Die rechtliche Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen auf der Grundlage des StUG [1 ed.] 9783428483884, 9783428083886

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Die rechtliche Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen auf der Grundlage des StUG [1 ed.]
 9783428483884, 9783428083886

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ALBERT ENGEL

Die rechtliche Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen auf der Grundlage des StUG

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 682

Die rechtliche Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen auf der Grundlage des StUG

Von

Albert Engel

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Engel, Albert:

Die rechtliche Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen auf der Grundlage des StUG / von Albert Engel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 682) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08388-1 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08388-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ®

Vorwort Wer mag das sein? „ ... wo zwei oder drei... versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." (Matth. 18, 20). Richtig, die Stasi.... Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 1994/95 als Dissertation angenommen. Sie ist den Opfern des MfS gewidmet. Da erfahrungsgemäß der Platz eines Vorwortes nicht ausreicht, sich bei all den Personen namentlich zu bedanken, ohne deren Unterstützung die Entstehung dieser Arbeit kaum möglich gewesen wäre, so möchte ich die Gelegenheit wenigstens dazu nutzen, mich „pauschal" - aber ganz herzlich - bei jenen zu bedanken, die in Berlin, Bonn, Köln, Grevenbroich und anderswo mir mit Anregungen, Kritik und Hinweisen zur Seite standen. Grevenbroich, im Januar 1995

Albert Engel

Inhaltsverzeichnis 1 . Teil Der Untersuchungsgegenstand; seine historischen und politischen Wurzeln

27

1. Kapitel Zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des Umgangs mit den Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes I. Die Ausgangslage

27 27

1. Eine brisante Hinterlassenschaft

27

2. Die Durchführungsvereinbarung zum Einigungsvertrag

28

II. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber ist tätig geworden

29

2. Kapitel Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) I. Die Stasi-Akten rücken ins Blickfeld

29 29

II. Eine kontroverse Debatte beginnt

30

III. Eine Zäsur: Der Einigungsvertrag

33

IV. Ein Intermezzo: Zwischen „Beitritt" und StUG; die vorläufige Benutzungsordnung

35

V. Das Verfahren bis zum StUG

36

1. Die Einbringerrunde und die Gruppe BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN

36

2. Parlamentarische Vorarbeiten

38

3. Erste Gesetzentwürfe

39

VI. Beschlußfassung

40

1. Bundestag und Bundesrat

40

2. Das Ende einer schwierigen Arbeit

41

8

nsverzeichnis 2. T e i l Der Staatssicherheitsdienst der ehem. Deutschen Demokratischen Republik (DDR)

43

1. Kapitel Die Entstehung des Staatssicherheitsdienstes I. Die historischen Wurzeln

43 43

1. Karl Marx, Friedrich Engels und die Konspiration

43

2. Der Rückgriff auf Lenin

44

3. Der Aufbau des „illegalen" Apparates in Deutschland

46

4. Der Apparat gegen Ende der 20er Jahre

47

II. DieZeitzwischen 1933-1945

47

III. Ostdeutschland bis zur Gründung der DDR

48

1. Der Neubeginn

48

2. Vorläufer des MfS: Das K5

49

3. Vorläufer des MfS: Der Ausschuß zum Schutz des Volkseigentums

50

IV. Die DDR

50

1. Die Sicherheitsapparate werden umorganisiert

50

2. Vorarbeiten für das MfS

51

3. Die Volkskammer handelt

52

V Das MfS

53

1. Die maßgeblichen Personen des neuen Ministeriums

53

2. Ein schnelles Ende

54 2. Kapitel Das Ende des MfS

I. Die Wende II. Der Zentrale Runde Tisch

55 55 59

III. Die Pläne der Regierung Modrow

61

IV. Der Runde Tisch und die Staatssicherheit

62

nsverzeichnis V. Die Regierung der nationalen Verantwortung VI. Die MfS-Auflösung schreitet voran

63 64

VII. Das Ende der Auflösungsarbeit

65

3. Kapitel Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR? I. Die Sichtweise des MfS

65 65

II. Zum Verständnis der DDR-Sichtweise

66

1. Verdunkelung

66

2. Feindbilder und Unwahrheiten

67

3. Das MfS aus bundesdeutscher Sicht

73

III. Die Antwort

78

4. Kapitel Wie erledigte der Staatssicherheitsdienst die ihm obliegenden Aufgaben? I. Ein erster Einblick

79 79

II. Der Faktor Mensch

79

1. Die Spitzel 2. Einige Beispiele der Spitzeltätigkeit a) Die Ärzteschaft

79 80 80

b) Die Kirchen

81

c) Die Postkontrolle 3. Der ideale Informant

84 85

4. Der „Arbeitsvertrag" mit dem MfS

86

III. Ein erfolgreiches Konzept

88

5. Kapitel Eine Zusammenfassung der historischen und politischen Erwägungen

88

10

Inhaltsverzeichnis 3. T e i l Der Inhalt des StUG

90

1. Kapitel Die einzelnen Vorschriften des StUG (ohne den dritten Abschnitt)

I. Der erste Abschnitt

92

92

1. Der Zweck des Gesetzes

92

2. Auffällige begriffliche Grundlagen

93

a) Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR (BStU)

93

b) Erschlossene Unterlagen

96

c) Öffentliche und nicht-öffentliche Stellen

98

3. § 5 StUG

103

4. Der Unterlagenbegriff in § 6 StUG

107

II. Der zweite Abschnitt 1. Die Erfassung der Unterlagen 2. Die Herausgabe von Unterlagen a) Der Grundsatz umfassender Herausgabepflicht

116 116 117 117

b) Die Unterlagen von anderen ehemaligen DDR-Organisationen

121

c) Der absolute Zugriff des Bundesbeauftragten

122

3. Die Herausgabe von Unterlagen durch den BStU

122

a) Die Pflicht zur Rückgabe von Unterlagen

123

b) Die Herausgabe von Unterlagen

124

c) Folgerungen

125

III. Der vierte Abschnitt 1. Wesen und Rechtsstellung des BStU

125 126

a) Eine normale Verwaltungsbehörde?

126

b) Die Stellung des BStU nach dem StUG

127

c) Vergleich mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz (BfD)

128

d) Der BStU als Archivar; Einflüsse des Bundesarchivgesetzes (BArchG)

129

2. Aufgaben und Befugnisse des BStU

130

a) § 37 StUG - eine Befugnisnorm?

130

b) § 37 StUG - eine Zuständigkeitsnorm?

131

nsverzeichnis 3. Die Beteiligung der ostdeutschen Bundesländer an der Tätigkeit des BStU

132

a) Die Landesbeauftragten (Laba)

133

b) Der Beirat

137

c) Sonstige Einflußmöglichkeiten der Länder

140

4. Der BStU und der Datenschutz

141

5. Folgerungen

143

IV. Der fünfte Abschnitt

144

1. Die Kostenregelung

145

a) Gebühren

145

b) Auslagen

147

2. Das Konkurrenzverhältnis zu anderen Gesetzen

147

3. Strafe und Bußgeld

148

a) Strafe

148

b) Bußgeld

152

4. § 47 StUG

153

5. Inkrafttreten

154

2. Kapitel Schlußfolgerungen

154

4. T e i l Eine frühe Kritik

156

1. Kapitel Die Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR und das StUG I. Der Kern der Gesetzeskritik

156 156

1. Die Aneignung der Vergangenheit

156

2. Die westdeutsche Bevormundung

157

II. Die 10. Volkskammer 1. Die Volkskammer als Revolutionstribunal

158 158

12

nsverzeichnis 2. Der Anspruch der Volkskammer im Hinblick auf die Stasi-Akten a) Das MfS, ein reines DDR-Problem?

161 161

b) Die Bedeutung des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik

162

c) Zwischenergebnis

163

3. Ursachenforschung

163

III. Das Volkskammergesetz über die Stasi-Akten 1. Kritikpunkt: Dezentrale Verwaltung

164 164

2. Kritikpunkt: Vernichtungsregelung

166

3. Zwischenergebnis

168

IV. Die fehlende Berechtigung der Kritik

168

2. Kapitel Die PDS bzw. das BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und das StUG

I. Die PDS

169

169

1. Das Gelöbnis der Besserung

169

2. Der ernsthafte Wunsch zur Mitarbeit

169

3. Der Kern der Kritik

170

4. Die Frage nach der Berechtigung der Kritik

171

a) Die PDS und die parlamentarischen Spielregeln

171

b) Ein konstruktive Kritik

174

c) Fazit

177

II. Das BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN 1. Der Kern der Kritik

177 177

a) Das StUG und die Intentionen der Durchführungsvereinbarung zum Einigungsvertrag 178 b) Mehr Rechte für die ostdeutschen Länder 2. Die Berechtigung dieser Kritik

179 180

a) Die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers für das StUG

180

b) Die Verwaltungszuständigkeit des Bundes

188

c) Resultat

190

III. Folgerungen

191

Inhaltsverzeichnis

13

5 . Teil Der Umgang des StUG mit den Unterlagen nach dem dritten Abschnitt des Gesetzes

192

7. Kapitel Die Rechte der Opfer I. Der Opferbegriff des Gesetzes

192 192

1. Ein elementares Begriffspaar

192

2. Betroffener gleich Opfer

193

3. Ein weiter Opferbegriff

193

II. Alternativen zum gesetzlichen Opferbegriff

195

1. Der Opferbegriff des Alternativentwurfes (Alt-E)

195

2. Kritik am Opferbegriff des Alt-E

195

3. Das Volkskammergesetz und der Opferbegriff

195

4. Ein Zwischenergebnis

196

III. Eine Definition des Opferbegriffs „von innen" heraus (Überlegungen de lege ferenda)

196

1. Der Versuch einer Definition

196

2. Vergleich der Opferbegriffe

198

IV. Die Rechte der Betroffenen nach dem StUG

200

1. Auskunft über den Inhalt vorhandener Unterlagen

200

2. Einsicht und Herausgabe von evtl. vorhandenen Unterlagen

200

3. Sonderproblem: Justizakten und Betroffene

201

4. Anonymisierung / Löschung von Unterlagen

204

a) Die gesetzliche Regelung

204

b) Unterschiede zum Bundesdatenschutzgesetz

210

c) Zur Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung

211

5. Die Rechte von Angehörigen der Betroffenen

215

6. Sonderproblem: Der „gruppenübergreifende" Antrag

216

V. Die Dritten

218

1. Die gesetzliche Definition

218

2. Opfer zweiter Klasse?

218

3. Der Sinn der Differenzierung nach Betroffenen und Dritten

220

14

nsverzeichnis

VI. Sonderproblem: § 12 I StUG

221

VII. Exkurs: Rechtsschutz gegen Entscheidungen des BStU

222

2. Kapitel Die Rechte der Täter I. Die gesetzliche Intention

230 230

1. Der öffentliche Pranger

230

2. Schutz durch den Rechtsstaat

231

a) Schutz durch das BDSG

231

b) Schutz durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung

231

c) Sonstige Vorgaben

237

d) Sonderproblem: Schutz durch den neuen Dienstherrn

239

e) Resultat

243

3. Der Sinn eines Täterzugriffs auf die Unterlagen II. Der Täterbegriff

243 244

1. Eine (neue) Tätertypenlehre

244

2. Die Mitarbeiter des MfS

245

a) Hauptamtliche Mitarbeiter

245

b) Inoffizielle Mitarbeiter

246

c) Sonderproblem: Mitarbeiter des Arbeitsgebietes 1 der Kriminalpolizei

249

3. Der Begünstigte, ein Täter niederer Ordnung III. Die Möglichkeiten der Täter nach dem StUG

250 252

1. Auskunft, Einsicht, Herausgabe

252

2. Auch für Begünstigte

254

IV. Folgerungen

256

3. Kapitel Die Rechte der Medien I. Die Rechtslage ohne das StUG 1. Zugangsanspruch der Presse wegen der Unterlagen

257 257 257

a) aus dem Presserecht

257

b) aus Art. 5 I G G direkt

258

2. Folgerungen

262

nsverzeichnis II. Die Lage, die durch das StUG geschaffen worden ist 1. Die gesetzliche Regelung

262 262

a) Zugriffsbeschränkungen

264

b) Einsicht

265

c) Herausgabe

265

d) Sonderproblem: „Vagabundierende" Unterlagen

266

2. Zwischenergebnis

268

III. Die Verfassungsmäßigkeit der Medienregelung

268

1. Prüfungsmaßstab: Art. 5 I 2 GG

268

2. Das StUG als allgemeines Gesetz

268

3. Die Wechsel Wirkungsprüfung

269

a) unter dem Opferaspekt

270

b) unter dem Täteraspekt

272

4. Resultat

275

5. Prüfungsmaßstab: Art. 3 I GG

275

6. Exkurs: Prüfungsmaßstab: Art. 5 III 1 GG IV. Folgen für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit

277 279

4. Kapitel Die Rechte der Nachrichtendienste im Umgang mit den Unterlagen I. Das Grundproblem

280 280

1. Der unbekannte Machtapparat

280

2. Im Schatten der Öffentlichkeit

280

3. Das Wirken des MfS als Qualifizierung des öffentlichen Mißtrauens

281

4. Die alte Forderung: Kein Zugriff für die Nachrichtendienste

282

II. Die Ausgangslage der Nachrichtendienste

283

1. Die Aufgabenverteilung für die Sicherheitsfunktion nach dem GG

283

2. Der Unterschied: MfS-Nachrichtendienste der Bundesrepublik

283

3. Veränderte Ausgangsbedingungen

286

III. Völliger Ausschluß des Zugriffs 1. Die Verfassungsmäßigkeit eines Zugriffsausschlusses

286 286

nsverzeichnis

16

a) Ausschlußgrundlage: Die informationelle Selbstbestimmung

287

b) Eine zu einfache Lösung

288

c) Die praktische Konkordanz

289

d) Eine Bewertung unter Konkordanzgesichtspunkten

289

e) Folgerungen

290

2. Der differenzierte Zugriff

291

IV. Die Zugriffsrechte der Nachrichtendienste nach dem StUG 1. §8 Abs. 3 StUG

291 291

a) Eine nachrichtendienstfreundliche Norm

291

b) Eine Auslegungskorrektur

292

c) Eine grundrechtsfreundliche Auslegung

293

d) Notwendigkeit einer Klarstellung

294

2. § 11 Abs. 2 StUG

294

a) Das Einstufungsproblem

294

b) Der Sinn der Duplikatregelung

296

3. § 25 Abs. 1 bis 5 StUG

298

a) Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über Betroffene / Dritte . 299 b) Unterlagen ohne personenbezogene Informationen über Betroffene und Dritte 301 c) Sonstige Unterlagen

302

6. T e i l Das Spannungsverhältnis von Tätern und Opfern

303

1. Kapitel Allgemeines

I. Das Grundproblem der Abgrenzung: Wer ist Wer?

303

303

1. Grenzlinie oder Grauzone

303

a) Eine klare Grenze?

303

b) Die Grauzone

304

c) Eine angemessene Differenzierung

305

d) Folgerungen

306

nsverzeichnis 2. Akteninhalt und Vorwerfbarkeit

306

a) Erziehung zur Anpassung

307

b) Ein Volk von potentiellen Spitzeln oder von potentiellen Opfern? Zur Frage der gerichtlichen Beweiskraft der Stasi-Unterlagen 308 c) Eine Kollektivschuld gegenüber dem SED-System II. Folgerungen

318 322

2. Kapitel Der Akteninhalt und die juristischen Sanktionsmöglichkeiten I. Amnestie

323 323

1. Die einfachste Möglichkeit der Aufarbeitung

323

2. Sinn und Unsinn von Fallbeispielen

325

II. Beispiel: Strafrecht

327

1. Ein Fallbeispiel

327

2. Die Grundprobleme strafrechtlicher Verantwortlichkeit

327

a) Die Anwendbarkeit des bundesdeutschen StGB auf DDR-Alttaten

327

b) § 241a) StGB - ein Straftatbestand gegen „inoffizielle Mitarbeit"

329

c) Die Tatortmodalitäten im einzelnen

329

d) Die Prüfung des §24la) StGB

332

3. Das Verjährungsproblem

335

a) Verjährung und Einigungsvertrag

335

b) Verjährung und Inoffizielle Mitarbeiter

338

c) Die Rückgriffslösung

338

d) Das gesetzliche Ruhen der Verjährung

339

III. Folgerungen

345

3. Kapitel Rehabilitation und Vergeltung I. Der Schritt in die Öffentlichkeit II. Rehabilitation 1. Das Grundproblem 2 Engel

346 346 346 346

18

nsverzeichnis 2. Die Un Vollkommenheit der früheren Rechtslage

347

a) Die damalige Ausgangslage

347

b) Das Rehabilitationsgesetz der ehemaligen DDR

348

3. Verbesserungen durch das StUG

351

a) Unterschiedliche Begrifflichkeiten

351

b) Fortentwicklungen

353

III. Vergeltung

356

1. Ein konserviertes Feindbild

356

2. Ein typisches Beispiel

357

a) Die kollidierenden Interessen

358

b) Die Interessenabwägung

361

3. Abwandlungen des Denkmodells

365

a) Statt des Opfers möchte ein Täter aus den Unterlagen etwas veröffentlichen

365

b) Ohne einen konkreten öffentlichen Bezug möchte ein Opfer gegen Entgelt den Inhalt seiner Akte einem Boulevardorgan preisgeben 367 IV. Folgerungen

368

7. T e i l Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

369

374

Abkürzungsverzeichnis Α. Α.; a. A.

andere(r) Ansicht

a. a. Ο.

am angegebenen Ort

Abg.

Abgeordnete(r)

Abs.

Absatz

a. E.

am Ende

a. F.

alte Fassung

AfNS

Amt für Nationale Sicherheit

AfP

Archiv für Presserecht (Zeitschrift)

Alt-E

Alternativ-Entwurf (eines StUG)

Ani.

Anlage

Anm.

Anmerkung

ArbG

Arbeitsgericht

ArbuR

Arbeit und Recht (Zeitschrift)

Art.

