Von Mozarts göttlichem Genius: Eine Kunstbetrachtung auf der Grundlage der Schopenhauerschen Philosophie 9783110840476, 9783110053449

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Von Mozarts göttlichem Genius: Eine Kunstbetrachtung auf der Grundlage der Schopenhauerschen Philosophie
 9783110840476, 9783110053449

Table of contents :
Vorwort
Erster Teil: Der Genius des Lichtes
1. Kunst und Künstler. — Das Licht als Symbol der musikalischen Klarheit, Bedeutsamkeit und Unerschöpflichkeit
2. Die Klarheit des Gedankens
3. Die Bedeutsamkeit des Gedankens
4. Die Unerschöpflichkeit der Gedanken
5. Gegensätze
Zweiter Teil: Der Genius der Liebe
6. Über die Liebe und ihre Bedeutung in den vier Meisteropern Mozarts
7. Die Entführung aus dem Serail
8. Die Hochzeit des Figaro
9. Don Juan
10. Die Zauberflöte
Dritter Teil: Die eigentümliche Prägung des Mozartschen Genius
11. Einleitendes über die Einmaligkeit jedes Genies
12. Mozarts »göttliche« Heiterkeit
Anhang: Nachweis der Zitate und Anmerkungen

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Von

Mozarts göttlichem Genius Eine Kunstbetrachtung auf der Grundlage der Schopenhauerschen Philosophie von

Konrad Pfeiffer

1956

Verlag Walter de Gruyter & Co • Berlin

Dritte Auflage

© Archiv-Nr. 474356 Copyright 1956 by Walter de Gruyter & Co. Druck von Thormann & Goetsch Berlin

Den Manen Mozarts 1756

27. Januar

1956

Inhalt Vorwort

1

Erster T e i l : Der Genius des Lichtes

7

1. Kunst und Künstler. — Das Licht als Symbol der musikalischen

Klarheit,

Bedeutsamkeit und Unerschöpflichkeit

9

2 . Die Klarheit des Gedankens

22

3 . Die Bedeutsamkeit des Gedankens

31

4 . Die Unerschöpflichkeit der Gedanken

39

5 . Gegensätze

44

Zweiter T e i l : Der Genius der Liebe

53

6 . Über die Liebe und ihre Bedeutung in den vier Meisteropern Mozarts

55

7 . Die Entführung aus dem Serail

61

8 . Die Hochzeit des Figaro

66

9 . Don Juan

71

10. Die Zauberflöte Dritter T e i l :

80

Die eigentümliche Prägung

des Mozartschen Genius 11. Einleitendes

über

die

85 Einmaligkeit

jedes Genies 12. Mozarts »göttliche« Heiterkeit

87 90

Anhang: Nachweis der Zitate und Anmerkungen 103

VII

Vorwort zur ersten Auflage in neues Mozart-Buch bedarf selbst im Hinblick auf das bevorstehende Mozart-Jahr, da 150 Jahre seit dem Tode des Meisters verflossen sein werden, einer Rechtfertigung. Ist nicht in einer fast unübersehbar gewordenen MozartLitteratur alles gesagt, was gesagt werden kann, von nüchtern-wissenschaftlicher Untersuchung bis zum begeistertsten Hymnus? Wo sollte die Lücke sein, die es zu schließen gälte und deren Ausfüllung einer neuen Arbeit über Mozart ihre Berechtigung g ä b e ?

E

Um das Unbegreifliche, das Unerreichbare und Einmalige der Erscheinung Mozarts zu bezeichnen, hat man von jeher das Bild seines »göttlichen« Wesens, der »himmlischen« Herkunft seiner Töne verwendet. Schon in den noch zu Mozarts Lebzeiten und bald nach seinem Tode verfaßten Gedichten, jenen rührenden, wenn auch poetisch oft nicht gerade bedeutenden Versuchen, sich seinem Genius zu nähern, erscheint er als der »deutsche Apoll«, der »Gottgesandte«, als »ein Bild des Werdens überird'scher Welt« und heutzutage ist »der göttliche Mozart« uns zu einem durchaus geläufigen Begriff geworden. Den »Lichtund Liebesgenius in der Musik« hat ihn Richard Wagner genannt, und auch diesem Namen liegt ja nichts anderes als die Vorstellung von etwas Göttlichem zu Grunde, der Gedanke an den Gott des Lichtes und den Gott der Iäebe. Und scheint es nicht wirklich einem Jeden von uns, der in der Kunst, und besonders in der Musik, in Mozarts Musik und ihrer eigentümlichen Heiterkeit, sich auf die höchste ihm mögliche Stufe hinaufgesteigert fühlt, daß er hier der Region der Götter näher ist? Wer aber weiß denn so recht, wie dieses Wunder zustande kommt, wer hat die Problematik, die in Mozarts lichtvoll-heiterer Musik, in Mozarts Dar1

1

Stellung aller Ausstrahlungen d e r L i e b e und in d e m Zusamm e n h a n g der L i e b e mit d e m W e l t g a n z e n beschlossen l i e g t , in i h r e r ganzen T r a g w e i t e und B e g r ü n d u n g e r f a ß t , w e r ist h i e r wirklich bis a u f das L e t z t - E r k e n n b a r e z u r ü c k g e g a n g e n , um so den tiefsten Blick in Mozarts göttlichen Genius und dessen ureigentümliche P r ä g u n g zu tun? Hier ist nun die L ü c k e , und zwar die einzige wirkliche L ü c k e d e r Mozart-Litteratur, die zu schließen die Aufgabe d e r folgenden B l ä t t e r sein s o l l : E i n e R e c h e n s c h a f t wollen w i r uns geben ü b e r das, was wir i m Ergriffensein d u r c h diese musikalische Lichtgestalt und diesen K ü n d e r der L i e b e künstlerisch e r l e b e n , eine »philosophische« R e c h e n s c h a f t , indem wir dieses Erlebnis in den B e r e i c h d e r Reflexion ziehen und e r k l ä r e n . D a ß und inwiefern die g e w o n n e n e n E r gebnisse zugleich f ü r die gesamte Musik und f ü r alle D r a matik überhaupt g e l t e n , ist an e n t s p r e c h e n d e r Stelle dargelegt. A b e r der Genius kann zutiefst n u r vom Genius begriffen und erklärt w e r d e n . Deshalb h a b e n w i r wirkliche Aufschlüsse nur zu e r w a r t e n , wenn wir uns d e m j e n i g e n F ü h r e r a n v e r t r a u e n , dessen Erkenntnisse vom W e s e n d e r Musik, w e n n sie richtig sind, Mozarts Musik als reinstes musikalis c h e s Gold erweisen und a n d e r e r s e i t s s e l b e r als r i c h t i g und w a h r erwiesen w e r d e n , w e n n w i r in Mozart das W i r k e n eines e c h t musikalischen Genius a n e r k e n n e n . Dieser kongeniale F ü h r e r ist S c h o p e n h a u e r . Denn e r hat nicht bloß als Einz i g e r von allen großen Philosophen das W e s e n d e r Musik und des Genies e r g r ü n d e t , sondern e r ist zugleich d e r Einz i g e , dessen tiefsinnige B e t r a c h t u n g e n ü b e r das W e s e n d e r L i e b e , a u f Mozarts Opern a n g e w e n d e t , diese allererst in d e r ganzen Fülle i h r e r s c h w e r e n und tiefen P r o b l e m a t i k aufschließen und ihren innersten Sinn o f f e n b a r e n . J a , selbst d e r Schleier, d e r ü b e r die bisher niemals untersuchte ur2

eigentümliche Prägung des Mozartschen Genius gebreitet ist, kann, wie ich glaube, durch Schopenhauers Tiefsinn gelüftet werden, soweit eine Entschleierung in solchem Falle Oberhaupt möglich ist. Denn in Schopenhauers Philosophie haben wir den Nachweis aller Zusammenhänge dieser Probleme mit dem Problem des Daseins selbst vor uns; sein Blick reichte bis auf den ewigen, unwandelbaren Grund der Dinge, und in diesem Sinne ist die Philosophie Schopenhauers »das Abbild der Vollendung der Besinnung der Menschheit« *. Zu einer wirklichen Besinnung Uber alle jene Fragen zu gelangen, die also nicht in bedeutungslosen Phrasen oder dunklen Wortverbindungen endet, sondern, unter solcher Führung, wirkliche Einsichten und Erkenntnisse gibt, ist somit unser Ziel. An diesem Gebiet, dem Gebiet der echten Philosophie also, sind bisher, wie Hermann Abert sagt, die Musikforscher nur zu häufig achtlos vorbeigegangen 3 . Dies kommt zunächst daher, daß man sich in weitesten Kreisen unter Philosophie nichts weiter als ein totes Begriffsgerüst vorstellt, mit dem nichts anzufangen sei, weshalb die Mnsikforscher die Philosophie von vornherein als ffir ihre Zwecke unbrauchbar beiseite lassen; sodann aber daher, daß gerade dem künstlerisch-musikalisch gerichteten Kopf die philosophische Abstraktion als etwas Fremdes erscheint. Man ist deshalb weit entfernt von der Erkenntnis, daß die Philosophie, als Welterklärung, auch unser Thema, das jene Lflcke schließen soll, zu behandeln fähig ist. Freilich gilt dies auch nur von der Philosophie Schopenhauers, wenn anders die Beantwortung so vieler Fragen, wie sie gerade dieses Thema dem Forscher aufgibt, durchaus einheitlich erfolgen soll. Denn das eigentliche Wesen der Schopenhauerschen Philosophie besteht darin, daß sie, als die organisch-systematische Entwicklung eines einzigen Grundge1

3

d a n k e n s , ein t r e u e r Spiegel d e r W e l t und aller i h r e r E r s c h e i n u n g e n i s t : spricht sie doch von nichts G e r i n g e r e m als vom » W e s e n dieser W e l t « , in d e r wir sind und die in uns i s t « 4 , u n d das ist durchaus wörtlich, also i m Alles umfassenden S i n n e , zu verstehen. D e r Leser hat deshalb keine vereinzelten, m e h r o d e r weniger

willkürlichen

Gedanken

über

musikästhetische

F r a g e n , auch kein Herumdeuten an Mozarts Opern oder Opernszenen und i h r e m dramatischen Gehalt, und ebensow e n i g einen Hymnus a u f den Zauber d e r E i g e n a r t Mozarts zu e r w a r t e n , dessen dieser wahrlich nicht b e d a r f , sondern e r wird sich, und z w a r in allen drei Teilen dieser Studie^ e i n e r innerlich durchaus zusammenhängenden Gedankenr e i h e g e g e n ü b e r s e h e n , d e r e n Einheit und Zusammenstimmung

durch

jene

organisch-einheitliche

Welterklärung

Schopenhauers gewährleistet ist. W a s der Künstler genial e r s c h a u t und wie e r es in seiner Kunst dargestellt h a t , wird z u m Gegenstand des Denkens, und die folgenden Ausführ u n g e n sind, zumal kein Vorgänger zu benutzen o d e r zu w i d e r l e g e n w a r , in e r s t e r Linie als ein Versuch anzusehen, die auftauchenden P r o b l e m e , die Mozart, d e r B e g l ü c k e r d e r Menschheit, in a n s c h a u l i c h e r Darstellung und künstlerisch-unbewußt gelöst h a t ,

ins deutliche Bewußtsein zu

bringen und im Lichte d e r Abstraktion S c h o p e n h a u e r s , als des

Lehrers

d e r Menschheit,

einer

anders

gearteten,

w e n n auch inhaltlich gleichen Lösung zuzuführen — ein V e r s u c h , den i c h , gleichsam als ein Dolmetsch zwischen Mozart und Schopenhauer, wagen durfte, weil ein gütiges Ges c h i c k mir diese beiden Genien seit langen J a h r e n g l e i c h e r weise nahe g e b r a c h t hat und Mozarts T ö n e mir ebenso viel bedeuten wie Schopenhauers

Weisheiten — ein

Versuch

a b e r a u c h , den ich wagen m u ß t e , weil Goethe r e c h t hat, w e n n e r s a g t : »Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch

4

anwenden.« »Darum bitte ich, ihr wollet es freundlich annehmen und mit Fleiß lesen und uns zugut halten, so wir etwa in einigen Worten gefehlt haben, obwohl wir allen Fleiß getan haben, recht zu dolmetschen.« (Jesus Sirach, Vorrede V. 5). — Im übrigen schließen sich Glück und Belehrung in diesem Sinne nicht aus. Denn in der uns beglückenden Kunst liegen tiefe Weisheiten beschlossen, und jede durch philosophische Weisheit und Lehre erworbene Einsicht beglückt. Sind doch der Künstler und der Philosoph, Mozart und Schopenhauer, selbst Dolmetscher, nämlich der Götter, im Sinne Piatons. So steht also alles, was über Mozart und seine Kunst hier gesagt wird, in engster Beziehung zu den Lehren Schopenhauers. Wenn ich gleichwohl die jedem Hauptteil und jedem Kapitel vorangesetzten Geleitworte nicht ausschließlich diesem Philosophen, sondern allen Teilen der Weltlitteratur entnommen habe, so sollte damit angedeutet werden, daß ein gemeinsames Band alle hohen Geister umschließt, die, jeder in seiner Art, alle das Gleiche sagen, und daß die ganze Welt zusammenwirken muß, um Mozarts göttlichem Genius recht zu dienen.

Halle a. d. Saale, im Mai 1940.

Konrad Pfeiffer

Vorwort zur zweiten Auflage Die neue Auflage ist, bis auf einige kleine Änderungen und Zusätze, ein unveränderter Abdruck der ersten. Ich habe ihr nur diesen Wunsch mit auf den Weg zu geben: daß meine Arbeit zu einem vertieften Schauen und Erleben des Genius Mozarts beitragen möchte.

Halle a. d. Saale, den 27. 1. 1941.

Konrad Pfeiffer

5

Vorwort zur dritten Auflage

Dieses kleine Werk ist jahrelang im Buchhandel vergriffen gewesen und, wie ich weiß, von vielen auch vermißt worden. Mit um so größerer Freude erfüllt es midi, daß diese für das Mozartjahr 1956 in Aussicht genommene neue Auflage jetzt erscheinen und daß ich sie, in allen Teilen völlig unverändert, wieder ihren Weg nehmen lassen kann - zu allen denen, die in Mozarts welthistorischer Grscheinung eine Lebensmacht schon gefunden haben, oder aber, vielleicht durch dieses Büchlein angeregt, diese Macht noch entdecken, in sich wirksam werden lassen und die beglückende Erkenntnis erlangen, daß zwar viel, aber nicht z u viel gesagt ist, wenn man von Mozarts „göttlichem Genius" redet. Aber nicht nur dem solcherart mehr gefühlsbetonten Leser, sondern auch dem Musiker vom Fach dürfte mit meiner Arbeit gedient sein, da sie in ihrem ersten Teil die Crundzüge einer an dem zeitlichen Vorbild Mozart entwickelten Musikästhetik enthält. Im Dezember 1955 Konrad Pfeiffer

Der Genius des Lichtes

D as Licht ist das Erfroulichsto der Dinge. Schopenhauer

Kunst und Künstler Das Licht als Symbol d e r Klarheit, Bedeutsamkeit und Unerschöpflichkeit

D a s Reich, wo unerschöpflich Licht, Aus dem entspringt der Sonne Glanz, In dieses Reich versetze mich, Das ewige, unsterbliche. Altvedischer Hymnus lle die Musik betreffenden Gedanken Schopenhauers, auf dem, ungeachtet meiner weiteren Forschungen, diese Studie sich aufbaut, wurzeln in dem Grundgedanken •eines Systems. Wir haben deshalb, anders als bei bloßen philosophischen Aphorismen musikalischen Inhalts, oder bei einer Musik-Ästhetik ohne philosophischen Unterbau, aberall festen Boden unter den Fttßen, d . h . einen durchaus wissenschaftlich begründeten Halt, wodurch wir allererst imstande sind, aus dem Gebiet des bloßen, wenn auch viel-

A

9

l e i c h t richtigen Meinens, dessen Begründung man

aber

nicht anzugeben v e r m a g , uns zu w i r k l i c h e r Einsicht zu e r h e b e n . Denn mit R e c h t sagt Piaton 1 , daß die r i c h t i g e Mein u n g , die man a b e r nicht begründen k a n n , in d e r Mitte zwis c h e n Einsicht und Unwissenheit liegt. Und weil andererseits SchopenhauersErkenntnisse vom W e s e n d e r Musik, nach sein e n W o r t e n , aus d e r gänzlichen Hingabe seines Geistes an den Eindruck d e r Tonkunst, also aus unmittelbarster Intuition, g e b o r e n sind, so sind seine G e d a n k e n , ungeachtet d e r a b strakten Form ihrer — wie j e d e r — philosophischen Mitteil u n g , kein dürres Begriffsgerüst, sondern wirklich l e b e n d i g . D e s h a l b auch ist das h i e r a n g e s t r e b t e abstrakte B e g r e i f e n j e n e s unmittelbaren Verstehens d e r Musik — an diesem unmittelbaren Verstehen nämlich hatte man sich bis a u f Schop e n h a u e r genügen lassen I — durchaus von p r a k t i s c h e m W e r t , und die Unmittelbarkeit der W i r k u n g selbst, die von d e r Musik ausgeht, bleibt dabei völlig unangetastet. Denn Empfänglichkeit f ü r die Musik nebst d e r e n unmittelbarem V e r s t e h e n ist etwas ganz a n d e r e s , als das B e s t r e b e n , ü b e r das W e s e n der Musik und ü b e r das in i h r e m Verstehen E m p fundene sich philosophische R e c h e n s c h a f t zu g e b e n und so das Verstehen selbst zu b e g r e i f e n , d. h . j e n e W i r k u n g d e r Musik einmal als P r o b l e m aufzufassen und sie sich so, in dessen Lösung, zum Bewußtsein zu b r i n g e n . Beides, j e n e s unmittelbare Verstehen d e r Musik und diese philosophische Selbstbesinnung, besteht n e b e n e i n a n d e r , schließt sich nicht a u s , sondern eines ergänzt das a n d e r e . — J e n e r Grundgedanke, aus dem S c h o p e n h a u e r , dem Riesen Atlas vergleichbar, d e r die Himmelskuppel auf seinen S c h u l t e r n trägt, die ganze W e l t , zu d e r j a auch die Kunst und insbesondere die Musik g e h ö r t , e r k l ä r t hat, ist d e r Ged a n k e vom Willen zum L e b e n als dem W e s e n d e r W e l t . Nur m u ß man freilich diesen B e g r i f f verstehen und d a r f deshalb

10

die kleine Mühe nicht scheuen, sich dieses Verständnis anzueignen. Hat doch Richard Wagner von dem »unermeßlichen Glück« gesprochen, einer Belehrung über den » W i l l e n « im Sinne Schopenhauers teilhaftig geworden zu sein. Schopenhauers Wille zum Leben ist kein bloßes Wort, repräsentiert keine bloße Theorie, sondern geht zurück auf ein ganz unmittelbares Erlebnis, ein Innenerlebnis, und zwar ein solches, welches Jeder von uns hat und dessen er zudem am intimsten und genauesten inne w i r d : Schopenhauers Wille zum Leben ist der Drang zum Dasein und Wohlsein, das Streben nach Selbstcrhaltung, das elementare Lebensgefühl, wie es in der Brust eines jeden Wesens lebt, und das, eben als Gefühl, nichts kennt, als » B e f r i e d i g t « oder » N i c h t b e f r i e d i g t « : So einfach ist dieses große Thema des Willens zum L e b e n 9 . Und ebenso einfach ist im Grunde Schopenhauers Erklärung des Wesens der Musik, denn sie beruht unmittelbar auf diesem Phänomen. Das alleinige Thema der Musik nämlich ist jener » W i l l e « , in all seiner Lust und in all seinem Leide, unser Gefühl, mit seinem » B e f r i e d i g t « oder » N i c h t b e f r i e d i g t « , und indem die Musik die Gefühle, die Empfindungen des Menschenherzens abbildet, macht sie zugleich und unmittelbar das Innere der ganzen Natur offenbar, nämlich eben jenen Willen zum Leben, den wir als den Kern der Natur und das Wesen der Welt (s. Anm. 2) anzusehen haben 3 . Sie löst das Problem des Daseins, indem sie in einer ganz unmittelbar verständlichen Sprache das innerste Wesen alles Lebens und Daseins ausspricht. Sie vermag es, und zwar ganz aus eigenen Mitteln, unsere unmittelbarste Erkenntnisweise, nämlich eben das Gefühl, anzuregen, und so die letzten, tiefsten und geheimsten Aufschlüsse Uber jenes Problem zu geben, freilich in einer Sprache, die in die der Vernunft nicht übersetzbar, aber dennoch überall und jederzeit ganz unmittelbar ver-

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ständlich ist. Deshalb nannte Schopenhauer die Musik die erste, die königlichste der Künste



Diese Erkenntnisse sind ungemein weittragend.

Die

wichtigsten Konsequenzen sind folgende. Aus der Stellung der Musik als der ersten der Künste folgt ohne weiteres, daß sie beim Eingehen einer Verbindung mit der Poesie unter allen Umständen vor dieser den Vorrang hat. Hiermit stimmt überein Mozarts bekannter Satz, daß »bei einer Oper schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein muS«

Dies hat natürlich nicht die

Bedeutung eines »Freibriefes für den absoluten Musiker, der ihm gestattete, ohne Rücksicht auf den Text selbstherrlich seine Künste spielen zu lassen« * ; es ist vielmehr bekannt, daß Mozart, der auch ein echt dramatisches Genie war, in der Wahl seiner Texte sich sehr anspruchsvoll zeigte ' und dieselben auch an entscheidenden Punkten änderte. Nicht freilich etwa, um die Musik alsdann nach diesen Änderungen einzurichten! Der Schöpfungsakt des Mozartschon Genies ist vielmehr durchaus musikalischer Natur, und der ihm vorliegende Text wurde von ihm nur insoweit Änderungen unterzogen, als er mit dieser seiner musikalischen Intuition sich nicht vereinbaren lieB. Diese bezog sich, dem oben dargestellten Wesen der Musik als der Darstellung der Gefühle der Menschenbrust entsprechend, lediglich auf die in den Versen des Textes wiedergegebenen »Willens«-Bewegungen, d. h. die Gefühle und Leidenschaften der handelnden Personen; die Verse selbst waren ihm dabei in ihrem Wortlaut nebensächlich, nur ihr Gehalt an dem gefühlsmäßig-musikalisch Darzustellenden oder wenigstens ihre Beziehung auf die seinem Genius vorschwebende musikalische Intuition war ihm wichtig. Hier liegt die Erklärung dafür, daß Mozart, seinen oft faden und banalen Texten zum Trotz — man denke an einzelne Stellen der

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Zauberflöte — die wundervollsten Wirkungen erzielt, die Ton j e h e r die größte Bewunderung erregt haben. Die Verse des Textes verhalten sich dazu »wie hilfloses Gestammel gegenüber der monumentalen Sprache des Genies« 8 . In diesem Sinne heißt es bei Schopenhauer, daß die der Musik beigegebenen Worte den Eindruck der Musik erhöhen werden, weil unser anschauender und reflektierender Intellekt, der nicht ganz müßig sein mag, »eine leichte und analoge Beschäftigung dabei erhält, auch zugleich Dem, was die Töne in ihrer allgemeinen, bilderlosen Sprache des Herzens besagen, ein anschauliches Bild . . . untergelegt wird«, daß dies jedoch »in den Schranken der größten Einfachheit gehalten werden sollte, da es sonst dem musikalischen Hauptzweck gerade e n t g e g e n w i r k t « U n d ganz ebenso heißt es, in einem Briefe Mozarts an den Vater 1 0 , »daß ausgesuchte oder ungewöhnliche Worte in einer angenehmen Arie allzeit unschicklich sind.« — Auf dem dargelegten Wesen der Musik beruht auch Folgendes. Die Musik spricht von lauter Wohl und Wehe, Lust und Leid, denn dies sind die alleinigen Realitäten fttr den »Willen«, d. h. für unser Gefühl. Mithin redet sie nicht von Dingen, d. h. von Vorgängen des Lebens, vielmehr hat sie überall nur die Quintessenz derselben und des Lebens, eben die Gefühlsbetonungen, auszudrücken. Gerade deshalb ja »spricht sie so sehr zum Herzen, während sie dem Kopfe unmittelbar nichts zu sagen hat und es ein Mißbrauch ist, wenn man ihr dies zumutet, wie es in aller malenden Musik geschieht, welche daher, ein für alle Mal, verwerflich i s t . . . Denn ein Anderes ist Ausdruck der Leidenschaften, ein Anderes Malerei der D i n g e « 1 1 . Hiermit stimmt wiederum überein, was Mozart — nur selbstverständlich ohne abstrakte Begründung — über musikalische Charakteristik und Malerei und deren Unterschied gegenüber der Darstellung be-

