkaufen. Deshalb ist es in unserer betrieblichen Praxis nichts Ungewöhnliches, dass wir zusammensitzen.

Frage: Auch Einigungsstellenverfahren gibt es demnach nicht? M23-BR: Nein. Wir haben ja schon Probleme, das zu begreifen, was da drüben in der Fabrik abläuft. Und dann soll man noch einen Dritten ranlassen, der die Fabrik überhaupt nicht kennt, und den irgendwelche Entscheidungen treffen lassen, mit denen dann beide Seiten leben müssen. Da kann ja nichts Besseres herauskommen, als wenn wir uns gleich der Problemlösung widmen.

Es ist aber nicht allein die Angst vor der fehlenden Betriebskenntnis eines Einigungsstellenvorsitzenden, die Betriebsparteien vor diesem Verfahren zurückschrecken lässt. Zwar ist die - zumeist in Form einer Betriebsvereinbarung erfolgende Entscheidung der Einigungsstelle für die Betriebsparteien bindend. 197 Jedoch können Betriebsrat und Arbeitgeber im Rahmen gesetzlicher Vorschriften geltende betriebliche Vereinbarungen jederzeit durch neue Regelungen ersetzen. Folglich haben es die Betriebsparteien auch nach einer Entscheidung der Einigungsstelle in der Hand, sich einvernehmlich auf eine bessere Lösung zu verständigen. Insoweit ist es rechtlich betrachtet unzutreffend, von irreversiblen Entscheidungen zu sprechen. Eine nicht erfolgende Korrektur eines als unbefriedigend empfundenen Einigungsstellenspruchs kann also lediglich Folge fehlender Einigungsfähigkeit der Betriebsparteien sein. Das lenkt den Blick auf die Tatsache, dass auch die Ungewissheit eines Einigungsstellenergebnisses eine nicht unerhebliche Rolle spielt. 198 Die Unsicherheit liegt maßgeblich darin begründet, dass es im Endeffekt auf die Positionierung des Vorsitzenden ankommt. Er kann den Argumenten der einen oder anderen Seite stärkeres Gewicht beimessen, so dass die beantragende Partei nicht weiß, ob das beantragte Verfahren sich letztlich als vorteilhaft für sie erweist. Diese Ungewissheit beschreibt der Personalleiter von M9: M9-GL: [ ... ] Vor einer Schlichtungsstelle oder Einigungsstelle, da haben Sie ja nicht viel in der Hand. Das ist ja sehr stark auf die Person des Einigungsstellenvorsitzenden zugeschnitten. Und ich habe da kein gesteigertes Verlangen nach, denn Sie können vorher einen Verhandlungsstand haben, und zum Schluss haben Sie weniger. Und ich denke, die gleiche Angst hat der Betriebsrat auch. Das heißt, da haben Sie nicht mehr viel in der

FIKIHIEIS, 2002, § 76 Rn. 92f. Auf den Unsicherheitsfaktor verweisen auch A. Boschl Ellguthl R. Schmidt I Trinczek, 1999, S. 69 und 85. 197

198

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen

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Hand. Da kommt dann heraus, was herauskommt. Und so ein Einigungsstellenvorsitzender oder Schlichtungsstellenvorsitzender wird versuchen, irgendwelche Kompromisse zu finden, also sich nicht auf eine Seite zu schlagen, sondern irgendetwas in der Mitte zu finden. Aber die Chance, dass Sie hinterher weniger haben, als Stand der Verhandlungen war, also diese Chance besteht zumindest theoretisch. [ ... ]

Dementsprechend gibt es gewichtige Gründe für die Betriebsparteien, sich selbst auf einen Kompromiss zu verständigen, anstatt mit ungewissem Ausgang die Einigungsstelle anzurufen. Das setzt jedoch einen Lernprozess voraus, in dem sich die Betriebsparteien gegenseitig als kompetente und in Fragen der erzwingbaren Mitbestimmung gleichberechtigte Partner anerkennen. Dieses Merkmal fehlt in Fällen konfliktiver Mitbestimmungsstrukturen, so dass für solche Unternehmen eine häufigere Nutzung von Einigungsstellen naheliegend ist. Die Betriebe M5 und M16, die mehrfach Einigungsstellenverfahren praktizierten, gehören zu diesem Mitbestimmungstypus. 199 Eine mehrfache Anrufung der Einigungsstelle betraf darüber hinaus nur das Unternehmen M8, das inzwischen einen kooperativen Mitbestimmungsstil praktiziert. 2oo Zum Zeitpunkt der durchgeführten Einigungsstellenverfahren bestand jedoch noch ein konfliktives Verhältnis zwischen den Betriebsparteien, so dass hier inzwischen ein (durch die Privatisierung ermöglichter) Lernprozess festgestellt werden kann. Die Einsicht, dass eine betriebliche Einigung vernünftiger ist, erweist sich somit auch als Ausdruck einer gewachsenen Mitbestimmungskultur. 20 1 In Betrieben, die lediglich ein einziges Mal eine Einigungsstelle einschalteten, lag dieses Ereignis teilweise Jahre oder sogar Jahrzehnte zurück. Mitunter konnten die Gesprächspartner daher nicht mehr aus der eigenen Erfahrung berichten. Auffallend ist jedoch, dass die Erfahrungen dennoch nicht verloren gegangen sind, wie im Fall C6: C6-GL: Mein Vorgänger hat 1982 ein Einigungsstellenverfahren gehabt. lch habe mir das mal angeguckt. lch meine, der Vorsitzende hatte da Spaß dran: Ab einem gewissen Punkt ist das wie ein Schachspiel. Da ging es überhaupt nicht mehr um die betrieblichen Dinge, sondern wer hat Recht. Und wir hatten auch kein Thema, wo wir gesagt haben, wir brauchen jemanden von außen.

Es wäre somit falsch anzunehmen, dass ein lange zurückliegendes Einigungsstellenverfahren keine Bedeutung mehr für die betriebliche Praxis hat. Selbst wenn in einem Unternehmen kein einziges Einigungsstellenverfahren durchgeführt wurde, spielt allein schon seine theoretische Möglichkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein Beispiel hierfür liefert der Betrieb MB aus Sicht beider Betriebsparteien: Siehe oben § 5 I. sowie Höland/ Reim/ Brecht, 2000, S. 198 ff. Zu Betriebsräten in Betrieben mit kooperativem Interaktionsmuster siehe Höland/ Reim/ Brecht, 2000, S. 201 ff. 201 Zum Wandel von Interaktionsformen vgl. A. Bosch, 1997, S. 167; zum "attitudinal structuring" siehe ferner Höland/ Reim/ Brecht, 2000, S. 42 ff. 199

200

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Teil 1: Empirische Untersuchung

Mll-GL: [ ... ] Eine Einigungsstelle habe ich hier in 12 Jahren noch nicht erlebt. Und nicht, weil der Betriebsrat schwach ist, das glauben Sie bloß nicht. [ ... ]

Die Aussage des Personalleiters hinsichtlich der Stärke des Betriebsrates erklärt sich bei genauerer Betrachtung eines betrieblichen Konflikts zur vorübergehenden Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit im Rahmen eines Arbeitszeitkontos. In der Betriebsvereinbarung ist hierzu eine Ankündigungsfrist von "ca. 2 Wochen" vorgesehen. Im Streitfall erfolgte die Ankündigung jedoch lediglich 2 Tage vorher. Frage: Wie haben Sie diesen Konflikt dann gelöst? Mll-BR: Indem wir gedroht haben, zur Einigungsstelle zu gehen. Frage: Die Drohung hat gewirkt? Mll-BR: Ja. Wir hatten auch eindeutig klargestellt, dass wir gegangen wären. Frage: Wann waren Sie zuletzt bei der Einigungsstelle ? Mll-BR: Waren wir bisher überhaupt noch nicht. Aber wir hatten ja schon alles eingeleitet, mit der Gewerkschaft. Das war alles schon soweit, dass wir gesagt haben, um die Uhrzeit sind wir da. Eine Stunde vorher haben wir uns zusammengesetzt und eine Einigung gefunden und das war es dann. Frage: Und die Einigung besteht worin? Mll-BR: Dass sie das nicht mehr so kurifristig beantragen. Und dass dann noch zusätzlich ein Anreiz gegeben wurde: Am Freitag wurde die Arbeitszeit auf 8 Stunden verlängert, dafür wurde eine halbe Stunde zusätzlich noch gutgeschrieben als Freizeit - weil es so kurifristig war. Aber wir haben es trotzdem nicht so kurifristig gemacht, sondern erst eine Woche später.

In diesem Fall kam es also erst gar nicht zu einem Einigungsstellenverfahren, da bereits die Drohung eine Einigung bewirkte. Auch Vertreter der Betriebe M4, M12 und C4 berichteten von kurz bevorstehenden Einigungsstellenverfahren, wo es dann ebenfalls eine einvernehmliche interne Lösung gab. Die ernsthafte Androhung, eine Einigungsstelle anzurufen, kann damit eine wichtige Erklärung für die relative Seltenheit des Verfahrens sein. 202 Der Fall im Betrieb M4 macht deutlich, dass die Drohwirkung selbst in konfliktiven Mitbestimmungsstrukturen zu einer Einigung der Betriebsparteien führen kann: M4-BRl: [ ... ] Da ging es um den Interessenausgleich. Da ist man dann letztendlich auch nicht vor die Einigungsstelle gegangen, sondern hat sich zusammengesetzt. Die Zusammensetzung war: Wir zwei als Betriebsräte, unser Rechtsvertreter; unser Gewerkschaftssekretär; der Anwalt der Geschäftsleitung und die Geschäftsleitung. Und wir haben quasi dann ohne Einigungsstelle verhandelt und dabei unsere Vorstellungen - möchte ich sagen - auch durchbringen können. [ ... ]

M4-BRl: Für uns war das [die Androhung eines Einigungsstellenverfahrens - d. Verf.] ein Druckmittel. Das kann man ganz klar sagen. Für uns war das ein Druckmittel, weil es in der Tat für unsere Geschäftsführung so gewesen wäre, dass der Spruch der Einigungs202

So auch Knuth/Büttner/Schank, 1983, S. 344 f.

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsrnechanisrnen

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stelle für sie wesentlich schlechter hätte ausgehen können und die Geschäftssituation ganz schön negativ hätte beeinflussen können. Von den gesetzlichen Vorgabe her hätten die beim Interessenausgleich bis zu 12, 18 Monatslöhne z. B. geben können. Das ist durchaus üblich. Das wäre weit über den Rahmen hinausgegangen, was wir in der jetzigen Firmensituation für vertretbar hielten. Wir standen kurz vor einem Konkurs. Das kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Trotzdem waren wir der Meinung, es muss eine Abfindung gezahlt werden. Man kann langjährige Kollegen nicht einfach ohne Abfindung gehen lassen. Und für uns war das mit der Einigungsstelle ganz klar ein Druckmittel in Richtung: "Hier, Du hast einen Interessenausgleich nicht versucht. Das war Dein Fehler. Und wir halten unsere Forderung - ein halbes Bruttogehalt pro Beschäftigungsjahr - in der jetzigen Situation für legitim. Entweder Du zahlst das jetzt oder wir ziehen das durch. "

Die Bedeutung der Einigungsstelle lässt sich somit nicht allein durch die Untersuchung des Einigungsstellenverfahrens selbst erschließen. Ihre Wirkung zeigt sich vielmehr auch gerade darin, inwieweit im Rahmen betrieblicher Interaktion Einigungen erst dadurch zu Stande kommen, dass die Betriebsparteien eine Verlagerung von Entscheidungskompetenzen zu verhindern suchen. Insoweit unterschätzen Oechsler / Schönfeld die Bedeutung der Drohung mit einem Konfliktlösungsmechanismus, wenn sie die im Rahmen ihrer Untersuchung erfragte Einschätzung eines Experten als indifferent bezeichnen. Der betriebliche Experte bewertete die Einigungsstelle als ein "Verfahren, das wegen seiner Nichtberechenbarkeit den Zwang zur Einigung in sich birgt und insoweit möglicherweise erfolgreich ist.,,203 Inwiefern ein Verfahren zur Konfliktlösung erfolgreich ist, kann sich gerade auch in der Tatsache zeigen, dass es gar nicht erst bis zu seiner Einleitung kommt. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass eine wiederholte Nutzung von Einigungsstellen nur in konfliktiven Mitbestimmungsstrukturen festgestellt werden konnte. In anderen Fällen stellt das Einigungsstellenverfahren eine seltene Ausnahme dar. Die Betriebsparteien scheuen sich vor allem vor der Abgabe ihrer Entscheidungskompetenzen nach außen, da Externen einerseits weniger Verständnis für die betriebliche Situation unterstellt wird und andererseits die Ungewissheit des Ergebnisses eine Verschlechterung im Vergleich zu selbst gefundenen Kompromissen bedeuten kann. Der Wunsch nach Vermeidung eines Einigungsstellenverfahrens führt zu einem Einigungsdruck auf betrieblicher Ebene. Dieser kann durch die explizite Drohung mit einer Anrufung der Einigungsstelle noch verstärkt werden.

11. Tarifliche Schlichtungsstellen Nach § 76 Abs. 8 BetrVG kann durch Tarifvertrag festgelegt werden, dass an die Stelle der Einigungsstelle eine tarifliche Schlichtungsstelle tritt. 204 Von dieser OechslerlSchönfeld, 1989, S. 97. Zu Einzelheiten vgl. insbesondere GK-BetrVG-Kreutz, 2002, § 76 Rn. 180-186; Rieble, RdA 1993, S. 140 ff.; ablehnend Schlüter, in: FS. P. Hanau, 1999, S. 559 ff. 203

204

142

Teil 1: Empirische Untersuchung

Möglichkeit haben die Manteltarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Gebrauch gemacht. Als Beispiel für die Gestaltung einer solchen tariflichen Schlichtungsstelle kann § 24 des Manteltarifvertrags für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens (vom 11. 12. 1996 i. d. F. v. 23. 10. 1997) betrachtet werden: In allen Fällen. in denen dieser Vertrag eine Einigung einschließlich Betriebsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vorsieht und eine solche nicht zustande kommt, sind die Vertreter der vertragschließenden Parteien hinzuzuziehen. Gelingt auch dann eine Übereinstimmung nicht, so ist die Angelegenheit einer Einigungsstelle vorzutragen, die aus je zwei von den Tarifvertragsparteien zu benennenden Beisitzern und einem unparteiischen Vorsitzenden besteht, auf den sich die Parteien einigen sollen. Kommt eine Einigung über die Person des Vorsitzenden nicht zustande, so entscheidet unter den Vorschlägen das Los. Eine Einigungsstelle regelt den Streitfall verbindlich.

Bereits die in diesem Manteltarifvertrag verwendete Bezeichnung der tariflichen Schlichtungsstelle als "Einigungsstelle" weist auf die überwiegende Gleichartigkeit dieses tariflichen Verfahrens mit dem oben geschilderten gesetzlichen Einigungsstellenverfahren hin. Die tarifliche Schlichtungsstelle ersetzt dabei die gesetzliche Einigungsstelle. 205 Entsprechend der Ähnlichkeit beider Verfahren ergaben sich auch vergleichbare Beobachtungen. Die Anrufung einer tariflichen Schlichtungsstelle lässt sich aufgrund des Forschungsmaterials ebenfalls als Ausnahmefall feststellen. Lediglich Vertreter aus den Betrieben M8, MIO, M14, M16, M17 und M21 berichteten uns von der Durchführung eines Schlichtungsstellenverfahrens, das zum Teil schon mehrere Jahre zurücklag. Nur bei M16 - einem Betrieb mit konfliktorischem Interaktionsmuster06 - kam es wiederholt zur Anrufung der tariflichen Schlichtungsstelle. Die Gründe hierfür nennt der Betriebsratsvorsitzende: M16-BR: Es ist so, dass der Arbeitgeber nur das macht, was er unbedingt machen muss. Das, was wir erzwingen können, da funktioniert es manchmal, manchmal verweigert er aber auch dies, so dass man teilweise Arbeitsgerichtsprozesse machen muss. [ ... ] Das Problem ist, dass der Herr K. [der Finneninhaber - d. Verf.] relativ diktatorisch ist und sagt: .. So muss es sein. " Und wenn es nicht so ist oder nicht so sein soll, dann ist es sehr schwierig, eine betriebliche Lösung zu finden. Und das Problem ist, dass meiner Ansicht nach die Firmenleitung halt nicht in der Lage ist, mit uns betriebliche Lösungen zu finden. Das hat sie auch gesagt, bei der letzten Vereinbarung zur Arbeitszeit. Da haben wir halt noch mal eine Schlichtung [ein tarifliches Schlichtungsstellenverfahren - d. Verf.] machen müssen, damit wir eine Vereinbarung zu Stande gebracht haben. [ ... ]

Das Zitat weist darauf hin, dass in diesem Fall die Anrufung der Schlichtungsstelle auch eine Art Alibi-Funktion einnehmen könnte: Nach Angaben des Betriebsratsvorsitzenden ist die Firmenleitung angesichts des "diktatorischen" Füh205 206

Ziepke/Weiss, 1998, § 24 Anm. 3. Siehe hierzu auch Höland/Reim/Brecht, 2000, S. 198 ff.