Artikel

AuA

Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift)

BAG

Bundesarbeitsgericht

BAGE

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BArchG

Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes (Bundesarchivgesetz) vom 06. Januar 1988 (BGBl. 1988, Teil I, S. 62) i. d. F. vom 13. 03. 1992 (BGBl. 1992, Teil I, S. 506)

BB

Betriebsberater (Zeitschrift)

BDSG

Bundesdatenschutzgesetz; BGBl. 1990, Teil I, S. 2954.

BfD

Bundesbeauftragter für den Datenschutz BGBl. I, II bzw. III Bundesgesetzblatt Teil I, II bzw. III

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

BKA

Bundeskriminalamt

BL-SED

Bezirksleitung der SED

BMI

Bundesminister des Inneren

20

Abkürzungsverzeichnis

BMJ

Bundesminister der Justiz

BND

Bundesnachrichtendienst

BR

Bundesrat

BR-Drucks.

Bundesratsdrucksache

BReg.

Bundesregierung

BSG

Bundessozialgericht

BSGE

Entscheidungen des Bundessozialgerichts

BStU

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik.

BStU-Bericht

1. Tätigkeitsbericht des BStU

BT

Deutscher Bundestag

BT-Drucks.

Bundestagsdrucksache

BT-InnenA

Innenausschuß des Deutschen Bundestags (12. Legislaturperiode)

BT-InnenA-UA

Unterausschuß zur Bewältigung der Stasi-Vergangenheit des Innenausschusses des Deutschen Bundestages (12. Legislaturperiode)

BT-Prot.

Bundestags-(Sitzungs)Protokoll (alle Prot, beziehen sich auf die 12. Legislaturperiode)

BV

Bezirksverwaltung

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfschG

Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz) vom 20. Dezember 1990 (BGBl. 1990, Teil I, S. 2954)

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

bzw.

beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

CILIP

Bürgerrechte und Polizei (Zeitschrift)

CR

Computer und Recht (Zeitschrift)

DA

Deutschland Archiv (Zeitschrift)

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DDR-StGB

Strafgesetzbuch der DDR vom 12. Januar 1968 (GBl. I. S. 1).

DDR-StPO

Strafprozeßordnung der DDR vom 12. Januar 1968 (GBl. I. S. 49)

ders.

derselbe

d. h.

das heißt

dies.

dieselben

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschr.)

Drucks.

Drucksache

Abkürzungsverzeichnis DtZ

Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift (Zeitschr.)

DV

Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland u. der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands Einigungsvertrag - vom 18. September 1990 - Durchführungsvereinbarung - (BGBl. 1990, Teil II. S. 1239)

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschr.)

DVdl

Deutsche Verwaltung des Inneren

DWK

Deutsche Wirtschafts Kommission

ehem.

ehemalige(n)

EV

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellungder Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. August 1990 (BGBl. 1990, Teil II, S. 885)

f.

folgende

FDP

Freie Demokratische Partei

ff.

fortfolgende

Fn.

Fußnote

FO

Führungsoffizier

FOA

Feindobjektakte

Frankfurt (Oder)

s. Werdin, Justus (im Literaturverz.)

FS

Festschrift

GA

Goltdammers Archiv für Strafrecht (Zeitschrift)

GBl.

Gesetzblatt (der DDR, Teil I)

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949; BGBl. I,S. 1.

ggfs.

gegebenenfalls

Gl

Geheimer Informant

G/K

Geiger/Klinghardt (s. Literaturverz.)

GM

Geheimer Mitarbeiter

GMS

Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit

Grds.; grds.

Grundsatz; grundsätzlich

Greifswald

s. Untersuchungsausschuß der Stadt Greifswald (s. Literaturverz.)

GVS

Geheime Verschlußsache

HA

Hauptabteilung (des MfS)

HHG

Gesetz über Hilfsmaßnahmen f. Personen, die aus politischen Gründen außerhalbder Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden (Häftlingshilfegesetz) vom 06. 08. 1955 (BGBl. III 242-1)

22

Abkürzungsverzeichnis

h. M.

herrschende Meinung

Hrsg. ; hrsg.

Herausgeber; herausgegeben

Hsd

Haussicherungsdienst (des BStU)

HVA

Hauptverwaltung Aufklärung (des MfS)

i. d. F.

in der Fassung

i. e. S.

im engeren Sinne

IM

Inoffizieller Mitarbeiter

InnenA

Innenausschuß (des Deutschen Bundestags, 12. Legislaturperiode)

i. V. m.

in Verbindung mit

i. w. S.

im weitesten Sinne

JHS

Juristische Hochschule (Potsdam)

JM

Justizministerium (der ehem. DDR)

J/P

Jarass/Pieroth (s. Literaturverz.)

JR

Juristische Rundschau (Zeitschrift)

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift)

JZ

Juristenzeitung (Zeitschrift)

Kl

Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei der Volkspolizei

KG

Kammergericht

KJ

Kritische Justiz (Zeitschrift)

KL-SED

Kreisleitung der SED

KreisG

Kreisgericht

krit.

kritisch

Laba

Landesbeauftragte (für die Stasi- Unterlagen)

LAG

Landesarbeitsgericht

LG

Landgericht

LKV

Landes- u. Kommunal Verwaltung (Zeitschrift)

Ls.

Leitsatz

LT

Landtag

LT-Drucks.

Landtagsdrucksache

MAD

Militärischer Abschirmdienst

MdB

Mitglied des Bundestages

Mdl

Ministerium des Inneren (der ehem. DDR)

MDHS

Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (s. Lit.)

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift)

MEW

Marx-Engels-Werke

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NJ

Neue Justiz (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis NJW

Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht (Zeitschrift)

Nr.

Nummer

η. v.

nicht veröffentlicht

NVA

Nationale Volksarmee (d. ehem. DDR).

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift)

NZA

Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht (Zeitschrift)

OibE

Offizier im besonderen Einsatz

o. J.

ohne Jahresangabe

OLG

Oberlandesgericht

o. O.

ohne Ortsangabe

OPK

Operativer Personen Kontrollvorgang

OV

Operativer Vorgang

OVG

Oberverwaltungsgericht

OVGE

Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Münster

PDS

Partei des Demokratischen Sozialismus

PersR

Der Personalrat (Zeitschrift)

PKZ

Personenkennzeichen

Prot.

Protokoll

rd.

rund

Rdnr.

Randnummer

Reg-Ε

Regierungsentwurf (eines StUG)

RehaG

Rehabilitationsgesetz, vom 06. September 1990 (GBl, DDR I, S. 1459)

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

Rostock

s. Unabhängiger Untersuchungsausschuß Rostock (s. Literaturverz.)

s.

siehe

S.

Seite

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

S/D

Schmidt/Dörr (s. Literaturverz.)

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SED-UnBerG

SED-Unrechtsbereinigungsgesetz (1. SED UnBerG, BGBl. 1992, Teil I,S. 1814)

S/H

Seifert / Hömig (s. Literaturverz.)

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung (Zeitschr.)

SMAD

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

sog.

sogenannte(n)

24

Abkürzungsverzeichnis

Sp.

Spalte

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Stasi

Staatssicherheitsdienst (der ehemaligen DDR)

StÄG-DDR

6. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR vom 29. 06. 1990; (GBl. 1990, S. 526ff.)

StGB

Strafgesetzbuch, vom 15. Mai 1871; (RGBl. S. 127), i. d. F. vom 11. Ol. 1993 (BGBl. 1993 Teil I, S. 50)

StPO

Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 (RGBl. S. 253) i. d. F. vom 11. 01. 1993 (BGBl. 1993 Teil I. S. 50)

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

StUÄndG

(Erstes) Gesetz zur Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes vom 22. Febr. 1994 (BGBl. 1994 Teil I. S. 334); Zweites Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagengesetzes vom ... 1994 (BGBl 1994 Teil I, S.1748

StUG

Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz StUG) vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I, 1991, S. 2272)

StUG-E

Entwurf des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

StrVert

Strafverteidiger (Zeitschrift)

Suhl

s. Aktiv Staatsicherheit der zeitweiligen Kommission des Bezirkstags Suhl für Amtsmißbrauch und Korruption (s. Literaturverz.)

SVG

Sicherungsvorgang

TV

Teilvorgang (innerhalb eines ZOV)

u. a.

unter anderem

UM; U-Mitarbeiter

Unbekannter Mitarbeiter

VA

Verwaltungsakt

VerwArch

Verwaltungsarchiv (Zeitschrift)

VerjährungsG

Verjährungsgesetz

VG

Verwaltungsgericht

Vgl.; vgl.

vergleiche

VK

Volkskammer

VK-Prot.

Volkskammer-(Sitzungs)Protokoll

Volkskammergesetz/ VolkskammerG

Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit / Amtes für Nationale Sicherheit vom 24. August 1990 (GBl. DDR Teil I, S. 1419)

vorl.

vorläufig(e)

VS

Verschlußsache

VVDStRL

Veröffentlichungen (Schriftenreihe)

V-Vorgang

Untersuchungsvorgang (MfS; Linie IX)

der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer

Abkürzungsverzeichnis WS VwGO

Vertrauliche Verschlußsache Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 (BGBl. 1960, Teil I, S. 17) i. d. F. vom 11. 01. 1993 (BGBl. 1993, Teil I, S. 50)

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25. Mai 1976 (BGBl. III 201-6)

WRV

Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 - Weimarer Reichsverfassung - (RGBl. 1919, S. 1383).

Z.B.; ζ. B.

zum Beispiel

ZER

Zentrales Einwohperregister (der ehem. DDR)

Ziff.

Ziffer

ZIP

Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschr.)

zit.

zitiert (als bzw. nach)

ZK

Zentralkomitee (der SED)

ZOV

Zentraler Operativer Vorgang

ζ. T.

zum Teil

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik (Zeitschr.)

ZVOB1.

Verordnungsblatt für die sowjetische Besatzungszone

Z. Zt. ; z. Zt.

zur Zeit

l.Teil

Der Untersuchungsgegenstand; seine historischen und politischen Wurzeln 1. Kapitel

Zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des Umgangs mit den Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes I. Die Ausgangslage 1. Eine brisante Hinterlassenschaft Die Wiedervereinigung Deutschlands ist das bedeutsamste historische Ereignis dieser Jahrhunderthälfte für alle Deutschen. Jedoch wurde diese Vereinigung mit so großer Geschwindigkeit vollzogen, daß ein „harmonischer" Beitritt der fünf neuen Bundesländer und damit der Untergang der ehemaligen DDR nicht hinreichend politisch und juristisch vorbereitet werden konnte. Der Druck der Öffentlichkeit zu einer raschen Wiedervereinigung hat verhindert, daß die ehemalige DDR vor ihrem Untergang noch alle ihre Angelegenheiten ordnen konnte. Dafür spricht schon der Umstand, daß der Einigungsvertrag 1 (EV) im wesentlichen nur Vorbehalte für die Rechtsangleichung in den neuen Bundesländern enthält, denen sich der gesamtdeutsche Gesetzgeber nach dem Beitritt stellen mußte. Eine dieser Hinterlassenschaften des ehemaligen SED-Staates, die im EV nicht abschließend gewürdigt wurde, ist aber die wohl menschlich brisanteste. Die Rede ist von dem ca. 180 km hohen Aktenstapel2, den das ehemalige Ministerium für Staatssicher1

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. 08. 1990, BGBl. 1990 Teil II, S. 885ff. 2 Die Umfangsangabe stammt aus: BStU-Bericht, S. 5; anders: Staatssekr. Lintner, BTProt. (57. Sitzung), S. 4675 (4720): über 200 km. Anmerkungen aus BT-Prot. betreffen stets die 12. Legislaturperiode; es sei denn, es ist etwas anderes angegeben. Wieder einen anderen Umfang gibt an: DER SPIEGEL, Nr. 26, 1991, S. 91; dort „nur" 168 km; vgl. aber auch die spätere Korrektur in: DER SPIEGEL Nr. 1/1992, S. 24 (25). Wieder anders: Gauck, S. 11, dort insgesamt 180 km. Ähnlich: Hirsch, Baumann-FS, S. 517 (518). Nach den Erläuterungen zu den Anlagen zum EV sind das ca. 8 Mio. Akten. Vgl. BT-Drucks. 11/7811, S. 2.

28

1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

heit/Amt für nationale Sicherheit (MfS/AfNS) im Zuge seiner rd. 40jährigen Tätigkeit anhäufte, und dessen Inhalt zu einem nicht unerheblichen Teil personenbezogener Natur ist. 3 Der Aufarbeitung dieser schwierigen, weil historisch beispiellosen „Altlast" ist eine besondere Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages 4 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR (DV) gewidmet. 2. Die Durchführungsvereinbaruiig zum Einigungsvertrag In Art. 1 dieser DV werden die Grundzüge dargetan, an denen sich die gesetzliche Regelung des gesamtdeutschen Gesetzgebers zu „der Frage der weiteren Vorgehensweise hinsichtlich der von dem ehemaligen Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik gewonnenen personenbezogenen Informationen"5 zu orientieren hat. Die wichtigsten dieser Vorgaben lauten: - Der gesamtdeutsche Gesetzgeber hat die Grundsätze, die in dem von der Volkskammer der ehemaligen DDR am 24. 08. 1990 verabschiedeten Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit festgehalten sind, umfassend zu berücksichtigen (vgl. Art. 1 Nr. 1 DV). - Der gesamtdeutsche Gesetzgeber muß gewährleisten, daß die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS gewährleistet bleibt (vgl. Art. 1 Nr. 2 DV). Mötsch, Helmrich-FS, S. 95 (99) spricht bildhaft von einem „Mount Everest aus Papier". Nach Gauck, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 22f. lagern in Berlin - der Zentrale - etwa 80 km; der Rest verteile sich, so Gauck, auf die 14 Außenstellen. Von dem Gesamtmaterial habe er 53 km in geordnetem Zustand übernommen. Der Rest, der ζ. B. gerade in Büros des MfS im Gebrauch war, bis die Bürgerkomitees auf den Plan getreten wären, sei entweder systematisch „verunordnet" oder zerissen worden. Im Zentralarchiv befänden sich allein 17.200 Säcke zerrissenen Papiers. 3 Vgl. Schulze-Fielitz, DVB1. 1991, 893 (901). Danach bestehen die Unterlagen zu einem Fünftel (lt. Gauck, S. 11 sind das 6 Mio. Personendossiers) aus personenbezogenen Unterlagen. Überwiegend handelt es sich um Sachakten, das heißt ζ. B. Befehle, Weisungen usw. Schulze-Fielitz spricht (a. a. O.), soweit es personenbezogene Unterlagen angeht, von der „Büchse der Pandora", die, von Ausnahmen abgesehen, geschlossen bleiben sollte. Die Dimension des Problems ist aber von politischer Seite zunächst erheblich unterschätzt worden. „Man kann ohne jede Not zwei-, dreihundert Studenten in den Semesterferien einsetzen, die unter fachkundiger Leitung das aufarbeiten ... mir kann niemand erzählen, daß man diese Akten nicht innerhalb von wenigen Monaten öffnen kann ..."; Gerster (MdB, Innenausschuß), Bonn Direkt (ZDF) vom 03. 03. 1991. 4 Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. 08. 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 18. 09. 1990; BGBl. II, S. 1239. 5 Vgl. Art. 1 Satz 1 d. Vereinbarung (Fn. 4).

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

29

- Der gesamtdeutsche Gesetzgeber muß einen angemessenen Ausgleich schaffen zwischen der vorgenannten Aufarbeitung, den individuellen Rechten der Betroffenen und dem Schutz des einzelnen vor unbefugter Verwendung seiner persönlichen Daten (vgl. Art 1 Nr. 3 DV). - Jeder Betroffene soll ein Auskunftsrecht haben, jedoch unter Wahrung der schutzwürdigen Interessen Dritter (vgl. Art. 1 Nr. 6 DV). - Die Nutzung der Akten durch die Nachrichtendienste der Bundesrepublik soll bis auf unumgängliche Fälle im Rahmen der Strafverfolgung ausgeschlossen sein. Gleiches soll für die Übermittlung von Daten an die Nachrichtendienste gelten (vgl. Art. 1 Nr. 8 DV).

II. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber ist tätig geworden Mittlerweile hat der 12. Deutsche Bundestag als erster gesamtdeutscher Gesetzgeber am 14. 11. 1991 ein entsprechendes Gesetz (StUG) beschlossen,6 welches den Umgang mit den Stasi-Akten regeln soll. Ob der Gesetzgeber damit den genannten Vorgaben der Zusatzvereinbarung zum EV Genüge getan hat oder nicht, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Bevor diese Frage näher erörtert wird, soll zunächst dargestellt werden, welche Überlegungen dem Gesetz vorangegangen sind, um dann die historische und politische Dimension des angehäuften Aktenberges zu beleuchten, damit einem unbefangenen Betrachter klar wird, mit welcher Skrupellosigkeit sich die ehemalige DDR über ihre „Untertanen" informierte und mit welchem ausgeklügelten Apparat - dem MfS - sie die Menschen kontrollierte.

2. Kapitel

Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) I. Die Stasi-Akten rücken ins Blickfeld Nach der „stillen Revolution" in Deutschland im Spätsommer/Herbst 1989 und dem Zusammenbruch des gesellschaftlichen Systems in der ehemaligen DDR wurde die Frage nach der Zukunft der Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR akut. Obwohl sich seit Herbst 1989 vor allem Bürgerkomitees in verschiedenen Orten der ehemaligen DDR um eine kontrollierte Auflösung der Staatssicherheit bemühten, konnte sich das MfS weitgehend in eigener Regie auflösen. 6

Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz - StUG) vom 20. 12. 1991; BGBl. I 1991 S. 2272; im folgenden als „StUG" zitiert.