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stimmter Vorgänge gesagt hat. Über die »Entfahrung aus dem Serail« schreibt er an den Vater 1 2 , wie in der Arie Belmontes »O wie ängstlich, o wie f e u r i g « »das klopfende Herz angezeigt« sei durch »Violinen in Oktaven«, und fährt dann fort: »Man sieht das Zittern, Wanken, man sieht, wie sich die schwellende Brust hebt, welches durch ein Crescendo exprimiert ist; man hört das Lispeln und Seufzen, welches durch die ersten Violinen mit Sordinen und einer Flöte mit im Unisono ausgedrflckt ist.« — Das wichtigste aber ist dieses. Der ewige Wechsel von Glück und Leid in der Brust des Menschen, der Übergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch — mit e i n e m Wort: jenes »Befriedigt oder Nichtbefriedigt« wird in der Musik ausschließlich von der Melodie dargestellt. Sie ist es, die alles das malt, was man unter dem weiten Begriff des Gefühls zusammenfaßt: »Daher auch hat es immer geheißen, die Musik sei die Sprache des Gefühls und der Leidenschaft, so wie Worte die Sprache der Vernunft« 1 1 . Sie allein ist die eigentliche Trägerin der inneren Kraft der Musik und damit auch der echten Empfindung, sie allein dringt zum Herzen, das ohne Melodie nicht w a r m wird, während der Kopf sehr wohl die Schwierigkeit der Komposition, das Geistreiche der Harmonie, oder die Eigentümlichkeit der Instrumentation bewundern k a n n : Ohne Melodie bleibt der echt musikalisch-künstlerisch empfindende Hörer, dem es nicht auf die bloße Kenntnisnahme dieses oder jenes Musikstückes ankommt, ungerührt, das eigentliche künstlerische Ergriffensein wird nur durch sie vermittelt: Die Melodie ist die Seele des Tonbildes, der » K e r n der M u s i k « 1 4 . Zur näheren Begründung dessen müssen wir nun etwas n ä h e r auf das Wesen der Melodie eingehen. Wir tun dies an Hand der Schopenhauerschen Zurückführung der Me14

iodie auf deren zwei Elemente, das rhythmische und das harmonische. Schopenhauers Aufschiasse, die zu umfangreich sind, als daß sie hier in extenso wiedergegeben werden könnten, gipfeln in dem von ihm an folgendem »höchst einfachen Beispiel«

durchgeführten Nachweis, daß bei jeder Melodie eine »beständige Entzweiung und Versöhnung« jener beiden Elemente stattfindet, bis die der Ruhe des Grundtons oder wenigstens einer harmonischen Stufe desselben zustrebende Melodie mit dem Akzent des Rhythmus zusammenfallt. Hierdurch wird die Melodie »das Abbild der Entstehung neuer Wünsche und sodann ihrer Befriedigung« — und eben deswegen ist sie, und nichts anderes, der Kern der Musik. »Eben dadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner WUnsche vorspiegelt. Näher betrachtet, sehen wir in diesem Hergang der Melodie eine gewissermaßen innere Bedingung (die harmonische) mit einer äußern (der rhythmischen) wie durch einen Zufall zusammentreifen, — welchen freilich der Komponist herbeiführt und der insofern dem Reim in der Poesie zu vergleichen ist: dies aber eben ist das Abbild des Zusammentreffens unserer Wünsche mit den von ihnen unabhängigen, günstigen, äußeren Umständen, also das Bild des Glücks« I I . Deswegen sagt Shakespeare

1(

:

»Musik ist der Liebe Nahrung.« Denn der glücklich Liebende, der das Glück in der Wirklichkeit selbst genießt, sieht in der Musik — in der melodiösen Musik —, dem »Bild des Glücks«, sein gütiges Geschick vor sich; der unglücklich Liebende aber träumt gern vor diesem Bilde, das ihm,

15

der grausamen Wirklichkeit zum Trotz, »stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt.« Da also die Melodie der Kern der Musik ist, so erklärt es sich filr die bisher Beipflichtenden, und müssen andererseits die Widersprechenden einsehen, daß bloße Harmonien ohne Melodie, selbst wenn sie noch so geistreich sind, kein eigentliches Kunstwerk geben können. Die Harmonie ist vielmehr der Melodie gegenüber immer das Sekundäre, und dem echten Musiker kommen die Melodien schon in der für sie notwendigen harmonischen Einkleidung, während das Gegenstück hierzu, nämlich die Abhängigkeit der Melodie von zunächst allein vorhandenen Harmonien, nach denen sie zu bilden wäre, ein Unding ist. Das bedeutet also: Die Harmonie, so bedeutungsvoll sie auch ist, und so sehr eine an sich beachtliche Melodie durch mangelhafte Harmonie in ihrer Wirkung beeinträchtigt werden kann — welcher Fall aber für den echten Musiker nicht existiert — muß doch immer aus der Melodie herauswachsen und kann für sich allein kein Kunstwerk bilden: die Melodie ist der » K e r n der Musik«. Und zwar sogar in der F u g e ! Denn die Behandlung des Themas oder der Themen, auf denen diese sich aufbaut, ist viel mehr als ein bloß theoretisches Problem, die Empfindung, das Gefühl, bleibt auch in ihr die Hauptsache. Man denke an die Fuge, die den Gesang der Geharnischten in der Zauberflöte begleitet: »Die dämonische Unruhe in dem unausgesetzten, gleichmäßig tickenden Gang des ersten Themas und den ihm beständig antwortenden Seufzern«

17

hat

mit theoretischer Gelehrsamkeit gar nichts zu tun, und es besteht nicht bloß ein gradueller, sondern zugleich ein prinzipieller Unterschied zwischen einer solchen Leistung und der Schulfuge eines Anfängers: Das Prinzip aber liegt in dem Gehalt an Melodie, als der Seele, dem Kern der Musik. —

16

Es ist übrigens ungemein interessant zu sehen, daß Schopenhauers obiges Noten-Beispiel größte Verwandtschaft mit Papagenos Glockenspiel hat, was sonderbarerweise noch niemals bemerkt worden ist:

e

i

Eine Gegenüberstellung zeigt ohne weiteres, daß die hier dargestellte naive Einfachheit des Naturkindes Papageno von Schopenhauer, dem natürlich Mozarts Noten nicht vorgelegen haben, noch weiter, bis auf das letzterkennbare Grundschema jeder Melodie überhaupt, vereinfacht ist, wodurch das Wesen der Melodie und damit der »Kern der Musik« anschaulich vor uns liegt als wohlbegründetes Ergebnis philosophischer Untersuchung. Und nicht weniger interessant ist es, daß auch in dieser Frage künstlerische Intuition zu dem gleichen Ergebnis gekommen ist: Fast wörtlich, dem Sinne nach aber vollkommen übereinstimmend mit jenem Satz Schopenhauers B i m lieh ist der bekannte Ausspruch Mozarts: »Melodie ist das Wesen der Musik«; und er hatte hinzugefügt: »Einen guten Melodien-Schöpfer vergleiche ich mit einem edlen Rennpferde und die Kontrapunktisten mit Mietskutschpferden « 1 1 . Diese Aussprüche aber sind nicht etwa zufällig, sondern sie werden — und das ist hier das Entscheidende — als tief in Mozarts Künstler-Natur wurzelnd belegt durch seine von Melodien-Fülle überströmenden Werke, durch seine »singenden« Allegro-Themen, ganz besonders aber durch seinen letzten Stil der freien Kontrapunktik u , wo thematische und kontrapunktische Arbeit miteinander kombiniert sind und ungeachtet des strengen Stils Melodien über Melodien sich auftun: es ist, wie Abert sagt, »Ph. E. Bachscher Geist, aber 2

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von der ganzen Energie und Fülle Mozartscher Erfindungskraft durchdrungen« Melodie ist das Wesen, der Kern der Musik. Auch Robert Schumann s a g t : »Eine Musik ohne Melodie ist gar keine.« Am instruktivsten aber hat sich Haydn in diesem Sinne ausgesprochen. Er s a g t : »Es ist die Melodie, welche der Musik ihren Reiz gibt, und sie zu erzeugen ist höchst schwierig: Das Mechanische in der Musik läßt sich durch Ausdauer und Studium erlernen, doch die Erfindung einer hübschen Melodie ist das Werk des Genius. Und eine solche bedarf keiner weiteren Ausschmückung um zu gefallen; willst du wissen, ob sie wirklich schön ist, singe sie ohne Begleitung«. Der Genius des Künstlers also empfindet als sein ureigenstes Werk die Erfindung der Melodie — ist es nicht höchst bedeutungsvoll, daß der philosophische Genius Schopenhauers— und zwar jetzt auch w ö r t l i c h übereinstimmend — diesem das Gleiche offenbart hat? Denn es heißt bei Schopenhauer B : »Die Erfindung der Melodie, die Aufdeckung aller tiefsten Geheimnisse des menschlichen Wollens und Empfindens in ihr, ist das Werk des Genius«. Deshalb gibt es zwar eine Harmonielehre, eine Formenlehre, ja selbst eine Kompositionslehre, aber keine Anleitung, Melodien zu erfinden; denn der Genius kann niemandem gelehrt werden. In das Wesen und Wirken des Genius wollen wir deshalb jetzt einen Blick tun. Das Genie , a besteht im Vorherrschen der Geisteskräfte über die Tatkraft des Willens, nun aber nicht in der praktischen, auf bestimmte Zwecke gerichteten Anwendung des Verstandes, wo man von Klugheit und, als deren Abart, von Schlauheit spricht, sondern in der theoretischen Anwendung, im »reinen Erkennen«, das — entgegen der menschlichen, wesentlich praktisch gerichteten Natur — ganz und gar von jedem persönlichen Interesse abgelöst, nur auf das 18

Allgemeine u n d W e s e n t l i c h e d e s Daseins u n d d e s s e n D a r stellung g e r i c h t e t i s t : D a s W e r k des Genies also ist die P h i losophie u n d die K u n s t . J e d e s e c h t e Philosophem u n d j e d e s e c h t e K u n s t w e r k b e a n t w o r t e t die F r a g e :

» W a s ist d i e

W e l t ? « D e r Philosoph b e a n t w o r t e t diese F r a g e f ü r d i e Reflexion

u n d in a b s t r a k t e r Allgemeinheit, d e r K ü n s t l e r i m

e i n z e l n e n K u n s t w e r k u n d f ü r die A n s c h a u u n g : » d e r M a l e r m a l t die A n t w o r t auf die L e i n w a n d , d e r D i c h t e r b r i n g t Bild e r des L e b e n s v o r die P h a n t a s i e u n d gibt die A n t w o r t , ind e m e r in W o r t e n a u s d r ü c k e n k a n n , w a s d i e Ü b r i g e n bloß f ü h l e n , d e r M u s i k e r stellt in d e r u n m i t t e l b a r v e r s t ä n d l i c h e n S p r a c h e d e r T ö n e das i n n e r s t e W e s e n d e r W e l t d a r «

,3

. So-

mit gibt die K u n s t , » d a s W e r k des G e n i u s « , d i e unmittelb a r s t e A n s c h a u u n g des W e s e n s k e r n s alles S e i e n d e n . H i e r auf u n d auf d e r E w i g k e i t u n d U n w a n d e l b a r k e i t e b e n dieses W e s e n s k e r n s , d . h . j e n e s Willens z u m L e b e n , b e r u h t d i e U n v e r g ä n g l i c h k e i t des e c h t e n K u n s t w e r k s . W ä r e m a n sich h i e r ü b e r k l a r , so w ü r d e n alle t ö r i c h t e n R e d e w e n d u n g e n , wie z . B . , d a ß Mozart » i m m e r n o c h « l e b e n d i g u n d » n o c h n i c h t « v e r a l t e t ist, u n d d a ß e r » a u c h uns H e u t i g e n n o c h « e t w a s zu s a g e n h a b e , n i c h t möglich sein. Seine W e r k e sind, w i e alle e c h t e n K u n s t w e r k e u n d wie jedes e c h t e Philosop h e m , u n v e r g ä n g l i c h . Dies ist d e r G r u n d f ü r die » U n s t e r b lichkeit« g e n i a l e r M e n s c h e n . — D e r G e n u ß des K u n s t w e r k s a b e r — dieses W o r t n a t ü r l i c h v e r s t a n d e n i m Sinne des Genusses d e r e c h t e n , d e r h o h e n , d e r eigentlichen K u n s t , i m Gegensatz zu d e m G e n u ß d e r n i e d e r e n , n u r d e r U n t e r h a l t u n g d i e n e n d e n Kunst — ist d i e Brücke zwischen der Kunst und der Ethik. Denn ebenso w i e d e r k ü n s t l e r i s c h e Genius s e l b e r sein K u n s t w e r k n u r i m Z u s t a n d e des » r e i n e n E r k e n n e n s « , d . h . » a b g e l ö s t von jedem persönlichen Interesse«, erzeugen konnte, eigenes Licht a u s s t r a h l e n d , so sind a u c h w i r , i n d e m w i r , n a c h e m p 2*

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findend, die Welt mit des Künstlers Sinn und Geist betrachten, gleichsam über uns selbst hinausgehoben, in der ästhetischen Kontemplation: in diesem Zustand nämlich ist unsere Individualität, d. h. unser egoistisch motiviertes Streben, gänzlich aus dem Bewußtsein verschwunden: in dem Freisein von egoistischer Motivation aber besteht das Wesen jedes ethisch bedeutsamen Handelns, und somit liegt hier die Brücke zwischen Kunst und Ethik 1 4 . Deshalb ist Richard Wagners Bekenntnis so vielsagend und bedeutungsvoll: » I c h glaube an Gott, Mozart und Beethoven.« — W i r werden dieser Verwandtschaft später noch begegnen — zunächst ist es jedoch erforderlich, darauf hinzuweisen, daß, eben wegen dieser Verwandtschaft, Mozarts Wesen nicht treffender und schöner bezeichnet werden konnte, als mit dem Namen des »Genius des Lichtes«. Denn das Licht ist nicht nur das Symbol des Guten, des ewigen Heiles, wie das auf den Bildern der großen Maler der Lichtschein über dem Haupt der christlichen Heiligen, j a des Erlösers selbst, andeutet, sondern es ist auch »das Erfreulichste der Dinge . . . Die Abwesenheit des Lichtes macht uns unmittelbar traurig, seine Wiederkehr beglückt« Und in diesem umfassenden Sinne ist der altvedische Hymnus, der Geleitspruch zu diesem Kapitel, zu verstehen: Er verweist auf den Ursprung der Kunst sowohl, wie auf das künstlerische Ergriffensein, auf den Ewigkeitswert der echten Kunst und, weil er ursprünglich ethisch gemeint ist, auch auf die Berührung der Kunst mit der Ethik — alles unter dem Symbol des Lichtes. Somit ist, worauf es zunächst, unter Beiseitelassung des Ethischen, ankommt, das Licht, als die Bedingung aller Erkenntnis, das Symbol der Klarheit, als beglückendes Himmelsgeschenk aber das Symbol der höchsten Bedeutsamk e i t ; und da das Licht, in welchem wir Menschen leben, 20

unser Sonnenlicht, ohne Unterlaß scheint, so ist es auch das Symbol der UnerschBpflichkeit: Nach dieser Drei-Teilung richten sich unsere Ausführungen in den nächsten drei Kapiteln. Diese von mir aufgestellten drei Kennworte der Klarheit, Bedeutsamkeit und Unerschöpflichkeit der Gedanken erscheinen mir nun aber nicht bloO als Kennzeichen der Musik M o z a r t s , sondern ich glaube, in ihnen auch die Kriterien für a l l e echte Musik, d. h. für die wirklich g e n i a l e Musik, gefunden zu haben, da diese Kriterien, wie ich zeigen will, mit Schopenhauers Erkenntnissen vom Wesen der Genialität übereinstimmen. Somit enthält also dieser ganze erste Teil neben der Charakterisierung der Musik Mozarts zugleich die Grundzüge einer allgemeinen Musikästhetik, die, soweit das W e s e n der Musik in Frage steht ( K a p . 1) auf Schopenhauers Metaphysik der Musik gestützt, soweit es sich aber um die Kriterien für das MusikalischS c h ö n e , d. h. für das wirklich G e n i a l e in der Musik handelt ( K a p . 22—4), auf das von Schopenhauer aufgedeckte Wesen des Genies selbst zurückgeführt ist — einer Musikästhetik also, die philosophisch-theoretisch begründet und an einem musikalischen Vorbild entwickelt ist, woran es meines Wissens bisher fehlte'*.

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Die Klarheit des Gedankens

N i c h t s kennzeichnet einen guten Kopf besser, als die Fähigkeit, sich klar auszudrücken. Verworren ist der Ausdruck nur, wenn der Gedanke es ist.

Voltaire

ie Werke aller wirklich befähigten Köpfe unterschei-

D

den sich von den übrigen durch den Charakter der

Entschiedenheit und Bestimmtheit, nebst daraus entspringender Deutlichkeit und Klarheit, weil solche Köpfe allemal bestimmt und deutlich wußten, was sie ausdrücken wollten, — mag es nun in Prosa, in Versen oder in Tönen gewesen sein « 1 . Obwohl dieser Satz Schopenhauers selbstverständlich erscheint, soll er doch, und zwar systematisch, begründet wer-

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den. Denn es gibt eine Richtung, deren Vertreter bestreiten, oder aber g a r nicht bemerken, daß in der Musik die Klarheit des Gedankens das Erste ist, j a , daß Klarheit überhaupt zum Wesen des musikalischen Gedankens gehört, so daß ein unklares, unbestimmtes musikalisches Gebilde überhaupt nicht als ein eigentlicher »Gedanke«, sondern bestenfalls nur als ein »nach einem Gedanken erst ringendes Bewußtsein« *, und deshalb nicht als genial, zu bezeichnen ist. — Zur Begründung jenes Satzes müssen wir nun aber etwas weiter ausholen. Wir erinnern uns an das im vorigen Kapitel über das Genie Gesagte. Das Genie — und nur ihm ist die Hervorbringung eines eigentlichen »Kunst«-Werks möglich — besteht in der auf der Anschauung des Grundwesens alles Lebens und Daseins beruhenden Fähigkeit, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt zu erkennen, zu bewahren und, eben im Kunstwerk, wiederzugeben. Einer flachen Anschauung aber gelingt das nicht, sondern die größte Tiefe und Intensität ist erforderlich, um unten im Urgrund der Dinge noch so deutlich zu sehen, wie es zur künstlerischen Darstellung des Gesehenen nötig ist. Deshalb kann man sagen, daß im Kopfe eines genialen Menschen die Welt »einen Grad mehr Helligkeit erlangt hat und deutlicher ausgeprägt dasteht« 3 , und so kann man — denn wo Licht und Helligkeit ist, da ist auch Klarheit — »demnach das Genie auch definieren als ein ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen«

In solcher Helligkeit zu stehen

und so klar zu sehen ist also bei der Hervorbringung eines eigentlichen,d.h. künstlerisch-genialen »Gedankens« durchaus das Erste. Die unmittelbare Folge davon aber ist eine klare Darstellung. Denn das wirklich »deutlich Gedachte findet leicht seinen angemessenen Ausdruck«

Es geht auf dem Wege

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von echt genialer künstlerischer Schan bis zur Niederschrift des Geschauten aufs Papier nichts verloren, und wer mit dem Gefühl eines solchen Verlustes die Feder aus der Hand legt, hat nicht genial geschaut. Jede zurückgebliebene Unklarheit und Unvers tändlichkeit beruht auf Unverständigkeit, d. h. in der Kunst eben auf mangelndem Genie. Das wirklich genial Geschaute deckt sich vielmehr nachher im Ausdruck restlos mit dem, was der Künstler ausdrücken wollte, und ein wirklicher »Gedanke« steht da, wie ein Körper »im nassen Gewände, nicht wie im Sack« *. Alle Werke Mozarts sind dieser Art, und man kann in dieser Beziehung von der absoluten »Reinheit« der Mozartschen Musik sprechen Wieviel Zeit freilich erforderlich ist, um jenes nach einem Gedanken erst ringende BewuOtsein bis zur vollen Klarheit des Gedankens ausreifen zu lassen, ist bei den großen Meistern sehr verschieden gewesen. Aus Beethovens Skizzen z. B. ist zu ersehen, wie lange und hart e r solcherart gerungen hat, Mozart und Schubert dagegen haben mit ungeheurer Schnelligkeit jenen Prozeß des Ausreifens durchgeführt, was aber wiederum nicht etwa mit Mühelosigkeit zu verwechseln ist. Vielleicht ist der frühe Tod dieser Beiden mit der gewaltigen Intensität der Gehirntätigkeit, die dieser Schnelligkeit zu Grunde gelegen haben muß, woran natürlich der gesamte Organismus mit beteiligt war, zu erklären. — Diese Darlegungen mögen zunächst, d. h. hinsichtlich der Zurückführung der Klarheit des musikalischen Gedankens auf die seiner Entstehung zu Grunde liegende Klarheit der künstlerischen Intuition, genügen: sie zeigen, daß ohne Klarheit überhaupt kein Kunstwerk vorliegt. Wie tritt nun a b e r , in rein musikalischer Beziehung, diese Klarheit im Kunstwerk in Erscheinung? Die Antwort auf diese Frage 24

lautet: durch die musikalische Form. Um diesen Satz zu beweisen, müssen wir auf die Grundlage der Musik selbst zurückgehen. Die Musik gibt unmittelbar die Gefühle der Menschenbrust wieder — dies war das erste Thema des vorigen Kapitels. In welcher Art sie das tut, muß sich natürlich nach dem darzustellenden Gefühl selbst richten, und für diese Art haben sich durch die einzelnen musikalischen Genies allmählich Gesetze herausgebildet — Gesetze, die von diesen Genies schon befolgt wurden, ehe sie aufgeschrieben waren, die also nicht willkürlich, sondern dem Gefühl selbst eigentümlich, gewissermaßen dessen Objektivierungen sind, so daß sie ihrem Wesen nach als formale Gesetze der musikalischen Ausdrucksfähigkeit und Gestaltung überhaupt anzusehen sind. So ist die Form also nichts Totes, sondern sie allein gibt überhaupt erst die Möglichkeit der Unterbringung der Gedanken, und weiter die ihrer inneren Glieder u n g * , in welcher alle Gedanken, auch die musikalischen, in Erscheinung treten müssen — eine Gliederung wiederum, die bei völliger Ausreifung der Gedanken sich bis zum musikalischen Organismus steigert. Und wie in der Natur »Lebendig und Organisch Wechselbegriffe sind«

das Unor-

ganische aber leblos ist 1 0 , so auch in der Musik, die j a , wie wir gesehen haben, das Wesen der Welt am unmittelbarsten wiedergibt. In diesem Stadium der klaren Entwicklung der musikalischen Gedanken aus Gestalt gebenden Gesetzen bis zum lebendigen Organismus erscheint alles melodisch abgerundet — denn die Melodie ist ja der Kern der Musik, — alles wie aus e i n e m Guß fest gefügt, wie in e i n e m Zuge geschaffen, nichts ist mechanisch aufgesetzt, die Kunst des Satzes — und gerade bei Mozart quillt selbst aus der Fuge noch die Cantilene hervor — scheint nur wegen des melodischen Flusses und Wohlklangs da zu sein, dieser aber nur,

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um die Form zu fallen, ebenso wie in der N a t u r 1 1 kraft der dieser innewohnenden Zweckmäßigkeit » d a s Beste als ein ganz Notwendiges eintritt, und das Notwendige wieder, als ob es bloß das Beste und nicht notwendig w ä r e « 1 * . Das heißt aber nichts anderes, als daß ohne Form überhaupt kein eigentlicher — kein wahrhaft künstlerischer — Inhalt vorhanden, daß in diesem Sinne Form und Inhalt identisch sind. Das ist e s , was Robert Schumann meint, wenn er s a g t : » N u r erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar w e r d e n « : wenn nämlich die Form überhaupt nicht klar werden kann, eben weil sie gar nicht vorhanden ist, ist auch kein Geist vorhanden. Und wäre etwa Beethoven imstande gewesen, seine Improvisationen notengetreu zu wiederholen, wenn sie ihm nicht in der Form eines völlig durchgebildeten Organismus vor der Seele gestanden hätten? Denn jeder Organismus — nicht etwa bloß der der Fuge — wird durch Beseitigung oder HinzufUgung auch nur e i n e s Gliedes vernichtet, mindestens aber gestört. Daß hierbei nur an einen musikalischen Organismus zu denken ist, welchem neben der formellen Klarheit auch Bedeutsamkeit und Fülle der Gedanken, die weiteren Merkmale des Genies, innewohnen, ist selbstverständlich. Denn die Form als solche ist natürlich nicht lebendig, sondern sio ist es nur dann, wenn echte, bedeutsame Gedanken sie erfüllen; diese Gedanken aber — und hierauf kam es in diesem Kapitel an — müssen klar, d. h. in formgegebenem, lebendig-organischem Aufbau und in völliger Durchsichtigkeit, dastehen. Schöne Einzel-Einfälle, die aber immer wieder, und zwar gerade da, wo sie allererst sich organisch entfalten und abrunden sollten, abbrechen, weil es nämlich dem Komponisten an der zu dieser Abrundung nötigen — genialen! — Kraft fehlt, geben kein eigentliches Kunstwerk. Die alte Frage, ob die Musik »die Kunst tönender For26

men« oder »die Kunst des Geftthlsausdrucks« sei, ist also zunächst dahin zu modifizieren, daß Form und Gefühl sich gar nicht ausschließen, sodann aber dahin zu beantworten, daß die Musik allerdings Gefühle, und zwar n u r Gefahle, nicht Vorgänge (s. voriges Kapitel), auszudrücken vermag, daß dieser Ausdruck aber in voller Klarheit, d. h. in der Form des musikalischen Organismus, erfolgen muß — eine Antwort, die hier nicht von ungefähr gegeben wird, sondern auf einer sehr realen Basis erwachsen ist, nämlich der Schopenhauerschen Metaphysik der Musik, die ihrerseits wieder in seinem die ganze Welt erklärenden, und somit auch dieses Problem lösenden System wurzelt. Um das hier Gemeinte noch deutlicher zu machen, sei auf Abert 1 3 verwiesen, der mehrere Beispiele von Änderungen bringt, die Mozart, um dem »lebendigen Organismus« die »letzte Vollendung« zu geben, vorgenommen hat. So in der Arie der Gräfin im Figaro eine Einschiebung von 7 Takten, wo aber »der Gedanke an ein nachträgliches Einschiebsel bei der betreffenden Stelle keinem Menschen kommen wird, weil eben dieser Zusatz organisch nicht nur aus dieser Arie, sondern unmittelbar aus dem Charakter der Gräfin selbst« — also eine Verbindung äußerster Klarheit mit größter dramatischer Kraft I — »herausgewachsen ist«. In diesem wie in ähnlichen Fällen »setzte Mozarts Phantasie den neuen Schößling nicht an der betreffenden Bruchstelle ein, sondern durchmaß gewissermaßen die ganze bisherige Bahn nochmals im Fluge und nahm die kritische Stelle im breitesten Anlauf.« Es »geht also alles organisch, niemals rein mechanisch z u « 1 4 . Dies ist Mozarts wahrhaft apollinische Klarheit, und so ist er stets, auch bei den geringsten Änderungen, verfahren: Er konnte eben nicht anders, denn der klare Kopf ruht nicht eher, als bis alles reine, deutliche Konturen zeigt.