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen

143

rungsstils des Finneninhabers nicht in der Lage, mit dem Betriebsrat betriebliche Lösungen zu finden. Ein Schlichtungsstellenverfahren könnte somit eine Rechtfertigungsfunktion gegenüber dem Finneninhaber einnehmen. Das (einvernehmlich) erzielte Ergebnis der Schlichtung kam jedoch nach Aussagen des Betriebsratsvorsitzenden deshalb zu Stande, weil der Vorsitzende zu erkennen gegeben hatte, eine entsprechende Regelung zu unterstützen. Dennoch dürften die Verhandlungspartner auf Arbeitgeberseite im Rahmen des Schlichtungsstellenverfahrens größeren Verhandlungsspielraum haben, als dies bei sonstigen Aushandlungsprozessen im Betrieb Ml6 üblich ist, da durch die Schlichtungsstelle ggf. auch eine Entscheidung gegen den Willen der Arbeitgeberseite getroffen werden kann. 207 Im Vergleich zur gesetzlichen Einigungsstelle zeigen sich bei der tariflichen Schlichtungsstelle einige Vorteile. Die vom Arbeitgeber zu tragenden Kosten, die immer wieder als Kritikpunkt gegen das Einigungsstellenverfahren angeführt werden, sind bei der tariflichen Schlichtungsstelle geringer?08 Umstritten ist allerdings, inwiefern die Kosten für die Beisitzer von den Tarifvertragsparteien zu tragen sind. 209 Aus der betriebsverfassungsrechtlichen Funktion der tariflichen Schlichtungsstelle210 - nämlich die Lösung von Konflikten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat - folgt, dass jedenfalls eine Verpflichtung der Tarifvertragsparteien zur Kostenübernahme nicht besteht. Dies schließt jedoch eine freiwillige Übernahme der Kosten durch die Tarifvertragsparteien nicht aus. 211 Hinsichtlich des Honorars für den Vorsitzenden ist anerkannt, dass dieses der Arbeitgeber zu tragen hat. 212 Von Gesprächspartnern wurde das im Vergleich zur gesetzlichen Einigungsstelle deutlich schnellere Verfahren gelobt. So ist beispielsweise im bayerischen Manteltarifvertrag für die Entscheidung der Schlichtungsstelle eine Frist von 6 Tagen (bzw. 14 Tage bei Fragen der Entlohnung) vorgesehen. 213 Ein Gewerkschaftsvertreter wies allerdings darauf hin, dass die längere Verfahrensdauer der gesetzlichen Einigungsstelle ein starkes Druckmittel für den Betriebsrat sein konnte:

207 Ein weitergehendes Beispiel für die Nutzung einer Einigungsstelle als Alibi nennen KnuthlBüttnerlSchank, 1983, S. 322 ff. 208 Schumann, DB 1983, S. 1094, 1097. 209 Bejahend: Schumann DB 1983, S. 1094, 1097; StegelWeinspachlSchiejer; 2002, § 76 Rn. 30; ZiepkelWeiss, 1998, § 24 Anm. 3. Verneinend: DietzlRichardi, BetrVG, 6. Aufl. 1982, § 76 Rn. 146; GK-BetrVG-Kreutz, 2002, § 76a Rn. 64. 210 Hierzu eingehend Rieble, RdA 1993, S. 140, 144; vgl. zur generellen Einordnung von Einigungsstellen als Organ der Betriebsverfassung U. Fischer; DB 2000, S. 217, 218. 211 Vgl. etwa das Beispiel bei Rieble, RdA 1993, S. 140, 152. 212 LAG Hamm 22.10.1991,13 TaBV 17/91 (n. v.); ZiepkelWeiss, 1998, § 24 Anm. 3. 213 Vgl. § 29 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (vom 1. 12. 1973 i. d. F. v. 1. 11. 1997) bzw. § 18 Manteltarifvertrag für die Angestellten der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (vom 31. 10./2. 11. 1970 i. d. F. v. 1. 11. 1997).

144

Teil 1: Empirische Untersuchung

IGM-8: [ ... ] Nun konnte man ja früher; als es das Schlichtungswesen im Tarifvertrag nicht gab, wenn ein Unternehmer z. B. für die nächste Woche Mehrarbeit haben wollte und der Betriebsrat das ablehnte, die Einigungsstelle erst 3 Monate später damit befassen. Dann war der Tennin längst vorbei. Da haben die Unternehmer natürlich ganz stark auf eine Beschleunigung des Verfahrens gedrängt. [ ... ] Früher war das Druckmittel eben stärker. Die tarifliche Schlichtung hat also aus unserer Sicht nicht nur Vorteile. Aber wir haben das mal in einer Phase aus Gründen eines Kompromisses so verabredet.

Die kürzere Verfahrensdauer mag zwar aus gewerkschaftlicher Sicht teilweise mit taktischen Nachteilen verbunden sein. Letztlich konzentriert sich so aber der Blick weg von Verfahrensfragen hin zu den eigentlichen Konfliktpunkten der angestrebten Regelung, was im Interesse aller Beteiligten liegt. Dadurch erhöht sich prinzipiell auch die Akzeptanz des Verfahrens sowie der getroffenen Entscheidung. Ein weiterer Vorteil der tariflichen Schlichtungsstelle besteht in der Einbeziehung der fachlichen und tarifpolitischen Kompetenz der Tarifvertragsparteien. Das verschafft den Tarifpartnern insbesondere auch die Möglichkeit, die Einhaltung des Flächentarifvertrags sicherzustellen?14 Darüber hinaus erhalten sie auf diese Weise unmittelbaren Einblick in betriebliche Bedürfnisse und Erfahrungen, was wiederum in Tarifverträgen seinen Niederschlag finden kann. Aus seiner Sicht fasst ein Arbeitgebervertreter die Vorzüge der Schnellschlichtung so zusammen: M17-GL: [ ... ] Der Vorteil gegenüber dem Einigungsstellenverfahren ist aus meiner Sicht - wir hatten noch kein Einigungsstellenverfahren -, dass diese Schnellschlichtung erstens zeitlich unter Druck ist. Das ist vom Tarifvertrag so vorgegeben. Und zweitens, dass in jedem Fall Verbandsvertreterdabei sind, bei denen man wohl zu Recht davon ausgeht, dass die ihre Sache verstehen. Es ist also primär kein neutraler Dritter dabei. Der kommt dann dazu. Aber die Hauptwahrnehmung der Interessen wird auch von den Verbänden mitgetragen.

Die Gründe für die eher seltene Anrufung der tariflichen Schlichtungsstelle lassen sich wie bei der gesetzlichen Einigungsstelle vor allem darin sehen, dass die Betriebsparteien eine mit ungewissem Ausgang verbundene Abgabe ihrer Entscheidungskompetenzen an Externe vermeiden wollen. Entsprechend fasst der Erste Bevollmächtigte der IG-Metall-Verwaltungsstelle IGM-lO seine Erfahrungen mit der tariflichen Schlichtungsstelle zusammen: IGM-IO: [ ... ] So ist das auch zu verstehen, dass man sagt: "Also passt auf, jede Seite kann in bestimmten Situationen die Schlichtungsstelle anrufen. " Nur man muss wissen: Du weißt nicht, wie es ausgeht. Von daher ist natürlich der Druck da, dass man sagt: " Wir wollen es möglichst im Betrieb schon regeln, ohne nach draußen zu gehen. " Viele Arbeitgeber haben einen zusätzlichen Druck, weil sie sagen: "In so einen Konflikt wollen wir andere nicht einbeziehen. Wir wollen es doch im Betrieb regeln. " Es ist ein Druckmittel und soll auch ein Druckmittel bleiben.

214

Rieble, RdA 1993, S. 140, 144.

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen

145

Solange die Betriebsparteien selbst zur Findung eines Kompromisses in der Lage sind, erscheint ihnen dies vorzugswürdig. Das schließt dennoch nicht aus, dass gelegentlich mit einem Schlichtungsstellenverfahren gedroht wird, wenn Verhandlungen nicht weiter kommen. Ein Betriebsratsmitglied von M21 schildert solche Situationen, wo die Betriebsparteien schließlich doch zu einer eigenen Lösung kommen: M21-BR2: Sicherlich, wenn man einmal bei dem einen oder anderen Punkt nicht weiter-

kommt, dann droht man schon und sagt: ,,0. k., gehen wir in die Schlichtung!" Aber dann geht man meistens wieder in die eigene Kammer zurück, beide Seiten überlegen und man sagt: ,,0. k., kommt und lasst uns es doch noch einmal versuchen. " Denn bei den bisherigen Vereinbarungen kann man nicht unzufrieden sein. Deswegen haben wir fast ein bisschen Angst, wenn wir einmal aus irgendeiner emotionalen Situation heraus in die Schlichtung gehen würden und die entscheidet etwas, wo beide sagen: "Mensch, das hätten wir doch für alle viel besser haben können. "

In einem anderen Fall machte der Betriebsrat die für ihn unangenehme Erfahrung, seine Vorstellungen mit einem Schlichtungsstellenverfahren nicht durchsetzen zu können. Zwei Vertreter des Betriebsrates rekapitulieren ihre Erfahrungen mit dem Verfahren: M17-BRl: [ ... ] Im Zuge der Gruppenarbeit wollten wir vom Akkord weg hin zur

Prämienentlohnung, weil wir wissen, dass es bei Gruppenarbeit eine höhere Produktivität gibt. Die liegt zwischen 20 - 30 %. Davon wollten wir etwas. Und wir haben gesagt: " Wir wollen Prämienentlohnung. " Das jetzige System sollte übertragen und eine Prämie oben drauf gesetzt werden, z. B. für Qualität oder Liefertreue. Da in diese Richtung innerbetrieblich nichts gelaufen ist, sind wir nach außen gegangen. Den Antrag haben wir dann aber zurückgezogen, weil wir wahrscheinlich verloren hätten. [ ... ]

Frage: Der Schlichter hatte Ihnen zu erkennen gegeben, dass Sie keine guten Karten ha-

ben?

M17-BR2: Ja. Und der hat auch nicht den Unterschied zwischen Prämie und Akkord gekannt.

M17-BRl: Obwohl wir den Fehler da auch bei uns suchen müssen, weil wir in die Schlichtung gegangen sind, obwohl wir noch voll in den Beratungen waren. [ ... ]

Die recht harsche Kritik am Vorsitzenden der Schlichtungs stelle dürfte auch in der Enttäuschung über den Misserfolg begründet sein. Letztlich erkennt der Betriebsrat aber an, dass eine Verlagerung von Konflikten nach außen erst dann sinnvoll ist, wenn eine innerbetriebliche Einigung als gescheitert angesehen werden muss. Insofern erweist sich eine mögliche Hoffnung, durch frühzeitiges Einschalten einer externen Instanz einen Zugewinn an Verhandlungsmacht zu erreichen, als trügerisch. Einen ähnlichen Lernprozess nach einer für den Betriebsrat nicht erfolgreich verlaufenen Schlichtung, der man sich freiwillig unterworfen hatte, bringt der Betriebsratsvorsitzende von M8 auf den Punkt: M8-BR: [ ... ] Und wir haben mit dem Schlichter den Fehler gemacht, dass wir eigene Machtpositionen nach außen gegeben haben. Das wird nie wieder passieren. \0 Brecht

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Teil I: Empirische Untersuchung

Zusammenfassend ist somit zu sagen, dass die tarifliche Schlichtungsstelle wie die gesetzliche Einigungsstelle nur in Ausnahmefallen genutzt wird. Aufgrund geringerer Kosten, eines schnelleren Verfahrensablaufs und der unmittelbaren Einbeziehung von Kompetenzen der Tarifvertragsparteien weist die Schlichtungsstelle einige Vorzüge auf. Die Möglichkeit ihrer Anrufung verstärkt den Einigungsdruck auf die Betriebsparteien. Die Einleitung eines Schlichtungsstellenverfahrens erscheint aber angesichts eines möglicherweise negativen Ausgangs für die beantragende Partei nur dann als empfehlenswert, wenn eine interne betriebliche Lösung endgültig nicht erreicht werden kann.

III. Paritätische Kommissionen Ein weiteres Verfahren betrieblicher Konfliktlösung können paritätische Kommissionen auf Betriebsebene sein. 215 Sie bestehen aus Personen, die zu gleicher Anzahl von Arbeitgeber und Betriebsrat benannt werden. Die Einrichtung einer paritätischen Kommission kann nach § 28 Abs. 2 BetrVG aufgrund einer Absprache der Betriebsparteien erfolgen. 216 Ferner ist auch zulässig, dass in Tarifverträgen derartige betriebliche Einrichtungen geschaffen und mit schiedsgutachterlichen Aufgaben betraut werden können. 217 Eine Vertreterin des Unternehmens M22 schildert die Praxis der von ihnen eingesetzten paritätischen Kommissionen: Frage: Gibt es in den Betriebsvereinbarungen Konfliktlösungsverfahren? M22-GLl: Ja. Wir nennen das "Paritätische Kommission Wir haben einige Vereinbarungen, da ist die paritätische Kommission auch schon hinterlegt für bestimmte Konfliktfälle. In welcher Größenordnung sie installiert ist, wer von der Arbeitgeberseite oder von der Arbeitnehmerseite darin vertreten ist. Nicht personell, aber z. B. der Vorsitzende, oder ein Betriebsrat vom Standort . .. , ... oder . .. ,je nachdem. H.

Frage: Vereinbaren Sie diese paritätische Kommission für jede Betriebsvereinbarung ? M22-GLl: Nein. Wir haben z. B. vorhin über das Arbeitszeitkonto gesprochen. Da haben wir darauf hingewiesen, dass 150 Plus / Minus Stunden eine Art Warnung auslösen. Wenn die überschritten sind, schaut sich eine Kommission das an und fragt nach Lösungsansätzen für den Bereich oder den einzelnen Mitarbeiter. Dann gibt es die Entlohnungsvereinbarungen, die bereits vorgestellt wurden. Da haben wir auch an verschiedenen Stellen diese Kommission installiert, für Streitigkeiten über die Entlohnung oder über die persönliche Firmen-Zulage bei der Bewertung. Diese persönliche Firmen-Zulage haben wir ein Stück aus dem Tarifwerk entnommen; Zeitlohn und Leistungsbeurteilung. Sie ist zwar nicht 215 Vgl. als praktisches Beispiel auch die Einbeziehung der paritätischen Kommission in die Betriebsvereinbarung zur Ampelvereinbarung für den Betrieb M20 oben in § 2 H. 5. d). 216 Zu Einzelheiten siehe D/K/K-Blanke, 2002, § 28 Rn. 17 ff.; F / K/H/E/S, 2002, § 28 Rn. 38 ff. Aus der Gesetzesbegründung zur Reform des BetrVG 2001 geht hervor, dass die Neufassung von § 28 Abs. 2 BetrVG keine Veränderung in inhaltlicher Hinsicht bedeutet; vgl. BT-Drs. 14/5741, S. 40. 217 BAG 22. 1. 1997, AP Nr. 146 zu § 1 TVG Tarifverträge Metallindustrie unter III. 2. e).

§ 6 Effektivität betrieblicher Konfliktlösungsmechanismen

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identisch - es sind andere Faktoren -, aber sie ist daran angelehnt. Und bei Konflikten ist auch hier die paritätische Kommission gefragt. Nehmen wir als Beispiel die Soll-Datenermittlung bei der Entlohnung. Wenn es da Streitigkeiten gibt, wird die Angelegenheit von einer paritätischen Kommission entschieden. Beispielsweise bei der Ermittlung der SollDaten, die die Grundlage für die Prämienentlohnung bilden. Oder nehmen wir die persönlichen Zulage. Dort soll zunächst versucht werden, über ein Vorgesetztengespräch unter Einschaltung der Personalabteilung und eines beauftragten Betriebsrates einen Konsens zu finden. Wenn das nicht gelingt, entscheidet eine paritätische Kommission bestehend aus zwei Arbeitgebervertretem und zwei Mitgliedern des Betriebsrates.