30

1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

Dies hieß seinerzeit, daß das MfS den geänderten Verhältnissen angepaßt werden sollte. So sollte nach einem Plan der Regierung Modrow im Dezember 1989 die definitive Auflösung des MfS dadurch verhindert werden, daß sie anordnete, einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst zu bilden.7 Diese beiden Neugründungen sollten dann die Akten des MfS übernehmen.8 Dieser Plan, wie auch andere, waren aber im untergehenden SED-Regime nicht mehr durchzusetzen. Was blieb, war ein Berg von personenbezogenen Unterlagen und die große Befürchtung, daß ehemalige Mitarbeiter des MfS einen negativen Einfluß auf die weitere Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens nehmen könnten, zum Beispiel an leitender Stelle in Staat, Wirtschaft, Kultur und Politik der neuen Länder, wenn sie nicht beizeiten enttarnt würden. 9 Auch den Opfern des MfS mußte man Gerechtigkeit in Form von Information und Rehabilitierung angedeihen lassen. Daher kam es nicht in Betracht, das Problem der Akten, die durchweg auf rechtswidrige Weise entstanden waren, durch Vernichtung zu lösen.10

II. Eine kontroverse Debatte beginnt An diesem Punkt entzündete sich die Debatte über die Zukunft der Akten des MfS. Schon einige Wochen nach der Wende in der DDR beschäftigten sich der Runde Tisch - Arbeitsgruppe Sicherheit - und die Bürgerkomitees mit diesem Problem. Ein erstes Ergebnis der Beratungen war, daß alle personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS grundsätzlich zu sperren seien.11 Zu dieser Zeit war man sich weitgehend einig, daß eine endgültige Regelung erst von einer frei gewählten Volkskammer getroffen werden dürfe. Bis dahin sollte das Aktenmaterial unter der Kontrolle von Beauftragten des Runden Tisches und der Bürgerkomitees

7 Beschluß des Ministerrats Nr. 6/18.a/89 vom 14. 12. 1989; Dienstsache Nr. 816/89. Dieser Beschluß wurde dann durch den Beschluß des Ministerrates vom 13. 01. 1990 Nr. 9/1.b/ 90 dahingehend abgeändert, daß nur noch ein Nachrichtendienst gebildet werden sollte. Auf den Verfassungsschutz wurde verzichtet; vgl. Ziff. II/5 des Beschlusses. « Vgl. Köppe, BT-Prot., S. 4675 (4687); MfS, S. 73; Schell/Kaiinka, S. 341 ff. Tatsächlich scheint dies auch vielen ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS gelungen zu sein; vgl. Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (588f). Allerdings sollte man bedenken, daß im öffentlichen Dienst Westdeutschlands und in der Wirtschaft Ex-Stasi-Mitarbeiter „sehenden Auges" übernommen bzw. „eingekauft" wurden; vgl. Schlomann, a. a. O. (590). Er folgert (a. a. Ο.): „Es wäre allerdings viel angenehmer, wenn Gesamt-Deutschland ohne Stasis in Politik, Verwaltung und Rechtsprechung auskäme ! ... „ 10 Vgl. Gerster, BT-Prot., S. 4675 (4692); Schwanitz, ebenda (4680); vgl. dazu auch Gill/ Schröter, S. 279f; Hirsch, Baumann-FS, S. 517 (518); ders., in: Hassemer/Starzacher-Hirsch, S. 55 (57); Büchner, in: Hassemer/Starzacher-Büchner, S. 48 (51 f.); Staff, in: Hassemer/Starzacher-Staff, S. 63. Α. Α.: Germann, Zwiegespräch Nr. 1, 19 (26); Ackerman, in: Hassemer/ Starzacher-Ackerman, S. 44 (47); Diestel, bei: G/K, Einl. Rdnr. 19. 9

11 Vgl. Gill/Schröter, S. 285; die auch auf einen bestätigenden Ministerratsbeschluß vom 08. 02. 1990 verweisen, allerdings ohne Fundstellenangabe.

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

31

in Verwahrung genommen und geordnet werden. 12 Die neue, am 15. 03. 1990 gewählte Volkskammer setzte, aufgrund eines Antrags aller Fraktionen vom 31. 05. 1990,13 am 07. 06. 1990 einen Sonderausschuß zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS ein, der am 21. 06. 1990 seine Arbeit aufnahm. Neben Parlamentariern gehörten auch Vertreter der Bürgerkomitees mit beratender Stimme zu seinen 11 Mitgliedern. 14 Der Vorsitzende dieses Ausschusses war Joachim Gauck, derzeit Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Einer der Schwerpunkte der Ausschußarbeit war die Erarbeitung eines Gesetzes über den Umgang mit den personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. Eine gesetzliche Regelung gab es bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Die wesentlichste Erkenntnis, die während der Beratungen gewonnen wurde, war das Postulat, daß die Handlungsweisen des MfS dringend durchleuchtet werden mußten. Nicht zuletzt im Interesse der ehemaligen Opfer mußte der öffentliche Zugang zu den Akten gewährleistet und eine weitere Bearbeitung der Akten durch westdeutsche Nachrichtendienste ausgeschlossen sein. Jedoch war es nicht der Sonderausschuß, der sich zuerst mit einem entsprechenden Gesetzentwurf befaßte. Die von der Koalitionsregierung de Maizière eingesetzte Regierungskommission zur Auflösung des MfS/AfNS beriet am 05. 07. 1990 erstmals einen Gesetzentwurf für ein StUG, den sie hatte erarbeiten lassen.15 Dieser Gesetzentwurf trug bereits dem genannten Postulat Rechnung. Der Entwurf war aber bereits überarbeitet worden - und zwar unter maßgeblicher Beteiligung des Bonner Innenministeriums 16 - , als am 12. 07. 1990 die Regierungskommission unter Beteiligung des Sonderausschusses der Volkskammer die zweite Beratung des Entwurfs abhielt. Der überarbeitete Entwurf sah u. a. vor, daß die Lagerung und Verwaltung der personenbezogenen Unterlagen zentral geschehen sollte. Am 19. 07. 199017 brachte der Ministerrat der DDR den Entwurf als Gesetzesvorlage in die Volkskammer ein. Die erste Lesung des Gesetzentwurfs fand am 22. 07. 199018 statt. 12 Vgl. zum Beispiel den Beschluß des Ministerrates der (ehemaligen) DDR vom 23. 01. 1990 - ... / I A/90, dort Anlage III betr. die Behandlung von Schriftgut. 13 Dieser Antrag war nur das Endprodukt gemeinsamer Verhandlungen von Regierung und Bürgerbewegung; die Schaffung eines Sonderausschusses war bereits Mitte Mai 1990 praktisch beschlossene Sache, vgl. den Beschluß des Ministerrates - 6/6/90, Dienstsache 438/90 vom 16. 05. 1990, dort Nr. 19.

14 Vgl. Gill/Schröter, S. 281; MfS S. 75; Gauck, S. 85; ders. in: Hassemer/StarzacherGauck, S. 17 (19); Saathoff, S. 69. 15 Vgl. die Darstellung bei Gill/Schröter, S. 285. Diese Kommission hatte ihre konstituierende Sitzung am 30. 05. 1990. Ihre Bildung geht zurück auf einen Beschluß des Ministerrates vom 16. 05. 1990; vgl. Gill/Schröter, S. 261. 16 Gill/Schröter, S. 286 berichten, daß Eckhard Werthebach, seinerzeit beim BMI, maßgeblich an der Überarbeitung mitwirkte. Werthebach ist seit 01. 03. 1991 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. 17 Volkskammer Drucks. Nr. 165; lt. Gill/Schröter, S. 286 wurde der Entwurf erst am 20. 07. 1990 in die Volkskammer eingebracht. 18 Bezeichnenderweise an einem Sonntag. Es war die 27. Tagung der Volkskammer in ihrer 10. und letzten Wahlperiode.

32

1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

„Die Beratung, die offenbar darunter litt, daß die Abgeordneten nur wenig Zeit gehabt hatten, sich mit dem Text umfassend vertraut zu machen, machte deutlich, daß es Bedenken vor allem hinsichtlich der zentralen Lagerung der personenbezogenen Daten gab." 1 9 ' 2 0 Die Volkskammer verlangte denn auch eine Überarbeitung des Entwurfs und überwies die Vorlage zu diesem Zweck federführend an den Sonderausschuß.21 Dieser erarbeitete einen neuen Entwurf, 22 an dessen Zustandekommen auch Vertreter der Regierungskommission, des Ost-Berliner Justizministeriums und der West-Berliner Datenschutzbeauftragte beteiligt waren. 23 Der neue Entwurf sah u. a. die dezentrale Lagerung der Stasi-Akten in Sonderarchiven der Länder vor 24 , wobei jedes Land einen Beauftragten durch den Landtag wählen sollte. 25 Am 16. 08. 1991 wurde die Bundesregierung in Bonn von der Regierungskommission in Ost-Berlin gebeten, zu dem neuen Gesetzentwurf eine Stellungnahme abzugeben. Dies geschah durch den BMI per Telefax am 21. 08. 1990 an das Ministerium des Innern der DDR. 2 6 Die Stellungnahme fiel eindeutig negativ aus. Die Bundesregierung beharrte u. a. auf einer zentralen Lagerung und Verwaltung der Unterlagen. Ferner sollte es nur einen Sonderbeauftragten geben.27 Auch sollte es nach dem Willen der Bundesregierung eine differenzierte Vernichtungsregelung geben. Doch vertrat der Sonderausschuß der Volkskammer den Standpunkt, es sei „unrealistisch anzunehmen, daß die Arbeiten mit den Unterlagen sich über Jahre erstrecken werden. Deshalb fehlen in diesem Gesetz Vernichtungsvorschläge." 28 Bundesregierung und Volkskammerausschuß waren also völlig unterschied19 Gill/Schröter, S. 286; vgl. auch Göttsching, VK-Prot., 27. Tagung, S. 1206 (1256); Clemens, ebenda, (1256); Geisthardt, ebenda, (1261); Schumann, ebenda, (1258); Haschke, ebenda (1259). 20

Insgesamt hat der Zeitmangel der Volkskammer, die Wahlperiode dauerte nur knapp 6 Monate, des öfteren die Beratungen beeinträchtigt; vgl. zum Beispiel die Schilderung bei: Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, S. 450, (454f.), wo geschildert wird, wie das Mantelgesetz (Volkskammer Drucks. 10/29) „beraten" wurde. 2 1 Vgl. auch Höppner, VK-Prot. S. 1206 (1258); Haschke, ebenda, (1259); Opitz, ebenda (1260); der entsprechende Beschluß samt Abstimmung befindet sich auf Seite 1262 des VKProt. 22

Volkskammer Drucks. Nr. 165a) vom 24. 07. 1990, zugleich mit der Empfehlung des Sonderausschusses an die Volkskammer, den neuen Entwurf zu beschließen. 23 Vgl. die Darstellung bei Gill/Schröter, S. 286. 24

Vgl. § 3 des Entwurfs, Volkskammer Drucks. Nr. 165a). Seite 3. Vgl. § 5 II des Entwurfs, Volkskammer Drucks. Nr. 165a, Seite 4. 26 Verfasser dieser Stellungnahme ist der bereits erwähnte Eckhard Werthebach; das Fax ist wörtlich zitiert bei: Gill/Schröter, S. 287. 25

27

In dem Fax wurde vorgeschlagen, mit dieser Aufgabe den Präsidenten des Bundesarchivs in Personalunion zu beauftragen, vgl. den bei Gill/Schröter, a. a. O. zitierten Wortlaut. 28 Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1434 (1453). Paradoxerweise hat Gauck dann aber später gegenüber: DER SPIEGEL Nr. 46/1991, S. 26 (31) wörtlich zugegeben:"... Wenn sich plötzlich Millionen auch aus den alten Bundesländern entschließen sollten, einen Antrag zu stellen, weil sie aus den Medien erfahren haben, daß die Stasi über jeden Material zusammmengestellt hat, dann sind selbst Jahresfristen nicht mehr einzuhalten. ..."

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

33

licher Meinung, was den zukünftigen Umgang mit den Stasi-Akten anging. Die Volkskammer setzte sich am 24. 08. 199029 über die Bedenken der Bundesregierung hinweg und verabschiedete mit großer Mehrheit das Gesetz in der Fassung, die es durch den Sonderausschuß erhalten hatte. 30 Ziel dieses Gesetzes war die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS. Weitere Grundsätze waren die dezentrale Verwahrung der Daten und Unterlagen durch parlamentarisch kontrollierte, unabhängige Landesbeauftragte, eine umfassende Auskunftserteilung an die Betroffenen, die gesetzlich begrenzte Nutzung durch die Behörden und das Verbot der Nutzung oder Übermittlung für nachrichtendienstliche Zwecke. 31 Ferner wurde die Nutzung für wissenschaftliche Zwecke, bei Beachtung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, erlaubt; weiter durften die Unterlagen genutzt werden, um Betroffene zu rehabilitieren und um Täter der Strafverfolgung zu überantworten. 32 Maßgeblich an der Schaffung dieses Gesetzes beteiligt war der jetzige Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten (BStU), Joachim Gauck.

I I I . Eine Zäsur: Der Einigungsvertrag Nach den Wünschen des Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS sollte dieses Gesetz von der neuen Bundesrepublik als geltendes Bundesrecht übernommen werden. Auch die Volkskammer ging von dieser Überlegung aus.33 Jedoch stellte sich bereits im Rahmen der Beratungen über den EV heraus, daß diese Zielsetzung nicht zu realisieren war, da die Bundesregierung auf einer gesamtdeutschen Übergangslösung beharrte. 34 Im EV sollte ursprünglich festgeschrieben werden, daß die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit durch das Bundesarchiv in Koblenz übernommen werden sollten.35 Dieser Plan scheiterte jedoch, nachdem die Volkskammer und die Bevölkerung der ehemaligen DDR massiv gegen diesen Aktentransfer protestierten. 36 Man einigte sich schließlich darauf, zumindest die Grundsätze des Volkskammergesetzes zu beachten. So wurden im EV unter dem Druck 29 32. Tagung in der 10. Wahlperiode. 30 Vgl. VK-Prot. (32. Tagung), S. 1434 (1458); Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit, GBl. 1990, S. 1419. 31 32

Vgl. § 1 und § 9 II des Volkskammergesetzes. Vgl. Jelpke, BT-Prot., S. 4675 (4688).

33

Vgl. die „Prophezeiung" von Haschke, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1434 (1456f). Vgl. Ziff. 5 des „Werthebach-Faxes", zit. bei Gill/Schröter, S. 286. Nach Gauck, S. 101, wurden auch von ostdeutscher Seite „Sicherheitsbedenken" gegen das Volkskammergesetz geltend gemacht. 34

3

5 Vgl. Gill/Schröter, S. 288.

36

Gill/Schröter, S. 288 berichten von einem Beschluß der empörten Volkskammer (ohne Datum), in dem die Forderung, das Gesetz vom 24. 08. 1990 müsse Bestandteil des Einigungsvertrages werden, nachdrücklich wiederholt wurde. Ferner besetzten (so Gill/Schröter, a. a. O.) Vertreter der Bürgerbewegungen einen Seitenflügel des Archivs der ehemaligen 3 Engel

34

1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

der Verhältnisse keine ins Detail gehenden Regelungen getroffen. Statt dessen war dort zu lesen: „Die Aufbewahrung, Nutzung und Sicherung dieser Unterlagen bedarf ... einer umfassenden gesetzlichen Regelung durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber. Die Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften, dabei die Grundsätze zu berücksichtigen, wie sie in dem von der Volkskammer am 24. 08. 1990 verabschiedeten Gesetz ... zum Ausdruck gekommen sind." 37 Es folgten einige vorläufige Vorschriften über die Behandlung der Akten; 38 so heißt es im EV weiter: „Die Dateien und Unterlagen ... sind bis zu einer endgültigen gesetzlichen Regelung durch einen Sonderbeauftragten der Bundesregierung in sichere Verwahrung zu nehmen und gegen unbefugten Zugriff zu sichern ... Die ... genannten Dateien und Unterlagen sind gesperrt. Ihre Löschung ist unzulässig." 39 Allerdings ließ der EV die Übermittlung und Nutzung der fraglichen Unterlagen für folgende Zwecke zu: - Wiedergutmachung/Rehabilitierung Betroffener, - Feststellung einer Tätigkeit für das MfS, - Aufklärung und Verfolgung bestimmter Straftaten. Mit diesen knappen Regelungen, die weit hinter den Intentionen des bereits erwähnten Volkskammergesetzes zurückblieben, 40 waren die Bürger in der ehemaligen DDR unzufrieden. Großer öffentlicher Druck 41 erzwang Nach Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Diese führten zu der bereits anfangs genannten Vereinbarung vom 18. 09. 1990. In dieser Vereinbarung wurde die Erwartung ausgedrückt, daß die Gesetzgebungsarbeit zur endgültigen Regelung dieser Materie unverzüglich nach dem 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik, aufgenommen würde. Dabei sollten die Regelungen des Volkskammergesetzes und die des Einigungsvertrages die Grundlagen für das endgültige Gesetz bilden. 42

MfS-Zentrale. Vgl. auch Fricke, DA 1990, 1881 (1888f.); Saathoff, S. 70. Siehe auch: r. 1., Telegraph, Nr. 15, 1990,4 (6). 37 So: Bulletin Nr. 104 des Presse- und Informationsamtes der BReg. vom 06. 09. 1990, S. 877 (893). 38 39

Das gab die Bundesregierung auch zu, vgl. Jahresbericht, S. 113. Vgl. Anlage 1, Kapitel II, Sachgebiet B, Abschnitt II, Nr. 2, lit. b) EV.