Das allererste

Kriterium des wirklich

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Durchdachten aber ist Überall jenes Freisein von Bruchstellen, wodurch allererst ein organisches Ganzes, ein Kunstwerk, entsteht. Und dies gilt nicht bloß im Gebiet der Musik, vom kleinsten Lied bis zur Symphonie, sondern es gilt überhaupt und in jeder Beziehung, vom Geringsten bis zum Bedeutendsten, sei es, daß es sich um die Lösung eines einzelnen Problems, oder um die Anlage eines ganzen Buches, oder um den Gedankenbau eines philosophischen Systems handelt. Sehr deutlich ist sich des hier in Rede stehenden Unterschiedes und zugleich der Grenzen seiner Begabung Tschaikowsky, dessen Abgott Obrigens kein anderer als Mozart war, bewußt geworden, und er hat das in einem Briefe an seine Freundin Nadeshda von Meck vom 7 . Juli 1878 offen ausgesprochen. Diese Briefstelle soll dem Leser um so weniger vorenthalten werden, als sie, zum Teil bis in den wörtlichen Ausdruck, sich mit unseren oben dargelegten Erkenntnissen deckt. Sie lautet: »Wenn ich mich auch nicht über Mangel an Phantasie und Erfindungsgabe beklagen kann, so habe ich doch immer unter der Unfähigkeit zu befriedigender Formgebung gelitten. Nur durch hartnäckige Arbeit habe ich schließlich erreicht, daß die Form meiner Werke mehr oder weniger dem Inhalt entspricht. Früher war ich in dieser Beziehung nachlässig, war mir der großen Bedeutung der kritischen Durcharbeitung meiner Entwürfe nicht genügend bewußt. Darum waren bei mir immer Nähte bemerkbar, die organische Verknüpfung der einzelnen einander folgenden Episoden fehlte. Es war dies ein schwerwiegender Mangel, and es dauerte J a h r e , ehe ich mich hierin besserte. Aber Muster der Form werden meine W e r k e niemals sein, denn ich kann die Wesenseigenschaften meiner musikalischen Natur nur verbessern, sie aber nicht restlos ausschalten.« Und von einer Pariser Aufführung

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seiner symphonischen Dichtung » d e r Sturm« im März 1870 schrieb er sowohl an Nadeshda, als auch an Colonne, der diese Aufführung geleitet hatte, daß an deren Mißerfolg die

» z u weitschweifige, episodenhafte,

unausgeglichene

F o r m « schuld sei, da » d e r Eindruck der einzelnen Bruchstücke durch ungenügenden Zusammenhang

beeinträch-

t i g t « werde Ohne Klarheit des Gedankons kann also wohl großes Talent vorhanden sein, aber kein eigentliches Genie. Denn Genie verträgt sich nicht mit » U n f ä h i g k e i t « , mit » M ä n g e l n « irgendwelcher Art, und gerade die »Unfähigkeit zur Formg e b u n g « , und als deren Folge das »Unausgeglichene«, aus »Bruchstücken« Zusammengesetzte, ist, wie der gegen sich und Andere stets ehrliche Tschaikowsky sehr richtig sagt, » e i n schwerwiegender M a n g e l « . » O r g a n i s c h e « Verknüpfung, ohne » N ä h t e « , ist unerläßlich, und das Nichtvorhandensein dieser Fähigkeit ist eine

»Wesens-Eigenschaft«,

also etwas Unabänderliches, das zwar durch »hartnäckige Arbeit gebessert«, aber niemals völlig beseitigt werden kann. Deshalb ist das unklare, nicht ausgereifte, unorganische Musikwerk nicht etwa als nur andersartig, aber in seiner Art ebenso genial zu bezeichnen wie der »musikalische Organismus« im Sinne unserer Ausführungen, sondern man darf vor der Schlußfolgerung: »Ohne Klarheit des Gedankens kein G e n i e « nicht zurückschrecken, wenn auch die Zahl der wirklichen Genies hierdurch sehr zusammenschrumpft: vorzügliche Geister sind eben nicht nur das kostbarste, sondern auch das seltenste Erzeugnis der Natur, und wenn die Perser in fünfhundert Jahren nur sieben Dichtern den ersten Rang zugestehen, so müssen w i r , wie Goethe sagt 1 ', »einen solchen Ausspruch mit Ehrfurcht annehmen«. — Aber nicht jeder klare Gedanke ist genial! Es gibt näm-

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lieh musikalische Gedanken, die sehr klar, aber trivial, alltäglich, banal und nichtssagend sind, also nicht von jenem Urgrund der Dinge sprechen, sondern in flacher, auch dem Normalmeiischen möglicher, Anschauung wurzeln. Dem* nach ist die Fähigkeit des Genies, klare Gedaiiken zu bilden, ungeachtet ihrer großen Wichtigkeit, doch eigentlich nur conditio sine qua non, das Instrument, mit dem es arbeitet, während zur echten Genialität außer Klarheit des Gedankens auch dessen Bedeutsamkeit, und gerade diese ganz besonders, und nächstdem die Fülle der Gedanken gehört. Und erst in diesem Falle ist die Erlangung voller Klarheit so schwer, daß sie eben nur dem Genie möglich ist, während das bloße Talent entweder die an sich bedeutsamen, vor der Seele aufsteigenden musikalischen Einfälle nicht zu •oller Klarheit und noch weniger zu organischem Verbundensein bringen, ihrer, wie Mozart sich ausgedrückt hat, »nicht Herr werden« kann, oder nur eine zwar klare, aber nichtssagende, unbedeutende — wenn auch vielleicht in das Gewand der Gelehrsamkeit oder ein anderes Gewand gekleidete — Musik zu liefern vermag. Klarheit ist nötig für jedes Verstehen, Bedeutsamkeit ist die Voraussetzung fUr das künstlerische Ergriffensein im Nachempfinden des Verstandenen, und eines ohne das andere ist wirkungslos: Vereinigt sich aber beides mit der unerschöpflichen Fülle der Gedanken, dann stehen wir auf einer Höhe, über die hinaus es keinen weiteren Weg mehr gibt — bis auf einen; doch hiervon soll erst am Schluß unserer Betrachtungen die Rede sein.

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Die Bedeutsamkeit des Gedankens

Viele tragen den B a c c h u s s t a b , a b e r der e c h t Begeisterten sind Wenige.

Piaton

r stehen wir nun unmittelbar vor dem geheimnisvollen n g a n g zur W e r k s t a t t des Genies, in die dem NichtGcnialen der Zutritt verschlossen i s t : W i e kommt e s , daß im Kopfe des Genies musikalische Gebilde von h ö c h s t e r Bedeutsamkeit — denn triviale Einfälle kann a u c h d e r gewöhnliche Kopf h e r v o r b r i n g e n — aufsteigen, die es nur zu o r g a n i s c h e r Klarheit durchzubilden

1

gilt, um ihnen ewiges

Leben zu g e b e n ? W i r wissen es nicht. Das Genie selbst weiß den H e r g a n g nicht anders als ganz allgemein zu beschreib e n . Mozart selbst hat sich überhaupt nicht h i e r ü b e r aus-

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gesprochen *. Am deutlichsten ist der Hergang des Aufsteigens genialer Gedanken noch bei Schopenhauer, der sich j a oft über sich selbst Rechenschaft abgelegt hat, zu erkennen. Zur Zeit der Entstehung der Grundsäulen seines philosophischen Gedankenwerkes schrieb e r : »Ich, der ich hier sitze, und den meine Freunde kennen, begreife das Entstehen des Werkes nicht, wie die Mutter nicht das des Kindes in ihrem Leibe begreift. Ich seh es an und spreche, wie die Mutter: »ich bin mit Frucht gesegnet«. Mein Geist nimmt Nahrung aus der Welt durch Verstand und Sinne, diese Nahrung gibt dem Werk einen Leib; doch weiß ich nicht, wie, noch warum bei mir und nicht bei Andern, die die selbe Nahrung h a b e n « 9 . Diese Worte Schopenhauers sind durchaus geeignet, wenigstens einigermaßen und wie aus großer Ferne, einen Blick auch in Mozarts innere Welt zu tun, denn die philosophische und künstlerische Urerkenntnis ist j a die gleiche: die anschauliche Erfassung des Wesens der Welt, verbunden mit dem Streben, ihr Rätsel zu lösen 4 . Oer bedeutsame musikalische Gedanke ist eine solche Lösung, denn e r spricht vom Wesen der Welt, welches wir als unser »Lebensgefühl«, als »Willen zum L e b e n « , in uns t r a g e n : ist doch die Musik ein so unmittelbares Abbild des ganzen Willens zum Leben, wie die Welt selbst es ist

Und so ist also die

Auffindung einer bedeutsamen Melodie, die yon jenem Urgrund der Dinge redet, den wir in uns tragen, so recht das W e r k des Genius. Aber eben gerade diese Bedeutsamkeit ist entscheidend. Die im ersten Kapitel mitgeteilte Melodie, oder richtiger: das dort gegebene Grundschema jeder Melodie, ist zwar völlig klar und durchsichtig, aber der durch sie mitgeteilte musikalische

Gedanke ist

unbedeutend,

nichtssagend: Das Abbild der Entstehung des Wunsches (in den zwei ersten Takten) und das der Befriedigung (in den

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beiden letzten) ist viel zu schwach, um die Regungen und Strebungen unseres Gefühls uns wirklich eindringlich vorzuhalten, wiewohl Mozarts Meisterhand aus diesem bloOen Schema durch scheinbar geringfügige Erweiterungen die »ungezwungene und zugleich edle Popularität« * der echten Papageno-Stimmung zu gestalten wußte ' , die in ihrer Art ebenso »bedeutsam« von dem Grundwesen dieses Naturkindes spricht, wie die hoheitsvollen, verklärenden Töne des zweiten Priesterchors »höchste Verklärung« atmen und »von unbeschreiblicher Wirkung« sind So läßt also nur der bedeutsame, inhaltsschwere Gedanke, die tiefempfundene, edle Melodie, uns etwas fühlen, was wir ohne den Künstler, aus dessen Genius sie geboren ist, nicht fühlen würden. Deshalb sagt Schopenhauer*, daß »eine bedeutsame, vielsagende Melodie gar bald ihren Weg um das ganze Erdenrund macht, während eine sinnarme und nichtssagende gleich verhallt und erstirbt«. Das EwigMenschliche in uns liegt viel zu tief, als daß es nicht ausschließlich durch die größte Innigkeit und Intensität des melodischen Ausdrucks, zugleich aber durch Bestimmtheit und Energie, mit einem W o r t : durch die größte Bedeutsamkeit, zum Ausdruck gebracht werden könnte. Hierauf beruht die eigentliche Größe des musikalischen Gedankens: mit elementarer, ganz aus der Tiefe kommender Stärke muß e r alle Seelenkräfte des Hörers frei machen. Dann erst schließt die Musik den geheimsten Sinn des ganzen Daseins a u f : »In die Tiefe mußt du steigen, soll sich dir das Wesen zeigen«, sagt Schiller. Die bloß gefällige, hübsche, nicht durch und durch edle Melodie genügt nicht; denn diese kommt nicht aus der Tiefe des Empfindens des Genies, sondern gibt nur die bedeutungslose Oberfläche des Normalmenschen, und an die Stelle des künstlerischen Ergriffenseins tritt ein alltägliches Unterhaltensein 3

10 .



33

Nun zur näheren Begründung der Sache. Von allem, was in der Welt erscheint, spricht die Musik das innere Wesen aus. Deshalb drückt sie »nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübnis, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemütsruhe aus, sondern die Freude, die Betrübnis, d e n Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe s e l b s t , gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne alles Beiwerk«

11

. Hieraus folgt, daß die am

meisten charakteristische und dabei edle Melodie die bedeutsamste ist, denn je charakteristischer der musikalische Ausdruck ist, desto mehr trifft er den Wesenskern des Auszudrückenden — selbstverständlich immer in den Grenzen des Schönen, wovon sogleich zu sprechen ist. Daß hierbei nicht etwa an die sog. Programm-Musik zu denken ist, wurde schon im ersten Kapitel dargelegt: Die Darstellung bestimmter Vorgänge ist eben grundverschieden von dem Ausdruck der Gefühlsregungen der handelnden Personen. Bei der echt-musikalischen Charakteristik kommt es vielmehr auf die Darstellung wirklicher musikalischer Charaktere an, das Charakteristische der einzelnen Personen muß gleichsam in Melodie verwandelt sein. Hier ist Mozart über Alle groß, und in dieser seiner wohl niemals wieder erreichbaren Charakterisierungskunst liegt der Grund für die so häufig und mit Recht gezogene Parallele zu Shakespeare. Mozarts dramatische Personen führen ihre Individualität bis in die letzte Einzelheit durch, j a , sie wahren diese selbst gegenüber ihren Gegenspielern beim Zusammenwirken der Solisten. Man denke z. B . an den Schwätzer Leporello, der selbst in der furchtbaren Kirchhofs-Szene nichts von seiner Schwatzhaftigkeit verliert und mit dieser unter den übrigen Solisten immerfort herauszuhören ist. Und hierbei ist außerdem vom Orchester die äußere Situation angedeutet! Solche

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Beispiele aber stehen nicht etwa vereinzelt da, sondern sind in unübersehbarer Fülle vorhanden: Mozarts musikalische Charakterisierungskunst ist in der Tat der Höhepunkt aller musikalischen Charakteristik überhaupt 1 1 . Das Charakteristische erweist sich als das eigentlich Bedeutsame selbstverständlich auch außerhalb der Bühne, in der Symphonie, im Quartett, in der Sonate; denn überall in der gesamten Musik ist j a das Thema j e n e r »Wille«, unser Gefühl, und je charakteristischer dieses zum Ausdruck kommt, desto bedeutsamer, eindrucksvoller, vielsagender, ist der musikalische Gedanke. Das Charakteristisch-Bedeutsame ist nicht abhängig von der Häufung der musikalischen Mittel, ganz zu schweigen von der Anwendung unechter Mittel, wie fortgesetzter übermäßiger Dynamik oder verblüffender Harmonien; vielmehr ist es mit Einfachheit und edlem, stets in den Grenzen der Schönheit bleibendem Mafihalten nicht bloß vereinbar, sondern verwandt: Simplex sigillum veri, das Einfache ist das Zeichen des Wahren •— und um »Wahrheit« handelt es sich ja auch bei der Musik, wenn auch nicht um begrifflich-abstrakte, in Worte gekleidete, sondern um die vom Künstler im Kunstwerk a n s c h a u l i c h mitgeteilte Wahrheit, nämlich um die Lösung des Problems des Daseins. Und sollte man nicht gerade die allergrößten und erhabensten Wahrheiten auf die allereinfachste Weise ausdrücken können? Auf allen Gebieten der Höchstleistungen der menschlichen Seele, der Religion, der Philosophie und der Kunst, ist das von jeher geschehen, und große Geister sind stets bestrebt gewesen, sich auf die natürlichste und einfachste Weise auszudrücken. Mit »gewöhnlichen Worten ungewöhnliche Dinge sagen« 1 8 — diesen stilistischen Leitsatz Schopenhauers hat in der Musik Keiner so restlos verwirklicht wie Mozart. Man denke z. B . an jenen zweiten Priester-Chor in der Zauberflöte, wo 3*

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trotz der schlagenden Kürze dieses Chors die Schatten der Finsternis, der Aufschwung ins Licht, höchste Verklärung, mystisches Ahnen und weihevolle Andacht 1 4 gegenwärtig sind. Oder man erinnere sich an die Feuer- und Wasserhöhle am Schluß der selben Oper, wo der ganze seelische Vorgang auf den allereinfachsten Ausdruck gebracht, auf die Entfesselung äußerlicher Mittel aber völlig verzichtet ist. Und gerade in solchen Stellen haben wir den ganzen und echtesten Mozart vor uns. Über dieses Maßhalten als Merkmal des künstlerisch Schönen war sich Mozart von allem Anfang an durchaus klar. So schreibt er über die Arie des Osmin in der Entführung 1 6 , daß »die Leidenschaften, heftig oder nicht, niemals bis zum Ekel ausgedrückt sein müssen und die Musik auch in der schaudervollsten Lage das Ohr niemals beleidigen, sondern doch dabei vergnügen, folglich allezeit Musik bleiben muß«. Hier handelt es sich also um die musikästhetische Forderung des Freiseins der echten Kunst vom Reizenden, weil es die Begierde, wie auch vom Ekelhaften, weil es den Abscheu des Willens aufregt: beides ist ausgeschlossen. Denn gerade das völlige S c h w e i g e n des Willens ist die unerläßliche Bedingung der ästhetischen Kontemplation 1 *. Deshalb ist ebenso begründet wie die Parallele Mozart—Shakespeare auch die zu Raffael, in dessen Bildern j a auch alle Zauber der Schönheit in Linien und Maßen, in Form und Farbe, in Haltung und Beleuchtung, in Minen und Bewegung, ausgegossen sind. Der Einfachheit und dem Maßhalten innerhalb der Grenzen der Schönheit ist auch die Naivität verwandt. Fast mit Notwendigkeit wird man daher an Schopenhauers Lobpreisung der Einfachheit und Naivität in der Kunst erinnert: »Die Wahrheit ist nackt am schönsten, und der Eindruck, den sie macht, um so tiefer, als ihr Ausdruck einfacher w a r ;

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teils, weil sie dann das ganze, durch keinen Nebengedanken zerstreute Gemüt des Hörers ungehindert einnimmt, teils, -weil er fühlt, daß er hier nicht durch rhetorische Kttnste bestochen, oder getäuscht ist, sondern die ganze Wirkung Ton der Sache selbst ausgeht . . Eben daher steht die naive Poesie Goethes so unvergleichlich höher als die rhetorische Schillers. Daher auch die starke Wirkung mancher Volkslieder. Deshalb hat man nun, wie in der Baukunst vor der Überladung mit Zierathen, in den redenden Kflnsten sich vor allem nicht notwendigem rhetorischen Schmuck, allen unnützen Ampliflkationen und Uberhaupt vor allem Überfluß im Ausdruck zu hüten, also sich eines keuschen Stiles zu befleißigen. Alles Entbehrliche wirkt nachteilig. Das Gesetz der Einfachheit und Naivität, da diese sich auch mit dem Erhabensten verträgt, gilt für alle schönen Künste« Schopenhauers Bezugnahme auf Goethes naive Poesie ist hier ungemein bedeutungsvoll, denn auf dieser Naivität beruht die Bichtigkeit der Parallele Mozart—Goethe. Die »Reinheit der Empfindung und Keuschheit der Empfindung«, wie sie Richard Wagner dem Genius Mozarts als dessen unverfälscht erhaltenes »Erbteil seiner deutschen Geburt« zuerkannte, ist hier das Entscheidende. Diese Parallelen zu den größten Meistern der anderen Künste, zu Shakespeare, Rafiael und Goethe, sind oft genug gezogen worden. Deshalb und weil auf der Grundlage Schopenhauers die letztmögliche Begründung derselben hier gegeben ist, erscheint ihre nähere Ausführung entbehrlich. Wohl aber gewinnt, wenn man den im ersten Kapitel über die Musik als die erste der Künste geführten Beweis ins Auge faßt und zu diesen Parallelen in Beziehung setzt, jenes Wort Richard Wagners, der die überragende Stellung der Musik gegenüber den anderen Künsten von Schopenhauer her genau kannte, eine neue Beleuchtung und überhaupt 37

erst seinen eigentlichen Wert, weil es sich nicht als eine bloßo Phrase, oder g a r Übertreibung, sondern im eigentlichen Sinne als wahr erweist: Richard Wagner sagte von Mozart: »Das ungeheuerste Genie erhob ihn Uber alle Meister aller KOnste und aller Jahrhunderte«.

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Die Unerschöpflichkeit der Gedanken

W e n n von Göttern und göttlicher Lehre die Rede ist, soll dir, wie übergroß es auch laute, nichts zu groß und unglaublich dünken. Denn wie der Himmel über der Erde sind ihre Gedanken, und ihre Fülle ist wie die Fülle des Meeres. Matthias Claudius edes echte Kunstwerk ist eine Antwort auf die F r a g e : »Was ist das L e b e n ? « 1 Und zwar wird diese Antwort nicht wie die des Philosophen, der die gleiche Frage beantwortet, für das Denken und in Begriffen gegeben, in welchem Falle eine aufgefundene Wahrheit jede andere Antwort ausschließt, — die Antwort des Kunstwerkes ist vielmehr für die Anschauung da, für Auge und Ohr. Deshalb ist sie, im Gegensatz zu dem »festen und bleibenden Besitz« der erkannten philosophischen Wahrheit, nur »ein flüchtiges

J

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B i l d « , und der aus den Leistungen der Kunst hervorgehende Gewinn ist nur »ein stets n e u zu e r z e u g e n d e r « *. D a f ü r a b e r und e b e n deshalb können viele K u n s t w e r k e s e h r

wohl

n e b e n e i n a n d e r bestehen, was m a n von den philosophischen Systemen natürlich nicht sagen k a n n ; denn »es g i b t vielerlei S c h ö n h e i t , a b e r nur e i n e W a h r h e i t , wie viele M u s e n , a b e r n u r e i n e M i n e r v a « * . D e n n was aus d e r Anschauung d e r W e l t geboren und f ü r die Anschauung bestimmt ist, muß n a t ü r l i c h , ebenso wie die W e l t selbst und u n s e r e Anschauung derselben, unerschöpflich sein, w ä h r e n d e i n abstraktphilosophischer, an das Denken sich r i c h t e n d e r B e g r i f f sein e m ganzen Inhalte n a c h , und somit ein f ü r alle Mal, d u r c h W o r t e mitteilbar und insofern zu erschöpfen ist 4 . — Hierauf b e r u h t die U n e r s c h ö p f l i c h k e i t möglicher Melodien, und es kommt nur a u f die Fähigkeit des Komponisten a n , immer von neuem in die T i e f e des u n e r s c h ö p f l i c h e n Weltgrundes hinabzublicken und i m m e r w i e d e r eine n e u e Antwort zu finden, durch w e l c h e das Geschaute mitgeteilt w i r d ; erschöpfen a b e r lassen sich diese Antworten nicht. Und n u r wer wirklich diese unaufhaltsam sprudelnde Quelle d e r Gedanken in sich spürt, aus d e r e r nur zu schöpfen b r a u c h t , um sie in j e n e m Ausreifungsprozefi z u m organis c h e n Ganzen zu bilden 5 , nur der ist so r e c h t von Gottes G n a d e n , und das W o r t vom »göttlichen M o z a r t « beruht nicht zum wenigsten auf d e r ü b e r s c h w e n g l i c h e n und verschwenderischen Fülle seiner melodischen Erfindungskraft. S c h o n Dittersdorf hat in e i n e m G e s p r ä c h mit K a i s e r J o seph I I . gewünscht, daß Mozart » n i c h t so v e r s c h w e n d e r i s c h mit seinem erstaunlichen Reichtum a n Gedanken w ä r e . E r läßt den Zuhörer nicht zu Atem k o m m e n , denn kaum will man einem schönen Gedanken n a c h s i n n e n , so steht schon w i e d e r ein a n d e r e r da, d e r den e r s t e r e n v e r d r ä n g t , und das geht i m m e r in einem fort, so daß man a m Ende k e i n e dieser

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wahren Schönheiten im Gedächtnis aufbewahren kann« *. Und noch heute kann man lesen daß Mozart »oft verschwenderisch überzählige Motive und Themen ausgestreut« h a b e : »überzählig« — das ist nur vom Standpunkt der späteren, melodiearmen Zeiten aus verständlich, aber Mozart brauchte nicht zu sparen und zu — zählen. Deshalb befinden sich in Mozarts Werken keine eigentlich »leeren Stellen«, die, nach einem Vergleiche Schopenhauers", als allerlei notwendiges Nebenwerk, als Cement, die eigentlich allein echten Glanz-Partien durchzögen, um Lücken auszufüllen, welche die geniale Konzeption und Begeisterung gelassen hat. Deshalb ist es ein recht eigentlich vernichtendes Urteil, wenn es von einem Musikwerk heißt: » E s sind doch aber viele sehr schöne Stellen darin« — das Übrige also ist leer und bloßer »Cement« 1 In Mozart aber war ein unaufhörliches Strömen musikalischer Gedanken lebendig, und zwar auf jedem Gebiete musikalischen Schaffens und in immer gleicher Fülle, sei es, daß der Anlaß der Gefühlsausbruch der ersten Liebe, oder eine Kaiserkrönung war *. Hier offenbart sich wirklich so recht der »Genius des Lichtes«, als eines himmlischen Feuers, von dem wir zwar erleuchtet und erwärmt werden, in dessen Glut er selbst aber innerlich sich verzehrt hat. Dieses echt geniale Getriebensein war auch der Grund fttr Mozarts bekannte Abneigung gegen das Aufschreiben seiner Werke: Diese für ihn ganz mechanische Arbeit — denn er trug vor Beginn der Niederschrift alles schon fertig im Kopfe — war für seine unaufhörlich tätige Phantasie ein Hemmnis, wenn sie ihn auch gelegentlich nicht hinderte, während des Aufschreibens fertiger Kompositionen schon wieder neue im Geiste auszuarbeiten. In einem Briefe an die Schwester 1 0 entschuldigt er sich, daß bei dem ihr übersandten Präludium nebst Fuge 1 1 das Präludium am Schluß

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stehe, und erklärt dies damit, daß e r »die Fuge schon gemacht hatte und sie, unterdessen er das Präludium ausdachte, abgeschrieben«, d . h . das Präludium komponiert, während er die Fuge aus dem Gedächtnis zu Papier gebracht habe. — Überläßt man sich dem Gindruck solch' unerhörter Vorgänge, erwägt man zugleich, daß ein ähnliches Getriebensein sich bei allen Genies

findetso

gerät man wohl auf die

Frage, welches denn eigentlich die Triebfeder des Genies sei, die es, ungeachtet aller Anstrengung und ungeachtet aller Teilnahmlosigkeit der Zeitgenossen, die nur zu oft den minderwertigen Produktionen der Alltagsk&pfe ihr Interesse zuwenden, zur Ausarbeitung seiner Werke bewegt. Schopenhauer belehrt uns hierüber: » D e r Ruhm ist es nicht: so etwas kOnnen nur Franzosen meinen . . . Ebenfalls ist es nicht geradezu das eigene Ergötzen: denn dieses wird von der großen Anstrengung fast überwogen. Vielmehr ist es ein Instinkt ganz eigener Art, vermöge dessen das geniale Individuum getrieben wird, sein Schauen und Fühlen in dauernden Werken auszudrücken, ohne sich dabei eines ferneren Motivs bewußt zu sein. Im ganzen genommen, geschieht es aus derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt und erfordert von außen nichts weiter, als einen Boden, auf dem das Individuum gedeihen kann. Näher betrachtet, ist es als ob in einem solchen Individuum der Wille zum Leben, als Geist der Menschengattung, sich bewußt würde, hier eine größere Klarheit des Intellekts, durch einen seltenen Zufall, auf eine kurze Spanne Zeit, erlangt zu haben und nun wenigstens die Resultate, oder Produkte, jenes klaren Schauens und Denkens, für die ganze Gattung, die ja auch dieses Individuums eigenstes Wesen ist, zu erwerben trachtete, damit das Licht, welches davon ausgeht, nachmals wohltätig einbrechen möge

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in die Dunkelheit und Dumpfheit des gewöhnlichen Menschenbewußtseins. Hieraus also entsteht jener Instinkt, welcher das Genie treibt, ohne Rücksicht auf Belohnung, Beifall, oder Teilnahme, vielmehr mit Vernachlässigung der Sorge für sein persönliches Wohl, emsig und einsam, mit größter Anstrengung seine Werke zu vollenden, dabei mehr an die Nachwelt, als an die Mitwelt, durch welche es nur irre geleitet werden würde, zu denken; weil jene ein größerer Teil der Gattung ist und weil im Laufe der Zeit die wenigen Urteilsfähigen einzeln herankommen. Es steht unterdessen meistens mit ihm wie Goethe seinen Künstler klagen l ä ß t : »Ein Fürst, der die Talente schätzte, Ein Freund, der sich mit mir ergötzte, Die haben leider mir gefehlt. Im Kloster fand ich dumpfe Gönner: So hab i c h , emsig, ohne Kenner Und ohne Schüler mich gequält.« Sein W e r k , als ein heiliges Depositum und die wahre Frucht seines Daseins, zum Eigentum der Menschheit zu machen, es niederlegend für eine besser urteilende Nachwelt, dies wird ihm dann zum Zweck, der allen anderen Zwecken vorgeht und für den er die Dornenkrone trägt, welche einst zum Lorbeerkranze ausschlagen soll« 1 3 . — W e r denkt hierbei nicht an den mit größter Anstrengung an der Vollendung seines Requiems arbeitenden und darüber sterbenden Mozart, an sein dürftiges äußeres Leben, das dennoch in solchem inneren Reichtum endete, daß diesen niemand ganz erschöpfen k a n n : Denn Mozarts Töne sind in der Tat »Eigentum der Menschheit«, und die Jahrhunderte können die zurückgelassenen Spuren seines Geistes nicht verwischen.