Frage: Und die Kommission ist nur zuständig für Auslegungsstreitigkeiten im Rahmen von Betriebsvereinbarungen ? M22-GLl: Entweder Auslegungsstreitigkeiten oder Streitigkeiten in der Bewertung, z. B. wenn es um Entlohnungsfragen geht. Frage: Wie groß ist die Kommission insgesamt? M22-GLl: Das hängt jetzt von dem Einzelfall ab. Meistens sind es 3 zu 3. Es gibt aber auch kleinere, 2 zu 2. Die Entscheidungen der Kommission werden in Protokollen festgehalten. Frage: Welchen rechtlichen Charakter haben diese Protokolle? M22-GLl: Das ist auch wieder unterschiedlich, je nachdem welches Regelwerk zugrunde liegt. Das kann eine Empfehlung sein, es kann aber auch eine verbindliche Entscheidung sein. Frage: Was passiert, wenn keine Einigung zu Stande kommt? M22-GLl: Sie einigen sich. Wenn nicht, dann geht das den normalen rechtlichen Weg. Es gibt keine weitere betriebliche Instanz. Im Unterschied zu den oben dargestellten gesetzlichen Einigungsstellen oder tariflichen Schlichtungsstellen besteht kein Mechanismus, der zwangsläufig zu einer Einigung führt. Insofern lässt sich aus der angedrohten Einschaltung einer paritätischen Kommission kein Verhandlungsdruck erzeugen, der sich förderlich auf eine Einigung der Betriebsparteien auswirkt. Vielmehr handelt es sich lediglich um die Verlagerung des Konfliktes auf ein anderes Forum. Dies ist sowohl mit Chancen als auch mit Risiken verbunden. 218

Ein Risiko besteht darin, dass sich durch die Übertragung der Entscheidung auf eine kleinere Gruppe bestehende Machtasymmetrien zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat verschärfen können. So besteht die Möglichkeit, dass die einzelnen Mitglieder der Kommission aufgrund ihrer persönlichen Abhängigkeit stärker unter Zustimmungsdruck geraten, als dies bei dem größeren Gremium Betriebsrat der Fall wäre. 218 Ein differenziertes Bild bietet auch eine Untersuchung von 1995 zur Rolle und Funktion paritätischer Eingruppierungskommissionen nach dem Lohn- und Gehaitsrahmentarifvertrag I im Tarifgebiet Nordwürttemberg/Nordbaden. In der Gesamtbetrachtung kommen die Autoren jedoch zu dem Ergebnis, dass sich die Institution paritätische Kommission gut bewährt hat; Jauch/W. Schmidt, WSI-Mitteilungen 1995, S. 583, 588 f. 10*

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Teil I: Empirische Untersuchung

Andererseits kann sich die Schaffung eines zusätzlichen Forums auf betrieblicher Ebene auch als vorteilhaft erweisen. Gerade in festgefahrenen Verhandlungen bietet die Verlagerung des Konflikts die Chance einer Versachlichung der Auseinandersetzung. Zudem kann ein Wechsel der die Verhandlung führenden Personen dazu führen, dass neue Ideen und Perspektiven in die Diskussion eingebracht werden. Schließlich kann den Kommissionsmitgliedern klar sein, dass ihre Einigung die letzte Möglichkeit einer innerbetrieblichen Lösung darstellt, da ansonsten nur noch ein Verfahren der Schlichtungs- oder Einigungsstelle mit ungewissem Ausgang übrig bleibt. Den genannten Bedenken lässt sich Rechnung tragen, indem sich die Betriebsparteien eine Genehmigung der durch die paritätische Kommission gefundenen Lösung vorbehalten. 219 Die Bildung solcher Ausschüsse kann aber generell als sinnvolle Ergänzung zur innerbetrieblichen Lösung von Konflikten angesehen werden?20 Angesichts des begrenzten Einigungsdrucks stellt eine paritätische Kommission jedoch kein Allheilmittel für die Konfliktlösung dar. 221

IV. Ergebnis Einigungsstelle und tarifliche Schlichtungsstelle erscheinen als sinnvolle Einrichtungen zur Konfliktlösung. Die Wirksamkeit betrieblicher Mechanismen zur Konfliktlösung lässt sich dabei nicht an der Häufigkeit ihrer Nutzung ablesen. Nicht aus der Einleitung des Verfahrens, sondern vielmehr durch seine Androhung ergibt sich regelmäßig bereits die Wirkung der Einigungs- oder der tariflichen Schlichtungsstelle. Daraus resultiert ein Einigungsdruck für die Betriebsparteien, der im Rege1fall eine tatsächliche Inanspruchnahme dieser Verfahren überflüssig macht. Dementsprechend ist gerade die relative Seltenheit einer solchen Konfliktlösung ein Ausdruck für das Funktionieren dieser Einrichtungen. Besondere Vorzüge weist dabei die tarifliche Schlichtungsstelle auf, deren Vorteil gegenüber der gesetzlichen Einigungsstelle vor allem in der direkten Einbeziehung der Tarifvertragsparteien besteht. Die tariflichen Akteure erhalten auf diese Weise einen unmittelbaren Einblick in die betriebliche Praxis, die sie durch ihre Entscheidung wiederum in Übereinstimmung mit der weiteren tariflichen Entwicklung gestalten

219 Nach Auffassung von D/K/K-Blanke, 2002, § 28 Rn. 18, sollte ein solcher Ausschuss lediglich vorbereitende Tätigkeiten übernehmen. Zu beachten ist, dass der durch die Refonn des BetrVG 2001 neugeschaffene § 28a Abs. 2 BetrVG die Möglichkeit nonnativ wirkender Vereinbarungen durch Arbeitsgruppen vorsieht. Da der Betriebsrat aber nach § 28a Abs. I S. 4 BetrVG die Möglichkeit zum Widerruf der übertragenen Kompetenzen hat, muss dies auch für die aufgrund dieser Delegation durch die Arbeitsgruppe geschaffenen Gruppenvereinbarungen gelten. 220 Ebenfalls positiv: F IKIHI EIS, 2002, § 28 Rn. 38. 221 Vgl. auch JauchlW Schmidt, WS I-Mitteilungen 1995, S. 583, 588 f.

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten

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können. Die tarifliche Schlichtungsstelle kann insofern auch im Sinne einer lernenden Rückkopplung von tariflicher und betrieblicher Ebene fungieren. Paritätische Kommissionen auf Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernebene können ein weiteres sinnvolles Forum für die Konfliktregulierung darstellen. Allerdings sollten die Entscheidungen derartiger Kommissionen unter den Vorbehalt einer Genehmigung durch die Betriebsparteien gestellt sein.

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten "Haben wir noch nie gehabt." (MI-GL)

Im Folgenden soll dargestellt werden, auf welchem Wege Verstöße gegen zwingende tarifliche Vorschriften durch betriebliche Vereinbarungen gerichtlich festgestellt und beseitigt werden können. Dabei wird die Frage der Effektivität einzelner Rechtsmittel im Vordergrund stehen. Die Betrachtung bezieht sich dabei auf die Rechtsprechung zum Erhebungszeitpunkt der Untersuchung, d. h. noch vor der bahnbrechenden Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 20. 4. 1999. 222 Die Folgen dieser Entscheidung sollen jedoch im Rahmen eines Ausblicks ebenfalls beleuchtet werden.

I. Klagen einzelner Arbeitnehmer Eine Möglichkeit zur gerichtlichen Feststellung eines Tarifverstoßes besteht darin, dass ein einzelner Arbeitnehmer eine Klage auf Beachtung der tariflichen Vorschriften bzw. auf Gewährung der tariflichen Leistungen erhebt. Im Rahmen einer solchen Feststellungs- oder Leistungsklage im Urteilsverfahren gemäß § 2 ArbGG sind die rechtlichen Grundlagen der tarifwidrigen Praxis zu überprüfen. Beruht diese beispielsweise auf einer tarifwidrigen Betriebsvereinbarung, so stellt das Arbeitsgericht inzident deren Unzulässigkeit fest. Einen aufschlussreichen Einblick in die Problematik von Klagen einzelner Arbeitnehmer liefert ein Konflikt im Betrieb M16. Die Betriebsparteien stritten darüber, ab welchem Zeitpunkt eine übertarifliche Leistung auf eine tarifliche Lohnerhöhung angerechnet werden konnte. Nachdem eine Einigung in dieser Frage fehlschlug, entschied sich der Betriebsrat für ein arbeitsgerichtliches Vorgehen: M16-BR: Der Betriebsrat hat das Problem, dass er Ansprüche der Arbeitnehmer nicht einklagen kann. Das ist unser Problem. Wir haben versucht, über einen Rechtsanwalt etwas zu machen und haben verschiedene Wege diskutiert. Dann ist uns nur noch übrig222

BAG 20.4. 1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

geblieben, dass die Betroffenen selbst klagen. Es waren 6 Leute bereit, das zu machen, weil viele gesagt haben: "Wegen 50 Mark im Monat streite ich mich nicht mit dem Arbeitgeber." Da waren nur ein paar bereit. Teilweise waren das Betriebsratsmitglieder oder Vertrauensleute, die in einem Vergleich darum gestritten haben, für einen bestimmten Zeitraum das gezahlt zu bekommen.

Frage: 6 Leute sind ja relativ viel sogar - würde ich einfach einmal behaupten. .. M16-BR: Ja gut, wenn man bedenkt, dass davon 250 Leute ungefähr betroffen waren, dann sind 6 Leute nicht viel. Wir hatten eigentlich vorgehabt, dass wir da eine Massenaktion machen, aber diese Massen sind leider ausgeblieben . ..

Frage: Wie ist die Situation für die 6 Leute? M16-BR: Die haben das Geld gekriegt. Es sind keine Probleme daraus entstanden, weil es auch Leute waren, die einen Schutz hatten. Es waren Betriebsräte oder Ersatzbetriebsräte, die geschützt waren durch ihre Position. 223 [ ••• ]

Aufgrund der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung, wie sie sich zum Erhebungszeitpunkt der Studie darstellte, ergab sich somit ein interessanter Widerspruch zwischen dem Rechtsmittel mit den größten rechtlichen Erfolgsaussichten einerseits und dessen praktischer Umsetzbarkeit andererseits. Zwar bekam der Betriebsrat auf diesem Wege seine Rechtsauffassung durch das Gerichtsverfahren bestätigt. Faktisch ließ sich jedoch der bestehende Rechtsanspruch nur für eine kleine Minderheit durchsetzen. Die fehlende Bereitschaft von Arbeitnehmern, bestehende tarifliche Ansprüche gerichtlich einzuklagen, wurde wiederholt geschildert. Ein besonders eklatanter Fall betraf ein ostdeutsches Unternehmen, in dem durch Betriebsvereinbarung regelmäßige Wochenendarbeit ermöglicht wurde. Der Erste Bevollmächtigte der zuständigen IG-Metall-Verwaltungs stelle berichtete von den Schwierigkeiten, Arbeitnehmer für eine Klage zu gewinnen: Frage: Die einzelnen Arbeitnehmer wollten selbst nicht klagen? IGM-2: So ist es. Es traut sich eben hier keiner. Wir praktizieren ja einen ausgiebigen Rechtsschutz auch im eigenen Hause, mit Juristen, die wir bei der IG Metall selbst beschäftigen. Wir haben zahlreiche Klagen, die wir für die Mitglieder führen - aber fast immer, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist: Als Kündigungsschutzklage oder um dann rückwirkend einzuklagen, was ihnen mal gefehlt hat. In relativ wenigen Fällen ist es eine Klage im Arbeitsverhältnis. Das gibt es auch, aber so häufig traut sich da keiner. Bei ... [Name des Unternehmens - d. Yerf.] wissen die, dass ihnen da der Kopf abgerissen wird und da machen sie es schon gar nicht.

Dabei kann die Androhung individueller Klagen, wenn sie von zahlreichen Arbeitnehmern praktiziert wird, einen erheblichen Druck zu tariftreuem Verhalten auf den Arbeitgeber ausüben. Ein solches Beispiel liefert der Betrieb M3. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation war die Geschäftsleitung zu223 Zum Kündigungsschutz für Betriebsräte vgl. § 103 BetrYG; siehe auch U. Weber/ Lohr, BB 1999, S. 2350 ff.

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten

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nächst nicht bereit, die rückwirkende Tariflohnerhöhung von 3 % zu zahlen. Für alle Gewerkschaftsmitglieder wurde daraufhin eine dementsprechende Geltendmachung des Lohnanspruchs durch den gewerkschaftlichen Rechtsschutz vorbereitet. Dies führte dazu, dass die Geschäftsleitung sich zur rückwirkenden Zahlung der Lohnerhöhung bereiterklärte. Allerdings zeigte sich der Betriebsratsvorsitzende unsicher, ob tatsächlich eine Klageerhebung durch die Arbeitnehmer erfolgt wäre. Aufgrund der glaubhaften Drohung war dies jedoch nicht mehr nötig. Die geringe Anzahl von Klagen einzelner Arbeitnehmer im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses ist seit langem bekannt. In einer Studie aus den 60-er Jahre ergab sich, dass 80 % aller Klagen erst nach der Kündigung erfolgten. In den übrigen Fällen handelte es sich überwiegend um Angehörige des öffentlichen Dienstes?24 In einer 1976 in Berlin durchgeführten Studie befand sich unter 2.000 Klägern auf Lohnzahlung nur noch ein Arbeitnehmer im Betrieb der beklagten Partei. 225 Gamillscheg geht in einem Aufsatz von 1995 von ca. zwei Drittel aller Verfahren aus, die erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt werden. 226 Die Ursachen hierfür dürften in dem strukturellen Ungleichgewicht von Arbeitgeber und Arbeitnehmer liegen 227 sowie durch weitere Zugangsbarrieren begründet sein. 228 Die wichtigste Barriere liegt sicherlich in der Angst vor Nachteilen, die bis hin zur Kündigung gehen können?29 Dass solche Befürchtungen berechtigt sind, belegen die Antworten des Personalleiters im Betrieb C7: Frage: Würden Sie sich mehr Handlungsspielräume auf betrieblicher Ebene durch die Tarifverträge wünschen, dass Sie mehr mit dem Betriebsrat regeln können?

C7-GL: Ich kann es regeln. Wir können uns einfach über Tarifverträge hinwegsetzen, indem wir mit dem Betriebsrat irgendeine Regelung treffen.

Frage: Man läuft ja immer Gefahr, dass dann ein Arbeitnehmer klagt. Damit gehen Sie aber das Risiko ein, dass Ihre Regelungen gerichtlich keinen Bestand haben . .. C7-GL: Das würde ich riskieren. [ ... ] Wenn der Mitarbeiter zufrieden ist, können Sie alles machen. Es geht nur darum, die Leute hier zufriedenzustellen. Wenn der irgendein Urteil herbeiführt, dann haben Sie ein Problem. Aber dann ist ja auch nicht gesagt, dass Sie diesen Mitarbeiter auf Dauer behalten. Man muss es darauf ankommen lassen. [ ... ]

Die Aussage lässt sich zweifellos als kaum verhohlene Androhung der Entlassung eines klagenden Arbeitnehmers verstehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es leicht nachvollziehbar, warum sich nur selten klagebereite Gewerkschaftsmitglieder finden lassen. Effektiv verhindern lässt sich eine solche Gefahr wohl nur, Ramm, 1970, S. 169. Blankenburg/Schönholz, 1979, S. 87. 226 Gamillscheg, in FS. Henckel, 1995, S. 215, 216. 227 Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt das Bestehen eines solchen Ungleichgewichts an; vgl. BVerfG 26.6. 1991, BVerfGE 84, S. 212, 229. 228 Pfarr/Kocher, 1998, S. 21 ff. 229 So auch Däubler, Arbeitsrecht 2, 1998, Rn. 2242 ff. und Gamillscheg, in: FS. Henckel, 1995, S. 215, 216; vgl. ferner Thüsing, DB 1999, S. 1552. 224 225

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Teil 1: Empirische Untersuchung

wenn eine größere Anzahl von Arbeitnehmern Klage erhebt. 230 Dann erhielte das Verfahren faktisch einen Charakter, den es rechtlich nicht haben kann: Seinem Sinn nach wäre es ein Kollektivverfahren. An dieser Stelle zeigt sich die Unangemessenheit individueller Klagen, wo es eigentlich um kollektivrechtliche Streitigkeiten geht. Aufgrund der individuellen Risiken erweist sich die Klage einzelner Arbeitnehmer zur Durchsetzung von Tarifverträgen folglich regelmäßig als ineffekti ves Verfahrensangebot.

11. Klagen der Betriebsparteien Nachfolgend sind arbeitsgerichtliche Auseinandersetzungen der Betriebsparteien einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. 1. Allgemeine Streitigkeiten

Streitigkeiten der Betriebsparteien untereinander können gemäß § 2a ArbGG im Wege eines Beschlussverfahrens arbeitsgerichtlich ausgetragen werden. Ähnlich wie die gesetzlichen Einigungs- oder die tariflichen Schlichtungsstellen haben diese arbeitsgerichtlichen Verfahren allerdings Ausnahmecharakter. Eine Häufung solcher Verfahren ließ sich vor allem in Betrieben mit konfliktivem Mitbestimmungsstit231 feststellen. Eine Ausnahme galt für den Betrieb M9, bei dem die Betriebsparteien Auseinandersetzungen vor dem Arbeitsgericht als normale Handlungsoption zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten ansahen. Einer der häufigsten Streitpunkte betraf Zustimmungsersetzungsverfahren bei Umgruppierungen. Der Personalleiter im Betrieb M9 schilderte seine Wahrnehmung, weshalb es in diesen Fragen oftmals zu keiner Einigung mit dem Betriebsrat kommt: M9-GL: [ ... ] Ich habe den Eindruck, dass auf Seiten des Betriebsrats auch manchmal der Druck der Mitarbeiter dahinter steht: "Ich will die Lohngruppe nicht hergeben . .. Der Betriebsrat kann klagen, um deutlich zu machen: " Wir haben alles versucht für Dich. Wir haben es sogar vor Gericht versucht. .... Dann verloren zu haben, ist ein anderes Argument, als zu sagen: " Wir als Betriebsräte haben es versucht, aber haben es nicht erreicht. .. Ich denke, dass das manchmal auch eine Rolle spielt.