40 Etwas vorsichtiger: Gill/Schröter, S. 289. 41 Jelpke, BT-Prot. S. 4675 (4689) spricht von Hungerstreiks; ähnlich: Saathoff, S. 70; vgl. auch Gauck, S. 102; Kloepfer, S. 19. Mötsch, Helmrich-FS, S. 95 (101) berichtet davon, daß die Volkskammer so weit ging, die Ratifizierung des Einigungsvertrages in Frage zu stellen, wenn nicht wegen des Volkskammergesetzes nachverhandelt worden wäre. Nach G/K, Einl. Rdnr. 21 wurde der DDR-Verhandlungsdelegation sogar vorgeworfen, sie habe den Willen der Volkskammer „nicht hinreichend berücksichtigt, vielleicht sogar mißachtet"; vgl. auch S. 6 der Stellungnahme des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz vom 05. 08. 1991-1007/III/2-a dr. kli.rö an den InnenA des Deutschen Bundestages.

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

35

IV. Ein Intermezzo: Zwischen „Beitritt" und StUG; die vorläufige Benutzungsordnung Für die Zwischenzeit war vorgesehen, daß der Sonderbeauftragte der Bundesregierung eine vorläufige Benutzungsordnung für die Stasi-Unterlagen erließ, die alsbald durch die gesetzliche Regelung abgelöst werden sollte. Gauck, der auf Vorschlag der DDR-Regierung durch die Volkskammer fast einstimmig zum Sonderbeauftragten für die Stasi-Akten gewählt worden war, wurde Anfang Oktober 1990 durch die Bundesregierung berufen. A m 03. 10. 1990 übernahm er die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. 43 Kurz danach stellte der Bundesminister des Inneren dem Sonderbeauftragten den Entwurf einer Benutzungsordnung zur Verfügung. Die Überlegungen zu diesem Entwurf enstammten verschiedenen Ressortbesprechungen. 44 Die angesprochene Benutzungsordnung erließ Gauck am 17. 12. 1990. 4 5 Es handelte sich um eine überarbeitete Fassung, die nach kritischer Beratung i m Innenauschuß des Bundestages entstand. 46 Sie fand ihre Rechtsgrundlagen in - den einschlägigen Bestimmungen zu den Stasi-Unterlagen in der Anlage I zum E V (Ani. I Kap. I I Sachgeb. A Abschnitt I I Nr. 2 b E V ) , 4 7 - Art. 1 Nr. 7 der D V zum E V vom 18. 09. 1990, jeweils i. V. m. - Art. 1 des Ratifikationsgesetzes zum E V vom 23. 09. 1990. 4 8 42 Vgl. Art. 1, Ziff. 9 DV. Vgl. auch die Darstellung bei Köppe/Saathoff, Vorgänge 1991, (Heft 2) 92ff. 43

Vgl. die Darstellung von Gill/Schröter, S. 291. Anfangs arbeiteten in der neuen Behörde vor allem Personen, die im Umgang mit dem MfS „Auflösungserfahrung" hatten und persönlich engagiert waren, vgl. Gauck, S. 103. Das sind zumeist nicht Juristen und Archivare, sondern zum Beispiel Klempner, Theaterleiter, Physiker, Pfarrer, Lehrer, Fotografen, Eisenflechter, Schreiner usw. (Gauck, S. 104; BStU-Bericht, S. 7) gewesen. Nur: „Der Einsatz hervorragender Fachkräfte zur Aufklärung ist unabdingbar; guter Wille kann Fachkompetenz gerade an dieser Stelle nicht ersetzen.", Schell/Kaiinka, S. 169. Aber: „Auch auf dem Arbeitsmarkt der alten Bundesrepublik wären nicht auf einen Schlag z. B. Hunderte von ausgebildeten Archivaren verfügbar gewesen."; BStU-Bericht, S. 7. 44

Vgl. BT-InnenA-Prot. (11. Legislaturperiode, 98. Sitzung), S. 32. Vgl. Jahresbericht, S. 113. Gauck behauptet dagegen, daß er die vorläufige Benutzungsordnung am 12. 12. 1990 erließ; Gauck, S. 105. Vgl. auch BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 57 bzw. Anlage 3 zu diesem Prot. Dieses Datum findet sich auch bei: Kloepfer, S. 21. Nach Saathoff, S. 71 stammt die Benutzungsordnung vom 18. 12. 1990. Die vorl. Benutzungsordnung ist abgedruckt in: Der Archivar 1991, Sp. 570ff. Interessant ist, daß die „Initiative Bürgerinnen gegen Geheimdienste" bereits am 17. 10. 1990 einen Vorschlag für eine (vorläufige) Benutzerordnung machte und diesen Vorschlag auch dem Bundesbeauftragten zur Verfügung stellte. Großen Einfluß hatte dieser Vorschlag jedoch auf die dann erlassene Benutzungsordnung nicht. Der (alternative) Vorschlag findet sich in: Telegraph, Nr. 15/1990, 13ff. 4 6 Vgl. BT-InnenA-Prot. (11. Legislaturperiode, 98. Sitzung), S. 31 bis 69. 47 BGBl. II 1990, 912f. 45

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3*

BGBl. II 1990, 885.

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1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

Diese Benutzungsordnung gliederte sich in acht Abschnitte mit 23 Paragraphen, denen - ungewöhnlicherweise - eine erläuternde Einleitung vorangestellt war. 49 Trotz recht detaillierter Regelungen bestand kein Zweifel, daß es sich nur um ein Provisorium handeln konnte. 50 Die Benutzungsordnung enthielt nämlich keinen Rechtsanspruch der Betroffenen, Einsicht und Auskunft in die zu ihrer Person rechtswidrig erstellten Unterlagen zu erhalten. Ferner war die Nutzung der Unterlagen für eine umfassende politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen MfS nicht gestattet. Unbefriedigend war auch die Nutzung der Unterlagen durch andere Behörden geregelt. Es bestand die Gefahr, daß die behördliche Nutzung der Unterlagen, insbesondere von Betroffenen, etwa durch Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden, diese Personen erneut in ihren Persönlichkeitsrechten verletzte. Trotzdem war diese Benutzungsordnung ab Ende 1990 bis zum Beschluß des StUG die erste substantiierte Grundlage, um das angehäufte Aktenmaterial zu sichten bzw. zu vervollständigen, soweit dies noch möglich war. Allerdings wurde auch der Ruf nach einer endgültigen gesetzlichen Regelung immer lauter. 51

V. Das Verfahren bis zum StUG 1. Die Einbringerrunde und die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kurz nach den Wahlen zum 12. Deutschen Bundestag wurden die Stasi-Akten in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und F.D.P thematisiert. Im Januar 1991 wurde dann eine interne Grobkonzeption durch das BMI erstellt. Genaugenommen handelte es sich um eine detaillierte Problemdarstellung, die noch nicht systematisch geordnet war. 49 Vgl. die Darstellung der erlassenen Benutzungsordnung durch Stoltenberg, DtZ 1991, 205ff., der die einzelnen Vorschriften lediglich referiert. 50 Vgl. zum Beispiel § 23 der Benutzungsordnung, betreffend das Außerkrafttreten. Vgl. auch die von „alp" geäußerten „Bauchschmerzen", Telegraph Nr. 1/1991, 27ff. (krit., aber nicht gehaltvoll). 51 In diese Zeit fallen auch die sog. „Hangelarer Gespräche" der Einbringerfraktionen. Sachkundige Abgeordnete trafen sich an mehreren Wochenenden zu informellen Beratungen über das Stasi-Akten-Problem. Das BMI war zur „inoffiziellen Mitarbeit" (Formulierungshilfe) durch den zuständigen Referenten eingeladen worden. Seine Beteiligung sollte jedoch angesichts des negativen Echos, welches die Mitarbeit des BMI an dem Volkskammergesetz über die Stasi-Akten erfahren hatte nicht publik werden. Von diesen Gesprächen gibt es keine Protokolle, sondern nur handschriftliche Aufzeichnungen einzelner Teilnehmer, die diese inzwischen vernichtet haben oder die nicht zugänglich sind. Daher kann niemand sagen, inwieweit die Gespräche den späteren StUG-Entwurf beeinflußt haben. Auf einzelne Formulierungen hat man sich jedoch verständigt. Vor den „Hangelarer-Gesprächen" hatte bereits eine vorbereitende Verständigung im Rahmen der sog. „Schäuble-Runde" (beim BMI) stattgefunden. Das BMI fungierte dabei offiziell nur als Gastgeber. Eine einheitliche Auffassung unter den Gesprächspartnern kam jedoch nicht zustande.

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

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Bereits am 10. 02. 1991 legten die Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit einen eigenen StUG-Entwurf vor. Er orientierte sich stark am Volkskammergesetz über die Stasi-Akten. Es war das erklärte Ziel der Bürgerkomitees diesen Entwurf zur Diskussiongrundlage für das kommende StUG zu machen. Doch das Echo auf diesen Entwurf blieb gering. Mit der BT-Drucksache 12/283 vom 20. 03. 1991 mahnte die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Bundestag und die Bundesregierung an ihre Verpflichtung, den Entwurf eines entsprechenden Gesetzes vorzulegen. Auffällig an diesem Memorandum war, daß es, neben den bereits bekannten Postulaten, eine Forderung enthielt, die über alles bislang öffentlich Bekannte hinausging. Gefordert wurde nämlich auch eine Einbeziehung der Akten und Unterlagen der SED und der übrigen Massenorganisationen der ehemaligen DDR in eine endgültige gesetzliche Regelung. Um diese Zeit hatte das BMI die angesprochene Problemdarstellung mit den übrigen Ressorts abgestimmt (März 1991) und eine erste Formulierungshilfe erarbeitet (April 1991). Diese stellte quasi einen ersten internen Gesetzentwurf dar, der der sog. „Einbringerrunde" vorgelegt wurde. Die erste Tagung dieses außerparlamentarischen Gesetzgebungsgremiums fand - unter Beteiligung von CDU/CSU, SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - beim BMI statt. 52 Eine Verständigung der Beteiligten auf einen einheitlichen Entwurf war unmöglich. Lediglich „Eckwerte" der künftigen gesetzlichen Regelung wurden beschlossen und veröffentlicht. Zu dieser Zeit verließ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Beratungen der Einbringerrunde und zog sich auf die Erarbeitung eines eigenen Gesetzentwurfes zurück. 53 Auf der Basis der vereinbarten „Eckwerte" entstand dann eine zweite Formulierungshilfe des B M I , 5 4 die von den Einbringern beschlossen wurde und im 52

Man muß sich fragen, welchen Eindruck diese Verfahrensweise auf die Bürger in den ostdeutschen Bundesländern gehabt hat. Die Einbringeltagungen waren de jure Privatveranstaltungen der Beteiligten, die beim BMI, also der Nationalen Sicherheitsbehörde, stattfanden. Im Grunde genommen hatten diese Treffen mit dem „gesamtdeutschen Gesetzgeber" nichts zu tun, wenn man einmal davon absieht, daß sich die federführenden Innenpolitiker der demokratischen Parlamentsfraktionen trafen. Die PDS/LL war nicht eingeladen worden, da sie nach Ansicht der übrigen Fraktionen/Gruppen keine demokratische Kraft war. Schwer vorstellbar ist auch, daß der BMI für die Einbringer nur als Gastgeber fungierte; wenn er schon anwesend war, wird er auch seine Meinung zu einzelnen Punkten geäußert haben. Allerdings existieren auch von den Einbringertagungen keine Protokolle, und die Äußerungen der Beteiligten sind teils widersprüchlich oder lückenhaft. 53 Eine Einigung kam nicht zustande, weil BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darauf beharrten einen Entwurf der Bürgerkomitees zur Grundlage zu nehmen; es wurden in der Arbeitsgruppe nur Eckwerte festgelegt und Grundsätze verabschiedet und selbst dies geschah nur mehrheitlich und nicht einvernehmlich; vgl. (unkrit.) Saathoff, S. 19; Presserklärungen der Abg. Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vom 25. 04. 1991 bzw. 16. 05. 1991. Es bestanden zwischen den späteren Einbringern und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN unüberbrückbare Gegensätze, was den Zugriff der Nachrichtendienste auf die Unterlagen anging. 54 Schmidt hat betont, es habe im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens mindestens 20 Formulierungshilfen durch das BMI gegeben. Natürlich hätten nicht alle in kompletten Gesetzentwürfen bestanden, aber die wichtigsten Formulierungshilfen seien die erste und zweite gewesen; so Schmidt (Ref. O I 5 , BMI) im Gespräch mit dem Verfasser.

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1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

wesentlichen mit dem Gesetzentwurf identisch war, der dann von den Fraktionen der C D U / C S U , SPD und F.D.P. in das Gesetzgebungsverfahren gegeben wurde.

2. Parlamentarische Vorarbeiten A m 20. 03. 1991 beschloß der Innenausschuß des Deutschen Bundestages in seiner fünften, nicht-öffentlichen Sitzung, einen Unterausschuß einzusetzen, der sich am 24. 04. 1991 in Berlin konstituierte und Unterausschuß zur Bewältigung der Stasi-Vergangenheit genannt wurde. 5 5 Dieser Ausschuß bestand zunächst aus 9 Mitgliedern. Die Gruppe B Ü N D N I S 9 0 / D I E G R Ü N E N war dadurch vertreten, daß ihr von seiten der Fraktion der C D U / C S U ein Sitz überlassen wurde. 5 6 Die Gruppe PDS/Linke Liste erhielt einen Sitz durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 07. 1991. 5 7 Seit seiner 7. Sitzung setzte sich dieser Unterausschuß aus 11 Mitgliedern zusammen. Das Tätigkeitsfeld des Ausschusses war wie folgt umschrieben: „Er wurde eingesetzt als Unterausschuß für die Regelung des Umgangs mit den Akten und Unterlagen des Ministeriums für Staatsscherheit/Amtes für Nationale Sicherheit, der SED, der Massenorganisationen und Parteien der ehemaligen D D R , soweit sie der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben dienten, sowie für die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der kommunistischen Diktatur." 5 8

55 Wie aus einem undatierten Papier des Abg. Bernrath hervorgeht, war diese Verfahrensweise bereits Mitte Sept. 1990 abgesprochen worden. In dem Papier: „Hinweise an Staatssekretär Neusei zum Verständnis und zur Formulierung der Texte 'Stasi' vom 14.09.90" heißt u. a.: „Die Aufnahme der gesamtdeutschen gesetzgeberischen Arbeit schließt die im Innenausschuß (Anm. d. Verf.: 11. Legislaturperiode!) verabredete Bildung eines Unterausschusses (mit 'DDR-Mehrheit') ein. Die Bundesregierung erwartet das auch, verweist in der Debatte aber darauf, daß dies ausschließlich Sache des Parlaments ist." Offenbar haben diese Überlegungen bereits in den Verhandlungen zur DV des EVeine Rolle gespielt. 56 Vgl. oben 1. Zu dieser Zeit bestand bereits eine Absicht der Regierungskoalition einen breiten Konsens mit der Opposition zu suchen; vgl. FAZ vom 16. 01. 1991, S. 6; Schreiben des Abg. Penner (SPD) vom 19. 03. 1991 an die Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 1. Ferner hatten sich die Einbringer bereits über bestimmte Eckwerte der gesetzlichen Regelung verständigt, vgl. die Pressemitteilung der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Nr. 568 vom 07. 03. 1991 - Hg/Rei, S. 2f. 57 Vgl. BVerfG, 2 BvE 1/91, NJW 1991, 2474 (2477); dort führt das BVerfG aus, daß auch eine Gruppe im Sinne der GO des Bundestages auf ihr Verlangen in den Unterausschüssen vertreten sein muß. Dies folge aus dem Prinzip gleicher Mitwirkung aller Abgeordneten. Antragstellerin war die Gruppe der Abgeordneten der PDS/Linke Liste im 12. Deutschen Bundestag. Genauer Urteilstenor: „Der Deutsche Bundestag verletzt die Rechte der Antragstellerin aus Art. 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch, daß er ihr nicht das Recht auf Mitgliedschaft in den Unterausschüssen nach § 55 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einräumt..." Vgl. auch BT-InnenA-Prot. (14. Sitzung), S. 9. 58 Bericht der Abgeordneten Büttner, Schwanitz, Schmieder, Köppe; in: BT-Drucks. 12/ 1540, S. 46.