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Gegensätze

N u n , ihr geheimen, schwarzen Nachtunholde, Was macht ihr da?

Shakespeare

iaton hat gesagt, daß alles Wissen seine Entstehung

P

zweien Regeln verdanke, die zugleich mit dem Feuer

des Prometheus vom Göttersitze zu uns herabgeworfen seien. Die erste derselben heißt uns, durch fortwährendes Zusammenfassen von Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen der Dinge, diese zu Arten, diese wiederum zu Gattungen, diese zu Geschlechtern zu vereinigen, bis wir zu-

letzt zum obersten, Alles umfassenden Begriff gelangen. Auf diese Weise kam Schopenhauer — und er ist hinsichtlich der

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Tragweite dieser Entdeckung tatsächlich selbst dem Prometheus vergleichbar — zu dem wirklich »Alles umfassend e n « Begriff des Willens zum Leben, aus dem das Wesen der Musik hergeleitet wurde. Dies war der Hauptinhalt des ersten Kapitels, und die folgenden wiederum ruhten letzten Endes immer auf diesem Grundbegriff. In diesem fünften Kapitel hingegen ist die zweite jener beiden Regeln die Richtschnur. Sie fordert nämlich, daß wir innerhalb eines vielumfassenden Begriffs wohl unterscheiden und uns hüten, irgend einen Sprung zu machen. Das bedeutet für unser jetziges Thema: Wo mehrere Töne, zeitlich getrennt, zu hören sind, kann es sich um eine bedeutsame Melodie handeln, aber auch um ein bloßes Nacheinander von Tönen. Mehrere Noten auf dem Papier übereinander stehend, können eine wohlbegründete Harmonie darstellen, aber auch ein bloßes Übereinander von Noten. Wo ein musikalischer Einfall vorhanden ist, kann es sich um einen Teil eines musikalischen »Organismus« handeln, oder aber um ein bloßes »Bruchstück«. Wenn irgendwo ein Musikstück ertönt, kann dieses ein musikalisches Kunstwerk sein, oder aber ein musikalisches Blendwerk, ein Kunststück, eine Pfuscherei. Mit e i n e m Wort: Noten und Töne sind in der Musik stets vorhanden, aber das Echte muß vom Schein wohl unterschieden werden — und auch diese Regel ist kulturell nicht weniger bedeutsam als das Feuer des Prometheus. So selbstverständlich das alles klingt, so wenig wird es oft erkannt. Und zwar wird sogar in den extremsten Fällen der Schein oft genug für das Echte genommen. Gar mancher verwechselt jenes bloße, verworrene, völlig melodie- ja tonartlose Modulieren mit Tiefgründigkeit, das Gegenstück hiervon aber, das gleichsam mathematisch konstruierte, aus erlernten Typen zusammengesetzte, durchaus seelenlose

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Machwerk, mit wahrhaft strengem Stil, und wo ein ärmlicher, gewollter, gesuchter, erarbeiteter, j a erzwungener Gedanke desto breiter ausgeführt ist, lassen sich Viele durch diese Breite der Ausführung und sonstige Äußerlichkeiten Ober das dürftige Minimum wirklichen musikalischen Gehalts täuschen. Sie sehen eben das Wesensverschiedene nicht. Deshalb gilt auch in der Musik, was Schopenhauer einmal gesagt hat mit Bezug auf Kant und seine Nachfolger 1 : »Hat einmal die Natur in günstigster Laune das seltenste ihrer Erzeugnisse, einen wirklich über das gewöhnliche Maß hinaus begabten Geist, aus ihren Händen hervorgehen lassen, . . . da dauert es nicht lange, so kommen die Leute mit einem Erdenkloß ihres Gelichters herangeschleppt, um, ganz gelassen, ihn neben das Genie, auf den Altar zu setzen; denn sie sehen den Unterschied nicht, sondern meinen ganz ernstlich, das wäre nun wieder auch so E i n e r . « Aber auch weniger eklatante Fälle — und zwischen dem ganz Schlechten und dem Mittelmäßigen liegen noch unzählige Grade — verleiten zu Fehlurteilen. Und zwar wird eigentümlicherweise der Unterschied zwischen dem klar geschauten , »organisch « ausgereiften musikalisch-melodischen Gedanken und dem unklaren, »nach einem Gedanken erst ringenden Bewußtsein« viel seltener und viel schwerer erkannt, als der Unterschied zwischen der vielsagenden, bedeutsamen Melodie und der, wenn auch klaren, so doch unbedeutenden, trivialen. Nichtssagende und in ihren Gedanken alsbald erschöpfte Tongebilde, falls sie sich nicht in das Gewand der Schwülstigkeit oder der Gelehrsamkeit verkleiden, wird nicht so bald Jemand als echte Musik empfinden, aber das Unklare wird nur sehr selten als ebenso unecht erkannt. Im Gegenteil 1 Wie schon im zweiten Kapitel gesagt, gibt es eine ganze Richtung in der Musik, deren Vertreter nicht daran glauben, daß organische Klarheit

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überhaupt zum Wesen des musikalischen Gedankens gehört ! Da spricht man dann — aber nicht etwa als Tadel! — von »grüblerischem Tiefsinn«, oder »romantischem Wirrnisstil«, oder »innerer Zerrissenheit des Erlebens«, oder auch von »echter Besessenheit«, oder »pathetischer Ungebärdigkeit«, oder »chaotischer Verbissenheit«, wo es ganz einfach Formlosigkeit und Spielen mit den Mitteln der Kunst * heißen sollte. Wenn »Schuhflicker-Melodien« 3 , d. h. bloße Musikfetzen, dafür aber aus allen Tonarten, durcheinander laufen, so nennt man das nicht etwa mit Beethoven »ä la Schusterfleck komponieren«, sondern »karges verzagtes Schreiten« und »kleingliedrig-motivische Arbeit«, bei der »die Schönheiten der Materie abgetrotzt« sind, und gibt sich einem »mehr reliefartigen Gindruck« hin. Wo man mit Goethe 4 »in bunten Bildern wenig Klarheit« erblicken sollte, da wird von »spitzbübischer Laune«, »erstaunlichem Eigengepräge«,

»kraus-zackiger

Melodieführung«,

von

»farbiger Gelöstheit«, oder, am schönsten, von »tonbrodelndem Dauermüssen« gesprochen — man weiß oft nicht, ob man sich mehr an diesem Genügen an bloßen Worten ergötzen, oder das Aufgebot von Geist bewundern soll, der nötig ist, um solche Worte zu finden. Das schlimmste freilich ist das Loben des Schlechten, selbst wenn es mit solchen nichtssagenden Phrasen geschieht. — Zu allen Zeiten hat es solche Nebelgestalten in der Musik gegeben. Schon Mozart äußert sich darüber. Am 2 0 . November 1777 schreibt er an den Vater: »Ich war im Amt, welches ganz funkelnagelneu vom Vogler komponiert w a r . . . So hab ich mein Lebtag nichts gehört. Es stimmt oft gar nicht; e r geht in die Töne, daß man glaubt, er wolle einen bei den Haaren hineinreißen; aber nicht, daß es der Mühe wert wäre, etwa auf eine besondere Art, nein, sondern ganz plump. Von der Ausführung der Ideen« — hier meint Mo-

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zart, wie sich aus den folgenden Worten ergibt, jene organische Ausreifung der musikalischen Gedanken — »will ich gar nichts sagen. Ich sage nur das, daB es unmöglich ist, daß ein Voglerisches Amt einem Compositeur (der diesen Namen verdient) gefallen kann. Denn kurz, jetzt höre ich einen Gedanken, der nicht übel ist; j a , er bleibt gewiß nicht lange nicht ttbel, sondern wird bald — schön? Gott behüte 1 übel und sehr übel werden, und das auf zwei- oder dreierlei Manieren; nämlich, daß kaum dieser Gedanke angefangen, kommt gleich was anderes und verderbt ihn, oder er schließt den Gedanken nicht so natürlich, daß er gut bleiben könnte, oder er steht nicht am rechten Ort, oder endlich, er ist durch den Satz der Instrumente verdorben. So ist die Musik des Vogler«. Man fühlt sich bei dieser Schilderung Mozarts an folgende Sätze Schopenhauers erinnert, die er freilich nur für das Gebiet der Schriftstellerei geschrieben hat, die aber mutatis mutandis auch f ü r die Musik Geltung haben: »Wenig e schreiben wie der Architekt baut, der zuvor seinen Plan entworfen und bis ins Einzelne durchdacht hat; — vielmehr dio Meisten nur so, wie man Domino spielt. Wie nämlich hier, halb durch Absicht, halb durch Zufall, Stein an Stein sich fügt, — so steht es eben auch mit der Folge und dem Zusammenhang ihrer Sätze. Kaum daß sie ungefähr wissen, welche Gestalt im ganzen herauskommen wird und wo das alles hinaus soll. Viele wissen selbst dies nicht, sondern schreiben, wie die Korallenpolypen bauen: Periode fügt sich an Periode, und es geht, wohin Gott will« Übrigens erkennt man diese Musik bereits an den ersten Takten und braucht das ganze Stück nicht abzuwarten. Deshalb ist Mozart, wie er in dem selben Briefe schreibt, aus jenem Amt von Vogler »gleich nach geendigtem Kyrie davongegangen«. Sein Urteil stand da schon fest. Ebenso wenig braucht man alle Werke eines Komponisten zu kennen

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und kann sich doch ein Urteil über ihn bilden, denn d e r Stil, d. h. die Eigentümlichkeit, welche die Schreibart eines Jeden beherrscht, ist in der Kunst, w i e in der Wissenschaft, » d e r unmittelbare Abdruck des Geistes eines Schriftstellers, die Physiognomie desselben«*, und diese »ist untrüglicher, als die des L e i b e s «

Der Stil zeigt » d i e formelle Beschaffen-

heit aller Gedanken eines Menschen, welche sich stets gleich bleiben muO, was und worüber er auch denken möge. Man hat daran gleichsam den T e i g , aus dem er alle seine Gestalten knetet« 8 . Deshalb sagte Schopenhauer — und er befindet sich hiermit ganz in Übereinstimmung mit Mozart, der nach dem Kyrie davongegangen war — daß er »nach ein paar Seiten schon ungefähr wisse, wieweit ein Autor ihn fördern könne« *. — Doch jetzt zur näheren Untersuchung. Warum wird das Unbedeutende, falls es sich nicht etwa hinter allerlei Äußerlichkeiten, namentlich hinter der schon erwähnten, erlernbaren, Gelehrsamkeit, versteckt, so leicht, das Unklare aber so schwer als unecht, ungenial erkannt? Weil die unbedeutende Melodie nicht aus der T i e f e schöpft, aber nur das zutiefst angeregte Gefühl von wirklichem » W o h l und W e h e « und Lust und Leid, von wirklichem »Befriedigt oder Unb e f r i e d i g t « spricht 10 . Diese bloße Oberflächenwirkung also empfindet Jeder alsbald und unmittelbar, falls er eben sich nicht, wie gesagt, durch Äußerlichkeiten täuschen läßt. W o es sich dagegen um an sich vielleicht gar nicht triviale, aber um nicht ausgereifte, mehr oder weniger unklare Gedanken handelt, da macht sich der überall bestehende Unterschied der Individualitäten eben auch hier bemerkbar, und wie in der Philosophie, oder schon im gewöhnlichen Leben, gar Manchem Worte für Gedanken gelten, w i e Manchem schon das die Lösung ist, was der Andere erst als Problem, ja vielleicht als ein Problem,dessen Kern er noch gar nicht einmal 4

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k l a r d u r c h s c h a u t , v o r sich sieht, so lfißt sich M a n c h e r , w e n n e r sich von d e r D u n k e l h e i t des Auf u n d Ab u n a u s g e r e i f t e r musikalischer G e d a n k e n n i c h t e t w a g a r n o c h a n g e h e i m e l t f ü h l t , v e r l e i t e n , d a r i n T i e f g r ü n d i g k e i t zu v e r m u t e n , u n d w e n n e r f ü h l t , d a ß e r mit s e i n e m Verständnis nicht so r e c h t n a c h k o m m t , so f ü r c h t e t e r , musikalisch-ungebildet zu e r s c h e i n e n , w e n n e r das o f f e n a u s s p r i c h t , o d e r a b e r , e r ist g e n e i g t — obwohl e r sonst vielleicht mit seinem V e r s t ä n d e g a n z z u f r i e d e n ist — sich selbst die Schuld d a r a n zu g e b e n , nicht a b e r d e m K o m p o n i s t e n ; e r a h n t n i c h t , d a ß d e s s e n u n k l a r e Gebilde eines w i r k l i c h e n » V e r s t e h e n s « g a r n i c h t f ä h i g sind. Einen Musiker v e r s t e h e n heißt n ä m l i c h t e i l h a b e n a n d e s s e n k ü n s t l e r i s c h e m S c h a u e n : wo a b e r g a r n i c h t , o d e r n u r undeutlich g e s c h a u t ist, da gibt es eigentlich g a r n i c h t s zu » v e r s t e h e n « , u n d m a n k a n n , f r e i n a c h L i c h t e n b e r g , sag e n , d a ß in solchem Falle d e r Autor die Noten, d e r H ö r e r die G e d a n k e n setzt. Das h e i ß t : d e r H ö r e r ist u n d bleibt auf sich selbst und sein e i g e n e s , d u r c h die v e r n o m m e n e n T ö n e n u r a n g e r e g t e s S c h a u e n , w e l c h e s a b e r d a s des

Normal-

m e n s c h e n , ist, a n g e w i e s e n , u n d h i e r a n ä n d e r t a u c h die beste A u s f ü h r u n g n i c h t s 1 1 . Im g e n i a l e n , e c h t e n K u n s t w e r k d a g e g e n leiht u n s , i m n a c h e m p f i n d e n d e n » V e r s t e h e n « , d e r K ü n s t l e r gleichsam auf A u g e n b l i c k e s e i n e

Anschauung,

w e l c h e die des Genies ist. I m ü b r i g e n freilich gilt von d e r Musik wie von aller K u n s t , w a s S c h o p e n h a u e r 1 2 s a g t : » J e d e r e r h ä l t davon n u r so viel, als e r , n u r u n e n t w i c k e l t , m i t b r i n g t . W a s helfen e i n e m Unmusikalischen Mozartsche O p e r n ? W a s s e h e n d i e Meisten an d e r Raflaelschen M a d o n n a ? U n d wie Viele s c h ä t z e n Goethes Faust n i c h t bloß auf Autorität? D e n n die K u n s t h a t es n i c h t , wie d i e W i s s e n s c h a f t , bloß mit d e r V e r n u n f t zu t u n , s o n d e r n m i t d e m i n n e r s t e n W e s e n des M e n s c h e n , u n d d a gilt J e d e r n u r so viel, als e r w i r k l i c h ist.« —

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Schließlich sei auf die bemerkenswerte Erscheinung hin» gewiesen, daß mangelnde Bedeutsamkeit des musikalischen Gedankens, wenn dieser nicht geradezu positiv unedel ist, den Hörer bloß langweilt und kalt läßt, während das nicht zu einem »Organismus« ausgereifte, aus bloßen Einzeleinfällen bestehende Musikgebilde Jeden, der das Wesen der Musik nicht Uberhaupt verkennt, recht eigentlich abstößt. Der Grund hierfür liegt darin, daß der Hörer, wenn e r sich dem künstlerischen Genuß hingeben will, durch Abbrechen des immer nur bruchstückartigen Gedankens gleichsam fortwährend zurückgestoßen wird. Kommt dann noch hinzu, daß der Komponist durch äußerliche Mittel, wie übermäßige Lautstärke, verblüffende Harmonien und dergleichen, seine unausgereiften und vielleicht außerdem noch trivialen und nur allzubald erschöpften Einfälle zu verschleiern sucht, also nicht nur nicht genial, sondern nicht einmal ehrlich ist, indem e r mehr zu sagen vorgibt, als er zu sagen hat, so fühlt man Absicht und man ist verstimmt. Die gleiche Erscheinung ist übrigens überall zu beobachten, nicht bloß in der Musik, und jedes Mal ist die Wirkung verhängnisvoll, denn sie verwischt den Unterschied zwischen dem Echten und dem Unechten, dem Guten und dem Schlechten. »Das Schlechte herabzusetzen aber ist Pflicht gegen das Gute«, hat Schopenhauer gesagt 1 3 f und auch Robert Schumanns Mahnungen sollten nicht ungehört verhallen: »Schlechte Kompositionen mußt du nicht verbreiten, im Gegenteil, sie mit aller Kraft unterdrücken helfen«, und — »Du sollst schlechte Kompositionen weder spielen, noch, wenn du nicht dazu gezwungen bist, sie anhören.« Bei Goethe aber heißt es 1 4 : » W e r den Teufel erschrecken will, der muß laut schreien« — und das gilt um so mehr, wenn es sich darum handelt, dem göttlichen Mozart zu dienen.



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Der Genius der Liebe

U n d zur zärtlichen Laute Greif' ich jetzo Anakreon

ik

Über die Liebe und ihre Bedeutung in Mozarts Meisteropern

J e größer der Mann, desto tiefer seine Liebe. Leonarda da Vinci

as ist die Liebe? Jeder weiß es, weil er es fUhlt, aber

W

keiner kann es erklären, d. h. auf das Letzt-Erkenn-

bare, welches nicht selbst wieder einer Erklärung bedürfte, zurückführen. Beruhigt man sich bei solcher gefühlsmSBigen Erfassung dieses Phänomens, so bleibt die ganze Fülle der hierher gehörigen, in diesem und den folgenden Kapiteln abzuhandelnden Probleme eigentlich ungelöst, alle Fragen können nur von Fall zu Fall, ohne allgemeine Erkenntnis. beantwortet werden, und keine Antwort, so richtig sie

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sein mag, gibt eine gänzliche Befriedigung, weil der Kern der Sache nach wie vor dunkel bleibt. Aber es gibt eine Antwort, die völlig zufriedenstellt: Die Liebe ist »der Brennpunkt des Willens zum L e b e n « . Hiermit ist das Letztmögliche gesagt, weil, wie im ersten Kapitel dargelegt, der Wille zum Leben das Wesen der Welt und somit der Wesenskern des Menschen ist: Der Brennpunkt dieses Wesenskerns ist die Liebe. Hiermit ist zugleich die kosmische Natur der Liebe offenbar. Folgendes zur Erläuterung. Des Menschen erstes Streben ist Selbsterhaltung, sobald aber für diese gesorgt ist, strebt e r nach Fortpflanzung des Geschlechtes: »mehr kann er als bloß natürliches Wesen nicht anstreben«

Das Streben, sich selbst zu erhalten, ist

nur »die Stufe zum Streben nach Erhaltung der Gattung «

an

welcher allein der Natur gelegen ist, während sie gegen die Erhaltung des Individuums sich gleichgültig zeigt. Deshalb ist jenes Streben nach Erhaltung der Gattung in dem Maße heftiger, als das Leben der Gattung länger und von höherem Wert ist als das Leben des Einzelnen, und »die L i e b e « — denn als solche tritt dieser »Geist der Gattung« ins Bewußtsein — ist »die stärkste Bejahung des Lebens«, das »höchste Ziel« des M e n s c h e n ' : der Brennpunkt des Willens zum Leben. Alle Dichter und Philosophen aller Zeiten und Länder, von Hesiod, Parmenides und Plato an, sind sich über diese aus der Tiefe unseres Wesens kommende Urkraft des Eros einig, die eigentliche philosophische Begründung aber hat erst Schopenhauer geliefert. — Die Folgerungen, die sich für uns hieraus ergeben, sind äußerst bedeutsam. Zunächst ist klar, daß das Grundthema aller Dramatik, auch der musikalischen, die Liebe sein muß. Denn welche

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von allen Lcbcnserscheinungen sollte wohl interessanter sein, als diejenige, in der jener »Brennpunkt« des Lebenswillens sichtbar wird? Mit unerhörter Beredsamkeit schildert Schopenhauer, wie »die Geschlechtsliebe, nächst der Liebe zum Leben, sich als die stärkste und tätigste aller Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngeren Teils der Menschheit fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten Angelegenheiten nachteiligen Einfluß erlangt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde unterbricht, bisweilen selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung setzt, sich nicht scheut, zwischen die Verhandlungen der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten, störend, mit ihrem Plunder einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haarlöckchen sogar in ministerielle Portefeuilles und philosophische Manuskripte einzuschieben versteht, nicht minder täglich die verworrensten und schlimmsten Händel anzettelt, die wertvollsten Verhältnisse auflöst, die festesten Bande zerreißt, bisweilen Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichtum, Rang und Glttck zu ihrem Opfer nimmt, j a , den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräter macht« * — man sieht: so viel Bilder, so viel dramatische Motive. Hierin liegt die eigentliche Begründung dafür, daß die Liebe das Grundthema aller Opernkunst ist, während in Bemerkungen, wie z. B . daß »die gefühlsmäßige Natur der Musik von selbst darauf hinweist« s , und dergleichen, das Problem zwar richtig angedeutet, aber nicht gelöst ist. — In der geradezu erschöpfenden und echt-dramatischen Behandlung dieses Hauptstcffes der dramatischen Kunst ist von allen großen Komponisten Mozart bei weitem der vielseitigste ; und da im Liebesproblem so recht eigentlich das

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Ewig-Menschliche beschlossen liegt und Eros d e r Liebling Apolls, des Musenführers, ist, so finden wir in Mozarts Opern wirklich Zilie Feinheiten der menschlichen Empfindungen und den ganzen Reichtum d e r Ausdrucksformen d e r L i e b e , so daß sie in ihrer Gesamtheit den höchsten und umfassendsten Lobgesang der Musik auf die L i e b e bilden. Das Werden d e r L i e b e selbst, ihr Glück, ihr Schmerz, ihr Hoffen und Vertrauen, ihre Erinnerung und Sehnsucht, Eifersucht und Leidenschaft — alle Affekte des liebenden Herzens, die die L i e b e als selbstverständliches

Recht, oder als

schwere

Schuld, als süßes Geschenk des Himmels, oder als dämonisches Werk d e s Teufels erscheinen lassen, sind in Tönen dargestellt. Aber noch m e h r : Es wird uns d u r c h Mozarts Opern nicht n u r die lebendigste Anschauung d e r Liebe als einer gewaltigen, leid- und freudvollen Macht, sondern auch die Ahnung ihres Zusammenhanges mit d e m Weltganzen vermittelt, und es b e d a r f nur d e r Übersetzung des anschaulich vor uns sich abrollenden Bildes in die abstrakte S p r a c h e d e r Vernunft, um die verschiedenen d e r geschlechtlichen L i e b e innewohnenden Grundtendenzen sich zu vollem Bewußtsein zu bringen. In diesem Sinne zeigt j e d e d e r nachstehend behandelten vier Meister-Opern Mozarts einen bestimmten Grundcharakter, den herauszuarbeiten unsere Aufg a b e sein wird. — Es w a r in d e r T a t ein seltsames Geschick, welches Mozart die geeigneten, allerdings in entscheidenden Punkten von ihm geänderten und umgebildeten Operntexte darbot — denn er ging in allen seinen Opern ü b e r die Gedankenwelt seiner Textdichter hinaus. Freilich a b e r bedurfte es auch s e i n e s Genies, um die durch jene T e x t e im g a n z e n g e g e b e n e Blickrichtung auf d a s Liebesproblem a u c h in etilen Einzelheiten d e r Empfindung festzuhalten, zu präzisieren und in Tönen musikalisch deutlich zu m a c h e n . Und so haben in

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diesen Opern nicht nur alle jene Ausdrucksformen des leidund freudvollen Liebesgefühls, sondern auch die soeben genannten Grundtendenzen d e r Liebe ihre künstlerische Darstellung gefunden Mit diesen Erkenntnissen stehen wir a b e r zugleich im Gebiete d e r Ethik, deren Problemkreis die L i e b e , eben als Phänomen der Bejahung des Lebenswillens, a n g e h ö r t : denn die Ethik hat es lediglich mit d e m Willen, dem guten oder bösen Willen zu tun 7 . Hierdurch nun wird klar, daO wir Mozart im letzten Grunde von diesem hohen, ja höchsten, Standpunkt aus begreifen müssen, u m sein ganzes Wesen zu erfassen und nicht bloß d e m großen Künstler, sondern auch d e m großen Menschen, d e m , der g e s a g t h a t : » D a s Herz adelt den Menschen«, g e g e n ü b e r zu stehen. Denn seine Behandlung des Liebesproblems ist als Ausfluß seines tief-innersten Wesens und seines eigensten Erlebens anzusehen. Freilich war sich Mozart selbst alles dessen in abstracto nicht bewußt, a b e r die durchaus ethische Grundrichtung seines Geistes hat an d e r Modellierung d e r Charaktere seiner Opern-Gestalten g e r a d e in d e m bedeutsamsten Punkte, eben in den Äußerungen d e r L i e b e , entscheidenden Anteil

wie

j a überhaupt die großen Gedanken aus d e m Herzen kommen. Hierauf beruht e s , daß Mozart alles, was an der L i e b e menschlich, allzu-menschlich, ist, veredelt hat, so daß seine Opern nur als die sinnlichen Symbole einer im Grunde ethischen Weltordnung aufzufassen sind, selbstverständlich unbeschadet der völligen Abwesenheit j e d e r moralisierenden T e n d e n z : denn als echter Künstler wollte Mozart niemals vorschreiben, sondern nur b e s c h r e i b e n , darstellen, gestalten. Und so hat e r alles in d e r L i e b e auf eine höhere E b e n e erhoben, in eine S p h ä r e , der es in der Musik niemals vorher angehört hatte. Und doch, oder r i c h t i g e r : g e r a d e d e s w e g e n ist alles zutiefst menschlich wahr. Denn

»die

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letzte Spitze, in w e l c h e die Bedeutung des Oaseins ü b e r haupt ausläuft, ist zuverlässig das E t h i s c h e « ' . Ganz besond e r s zeigt sich das in d e r Zauberflöte, wo die L i e b e im Rahm e n des damaligen Humanitäts-Ideals behandelt ist, und d e r e n Gestalten durchaus von dieser I d e e beseelt w e r d e n . Als »Genius d e r L i e b e « erscheint uns Mozart, wenn wir ihn vom hellen Glänze seiner unvergänglichen Bühnengestalten umstrahlt e r b l i c k e n

— a b e r von Mozarts

»gött-

l i c h e m « Genius dürfen wir r e c h t eigentlich n u r s p r e c h e n , w e n n wir ihm a u c h in's Herz g e s e h e n h a b e n und dessen still verklärenden Glanzes inne geworden sind.