Wenn der Betriebsrat aus einer solchen Motivation heraus ein arbeitsgerichtliches Verfahren provoziert, so lässt sich hierin ein instrumenteller Rechtsgebrauch 230 Das unten in § 7 III. 3. a) geschilderte Verfahren durch die IGM-6 stellt eine solche Ausnahme dar. 231 Zu Betrieben mit konfliktivem Mitbestimmungsstil siehe oben § 5 I. sowie Höland! Reim! Brecht, 2000, S. 198 ff.

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erkennen: Mit dem Gerichtsurteil wird die Entscheidung gegenüber dem Betroffenen verobjektiviert und der Betriebsrat kann so das Gesicht wahren?32 Darüber hinaus beeinträchtigt ein solches Verfahren nicht das Vertrauensverhältnis der Betriebsparteien, solange sich die Beteiligten über die Hintergründe des Verhaltens der Gegenseite im Klaren sind. Das erscheint als eine plausibler Erklärung, warum es trotz des kooperativen Mitbestimmungsstils im Betrieb M9 zu mehreren Beschlussverfahren pro Jahr kommt. In einigen untersuchten Betrieben standen die Parteien schon einmal unmittelbar vor einem Beschlussverfahren. Die bevorstehende gerichtliche Klärung bewirkte allerdings, dass sich Betriebsrat und Arbeitgeber doch noch auf eine Regelung verständigten. Ein Beispiel hierfür nennt der Betriebsratsvorsitzende von M7: M7-BR1: [ ... ]. Es hat 1995 unsererseits die Einleitung eines arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahrens nach § 23 BetrVG gegeben. Wir klagten auf Unterlassung fortgesetzter Arbeitszeitverstöße. Dieses Beschlussverfahren resultierte auch aus einem Generationswechsel. Ende der BO-er Jahre gab es im Betriebsrat immer Bestrebungen, die von uns allen festgestellten Arbeitszeitverstöße - was der Hauptkriegsschauplatz war - zu tolerieren. Ein Teil der Betriebsräte, die seinerzeit noch in der Minderheit waren, verlangte ständig, dass dort arbeitsgerichtlich vorgegangen wird. Sie konnten sich damit nicht durchsetzen. Die Linie war dann: "Na gut, lasst uns wenigstens einen Brief schreiben, dass wir dagegen protestieren und auf Unterlassung drängen . .. Über dieses fortgesetzte Schreiben ist eine Aktenlage entstanden, die 1995, als dann die Mehrheiten stimmten, vor dem Arbeitsgericht landete. Das Unternehmen war entsetzt. Das passte nicht in die bis dahin hervorgebrachte Unternehmenskultur. Dann haben wir gesagt: "Wir wollen nicht unbedingt klagen, sondern wir wollen die Gegenstände, die uns stören, regeln. Wenn wir das innerbetrieblich hinbekommen, dann machen wir das halt innerbetrieblich." Daraus ist ein ganzer Stapel von Betriebsvereinbarungen zu ArbeitszeitJragen entstanden. Das Beschlussverfahren wurde unsererseits dann gecancelt. Wir haben es nicht durchgeführt, weil es nicht mehr nötig schien. [ ... ]

In der Mehrzahl der Betriebe wurden Beschlussverfahren als ausgesprochen selten bezeichnet, die zudem teilweise schon lange zurücklagen. In Einze1f,illen kann ein Gerichtsverfahren aber auch eine gewisse Machtprobe darstellen. Hiervon berichtet der Betriebsrat im Betrieb e5: CS-BR: [ ... ] Wir waren letztes Jahr das erste Mal mit unserem Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht. Das ging um eine Umsetzung. Da hat der Chef einen vor den Bug bekommen und seitdem weiß unser Personalchef, wo der Weg langgeht. Das war für ihn mal so ein kleiner Denkzettel, aber ansonsten haben wir an sich noch keine Probleme damit. Wir kommen da eigentlich so ganz gut miteinander aus.

Ein weiterer Grund für die relative Seltenheit von Beschlussverfahren zur Beseitigung von Tarifverstößen dürfte darin bestehen, dass der Betriebsrat in Fällen unzulässiger Abweichungen vom Tarifvertrag zumeist einbezogen ist. In der Mehr232 Vergleichbare Beobachtungen bezüglich einer Nutzung der Einigungsstelle als Alibi gegenüber Dritten machten KnuthlBüttnerlSchank, 1983, S. 322 ff.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

zahl der festgestellten tarifwidrigen Praktiken - insbesondere im Bereich der Arbeitszeit233 - wurde die Abweichung vom Betriebsrat mit Hinweis auf betriebliche oder sonstige Notwendigkeiten akzeptiert. Nicht selten beruhte die abweichende Praxis auf Betriebsvereinbarungen oder Regelungsabreden der Betriebsparteien. In solchen Fällen ist es offensichtlich, dass ein Klageerhebung durch den Betriebsrat nicht erwartet werden kann, da dieser nicht gegen die eigene Regelung klagen wird. In solchen Fällen erweist sich daher auch das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren der Betriebsparteien gegeneinander als ungeeignet, um auf die Einhaltung des Tarifvertrages hinzuwirken. 2. Sonderfall: ,,13 %.Regelung" Von einer - nach Angaben von Gewerkschaftsvertretern häufiger vorkommenden - Abweichung vom Tarifvertrag berichtete der Betriebsratsvorsitzende im Betrieb M16. Der einschlägige Manteltarifvertrag regelt, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat jeweils zum Ende eines Kalenderhalbjahres die Anzahl der Arbeitnehmer mit (auf bis zu 40 Stunden) verlängerter individueller wöchentlicher Arbeitszeit mitteilt. Deren Zahl darf 13 % aller Arbeitnehmer des Betriebes nicht übersteigen. Nach Aussage des Betriebsratsvorsitzenden beträgt die Anzahl im Betrieb M16 bereits 45 %, da im gewerblichen Bereich nur noch Einstellungen auf 40-Stunden-Basis erfolgen. Die Bestrebungen des Betriebsrates, hiergegen etwas zu unternehmen, erwiesen sich als erfolglos. a) Zustimmungsverweigerung gemäß § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG

Zunächst erwog der Betriebsrat, gemäß § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG seine Zustimmung zu weiteren Einstellungen mit 40-Stunden-Verträgen zu verweigern. Nach Auseinandersetzung mit der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung erschien ihm dieses Vorgehen jedoch nicht möglich. Diese Auffassung soll einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG nennt als Voraussetzung der Zustimmungsverweigerung, dass die Einstellung gegen eine Bestimmung in einem Tarifvertrag verstößt. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu festgestellt, dass die im Tarifvertrag genannte Prozentzahl vom Arbeitgeber zu beachten sei. 234 Bei der Bestimmung der Quote sind nach Auffassung des Gerichts alle Arbeitnehmer des Betriebs einzubeziehen, da es sich um eine betriebliche Nonn handele. 235 Allerdings geht das Bundes-

233 234

Siehe hierzu auch oben § 2 H. 5. BAG 17. 6. 1997, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnorm unter B. 1.

235 So auch lAG Niedersachsen 28. 5. 1998, BB 1998, 1535; lAG Hamm 10. 11. 1998, 13 TaBV 57/98 (n. v.); Däubler, Tarifvertragsrecht, 1993, Rn. 708; Herbst, AiB 1998, S. 416;

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arbeitsgericht davon aus, dass die tarifliche Regelung kein die Einstellung als personelle Einzelmaßnahme betreffendes Verbot begründe. 236 Der Arbeitgeber schulde zwar einen Gesamterfolg, die tarifliche Regelung schreibe ihm aber nicht vor, wie er die Verpflichtung zu erfüllen habe. 237 Es sei anzunehmen, dass der Arbeitgeber die Quote jeweils nur zu den Terminen der Mitteilungspflicht erreichen müsse. Überschreite er sie zwischenzeitlich, so sei das unschädlich, sofern er sie bis zum Stichtag wieder zurückführen könne. 238 Der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist im Ergebnis zuzustimmen. Die Begründung erscheint jedoch missverständlich. Ein Tarifverstoß als Zustimmungsverweigerungsgrund setzt voraus, dass die personelle Maßnahme als solche, nicht hingegen einzelne Vertragsbestimmungen tarifwidrig sind. 239 Zu fragen bleibt daher, ob die Einstellung (unter Überschreitung der zulässigen Quote) als solche nach dem Tarifvertrag unzulässig sein soll. Die Frage wäre zu bejahen, wenn der Tarifvertrag Einstellungen verbieten würde, die zu einer Überschreitung der vorgeschriebenen Prozentgrenze führen. Das ist aber eindeutig nicht der Fall und genau dies stellt das Gericht in seiner Auslegung dar. Dem Betriebsrat wird also durch den Tarifvertrag nicht das Recht gegeben, aufgrund eines Verstoßes gegen die 13 %-Rege1ung einer Einstellung zu widersprechen. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber nicht, dass der Arbeitgeber nicht an die Beachtung der Quote gebunden wäre. Nicht überzeugend sind die Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts, dass der Arbeitgeber nur zu den Stichtagen der Mitteilungspflicht an die Erfüllung der Quote gebunden sei. 240 Für eine solche Interpretation spricht allein die sprachliche Verbindung von einzuhaltender Prozentgrenze und Mitteilungspflicht in einem Satz. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass der Quotenregelung keine eigenständige Bedeutung neben der Mitteilungspflicht zukommen soll. Wäre dies die Absicht der Tarifvertragsparteien gewesen, so hätten sie formuliert: Der Arbeitgeber teilt dem Betriebsrat jeweils zum Ende eines Kalenderhalbjahres die Arbeitnehmer mit verlängerter individueller regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit mit,

Kempen/Zachert, TVG, 1997, § 1 Rn. 167; F/K/H/E/S, 2002, § 99 Rn. 175; H. Wiedemann, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnormen; vgl. auch Neumann, NZA 1990, S. 961, 963; a. A.: Buchner; EzA Nr. 4 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung; Richardi, DB 1990, S. 1613, 1614; Wisskirchen, in: FS. P. Hanau, 1999, S. 627 f.; kritisch auch Hromadka, AuA 1998, S. 73 ff. 236 BAG 17. 6. 1997, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnorm unter B. 2. b). 237 BAG 17. 6. 1997, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnorm unter B. 2. b) aa). 238 BAG 17. 6. 1997, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnorm unter B. 2. b) bb). 239 Vgl. die entsprechende Formulierung zur Gesetzeswidrigkeit bei F/K/H/E/S, 2002, § 99 Rn. 163. 240 Auch Ziepke/Weiss, 1998, § 3 Anm. 14, gehen davon aus, dass die Quotenberechnung unabhängig vom Zeitpunkt der Mitteilung an den Betriebsrat vorzunehmen ist; vgl. ferner Herbst, AiB 1998, S. 416.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

deren Zahl zu diesem Zeitpunkt 13 % aller Arbeitnehmer des Betriebes ... nicht übersteigen darf.

Eine solche Klarstellung sieht der Tarifvertrag aber gerade nicht vor. Zu welchem Ergebnis eine derartige Regelung führen würde, hat Buchner angedeutet. Er sieht nur den Stichtag als Bezugspunkt an, einen Tag später sei der Arbeitgeber wieder frei?41 Dies würde bedeuten, dass der Arbeitgeber nur zu zwei Tagen im Jahr die tarifliche Vorschrift beachten müsste. An den 363 bis 364 restlichen Tagen des Jahres könnte er hingegen die Quote beliebig weit überschreiten. Eine solche Regelung würde sich selbst ad absurdum führen.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der Betriebsrat einer Einstellung nicht wegen Überschreitung der im Tarifvertrag genannten Prozentgrenze seine Zustimmung verweigern darf. Unabhängig davon ist der Arbeitgeber jedoch verpflichtet, die vorgegebene Quote nicht zu überschreiten. b) Unterlassungsanspruch

Das Bundesarbeitsgericht hat in der geschilderten Entscheidung dem Betriebsrat zur Durchsetzung des Tarifvertrages die Erwägung eines Unterlassungsanspruchs nahegelegt. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen 242 und ihm nachfolgend das Landesarbeitsgericht Hamm243 wiesen entsprechende Unterlassungsklagen von Betriebsräten gegen Überschreitung der zulässigen Quote ab. Aufgrund dieser Rechtsprechung nahm auch der Betriebsrat des Betriebs M16 bis zur Klärung der offenen Rechtsfragen Abstand von einer Klage. Nach Auffassung der genannten Gerichte verletzt zwar der Arbeitgeber seine tariflichen Pflichten?44 Der Tarifvertrag enthalte jedoch keine speziellen Sanktionsmöglichkeiten zugunsten des Betriebsrates. Vielmehr spare er die tarifliche Schlichtungsstelle für diese Regelung ausdrücklich aus. Die im Tarifvertrag fehlende Sanktion für den Fall einer Überschreitung der Beschäftigungsquote sei als bewusste Regelungslücke vom Gericht zu akzeptieren?45 Diese Ansicht hält einer eingehenden Prüfung nicht stand. Zunächst ist in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen festzuhalten, dass der Wortlaut der tariflichen Regelung die Überwachungsfunktion des Betriebsrates 241 Buchner; EzA Nr. 4 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung; kritisch: Herbst, AiB 1998, S.416. 242 LAG Niedersachsen 28. 5. 1998, BB 1998, S. 1535. 243 LAG Hamm 10. 11. 1998, 13 TaBV 57/98 (n. v.). 244 LAG Niedersachsen 28. 5. 1998, BB 1998, S. 1535; LAG Hamm 10. 11. 1998, 13 TaBV 57/98 (n. v.); die Entscheidungen knüpfen an die Überlegungen H. Wiedemanns, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnormen, an. 245 LAG Niedersachsen 28. 5.1998, BB 1998, S. 1535 f.

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nicht ausdrücklich beschränkt. Aber auch Systematik und Zweck der Quotenregelung sprechen gegen eine solche Beschränkung. Die Annahme einer bewussten Regelungslücke vermag nicht zu überzeugen. Richtig ist, dass die Regelung zur individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit nicht in die Kompetenzen der tariflichen Schlichtungsstelle fallt. Das Gleiche gilt aber auch für die Festsetzung der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden. Der Grund hierfür ist naheliegend: Den Betriebsparteien soll nicht gestattet sein, von der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit abweichende Regelungen zu treffen. Dementsprechend erfolgt diesbezüglich keine Erweiterung erzwingbarer Mitbestimmungsrechte. Hieraus lässt sich aber sicherlich nicht folgern, dass dem Betriebsrat kein Recht (bzw. keine Pflicht) zur Überwachung einer Einhaltung der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit zukommen soll. Entsprechend ist die Situation bei der Regelung zur Beschäftigungsquote. Die Arbeitszeitverlängerung selbst kann nicht durch Betriebsvereinbarung erfolgen, da den Betriebsparteien diesbezüglich die Kompetenz fehlt. 246 Hierin liegt der logische Zweck fehlender Zuständigkeit der tariflichen Einigungsstelle: Wo die Betriebsparteien keine Berechtigung zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen haben, macht auch die Zuständigkeit der tariflichen Schlichtungsstelle keinen Sinn. Aus der fehlenden Zuständigkeit der tariflichen Schlichtungsstelle lässt sich somit nicht ableiten, dass die Tarifvertragsparteien bewusst auf eine Überwachungsfunktion des Betriebsrates hinsichtlich der Quotenregelung verzichteten. Die Argumentation des Landesarbeitsgerichts weist einen weiteren Schwachpunkt auf: Sie beantwortet nicht die Frage, zu welchem Zweck dem Betriebsrat ein Mitteilungsrecht eingeräumt wird. Die schlüssige Antwort hierauf lautet, dass der Betriebsrat wirksam in die Lage versetzt werden soll, seiner Aufgabe zur Überwachung einer Einhaltung der tariflichen Vorschrift nachzukommen. Somit spricht auch der Zweck der Tarifklausel für eine Überwachungs aufgabe des Betriebsrates hinsichtlich ihrer Beachtung. Dieser Funktion kann der Betriebsrat nur wirksam nachkommen, wenn ihm im Konfliktfall auch ein Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber zusteht. Entgegen der derzeitigen Rechtsprechung ist daher die Unterlassungsklage eines Betriebsrates gegen einen die tarifliche Beschäftigungsquote überschreitenden Arbeitgeber als begründet anzusehen.