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

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Der Unterausschuß sollte dem Innenausschuß eine vorbereitende schriftliche Stellungnahme abgeben, wie das Stasi-Akten-Problem zu handhaben sei. Seine Tätigkeit konkurrierte mit den parallelen Beratungen der Einbringerrunde. 59 Kurz vor Abschluß der Beratungen stellte die Gruppe B Ü N D N I S 9 0 / D I E G R Ü N E N ihre Mitarbeit dort e i n . 6 0 3. Erste Gesetzentwürfe Noch während der Unterausschuß darüber beriet, wie ein geeigneter Fragenund Sachverständigenkatalog für eine später durchzuführende öffentliche Anhörung unter der Beteiligung von Betroffenen, Behörden, Historikern und Juristen aussehen könnte, legten zunächst die Gruppe B Ü N D N I S 9 0 / D I E G R Ü N E N mit BT-Drucks. 12/692 vom 07. 06. 1991 und dann die Fraktionen von C D U / C S U , SPD und FDP gemeinsam mit der BT-Drucks. 12/723 vom 12. 06. 1991 unterschiedliche Entwürfe für ein Stasi-Unterlagen-Gesetz vor. Beide Entwürfe wurden vom Bundestag in seiner 31. Sitzung am 13. 06. 1991 an den Innenausschuß zur federführenden Beratung überwiesen. Anläßlich der bereits erwähnten Anhörung am 27. 08. 1991 wurden von den Beteiligten die strittigen Fragen erörtert bzw. die Sachverständigengutachten erstattet. Ihre Auswertung durch den B M I und dessen anschließende Stellungnahme gegenüber dem Unterausschuß ergaben eine Vielzahl von Änderungsvorschlägen. 61 59

Das Verhältnis des Unterausschusses, der bis auf den Abg. Zeitlmann (CSU) ostdeutsch besetzt war, zur Einbringerrunde (ausschließlich westdeutsche Mitglieder) war nicht unproblematisch. Es kam öfter vor, daß der Unterausschuß Formulierungen bzw. Kompromisse auf die die Einbringer sich mühevoll geeinigt hatten, in Frage stellte bzw. durch seine Beschlüsse konterkarierte. Nach der urspr. Konzeption sollte der Unterausschuß die Resultate der Einbringerrunde jedoch „absegnen" bevor sie im Innenausschuß abschließend beraten würden. Die divergierenden Ansichten beider Gremien wurden dann im Innenausschuß (federführend dort: die Einbringer) ausnahmslos i. S. d. Vereinbarungen der Einbringerrunde gelöst. Die Beziehung gewinnt besondere Brisanz, wenn man weiß, daß der Abg. Zeitlmann zugleich auch Mitglied der Einbringerrunde war. Schmidt vermutet, im Gespräch mit dem Verfasser, man hätte Zeitlmann „zum Ossi ehrenhalber" gemacht, damit die CSU auch im Unterausschuß vertreten sei. Nach der Durchsicht der Innenausschuß- bzw. Unterausschußprotokolle drängt sich eher der Schluß auf, er habe als „Aufpasser" der Einbringer im Unterausschuß fungiert. Nachdem der Unterausschuß insgesamt 19 Sitzungen erlebte wurde er seit Sept. 1993 nicht mehr einberufen; in seinen „besten Zeiten" tagte der Unterausschuß im Abstand weniger Tage. Schmidt - im Gespräch mit dem Verfasser - hat dies darauf zurückgeführt, daß es keinen Beratungsbedarf mehr für den Unterausschuß gab. Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht. Zum einen gab es von Sept. 1993 bis heute zwei Änderungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Zum anderen bestand die Aufgabe des Unterausschusses nicht nur in der Vorbereitung des StUG; vgl. deswegen auch den Namen des Ausschusses. Bei etwas gutem Willen hätte es höchstwahrscheinlich ein Betätigungsfeld für den Unterausschuß gegeben. Es läßt sich nur vermuten, daß der politische Wille dahin ging, den Unterausschuß „trocken" zu legen. 60 Vgl. G/K, Einl. Rdnr. 24; Jelpke/Maurer, S. 15. 61 So hat zum Beispiel die SPD-Fraktion 74 Einzelvorschläge zur Änderung des Gesetzentwurfes gemacht; vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 46.

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1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

Diese waren allerdings noch nicht berücksichtigt, als die Bundesregierung am 29. 08. 1991 mit BT-Drucks. 12/1093 ihren Entwurf zusammen mit der Stellungnahme des Bundesrates und der Gegenäußerung der Bundesregierung für ein StUG vorlegte. Der Entwurf war wortgleich mit demjenigen der Fraktion der CDU/ CSU, FDP und SPD, im folgenden wird nur noch vom Regierungsentwurf gesprochen. 62 In der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 19. 09. 1991 wurde er ebenfalls zur Beratung an den Innenausschuß überwiesen. Im Rahmen der weiteren Beratungen des Innenausschusses bzw. seines Unterausschusses, an denen sich außer dem BMI noch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz (BfD), der BMJ, die Regierungschefs der fünf neuen Bundesländer und zahlreiche ostdeutsche Abgeordnete beteiligten, erhielt der Regierungsentwurf jene Form, in der der Innenausschuß des Bundestages ihn am 12. 11. 1991 dem Bundestag zur Beschlußfassung empfahl. Gleichzeitig wurde empfohlen, den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abzulehnen.63

VI. Beschlußfassung 1. Bundestag und Bundesrat Der Bundestag folgte in seiner 57. Sitzung am 14. 11. 1991 in zweiter u. dritter Lesung des Regierungsentwurfs der Empfehlung des Innenausschusses und beschloß das Gesetz mit den Stimmen von CDU /CSU, SPD und FDP. Die gesetzliche Regelung enthält folgende Schwerpunkte: - ein Auskunftsrecht für jedermann aus den Unterlagen, - ein Einsichtsrecht für Betroffene und - eingeschränkt - auch für Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, - die vollständige Erfassung der Unterlagen, - die zentrale Verwaltung der Unterlagen, bei teilweise dezentraler Lagerung, - die Einrichtung einer fachlich weisungsfreien Bundesoberbehörde zur Verwaltung der Unterlagen, 62 Diese doppelte Einbringung eines Gesetzentwurfes diente zwei Zwecken: Zum einen sollte eine Verfahrensbeschleunigung erreicht werden, da bei Gesetzentwürfen der Bundesregierung anders verfahren wird (Art. 76 II GG) als bei Gesetzentwürfen aus der Mitte des Bundestages (Art. 77 I GG). Die doppelte Einbringung führte dazu, daß die Beratungen von Bundestag und Bundesrat parallel laufen konnten. Zum anderen sollten die (ostdeutschen) Bundesländer so schnell wie möglich an der Gesetzgebungsarbeit beteiligt werden. Nach Schmidt, im Gespräch mit dem Verfasser, war der Gesetzentwurf von Vornherein nur als Provisorium gedacht, damit das Gesetzgebungsverfahren überhaupt in Gang käme. Den politischen Instanzen sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihr Handeln außenwirksam zu dokumentieren. Dies würde die erheblichen Veränderungen erklären, die an dem Entwurf im Laufe der Innenausschußberatungen vorgenommen worden sind. 63 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 4

2. Kap.: Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

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- eine beschränkte Verwendung der Unterlagen durch Strafverfolgungsbehörden, - ein Nachteilsverbot gegenüber Betroffenen und Dritten, - ein grundsätzlicher Ausschluß des Zugriffs der Nachrichtendienste und - die Öffnung der Unterlagen für die wissenschaftliche Forschung und politische Bildung. Der Bundesrat stimmte in seiner 638. Sitzung am 19. 12. 1991 dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz zu. 64 Verglichen mit den Beratungen des Bundestages war die Bundesratsdebatte nur kurz, knapp und geradezu leidenschaftslos. Lediglich bereits bekannte Argumente und Standpunkte wurden erneut vorgetragen. 65 Offenbar war die Zustimmung des Bundesrates nur noch Formsache. Das Gesetz wurde am 20. 12. 1991 ausgefertigt und am 28. 12. 1991 verkündet. 66 Am 29. 12. 1991 ist es in Kraft getreten. 67

2. Das Ende einer schwierigen Arbeit Besonders fällt auf, daß das Gesetz von den Vorarbeiten seit dem Beitritt der ehemaligen DDR bis zu seinem Inkrafttreten in nur 15 Monaten fertiggestellt wurde. Dabei handelte es sich um eine völlig neue Rechtsmaterie, bei der es galt, „die schwierige Balance widerstreitender Grundrechte zu bewältigen".68 „Außerdem mußten wir etwas ganz Außergewöhnliches tun, nämlich zum erstenmal Akten, nämlich Staatsakten, nicht in die Archive bringen, sondern - und das ist das genaue Gegenteil - sie öffentlich zugänglich machen .. . " 6 9 Mangels historischer Parallelen trägt das Gesetz denn auch einen vorläufigen Charakter und ist in der ganzen Welt ohne Beispiel. „Diesen Sachverhalt haben wir nie bestritten, sondern immer wieder hervorgehoben. Auch weitere Beratungen und ein weiteres Zuwarten würden an dieser Tatsache, an dieser Schwierigkeit, allerdings nichts ändern; denn auch dann hätten wir ein Gesetz ohne Einzelkenntnisse über den Inhalt der StasiAkten machen und schon deshalb wiederum die gleichen Risiken eingehen müssen." 70 Aus diesem Grund und „aus der Tatsache, daß wir nicht letztverbindlich für 64 Vgl. Plenarprotokoll Nr. 638, S. 585 (592). Der Bundesrat stimmte dem Gesetz in der Form zu, die es nach BR-Drucks. 729/91, vom 29. 11. 1991 besaß. Zuvor war der Reg-Ε, als BR-Drucks. 365/91 bereits einmal vom Bundesrat beraten worden. 65

Vgl. die Beratungsniederschrift, Bundesrat, Plenarprotokoll Nr. 638. Die Beratung zu Punkt 8 (dem StUG) beginnt auf S. 585 und endet 7 Seiten später auf Seite 592. Bemerkenswert ist allenfalls, daß eines der neuen Länder, der Freistaat Sachsen, dem StUG nicht zugestimmt hat; vgl. Plenarprotokoll a. a. O. Anlage 6, S. 612ff. 66 BGBl. Teil I, 1991, S. 2272ff. 67 Vgl. wegen des Inkrafttretens § 48 I StUG. 68 Vgl. Bernrath, BT-Prot. (57. Sitzung) S. 4675 (4677). 69 Bernrath, BT-Prot., a. a. O. (4677). 70 Gerster, BT-Prot. (57. Sitzung) S. 4675 (4694).

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1. Teil: Der Untersuchungsgegenstand

alle Zeiten diese Probleme regeln müssen, mußte dem Anspruch der Opfer, jetzt endlich ein Gesetz zu bekommen, Vorrang vor anderen Überlegungen eingeräumt werden." 71 So wundert es nicht, wenn auch der Gesetzgeber davon ausgeht, daß das Gesetz alsbald novelliert werden muß. 72 Neben dem Schutz der Betroffenen „sollte aber auch der Nachweis erbracht werden, wer die Verantwortlichkeit für den Inhalt der Akten hat und welche Folgerungen sich daraus ergeben." 73 Gemeint ist das MfS.

71

Gerster, a. a. O. 72 Vgl. Köppe, BT-Prot. (57. Sitzung) S. 4675 (4688); Gerster, ebenda. (4694); Barbe, ebenda, (4704); Brudlewsky, (4712); Staatssekr. Lintner, ebenda, (4721). 73 Bernrath, a. a. O. (4677f).

2. Te i 1

Der Staatssicherheitsdienst der ehem. Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 1. Kapitel

Die Entstehung des Staatssicherheitsdienstes I. Die historischen Wurzeln 1. Karl Marx, Friedrich Engels und die Konspiration Die Wurzeln des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR reichen weiter zurück als bis zur Gründung der DDR im Okt. 1949. Strenggenommen beginnt die Geschichte des MfS zu der Zeit, als Karl Marx und Friedrich Engels im Juni 1847 dem „Bund der Kommunisten" beitraten.1 Ein Autorenkollektiv des MfS hat dies einmal anschaulich geschildert: „Die Formierung des Bundes der Kommunisten durch Karl Marx und Friedrich Engels als erste deutsche und zugleich internationale selbständige revolutionäre Partei der Arbeiterklasse im Dezember 1847 war zugleich eine entscheidende Zäsur bei der Herausbildung eines qualitativ neuen Verhältnisses der Arbeiterklasse zur Konspiration." 2 Tatsächlich war die neue Partei wesentlich auf ein Tätigwerden im Geheimen angewiesen. Der damaligen Obrigkeit war sie suspekt ihrer Zielsetzung wegen, der Schaffung einer revolutionären Arbeiterbewegung. „Deshalb konnte der Bund der Kommunisten nicht als legale Partei entstehen - die Bourgeoisie hätte ihn schon 1

Bereits 1836 war in Paris, zumeist von dorthin geflüchteten deutschen Handwerkern, der geheime „Bund der Gerechten" gegründet worden. Dieser wirkte zunächst halb als Propagandaorganisation, halb als Verschwörung. Anfang 1847 wurden Marx und Engels zum Eintritt in diesen Bund aufgefordert. Auf dem Kongreß des Bundes in London (im Juni 1847) wurde die Vereinigung in „Bund der Kommunisten" umbenannt. Vgl. MEW, Bd. 21, S. 212 bzw. 215; Leonhard, S. 23. 2 Konspiration, S. 7. Die Broschüre, die ohne Ort und ohne Jahrgang „erschienen" ist, ist in Diktion und Druckbild identisch mit ähnlichen (nicht-öffentlichen) Broschüren der Abt. für Polit. Agitation des MfS. Der Umstand, daß das fragliche Autorenkollektiv dem MfS angehören mußte oder zumindest in dessen Auftrag handelte, ergibt sich daraus, daß sich auf S. 37 die Autoren als „Tschekisten" zu erkennen geben und dabei eine direkte Verbindungslinie zur Tätigkeit des MfS ziehen.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

im Keime zerschlagen, ... Die Aufhebung des Vereins- und Versammlungsrechts hatte die Arbeiterklasse in jenen Jahren der Möglichkeit der Verbreitung ihrer Ideologie in und durch legale Organisationen beraubt. Von den 5 Jahren des Bestehens der ersten proletarischen Partei besaß sie nur im Revolutionsjahr 1848 / 49 ,Presse, Redefreiheit und Assoziationsrecht, das heißt die legalen Mittel der Parteiorganisation. 4"3 Daher mußte der Bund seine legale und seine illegale Arbeit geschickt miteinander verbinden. Noch deutlicher wurden Marx und Engels im März 1850; sie forderten „ . . . eine selbständige geheime ... Organisation der Arbeiterpartei herzustellen ... ." 4 Ziel war es, auf geheimem Wege „breite Massen mit der Weltanschauung der Arbeiterklasse vertraut zu machen und sie für die Klassenkämpfe zu rüsten." 5 Damit war der Grund gelegt für jene Lehre von der proletarischen Konspiration, die als spezifische Form des politischen Klassenkampfes begriffen wurde und die schließlich das Selbstverständnis des MfS mitprägen sollte.6

2. Der Rückgriff auf Lenin Fortentwickelt und verfeinert wurde diese Lehre von Lenin. Marx und Engels, die weitgehend von London aus ihre konspirative Tätigkeit ausübten, befanden sich in relativer Sicherheit vor den Spitzeln der Geheimpolizeien deutscher Landesregierungen etc.7 Lenin, der 1917 in das vom I. Weltkrieg erschütterte Rußland zurückkehrte, mußte ganz anders konspirieren; er war nicht nur von loyalen Gesinnungsgenossen umgeben. Er mußte zum einen seine Partei, die Bolschewiki, so 3

Konspiration, S. 8, 9. Karl Marx, Friedrich Engels; Ansprache der Zentralbehörde an den Bund; zit. nach Konspiration S. 9; vgl. auch: MEW, Bd. 7, S. 248f. Paradoxerweise warnte Marx jedoch an anderer Stelle davor, die Arbeiterbewegung zentralistisch-konspirativ aufzubauen, denn dies stehe „im Widerspruch zu der Entwicklung der proletarischen Bewegung", weil solche Organisationsformen die Arbeiter „autoritären und mystischen Gesetzen unterwerfen, die ihre Selbständigkeit behindern und ihr Bewußtsein in eine falsche Richtung lenken."; Aufzeichnung einer Rede von Marx über die geheimen Gesellschaften, 22. September 1871; in: MEW, Bd. 17, S. 655. Ähnlich äußerte sich später auch Engels; er folgerte im Zusammenhang mit dem Bund der Kommunisten, die Arbeiterbewegung brauche „keine offizielle Organisation mehr, weder öffentliche noch geheime;..."; MEW, Bd. 21, S. 215; vgl. auch S. 223. 4

5

Konspiration, S. 9. Deutlich kommt dies zum Ausdruck in: Konspiration, S. 37: „Wir als Tschekisten sind insbesondere die Erben dieser ... Tradition. In unserem Handeln verwirklichen wir die von Marx und Engels begründeten ... Grundprinzipien der proletarischen Konspiration und leisten durch ihre Handhabung unseren ... Beitrag im Kampf um die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung." Ferner: Konspiration, S. 39: „Mit Recht bezeichnen wir Karl Marx und Friedrich Engels als die Begründer einer proletarischen Sicherheitsarbeit." 6

7

Das galt zum Beispiel für die konspirative Arbeit von Marx und Engels z. Zt. des „Kölner Kommunistenprozesses" ab Ende 1850, vgl. Konspiration S. 13, oder für die Geschehnisse im Zusammenhang mit der „Pariser Kommune" Ende März 1871, vgl. Konspiration, S. 20f.