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Die Entführung aus dem Serail

G o t t Amor, Überwinder, Umarme Deine Kinder. Schiller

ie überragende Rolle, welche die geschlechtliche Liebe

D

im menschlichen Dasein spielt, ist in Mozarts Entfüh-

rung noch nicht dargestellt; ihre Tiefen, ihre Verwurzelung im Urgründe des Welt-Willens, als dessen »Brennpunkt« wir die Liebe erkannt haben

die Komplikationen und Kon-

flikte, die sich in ihrem Gefolge befinden, — das alles tritt noch nicht in Erscheinung. Wir befinden uns hier vielmehr noch gleichsam in einem vorbereitenden Stadium: Das Erwachen der Liebe selbst, das heitere, ungetrübte Glück,

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das sie verspricht, die Anmut und Zärtlichkeit des sich entwickelnden Liebesspiels, die reine und unbefangene gegenseitige Hingabe, der beinahe noch kindliche Frohsinn, der überall ausgebreitet ist und der die in der Liebe beschlossen liegenden Freuden als selbstverständlich, weil als unbestreitbares Naturrecht, erscheinen l ä ß t : das alles trägt noch den Stempel der Unschuld a . Gehen wir den Gründen dieser fast spielerischen Behandlung des Liebesproblems durch Mozart in dieser seiner ersten Meister-Oper nach, so knüpfen wir am besten an einen Ausspruch an, den Karl Maria von W e b e r gelegentlich der ersten Dresdener Aufführung der Entführung getan hat. W e b e r glaubte, in ihr »das zu erblicken, was jedem Menschen seine frohen Jünglingsjahre sind, deren Blütenzeit e r nie wieder so erringen k a n n « . Und er fügte hinzu, daß »in der Entführung Mozarts Kunsterfahrung ihre Reife erlangt hatte und dann nur die Welterfahrung weiter schuf«. Die Welterfahrung hatte nun aber den jungen Mozart bisher die Liebe nur von ihrer heiteren, frohen und unschuldigen Seite sehen lassen. Zwar hatte seine Liebe zu Aloysia W e b e r mit einem schrillen Mißton geendet, aber seine junge, unschuldige Künstlerseele hatte in diesem Verhältnis doch nur die Reinheit und Innigkeit der ersten Liebe gefühlt, ihre dämonischen Tiefen jedoch, wiewohl gewiß dunkel geahnt, doch nicht so recht eigentlich erkannt und wirklich leidvoll erfahren. Dazu kam noch, daß Mozart zur Zeit der Komposition der Entführung aus dem Serail die »Entführung aus dem Hause Gottes« wie e r sagte, vorbereitete, nämlich seine Heirat mit Aloysias Schwester Konstanze, die im »Auge Gottes«, einem so benannten Hause am Petersplatze in Wien, wohnte. Was aber Mozart in der Liebe zu seiner Braut fühlte, war von aller Dämonie himmelweit entfernt, und so stimmt seine bisherige Welterfahrung in der

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Tat gerade zu dem Grundcharakter dieser Oper, welche die Unschuld der Liebe wie keine andere darstellt, jener treuen, herzlichen Liebe, die keine Verwickelungen, noch weniger tragische Momente, ja die sich selbst, ihr Wesen und ihren Ursprung, nicht kennt, noch versteht: Denn »die schönste Seele kann, ehe sie das Leben von der schrecklichen Seite kennt, seine Süße begierig schlürfen und mit U n s c h u l d « 3 . Mit Unschuld? so müssen wir, angesichts der im vorigen Kapitel gegebenen Ableitung der Liebe aus dem Urgrund der Dinge, jenem unseligen Urgrund des Wollens 4 , in welchem zugleich alles Sündhafte und alles Leiden des Lebens wurzelt s , f r a g e n : Aber wir hören Schopenhauers Belehrung: »Nicht im Wollen, sondern im Wollen mit Erkenntnis liegt die Schuld« *. Der Charakter dieser noch nicht wissenden und deshalb unschuldigen Liebe, die nun aber doch mit feindlichen Mächten zu kämpfen hat, wenn sie diese auch selbstverständlich besiegt — denn wie sollte das Recht der Natur nicht überall siegen] — wird gleich am Anfang der Oper in einer künstlerisch überaus anschaulichen und überzeugenden Weise, und zwar mit den einfachsten und rein-musikalischen Mitteln, dargestellt. Ohne auf nähere Ausdeutungen ' einzugehen, sei lediglich auf die Wahl der Tonart der Ouvertüre — das strahlende C-Dur — und den Wechsel von Dur und Moll in der Ouvertüre selbst, wie bei der auf sie unmittelbar folgenden Arie des Belmonte hingewiesen, welche die Melodie des C-Moll-Mittelsatzes der Ouvertüre wiederholt, aber in Dur. »Wie wundervoll«, sagt Schopenhauer

»ist

die Wirkung von Moll und Durl Wie erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz, statt der großen, uns sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von welchem uns das Dur wieder ebenso augenblicklich erlöst«: Das »bange Gefühl« 63

des plötzlichen Moll mitten in der in heller Lebensfreude wirbelnden Ouvertüre, das auf jene dämonisch-feindlichen Mächte deutet, die überall, und ja gerade in der Liebe, uns umlauern, erscheint als bloßer Trug der Finsternis: Die aus dem Hellen kommende Stimme des Belmonte hat es fortgesungen, die Unschuld reiner Liebe hat, als wäre das selbstverständlich, sich als die stärkere Macht erwiesen, und wir fühlen uns »augenblicklich erlöst«, d. h. der Grundstimmung dieser Oper, dem heiteren, naiven, unschuldigen Frohsinn, wieder hingegeben. In dieser Naivität der Bejahung des Lebens, die, eben weil sie noch ohne Erkenntnis ist, gleichsam jenseits von Gut und Böse liegt, zeigt sich in dieser Oper die Veredelung, die, wie im vorigen Kapitel schon gesagt, Mozart allen Ausstrahlungen des Liebesgefühles hat angedeihen lassen, und diese höhere Sphäre, eben die der Unschuld, wird noch deutlicher durch die Figur des Osmin, descen Lüsternheit die reinen Gefühle der Hauptpersonen, nämlich der beiden Liebespaare Belmonte und Constanze und Pedrillo und Blonde, durch den Gegensatz allererst ins volle Licht zu setzen berufen ist und dessen Ausgestaltung zugleich die nötigen dramatischen Wirkungen hervorbringt. — Alle Künste wollen das Problem des Daseins lösen, eine jede auf ihrem Gebiet. Deshalb können Kunstwerke sich gegenseitig erläutern Suchen wir im Gebiet der Malerei mit ihren vielen berühmten Liebespaaren nach einem Bilde, dessen gegenständlicher Inhalt am besten die Herzlichkeit und Anmut unschuldiger und deshalb reueloser Liebe, also im Grunde eine beglückende Verklärung des wirklichen Lebens, als das eigentliche Thema der Mozartschen Entführung wiedergibt, so dürfte die Wahl vielleicht auf Tizians »Nymphe und Schäfer« 10 fallen, ein Bild, das man nicht ohne Entzücken an der dargestellten Verbindung des

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Sinnenfrohen mit dem Keuschen bezeichnen kann, das aber zugleich über jene Verklärung hinaus die Wirklichkeit, nämlich die Vergänglichkeit auch des Glückes einer unschuldigen Liebe, ahnen läOt: Denn auch die keuscheste Nymphe wird nicht für alle Zeit ohne Anfechtung bleiben, und unaufhaltsam drängt die dämonische Grundnatur der Liebe weiter, über jenes gleichsam nur vorbereitende Stadium hinaus. Den ersten Schritt dorthin zeigt uns Mozarts »Hochzeit des Figaro«.

65

Figaros Hochzeit

E r o s soll i c h v e r m e i d e n ? U m s o n s t alle M ü h ! Wie

entrinnen?

Folgt d e r g e f l ü g e l t e G o t t ü b e r a l l h i n m i r d o c h n a c h ! Archias w i s c h e n d e n Sitz d e r G ö t t e r u n d d e n f i n s t e r e n T a r t a r o s

Z

s t e l l t e Hesiod

1

als l i e b l i c h e n V e r m i t t l e r d e n E r o s :

. . . » e r ist d e r s c h ö n s t e d e r e w i g e n

Götter;

L ö s e n d b e z w i n g t e r d e n Sinn b e i a l l e n G ö t t e r n und

Menschen

T i e f in d e r B r u s t . « S e i t d e m sind f a s t d r e i J a h r t a u s e n d e v e r f l o s s e n , in d e n e n die Stimmen d e r D i c h t e r und Philosophen sich vereinigt hab e n , die W e i s h e i t j e n e s a l t e n G r i e c h e n z u b e s t ä t i g e n . F r a g e n w i r a b e r , w o in d e r n e u e r e n Z e i t u n d in d e r

»könig-

lichsten« der Künste, der Musik, das Bild dieses Vermittlers, des Allsiegers, des Eros, als des schönsten der ewigen Götter, ebenso unvergänglich dargestellt ist, so kann die Antwort nur lauten: In Mozarts Figaro. Hier steht die allmächtige Liebe wirklich zwischen den - Göttern und dem Tartaros, als ein vor dem entzückt lauschenden Hörer abrollendes, ganz in Schönheit getauchtes echt-menschliches Spiel. Von ihrem göttlichen Funken, der, zu höherer Vollendung strebend, die Geister befreit, ist nicht die Rede, aber auch nicht von den in ihr wirkenden tragisch-dämonischen, auf das Dunkel des Tartaros deutenden Kräften — hiervon geben die Zauberflöte bzw. Don Juan Zeugnis; die Liebe im Figaro aber ist reine, sinnenfrohe Menschlichkeit. Und doch, oder richtiger: ebendeshalb ist diese Liebe nicht frei von sittlichen Konflikten, und somit ist in dieser Oper die erste Berührung des Liebesproblems mit der Ethik gegeben. Denn hier stehen die handelnden Personen nicht mehr, wie die beiden Liebespaare in der Entführung, jenseits von Gut und Böse, sie sind vielmehr, gleichsam wie Adam und Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen, wissend geworden. Besonders der Graf wird von seiner Leidenschaft so sehr beherrscht, daß er sich nicht mehr selber angehört, sondern bei seinem Vorhaben, die Braut seines Kammerdieners zu verführen, in wirkliche Schuld zu versinken droht. Aber er macht sich, wenn auch nicht ganz freiwillig, und auch nicht ohne einige bedrohliche, fast tragische Momente, so doch jedenfalls aus eigener Kraft, davon frei, und so bleibt das Ganze, der Grundstimmung nach, doch ein heiteres menschliches Spiel, zumal dieses sich in der Erwartung erschöpft, die ja schöner ist, als die schönste Erfüllung. Ein Spiel, jedoch nicht ohne einen ernsten, ja sogar sehr ernsten Hintergrund, nämlich eben die sinnliche Leiden5»

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schaft des Grafen! Sein heißes Werben um Susanne ist von bloßer Tändelei weit entfernt, entstammt vielmehr so recht der Tiefe der menschlichen Natur, der Liebe, diesem Brennpunkte des Willens zum Leben

Besonders in dem Duett

mit Susanne selbst, am Anfang des dritten Aktes, ist der ganze Ernst der geschlechtlichen Liebe von Mozart ungemein eindringlich dargestellt. Gleich die ersten Takte zeigen den Grafen, der sein starkes Standesbewußtsein als Aristokrat gänzlich außer Acht läßt, in seiner ganzen inneren Qual, die ihm aus seiner unerwiderten Leidenschaft erwachsen ist. Die Tonart ist A-Moll, wie sie Mozart gern in solchen schwülen Situationen verwendet

s:

Dann aber, nach der Wendung zu A-Dur, jedoch ohne Änderung des Tempos, welches Andante bleibt, im zweiten Teil des Duetts — man beachte diese wiederum angewandte größte Einfachheit im musikalischen Mittel, aus der unter Mozarts Meisterhand dennoch die mächtigste Wirkung erwächst! —, als Susanne aufsein Werben scheinbar eingeht, dieses Geftthl des Freiwerdens von schwerer innerer Not:

Der ganze volle Ernst des Geschlechtlichen steht vor dem Hörer, der, wenn anders er das Wesen der Liebe tief ge-

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n u g an sich selbst e r f a h r e n hat, trotz der Komik der äußer e n Situation sich im Innersten b e r ü h r t fühlen m u ß : W a s f ü r ein Ernst ist das? D e r Ernst der geschlechtlichen L i e b e als d e r wichtigsten Naturkraft, der Zeugungskraft, durch die sie sich selbst e r h ä l t . E s ist » d e r Ernst d e r T i e r h e i t ; die T i e r e l a c h e n nicht. Die Naturkraft wirkt Uberall ernst, mechanisch« D i e s e r ü b e r dem Ganzen s c h w e b e n d e Ernst nun a b e r ist, in Verbindung mit d e r ä u ß e r e n Handlung, die sich in den verschiedensten

komischen

Situationen

entwickelt,

der

Grund f ü r die feine, humoristische W i r k u n g dieser O p e r , die sie so himmelweit von d e r gewöhnlichen o p e r a buffa alten Stils unterscheidet. Denn zum W e s e n des e c h t e n » H u m o r s « , d e r nicht auf bloße Belustigung ausgeht, sondern statt des gewöhnlichen G e l ä c h t e r s eine W i r k u n g a u f das H e r z des Hörers hervorrufen will, g e h ö r t , daß »hinter dem S c h e r z d e r tiefste Ernst v e r s t e c k t ist und d u r c h s c h e i n t «

Deshalb

»ist j e d e künstlerische Darstellung e i n e r komischen S z e n e , als deren v e r d e c k t e r Hintergrund j e d o c h ein e r n s t e r Gedanke d u r c h s c h i m m e r t , Produkt des Humors, also humoristisch« Somit ist der Humor eine dem E r h a b e n e n verwandte Art des » L ä c h e r l i c h e n «

und hierauf b e r u h t die V e r e d e l u n g ,

w e l c h e die L i e b e in Mozarts Figaro e r f a h r e n h a t . Denn das Liebesmotiv, a u f dem diese vollendetste komische O p e r , wie j e d e a n d e r e , aufgebaut ist, ist nicht v e r w e n d e t , um billige Buffio-Späße a n z u b r i n g e n " , sondern um h e i t e r e s , daseinsf r o h e s , e c h t - m e n s c h l i c h e s Spiel, a b e r dennoch menschliches S c h i c k s a l , also etwas E r h a b e n e s , sich vor uns a b w i c k e l n zu lassen. — S u c h e n wir in d e r Malerei nach einem s o l c h e n , ebenfalls in Schönheit schwelgenden menschlichen Spiel, so müssen wir an den » L i e b e s g a r t e n « von R u b e n s * d e n k e n . Alles ist, wie bei diesem T h e m a natürlich, in L i e b e g e t a u c h t — s c h ö n e

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Frauen, vornehme Herren, elegante Gewänder, im Hintergrunde ein Tempel der Venus, in den Lüften Amoretten, alles in abendlicher Beleuchtung, die auf die kommende Nacht deutet. Amor aber, der neckische Knabe, drängt das Paar im Vordergrunde eben nach jenem Liebestempel, indem er die Dame gar nicht prttde, nämlich gerade da berührt, w o die Venus kallipygos am schönsten gebildet ist: ein Stück echten Humors, denn es ist dies ein ungemein scherzhafter Ausdruck einer ungemein ernsten Sache, der Sehnsucht der Liebe.

70

Don Juan

I c h höhne d e r Vernichtung furchtbaren Schlund, Fest h a n g e n d an Suleimas Rubinenmund. Dem Ruhenden im Zentrum Des Lebens hier W i e zeigte sich zu b e b e n Der kleinste G r u n d ? HaBs

D

ie Musik z u m Faust m ü ß t e im C h a r a k t e r d e s Don J u a n sein; Mozart hätte den Faust komponieren müssen«.

So s t a n d G o e t h e 1 M o z a r t s D o n J u a n g e g e n ü b e r . B e e t h o v e n indessen hat gesagt, d a ß e r »Opern wie Don Juan und Figaro nicht komponieren k ö n n t e ; dagegen habe e r einen Widerwillen, solche Stoffe seien i h m zu l e i c h t f e r t i g 8 « . W i e erk l ä r e n s i c h d i e s e b e i d e n e i n a n d e r so u n ä h n l i c h e n U r t e i l e ?

71

Goethe sah in Don J u a n den Ausnahmemenschen, d e r , w i e Faust, in seiner Maßlosigkeit die dem Menschen gesetzten Grenzen

fiberspringen

m ö c h t e , d e r die Mächte d e r Fin-

sternis verachtet und deshalb sich z w a r nicht dem T e u f e l v e r s c h r e i b t , a b e r dafür vom Teufel geholt wird — e r sah in dieser Oper die künstlerisch-kongeniale Behandlung eines Grundproblems des menschlichen Daseins, wie e r j a selbst im Faust solche Grundprobleme, darunter auch das d e r geschlechtlichen L i e b e , behandelt h a t t e . Beethoven dagegen .sah in Don J u a n n u r das, was diesen von Faust unterscheidet, was Don Juan im Gegensatz zu Faust n i c h t besitzt, nämlich das Fehlen j e n e s a u f das höchste geistige und sittliche W e r t Erlebnis g e r i c h t e t e S t r e b e n , wie es nicht bloß in Faustens D r a n g , den Weltzusammc- nhang zu enträtseln, sondern auch n o c h in seinem a u f Befriedigung seiner Sinnenlust g e r i c h t e t e n T u n lebendig ist 3 . — W i r wollen k u r z diesen Gegensatz n ä h e r b e l e u c h t e n , um alsdann den h ö h e r e n Gesichtspunkt zu gewinnen, von d e m aus Don J u a n , trotz des Fehlens j e n e s Faustischen hohen S t r e b e n s , dennoch als e c h t e r dramatischer Held, dem e s , e b e n als solchem, an unseren Sympathien nicht fehlen d a r f , e r s c h e i n t , wodurch das Don J u a n - P r o b l e m allererst in seiner i n n e r s t e n Bedeutung sich uns n ä h e r erschließen w i r d . Faust ergibt sich, wie schon g e s a g t , in seiner L i e b e zu G r e t c h e n nicht der Sinnenlust um deren selbst willen, sond e r n e r ist auch in dieser Phase seiner Entwickiung d e r tiefinnerliche Mensch, der durch Eindringen in den K e r n d e r Natur — und wo w ä r e das wohl vollkommener m ö g l i c h , als in d e r Liebe, diesem »Brennpunkt des L e b e n s w i l l e n s « ! — zur Gottheit g e l a n g e n , mit dieser eins w e r d e n , das Göttliche und Physische in sich vereinigen m ö c h t e . E r will den Zusammenhang mit d e r Natur, das Einssein alles S e i e n d e n , das Aufgehen im All aus e i n e m Zusammenklingen des Her-

72

zons und der Sinne heraus b e g r e i f e n und e r l e b e n , e r will j e n e höchstmögliche persönliche B e r e i c h e r u n g

erfahren,

wie sie e b e n in j e n e r Vereinigung des Göttlichen und des Physischen — w e n n sie möglich w ä r e , sie ist a b e r n i c h t möglich!

— liegen w ü r d e . Sinne, Herz und Geist sind glei-

c h e r w e i s e bei ihm entflammt und a n g e r e g t , e r möchte die Tiefen des Lebens durch sinnliche Lust ausschöpfen, a b e r gleichzeitig, eben h i e r d u r c h , zu höchster Vergeistigung des Daseins g e l a n g e n . Sein Streben ist, » d e r Menschheit K r o n e zu e r r i n g e n , nach der sich alle Sinne d r i n g e n . « In dem » T r a n s s c e n d e n t e n der E n t z ü c k u n g e n «

5

des L i e b e s e r l e b -

nisses glaubt e r , die letzte Weisheit zu e r f a h r e n , und in d e r Gestalt Gretchens eine Offenbarung himmlischer M ä c h t e zu s e h e n . So steht bei Faust alles, und e b e n g e r a d e die L i e b e , unter dem Gesichtspunkte des E w i g e n : sie erscheint ihm als die » W o n n e « , die ihn »den Göttern nah und n ä h e r b r i n g t « . Nichts von alledem erstrebt Don J u a n . Von d e r E r d e stammt e r , auf i h r allein will e r l e b e n , und Faustens Ausr u f : » N e n n ' s G l ü c k ! H e r z ! L i e b e ! G o t t ! « , in w e l c h e m das Liebeserlebnis geradezu mit dem GottesbewuOtsein identifiziert

ist, w ä r e in Don Juans Munde e i n e Unmöglichkeit.

Im W e i b e des L e b e n s Quell sowohl, als des L e b e n s Erfüllung zu sehen — das ist beiden eigentümlich, a b e r von j e n e m Faustischen S t r e b e n nach Verbindung dieses durchaus irdis c h e n Verlangens mit sittlichem, j a religiösem E r l e b e n ist bei Don J u a n keine Spur vorhanden. F ü r Faust ist die Erotik nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu e i n e m höheren Z w e c k , e b e n dem E r l e b e n des Göttlichen, d e m e r in d e r L i e b e nahe zu sein glaubt, deshalb ist seine L i e b e zu G r e t c h e n eine bloße Episode in der Faustdichtung; Don J u a n d a g e g e n kennt das S t r e b e n nach solcher Synthese n i c h t , sein w a h r e r Ernst liegt ausschließlich im E r o t i s c h e n , und seine Rolle in d e r O p e r erschöpft sich deshalb hierin.