3. Zwischenergebnis Beschlussverfahren der Betriebsparteien gegeneinander sind nur zum Teil geeignet, um auf tarifvertragskonforme Zustände hinzuwirken. Generell lässt sich sagen, dass derartigen arbeitsgerichtlichen Verfahren eine vergleichbare Reservefunktion zukommt, wie das bei Schlichtungs- oder Einigungsstellen der Fall ist. Im Regelfall gelingt es den Betriebsparteien in nicht-konfliktiven Mitbestimmungsstruktu246

So ausdrücklich Ziepke/Weiss, 1998, § 3 Anm. 8.

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Teill: Empirische Untersuchung

ren, betriebsinteme Lösungen zu finden. Ein Gerichtsverfahren wird erst dort in Betracht gezogen, wo eine Einigung auf betrieblicher Ebene nicht möglich erscheint. Dabei kann das Arbeitsgerichtsverfahren auch instrumentell eingesetzt werden, um Verantwortung für schwer vermittelbare Regelungen abzugeben. Eine weitere Funktion kann darin bestehen, durch die Androhung eines solchen Verfahrens Bewegung in festgefahrene Verhandlungen zu bringen. Schließlich ist es möglich, dass die Einschaltung eines Gerichts eine Machtprobe darstellt. In allen beschriebenen Funktionen kann das arbeitsgerichtliehe Verfahren letztlich zur Lösung betrieblicher Konflikte beitragen, wobei sich der Gradmesser seiner Wirksamkeit nicht einfach an der Häufigkeit solcher Verfahren ablesen lässt. Allerdings kommt das arbeitsgerichtliehe Beschlussverfahren zur Beseitigung von Tarifverstößen dann nicht in Frage, wenn die Abweichung vom Tarifvertrag durch den Betriebsrat akzeptiert wird. Dies gilt insbesondere bei abweichende Praktiken, die auf einer Betriebsvereinbarung oder einer Regelungsabsprache beruhen, da ein Betriebsrat nicht gegen eine von ihm selbst mitzuverantwortende Regelung klagen wird. Bei Verstößen gegen die in der Metallindustrie übliche ,,13 %-Regelung" erweisen sich die Klagemöglichkeiten des Betriebsrates als unzureichend. Der Grund hierfür liegt in der restriktiven Rechtsprechung einiger Landesarbeitsgerichte, die nicht in Übereinstimmung mit Wortlaut, Systematik und Zweck der tariflichen Regelung steht.

III. Klagen der Tarifvertragsparteien Bei Tarifverstößen auf betrieblicher Ebene kommen für die Tarifvertragsparteien Klagen gegeneinander sowie gegen tarifgebundene Mitglieder in Betracht. Von praktischer Relevanz sind jedoch lediglich Klagen der Gewerkschaft gegen den Arbeitgeberverband oder einzelne Arbeitgeber.

1. Einwirkungsklage gegen den Arbeitgeberverband Mit Abschluss eines Tarifvertrags verpflichten sich die Tarifvertragsparteien, einerseits alles vertraglich Vereinbarte zu tun und andererseits alles zu unterlassen, was dem Zweck des Tarifvertrags widerspricht. 247 Aus dieser Durchführungspflicht der Tarifvertragsparteien untereinander folgt ihre Einwirkungspflicht auf Mitglieder, die sich tarifwidrig verhalten. 248 Arbeitsgerichtlich einklagbar ist die Verpflichtung mittels einer Einwirkungsklage. 249 247 248 249

BAG 29.4. 1992, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. Ausführlich Wallisch, 1998; Wiedemann/H. Wiedemann, TVG, 1999, § 1 Rn. 705 ff. Zu Einzelheiten vgl. Gragert, 1997, S. 146 ff.

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In der Praxis spielt die Einwirkungsklage nach Darstellung der befragten Gewerkschaftsvertreter eine untergeordnete Bedeutung. Im Regelfall wird es als effektiver betrachtet, unmittelbaren Druck auf den sich tarifwidrig verhaltenden Arbeitgeber auszuüben. Die meisten der befragten Verwaltungsstellen der IG Metall sahen die Bemühungen des Arbeitgeberverbands zur Einwirkung als unzureichend an. Dies gilt in besonders starkem Maße für die befragten Vertreter der IG Metall in den neuen Bundesländern. 25o Befragt nach der Zusammenarbeit mit dem zuständigen Arbeitgeberverband äußerte der Erste Bevollmächtigte der (ostdeutschen) Verwaltungs stelle IGM-l: IGM-I: Das sieht aus unserer Sicht nicht so besonders gut aus. Wir haben zwar Kontakt zum Arbeitgeberverband, aber der ist in Bezug auf seine Mitglieder nicht besonders durchsetzungsfähig. Die Praxis ist fast immer die, dass wir mit den Geschäftsführern vor On irgendetwas klären, klären müssen, klären können. Mit dem Arbeitsgeberverband geht das nur in absoluten Ausnahmefällen. Das kommt noch nicht mal einmal im Jahr vor. Es kann höchstens sein, dass der jeweilige Geschäftsführer sich jemanden vom Arbeitgeberverband holt. Aber das passien ganz, ganz selten. Es gab in den letzten drei Jahren ein einziges schlichtendes Tarifgespräch, wo der Arbeitgeberverband und wir als IG Metall dabei waren. Also die Praxis ist die, dass man sich ganz einfach einigt mit dem Geschäftsführer oder dass das relativ schnell auf einen Rechtsstreit hinausläuft.

Das Problem wird hier von dem Befragten vor allem in der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit des Arbeitgeberverbands gegenüber seinen Mitgliedern gesehen. Andere Gewerkschaftsvertreter nahmen hingegen einen Mangel in der Durchsetzungswilligkeit an. Typischerweise dürfte es sich um eine Kombination beider Faktoren handeln. Angesichts der Begrenztheit der Einflussmöglichkeiten gegenüber ihren Mitgliedern fehlt es ihnen an wirkungsvollen Druckmitteln. Sie befinden sich vielmehr in einer Abhängigkeitsposition, da der Arbeitgeber jederzeit mit einem Verbandsaustritt drohen kann. In dieser Weise beschreibt auch der Erste Bevollmächtigte einer IGM-Verwaltungsstelle die Problematik: IGM-lI: [ ... ] Es gibt Organisationsvenretergespräche, wo wir mit der anderen Seite darüber reden, dass sie auf ihr Verbandsmitglied einwirken, den Tarifvenrag einzuhalten. Da müssen wir leider feststellen, dass der Arbeitgeberverband immer weniger bereit ist, seinen unterschriebenen Tarifvenrag dann auch im eigenen Lager durchzusetzen. [ ... ]

Frage: Das ist sicherlich spekulativ - aber warum ist der Arbeitgeberverband immer we-

niger bereit, auf seine Mitglieder einzuwirken?

IGM-lI: Das hat etwas mit dem Zerfall der Arbeitgeberverbände zu tun und der Angst, dass ihnen Mitglieder austreten. Die Erosion ist leider da und das ist mit einer der Gründe, warum der Verband don nicht mehr han gegen seine Mitglieder vorgeht und sie zur Einhaltung der Vereinbarungen zwingt. Weil die dann mit dem Austritt drohen und damit ist der Arbeitgeberverband eigentlich wachsweich geworden.

250 Zur Bedeutung des Arbeitgeberverbands im betrieblichen Interaktionsverhältnis sowie seiner Rolle bei tarifwidrigen betrieblichen Regelungen siehe Höland / Reim / Brecht, S. 252 ff.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

Unter den Befragten äußerten sich lediglich Gewerkschaftsvertreter eines Tarifbezirks positiv über die Bemühungen des regionalen Arbeitgeberverbands, ihre Mitglieder zu tariftreuem Verhalten anzuhalten. Interessanterweise ist es der Vertreter des Arbeitgeberverbands dieses Tarifgebietes selbst, der seine Einwirkungsmöglichkeiten als äußerst begrenzt ansieht. Frage: [ ... ] Wirken Sie auf Mitgliedsunternehmen ein mit dem Ziel der Beachtung von Flächentarifverträgen ? VME-l: Unsere Möglichkeiten einzuwirken sind alle relativ klein. Wir rufen schon mal an undfragen, was es dafür einen Ärger gibt: .. Die IG Metall hat sich beschwert über Abweichungen vom Tarifvertrag ... " Und dann kommt oft als Antwort: .. Das stimmt nicht." Das nehmen wir zur Kenntnis und teilen der IG Metall mit, dass sie da eine Fehlinformation hat. Das zweithäufigste ist, dass die Firma sagt: .. Ja, aber das ist nur vorübergehend. Wir haben mit dem Betriebsrat vereinbart, ab 1. Juli oder ab 1. Januar '99 ist das Thema wieder erledigt. " Dann rufen wir die Gewerkschaft an und die sagt: .. O.k., wir haben beim Betriebsrat nachgefragt. Das ist richtig. Ein halbes Jahr gucken wir nicht mehr hin. Bis zum 1. Januar ist das ja wieder bereinigt." Es kommt allerdings auch vor, dass die Gewerkschaft uns auffordert, die Firma schriftlich aufzufordern, sich an die Tarifverträge zu halten. Das tun wir dann. Aber praktisch spielt das keine Rolle. Wir rufen vorher an: .. Jetzt bekommt Ihr einen Brief" Ich sage das einmal polemisch überspitzt. Ganz so ist es nicht. Also diese Einwirkungspflicht spielt eigentlich keine Rolle.

Die Aussage ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen stellt sich die Frage, was für die Fälle gilt, in denen der Arbeitgeber ein tarifwidriges Verhalten verneint. Entweder könnte sich hier die Gewerkschaft getäuscht haben oder der Arbeitgeber leugnet einfach entgegen der Faktenlage den Tarifverstoß. Es ist jedoch verständlich, dass der Arbeitgeberverband davon ausgehen wird, es handele sich um eine Fehlinformation der Gewerkschaft. Damit hat er auf der einen Seite seine Pflicht erfüllt, auf eine ordnungsgemäße Einhaltung der Tarifverträge hinzuwirken. Mit dem Anruf wird sowohl an das Mitglied als auch an den Tarifpartner das Signal gegeben, dass ein Interesse an der Einhaltung der Tarifverträge besteht. 251 Andererseits erspart dem Arbeitgeberverband diese Auskunft eine weitere Auseinandersetzung mit seinem Mitglied, wodurch eine Beeinträchtigung des Mitgliedsverhältnisses vermieden werden kann. Als aufschlussreich ist ferner die Art und Weise einer formellen Einwirkung zu bewerten. Der vorherige Anruf zur Ankündigung eines offiziellen Schreibens nimmt diesem die Schärfe. Auch diese Verhaltensweise erscheint nachvollziehbar, möchte der Arbeitgeberverband doch eine dauerhafte Belastung der Beziehung verhindern. Damit wird allerdings deutlich, dass die Gewerkschaft keinen Einfluss auf die Nachdrücklichkeit einer Einwirkung hat. Die mangelnde Effektivität nicht näher spezifizierbarer Einwirkungsmiuellässt sich anschaulich an einem verband251 Gamillscheg, in: FS. Henckel, 1995, S. 215, 216, weist darauf hin, dass der Arbeitgeberverband auch aus Wettbewerbs gründen - und damit zum Schutz seiner anderen Mitglieder - ein Interesse an der Einhaltung des Tarifvertrags haben muss.

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lichen Briefwechsel dokumentieren. Zunächst das Schreiben einer IG-MetallBezirksleitung vom 11. 10. 1995 an einen Verband der Metall- und Elektroindustrie e. V. ;252 Sehr geehrte Damen und Herren, bei Ihren vorgenannten Mitgliedsfirmen wurden tarifwidrige Betriebsvereinbarungen dergestalt abgeschlossen, dass auf die ab 01. Oktober 1995 wirksam gewordene Arbeitszeitverkürzung verzichtet wurde. Von diesen tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen machen Ihre beiden vorgenannten Mitgliedsfirmen ab 01. Oktober 1995 Gebrauch. Beide Betriebsvereinbarungen haben wir zu Ihrer Kenntnis beigelegt. Wir fordern Sie auf, auf Ihre beiden Mitgliedsfirmen einzuwirken, damit die tariflich vorgesehene Arbeitszeitverkürzung ab 01. 10. 1995 zur Geltung kommt. Zugleich bitten wir darum, uns möglichst kurzfristig das Ergebnis Ihrer Bemühungen mitzuteilen. Mit freundlichen Grüßen [ ... 1

Hierauf erging folgendes Antwortschreiben des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie e. V. an die Bezirksleitung der IG Metall vom 13. 12. 1995?53 Sehr geehrter Herr [ ... l, auf Ihre Schreiben in o. a. Angelegenheit hatten wir unsere beiden Mitgliedsverbände in W. und O. um - jetzt vorliegende - Stellungnahmen gebeten. Der O. Mitgliedsverband hat auf seine Firmen eingewirkt und auf die ab 1. Oktober 1995 wirksam gewordene Arbeitszeitverkürzung hingewiesen. Gleichwohl ist eine Änderung der betrieblich getroffenen und von allen Mitarbeitern getragenen Regelungen nicht zu erwarten. Der W. Verband teilt uns mit, dass die Firma D. ihren Verbandsaustritt zum Ende des Jahres erklärt hat, mithin die Einwirkungsmöglichkeiten des Verbandes nur gering sind. Mit freundlichen Grüßen [ ... 1

Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass die in der Literatur254 geäußerten Zweifel an der Effektivität einer verbandlichen Einwirkung berechtigt sind. Dem Arbeitgeberverband fehlt es an geeigneten Druckmitteln, gegen den tarifbrüchigen Arbeitgeber vorzugehen. Die Gewerkschaft kann wiederum den Arbeitgeberverband nicht verpflichten, aus den ohnehin begrenzten Möglichkeiten das am besten geeignete Mittel einzusetzen. Der Einsatz von scharfen Sanktionsmitteln durch Zitiert nach Höland, 1996, S. 101. Zitiert nach Höland, 1996, S. 101 f. 254 Vgl. Buchner, DB 1992, S. 572 ff.; Däubler, BB 1990, S. 2256, 2258; Gamillscheg, ArbuR 1996, S. 354, 357; Gragert, 1997, S. 153 f.; Schwarze, ZTR 1993, S. 229, 231; Walker, in: FS. Schaub, 1998, S. 743 ff. In neuerer Zeit äußern ferner Skepsis zur Effektivität der Einwirkungsklage: Annuß, RdA 2000, S. 287,290; Däubler, AiB 1999, S. 481; Walker, ZfA 2000, S. 29, 31; Welslau, AuA 2000, S. 4,10. A. A. hingegen Wallisch, 1998, S. 216 ff.; seine Argumentation ist jedoch zirkulär, wenn er die Effektivität der Einwirkungsklage aus dem Fehlen bzw. der Ineffektivität anderer rechtlicher Handlungsinstrumente zur Durchsetzung von Tarifverträgen ableitet. 252 253

11 Brecht

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Tei11: Empirische Untersuchung

den Arbeitgeberverband kann schon deshalb nicht erwartet werden, da sich im Zweifel der Arbeitgeber stets durch Austritt solchen Sanktionen entziehen kann. Es liegt somit auch hier in der Natur der Einwirkungsklage, dass sie für einen wirksamen Schutz gegen Verletzungen der Tarifautonomie nicht geeignet ist. Der Streit besteht nicht zwischen den Tarifvertragsparteien, sondern zwischen einer Tarifvertragspartei und einem betrieblichen Akteur. Dieser Konfliktkonstellation muss ein anderes Verfahren als die Einwirkungsklage Rechnung tragen.