1. Kap.: Die Entstehung des Staatssicherheitsdienstes

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formen, daß sie Einfluß auf die Volksmassen gewann, zum anderen eine sozialistische Revolution unter den Bedingungen einer zaristischen Herrschaft vorbereiten. Schließlich stand er vor dem Problem, nach der geglückten Revolution die neuen sozialistischen Errungenschaften gegen die zu erwartenden Angriffe anderer, reaktionärer Kräfte verteidigen zu müssen. 8 Das alles ließ sich ohne eine offensiv gestaltete Konspiration, das heißt ohne einen geheimen Nachrichtenapparat, der Informationen über Staatsfeinde sammelte, nicht bewerkstelligen. Folgerichtig baute Lenin alsbald nach der Revolution die „Gesamtrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und der Sabotage" (abgekürzt: Tscheka) und damit das erste sozialistische Staatssicherheitsorgan in der Geschichte überhaupt auf. 9 Ihre Tätigkeit in den ersten Jahren nach der Revolution war ebenso unmenschlich wie erfolgreich. So erfolgreich, daß Lenin das TschekaKonzept allen Sozialisten weiterempfahl, 1 0 als er i m Rahmen der Komintern 1920 8 „Eine Revolution ist nur dann etwas wert, wenn sie sich zu verteidigen versteht.", Lenin, zit. nach: Studienmaterial, S. 19; vgl. auch die „linientreue" Darstellung in: Studienmaterial, S. 60. 9 Nach Studienmaterial, S. 63 geschah dies am 20. 12. 1917. Mit dem Beschluß zur Errichtung dieser Kommission folgte der Rat der Volkskommissare, die russische Revolutionsregierung jener Zeit, einem Vorschlag Lenins. Der Name „Tscheka" ist die Abkürzung der russischen Bezeichnung dieses Organs. Ihr erster Leiter war „einer der kühnsten, entschlossensten und treuesten Kämpfer der Revolution - Feliks Dzierzynski."; Studienmaterial, a. a. O. Die Tscheka behielt ihren Namen von 1917 bis 1922 und war vor allem an der blutigen Niederwerfung der Hungerrevolten in der Ukraine maßgeblich beteiligt. Dann wurde sie in GPU umbenannt. Im Jahre 1934 wurde aus der GPU der NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten). Mit Ausbruch des Krieges zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion (1941) wurde eine weitere Abteilung, die NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit), angegliedert. Nach dem Krieg wurden diese beiden Volkskommissariate in Ministerien umgewandelt, die sich nun MWD und MGB nannten. Das MWD, direkter Nachkomme der Tscheka wie der GPU und des NKWD, mußte eine Reihe von Funktionen an das MGB abtreten. Im Jahr 1954 ging aus dem MWD das KGB (Kommissariat für Staatssicherheit) hervor und das MGB wurde nun ein GRU (der militärische Nachrichtendienst, der direkt der „Roten Armee" unterstellt war); vgl. Brockdorff, S. 284. Das KGB fiel schließlich der Perestroika zum Opfer und wurde im Oktober 1991 aufgelöst. Sein Rechtsnachfolger ist seit Januar 1992 das Ministerium für Sicherheit der Russischen Föderation (MBRF); vgl. die Darstellung bei: v. Borcke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 33 (37f.) Übrigens wurde auch in der DDR die Trennung von MfS (Auslandsaufklärung) und militärischem Nachrichtendienst (Verwaltung Aufklärung) entsprechend vorgenommen. Die Verwaltung Aufklärung wurde 1952 vom damaligen DDR-Innenminister Stoph gegründet. 1956 - mit Aufstellung der Nationalen Volksarmee - erfolgte die Übernahme durch das Verteidigungsministerium der DDR. Allgemein wird die Verwaltung Aufklärung weder als „Stasi" verstanden noch damit in Verbindung gebracht. In der ehem. DDR war die Verwaltung Aufklärung als eigenständiger militärischer Dienst weitgehend unbekannt. Organisatorisch war sie nicht Teil des gegen die eigene Bevölkerung gerichteten Repressionsapparates. Ihr Verhältnis zum MfS war in einer Grundsatzvereinbarung zwischen dem MfS und dem Verteidigungsministerium der ehem. DDR geregelt. Vgl. Anlage 1 zu TOP 1 der 17. Sitzung des BT-InnenA-UA, ebenda, Prot. (17. Sitzung). 10 Lenin lobte und verteidigte dieses Machtinstrument und erklärte, „daß die Tscheka unmittelbar die Diktatur des Proletariats verwirklicht; und in dieser Hinsicht kann ihre Rolle nicht hoch genug eingeschätzt werden."; Lenin, Rede vor Mitarbeitern der Tscheka, 07. No-

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in einem Beschluß propagieren ließ, daß der sozialistische Klassenkampf in die „Phase des Bürgerkrieges" in fast „allen Ländern Europas und Amerikas" eintrete. Der angeführte Beschluß lautete weiter: „Unter derartigen Verhältnissen können die Kommunisten kein Vertrauen zu der bürgerlichen Legalität haben. Sie sind verpflichtet, überall einen parallelen illegalen Organisationsapparat zu schaffen, der im entscheidenden Moment der Partei behilflich sein wird, ihre Pflicht gegenüber der Revolution zu erfüllen". 11 „W. I. Lenin setzte somit das von Marx und Engels begonnene Werk der Begründung und Ausarbeitung der Lehre von der politischen Konspiration fort." 12

3. Der Aufbau des „illegalen" Apparates in Deutschland Bei der Realisierung des zuvor genannten Beschlusses gab es für die deutschen Kommunisten kein Zögern. Denn unter sowjetischer Anleitung und entsprechender Finanzierung durch die russischen Kommunisten hatte die KPD bereits in den frühen 20er Jahren entsprechend der dargestellten Maxime mit dem Aufbau eines illegalen Apparates begonnen, dessen Ziele primär gegen die Weimarer Republik, aber auch gegen sonstige politische Gegner gerichtet waren. 13 Dieser Apparat diente der KPD für politische Sonderaktionen bzw. zur Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes, der am Beginn der kommunistischen Revolution in Deutschland stehen sollte. 14 Diese Organisation war in einen Militär- und in einen Nachrichtenapparat gegliedert. Obwohl von Moskau finanziert und gesteuert, 15 blieb der illegale Apparat nominell der Zentrale der KPD unterstellt. Einige der führenden Männer dieses Apparates wurden in Moskau politisch geschult, und eine Reihe von ihnen fand sich später unter der Fahne des MfS wieder zusammen, vember 1918, zit. nach Leonhard, S. 115. Auch sei die Tscheka „bei uns hervorragend organisiert."; Lenin, Schlußwort auf dem VII. Gesamtrussischen Sowjetkongreß, 6. Dezember 1919, zit. nach Leonhard, a. a. O. Nach Brockdorff, S. 285 sah die „Erfolgsbilanz" der Tscheka etwa so aus: „Von Januar 1918 bis zum Juli 1919,..., wurden 344 Aufstände unterdrückt, 3057 Menschen getötet, 412 konterrevolutionäre Organisationen aufgedeckt, 8389 Personen hingerichtet, 9496 Menschen in Konzentrationslager gebracht, 34334 eingekerkert und 86893 Menschen verhaftet." Daneben preßte die Tscheka noch Tausende von Sowjetbürgern zu Spitzeldiensten. h Zit. bei Nollau, S. 315f; vgl. auch Wenzel, Politische Studien 1991, 602 (607). Allerdings sah Lenin die Existenz der Tscheka wohl letztlich nur als vorübergehende Kampfmaßnahme an, solange die sozialistische Revolution andauerte; vgl. Leonhard, S. 116. ι 2 Konspiration, S. 37. 13 Vgl. Crüger, S. 47. 14 Von diesem Apparat zu unterscheiden ist der „Rot-Front-Kämpferbund", der von der KPD ebenfalls in den zwanziger Jahren aufgebaut wurde; dieser war „eine legale Schutzund Wehrorganisation der Arbeiterklasse"; Studienmaterial, S. 64; er diente aber letztlich ähnlichen Zwecken wie der illegale Apparat, nämlich der „Auseinandersetzung" mit dem politischen Gegner. is Vgl. Wollenberg, Ost-Probleme, Nr. 19/1951, S. 575ff.

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zum Beispiel Wilhelm Zaisser, Ernst Wollweber, Erich Mielke, um nur einige zu nennen.16 4. Der Apparat gegen Ende der 20er Jahre Gegen Ende der 20er Jahre war der Umfang des illegalen Apparates bereits erheblich gewachsen. Er gliederte sich nun auf in ein Sekretariat, nachrichtendienstliche Abteilungen für offensive und defensive Arbeit, Abteilungen für die Zersetzung von Polizei und Reichswehr bzw. anderer politischer Parteien sowie in eine Abteilung für Literatur, die für die Herstellung und den Vertrieb illegaler Schriften zur Vorbereitung der sozialistischen Revolution zuständig war. Während aber der militärische Teil des illegalen Apparates nach wie vor ein deutscher Apparat blieb, das heißt unter der Kontrolle der deutschen Kommunisten blieb, geriet der geheime Nachrichtenapparat der KPD nach 1928 in eine immer größere organisatorische Abhängigkeit von den sowjetischen Geheimdiensten (der Roten Armee und der politischen Polizei - GPU -). Damit veränderte sich die Zielrichtung der Aktivitäten des Nachrichtenapparates; er mußte sich schließlich mittelbar den von J. Stalin definierten Zielen des Sowjetstaates unterordnen. 17

II. Die Zeit zwischen 1933 -1945 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. 01. 1933 bedeutete den Untergang der KPD, und zwar im Hinblick auf ihre legalen und illegalen Aktivitäten. Die Gestapo ging rigoros vor und vernichtete die Parteiorganisation der KPD. Trotz der Verfolgung glückte es den deutschen Kommunisten, überall im Land illegale Widerstandsgruppen aufzubauen, diese unter eine zentrale Leitung zu stellen und die Verbindung zu den ehemaligen Parteibezirken zu reorganisieren. Allerdings war es die Exil-KPD, die von Paris bzw. Moskau aus mit Hilfe in das Reich gesandter Kuriere und Instrukteure diese Wiederaufbauarbeit leistete.18 Mit dem Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges 1936 wurde auch die KPD im Exil aktiv. 19 Ihrem Aufruf zum Kampf gegen General Franco folgten Tausende deutscher Genossen. Im Verein mit ihren ebenfalls militärisch ausgebildeten kommunistischen Genossen aus Frankreich und Italien und Freiwilligen aus vielen anderen Ländern Europas bildeten sie die Internationalen Brigaden. Unter den deutschen Angehörigen dieser Kontingente finden sich erneut die Namen: Zaisser,

16

Diese Namen gibt Fricke an, vgl. S. 18. π Vgl. Wollenberg, a. a. O. (577).

18

Vgl. Sachwörterbuch, S. 72ff.; vgl. auch die Darstellung bei Fricke, S. 18. Nach Crüger, S. 87, 90f. befand sich ein Teil des illegalen Apparates (zunächst) auch in Prag. 19 Vgl. Crüger, S. 99.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

Mielke, Stahlmann usw. 20 Obwohl der Bürgerkrieg damals nicht den von den Kommunisten erhofften Erfolg hatte, bezog das MfS diese historische Episode in seine revolutionären Traditionen mit ein. Der Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939 stürzte alle Mitglieder der KPD in tiefe Verzweiflung. Die unheilvolle Verbindung von widerstreitenden Ideologien machte die KPD orientierungslos und demoralisierte ihre Mitglieder. Das Unternehmen „Barbarossa", der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. 06. 1941, rückte dann das politische Weltbild der deutschen Kommunisten wieder zurecht und belebte die illegale Arbeit neu. Bis Kriegsende übte sich die KPD in politischer Agitation, Spionage für Moskau und Sabotageakten in der Rüstungsindustrie. 21

I I I . Ostdeutschland bis zur Gründung der DDR 1. Der Neubeginn Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 08. 05. 1945 war der Weg frei für die kommunistische Ideologie in Ostdeutschland. In der sowjetisch besetzten Zone fanden sich die Männer des illegalen Apparates der KPD, soweit sie noch lebten, wieder zusammen, um unter russischer Oberhoheit für diesen besetzten Teil Deutschlands neue antifaschistische deutsche Polizei- und Sicherheitsorgane zu schaffen. 22 Obwohl die Besatzungsmacht zur Sicherung ihres Regimes auf die von ihr errichtete Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und die ihr auf Landes- bzw. Provinzebene nachgeordneten Dienststellen zurückgreifen konnte, hatte sie es eilig, deutsche Polizeikräfte aufzubauen. 23 So entstand bereits im Juli 1946 eine zentral gelenkte Deutsche Verwaltung des Innern (DVdl) unter sowjetischer Kontrolle, 24 der alle deutschen Polizeikräfte untergeordnet waren. 25 Die Aufgaben, die man der DVdl übertrug, hatten bereits große Ähnlichkeit mit denen, zu deren Erfüllung bald das MfS gegründet werden sollte. Die DVdl konzentrierte sich in ihrer Tätigkeit auf die generelle Sicherung der re20

Auch diese Namen gibt Fricke an, vgl. S. 19; ferner: Wenzel, Politische Studien 1991, 602 (605). 21 Vgl. Blank/Mader, S. 120; Brockdorff, S. 293f. 22

Vgl. Hoffmann, S. 207f. bzw. S. 292. 23 So wurde bereits am 01. 06. 1945 die Deutsche Volkspolizei (DVP) gegründet; vgl. Überwachung, S. 23. 24 Lt. SBZ-Handbuch, S. 216 wurde die DVdl durch einen nicht numerierten und nicht veröffentlichten Befehl der SMAD vom 30. 07. 1946 gegründet. Dagegen behauptet: Staatssicherheit, S. 15, daß die DVdl erst am 01. 08. 1946 gegründet wurde. Sicher ist aber, daß die DVdl von Anfang an unter der Leitung erfahrener Alt-Kommunisten stand, darunter auch Erich Mielke; vgl. Politik, S. 39; Wenzel, Politische Studien 1991, 602 (606); Schell/Kalinka, S. 20; Fricke, SBZ-Archiv 1954, 149. 25 Vgl. die Darstellung bei Luers, S. 11-14.

1. Kap.: Die Entstehung des Staatssicherheitsdienstes

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volutionären Errungenschaften. Dazu gehörten der weitere Ausbau und die politische Stärkung der Polizeiorgane sowie die Sicherung der Zonengrenzen, der Kampf gegen subversive Tätigkeit, gegen Wirtschaftssabotage, Schieber und Schwarzhändler, und nicht zuletzt die systematische Schulung aller Mitarbeiter der Deutschen Verwaltung des Innern und aller Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung. 2. Vorläufer des MfS: Das Κ 5 Mit dem Befehl Nr. 201 der SMAD vom 16. 08. 1947 wurde ein weiterer Schritt in Richtung auf das spätere MfS vollzogen. Zwar hatte der angeführte Befehl eigentlich nur Richtlinien zur beschleunigten Entnazifizierung Ostdeutschlands enthalten, jedoch wurden gleichzeitig - im Interesse der Verfolgung von NS-Verbrechern - der Volkspolizei Befugnisse erteilt, die bislang nur der Besatzungsmacht vorbehalten waren. 26 Der Volkspolizei wurden Aufgaben und Befugnisse zugewiesen, die man üblicherweise bei den Staatsanwaltschaften findet. 27 Die Folge dieses Befehls war, daß - obwohl zunächst auf NS-Täter beschränkt - ein Teil der DVdl endgültig zu einer politischen Polizei wurde. 28 Der Befehl Nr. 201 wurde von der Volkspolizei konsequent umgesetzt, indem bei allen Polizeidienststellen der sowjetischen Besatzungszone ein politisches Kommissariat als zentrales Organ der Politischen (Geheim-)Polizei innerhalb der DVdl (K 5 ) gebildet wurde. 29 Der „Beritt" dieser Kommissariate setzte sich aus linientreuem, von den sowjetischen Sicherheitsorganen sorgfältig überprüftem Personal zusammen. Leitende Stellen in diesen Kommissariaten blieben „erprobten Kommunisten" 30 vorbehalten. Obwohl die Κ 5 eigentlich nur Abteilungen der Polizei waren, verfügten sie über einen eigenen Instanzenzug, ihre Tätigkeit war geheim. Der Grund für diese Besonderheiten liegt nicht zuletzt darin, daß die Besatzungsmacht den Aufgabenkreis der Κ 5 im Laufe der Zeit über den anfangs gesetzten Rahmen hinaus auszuweiten begann, das heißt die Κ 5 wurden auch zuständig für Fälle, die nichts mit Entnazifizierung zu tun hatten. Vielmehr waren sie nun zuständig für die Überwachung und Bekämpfung der „Gegner des demokratischen Aufbaus" 31 . Damit war 26 Vgl. Befehl Nr. 201 des Obersten Chefs der SMAD vom 16. 08. 1947: „Richtlinien zur Anwendung der Direktiven Nr. 24 und Nr. 38 des Kontrollrats"; ZVOB1. 1947, S. 185; auch abgedruckt in: Politik, S. 33f. (dort aber ohne Präambel); vgl. auch Hoffmann, S. 214. Er trat erst am 19. September 1955 außer Kraft; vgl. Hoffmann, S. 226. 27 Nach Nollau, S. 96f. erließen die Κ 5 u. a. Haftbefehle und verfaßten Anklageschriften. War eine Anklageschrift ausgefertigt und die Sache an die Staatsanwaltschaft abgegeben, so hatte diese nur noch die Funktion, die Anklage zu bestätigen. 28 Vgl. SBZ-Handbuch, S. 215. 29 Vgl. Überwachung, S. 19; nach: Staatssicherheit, S. 15, wurden die ersten Κ 5 bereits um die Jahreswende 1945/46 gebildet, allerdings zunächst noch als Hilfsorgane der sowjetischen Sicherheitsorgane; ebenso: Politik, S. 40; Hoffmann, S. 293. 30 Vgl. Fricke, S. 22; G/K, Einl. Rdnr. 1; vgl. ferner: Staatssicherheit, S. 15; Hoffmann, S. 222. 4 Engel

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

im Prinzip ein neuer ostdeutscher Nachrichtendienst entstanden, der allerdings wegen der erheblichen sowjetischen Exekutiv- und Kontrollbefugnisse, die die Besatzungsmacht sich vorbehalten hatte, eingeschränkt war.

3. Vorläufer des MfS: Der Ausschuß zum Schutz des Volkseigentums Gleichzeitig mit dem Aufbau der Κ 5 wurde im Rahmen der DVdl auf dem Gebiet der ehemaligen DDR am 05. 05. 1948 auf einen entsprechenden Beschluß des Sekretariats der Deutschen Wirtschaftskommission hin ein weiterer Sicherheitsapparat errichtet. Es handelte sich um den Ausschuß zum Schutz des Volkseigentums. 32 Ihm oblag „die Durchführung einer administrativen Kontrolle des gesamten Volkseigentums in allen Verwaltungszweigen und auf allen Verwaltungsebenen" 33 , also zum Beispiel der Schutz der beschlagnahmten Banken bzw. der enteigneten Betriebe vor Mißbrauch und Sabotage. Der Vorsitzende dieses Ausschusses war Erich Mielke; bezeichnenderweise übte er dieses Amt zusammen mit seinem bisherigen Amt als Vizepräsident der DVdl aus, wodurch er sich für eine spätere leitende Verwendung im MfS nachdrücklich empfahl.