73

Das ist es, w a s Beethoven an d e r Gestalt Don J u a n s a b s t i e ß . Und d e n n o c h — u n d hierin liegt die von Goethe g e f ü h l t e Ähnlichkeit Don J u a n s mit Faust — a u c h D o n J u a n ist ein S u c h e n d e r , und z w a r sucht a u c h e r , w i e Faust, e t w a s ü b e r diese Zeitlichkeit hinaus L i e g e n d e s : e r s u c h t die Vollk o m m e n h e i t . U n d das Suchen b e i d e r ist hoffnungslos, es ist ein tragisches S u c h e n . D e n n wie es Faust nicht gelingt u n d n i e m a l s , auch in d e r Liebe z u m W e i b e n i c h t , gelingen k a n n , d a s Physische mit d e m Göttlichen zu v e r e i n i g e n , so

findet

Don J u a n in k e i n e m W e i b e die g e s u c h t e V o l l k o m m e n h e i t : » W a s ihm f e h l t , g e w ä h r t kein irdisch W e i b « . Dies ist d e r tiefe Sinn d e r alten Don J u a n - L e g e n d e , d i e folgendes e r zählt : Als das Höllentor h i n t e r Don J u a n sich geschlossen h a t t e , riß ein T e u f e l d e m d e r e w i g e n V e r d a m m n i s Ü b e r l i e f e r t e n sein von i r d i s c h e r Liebe n o c h g l ü h e n d e s Herz aus d e m Leibe und b r a c h es e n t z w e i . Da w u r d e inmitten dieses H e r z e n s das Bild eines Weibes s i c h t b a r , welches d a s Urbild d e r Vollkommenheit aller Schönheit w a r , w i e solche auf d e r E r d e nicht a n z u t r e f f e n ist. D e r Satan selbst a b e r , vor d e n m a n dieses Bild g e b r a c h t h a t t e , e r s c h r a k vor dessen u n s a g b a r e r Schönheit und f ü r c h t e t c , d a ß es V e r w i r r u n g in d e r Hölle a n r i c h t e n k ö n n e . Deshalb h a u c h t e e r ihm d u r c h geh e i m e Künste L e b e n ein und sundte es auf die E r d e , d a m i t die Menschen in ungestillter S e h n s u c h t n a c h d e m U n e r r e i c h b a r e n sich v e r z e h r t e n und so, in i m m e r w i e d e r v e r g e b l i c h e r Hoffnung auf E r f ü l l u n g , Gott e n t f r e m d e t w ü r d e n . — W a s a b e r h a t es mit dieser Sehnsucht d e r g e s c h l e c h t lichen Liebe auf sich? D a ß sie d e r »Geist d e r G a t t u n g « und als solcher d e r » B r e n n p u n k t « des Lebenswillens ist, hat sich im L a u f e d e r b i s h e r i g e n U n t e r s u c h u n g e n uns schon e r g e b e n . Aber hiermit w ä r e n u r die eine Hälfte des Don J u a n P r o b l e m s e r k l ä r t , die u n m i t t e l b a r aus d e r Tiefe des W e l t g r u n d e s k o m m e n d e Dämonie des C h a r a k t e r s Don J u a n s ,

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eine Dämonie, die furchtbar, weil bei diesem Übermenschen durch nichts gehemmt ist. Wie aber erklärt sich sein ewiges, und zwar hoffnungsloses, Suchen? Es erklärt sich dadurch, daß dieser Geist der Gattung als ein Wahn auftritt, der, eben als solcher, in der Erfüllung verschwindet. Die Zwecke der Gattung betreibt der Liebende, nicht seine eigenen! Aber er glaubt, nur diesen seinen eigenen egoistischen Interessen, dem Drang, des Lebens Freuden auszuschöpfen, nachzugehen. Dieses Wahnes jedoch bedarf die Natur. Denn wenn das Individuum im Interesse der Gattung tätig sein und sogar Opfer bringen soll — denn jede Liebe bringt ja auch Leiden! — so »kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuum einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut fttr sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt, bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt . . . Das schwindelnde EntzUcken, welches den Mann beim Anblick eines Weibes von ihm angemessener Schönheit ergreift und ihm die Vereinigung mit ihr als das höchste Gut vorspiegelt, ist eben der Sinn der Gattung, welcher, den deutlich ausgedrückten Stempel derselben erkennend, sie mit diesem perpetuieren möchte. Auf diesem entschiedenen Hange zur Schönheit beruht die Erhaltung des Typus der Gattung: daher wirkt derselbe mit so großer Macht«*. Ein Wahn also ist es, der Don Juan rastlos vorwärts treibt, und zwar immer weiter, ungeachtet der auf den Besitz eines jeden Weibes immer wieder folgenden

Ent-

täuschung: Denn allerdings muß ja dieser Wahn, »in der Tat ein Wahn ohnegleichen« 7 , der ihm als für ihn selbst wertvoll vorspiegelt, was nur für die Gattung Wert hat, nach erlangtem Zweck der Gattung, nämlich der Befriedi-

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g u n g d e r Liebessehnsucht, als T ä u s c h u n g sich e r w e i s e n u n d , e b e n als solche, d a n a c h v e r s c h w i n d e n — e i n e r n e u e n T ä u s c h u n g R a u m g e b e n d . Und so m u ß Don J u a n , d e r Ü b e r m e n s c h , d e r sich s e i n e r L e i d e n s c h a f t s c h r a n k e n l o s ü b e r lassen h a t , in d e r e w i g e n , n i e b e f r i e d i g t e n , weil nie zu b e f r i e d i g e n d e n Sehnsucht eines g l ü h e n d e n , in v e r z e h r e n d e r F l a m m e d ü r s t e n d e n H e r z e n s , vom W a h n des Geistes d e r G a t t u n g u m f a n g e n , n a c h j e n e r Vollkommenheit s u c h e n , u n d i m m e r w e i t e r s u c h e n , hoffnungslos — u n d e r m u ß d a r a n zu G r u n d e g e h e n , weil e r Selbstbcschr&nkung, Besserung u n d göttliche G n a d e a u s d r ü c k l i c h a b l e h n t . N u n m e h r n ä h e r n w i r uns d e m Z e n t r u m des h i e r b e h a n d e l t e n P r o b l e m s : Don J u a n als t r a g i s c h e r H e l d , d e r , als s o l c h e r , schuldig sein m u ß , o h n e a b e r u n s e r e m e n s c h l i c h e n Sympathien zu v e r l i e r e n . Die t r a g i s c h e Schuld Don J u a n s ist o f f e n b a r : sie b e s t e h t in d e r Maßlosigkeit s e i n e r s c h r a n kenlosen Sinnlichkeit u n d u n g e b ä n d i g t e n L e i d e n s c h a f t , die ihn bis zu v o l l k o m m e n e r Rücksichtslosigkeit, j a G r a u s a m keit t r e i b t , u n d in d e r s o e b e n e r w ä h n t e n V e r w e i g e r u n g d e r R e u e u n d B e s s e r u n g . Aber w i e ist es m ö g l i c h , d a ß dieser w a h r h a f t i g h a r t g e s o t t e n e S ü n d e r u n s e r e m e n s c h l i c h e n Symp a t h i e n nicht verliert? Die Antwort liegt in f o l g e n d e m : » D i e B e g i e r d e des Geschlechts t r ä g t einen von j e d e r a n d e r n s e h r v e r s c h i e d e n e n C h a r a k t e r : sie ist nicht n u r die s t ä r k s t e , sond e r n sogar spezifisch von m ä c h t i g e r e r Art als alle a n d e r n . Sie w i r d überall stillschweigend v o r a u s g e s e t z t , als n o t w e n d i g u n d unausbleiblich, u n d ist nicht, wie a n d e r e W ü n s c h e , Sache des G e s c h m a c k s und d e r L a u n e . D e n n sie ist d e r W u n s c h , w e l c h e r selbst das W e s e n des M e n s c h e n a u s m a c h t I m Konflikt mit ihr ist kein Motiv so s t a r k , d a ß es des Sieges g e w i ß w ä r e . Sie ist so s e h r die H a u p t s a c h e , d a ß f ü r die E n t b e h r u n g i h r e r Befriedigung keine a n d e r n Genüsse

ent-

s c h ä d i g e n : a u c h ü b e r n i m m t T i e r u n d Mensch i h r e t w e g e n

76

j e d e G e f a h r , j e d e n K a m p f « 8 : Die I ä c b e ist der B r e n n p u n k t des Willen» zum L e b e n . Sind wir nun a b e r , die wir j a alle nichts sind als Wille zum L e b e n , eben deshalb nicht allesamt in dem selben F a l l ? T r ä g t nicht j e d e r ein Stück von diesem Don J u a n in sich, e b e n weil e r ein Mensch ist? Fühlt nicht ein j e d e r , daß die Liebe t i e f im Wesen u n s e r e r Natur b e g r ü n d e t ist? Steht nicht selbst in den T r ä u m e n des Nüchternsten, wenn e r vom Glück t r ä u m t , das Glück der L i e b e o b e n a n , e b e n weil f ü r verfehltes Liebesglück nichts anderes e n t s c h ä d i g t ? B e w a h ren wir nicht alle, wie j e n e r Don J u a n d e r L e g e n d e , das Bild eines Wesens im Herzen, dessen Urbild w i r , wenigstens solange wir jung sind, aller i m m e r wieder e i n t r e t e n d e n T ä u s c h u n g und Enttäuschung u n g e a c h t e t , i r g e n d w a n n , i r gendwo anzutreffen hoffen, j a , von dem wir zu wissen glaub e n , daß wir ihm b e g e g n e n m ü s s e n ? Ist das alles von F r i volität und Zynismus, von Schlüpfrigkeit und lüsterner B e g i e r d e nicht himmelweit e n t f e r n t ? A b e r das P r o b l e m ist auch hiermit noch nicht völlig g e löst, j e n e r höhere Gesichtspunkt, n a c h dem wir s u c h e n , n o c h nicht g e w o n n e n : Dieser liegt darin, daß dem C h a r a k t e r Don Juans e i n e gewisse G r ö ß e innewohnt. Denn was ist m e n s c h liche G r ö ß e ? Schopenhauer hat es a u s g e s p r o c h e n : » G r o ß ist nur d e r , w e l c h e r bei seinem W i r k e n , dieses sei nun e i n praktisches oder ein theoretisches, nicht seine S a c h e s u c h t , sondern allein einen objektiven Z w e c k v e r f o l g t : e r ist e s a b e r selbst dann n o c h , w a n n , im P r a k t i s c h e n , dieser Z w e c k ein mißverstandener, und s o g a r w e n n e r , infolge davon, ein V e r b r e c h e n sein sollte. Daß e r nicht sich und seine S a c h e sucht, dies macht ihn, u n t e r allen Umständen, g r o ß « *. Don J u a n a b e r sucht im Grunde nicht seine S a c h e . D e n n die ihn b e h e r r s c h e n d e Liebesleidenschaft — und an Gegenliebe hat es ihm j a nie gefehlt 1 — ist »eigentlich schon der Lebenswille

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des neuen Individuums«

10

, ist somit eine Angelegenheit hö-

h e r e r A r t : Das I n t e r e s s e d e r G a t t u n g ist es, w e l c h e s e r v e r f o l g t , w i e w o h l ihn d e r W a h n u m f ä n g t , als s u c h e e r s e i n G l ü c k , s e i n e S a c h e . »Aber g e r a d e dieses Nicht-seine-Saches u c h e n , w e l c h e s überall d e r Stempel d e r G r ö ß e ist, gibt a u c h d e r leidenschaftlichen Liebe d e n Anstrich d e s E r h a b e n e n u n d m a c h t sie zum w ü r d i g e n G e g e n s t a n d e d e r Dichtung«

11

. Nun e r b l i c k e n w i r in Don J u a n s W e i g e r u n g zu be-

r e u e n u n d sich zu bessern nicht sowohl d e n f r e v e l h a f t e n Willen des Individuums, als vielmehr d i e Ü b e r l e g e n h e i t des Willens d e r G a t t u n g , d e r so s e h r viel m ä c h t i g e r ist als d e r d e s Individuums, u n d d e r h i e r das Individuum restlos beh e r r s c h t , selbst angesichts d e r diesem u n m i t t e l b a r d r o h e n d e n V e r n i c h t u n g . Das a b e r ist w i r k l i c h e t r a g i s c h e G r ö ß e , die a u c h im U n t e r g a n g n o c h Uber M e n s c h e n m a ß h i n a u s r a g t . Und deshalb verliert dieser Don J u a n , d e r selbst auf d e r F a h r t z u r Hölle n o c h , w a h n u m f a n g e n , jenes Idealbild im H e r z e n t r ä g t , n i c h t u n s e r e S y m p a t h i e n , im G e g e n t e i l , sein T r o t z erfüllt u n s mit e i n e r gewissen B e f r i e d i g u n g , d e r Bef r i e d i g u n g ü b e r d e n Sieg des Willens d e r G a t t u n g , j e n e s allmächtigen Urwillens, ü b e r d a s ein Nichts

bedeutende

I n d i v i d u u m : Das Unendliche siegt ü b e r das E n d l i c h e , das Unsterbliche ü b e r das S t e r b l i c h e . D e r gleiche G e d a n k e , nämlich das u n t r ü g l i c h e I n n e w e r d e n d e r Liebe als d e r » d e r V e r n i c h t u n g h ö h n e n d e n « Urk r a f t , als. des » Z e n t r u m s des L e b e n s « , liegt d e n w u n d e r vollen, glcichsam t r i u m p h i e r e n d e n Versen des Hafis, jenes u n v e r g l e i c h l i c h e n P e r s e r s , zu G r u n d e , d i e diesem Kapitel als Leitspruch vorangestellt sind. Und dieser G e d a n k e ist es a u c h , aus dem h e r a u s — u m a u c h in d i e s e r O p e r eine P a r allele z u r Malerei zu ziehen und das g e r a d e h i e r so vollkomm e n e gegenseitige Sich-Erläutern d e r einzelnen Künste u n t e r e i n a n d e r zu zeigen — Michelangelos, in d e r H a l t u n g d e r

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» N a c h t « vom G r a b m a l des Giuliano, e i n e r s e i n e r gewaltigsten S c h ö p f u n g e n , d a r g e s t e l l t e L e d a 1 1 allererst w i r k l i c h v e r ständlich i s t : W e l c h e Versunkenheit, w e l c h e V e r k ö r p e r u n g u n g e a h n t e r , u n e r s c h ö p f l i c h e r Tiefen des L e b e n s g e f ü h l s ! W e l c h ' ü b e r w ä l t i g e n d e r E i n d r u c k des Geschlechtlichen als e i n e r f u r c h t b a r e n , ü b e r alles t r i u m p h i e r e n d e n M a c h t ! Welc h e G r ö ß e d e r E m p f i n d u n g ! Kein a n d e r e s W e r k , n i c h t d i e in Seligkeit u n d h o l d e Lust g e t a u c h t e L e d a C o r r e g g i o s , o d e r die zart-innige J o desselben Künstlers, a u c h n i c h t d i e L e d a des Veronese, die doch als das Idealbild d e r sinnlichen Schönheit gilt, u n d die m a n d e s h a l b in e r s t e r Linie z u m Vergleich h e r a n z u z i e h e n g e n e i g t ist, k a n n als G e g e n s t ü c k zu Mozarts Don J u a n a n g e s e h e n w e r d e n . D e n n wie k e i n e m B e s c h a u e r dieser hoheitsvollen, d i a d e m b e k r ö n t e n L e d a Michelangelos a u c h n u r d e r leiseste u n r e i n e G e d a n k e a u f s t e i g e n k a n n , vielm e h r die t i e f e r n s t e kosmische N a t u r des L e b e n s v o r g a n g e s d e r L i e b e s v e r e i n i g u n g u n d die hierin l i e g e n d e Größe d e s G e s c h e h e n s d e r d u r c h a u s b e h e r r s c h e n d e E i n d r u c k ist, so e r s c h e i n t , a n a l o g , Mozarts Don J u a n k e i n e s w e g s als U n g e h e u e r , o d e r als l a s t e r h a f t e r V e r b r e c h e r , o d e r als b l o ß e r f r i voler F r a u e n j ä g e r , d e r m e h r die B e f r i e d i g u n g des Machtgelüstes als d e r L e i d e n s c h a f t s u c h t e , s o n d e r n als die i r d i s c h e V e r k ö r p e r u n g j e n e r d ä m o n i s c h e n , Liebe g e n a n n t e n ,

all-

g e w a l t i g e n , in i h m t r i u m p h i e r e n d e n k o s m i s c h e n U r k r a f t , e r s c h a u t in e i n e r musikalisch-künstlerischen Intuition ohneg l e i c h e n : d e n n so w e n i g Mozart selbstverständlich,

eben

als K ü n s t l e r , aller u n s e r e r P r o b l e m e sich philosophisch-abs t r a k t b e w u ß t g e w o r d e n ist, so sehr h a t e r sie allesamt künstlerisch-intuitiv g e m e i s t e r t 1 3 . G e r a d e die Möglichkeit dieses Vergleichs mit Michelangelo a b e r zeigt, d a ß Mozart a u c h die intensivste u n d i m s c h ä r f s t e n Licht des Geschlechtlichen steh e n d e E r s c h e i n u n g s f o r m des Liebesgefühls, w i e sie diese O p e r darstellt, in e i n e r in d e r Musik völlig e i n z i g a r t i g e n Weise zu v e r e d e l n v e r s t a n d e n h a t .

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Die Zauberflöte

K o m m , h e b e dich zu htthern S p h ä r e n ! Goethe

o n Juan hat sein L i e b e s w e g a b w ä r t s g e f ü h r t — es gibt a b e r auch einen W e g d e r Liebe nach o b e n . Diesen zeigt uns die Zauberflöte : es ist d e r W e g d e r » T u g e n d und Weish e i t « , auf dem T a m i n o und Pamina, das ideale L i e b e s p a a r der O p e r , g e f ü h r t w e r d e n . Und J e d e r , d e r aus d e m Vorliof d e r L i e b e , in w e l c h e m die Kontrastfiguren P a p a g e n o und P a p a g e n a zurückbleiben müssen, in das Heiligtum d e r L i e b e selbst v o r g e d r u n g e n ist, kennt diesen W e g . Denn die L i e b e m a c h t das Herz weit und beflügelt den Geist. W i r d nicht 80

g a r M a n c h e r in d e r L i e b e zum D i c h t e r und Künstler? Macht nicht die L i e b e des Mannes zum W e i b e alle K r ä f t e der Phantasie f r e i , bis zur Verwandlung und Beseelung der toten Materie?

Denn Venus

belebte

das von Pygmalion

ge-

schaffene Mädchenstandbild auf dessen inniges F l e h e n und ließ ihn so ein lebendiges W e i b u m a r m e n , damit e r »mit dem Himmel zugleich die Geliebte s c h a u e « 1 . Und gibt nicht die in d e r Liebesvereinigung selbst liegende Hingabe — »Eins ist nur im Andern sich b e w u ß t « — einen Fingerzeig dafür, daß die L i e b e imstande ist, uns auch nach o b e n , ü b e r unser selbsteigenes W e s e n , d. h . unser egoistisches W o l l e n , hinaus, den W e g der Selbstlosigkeit, des Wohlwollens, d e r tätigen Hilfe, mit e i n e m W o r t e : d e r M e n s c h e n l i e b e , z u f ü h r e n , die sich so oft in u n t r e n n b a r e r Verbindung mit d e r geschlechtlichen Liebe

findet?'

Und was hat das i m tiefsten

Grunde zu b e d e u t e n ? Nichts g e r i n g e r e s , als d a ß der sich b e j a h e n d e Lebenswille, dessen ganzes W e s e n Egoismus ist, g e r a d e aus seinem » B r e n n p u n k t « ,

der

geschlechtlichen

L i e b e , Phänomene e i n e r ganz entgegengesetzten Tendenz, nämlich der Selbstverleugnung, des Opfers, h e r v o r t r e i b t . W e r a b e r mit S c h o p e n h a u e r in dieser Selbstverleugnung und Opferbereitschaft das Kriterium j e d e r ethisch bedeutsamen Handlung e r b l i c k t , der muß sich zu dem tiefsinnigen Gedanken dieses g r o ß e n Ethikers b e k e n n e n — und es ist dies ein gar w e i t t r a g e n d e r und g r o ß e r Gedanke, — daß »ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara s t e c k t « 3 . Als Unterpfand desselben b e t r a c h t e t e Schopenhauer

jene

»Erscheinungen d e r Redlichkeit, d e r Güte, j a , des Edelmutes, und ebenso auch des großen Verstandes, des denkenden Geistes, j a , des G e n i e s « , die nie ganz ausgehen und »uns, wie einzelne glänzende P u n k t e , aus d e r großen dunklen Masse e n t g e g e n s c h i m m e r n «

4

.

»Edelmut und G e n i e « — das ist j e n e » T u g e n d und Weis6

81

heit«, deren Tamino und Pamina nach den läuternden Prüfungen teilhaftig werden. Denn allerdings solcher Läuterung des sündig-egoistischen Willens bedarf e s , um Uber dieses »Sansara«, diese Welt des Verlangens, der Geburt, des Schmerzes, des Alterns, der Krankheit und des Todes, Uber den ganzen J a m m e r und das sttndliche Treiben der Menschenwelt sich erheben zu können. Dies bedarf keiner weiteren Begründung. Das hier Wesentliche ist vielmehr, daß Mozart selbst es war, der dem ursprünglich in niedrigeren Sphären sich bewegenden Text diese ethische Tendenz gab

um sich so die musikalische Möglichkeit tiefster

Enthüllungen seiner, wahren Welt in einem künstlerischsittlichen Bekenntnis ohnegleichen zu geben, und daO ferner in dieser Oper die immer höher, bis zu den höchsten Weihen führende sittliche Vervollkommnung der beiden Liebenden gerade auf dem Grunde der geschlechtlichen Liebe erwächst, deren höchste Funktion hiermit aufgezeigt ist. Denn jetzt ist jene »Vereinigung des Physischen mit dem Göttlichen« Ereignis geworden, aber auf einem ganz anderen W e g e , als Faust diese Synthese erstrebte

Faustens Be-

ginnen mußte scheitern, denn die geschlechtliche Liebe ist und bleibt ihrem Wesen nach durchaus von dieser Welt, sie behält unter allen Umständen ihren dämonischen Grundcharakter, sie ist und bleibt auch in den höchsten Graden, wie Faust dies erfahren hat, der in der Schönheit Gretchens »den Innbegriff von allen Himmeln« sah, der irdische Geist der Gattung, ein Wahn. Die Zauberflöte aber zeigt, daß das an sich durchaus im Egoismus, im »Drang zum Dasein und Wohlsein«', wurzelnde Liebeserlebnis dennoch die Tendenz in sich schließt, den Menschen das Selbstische in sich überwinden zu lassen, ihn zum Opfer bereit zu machen und so jenen »erlösenden« W e g nach oben zu führen, an dessen Ende, nach den läuternden Prüfungen 82

des Lebens, »Tugend und Weisheit« stehen. Dies ist kein Widerspruch zu dem vorhin Gesagten, denn man kann die dfimonische Natur der Liebe durchaus festhalten, die furchtbaren Wirkungen ihrer schrankenlosen Herrschaft sich sehr deutlich machen, und muS doch jenes sich immer wieder in der Erfahrung zeigende »erlösende Prinzip« anerkennen. Und weil dem so ist, weil diese zur Überwindung, zum Opfer, zur »Verneinung« des sQndlichegoistischen Willens hinweisende Entwicklung sogar auf dem Grunde des stärksten Phänomens der B e j a h u n g desselben, eben der Geschlechtsliebe, dem Brennpunkt des Lebenswillens, erwächst, so gibt das jenem Gedanken vom »erlösenden Prinzip in diesem Sansara« eine sehr starke Überzeugungskraft. Daß hierin der tiefste Sinn der Zauberflöte beschlossen liegt, ist in dieser letzten und nur durch Schopenhauer möglichen Abstraktion bisher nirgends, übrigens auch von Schopenhauer selbst nicht, ausgesprochen, um so mehr aber stets gefühlt worden. Aus diesem Gefühl heraus schrieb nicht nur Goethe eine Fortsetzung der Zauberflöte, sondern es ist dieses Gefühl auch der Grund dafür, daß der vom bloßen litterarischen Standpunkt aus in der Tat — auch nach jener geänderten

Grundtendenz des Ganzen — im Ausdruck

manchmal geschmacklose und banale Text der Zauberflötc doch immer wieder neue Verteidiger gefunden hat. Um so heller aber erstrahlt Mozarts Genius, dessen Kunst, alles zu veredeln, gerade in dieser zur Unterhaltung eines Wiener Vorstadtpublikums

bestimmten Oper

ihre

größten

Triumphe feiert. — Noch besteht und wird ewig bestehen die von den höchsten Weihen ausgeschlossene Form der Liebe Papagenos; aber ebenso ewig wird das »erlösende Prinzip«, das Erblühen höchster Menschlichkeit aus jenem dämonischen Ur6*

83

wesen der Welt, jene Verbindung des Physischen mit dem Göttlichen, des Sterblichen mit dem Unsterblichen, gegenwärtig sein, ebenso ewig, wie es von Ewigkeit h e r besteht und wie es die menschliche Seele immer wieder erfühlt und erfährt. Denn nachdem Psyche 8 , durch schwere Prüfungen geläutert, von Merkur zum Himmel und vor Zeus gebracht war, um ihre Hochzeit mit Amor zu feiern, reichte ihr Zeus den mit Nektar gefüllten Becher und s p r a c h :

»Trinke,

Psyche, zur Belohnung deiner ausdauernden Liebe und sei unsterblich! Niemals soll Amor von dir weichen, sondern ewig wird eure Verbindung währen« *. — Im dritten Kapitel wurde Mozart mit Rafiael verglichen: Dieser Vergleich gewinnt einen neuen Inhalt, wenn wir daran denken, daß Raffael, von dem gleichen Geist beseelt wie Mozart, jene Psyche gemalt h a t 1 4 , wie sie, in der Hand das Salbgefäß als Symbol ihrer opferbereiten Liebe hoch emporhaltend, aus der Enge des auseinanderstrebenden Gewölbes nach oben schwebt, der »erlösenden« Weite des Olymp und der ewigen Verbundenheit mit den Göttern entgegen.

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Die eigentümliche Prägung des Mozartschen Genius

W e r saget denn ihr, daB ich sei ? ET. Matth. 16,15.

Einleitendes über die Einmaligkeit jedes Genies

IMatur hat ihn geprägt und dann die Form zerbrochen. Ariost edes Genie, sei es auf dem Gebiete der Philosophie oder der Kunst, hinterläßt der Menschheit einen Schatz, den sie, in diesor Art, nur von ihm erhalten konnte: es ist einmalig und zeigt insofern einen bestimmten Unterschied gegenüber allen übrigen Genies, wie es andererseits mit diesen durch bestimmte Anknüpfungspunkte zusammenhängt. Von diesen letzteren weiß die Geschichte des jedesmaligen Gebietes, also in unserem Fall die Geschichte der Musik, zu berichten, jenes Einmalige hingegen muß aus der betreifenden Gattung

J

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heraus, der jedes Genie angehört, bei Mozart also musikalisch-künstlerisch, erschlossen werden. Hieraus ist zugleich ersichtlich, daß alle Versuche, wahrhaft geniale Geister historisch einzugliedern, aus ihrer Zeit heraus erklären zu wollen, nur sehr bedingten Wert haben, indem eben gerade jenes Einmalige sich jeder historischen Betrachtung verschließt. Ein weltbewegender Geist ist seinem ureigentümlichen Wesen nach eben überhaupt nicht abhängig von einer bestimmten Richtung oder dem jeweiligen Zeitgeist, sondern er erhebt sich durch die Originalität, die Einmaligkeit seines Genius »gleich einem Palmbaum über den Boden, auf welchem er w u r z e l t « 1 . Bevor wir uns nun der eigentümlichen Prägung des Mozartschen Genius zuwenden, sei noch auf folgendes hingewiesen. Das in den ersten vier Kapiteln über das Wesen der Musik und des Genies, sowie über Klarheit, Bedeutsamkeit, und Fülle der musikalischen Gedanken Gesagte, ist zwar, dem Titel des Buches entsprechend, an Mozarts Musik entwickelt worden, und manche Einzelheiten der gefundenen Ergebnisse gelten auch nur für diese; aber im Prinzip gelten diese Ergebnisse von aller cchten Musik und von jedem Genie : Klarheit, Bedeutsamkeit und Fülle der Gedanken sind auch der Musik eines Bach oder Händel, eines Gluck oder Haydn, Beethoven oder Schubert, W e b e r oder Chopin eigen. Und doch wiederum: W e r wird Haydn mit Schubert, oder Händel mit Beethoven verwechseln? Was unterscheidet sie alle voneinander, unbeschadet ihrer prinzipiellen Gleichheit an Klarheit, Bedeutsamkeit und Fülle? Da die Klarheit des musikalischen Gedankens gleichsam nur conditio sine qua non ist *, — dem Scharfsinn des Philosophen entsprechend — die Fülle der Gedanken aber, wiewohl nur dem echten Genie eigentümlich, doch nur deren Quantität betrifft, so muß das Unterscheidende — entsprechend dem 88

Tiefsinn des Philosophen — in der Bedeutsamkeit, deutlicher: in der Art der Bedeutsamkeit der Gedanken liegen. Und diese muß bei jedem Genie in dessen innerstem Wesen selbst begründet sein, wenn wir mit Schopenhauer 9 , dessen Ausfahrungen zwar nur fttr das Gebiet der Philosophie gemacht worden sind, aber mutatis mutandis auch hier analog anwendbar sind den Tiefsinn dabin definieren, daß er seinen Stoff in uns selbst findet, während der Scharfsinn ihn von außen erhalten muß. Dieses innerste Wesen Mozarts, die nur s e i n e m Genius eigentümliche Art, auf der seine Einmaligkeit beruht, aufzuhellen, sie musikalisch-künstlerisch zu erfassen, um sie alsdann zu deuten, ist die Aufgabe des folgenden, letzten Kapitels.