2. § 9 TVG In früheren Entscheidungen hatte das Bundesarbeitsgericht die Gewerkschaft auf eine Klage nach § 9 TVG gegen die andere Tarifpartei verwiesen, um die Unwirksamkeit tarifwidriger Betriebsvereinbarungen gerichtlich feststellen zu können. 2SS Nach § 9 TVG kann das Bestehen und der Inhalt eines Tarifvertrags für Streitigkeiten zwischen den tarifgebundenen Parteien und Dritten festgestellt werden.2s6 Ein solches Verfahren wird in der Literatur als wenig effektiv betrachtet, da bei Einigkeit beider Tarifvertragsparteien über den Tarifverstoß kein Feststellungsinteresse besteht. 257 Es verwundert daher nicht, dass in den geführten Interviews ein solches Verfahren keine Rolle spielte. Das Feststellungsverfahren nach § 9 TVG wird somit in der Praxis als ungeeignetes Vorgehen bei tarifwidrigen betrieblichen Regelungen angesehen. 3. Unterlassungsklage gegen den konkreten Arbeitgeber Angesichts mangelnder Effektivität der bislang dargestellten Verfahren liegt es daher nahe, der Gewerkschaft ein unmittelbares Klagerecht gegen den vom Tarifvertrag abweichenden Arbeitgeber einzuräumen. Die Frage einer solchen gewerkschaftlichen Klagebefugnis ist seit langem umstritten. Nach einer früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts war es den Gewerkschaften gestattet, im Rahmen eines Beschlussverfahrens nach § 81 ArbGG die Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung feststellen zu lassen?S8 Die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens wurde im weiteren Verlauf der Rechtsprechung mangels Feststellungsinteresse verneint. Das Interesse der Verbände an einem bestimmten Verständnis des Tarifvertrags könne betriebsverfassungsrechtlich keine unmittelbare Betroffenheit begründen. 259 Vgl. BAG 18. 8. 1987, AP Nr. 6 zu § 81 ArbGG 1979 unter B. 2. Ausgiebige Darstellung bei Gragert, 1997, S. 142 ff. 257 Däubler, BB 1990, S. 2256, 2258; Gragert, 1997, S. 145 f.; Grunsky, DB 1990, S. 526, 528; Walker, ZfA 2000, S. 29, 32. Vgl. hierzu auch BAG 30. 5. 2001, AP Nr. 64 zu § 256 ZPO 1977 unter 1. 1. 258 BAG 16. 9. 1960, AP Nr. 1 zu § 2 ArbG 1953 Betriebsvereinbarung. 255 256

§ 7 Effektivität von KlagemögJichkeiten

163

Danach konzentrierte sich die Auseinandersetzung auf die Frage eines Unterlassungsanspruchs gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG. Das Bundesarbeitsgericht bejahte einen solchen Anspruch, begrenzte ihn in seiner Entscheidung vom 20.8. 1991 allerdings auf tarifwidrige Betriebsvereinbarungen, die gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG verstoßen. 260 Handele es sich jedoch um eine Angelegenheit im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung, sei § 77 Abs. 3 BetrVG nicht anwendbar und damit ein Verstoß gegen die nach § 23 Abs. 1 BetrVG geschützte Ordnung durch die tarifwidrige betriebliche Regelung nicht gegeben.261 In seiner Entscheidung vom 20. 4. 1999 ließ das Bundesarbeitsgericht hingegen explizit offen, ob Verstöße gegen § 77 Abs. 3 BetrVG als Pflichtverletzung im Sinne von § 23 Abs. 1 und 3 BetrVG angesehen werden können. 262 Allerdings bejahte das Gericht in der gleichen Entscheidung einen allgemeinen Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft, der sich auf §§ 1004, 823 BGB i. V. m. Art. 9 Abs. 3 GG stütZt. 263 Das BAG stellte klar, dass sich die Unterlassungsklage auch gegen eine tarifwidrige betriebseinheitliche Regelung, die auf einer Regelungsabrede beruht, richten kann. 264 Als angemessene Verfahrensart sah das Gericht eine Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs im Beschlussverfahren an, sofern es sich um Betriebsvereinbarungen oder die individualrechtliche Umsetzung von Regelungsabreden handelt. 265 Die Erhebung der empirischen Untersuchung wurde mit dem letzten Interview am 15. 3. 1999 - also etwa fünf Wochen vor der zuletzt genannten Entscheidung vom 20. 4. 1999 - abgeschlossen. Insofern beziehen sich die Aussagen der Gesprächspartner auf die Rechtsprechung, wonach ein gewerkschaftlicher Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG einzuklagen ist. Diese Rechtsprechung war nach Angaben der Befragten mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten verbunden, was zunächst dargestellt werden soll. Anschließend werden andere Opportunitätsüberlegungen behandelt, die - unabhängig von der Anspruchsgrundlage aus gewerkschaftlicher Sicht gegen die Erhebung einer Unterlassungsklage sprechen. Abschließend soll in einem Ausblick prognostiziert werden, welche Folgen von der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu erwarten sind.

BAG 30. 10. 1986, AP Nr. 6 zu § 47 BetrVG 1972 unter B. 11. 2. BAG 20.8. 1991, AP Nr. 2 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt unter B. III. 1. b). 261 BAG 20.8. 1991, AP Nr. 2 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt unter B. III. 1. c). 262 BAG 20.4. 1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG unter B. 11. 1. a). 263 BAG 20.4. 1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG unter B. 11. 2. 264 BAG 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG unter B. 11. 2. b) bb). 265 BAG 20.4. 1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG unter B. 1. 2. b); BAG 13. 3. 2001, AP Nr. 17 zu § 2a ArbGG 1979 unter C. I. 259

260

11*

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Teil 1: Empirische Untersuchung

a) Unsichere Rechtslage zum Untersuchungszeitpunkt

Die geschilderte arbeitsgerichtliche Rechtsprechung vor dem 20. 4. 1999 spiegelte sich darin wider, dass in den Interviews Gewerkschaftsvertreter häufig die unsichere Rechtslage beklagten. Zwei der insgesamt drei uns im Rahmen der Untersuchung bekannt gewordenen Fälle von Gewerkschaftsklagen gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen betrafen die dauerhafte Einführung von Samstagsarbeit in ostdeutschen Betrieben. Stellvertretend für diese beiden Fälle266 steht die folgende Schilderung des Ersten Bevollmächtigten einer IG-Metall-Verwaltungsstelle: IGM-2: [ ... ] Unser Tarifvertrag hier sagt abweichend von einigen westdeutschen Tarif-

verträgen, dass die Einführung der Samstagsarbeit der Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedarf. D. h., es musste ein entsprechender Antrag gestellt werden, was nicht geschehen ist. Also haben wir geklagt und auch gewonnen. Das war gar nicht so einfach. Der Tarifvertragsverstoß ist zwar offensichtlich, aber das Problem bestand in einer ganz komplizierten und eirigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes, die auch noch ziemlich unausgegoren ist. [ ... ] Es geht darum, in welchem Umfang überhaupt einer Tarifvertragspartei ein Klagerecht zusteht, denn nach § 23 BetrVG muss ein Verstoß gegen die betriebsverfassungsrechtliche Ordnung vorliegen. Das will ich jetzt aber nicht vertiefen, denn Jurist bin ich nicht. Die betriebsverfassungsrechtliche Ordnung kann man so eng definieren, dass man sagt: Das sind die Betriebspartner. Das ist aber natürlich zu eng, denn die Gewerkschaften als Tarifpartner - man sieht es ja in § 77 Abs. 3 BetrVG - sind selbst ein Bestandteil der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung. Und so ist auch die Tendenz der Rechtsprechung. Hier in der ersten Instanz war es sehr schwierig, das durchzusetzen. Jetzt geht es in die Revision und ich bin beim Landesarbeitsgericht aber sicher; dass diese Rechtsprechung, zu der sich dieser Richter dann durchgerungen hatte, auch bestätigt wird. Da das Ganze wahrscheinlich bis zum Bundesarbeitsgericht getrieben wird, steht dann wieder alles in den Sternen. So dass wir dann ein ziemlich langes Verfahren haben werden. [ ... ]

Auch der dritte Fall einer gewerkschaftlichen Klageerhebung war mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Der Erste Bevollmächtigte einer bayerischen Verwaltungsstelle berichtete: IGM-6: [ ... ] Zum anderen haben wir aktuell in dem Betrieb, wo es um den Abschluss eines Anerkennungstarifvertrags geht, eine Betriebsvereinbarung, die der Betriebsrat trotz unserer intensiven Beratung, dies nicht zu machen, abgeschlossen hat. Und da sind wir im Moment vor der Kammer H. des Arbeitsgerichts M., um im Beschlussverfahren diese Betriebsvereinbarung als unzulässig feststellen zu lassen. Das haben wir im Moment ausgesetzt. Der Streittermin wäre im April gewesen. Das haben wir momentan terminlos gestellt, weil der Arbeitgeber jetzt bereit war; wieder in Tarifverhandlungen einzutreten. Dieser gerichtliche Schritt war nicht ganz unumstritten. Unsere Juristen in Frankfurt waren der Auffassung, dass speziell in der politischen Landschaft Bayerns unter Umständen ein negatives Urteil mit präjudizierender Wirkung für die ganze Republik passieren könnte. Wir haben es trotzdem gemacht. Das ist jetzt ganz spannend. Selbst wenn wir kein Urteil 266

Zum Sachverhalt des zweiten Falles siehe auch Höland/ Reim/ Brecht, 2000, S. 249.

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten

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bekommen, hat diese Drohung bzw. der Knüppel den Instrumentenkoffer erweitert, und den Arbeitgeber dazu gebracht - weil es für ihn auch unsicher war, wie das ausgeht -, sich wieder auf Tarifverhandlungen einzulassen. [ ... ]

Interessant ist an dieser Aussage nicht nur, dass die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens aufgrund der unsicheren Rechtslage fast nicht erfolgt wäre. Das Beispiel zeigt darüber hinaus, dass die Androhung rechtlicher Schritte festgefahrene Verhandlungen wieder in Gang setzen kann. Eine zusätzliche Ursache hierfür dürfte aber auch darin bestanden haben, dass neben dem gewerkschaftlichen Gerichtsverfahren eine Vielzahl von Individualklagen betroffener Arbeitnehmer eingeleitet worden waren. Gelingt eine solche Mobilisierung,267 so kann die arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung einen erheblichen Verhandlungs- und Einigungsdruck erzeugen. b) Opportunitätserwägungen als Klagehemmnis

Der Grund für die seltene Anrufung von Gerichten mit dem Ziel, die Tarifwidrigkeit von betrieblichen Regelungen feststellen und abwehren zu können, lässt sich aber nicht allein in einer unsicheren Rechtslage sehen. Problematisch ist für die Gewerkschaft, dass sie mit einer solchen Klage in Konflikt mit dem Betriebsrat oder sogar der Belegschaft kommen kann. Diese Problematik schildert der Erste Bevollmächtigte einer IG-Metall-Verwaltungsstelle: Frage: Es könnte sich ja nur um eine Betriebsvereinbarung handeln, die in einem Betrieb ohne Ihre Kenntnis abgeschlossen wurde und Sie bekämen nachträglich Kenntnis davon. Wie würden Sie dann reagieren? IGM-12: Dann würde ich mit dem Betriebsrat reden und ihn erst einmal fragen, warum das so gemacht wurde und worin der Nutzen besteht. Und anschließend würde ich versuchen, mit ihm eine andere Betriebsvereinbarung zuformulieren.

Frage: Würden Sie versuchen, dort auch gerichtlich vorzugehen? IGM-12: Nein, das würde ich nicht machen.

Frage: Warum nicht? IGM-12: Weil ich nicht gegen meine eigenen Kollegen klagen will.

Frage: Das haben wir auch schon anders gehört. Es gibt Erste Bevollmächtigte, die gerade wenn sie in solche Betriebsvereinbarungen nicht eingebunden werden - eine ganz radikale Linie fahren und sagen: "Wovon ich keine Kenntnis hatte, das geht da nicht durch. " IGM-12: Das muss ja jeder für sich selbst entscheiden. Und wenn man eine solche Linie fährt, dann ist die Chance, dass man in dem Betrieb in den nächsten vier Jahren keinen Fuß mehr auf die Erde bekommt, ziemlich groß.

267

Zu den Schwierigkeiten siehe oben § 7 I.

166

Teil 1: Empirische Untersuchung

Die Antwort mag im ersten Moment erstaunen, da sich eine Klage ja nicht gegen den Betriebsrat gerichtet sein muss. Vielmehr braucht die Gewerkschaft eine Unterlassungsklage lediglich gegen den Arbeitgeber zu richten. Indirekt wird mit der Feststellung der Tarifwidrigkeit einer betrieblichen Vereinbarung jedoch stets auch das Verhalten des Betriebsrates für rechtswidrig erklärt: Der Betriebsrat hätte eine entsprechende Regelung nicht vereinbaren dürfen. Naheliegend ist daher zunächst der Ansatz, den Betriebsrat zur Vereinbarung einer tarifkonformen Regelung zu bewegen und ihn hierbei zu unterstützen. Dieses Vorgehen lässt sich insbesondere vor dem Hintergrund der dualen Struktur der Interessenvertretung verstehen: Während ein Betriebsrat seine Aufgaben notfalls auch ohne gewerkschaftliche Unterstützung nachgehen kann, bedarf die Gewerkschaft beim Werben und bei der Mobilisierung ihrer Mitglieder ganz wesentlich der Kooperationsbereitschaft der Betriebsräte. 268 Eine Klageerhebung der Gewerkschaft erscheint daher nur in zwei Fallkonstellationen wahrscheinlich: Die eine Möglichkeit besteht darin, dass die Bemühungen für eine neue Betriebsvereinbarungen nicht durchsetzbar sind. Die Gewerkschaft kann dann mit - gegebenenfalls stillschweigendem - Einverständnis des Betriebsrates auf Unterlassung gegen den Arbeitgeber klagen. Die zweite Fallkonstellation wäre, dass es zu einer schwerwiegenden Zerrüttung des Verhältnisses von Gewerkschaft und Betriebsrat kommt. 269 Nur wenn die Gewerkschaft in einem solchen Fall den Rückhalt der Belegschaft hinter sich zu haben glaubt, ist eine Klage auf Unterlassung realistisch. c) Ausblick

Festzuhalten bleibt somit, dass die zum Untersuchungszeitpunkt geltende Rechtsprechung zum gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen erhebliche Rechtsunsicherheiten verursachte. Diese Unklarheiten trugen dazu bei, dass nur in wenigen Fällen eine gewerkschaftliche Klageerhebung erfolgte. Mit der Anerkennung eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs der Gewerkschaft gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen wurden diese rechtlichen Unsicherheiten beseitigt. Doch auch durch diese Klarstellung der Rechtsprechung ist nicht zu erwarten, dass es zu einem massenhaften Anstieg von Unterlassungsklagen gegen tarifwidrige betriebliche Vereinbarungen kommen wird. Eine Klageerhebung kann aus der gewerkschaftlichen Logik heraus nur die ultima ratio für ganz bestimmte Fälle 268 Vgl. Artus/Liebold/Lohr/E. Schmidt/R. Schmidt/Strohwald, 2001, S. 135; Brecht/ Höland, WSI-Mitteilungen 2001, S. 501, 505; R. SchmidtlTrinczek, 1999, S. 113. 269 Ein solcher Fall wurde uns von dem Gewerkschaftsvertreter der Verwaltungsstelle IGM-7 geschildert, der auch eine Amtsenthebung nach § 23 Abs. 1 BetrVG initiierte. Vor Abschluss des Verfahrens kam es jedoch zu Neuwahlen, die zur Einsetzung eines neuen Betriebsrats führte.

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten

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sein. Das betrifft zum einen die endgültige Zerrüttung des Verhältnisses von Betriebsrat und Gewerkschaft und zum anderen die beharrliche Verweigerung des Arbeitgebers, die tarifwidrige Regelung zu beseitigen. Durch eine Klarstellung der Rechtsprechung erweitern sich die gewerkschaftlichen Einflussmöglichkeiten, eine tarifkonforme Neuregelung bereits aufgrund einer Einigung der Betriebsparteien herbeiführen zu können. Die Androhung einer Klageerhebung lässt sich damit als effektives Druckmittel in die Verhandlungen einbringen, was bei Bestehen einer unsicheren Rechtslage nur begrenzt möglich ist. Damit erhöht sich mit der Schaffung größerer Rechtssicherheit auch die Wahrscheinlichkeit rechtskonformen Verhaltens auf betrieblicher Ebene.

IV. Keine Materialisierung des Arbeitsrechts Es bleibt festzuhalten, dass die betrieblichen Akteure eine konfliktive Lösung betrieblicher Streitigkeiten - sei es durch arbeits gerichtliche Streitigkeiten270 oder durch Verfahren vor der gesetzlichen Einigungsstelle271 bzw. der tariflichen Schlichtungsstelle272 - möglichst vermeiden. Demgegenüber hat Hartmann in einer Studie von 1987 infolge des Tarifabschlusses in der Metallindustrie 1984 eine zunehmende Materialisierung von wesentlichen Teilen des kollektiven Arbeitsrechts angenommen: Die Flexibilisierungsbestandteile des Manteltarifvertrags der Metallindustrie von 1984 führe zu einer Verlagerung wesentlicher tariflicher Funktionen auf die betriebliche Ebene und in der Folge zu einer zunehmenden Ersetzung tariflicher Einigungen durch arbeitsgerichtliche Urteile. Dies sei kein Einzelphänomen, sondern der Beginn einer langfristigen Entwicklung hin zur Materialisierung des kollektiven Arbeitsrechts. Schließlich würden Einigungsstellen und Arbeitsgerichte diesen Prozess einer langsamen Aushöhlung der Tarifautonomie nicht bremsen, sondern ihn im Gegenteil sogar noch beschleunigen. 273 Die empirische Grundlage dieser These beruht auf der Feststellung, dass es von Ende 1984 bis Anfang 1986 zu 33 Beschlussverfahren in der Metallindustrie gekommen sei, welche die Einigungsstellenentscheidung zur Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung auf ihre Berechtigung hin untersucht habe. Basierend auf Ergebnissen früherer Untersuchungen schließt er daraus für den I-jährigen Zeitraum auf eine Zahl von etwa 160 - 170 Einigungsstellenverfahren. Dies bedeute eine erhebliche Steigerung im Vergleich zu einer Studie von 1983. 274 Besagte Studie vom Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände mit Hilfe seiner regionalen Mitgliedsverbände erfasste im Zeitraum von Januar 1980 bis Juni 1982 270 271 272

273 274

Siehe hierzu oben § 7 II. und § 7 III. Vgl. oben § 6 I. Siehe oben § 6 II. Hartmann, Zeitschrift für Soziologie 16, 1987, S. 16, 17. Hartmann, Zeitschrift für Soziologie 16,1987, S. 16, 17.