IV. Die DDR 1. Die Sicherheitsapparate werden umorganisiert Nachdem die Deutschen Demokratischen Republik am 07. 10. 1949 gegründet war, fand eine Umorganisation der Sicherheitsapparate des neuen Staates statt. Eine provisorische Regierung in Ost-Berlin wurde gebildet, an die Stelle der DVdl trat das Ministerium des Inneren (Mdl). 3 4 In dieses wurde der Ausschuß zum Schutz des Volkseigentums eingegliedert. 35 Damit umfaßte das Mdl u.a. die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei und die Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft und damit auch die politische Polizei und den gehei-

31 von zur Mühlen, SBZ-Archiv, Nr. 22/1953, S. 337 (338); vgl. auch: Politik, S. 202. 32 Vgl. von zur Mühlen, SBZ-Archiv, Nr. 22/1953, S. 337 (338); Staatssicherheit, S. 17. Lt. SBZ-Handbuch, S. 216 gab es seit 1949 eine gleichnamige Hauptverwaltung innerhalb der DVdl. Ob diese parallel zur Haupverwaltung zum Schutz des Volkseigentums (innerhalb der Deutschen Wirtschaftskommission) existierte oder letztere ersetzt hat, ist unklar. 33 Vgl. den Wortlaut des Beschlusses des Sekretariats der Deutschen Wirtschaftskommission vom 05. 05. 1948 über die Funktionen des Ausschusses zum Schutz des Volkseigentums; ZVOB1. Nr. 15/ 1948, S. 146f; siehe auch: Staatssicherheit, S. 17. 34 Vgl. SBZ-Handbuch, S. 216. 35 Vgl. das Gesetz zur Überleitung der Verwaltung vom 12. Oktober 1949 (GBl. 1949, S. 17).

1. Kap.: Die Entstehung des Staatssicherheitsdienstes

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men Sicherheitsapparat. Zum Leiter dieses Ministeriums wurde ein ehemaliger Sozialdemokrat, Dr. Carl Steinhoff, bestellt, der „gewiß nicht der Mann war, ... den politischen Polizei- und geheimen Sicherheitsapparat eines kommunistisch regierten Staates auf die Dauer zu lenken und zu kontrollieren .. .". 3 6 Die Notwendigkeit, ein eigenes Ministerium für Staatssicherheit zu bilden, lag auf der Hand.

2. Vorarbeiten für das MfS Am 28. Ol. 1950 konnte man in den Ostberliner Zeitungen37 einen „Bericht über die verstärkte Tätigkeit von Spionen, Saboteuren und Agenten" 38 lesen. Der Hauptautor dieses Berichts war Erich Mielke. 39 Er war angefertigt worden für eine zwei Tage zuvor abgehaltene Kabinettssitzung der DDR-Regierung und beschäftigte sich mit den angeblichen Betätigungen westlicher Geheimdienste auf dem Gebiet der DDR. Propagandistisch gefärbt war von Diversions-, Sabotage- und Terrorakten und von umfangreicher Spionagetätigkeit zum Nachteil der DDR die Rede. Dementsprechend fiel die Reaktion der DDR-Regierung aus, die bezeichnenderweise zugleich mit dem genannten „Bericht" veröffentlicht wurde. Sie beschloß am 26. 01. 1950 40 zu handeln, und zwar in dem Bewußtsein, „daß mit dem Aufstieg unserer Wirtschaft, der Festigung der demokratischen Ordnung und dem Wachsen der Friedensfront sich die Tätigkeit der Agenten, Spione und Saboteure verschärft" habe. Für die Machthaber war bewiesen, „daß die Sabotagefälle die ideologische Vorbereitung gefunden haben durch die verstärkte Propaganda, durch Hetznachrichten des RIAS und der anderen feindlichen Sender, durch die Verbreitung von illegalen Flugblättern, durch offene und geheime Feinde unserer demokratischen Ordnung, die im Bereich unserer Republik wohnen und zum Teil sogar in Staatsstellungen tätig sind". Danach wurde die unbedingte Notwendigkeit postuliert, die Sicherheitsorgane des Staates zu befähigen, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Die Lösung des Problems wurde dann darin gesehen, ein „Berichtssystem über vorkommende Fälle von Sabotage, Spionage usw. derart zu organisieren, daß in Verbindung mit der Feindpropaganda von außen und der Tätigkeit der Agenten im Lande ständig ein Gesamtüberblick über den Stand der Feindtätigkeit zu erse36 Fricke, S. 23. 37 Als Paradebeispiel sei hier das Neue Deutschland vom 28. 01. 1950 Nr. 24, 5. Jahrgang, S. 4 genannt. Der Artikel findet sich aber auch noch zum Beispiel in der „Täglichen Rundschau" vom 28. 01. 1950. 38 „Gangster, Räuber und Mörder" Untertitel: „Ein Tatsachenbericht des Generalinspekteurs zum Schutz der Volkswirtschaft Erich Mielke", so hieß der Titel dann (auch) in der „Täglichen Rundschau"; Neues Deutschland vom 28. 01. 1950, a. a. O.; vgl. auch Hoffmann, S. 213. 39 Nach Studienmaterial, S. 66, war der Chef der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei, Dr. Kurt Fischer, ebenfalls (neben Mielke) Berichterstatter in dieser Angelegenheit. 40 Beschluß über die Abwehr gegen Sabotage der Regierung der DDR vom 26. 01. 1950 in: Neues Deutschland vom 28. 01. 1950. Einige Passagen daraus sind im Anschluß zitiert. 4*

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

hen ist. Hieraus müssen dann die operativen Maßnahmen getroffen werden." Damit war der Boden bereitet, auf dem sich demnächst der Kompetenz- und, wichtiger noch, der Machtwechsel vom Mdl zu einem eigenen Ministerium für Staatssicherheit vollziehen sollte.

3. Die Volkskammer handelt Unter Punkt 4 der Tagesordnung für die 10. Sitzung der Provisorischen Volkskammer am 08. 02. 1950, also nur knapp zwei Wochen nach den vorher genannten Veröffentlichungen, befand sich die Beratung und Beschlußfassung betreffend den Inhalt der Drucksache Nr. 41. Dabei handelte es sich um den Entwurf eines Gesetzes über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit. Er bestand lediglich aus zwei Paragraphen, in denen die Bildung des MfS aus der ehemaligen Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft angeordnet wurde. Aufgaben und Zuständigkeiten des neuen Ministeriums wurden im Gesetz nicht definiert. 41 Bemerkenswert ist aber, daß auch während der Beratung des Gesetzes keine genauen Ausführungen hierzu durch den Innenminister, Dr. Steinhoff, gemacht wurden. Vielmehr wurden von ihm zur Begründung des Gesetzes die Propagandaargumente vorgetragen, die bereits in den Zeitungen veröffentlicht worden waren (also: Spionage, Subversion, Sabotage usw.). 42 Anschließend wurde zum Kampf gegen die Aktivitäten der westlichen Geheimdienste aufgerufen: „Sie sind ... in jedem Sinn gegen unsere demokratische Ordnung, gegen den Wirtschaftsplan, gegen das Bestehen der Deutschen Demokratischen Republik und gegen die Friedenspolitik gerichtet. Die Deutsche Demokratische Republik bedeutet die Basis zur Schaffung eines einheitlichen demokratischen Deutschlands. Die Deutsche Demokratische Republik vertritt konsequent die vaterländischen Interessen aller wahrhaft deutschen Patrioten. Die Regierung kann daher eine Lage nicht zulassen, die gegen die erdrückende Mehrheit des deutschen Volkes gerichtet ist. Sie trägt die Verantwortung nicht nur für das Wohl und Wehe der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in der Zone, sondern gemäß ihrem Auftrag für ganz Deutschland."43 Mit diesem, einer Beschwörung der historischen Bedeutung der DDR gleichenden Rückzug in die Nebulosität der Allgemeinplätze wollte sich das frisch etablierte Regime also dem Zwang einer substantiierten Begründung entziehen. Einige die41

Vgl. das Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 08. 02. 1950; GBl. 1950, S. 95; auch abgedruckt in: Politik, S. 172. 42 Vgl. Fricke, S. 24; von zur Mühlen, SBZ-Archiv, Nr. 22/1953, S. 337 (339); Neues Deutschland vom 09. 02. 1950, 5. Jahrg. Nr. 34, S. 1; dort ist auch das MfS-Gesetz in seinem Wortlaut wiedergegeben. Wollweber, NJ 1956, 227 umschreibt noch 6 Jahre nach dem MfSGesetz die Aufgaben des Ministeriums mit ähnlichen Begriffen. « Volkskammerprotokoll, S. 213; vgl. auch Neues Deutschland vom 09. 02. 1950, 5. Jahrg., Nr. 34, S. 2 „Ein großer Tag in der Volkskammer"; dort finden sich die „Argumente" Steinhoffs nochmals teilweise wiedergegeben (Untertitel: „Sicherung unseres friedlichen Aufbaus").

1. Kap.: Die Entstehung des Staatssicherheitsdienstes

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ser Sätze sind schlichte Übertreibungen, zum Beispiel „ . . . Basis ... eines einheitlichen ... Deutschlands" oder „ . . . Interessen aller ... Patrioten"; andere lassen sich ohne weiteres als Unwahrheit entlarven, so wohnte „ . . . die erdrückende Mehrheit des deutschen Volkes ..." nicht in der DDR, sondern auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik. Diese war aber nicht Gegenstand der oben angeführten Aktivitäten der westlichen Geheimdienste. Man muß ja bedenken, daß das neue Gesetz sich gegen die fraglichen Aktivitäten richtete, soweit sie das Gebiet der ehemaligen DDR betrafen. Damit konnte es nur einem kleinen Teil des deutschen Volkes „Erleichterung" bringen. Nicht der Wahrheit entspricht auch die Behauptung von der Verantwortung der DDR-Regierung für ganz Deutschland. Ein derartiges Mandat ist ihr vom deutschen Volk nie erteilt worden. Vielmehr haben sich die SEDMachthaber dazu selbst ernannt. 44 Es wundert daher niemanden, daß, nachdem die Begründung für den Gesetzentwurf vorgetragen war und die Aussprache in der Volkskammer über das Gesetz beginnen sollte, keine Wortmeldungen erfolgten. Daher wurde die Beratung über den Gesetzentwurf kurzerhand durch den Volkskammerpräsidenten geschlossen und die Abstimmung angesetzt. Das Ergebnis: „Keine Stimmenthaltung und keine Gegenstimmen ... dieses Gesetz hat die einstimmige Annahme durch die Volkskammer erfahren." 45

V. Das MfS 1. Die maßgeblichen Personen des neuen Ministeriums Damit hatte die DDR ein Ministerium für Staatssicherheit errichtet. Zum ersten Minister wurde am 28. 02. 1950 Wilhelm Zaisser ernannt. Sein Staatssekretär wurde Erich Mielke, der später (am 01. 11. 1957) selber Minister für Staatssicherheit wurde und das MfS bis zu dessen Auflösung leitete. Eine beispiellose Kontinuität. Aber, um es vorwegzunehmen: Überblickt man die Führungsspitze des MfS in den Jahren von der Gründung bis zur Auflösung, so lassen sich zwei Folgerungen ziehen. Erstens, wo 1950 noch ein Minister und ein Staatssekretär genügten, dort bedurfte es ca. 40 Jahre später bereits eines Ministers, eines Ersten Stellvertreters und dreier weiterer Stellvertreter. 46 Alle Mitglieder der Führungsspitze sind letzt44 Allenfalls aus freien Wahlen ließe sich eine entsprechende Legitimation herleiten; jedoch war die SED im Westen Deutschlands chancenlos, und in Ostdeutschland waren Wahlfälschungen (begangen vom MfS) schon seit den ersten Wahlen an der Tagesordnung; vgl. dazu: Laufer, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. Β 5/91, S. 17ff. 45 Volkskammerprotokoll, (1. Volkskammer, 10. Sitzung, S. 214); vgl. auch die Schilderung in Studienmaterial, S. 67, die ebenso knapp und ohne sachlichen Gehalt, dafür aber mit viel Pathos, die Ereignisse in der Volkskammer „kommentiert". 46 Auf diesen Umstand hat Fricke bereits 1981 hingewiesen; Fricke, DA 1981, S. 9f. In der Folgezeit hat sich daran nichts mehr geändert; vgl. zum Beispiel Fricke, DA 1988, 479.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

lieh aus anderen Führungskadern des MfS hervorgegangen; Außenseiter hatten bis zum Schluß keine Chance.47 Zweitens: Eine derartige Kaderpolitik ist von dem Begriff „Kontinuität" geprägt. Dieser Umstand dürfte mit sicherheitspolitischen Erwägungen zu erklären sein. Jeder Wechsel in der MfS-Führung bedeutete für die SED insofern ein politisches Risiko, als sich eine neue Führung erst politisch hätte bewähren müssen.48 Also war der dauerhafte Einsatz zuverlässiger Leute erwünscht.

2. Ein schnelles Ende Dieses Ministerium schien allerdings kurzlebig zu sein. Nach dem Versagen des MfS anläßlich des Juni-Aufstandes im Jahre 1953,49 den das MfS weder vorausgesehen hatte noch verhindern konnte, wurde Ende Juli 1953 das Ministerium aufgelöst und als Staatsekretariat in das Ministerium des Inneren eingegliedert. Innenminister der DDR war zu dieser Zeit Willi Stoph. Zaisser wurde als Minister abgelöst. 50 Das Versagen war aber nur der „casus belli". Zaisser, der eine andere Auffassung vom Sozialismus als die damalige Parteiführung unter Ulbricht besaß, beteiligte sich 1952 / 53 an einem Komplott, mit welchem er das Ziel verfolgte, einen anderen Kurs durchzusetzen. Ulbricht brachte es jedoch fertig, diese Opposition zu zerschlagen. Da Zaisser sich bei der Durchsetzung seiner Ziele seines Sicherheitsapparates bedient hatte, war seine Entmachtung und die seines Apparates notwendig geworden. 51 Warum gerade diese organisatorische Maßnahme erfolgte, anstatt einfach den Minister auszuwechseln, bleibt letztlich unklar. Nahe liegt aber die Vermutung, daß sich die Ost-Berliner Führung an dem sowjetischen Vorbild orientieren wollte. Nach dem Tod Stalins war dort das Ministerium für Staatssicherheit aufgelöst und als Hauptverwaltung für Staatssicherheit in das Ministerium des Inneren eingegliedert worden. 52 Dieser Zustand währte allerdings nicht lange; 47 Vgl. Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 3 (7). 48 Vgl. Fricke, DA 1981, S. 9 (10); ders. DA 1988, 479 (480). 49 „Das Ministerium für Staatssicherheit hat im Kampf gegen die feindlichen Agenturen völlig versagt." so: Walter Ulbricht, in: Neues Deutschland vom 30. 07. 1953, zit. nach: Staatssicherheit, S. 18; vgl. auch die Darstellung bei Schell/Kaiinka, S. 73f; Hoffmann, S. 223f.; Fricke, DA 1983, 594 ist der Ansicht, daß MfS habe nicht versagt. Da es sich um einen spontanen Arbeiteraufstand gehandelt habe, konnte das MfS, trotz seiner Spitzel, nichts vorhersagen oder voraussehen. Allerdings bescheinigt Fricke dem MfS „ein erstaunliches Unvermögen"; Fricke, a. a. O. (595). so Vgl. Fricke, DA 1983, 594 (599f); so geschehen auf dem 15. Plenum des ZK; v. zur Mühlen, SBZ-Archiv 1956, 181. 51 Vgl. Überwachung, S. 19; Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 3 (4f.); Hoffmann, S. 209f. 52 Das vermutet zum Beispiel Fricke, S. 28; deutlicher noch: ders., DA 1990, 1881 (1882); Schell/Kaiinka, S. 253 weisen daraufhin, daß das MfS sich stets nach dem Vorbild des KGB organisiert hatte. Das dürfte nicht zuletzt auf den Einfluß sowjetischer Instrukteure, insbeson-

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bereits Anfang März 1954 wurde in der Sowjetunion das K G B (Komitee für Staatssicherheit) errichtet. A m 24.11. 1955 wurde die Eingliederung des Staatssicherheitsdienstes wieder rückgängig gemacht. Ulbricht glaubte, zu dieser Zeit die Entwicklung wieder voll in der Hand zu haben. 5 3 A u f Beschluß des Ministerrates der D D R wurde das Staatssekretariat für Staatssicherheit wieder in ein eigenes M i nisterium umgewandelt. 5 4 Neuer Minister wurde Ernst Wollweber; 5 5 sein Staatssekretär war erneut Erich Mielke. Die Staatssicherheit hatte also ihre Eigenständigkeit wiedererrungen. 56 Sie sollte sie bis zur Auflösung des MfS behalten.