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Mozarts ,, göttliche'' Heiterkeit

O

Unbegreiflichkeit!

Gott hat sich selbst verlorn. Drum will e r wiederum in mir sein n e u g e b o r n . Angelus Silesius

on jeher hat man bemerkt, daß das Grund wesen d e r Mozartschen Musik Heiterkeit ist. Beruht doch das Wort vom »göttlichen« Mozart nicht bloß d a r a u f , daß es licht u m uns und in uns w i r d , sobald seine Töne zu erklingen beginn e n , nicht bloß d a r a u f , daß wir, wie im Erlebnis der L i e b e , alle K r ä f t e d e r Seele in uns frei werden fühlen, sondern eben auf j e n e r ganz eigentümlichen, » g ö t t l i c h e n « Heiterkeit, die, wie ein Funke überspringend, uns vom ersten Tone a n umf ä n g t , und die in dieser Art bei keinem Andern anzutreffen

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ist: Denn das Gleichnis des Ariost von der Einmaligkeit jedes Genies, welches als Motto dem vorigen Kapitel vorangesetzt ist, bewährt sich auch hier. Aber mit dem Wort Heiterkeit ist an und fttr sich nichts gewonnen, ja, es erscheint zunächst mißverständlich, insofern es jene, jetzt glücklicherweise überwundene, MozartAuffassung wiederzugeben scheint, die in Mozart nur den ewig heiteren Sonnenjüngling sah, ohne die in ihm lebende Leidenschaftlichkeit zu bemerken, und die aus seiner Musik nur das Ebenmaß, die Schönheit und den Wohllaut heraushörte, aber für die tragischen Lebenstiefen in Mozarts Seele, von denen sie gleicherweise kündet, kein Verständnis hatte. Mozarts »göttliche« Heiterkeit ist eben nicht bloß die Heiterkeit der »leicht lebenden Götter« Homers 1 , sondern muß noch einen anderen Sinn haben. Dies alles näher zu ergründen, müssen wir nun aber etwas weiter ausholen. Alle Kunst ist im weiteren Sinne »heiter«, denn sie erhebt uns in eine Region, in der kein Schmerz waltet. Darin eben besteht ja das Wesen des Genies, daß es uns, im Kunstwerk, an seinen inneren Gesichten teilnehmen und uns jene Welt der »ewigen Ideen«

1

schauen läßt, in der die Mög-

lichkeit des Schmerzes aufgehoben ist 3 . Deshalb ist ein »Anstrich großer, gleichsam überirdischer Heiterkeit«

4

nicht

nur ein Grundzug im Bewußtsein aller genialen Menschen, sondern ist auch ihren Werken eigen: alle Kunst ist in diesem Sinne »heiter«. Aber die Art der Heiterkeit ist immer verschieden. Ein Beethovensches Scherzo ist in ganz anderer Art »heiter«, als Schuberts Tänze oder ein Menuett von Haydn. J a , man kann sagen, daß gerade Beethoven, dessen Heranziehung bei dieser Untersuchung zur Verdeutlichung des Gemeinten am meisten beiträgt, überhaupt nicht im engeren Sinne heiter ist. Er fuhrt uns, ganz ebenso wie Mozart, in jenes Reich der Schmerzlosigkeit, als derjenigen

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Heiterkeit, d e r , wie g e s a g t , alle Kunst angehiirt, aber sein ureigenstes Grundwesen, das sich durch alle seine Schöpfungen zieht, ist etwas Ernstes, Ringendes, Titanenh a f t e s , ein Aufschwung aus d e r T i e f e , aus welcher e r das Gold seiner Gedanken heraufholt, u m damit d e n Himmel zu e r o b e r n . Er reißt uns bei diesem Flug aus den Düsternissen der Erde bis in seine Iiimmelshöhen fort, a b e r das Kämpferische, das Erschütternde dabei bleibt f ü h l b a r : Beethoven ist nicht heiter. Aber Mozart ist heiter. Was f ü r eine Heiterkeit ist d a s ? Hier bin ich jedoch d e m L e s e r zunächst eine ausdrückliche Erklärung schuldig. Mir ist sehr wohl bekannt, daß man große Genies d e r gleichen Gattung überhaupt nicht vergleichen darf — wenn man sie nämlich in ihrem W e r t e gegeneinander stellen will. Denn mit Recht s a g t Schopenh a u e r s , daß » m a n dabei, fast unvermeidlich, wenigstens für den Augenblick, ungerecht w i r d . Alsdann nämlich faßt man den eigentümlichen Vorzug des Einen ins Auge und findet sofort, daß e r dem Andern a b g e h t ; wodurch dieser herabgesetzt wird. Aber geht man w i e d e r u m von d e m diesem Andern eigentümlichen, g a n z anderartigen Vorzug a u s , so wird man vergeblich nach ihm bei j e n e m Ersteren s u c h e n ; so daß demnach jetzt dieser ebenfalls unverdiente Herabsetzung erleidet«. Weil es mir a b e r hier nicht auf Feststellung eines » V o r z u g s « , auf ein Werturteil, ankommt, sondern nur auf d a s Herausstellen der besonderen Eigenart Mozarts, so ist zur Verdeutlichung dessen ein Vergleich mit andern großen Musikern sehr wohl möglich, ja s o g a r nötig, insofern alles durch Betrachtung des Abweichenden und Gegenteiligen verdeutlicht wird. Ü b e r den Wertunterschied der W e r k e der großen Meister also ist damit nichts g e s a g t . Nur e i n e Trennungslinie bleibt natürlich b e s t e h e n : D e r Wert des Echten, d e m die W e r k e Mozarts, Beethovens,

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Schuberts, und wie die crlauchten ISamen aller dieser Genien lauten, angehören, und der Unwert des Unechten. Daß innerhalb der Gruppe des Echten Mozart für mich eine etwas abgesonderte Stellung einnimmt, daß er für mich den Höhepunkt in der Musik bedeutet, ist eine Sache, die niemanden etwas angeht, wenngleich ich kein Geheimnis daraus mache; denn die Objektivität der Untersuchung, in diesem Kapitel wie überhaupt in dieser ganzen auf einer sehr objektiven Grundlage, nämlich auf Schopenhauer, beruhenden bzw. mit ihm übereinstimmenden Studie, wird hierdurch nicht beeinträchtigt, und wenn für einen Anderen elw.i Bach oder Beethoven, Händel oder Schubert jene Sonderstellung einnimmt, so ist mir das durchaus verständlich. Denn hier, wenn irgendwo, gilt so recht Goethes W o r t :

»Du

gleichst dem Geist, den du begreifst«, oder vielmehr dessen Umkehrung: » D u begreifst den Geist, dem du gleichst«, was für uns so viel bedeutet, als daß zum Erfassen der letzten Eigentümlichkeit eines Kunstwerks allerdings eine »Gleichheit«, eine Gleichgestimmtheit mit dem Urheber desselben gehört, die dann eine gewisse Vorliebe für diesen erzeugt, die also in der eigenen Natur begründet und insofern subjektiv ist, wiewohl sich die gleiche Vorliebe in Andern ebenfalls finden kann und sich hinsichtlich Mozarts ja auch tatsächlich findet. W e r sich in dieser Weise irgend einem der großen Genien, unter voller Anerkennung der Größe der andern, besonders verbunden fühlt, läßt sich diese seine Empfindung nicht als unbegründet nachweisen, aber er drängt sie auch keinem Andern als die einzig mögliche auf und läßt jede andere ähnliche »Subjektivität«, die ja auch wieder in einer Wesens Verwandtschaft begründet ist, durchaus gelten, wenn nur, wie gesagt, jene Trennungslinie des Echten und Unechten bestehen bleibt. Mit anderen W o r t e n : Daß Mozart für mich jene Sonderstellung einnimmt, ist in

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dem genannten Sinne »subjektiv«. Die spezifisch Mozansehe Heiterkeit hingegen, die mir aus seiner Musik entgegengeht, ist schon eine Empfindung, die ich mit sehr Vielen, j a mit den Allermeisten, teile, kann also nicht wohl als subjektive Empfindung angesehen werden. Der Boden des völlig Objektiven aber wird wieder betreten in dem nun folgenden Versuch, den über diese, bisher niemals untersuchte, eigentümliche Heiterkeit gebreiteten Schleier zu lüften, denn dieser Versuch basiert, wie alles Bisherige, auf den Weisheiten der Schopenhauerschen Philosophie, die, wie immer, nicht apfrorismenhaft dastehen, sondern in seinem System begründet sind. In diesem Sinne also ist das Folgende zu verstehen. — »Ewigklar und spiegelrein und eben Fließt das zephyrleichte Leben Im Olymp den Seligen dahin« — * und ebenso scheint uns, den Menschen, beim Anhören d e r Musik Mozarts, das Leben dahinzufließen — klar, rein und leicht. Alle Erdenschwere ist abgeworfen und wir befinden uns wirklich in jener Region der leicht lebenden Götter. Hierauf beruht das »Entzückende« dieser Musik, das sich als leiser Schein des Lächelns, welches natürlich nichts mit Lachen und Lächerlichkeit zu tun hat, sondern der Abglanz inneren Glückes ist, alsbald auf die Gesichtszüge des kongenialen Hörers legt. Diese Wahrnehmung ist, wie ich glaube, nur bei Mozart zu machen, während mir bei der Musik der andern großen Musiker vielmehr ein gewisser Ernst, nämlich jener Ernst der Begeisterung, auf den Mienen der Hörer sich zu zeigen scheint. Und doch, wer bei diesem ersten Eindruck des Entzückenden stehen bleibt, ohne ihn vertieft zu empfinden, hat den eigentlichen Mozart noch nicht erfaßt. Denn an Mozart hat auch der zutiefst Empfindende

94

7

sein Genügen:

man denke an die Urteile eines Beethoven, eines Goethe, eines Schopenhauer. Und der Grund hierfür ist dieser: Das Entzückende der Heiterkeit Mozarts ist vergeistigt, verinnerlicht, und in ihrem duftigen Gewände liegt, bald mehr, bald weniger, sanfte, aber tiefe Melancholie: »Zart Gedicht, wie Regenbogen Wird nur auf dunkeln Grund gezogen: Darum behagt dem Dichtergenie Das Element der Melancholie« sagt Goethe. Denn Mozarts Grundwesen war, wie dies bei allen Genies zu beobachten ist, Melancholie. Besonders war es die Vorstellung des Todes, die ihn seit der Komposition des Don Juan dauernd beherrschte. So schrieb er am 4. April 1787 an den Vater, kurz vor dessen T o d e : » . . . Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr f ü r mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes. Und ich danke meinem Gott, daß er mir das Glück vergönnt hat, mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen. Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, daß ich vielleicht (so jung als ich bin) den andern Tag nicht mehr sein werde; und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, daß ich im Umgange mürrisch oder traurig w ä r e ; und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen jedem meiner Mitmenschen«. Diese Mischung von Todesgedanken mit Mozarts Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit im persönlichen Umgange — denn er war alles andere, als mürrisch oder traurig — diese »Glückseligkeit«, wie Mozart diese Mischung ausdrücklich nennt,

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ist j e n e verinnerlichte Heiterkeit, von der soeben die Rede war, eine Heiterkeit, die nur auf den Gipfeln des Menschentums anzutreffen ist und insofern wirklich »göttlich« genannt werden kann, nun aber nicht mehr in jenem optimistisch-antiken Sinne des zephyrleichten Lebens der Seligen im Olymp, sondern weit darüber hinausgehend. Zwei Gipfel des Menschentums gibt es, wenn wir auch hier Schopenhauer folgen, der selbst hoch oben auf dem einen derselben stand, aber den andern deshalb nicht weniger kannte, wenn auch nur aus der Sehnsucht dessen, der unten steht und nicht hinaufzukommen vermag. Und diese Gipfel sind der geniale und der zur Überwindung des Lebens gelangte Mensch — in Schopenhauers Sprache das Genie und der Heilige. Zwischen beiden besteht, wie es Schopenhauers Tiefsinn zu ergründen vorbehalten war, eine Verwandtschaft, die nicht eingehend* dargelegt zu werden braucht, aber auch nicht unbeachtet bleiben darf, weil sie letzten Endes den Grund für jene Heiterkeit bildet, die auf jenen beiden Gipfeln gleicherweise zu finden i s t : Mozarts Musik kündet, wie ich glaube, von beiden. Unvergleichlich schön und tief hat Schopenhauer, dieser große Seelenkenner, in einem seiner berühmtesten Gleichnisse jene Mischung von Heiterkeit und Melancholie, jene »Glückseligkeit«, wie sie Mozart in jenem Briefe nennt, geschildert. Im Anschluß an die oben zitierten Goetheschen Verse heißt es: »Im ganzen und allgemeinen beruht die dem Genie beigegebene Melancholie darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt. Die so häufig bemerkte trübe Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild am Montblanc, dessen Gipfel meistens bewölkt ist: aber wann bisweilen, zumal früh Morgens, der Wolkenschleier reißt, und nun der Berg vom Sonnenlichte

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r o t , aus seiner H i m m c l s h ö h c ü b e r den W o l k e n , auf Chumouni h e r a b s i e h t , d a n n ist es ein Anblick, bei w e l c h e m J e d e m das H e r z im tiefsten G r u n d e a u f g e h t . So zeigt a u c h das m e i s t e n s m e l a n c h o l i s c h e G e n i e z w i s c h e n d u r c h die n u r i h m m ö g l i c h e , a u s d e r v o l l k o m m e n s t e n Objektivität des Geistes e n t s p r i n g e n d e e i g e n t ü m l i c h e H e i t e r k e i t , die w i e ein Lichtglanz a u f seiner h o h e n Stirne s c h w e b t : in tristitia hilaris, in hilaritate t r i s t i s « 9

(in T r a u r i g k e i t h e i t e r , in

Heiterkeit

t r a u r i g ) : Dies ist d i e H e i t e r k e i t , von d e r die Musik Mozarts k ü n d e t , eine nicht bloß in j e n e r Schmerzlosigkeit liegende, s o n d e r n eine gleichsam positive, e r h e i t e r n d e , e c h t - g e n i a l e H e i t e r k e i t . Und sie h a t ihn n i c h t verlassen, selbst in den t r a u r i g s t e n p e r s ö n l i c h e n Verhältnissen s e i n e r l e t z t e n J a h r e n i c h t . D e n n sie e n t s p r a n g ja s e i n e m u r e i g e n s t e n W e s e n , w a r auf d e m G r u n d e j e n e r Melancholie d e s Genialen e r w a c h s e n , u n d so k o n n t e n u n g l ü c k l i c h e ä u ß e r e Verhältnisse ihr nichts a n h a b e n . Deshalb b e h ä l t a u c h h i e r S c h o p e n h a u e r r e c h t , w e n n e r s a g t , d a ß g e r a d e im M u s i k e r » d e r Mensch vom Künstler ganz getrennt und unterschieden« ist10. Und seltsam, diese Heiterkeit, d e r e n V e r w u r z e l u n g in t r a g i s c h e n L e b e n s tiefen d e m k o n g e n i a l e n H ö r e r d u r c h a u s nicht e n t g e h t , läßt jenes L ä c h e l n d e r Glückseligkeit auf seinen Z ü g e n n i c h t v e r s c h w i n d e n : w a h r l i c h , das u n t r ü g l i c h e Z e i c h e n

einer

»göttlichen« H e i t e r k e i t , die nicht z u m H i m m e l a n s t ü r m t , u m dessen Seligkeit k ä m p f e n d zu v e r d i e n e n , s o n d e r n die diese Seligkeit, diese n u r d e m Gipfel des M e n s c h e n t u m s e i g e n t ü m l i c h e V e r i n n e r l i c h u n g , dieses höchste W e r t e r l e b nis, schon in sich t r ä g t u n d uns vom Himmel h e r u n t e r b r i n g t . Von e i n e m »göttlichen Z a u b e r « s p r a c h R i c h a r d W a g n e r

11

,

und noch eindringlicher und inniger hat Franz Schubert dieses G l ü c k s g e f ü h l a u s g e s p r o c h e n i n seinem T a g e b u c h

11

,

w o es h e i ß t : »Ein h e l l e r , l i c h t e r , s c h ö n e r T a g w i r d dieser d u r c h m e i n g a n z e s L e b e n b l e i b e n . W i e von f e r n e leise hallen 7

97

mir noch die Zauber töne von Mozarts Musik. Wie unglaublich kräftig und wieder so sanft ward's durch Schlesingers meisterhaftes Spiel ins Herz gedrückt, tief eingedrfickt. So bleiben uns diese schönen Abdrücke in der Seele, welche keine Zeit, keine Umstände verwischen, und wohltätig auf unser Dasein wirken. Sie zeigen uns in den Finsternissen dieses Lebens eine lichte, helle, schöne Ferne, worauf wir mit Zuversicht hoffen. O Mozart, unsterblicher Mozart, wie viele, o wie unendlich viele solche wohltätige Abdrücke eines lichten besseren Lebens hast du in unsere Seelen geprägt«. Aber den Höhepunkt erreicht dieses Glttcksgeftthl des Hörers, wenn jene Heiterkeit zur Verklärung wird und nun, wie in den Priester chören und dem Gesang der Geharnischten in der Zauberflöte, überhaupt in den letzten Werken des schon lange vor seinem Tode schwer kranken Meisters, besonders aber im Requiem, von dem andern, letzten Gipfel des Menschentums, dem des Heiligen, zu uns spricht und uns, um mit Piaton 13 zu reden, zu unserer himmlischen Verwandtschaft emporhebt. Nicht etwa, daß Mozart ein Heiliger im eigentlichen Sinne dieses Wortes gewesen wäre, denn dies ist unmöglich: Genie und Heiligkeit haben nämlich nicht bloß, wie wir sahen, eine Verwandtschaft, sondern auch etwas Gegensätzliches. Bei dem Heiligen prädominiert »das bessere Bewußtsein«, also das Überwiegen des Erkennens über die persönlichen, egoistischen Interessen des Wollens, »so ungestört, daß die Sinnenwelt ihm nur gleichsam mit schwachen Farben erscheint . . . Beim Genie ist dagegen ein ebenso lebendiges besseres Bewußtsein begleitet von einem lebhaften Bewußtsein der Sinnenwelt«, in der es einen bestimmten Zweck, nämlich sein Kunstwerk, zu verwirklichen hat. Deshalb kann das Genie »nicht ganz wie der Heilige sagen : »Mein Reich ist nicht von dieser W e l t « , sondern es ist durch einen starken Trieb zur Erfüllung seines

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Berufes gezwungen, in dieser Welt etwas zu suchen«



Ein Heiliger also war Mozart nicht und konnte es nicht sein, aber seine angeborene Herzensgute hat ihn von dem Weg der Tugend, als eben dem W e g , der zur Heiligkeit hinfuhrt, sich nie eigentlich entfernen lassen, und es gilt somit für ihn, was nach der vom Christentum ausgegangenen Erleuchtung 1 6 für jeden, ganz besonders aber für den genialen Menschen gilt, dessen Leben keine bloß-moralische, sondern zugleich eine intellektuell-theoretische Tendenz

11

hat und

deshalb nicht bloß mit dem moralischen Maßstab zu messen ist: »Es kommt g a r nicht auf das an, was getan, sondern auf das, was gewollt wird«. Denn »diese beiden großen alleinigen Seiten des Lebens« sind zu unterscheiden: das Reale, der Wille in jedem Individuum, und das Geschehende, die Begebenheiten der Welt, das Nichtige . . . »Jene ist das heilige Feuer, diese der daraus aufsteigende Rauch, der, bevor e r ins Nichts verschwindet, seltsame Gestalten bildet« 1 ? . Und als dieses heilige Feuer in den Tränen des Lacrymosa des Requiems zu erlöschen begann, da erhob sich Mozarts Kunst zum letzten Male zu jenem letzten Gipfel, um als »innere Freudigkeit und wahre Himmelsruhe«, als »unerschütterlicher Friede und innige Heiterkeit«

18

sich

kundzutun: denn solcherart ist der Gemütszustand des Menschen, der zur Überwindung der Welt durchgedrungen ist. Im Requiem hat Mozarts göttliche Heiterkeit, auch jetzt noch freundlich beglückend, selbst die Schrecken des Todes überwunden. Kein Ringen mit seinem Schicksal tritt uns entgegen, das ihn durch den Tod von seiner Kunst trennte, gerade in dem Augenblick, als seine äußeren Lebensverhältnisse durch günstige Angebote, die ihn aller Not uud Sorge überhoben hätten, sich ä n d e r t e n K e i n e r l e i

Dü-

sternis schwebt über den letzten Gedanken des mit vollem Bewußtsein vom Leben scheidenden Meisters, der dieses 7

99

R e q u i e m , n a c h s e i n e u e i g e n e n W o r t e n , f ü r sich selbst s c h r i e b , und n o c h w e n i g e r liegt in i h n e n Bitterkeit o d e r gai V e r z w e i f l u n g : D e r s t e r b e n d e Mozart w a r z u r Ü b e r w i n d u n g des Lebens g e l a n g t , u n d als d e r e n F r u c h t goß sein Genius h ö c h s t e V e r k l ä r u n g a b e r i h n aus. D e n n dies ist d a s Geheimnis j e n e r w u n d e r s a m e n H e i t e r k e i t , wie sie sich e b e n g e r a d e in Mozarts R e q u i e m so b e s o n d e r s z e i g t : Nicht a u s d e m Bed ü r f n i s , sich in d e n Leiden des L e b e n s mit s e i n e r Kunst zu trösten, wie dies so o f t Goethes Fall w a r , d e r a u s solchei bloß passiven Einstellung z u r W e l t oft s t ä r k s t e A n r e g u n g e r z o g ; a u c h n i c h t , u m , n a c h d e r T i t a n e n a r t Beethovens, »dem Schicksal in d e n R a c h e n zu g r e i f e n « u n d e i n e n letzter Kampf mit i h m a u f z u n e h m e n , h a t Mozart sein R e q u i e m ges c h r i e b e n u n d seine ä u ß e r s t e n K r ä f t e an dessen Vollendung gesetzt

20

, s o n d e r n e r h a t t e das L e b e n ü b e r w u n d e n , u n d aus

dieser Ü b e r w i n d u n g des Lebens ist j e n e Heiterkeit entstanden : deshalb also v e r w a n d e l t e sie alles Leid in mild elegis c h e E m p f i n d u n g u n d stille W e h m u t 1 1 , als j e n e »innige Heit e r k e i t « des z u m F r i e d e n mit sich selbst d u r c h g e d r u n g e n e n u n d insofern » h e i l i g e n « M e n s c h e n . — Hier zeigt sich so r e c h t die schon f r ü h e r

22

erwähnte

Verwandtschaft d e r Kunst mit d e r Ethik, u n d d e r alte Schop e n h a u e r b e h ä l t w i e d e r u m R e c h t , w e n n e r , in seinem letzter W e r k , die Einmaligkeit jedes g r o ß e n Genies nicht bloß ir d e r A u s p r ä g u n g d e r geistigen, s o n d e r n a u c h d e r c h a r a k t e r lichen Individualität f a n d , w e s h a l b »jedes d e r s e l b e n an seinen W e r k e n d e r W e l t ein Geschenk d a r g e b r a c h t h a t , welches sie a u ß e r d e m von g a r k e i n e m A n d e r n in d e r

gesamten

G a t t u n g jemals h ä t t e e r h a l t e n k ö n n e n « 9 3 . W e m aber k o m m t dieses Geschenk z u g u t e ? J e d e m , dei es a n n e h m e n will. D e s h a l b : » W e r O h r e n h a t zu h ö r e n , dei h ö r e . « W e r a b e r so r e c h t hineinzuhören v e r s t e h t in Mozarts Musik u n d g e r a d e d u r c h d a s , w a s an ihr einmalig ist,

100

durch jenes Geschenk, welches er »von gar keinem Andern hätte erhalten können«, sich besonders berührt ftthlt, und wiederum gerade in seinem besten Teil — w e r so recht sagen kann: » D u gabst mir, gabst mir Alles« : dem ist »sein Angesicht im Feuer zugewendet« — im Feuer der Begeisterung, und er steht nun auf der höchsten ihm zugänglichen Höhe. Dann aber wird er nicht nur jenes »Geschenkes«, sondern auch des Opfers innewerden, das jedes große Genie der Menschheit, und damit ihm selbst, gebracht hat. Und es wird vor ihm vielleicht jenes Bild aufsteigen, welches das letzte ist in Mozarts opfer- und entsagungsreichem und. trotz aller seiner Erdenfreudigkeit, innerlich einsamem Leben : der sterbende Mozart allein mit seinem Genius, unverstanden von allen, die ihn gerade in jenen letzten Wochen seines Lebens umgaben und mit denen ihn nur seine Herzensgüte verband, die ihn auch jetzt nicht verließ. Denn obwohl Mozart von Vielen geliebt und bewundert wurde, so wußte doch niemand, w e r er eigentlich war, und daß mit ihm einer der bedeutsamsten Menschen aller Zeiten dahinging. Aber als ob dieser Genius ihn deshalb habe mit sich nehmen wollen, ohne auch nur eine Spur von ihm auf der Erde zurückzulassen, dahin, von w o er mit ihm, vor so kurzer Zeit erst, ausgegangen war, so verschwand was an Mozart sterblich war mit seinem T o d e : Denn das Grab unter seinem Denkmal auf dem Friedhof in Wien ist leer, und niemand weiß, w o sein wirkliches Grab ist. Aber sein unsterbliches Teil, Mozarts göttlicher Genius, ist allezeit unter uns, obschon — »denn mit Göttern soll sich nicht messen irgend ein Mensch« — selbst der ihm am nächsten Stehende sich daran geniigen lassen muß, den Saum seines Gewandes zu berühren.