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Teil 1: Empirische Untersuchung

insgesamt 179 Einigungsstellenverfahren. 275 Anders als von Hartmann dargestellt handelte es sich somit lediglich um einen Zeitraum von 30 Monaten, womit die angenommene Steigerung deutlich weniger signifikant ausfällt. Eine derartige Erhöhung lässt sich damit als eine vorübergehende Erscheinung charakterisieren, die im Zuge derart weitgehender Veränderungen im Bereich der Arbeitszeit als wenig erstaunlich anzusehen ist. Wie die vorliegende empirische Untersuchung belegt, stellt eine konfliktive Form der Streitbeilegung durch die Arbeitsgerichte oder Schlichtungs- bzw. Einigungsstellen die Ausnahme dar. Die These einer zunehmenden Materialisierung des Arbeitsrechts als Folge zunehmender Verbetrieblichung lässt sich daher nicht halten. Unbestreitbar ist die zunehmende Bedeutung betrieblicher Rechtsetzung mit einer Verlagerung von Konflikten auf die Betriebsebene verbunden. Die Lösung dieser Konflikte geschieht aber im Regelfall nicht durch Anrufung der Gerichte oder sonstiger externer Entscheidungsinstanzen. Eine derartige konfliktive Mobilisierung von Recht steht nämlich typischerweise im Widerspruch zu einer auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Vertragsbeziehung, wie sie auch für die Betriebsparteien gilt. Für die betriebliche Konfliktlösung spielt die Streitbeilegung durch Externe somit nur eine untergeordnete Rolle. Ihre primäre Bedeutung besteht darin, als explizites oder stillschweigendes Druckmittel in den Verhandlungen der Betriebspartner Einfluss auf das Verhandlungsergebnis zu nehmen.

v. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei tarifwidrigen betrieblichen Regelungen die Mehrzahl der in Betracht kommenden Klagen wenig effektiv ist. Individualklagen kommen nur selten in Frage, da aufgrund berechtigter Angst vor individuellen Nachteilen bis hin zur Kündigung die Arbeitnehmer sich regelmäßig vor einem solchen Schritt scheuen. Ein solches Problem stellt sich für den Betriebsrat nicht. Allerdings wird ein Betriebsrat nicht gegen seine eigene Betriebsvereinbarung oder Regelungsabrede klagen. Damit kommt eine solche Klage praktisch nur dann in Betracht, wenn auf betrieblicher Ebene eine tarifwidrige Regelung gegen den Willen des Betriebsrates durch den Arbeitgeber praktiziert wird. Ein Beispiel hierfür ist die Überschreitung der Beschäftigungsquote in den Manteltarifverträgen der Metallindustrie. Die restriktive Haltung einiger Landesarbeitsgerichte 276 zu einem derartigen Unterlassungs anspruch des Betriebsrates ist abzulehnen. Im Regelfall vorzugswürdig sind jedoch Klagen durch die Tarifvertragsparteien. Das Mittel der Einwirkungsklage ist regelmäßig allerdings nicht geeignet, den Ta275 276

Glaubitz. OB 1983, S. 555, 556. Vgl. hierzu die oben genannten Entscheidungen in Fn. 242 und 243.

§ 7 Effektivität von Klagemöglichkeiten

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rifverstoß zu beseitigen. Fehlt es an der Fähigkeit oder einem entsprechenden Willen des Arbeitgeberverbandes, die Einhaltung des Tarifvertrags nachdrücklich einzufordern, so kann dieses Problem nicht mit der Einwirkungsklage beseitigt werden. Ebenso wie das Verfahren nach § 9 TVG krankt die Einwirkungsklage an dem grundsätzlichen Problem, dass sie sich nicht gegen den eigentlichen Konfliktgegner wendet. Sinnvoll ist daher eine Klage gegen den konkreten Arbeitgeber. Die Gewährung eines umfassenden Unterlassungsanspruchs gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen durch die Entscheidung des BAG vom 20. 4. 1999 sorgt hierbei für die erforderliche Rechtssicherheit. Insgesamt ist festzustellen, dass die Nutzung von gerichtlichen Verfahren zur tarifbezogenen betrieblichen Konfliktlösung ebenso wie außergerichtliche Verfahren einen Ausnahmefall darstellen: Arbeitsgerichtliche Verfahren aufgrund von Tarifverstößen sind nach der durchgeführten Untersuchung vergleichbar selten wie Verfahren vor der gesetzlichen Einigungs- oder der tariflichen Schlichtungsstelle. Dies widerspricht der These Hartmanns, dass es aufgrund der 1984 im Manteltarifvertrag Metall vorgenommenen Flexibilisierung zu einer verstärkten Nutzung von Einigungsstellen und Arbeitsgerichten kommen werde, wodurch die Aushöhlung des Tarifvertrages noch verstärkt würde. Zuzustimmen ist dem hinter dieser These stehenden Gedanken, dass mit der Verlagerung tariflicher Kompetenzen auf die betriebliche Ebene zusätzliches Konfliktpotenzial in die Betriebe gebracht wird. Die Lösung von daraus resultierenden Konflikten erfolgt aber nur ausnahmsweise durch Inanspruchnahme gerichtlicher oder außergerichtlicher Verfahren. Die Gründe für die begrenzte Nutzung von Arbeitsgerichten zur Beilegung tariflicher Streitigkeiten dürfte vor allem in einer allgemein zu beobachtenden Abneigung gegen konfliktive Mobilisierung von Recht in auf Dauer angelegten Verhandlungsbeziehungen liegen. Aus der Seltenheit solcher Verfahren lässt sich dabei nicht schließen, dass ihnen keine Bedeutung bei der Konfliktlösung zukommt. Im Regelfall reicht die Möglichkeit einer derartigen externen Konfliktregulierung aus, um die Parteien in die Lage zu versetzen, ihre Streitigkeiten untereinander zu lösen. Entscheidend erscheint daher, ob die Beteiligten die Einleitung des Verfahrens glaubhaft androhen können. Somit ist auch nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 20. 4. 1999 nicht mit einer starken und dauerhaften Zunahme gewerkschaftlicher Unterlassungsklagen zu rechnen.

Teil 2

Rechtswissenschaftliche Untersuchung Im bisherigen Verlauf der Untersuchung wurden die rechtstatsächlichen Anwendungsbedingungen von Flächentarifverträgen in der betrieblichen Praxis einer näheren Betrachtung unterzogen. Die betriebliche Realität stellte sich dabei erheblich vielschichtiger dar, als dies von der juristischen Theorie bislang zur Kenntnis genommen wird. Im Folgenden sollen die im Rahmen der empirischen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse aufgegriffen werden, insbesondere hinsichtlich der teleologischen Auslegung juristischer Streitfragen. Im Mittelpunkt der folgenden rechtswissenschaftlichen Untersuchung steht dabei die Frage nach einer Abgrenzung des Verhältnisses betrieblicher und tariflicher Rechtsetzung. Zunächst sollen hierzu die Grenzen für die Betriebsebene näher untersucht werden. Von zentraler Bedeutung sind insofern die durch tarifliche Regelungen vorgegebenen Beschränkungen, insbesondere im Hinblick auf Tarifvorbehalt und Tarifvorrang (§ 8) sowie der Geltung des Günstigkeitsprinzips im Betriebsverfassungsrecht (§ 9). Darüber hinaus ist zu prüfen, inwiefern Betriebsvereinbarungen auch einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen sind (§ 10). Andererseits sind aber auch den Tarifvertragsparteien Grenzen bei der Öffnung des Flächentarifvertrages für die betriebliche Ebene gesetzt (§ 11). Abschließend bleibt zu fragen, zu welchen Folgen ein Verstoß gegen diese rechtlich gesetzten Grenzen führt. Es ist daher zu untersuchen, welche prozessuale Möglichkeiten den Tarifvertragsparteien bei vom Tarifvertrag abweichenden betrieblichen Regelungen zur Verfügung stehen (§ 12).

§ 8 Verhältnis von § 77 Abs. 3 BetrVG zu § 87 Abs. 1 BetrVG Bereits seit über drei Jahrzehnten heftig umstritten ist das Verhältnis zwischen dem Tarifvorbehalt gemäß § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG und dem Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG. 1 Beide Normen treffen Aussagen über das Verhältnis 1 Die Bezeichnung als Tarifvorbehalt für § 77 Abs. 3 BetrVG und Tarifvorrang für § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet; so gebrauchen Kempen, RdA 1994, S. 140, 151 und Zachert, RdA 1996, S. 140, 144 die WortwaiIl in genau umgekehrter Weise. Tatsächlich spricht die Formulierung in § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG "soweit eine [ ... ] tarifliche Regelung nicht besteht" für eine Bedingung, was laut DUDEN ein Synonym für Vorbehalt darstellt. Dagegen gilt nach § 77 Abs. 3 BetrVG ein unbedingter Vorrang des Tarifvertrages gegenüber der Betriebsvereinbarung, da bereits Tarif-

§ 8 Verhältnis von § 77 Abs. 3 BetrVG zu § 87 Abs. 1 BetrVG

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von betrieblicher und tariflicher Ebene. Gemäß § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dagegen zählt § 87 Abs. 1 BetrVG eine Reihe von Angelegenheiten auf, in denen der Betriebsrat mitzubestimmen hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Der Kernpunkt des Streits liegt in der Frage, ob und inwiefern beide Normen nebeneinander Anwendung finden. Hierzu werden verschiedene Theorien vertreten, die nachfolgend kurz darzustellen sind. Zur besseren Einordnung der verschiedenen Auffassungen soll daran anschließend die praktischen Konsequenzen der jeweiligen Positionen gegenübergestellt werden, die sich vor allem hinsichtlich der Zulässigkeit lediglich tarifüblicher Betriebsvereinbarungen unterscheiden. Auf dieser Grundlage ist schließlich zum Streit Stellung zu beziehen.

I. Zwei-Schranken-Theorie Nach der sogenannten Zwei-Schranken-Theorie2 schließt ein Mitbestimmungstatbestand gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1-13 BetrVG die Anwendbarkeit von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG nicht aus. Dementsprechend stehen beide Normen gleichberechtigt nebeneinander. Bis zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 1972 ging die ganz herrschende Meinung davon aus, dass die Sperrwirkung des heutigen § 77 Abs. 3 BetrVG auch für einen Tatbestand der erzwingbaren Mitbestimmung galt. 3 Doch auch wenn seit der Abkehr der Rechtsprechung von dieser Auffassung die Kategorisierung in herrschende Meinung und Mindermeinung nicht mehr zuverlässig vorgenommen werden kann, so findet dennoch die ZweiSchranken-Theorie in der Literatur nach wie vor erheblichen Rückhalt. 4 üblichkeit für die Sperrwirkung ausreicht. Auch aus historischer Perspektive wird diese Sichtweise bestärkt, wurde doch die Vorgängerregelung von § 77 Abs. 3 BetrVG 1972 noch mit "Vorrang der Tarifüblichkeit" in Kommentaren überschrieben (vgl. etwa Fitting I Kraegeloh I Auffarth, BetrVG, 9. Aufl. 1970, § 59). Ungeachtet dieser Argumente für eine umgekehrte Verwendung beider Begrifflichkeiten soll zur Vermeidung weiterer sprachlicher Verwirrung im Rahmen dieser Arbeit an der allgemein üblichen Verwendung festgehalten werden. 2 Die Bezeichnung als Zwei-Schranken-Theorie geht auf ihren Widerpart Säcker, ZfA 1972 Sonderheft, S. 41, 64 f., zurück und wird teilweise als sprachstrategisch geschickte Abwertung abgelehnt, vgl. insbesondere Richardi, AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972 unter I. Vereinzelt findet sich auch die Bezeichnung "Kumulations theorie" , siehe Birk, EzA Nr. 2 zu § 87 BetrVG 1972 Initiativrecht unter IIl. 3 FittingIKraegeloh/Auffarth, BetrVG, 9. Aufl. 1970, § 59 Rn. 11 und § 56 Rn. 12 m.w.N. 4 Bartholomä, 1995, S. 112; C. Fischer, 1998, S. 254; C. Fischer, EzA Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972, S. 31; FIKIHIEIS, 2002, § 77 Rn. 111; H/SIG-Glaubitz, 1997, § 87 Rn. 62; Gragert, 1997, S. 76 ff.; P. Hanau, BB 1977, S. 350; Haug, BB 1986, S. 1921, 1925; Heisig, 1991, S. 231; Heither, in: FS. Dieterich, 1999, S. 240 f.; H/SIG-Hess, 1997, § 77 Rn. 136;

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Teil 2: Rechtswissenschaftliche Untersuchung

Innerhalb der Zwei-Schranken-Theorie gibt es allerdings nicht unwesentliche Differenzen darüber, wie weit die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG reichen soll. Das betrifft zum einen die Differenzierung zwischen den sogenannten "materiellen" und "formellen" (teilweise auch als "immateriell" bezeichneten5 ) Arbeitsbedingungen. Während unter materiellen Arbeitsbedingungen solche zu verstehen sind, die unmittelbar das Verhältnis von arbeitsvertraglicher Leistung und Gegenleistung definieren, betreffen die formellen Arbeitsbedingungen primär die generelle Ordnung des Betriebs.6 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung? sieht eine zunehmende Zahl auch unter den Anhängern der Zwei-Schranken-Theorie sowohl materielle als auch formelle Arbeitsbedingungen von § 77 Abs. 3 BetrVG als erfasst an. 8 Einige Autoren halten jedoch daran fest, dass der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG nur die Regelung materieller Arbeitsbedingungen verbietet. 9 Des Weiteren wird von einer Meinung vertreten, es müsse i. S. v. § 1 Abs. 1 TVG zwischen tariflichen Inhaltsnormen einerseits und tariflichen Betriebs- bzw. Abschlussnormen andererseits unterschieden werden. 10 Inhaltsnormen betreffen dabei den Inhalt der geregelten Arbeitsverhältnisse. 11 Sie erfassen somit das gesamte Spektrum der Regelungsinhalte von Arbeitsverhältnissen wie Lohnfragen, Hromadka, DB 1987, S. 1991, 1992; HromadkalMaschmann, 2001, Rn. 379; loost, AP Nr. 2 zu § 620 BGB Altersgrenze unter 11. 2. a); Kraft, in: FS. Molitor, 1988, S. 207, 214 f.; GKBetrVG-Kreutz, 2002, § 77 Rn. 139 ff.; Kreutz, 1979, S. 220; v. Langen, 1994, S. 88 f.; Lethert, 2001, S. 133; Lieb, Rn. 776 f.; Lieb, NZA 1994, S. 337, 341; Moll, 1980, S. 39; Richardi, BetrVG, 2002, § 77 Rn. 250 f.; Schwarze, 1990, S. 203; StegelWeinspachlSchieJer, 2002, § 87 Rn. 35 ff.; Straßner, 1998, S. 140; Thüsing, ZTR 1996, S. 146, 150; Veit, 1998, S. 247 ff.; Walker, ZfA 1996, S. 353, 358; Waltermann, 1996, S. 285 ff.; Waltermann, NZA 1996, S. 357, 359; Wiedemann/ Wank, TVG, 1999, § 4 Rn. 620; Wank, RdA 1991, S. 129 ff.; Wank, NJW 1996, S. 2273, 2276; GK-BetrVG-Wiese, 2002, § 87 Rn. 47; Wiese, SAE 1989, S. 6 ff.; Wurth, 1993, S. 122; ZöllnerlLoritz, 1998, S. 571 [§ 47 IV. 5. e)]. 5 lahnke, 1984, S. 174. 6 Instruktiv zur - nicht unumstrittenen - Präzisierung des Begriffspaars Bakopoulos, 1991, S. 116 ff. Bemerkenswert erscheint, dass zahlreiche Autoren die Begrifflichkeiten verwenden, ohne sie selbst teilweise auch nur annähernd zu definieren; vgl. etwa Wank, RdA 1991, S. 129, 133. 7 Grundlegend BAG 9. 4. 1991, AP Nr. 1 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt unter 11.3. 8 Bartholomä, 1995, S. 37; C. Fischer, 1998, S. 191 ff.; FIKIHIEIS, 2002, § 77 Rn. 46 und 71; Gragert, 1997, S. 57; Haug, BB 1986, S. 1921, 1928 f.; Heinze, NZA 1989, S. 41, 43; Heither, in: FS. Dieterich, 1999, S. 235; Heyer, 1983, S. 39; Kreutz, 1979, S. 211 ff.; Moll, 1980, S. 36; Thüsing, ZTR 1996, S. 146, 148; Wadephul, 1996, S. 142; Waltermann, 1996, S. 279; Zöllnerl Loritz, 1998, S. 539 [§ 46 11. 6. a)]. Umfangreiche weitere Nennungen bei GK-BetrVG-Kreutz, 2002, § 77 Rn. 88. 9 P. Hanau, BB 1977, S. 350; H/S/G-Hess, 1997, § 77 Rn. 136; Richardi, BetrVG, 2002, § 77 Rn. 240; Schwarze, 1990, S. 203; Veit, 1998, S. 247 ff.; Wank, RdA 1991, S. 129, 133; Wiese, 1979, S. 661, 665; Wurth, 1993, S. 123 f.; ZöllnerlLoritz, 1998, S. 571 [§ 47 IV. 5. e)]. 10 So Bartholomä, 1995, S. 52 (Fn. 20); FIKIHIEIS, 2002, § 77 Rn. 73; Heither, in: FS. Dieterich, 1999, S. 235 sowie in älterer Kommentierung DietzlRichardi, BetrVG, 6. Aufl. 1982, § 77 Rn. 189. Siehe ferner die in den Fn. 16 und 17 genannten Autoren. 11 Wiedemann/ H. Wiedemann, TVG, 1999, § 1 Rn. 315.

§ 8 Verhältnis von § 77 Abs. 3 BetrVG zu § 87 Abs. 1 BetrVG

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Arbeitszeitregelungen, Aspekte des Arbeitsschutzes, der Arbeitsbedingungen, Qualifikation USW. 12 Durch Inhaltsnormen können also sowohl materielle als auch formelle Arbeitsbedingungen geregelt werden. 13 Im Vergleich hierzu von geringerer praktischer Bedeutung sind Abschlussnormen, die das Zustandekommen neuer, die Wiederaufnahme alter bzw. die Fortsetzung unterbrochener Arbeitsverhältnisse regeln. 14 Betriebliche bzw. betriebsverfassungsrechtliche Normen kommen schließlich dem einzelnen Arbeitnehmer nicht unmittelbar, sondern nur als Mitglied der Belegschaft zugute l5 Die Idee, Betriebsnormen von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG auszuschließen, geht auf Jahnke zurück. 16 Hieran anschließend vertritt Heinze die Auffassung, die Zwei-Schranken-Theorie habe für Inhaltsnormen zu gelten, nicht jedoch für Betriebsnormen. Bei Grenzfällen müsse eine Wertung als Betriebsnorm erfolgen. I? Diese teilweise als "TVG-Theorie" I 8 bezeichnete Position ist tatsächlich nur eine besondere Variante der Zwei-Schranken-Theorie, da sie im Kern lediglich die Reichweite von § 77 Abs. 3 BetrVG begrenzt. 19

11. Vorrangtheorie Die Vorrangtheorie wendet hingegen § 77 Abs. 3 BetrVG nicht für solche Angelegenheiten an, die der erzwingbaren Mitbestimmung gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1-13 BetrVG unterliegen. Seit einer Entscheidung von 1987 hat sich das Bundesarbeitsgericht in inzwischen gefestigter Rechtsprechung dieser Auffassung angeschlossen. 20 Seither findet die Vorrangtheorie auch in der Literatur zunehmende Verbreitung. 21 Ihre Anhänger lassen sich dabei überraschenderweise in zwei völlig entKempen/Zachert, TVG, 1997, § 1 Rn. 27. WiedemannlH. Wiedemann, TVG, 1999, § 1 Rn. 316. 14 Kempen/Zachert, TVG, 1997, § 1 Rn. 28; Wiedemannl H. Wiedemann, TVG, 1999, § 1 Rn. 479. 15 Kempen/Zachert, TVG, 1997, § 1 Rn. 35. 16 Jahnke, 1984, S. 172 ff.; im Gegensatz zu den in Fn. 10 genannten Autoren unterscheidet er allerdings zwischen Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnonnen einerseits sowie betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen andererseits. 17 Heinze, NZA 1989, S. 41, 44 ff. 18 Die Bezeichnung geht zurück auf Wank, RdA 1991, S. 129, 130. 19 So zutreffend C. Fischer; 1998, S. 163 f. 20 Grundlegend BAG 24.2. 1987, AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972 unter B. 11. 4. und BAG (Großer Senat) 3. 12. 1991, AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung unter C. 1.; bestätigt u. a. durch BAG 20. 4. 1999, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt unter 11. 1.; BAG 22.6. 1993, AP Nr. 22 zu § 23 BetrVG 1972 unter B. III. 2. b). 21 Die Vorrangtheorie geht zurück auf Säcker; ZfA 1972 Sonderheft, S. 41, 64 ff. Weitere Vertreter sind insbesondere Bakopoulos, 1991, S. 144 f.; D/K/K-Berg, 2002, § 77 Rn. 66; Birk, EzA Nr. 2 zu § 87 BetrVG 1972 Initiativrecht unter III.; Breidenstein, 1991, S. 32; Brox/Rüthers, Arbeitsrecht, 2002, Rn. 404; Dachrodt/Engelbert, 2002, § 77 Rn. 18 unter 12

13

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Teil 2: Rechtswissenschaftliche Untersuchung

gegengesetzten Lagern finden: Zum einen betrifft dies marktradikale Refonner, die für eine Umgestaltung von der Tarif- zur Betriebsautonomie plädieren. Für sie ist die eingeschränkte Wirkung von § 77 Abs. 3 BetrVG Mittel zum Zweck, die Kompetenzen der Betriebsparteien möglichst umfassend auszuweiten. 22 Die andere Gruppe von Befürwortern stellen vor allem den Gewerkschaften nahestehende Autoren dar, deren Motive im Schutz der Arbeitnehmer in nichttarifgebundenen Betrieben liegen: Da für diese Arbeitnehmer der Tarifvertrag keine schützende Wirkung entfalten kann, soll dies zumindest durch entsprechende Betriebsvereinbarungen möglich sein. 23 Auch für die Vorrangtheorie ist teilweise umstritten, welche Reichweite ihr zukommt. Hierbei geht es um die Frage der Auslegung von § 87 Abs. 1 BetrVG bei sogenannten teilmitbestimmten Betriebsvereinbarungen. Es handelt sich in diesen Fällen um Angelegenheiten, die nur zum Teil einem Mitbestimmungstatbestand nach § 87 Abs. 1 Nr. 1- 13 BetrVG unterliegen. Nach einer Auffassung ist bei Betriebsvereinbarungen in teilmitbestimmten Angelegenheiten allein § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG anwendbar. 24 Die entgegengesetzte Position Thüsings befürwortet hingegen bei teilmitbestimmten Sachverhalten generell die Anwendung von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG. 25 Eine vermittelnde Position vertritt P. Hanau, der die Problematik abhängig vom Schwerpunkt der Regelung lösen möchte: Liege dieser im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung, so gelte § 87 Abs. 1 Eingangssatz cc); Oäubler, Tarifvertragsrecht, 1993, Rn. 227; Dütz, 2002, Rn. 823; Ehmann, ZRP 1996, S. 314, 316; Ehmann/Th. B. Schmidt, NZA 1995, S. 193, 197; Fabricius, RdA 1973, S. 125, 126; Farthmann, RdA 1974, S. 65, 72; Feudner; OB 1993, S. 2231, 2233; v. Friesen, OB 1983, S. 1871, 1873; Gast, 1981, S. 39; Gast, BB 1987, S. 1249; Gaul, EzA Nr. 10 zu § 87 BetrVG 1972 unter 3.; Gnade/Kehrmann/Schneider/Klebe/Ratayczak, 2002, § 77 Rn. 12; Halberstadt, 1994, § 77 Rn. 20; Hoß/Liebscher, OB 1995, S. 2525, 2529 f.; v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, NZA 1987 S. 793, 799; Kempen, RdA 1994, S. 140, 151; Kempen/Zachert, TVG, 1997, Grundlagen Rn. 279; O/K/K-Klebe, 2002, § 87 Rn. 32; Koenig, 1997, S. 147 f.; v. Langen, 1994, S. 88 f.; Lambrich, 1999, S. 304; HaKo-BetrVGI Lorenz, 2002, § 77 Rn. 15; Löwisch, Arbeitsrecht, 2002, Rn. 615; Löwisch/Rieble, TVG, 1992, § 4 Rn. 162; MünchArbR-Matthes, 2000, § 327 Rn. 70 f.; Reinermann, 1997, S. 168; Rieble, 1996, Rn. 1494; Säcker, BB 1979, S. 1201, 1202; Schaub, NZA 1998, S. 617, 623; Th. B. Schmidt, 1994, S. 103; Schulin, EzA Nr. 39 zu § 77 BetrVG 1972 unter 1.; A. Seifert, 2000, S. 141; Sprick, Arbeitszeitbegriff und rnitbestimmungspflichtige Tatbestände i. S. d. § 87 I Nr. 2, 3 BetrVG, 1997, S. 8 ff.; Simitis/Weiss, OB 1973, S. 1240, 1247; Weiss/Weyand, BetrVG, 1994, § 77 Rn. 29; Weyand, 1989, S. 140; Weyand, ArbuR 1989, S. 193, 195; Yurtsev, 1996, S. 48 f.; Zachert, RdA 1996, S. 140, 144; Zachert, NZA 1988, S. 185, 188; wohl auch Barwasser, OB 1975, S. 2275; Friese, 2000, S. 339 f.; Gaumann/Schajft, NZA 1998, S. 176, 177 f.; ErfK-Hanau/Kania, 2001, § 77 BetrVG Rn. 53; Meik, 1987, S. 202 (Fn. 360). 22 Als exponierteste Vertreter können angesehen werden: Ehmann, ZRP 1996, S. 314,316; Ehmann/Th. B. Schmidt NZA 1995, S. 193, 197; Lambrich, 1999, S. 304; Th. B. Schmidt, 1994, S. 103. 23 Als Gewerkschaftsvertreter sind insbesondere zu nennen: O/K/K-Berg, 2002, § 77 Rn. 66; Kempen, RdA 1994, S. 140, 151; O/K/K-Klebe, 2002, § 87 Rn. 32. 24 Koenig, 1997, S. 139 f. 25 Thüsing, ZTR 1996, S. 146, 147.

§ 8 Verhältnis von § 77 Abs. 3 BetrVG zu § 87 Abs. 1 BetrVG

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BetrVG, ansonsten sei § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG einschlägig. 26 Schließlich wird insbesondere von Hromadka die Meinung vertreten, dass jeder teilmitbestimmte Sachverhalt sich gedanklich in einen mitbestimmungspflichtigen und einen mitbestimmungsfreien Tatbestand unterteilen lasse. Für den mitbestimmungspflichtigen Teil finde § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG Anwendung, während im mitbestimmungsfreien Bereich § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG gelte. 27 Die Rechtsprechung bietet in dieser Hinsicht ein uneinheitliches Bild: Das BAG hatte sich in einigen älteren Entscheidungen gegen eine Anwendung von § 77 Abs. 3 BetrVG bei teilmitbestimmten Betriebsvereinbarungen ausgesprochen, ohne jedoch die Problematik näher zu erörtern. 28 Im Rahmen einer späteren Entscheidung ließ es diese Frage allerdings explizit offen. 29 In einer weiteren Entscheidung bezüglich einer Betriebsvereinbarungen über die Verteilung der Arbeitszeit, die zugleich die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit festlegte, hat das BAG den Mitbestimmungstatbestand des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG abgelehnt und somit § 77 Abs. 3 BetrVG für anwendbar erklärt. 3o Dagegen verneinte das Gericht in einem Urteil vom 6. 12. 1995 die Anwendbarkeit des Tarifvorbehalts gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG für Betriebsvereinbarungen über Angelegenheiten, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrates unterliegen: Gewähre der Arbeitgeber eine freiwillige Leistung, so habe der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hinsichtlich der näheren Ausgestaltung dieser freiwilligen Leistung mitzubestimmen?l In weiteren Entscheidungen verneinte das BAG hingegen teilweise die Mitbestimmungspflichtigkeit des geregelten Sachverhalts, so dass insofern die Sperre des § 77 Abs. 3 BetrVG eingreife. 32 Die jüngere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts lässt sich somit so zusammenfassen, dass teilmitbestimmte Betriebsvereinbarungen nur dann dem Tarifvorbehalt gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG entzogen sind, soweit tatsächlich ein Mitbestimmungstatbestand des § 87 Abs. 1 Nr. 1-13 BetrVG einschlägig ist. MünchArbR-Hanau, 2000, § 62 Rn. 78. Hromadka, in: FS. Schaub, 1998, S. 346; zustimmend Hohmeister, BB 1999, S. 418, 419 ff. Anzumerken ist, dass beide Autoren sich eigentlich als Anhänger der Zwei-Schranken-Theorie verstehen; angesichts der gefestigten Rechtsprechung lassen sie sich jedoch in ihrer diesbezüglichen Argumentation auf die Perspektive der Vorrangtheorie ein. 28 BAG 9.2. 1989, AP Nr. 40 zu § 77 BetrVG 1972 unter I. 1. d); BAG 10. 2. 1988, AP Nr. 33 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung unter 11.3.; allerdings spricht C. Fischer, 1998, S. 245 f. der letztgenannten Entscheidung mit beachtlichen Argumenten ab, tatsächlich eine aussagekräftige Äußerung zu dieser Frage gemacht zu haben. 29 BAG 26. 4. 1990, AP Nr. 4 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung unter 11.2. 30 BAG 22.6. 1993, AP Nr. 22 zu § 23 BetrVG 1972 unter B. III. 2. c) aa). 31 BAG 6. 12. 1995, AP Nr. 186 zu § 611 BGB Gratifikation unter 11.3. a). 32 BAG 24. 1. 1996, AP Nr. 8 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt unter I. 2.; BAG 5.3. 1997, AP Nr. 10 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt unter 11. 2. b); allerdings ließ das Gericht in BAG 20. 7. 1999, AP Nr. 8 zu § 76 BetrVG 1972 Einigungsstelle unter B. III. mangels Entscheidungserheblichkeit offen, ob der nicht der erzwingbaren Mitbestimmung unterliegende Teil der Betriebsvereinbarung durch § 77 Abs. 3 BetrVG gesperrt gewesen wäre. 26

27

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Teil 2: Rechtswissenschaftliche Untersuchung

III. Praktische Konsequenzen Angesichts des scheinbaren Durcheinanders der beiden Theorien und ihrer jeweiligen Verästelungen stellt sich die Frage nach den praktischen Auswirkungen. Dabei ist insbesondere zwischen den Folgen der jeweiligen Theorien für Betriebsvereinbarungen und für Regelungsabreden zu differenzieren. Darüber hinaus ergeben sich auch teilweise Konsequenzen für die Frage eines gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruchs gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen. 1. Auswirkungen auf Betriebsvereinbarungen

Hinsichtlich der Unwirksamkeit von tarifabweichenden Betriebsvereinbarungen kommen sämtliche Positionen in den meisten Fällen zum gleichen Ergebnis. Teilweise unterscheiden sie sich aber darin, auf welchem Wege sie zu diesem Ergebnis gelangen. Schwerpunkt der folgenden Betrachtung wird allerdings der vergleichsweise kleine Bereich sein, in dem sich praktisch relevante Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen ergeben. Einen schematischen Überblick hinsichtlich der praktischen Auswirkungen bei Anwendung der jeweiligen Theorien gibt auch das auf der folgenden Seite abgedruckte Baumdiagrarnm.

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;::; ce

~

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.------I

Mitbestimmungspflichtige Angelegenheit

.---

Abweichung betriffi Belriebsnonnen

~

BV regelt materielle Arbeitsbed.

~

j

-

erfassst alle Arbeittsbed.

ZsTiii":§77iii'

~

Abweichung belriffi Inhaltsnormen

~

ZST 11: §77111 erfasst nur Inhaltsnormen

IZwei-Schranken-Theorie .-------t ~

~

I \

BV regelt formelle Arbeitsbed.

.....-

ZST I: § 77111 erfasst nur materielle Arbeitsbed.

Vorrangtheorie - ,

t

Keine Tarifliblichkeit

.........

Nichtbestehen einer tariflichen Regelung

~

teilmitbestimmter BV gilt nur § 87 I

.------VT-I-:B-ei---'

/

Teilmitbestimmte Angelegenheit

~

Tariflibliche Regelung

VT J: lJifferenzierung I nach Schwerpunkt bei teilmitbestimmter BV

t

BV hat Schwerpunkt bei erzwingb. Mitbest.

t

BV hat Schwerpunkt auBerhalb erzwingbarer Mitbestimmung

/~

VI l: Bei teilmitbest. BV gilt nur § 77 111

t

Hinsichtlich des mitbestimmungs pflichtigen Teils derBV

Ji

t

Hins. des nichtmitbestimmliligsptl Teils derBV

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VT 4: Gedankliche Trennung von mitbest.pfl. und mitbest.freiem Teil einer BV möglich .-

I VO~angtheorie-]~- - - - - - - - - . ,'--_ _-'

-------.

====----,.,--,------,

"--=t

t

IBestehen-einer tariflichen Regelung I

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Vom Tarifvertrag abweichende Betriebsvereinbarung

Praktische Auswirkungen der jeweiligen Theorien

Schema J

N

-..J -..J

......

Cl

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