101

Nachweis der Zitate und Anmerkungen Schopenhauer, auf dem diese Arbeit sich aufbaut, ist ohne jedesmalige Namensnennung, lediglich nach Band und Seitenzahl zitiert, und zwar die Sämtlichen Werke nach der Ausgabe von Hübscher bei Brockhaus, Leipzig, 1937 bis 1030, d e r Handschriftliche

Nachlaß dagegen nach der

Reclamschen Ausgabe. Gs bedeutet die römische Ziffer den betreffenden Band der Sämtlichen Werke, die arabische den des Handschriftlichen

Nachlasses; die hinter dem

Komma stehende Ziffer gibt in beiden Fällen die Seitenzahl an. — Die Anmerkungen, soweit sie rein philosophischen Inhalts sind, haben den Zweck, den Text von solchen Erörterungen zu entlasten, die für dessen unmittelbares Verständnis nicht notwendig sind, aber doch demjenigen, der die im Text gegebenen Grundgedanken Schopenhauers weiter verfolgen möchte, nicht unwillkommen sein werden, insofern sie das angeschnittene Problem im wesentlichen klären.

Zum Vorwort 1

v. Nissen, Biographie W . A. Mozarts, Breitkopf & Här-

tel, Leipzig 1828, Anhang S. 184, 185, 180. 1

4, 4 1 .

3

Hermann Abert, W . A. Mozart, Breitkopf & Härtel,

Leipzig 1910 (Erster Teil) und 1021 (Zweiter Teil), I , XIX. 1

2. 10. 103

Zum Kapitel: Kunst und Künstler — Das Licht als Symbol der Klarheit, Bedeutsamkeit und Unerschöpflichkeit 1

Symposion. — Auch S c h o p e n h a u e r unterscheidet sehr

wohl zwischen einem richtigen »so i s t ' s « und dem aus d e r E r k e n n t n i s d e r letzten Gründe und des innersten Zusamm e n h a n g e s d e r Dinge entstandenen

»so m u ß es s e i n . «

(VI, 1 9 2 ) . 1

Aber so einfach wie das T h e m a dieses Willens, so

s c h w i e r i g ist e s e r f a h r u n g s g e m ä ß , den B e g r i f f desselben zu e r f a s s e n : Der Schopenhauersche Wille ist nicht e t w a bloß das vom E r k e n n e n geleitete b e w u ß t e Wollen und Beschließ e n , sondern vor allem das u n b e w u ß t e S t r e b e n , alles, was m a n u n t e r dem Begriff des Gefühls zusammenfaßt, also alles B e g e h r e n , W ü n s c h e n , V e r l a n g e n , S e h n e n , Hoffen, L i e b e n usw.;

ebenso alles

Nichtwollen,

Widerstreben,

Fliehen,

F ü r c h t e n , T r a u e r n , Schmerzleiden, alles in allem also d e r D r a n g zum L e b e n , e b e n j e n e s Lebensgefühl, unser eigentliches und ursprüngliches W e s e n , das, w i e im T e x t gesagt, nichts kennt als sein Befriedigt oder Nicht-befriedigt. Denn alles, was das e i g e n e Wohl und W e h e , Lust und Unlust, unmittelbar ausmacht, ist offenbar n u r Affektion des Wollens und Nichtwollens, dessen » W i l l e n s « - N a t u r sich

deutlich

z e i g t , wenn es nach außen w i r k t , wo es dann als eigentlicher Willensakt auftritt. — W e r d e r S a c h e noch weiter n a c h g e h e n will, sei darauf hingewiesen, daß Schopenhauers Willensb e g r i f f auch die u n b e w u ß t e , j a

» t o t e « Materie in sich

s c h l i e ß t , und das mußte e r j a wohl a u c h , wenn e r das W e s e n d e r ganzen W e l t erklären soll: S c h o p e n h a u e r versteht u n t e r W i l l e nicht bloß den Willen, wie e r im Menschen erscheint,

104

sondern er erkannte vermöge seiner spezifisch-philosophischen Anlage, nämlich dem Erkennen des gleichen Prinzips in den scheinbar verschiedensten Erscheinungen, daß alle in der Natur treibenden und wirkenden Kräfte ihrem Wesen nach identisch sind mit jenem Willen in uns. Ein und derselbe »Wille« ist es, der allen Erscheinungen der Welt zu Grunde liegt, von der Schwerkraft bis zu den menschlichen Wünschen und Bestrebungen. Denn auch die Schwerkraft, diese unterste aller Naturkräfte, ist in ihrem »Streben«, alle Materie in einen Klumpen zu vereinigen, durchaus wesensgleich jenem im Text dargelegten Streben in der Menschenbrust — eine Analogie ohnegleichen und doch nur das, was Piaton vom Philosophen verlangte, nämlich eben das Erkennen des Identischen in den verschiedensten Erscheinungen. 3

Daß die Musik sich an das Gefühl wendet, ist eine sehr

alte Erkenntnis. Daß aber unsere Gefühle, Affekte und Leidenschaften ihrem Wesen nach nur der von innen im Intellekt sich abspiegelnde »Wille« sind, und daß dieser Wille das Prinzip der Welt, die die Gefühle abbildende Musik mithin das unmittelbare Abbild der Welt ist, diese tiefe, ja letztmögliche Erkenntnis verdanken wir

Schopenhauer.

Und erst hierdurch wird für alle weiteren Forschungen der Horizont frei und der Boden unter den Füßen fest. 4

Auch die übrigen Künste arbeiten darauf hin, das Pro-

blem des Daseins zu lösen, aber sie gehen nicht den im Text geschilderten Weg des Abbilds des Willens selbst, d. h. unserer Gefühle und Empfindungen, sondern den äußeren des Abbilds der »Ideen«, d. h. derjenigen Erscheinungsformen, in denen der Wille sich anschaulich darstellt, und Sache des Künstlers ist es also, diese Ideen, eben zum Zweck ihrer Darstellung, aus der Natur »herauszureißen,« wie Albrecht Dürer sagt. Demgemäß stellt die Architektur die Ideen der Starrheit und Schwere, also gleichsam die tiefsten Grund-

105

töne der Natur, und deren Kampf gegeneinander (indem die Säule dem auf sie drückenden Balken widersteht), dar, weshalb Sttttze und Last ihr einziges und bestfindiges Thema ist; die Skulptur, Malerei und Poesie haben die Idee des Menschen zum Thema, ohne allerdings die untergeordneten Ideen damit auszuschließen (Tierbildhauerei, Landschaftsmalerei, Naturschilderungen). Das Ziel aller dieser Künste also ist die Mitteilung der Erkenntnis dieser Ideen, sie stellen mithin den »Willen« nur mittelbar, eben mittelst der Ideen, dar. Die Musik dagegen übergeht die Ideen, sie ist das unmittelbare Abbild des Willens selbst, nämlich eben unserer Gefühle, Leidenschaften, »Willens «-Bewegungen: nur diese sind f ü r die Musik vorhanden, »und sie sieht, wie Gott, nur die Herzen« (Schopenhauer III, 514). Deshalb ist die Musik die erste der Künste, der Gipfel aller Kunst überhaupt, wie im Text gesagt ist. — Die künstlerisch-ästhetische Kontemplation beruht darauf, daß wir uns über unser »Wollen« (s. Anm. 2) erheben, zum »reinen Subjekt des Erkennens« werden und nun fähig sind, die »Ideen« zu erkennen. Mit andern Worten: Der gewöhnlichen Betrachtungsart erscheinen die Dinge als einzelne, mit uns durch Zeit, Raum und Kausalität verbundene Individuen; in der ästhetischen Betrachtung aber erscheinen sie uns nur nach dem, was sie außerhalb jener Betrachtungsformen, d. h. was sie an sich selbst sind: sie offenbaren ihre Idee. An den Vater, vom 13. Oktober 1781. « Abert, I, 942; 7 Vor der Komposition des Figaro hatte Mozart ungefähr 100 Textbücher geprüft, ohne daß auch nur eines allen seinen Ansprüchen an dramatischer Ausdrucksfähigkeit genügt hätte. s Abert, I, 942. •* VI, 460. 5

106

10

Vom 5 . Dezember 1780.

11

VI, 457.

" Am 26. September 1781. " II, 307. 14

VI, 459.

» m , 52i. 11

Was ihr wollt, am Anfang.

17

Abert, II, 820, wo zugleich das der Situation Angemes-

sene dieses Charakters jener Fuge dargelegt ist. 18

Zu dem Tenoristen Michael O'Kelly, etwa 1786.

» Vgl. Abert, II, 716. 30

Abert, II, 717.

äl

II, 307.

" Der Text enthält über das Wesen und die Tätigkeit des Genies nur das Allerwichtigste; wegen alles Weiteren sei auf Schopenhauers berühmtes Kapitel »Vom Genie« (III, 429ff.) verwiesen. » 4, 205. M

Ein näheres Eingehen auf Schopenhauers Ethik ist hier

natürlich nicht möglich, aber auch nicht unbedingt erforderlich. — Siehe auch Anm. 4 am Ende. » II, 235. :
, 83. Vgl. ebenda, S . 8 4 .

1 1 In diesem Sinne spricht Abert mit Bezug auf Mozarts »geradezu erstaunliche« Kunst des doppelten Kontrapunkts und der übrigen Formen des strengen Satzes als von einer »technischen Meisterschaft«, der aber zugleich eine »Fülle yon Phantasie« eignet, und fährt dann fort: »Man hat niemals den Eindruck, als hätte sich Mozart vorgenommen, dem Hörer einmal gründlich kontrapunktisch aufzuwarten, sondern die kontrapunktischen Partien entwickeln sich mit der Selbstverständlichkeit eines Naturvorgangs . . . « (II,

392f.). " III, 381. « II, 132 ff. " Abert, II, 126. 1 5 C. Drinker Bowen und Barbara von Meck, Geliebte Freundin, Tschaikowskys Leben und sein Briefwechsel mit Nadeshda von Meck, Paul List Verlag, Leipzig, 1938, S. 271f. sowie S. 337 f. 1 ( Westöstlicher Divan, Noten und Abhandlungen (Künftiger Divan, das Buch Hafis).

Zum Kapitel: Die Bedeutsamkeit des Gedankens So schrieb Mozart am 14. Februar 1778 an den Vater: »Hinschmieren könnte ich freilich den ganzen Tag fort, aber so eine Sache kommt in die Welt hinaus, und da will ich halt, daß ich mich nicht schämen darf, wenn mein Name drauf steht«. Hier ist der Unterschied zwischen dem Aufsteigen des Gedankens und dessen Durchbilden deutlich zu erkennen. Vgl. auch Mozarts Äußerung Uber die Musik Voglers (Seite 47, 48). 1

109

- Siehe Abert II, 120, insbesondere Anm. 1 daselbst. 3

4, 339.

4

Siehe Seite 19. Yergl. auch nächtes Kapitel Anm. 4.

5

Siehe Seite 11 und Seite 105, 106.

6

Richard Wagner spricht mit Bezug auf die Zauberflöte

von der »ungezwungenen und zugleich edlen Popularität in jeder Melodie.« Vgl. Kapitel 1 die Notenbeispicle nebst zugehörigem

7

Text. 8

Abert, II, 812. Die Meisterschaft in der Zusammen-

fassung der verschiedensten Stilarten hat Beethoven an der Zauberflöte besonders bewundert. " VI, 457. 10

Der selbe Unterschied findet sich schon bei Piaton:

f|Sovi^, die bloße Unterhaltung, und eOfpooOvri, der wahre, eigentliche Kunstgenuß. Auch Goethe unterscheidet sehr wohl zwischen dem »allgemeinen, unbestimmten Genuß« eines Kunstwerks und dem »wahren Kunstgenuß«, von dem » d i e Menschen nicht begreifen, was f ü r einer anderen Kultur es bedarf, um sich zu diesem zu erheben« (Wilhelm Meister). 11

II, 308f.

12

W e r sich von der Richtigkeit dieser Behauptung über-

zeugen will, lese z. B. Aberts wieder ganz unvergleichlich kongeniale Ausführungen über das 2. Finale im Don Juan (II, 544-552). " VI, 554. 14

Vgl. Abert, II, 813.

18

An den Vater, vom 26. September 1781.

14

Über das Wesen der ästhetischen Kontemplation siehe

Kapitel 1, Anm. 4, am Ende (Seite 106). » VI, 556 f.

110

Zum Kapitel: Die Unerschöpflichkeit der Gedanken I

Siehe Seite 19.

* O l , 463, 464, 465. Vgl. auch Anm. 4 . 4

3

V, 166.

D i e auch d e r echten Philosophie eigentümliche Uner-

schöpflichkeit liegt nicht in d e r begrifflichen Abstraktion, sondern in d e r dieser zu Grunde liegenden Anschauung, die sowohl die künstlerische als auch die philosophische Urerkenntnis ist, nur daß d e r Philosoph seine Anschauungen in Begriffen, die sein Material sind, wiedergibt, d e r Künstler d a g e g e n im K u n s t w e r k : D e r Philosoph läßt uns denken, der Künstler anschauen. Philosophie und Kunst erläutern sich also gegenseitig. (Vgl. Schopenhauer 4 , 4 2 . ) 5

Siehe Seite 25 ff.

0

Albert Leitzmann, Wolfgang Amadeus Mozarts L e b e n

in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen, InselVerlag, Leipzig, S . 70. 7

Moser, a . a . O. S . 197.

0

Gemeint ist die von Mozart f ü r seine J u g e n d g e l i e b t e ,

» III, 467.

Aloysia W e b e r , geschriebene Arie Non so d'onde viene (K—V 294) und die f ü r die Krönung Kaiser Leopolds II. komponierte Oper Titus. 10

Vom 20. April 1782.

» K - V 394. II

Man denke an die ergreifenden Worte Beethovens im

Heiligenstädter T e s t a m e n t : » E s fehlte wenig und ich endigte selbst mein L e b e n — nur sie, die Kunst, sie hielt mich z u r ü c k , a c h , es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, als bis ich alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte. Und so fristete ich dieses elende L e b e n . « >» VI, 9 0 f f . 111

Zum Kapitel: Gegensätze » V, 189 und VI, 4 8 5 . I

Das »willkürliche Spielen mit den Miltein der Kunst«

ist nach Schopenhauer der Grundcharakter der Pfuscherei. (DI, 4 6 6 ) . 3

Shakespeare, W a s ihr wollt, II, 3 .

* Vorspiel zun» Faust. 8

5

VI, 580.

• III, 158.

7

VI, 5 4 7 .

Ebenda, S. 5 4 8 . — Hieraus erklärt es sich, d a ß , obwohl

die Bedeutsamkeit aller Musikwerke Mozarts, von unwesentlichen Ausnahmen abgesehen, sich bis zur Reife ständig gesteigert hat, dennoch die Klarheit des Gedankens von allem Anfang an vorhanden w a r . * Ebenda. II

10

Siehe Seite 11.

S e h r richtig b e m e r k t deshalb Schopenhauer, daß »in

der Musik der W e r t der Komposition den der Ausführung aberwiegt, so daß eine vortreffliche Komposition, sehr mittelmäßig, nur eben rein und richtig ausgeführt, viel m e h r Genuß gibt, als die vortrefflichste Ausführung e i n e r schlechten Komposition. Beim Schauspiel hingegen verhält es sich u m g e k e h r t : Ein schlechtes Theaterstück, von ausgezeichneten Schauspielern g e g e b e n , leistet viel m e h r , als das vortrefflichste, von Stümpern gespielt.« (VI, 4 6 4 . ) 11

4 , 35.

18

VI, 542.

" Zahme X e n i e n .

Zum Kapitel: Über die Liebe und ihre Bedeutung in Mozarts Meisteropern 1

n,389.

«111,588.

3

II,389.

«111,610.

5

S o A b e r t l l , 16.

' Die folgenden Kapitel behandeln das Liebesproblem nur an den jedesmaligen Hauptpersonen, da die Nebcn-

112

personen nur die Aufgabe h a b e n , das llauptliebespaar dramatisch wirkungsvoller h e r v o r t r e t e n zu lassen, und da der G r u n d c h a r a k t e r der betreffenden O p e r , um dessen philosophische Aufhellung es sich handelt, durchaus in den Hauptpersonen sich zeigt. 7

Ein näheres

Eingehen a u f diese Begriffe, wie

über-

haupt auf die S c h o p e n h a u e r s c h e Ethik, ist a u c h an dieser Stelle nicht möglich, a b e r auch nicht durchaus e r f o r d e r l i c h . Siehe j e d o c h Anm. 9 zu diesem Kapitel. 8

So ist z. B . die Gräfin in Figaros Hochzeit ganz Mozarts

Geschöpf: B e a u m a r c h a i s hatte sie als W e l t d a m e aufgefaßt, die in I.iebessachen nicht g e r a d e zurückhaltend ist, a b e r Mozart g e s t a l t e t e sie zu einer durchaus hoheitsvollen Ers c h e i n u n g : »ihre Liebe ist ein r e i n e s , stilles F e u e r , das ihr ganzes Wesen d u r c h g l ü h t « . (Abert, II, 3 1 8 . ) * Die

nähere

Begründung

dieses

Schopenhauerschen

Satzes, die f ü r den mit Schopenhauers Philosophie nicht Vertrauten h i e r h e r gesetzt sei, b e r u h t auf der von Schopenhauer n a c h g e w i e s e n e n moralischen W e l l o r d n u n g , die der physischen zu Grunde liegt. D e r Schlüssel des Verständnisses ist auch in dieser F r a g e d e r im ersten K a p i t e l , b e s . Anm. 2

daselbst, erläuterte W i l l e n s b e g r i f f :

Eine

Meta-

physik nämlich, die das W e s e n d e r W e l t in den » W i l l e n « setzt, ist schon selbst ursprünglich ethisch, nämlich aus dem Stoff der Ethik, e b e n dem Willen, k o n s t r u i e r t . Somit ist »die K r a f t , welche das Phänomen der Welt h e r v o r b r i n g t , mithin die B e s c h a f f e n h e i t derselben b e s t i m m t « ,

nämlich

eben j e n e r W i l l e , aus dem alle menschlichen Handlungen h e r v o r g e h e n , »in Verbindung gesetzt mit d e r Moralität d e r Gesinnung, und d a d u r c h eine moralische Weltordnung als Grundlage d e r physischen n a c h g e w i e s e n . « (III, 6 7 7 . ) Hierdurch hat S c h o p e n h a u e r ein uraltes, schon von S o k r a t e s aufgeworfenes P r o b l e m gelöst. 8

113

Zum Kapitel: Die Entführung aus dem Serail 1

Siehe voriges Kapitel, am Anfang.

* Selbstverständlich abgesehen von d e r Figur des nur als Gegenspieler wichtigen Osmin (siehe weiter unten im Text). * 4 , 156. * Siehe Kapitel 1 über den »Willen zum L e b e n « als Erklärungs-Prinzip d e r Welt, insbes. Seite 1 0 f . und 104f. 5

Der philosophisch Ungeübte fühlt sich durch diese

Feststellung vielleicht betroffen. Deshalb seien folgende Worte Schopenhauers, des unbestechlichen D e n k e r s , hier w i e d e r g e g e b e n , weil er in diesen U r g r u n d , als dessen höchste Erscheinungsform d e r Mensch dasteht, tiefer als jemals ein Anderer vor ihm hinabgesehen h a t : » W e r etwas tiefer zu denken fähig ist, wird bald absehn, daß die menschlichen Begierden nicht erst auf d e m Punkte anfangen können, sündlich zu sein, wo sie, in ihren individuellen Richtungen einander zufällig durchkreuzend, Übel von der einen und Böses von d e r andern Seite veranlassen; sondern daß, wenn dieses ist, sie auch schon ursprünglich und ihrem Wesen nach sündlich und verwerflich sein müssen, folglich d e r ganze Wille zum L e b e n selbst ein v e r w e r f l i c h e r ist. Ist j a doch aller Greuel und J a m m e r , davon die Welt voll ist, bloß das notwendige Resultat d e r gesamten C h a r a k t e r e , in welchen der Wille zum Leben sich objektiviert, unter den an d e r ununterbrochenen Kette der Notwendigkeit eintretenden Umständen, welche ihnen die Motive l i e f e r n ; also d e r bloße Kommentar zur Bejahung d e s Willens zum Leb e n . « (VI, 334.) Schopenhauer hat also das Leiden der Welt nicht weggeleugnet oder beschönigt, sondern b e g r ü n d e t , und nur eine g a n z oberflächliche Betrachtungsart kann verkennen, daß g e r a d e in der rückhaltlosen und furchtlosen

114

Anerkennung dieser Leiden überhaupt erst die Voraussetzung geschaffen ist,.ihnen entgegenzutreten, und daß dieser K a m p f g e g e n das Übel sittliche und kulturelle Erscheinungen von höchster Bedeutung hervorbringt: könnte man wohltätig sein, wenn es auf d e r E r d e kein Leid g ä b e ? Und weil e s solches Leid g i b t : ist d e r Hinweis auf dessen heilig e n d e K r a f t , wie ihn Schopenhauer in seiner »Heilsordn u n g « gibt (III 729ff.), nicht höchst bedeutungsvoll? « II. 180. ' Siehe bes. Abert, I, 947.

" II, 308.

Siehe K a p . 1, insbes. Anm. 4. Vgl. auch S . 111 Anm. 4.

9

10

Wien, Hofmuscum.

Zum Kapitel: Figaros Hochzeit 1

Theogonie V. 116—122.

3

Vgl. Abert, II, 336, Anm. 1.

«4,217.

5

III, 110.

= Siehe Seite 55 ff. • E b e n d a , S . 111.

' Schopenhauers Theorie des Lächerlichen näher darzustellen, ist hier nicht der Ort. Nur d e r Grundgedanke sei mitgeteilt, daß nämlich das L a c h e n jedesmal a u s d e r wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen der abstrakten und der anschaulichen Erkenntnis, entsteht. * Daß die Geschlechtsyerhältnlsse den leichtesten, jederzeit bereit liegenden und auch d e m schwächsten Witz erreichbaren Stoff zum Scherze a b g e b e n , ist nur durch Schopenhauers Theorie des Lächerlichen verständlich und liegt d a r a n , daO g e r a d e ihnen d e r tiefste Ernst zu Grunde liegt (vgl. II, 70 ur.d III, 109). ' Madrid, P r a d o .

115

Zum Kapitel: Don Juan I

Zu E c k e r m a n n , 1829.

a

Zu ReUstab, 1825.

3

Die n ä h e r e A u s f ü h r u n g und B e g r ü n d u n g dieses Ge-

d a n k e n s h a b e i c h in m e i n e r Faust-Studie » Z u m h ö c h s t e n Dasein. Eine philosophische F a u s t - E r k l ä r u n g « , W a l t e r d e G r u y t e r & Co., Berlin, 1938, g e g e b e n . (S. 29—31.) 4

Das N ä h e r e ü b e r diese Unmöglichkeit g e h ö r t n i c h t

m e h r in d e n R a h m e n dieses Buches. Ich verweise auf m e i n e g e n a n n t e F a u s t - E r k l ä r u n g S. 31 u n t e n bis S. 35. » III, 612. 6

E b e n d a , S. 6 1 ö f .

' E b e n d a , S. 631. » E b e n d a , S. 587. 9 10

E b e n d a , S. 440. »Die w a c h s e n d e

Zuneigung zweier Liebenden

ist

eigentlich schon d e r Lebenswille des n e u e n Individuums . . . Sic f ü h l e n die S e h n s u c h t n a c h e i n e r w i r k l i c h e n V e r e i n i g u n g und Verschmelzung zu einem einzigen W e s e n , u m a l s d a n n n u r noch als dieses f o r t z u l e b e n « . ( S c h o p e n h a u e r III, 6 1 3 . ) II

E b e n d a , S. 637.

19

D r e s d e n e r Kopie, G e m ä l d e g a l e r i e .

13

Ein charakteristisches Notenbeispiel a n z u f ü h r e n , wie

•m v o r i g e n Kapitel g e s c h e h e n , ist hier u n m ö g l i c h .

Die

g a n z e Größe d e s D ä m o n i s c h e n , des T r a g i s c h e n , des Hoheitsvollen, d e r g e w a l t i g e n L e b e n s k r a f t , u m die es sich h a n d e l t , das alles l ä ß t sich in e i n e r typischen Einzelheit nicht a n d e u t e n . Die Kirchhofsszene a b e r ist viel zu l a n g , a u c h m ü ß t e die g a n z e P a r t i t u r w i e d e r g e g e b e n w e r d e n . Man lese die klassischen, j e d e Eigentümlichkeit d e r s e l b e n s c h ö p f e n d e n A u s f ü h r u n g e n bei Abert.

116

er-

Zum Kapitel: Die Zauberflöte 1

Ovid, Metamorphosen, Pygmalion.

* Wirklich zu bewundern ist die Weisheit der deutschen Sprache, in der jenes »Ich liebe dich« die Verbindung der geschlechtlichen Liebe und der Menschenliebe bedeutet. 3

VI, 233.

4

Ebenda. Vgl. Kapitel 1, wo das Werk des Genies, näm-

lich das Kunstwerk, als Brücke zwischen der Kunst und der Ethik nachgewiesen ist. 5

Abert (II, 760) begründet diesen Gedanken der Ur-

heberschaft Mozarts so überzeugend, daß hieran ra. E. kein Zweifel bestehen kann. 1

Siehe voriges Kapitel.

7

Siehe Kapitel 1 gegen Anfang.

* Im Märchen des Apulejus: Amor und Psyche. * Ebenda, am Schluß. 10

Wandgemälde in der Villa Farnesina in Rom.

Zum Kapitel: Einleitendes über die Einmaligkeit jedes Genies ' II, 401. * Siehe Seite 30. > V, 51. * Wie sehr diese Analogie begründet ist, ersieht man daraus, daß, wie in der Philosophie der größte Scharfsinn mit Mangel an Tiefsinn vereinbar ist (vgl. Schopenhauer V, 51), in der Musik sehr klare und dennoch bedeutungslose Gedanken möglich sind (siehe Kapitel 2 am Ende).

117

Zum Kapitel: Mozarts »göttliche« Heiterkeit 1

6«Sv ßgla §