2. Kapitel

Das Ende des MfS I. Die Wende Die Massendemonstrationen i m Herbst 1989 läuteten in der ehemaligen D D R die politische Wende ein. Eine besonders nachdrücklich erhobene Forderung der Demonstranten betraf die Auflösung des MfS. Die über Jahre aufgestauten Gefühle der Wut, Ohnmacht und Angst entluden sich in der unüberhörbaren Forderung, diese Behörde unverzüglich zu beseitigen und die Verantwortlichen zu bedere in den ersten Jahren des MfS, zurückzuführen sein; vgl. deswegen: v. zur Mühlen, SBZArchiv 1956, 181; v. Borcke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 33. Noch weiter in diese Richtung geht die Ansicht von Mechtel, Zwiegespräch Nr. 6, 13 (14f.), der meint, die Fremdbestimmung durch „Moskauer Vorstellungen und Anweisungen" sei so bedeutsam gewesen, daß „sich Honecker keine Politik" mehr ohne sie vorstellen konnte. 53 Vgl. Überwachung, S. 19; Worst, S. 9. Bezeichnenderweise wurde weder bei der Umwandlung des MfS in ein Staatssekretariat, noch bei der Rückverwandlung in ein Ministerium, das Gesetz über das MfS geändert, geschweige denn erwähnt, vgl. Fricke, S. 47; ferner: Fricke, DA 1983, 594 (600f., dort auch Fn. 32); v. zur Mühlen, SBZ-Archiv 1956, 181 behauptet, die organisatorische Rückbildung sei entsprechend dem sowjetischen Vorbild erfolgt. 54 Beschluß des Ministerrates vom 24. 11. 1955 über die Veränderung der Struktur des Regierungsapparates; GBl. 1956, 1; vgl. auch Fricke, SBZ-Archiv 1954, 149 (150). 55 Allerdings verfolgte auch der Altkommunist Wollweber seine eigenen Ziele und benutzte den MfS-Apparat für den Versuch, Ulbricht zu stürzen und eine andere Führung zu installieren; vgl. Fricke, DA 1983, 594 (602). Dieses Vorhaben mißlang jedoch; Wollweber wurde 1957 entmachtet. Offiziell ging er aus Gesundheitsgründen (wie in solchen Fällen üblich); vgl. St. SBZ-Archiv 1957, 321. An seine Stelle trat eine Leitung (Erich Mielke), die sich der Führung und der Kontrolle durch die Partei unterwarf. Eine nochmalige Herabstufung des MfS fand aber nicht statt; vgl. Überwachung, S. 20; Staatssicherheit S. 20; Politik, S. 335; Mielke soll am Sturz Wollwebers mitgewirkt haben; so: Wenzel, Politische Studien 1991, 602 (606); vgl. auch St., SBZ-Archiv 1957, 321 (322). 56 Unter Ulbrichts Nachfolger Honecker wurde das MfS immer stärker aufgewertet, insbesondere Mielke wurde geradezu „hofiert"; vgl. Fricke, DA 1981, 9.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

strafen. Obwohl die Demonstrationen völlig gewaltfrei verliefen, zeigten die Menschen in diesem Punkt eine derartige Einmütigkeit, daß die Anfang November 1989 gebildete Koalitionsregierung der Blockparteien nicht anders konnte, als dem Verlangen der Menschen nachzugeben. Dabei hatte ursprünglich, auch nach dem Führungswechsel von Erich Honecker zu Egon Krenz am 18. 10. 1989, 5 7 keiner der Regierenden daran gedacht, das MfS aufzulösen. 58 Schlimmer noch: In der Volkskammersitzung vom 13. 11. 1989 wurde sogar der Versuch gemacht, die MfS-Untaten der Vergangenheit zu rechtfertigen. 59 Lediglich ein neues Gesetz sollte erarbeitet werden, welches Zuständigkeiten, Befugnisse und Arbeitsmethoden regeln sollte. 6 0 Auch war geplant, einen Volkskammerausschuß zu bilden, der die Kontrolle über die Tätigkeit der Schutz- und Sicherheitsorgane ausüben sollte. 6 1 Von einer Auflösung des MfS war nicht die Rede. Jedoch war der Druck

57 Wahrscheinlich hat es sich bei diesem Wechsel um einen internen Putsch gehandelt, bei dem das MfS, vertreten durch Mielke, in der Lage war Honecker zu erpressen; vgl. Wenzel, Politische Studien 1991, 602 (608); ebenso: Schell/Kaiinka, S. 21, 64, 77; femer: Fricke, DA 1991, 5 (6f.). Für die Öffentlichkeit wurde behauptet, daß Honecker im Einvernehmen mit dem ZK aus Gesundheitsgründen (!) seinen Platz für Krenz räumte, vgl. Honeckers Rücktrittserklärung, zit. in: Vereinigung, S. 80. 58 Offenbar sah sich das System überhaupt nicht in Gefahr. Noch auf der 10. Tagung 10./11. November 1989 des ZK's der SED rief einer der Vertreter Mielkes den Anwesenden zu: " . . . wird sich das Ministerium für Staatssicherheit noch stärker auf die Aufklärung von Plänen und Absichten ... konzentrieren ..."; Mittag, zit. nach: Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (585); Gauck, S. 80 bzw. S. 95. Tatsächlich betrieb der „neue" Mann Krenz die „alte" Politik weiter, vgl. Schell/Kaiinka, S. 318f., was ihn schließlich zu Fall bringen sollte. 59 An diesem Tag versuchte Erich Mielke seine „Stasi" zu rechtfertigen. Nach Wenzel, Politische Studien 1991, 602, tat er dies jedoch so »jämmerlich, daß die Mitglieder des Scheinparlaments und die Zuschauer an den Fernsehgeräten in befreiendes Gelächter ausbrachen." Ein Auszug aus Mielkes Rede findet sich in: DA 1990, S. 121. Der volle Wortlaut der Rede ist abgedruckt in der „Frankfurter Rundschau" vom 16. November 1989. In diesem Zusammenhang fiel auch Mielkes berühmter Satz: „Aber ich liebe ... (euch) doch alle." vgl. auch Worst, S. 24; Wenzel, a. a. Ο. führt diesen Satz auf den fortschreitenden körperlichen und geistigen Verfall des inzwischen 85jährigen Mielke zurück. Wenn das wahr ist, so war Mielke zu dieser Zeit noch der gefürchtetste Greis der ehemaligen DDR. Lt. Wenzel, a. a. O., (603) zeigten die ärztlichen Untersuchungen nach seiner Verhaftung jedoch keine wesentlichen krankhaften Befunde. Auch Schell/Kaiinka berichten (S. 66), daß Mielke während seiner Amtstätigkeit bis zuletzt körperlich und geistig noch recht vital war. Trotzdem kann man nicht behaupten, Mielke habe der Volkskammer und der Nation eine Komödie vorgespielt; anzunehmen ist vielmehr, daß ihn der Absturz vom allmächtigen Staatssicherheitsminister zum ,3ürger" Mielke aus der Bahn geworfen hat, vgl. Schell/Kaiinka, S. 67, die ebenfalls annehmen, daß Mielke es ernst meinte. Von Vergreisung jedenfalls wollte Mielke nichts wissen; vgl. Schell/Kaiinka, S. 291. Vgl. ferner BerlVGH, NJW 1994,436 (440f.).

60 Vgl. MfS, S. 69; Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, S. 3; vgl. auch das Grundsatzreferat von Egon Krenz auf dem 10. Plenum des Zentralkomitees am 08. 11. 1989 in: Neues Deutschland, 09. 11. 1989. 61 Vgl. Fricke, DA 1989, 1340; MfS, S. 69; vgl. auch das Aktionsprogramm der SED in: Neues Deutschland, 11./12. 11. 1989, S. 3; Petzold, Horch und Guck Nr. 5 / (= Heft 9) 1993, 3(8).

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der Öffentlichkeit stärker. So erklärte der neue Ministerpräsident Hans Modrow (SED) 62 am 17. 11. 1989 in seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer u. a., daß das bisherige MfS in ein Amt für nationale Sicherheit umgewandelt werden würde. 63 Die Bevölkerung reagierte auf diesen Plan mit neuen Protesten, da sie darin lediglich den Versuch sah, die alte Organisation hinter einer neuen Fassade weiterzuführen. Tatsächlich sollte das neue Amt, wenngleich mit verringerter Personalausstattung, ähnliche Aufgaben wie das frühere MfS übernehmen; auch war nicht beabsichtigt, die bisherigen Mitarbeiter des MfS zu entlassen, um mit unbelasteten Personen einen Neuanfang zu machen.64 Schließlich sollte an die Spitze des Amtes ein Mann treten, der, wie der letzte Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, mit einem militärischen Dienstgrad versehen war. Dieser Mann war im MfS einer der vier Stellvertreter Mielkes gewesen. Es wundert daher nicht, daß von „oben her" keine Änderung der bestehenden Praxis zu erwarten war. 65 Allerdings waren zu dieser Zeit in den meisten Kreisen der DDR die Kreisdienststellen des MfS besetzt. Bürgerkomitees hatten die vorhandenen Akten sichergestellt und zumeist in die Bezirksverwaltungen des ehemaligen MfS gebracht. Seit dem 4. Dezember 1989 hatten sich auch in allen Bezirksstädten der DDR Bürgerkomitees gebildet, die den Versuch unternahmen, in den ehemaligen MfS-Dienststellen die Akten zu sichern und zu verhindern, daß noch Dokumente vernichtet bzw. gestohlen werden konnten.66 Es wurde auch höchste Zeit, denn das MfS hatte bereits mit der „Aktion Reißwolf' begonnen. Damit war die selektive Vernichtung von Dokumenten, Dossiers, Dienstanweisungen, Befehlen, IM-Akten, 62 Modrow löste am 13. 11. 1989 Egon Krenz (SED) als Generalsekretär des ZK der SED ab. 63 Vgl. die Erklärung von Modrow in: Neues Deutschland, 18./19. 11. 1989, S. 4. Nach Fricke, DA 1989, 1340 (1342) soll der Entschluß, das MfS abzuschaffen, die einzige Alternative gewesen sein, um die neue Regierung vom „fatalen Odium" des alten Apparates freizuhalten. Scheinbar ging es der Regierung Modrow nicht nur um einen bloßen Namenstausch, sondern um ein neues Verständnis für staatliche Sicherheit, vgl. Fricke, a. a. Ο. Α. A. ist Gauck, S. 81, der aus der historischen Distanz folgert, daß sich die Regierung Modrow mehr dem Unterdrückungsapparat der SED, denn der Bevölkerung verpflichtet fühlte. Vgl. auch Petzold, Horch und Guck, Nr. 5 / (= Heft 9) 1993, S. 3 (10). 64 Vgl. Fricke, DA 1990, 59 (61). 65 Vgl. auch die Darstellung in: MfS, S. 70, bzw. bei Fricke, DA 1989, 1340 (1343); ders., DA 1990, 59; nach: „Neues Deutschland" vom 20. 11. 1989, S. 3 gehörte der vorgesehene Stasi-Minister bereits seit 38 Jahren (!) dem MfS an; nach: Schell/Kaiinka, S. 322 wurden nur die Briefköpfe (der Behörde) ausgetauscht und sonst wenig verändert. Vgl. auch Petzold, Horch und Guck Nr. 5 / (= Heft 9) 1993, 3 (8). 66

Vgl. Gill/Schröter, S. 183; die von „Nacht-und-Nebel-Aktionen" sprechen; Worst, S. 25f.; Fricke, DA 1990, 59; teilweise wurde auch vorvernichtetes Material sichergestellt, vgl. Gauck, S. 12f., S. 76; DER SPIEGEL, Nr. 3/1992, S. 26 (32) berichtet davon, daß zum Beispiel die Namenskarten der bedeutendsten I M und Offiziere im besonderen Einsatz von MfS-Mitarbeitern gezogen und vernichtet worden sind. Vgl. auch die etwas pauschale Schilderung im BStU-Bericht, S. 4f. Nach Gauck, in: Hassemer/Starzacher-Gauck, S. 17 (18) hatten die Besetzungen der Stasi-Dienststellen i. d. R. den Charakter von Arbeitsbesuchen „ - unter Mitnahme von Volkspolizisten oder Militär-Staatsanwälten - ".

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Spitzelberichten, Videoaufzeichnungen und Tonträgern gemeint.67 Zur Vernichtung bestimmt waren aber auch Unterlagen über Wahlen, Berichte der Volkspolizei u. ä. Die entsprechenden Vernichtungsbefehle ergingen in den letzten Novembertagen an alle Bezirksverwaltungen auf Anweisung der Zentrale. 68 Jedoch bereiteten die Bürgerkomitees im Zusammenwirken mit der Volkspolizei und der Staatsanwaltschaft diesem Treiben ein Ende. 69 Das MfS/AfNS war nicht mehr arbeitsfä67 Vgl. Fricke, DA 1990, 1881 (1887). Nach Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (600) (dort unter Berufung auf Gauck) wurden Stasi-Akten, insbesondere der Auslandsaufklärung, einfach aus MfS-Gebäuden zur nächsten KGB-Dienststelle geschafft, was noch schlimmer war, als diese Unterlagen zu vernichten. Vgl. dazu auch Lampe, Protokoll der 9. Sitzung der Gemeinsamen Kommission der neuen Länder für das Stasi-Unterlagen-Gesetz, S. 14, der selbst derartige Aktentransfers beobachtet hat; ähnlich auch v. Borcke, BlOst Nr. 36/1992, S. 29f., wo es unter Berufung auf Hellenbroich heißt (30): „Jedenfalls,... findet sich in der Gauck-Behörde, keine einzige Akte über Aufklärungsleute ..." Diese seien „offenkundig von den übergelaufenen Stasi-Mitarbeitern an die Russen übergeben worden." 68 Vgl. MfS, S. 71 f.; Meinel, S. 204-211. Nach Ansicht des Abg. Hirsch geschah die Vernichtung des größten Teils der Unterlagen „unter der Verantwortung des verehrten Bundestagskollegen Modrow."; BT-InnenA-Prot. (6. Sitzung), S. 83. Die Vernichtung erfolgte durch Verbrennung bzw. Zerkleinern; ferner: DER SPIEGEL, Nr. 3/1992, S. 26 (33); ferner: Ammer/Memmler, S. 57, die einen dieser Vernichtungsbefehle betreffend „die unberechtigt angelegten Dokumente" (a. a. O., mithin also praktisch den gesamten Unterlagenbestand) im Wortlaut wiedergeben; vgl. auch Gauck, S. 89; Schell/Kaiinka, S. 354ff. Also hat die Hinterlassenschaft des MfS inzwischen erhebliche Lücken, so daß viele Spuren zu den geheimsten Täter nur mühsam oder gar nicht mehr gefunden werden können. Dabei kann nicht einmal mehr das genaue Verhältnis von bereits vernichtetem und noch vorhandenem Material angegeben werden (so Gauck, S. 14). Dieser Tatbestand wird selbst von Vertretern der PDS nicht mehr bestritten, allerdings wird von dieser Seite behauptet, westdeutsche Nachrichtendienste wären am Vernichtungswerk beteiligt gewesen; vgl. Jelpke, BT-Prot. (57. Sitzung) S. 4688 (4689). Dagegen wird von Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (599) behauptet, daß westdeutsche Nachrichtendienststellen noch im Dezember 1991 die Stasi-Akten bei der Gauck-Behörde nicht hätten einsehen dürfen. 69 Vgl. den eindrucksvollen Bericht über das Vorgehen der Bürgerbewegung in Rostock bei der Sicherung der dortigen MfS-Bezirksverwaltung, in: Ammer/Memmler, S. 29ff., der zumindest ein fragwürdiges Bild auf die Bereitschaft von Polizei und Staatsanwaltschaft (vgl. wegen der Staatsanwaltschaft auch, ebenda, S. 61 f.; Gauck, S. 80f.) wirft, gegen das MfS einzuschreiten, jedenfalls waren die „revolutionären" Bürger eindeutig aktiver als die Ermittlungsorgane. Ammer/Memmler, S. 33f. schildern das gleiche Ereignis dann aus der Sicht des MfS, anhand eines minutiösen Mitarbeitelprotokolls; vgl. wg. Rostock auch die Schilderung bei Gauck, S. Iii und bei Schell/Kaiinka, S. 323ff. Bezweifelt werden muß die Behauptung von G/K, Einl. Rdnr. 17, es habe „Sicherheitspartnerschaften zwischen Regierungsbeauftragten, Staatsanwälten, Polizei und Bürgerkomitees" gegeben. So wie in Rostock ging es in der Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1989 in vielen MfS-Dienststellen zu, so zum Beispiel in Dresden, Erfurt, Gera, Leipzig, Suhl etc. (nach: Fricke, DA 1990, 59). Allerdings soll es nach Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (585) keine Seltenheit gewesen sein, daß Stasi-Angehörige in die Bürgerkomitees gelangten, um dort weiter (erfolgreich) die Vernichtung von Unterlagen zu betreiben; in diesem Sinne auch: Schell/Kaiinka, S. 166ff., die von einem Betrug an den Bürgerkomitees sprechen. Vgl. auch Petzold, Horch und Guck Nr. 5/(= Heft 9) 1993, 3 (12) m. w. N. Tatsächlich gingen die Unterlagenvernichtungen auch noch zur Zeit der 10. Volkskammer - unter dem damaligen DDR-Innenminister Diestel weiter; vgl. Gauck, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 32f.

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hig. Daraufhin trat das leitende Kollegium des neuen AfNS am 05. 12. 1989 zurück. Eine Woche später wurden sämtliche Kreisdienststellen für nationale Sicherheit geschlossen. 70

II. Der Zentrale Runde Tisch Das war die Lage, als am 07. 12. 1989 zum ersten M a l der Runde Tisch in Berlin i m Kirchensaal der Herrnhuter Brüdergemeinde des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses zusammentrat. 71 Neben der Bürgerbewegung und den neuentstandenen Parteien, den bisherigen Blockparteien und der SED, waren insbesondere Kirchenvertreter, die auch die Moderation übernahmen, an den Beratungen des Runden Tisches beteiligt. 7 2 Das Ergebnis der ersten Sitzung war ein Beschluß, der unter dem Eindruck der Bürgerproteste die DDR-Regierung aufforderte, einen Maßnahmeplan öffentlich bekanntzugeben, wie durch eine geeignete Kontrolle des AfNS die Vernichtung von Dokumenten und Beweismitteln bzw. deren Mißbrauch verhindert werden konnte. Ferner wurde die DDR-Regierung aufgefordert, das AfNS unter ziviler Kontrolle aufzulösen. 73 Aus heutiger Sicht war dies eine ebenso nahelie-

70 Vgl. MfS, S. 72. Zu dieser Zeit geriet das Unterlagenmaterial erstmals in größere Unordnung. Soweit das Material nicht vernichtet wurde, wurde es in die Bezirksverwaltungen geschafft und dort entweder verbrannt oder zerrissen. Die Bürgerkomitees sorgten dann dafür, daß das Material aus Sicherheitsgründen rasch in Säcke kam oder zu Bündeln geschnürt wurde. Diese wurden an Orte verbracht, die leicht zu überwachen, aber als Archive ungeeignet waren (Bunker, Strafanstalten, Fahrzeughallen); vgl. BStU-Bericht, S. 7, 13. „Es war ein Alptraum für jeden Archivar."; BStU-Bericht, a. a. Ο. Allerdings meint Petzold, Horch und Guck Nr. 5 / (= Heft 9) 1993, 3 (13) daß selbst zu dieser Zeit die von der Regierung Modrow angeordneten Aktenvernichtungen teilweise unter dem Schutz des Militärs noch weiter gingen. Nur in wenigen Fällen konnten Dienststellen des BStU später in den angestammten MfS-Liegenschaften untergebracht werden. In den meisten Fällen waren die MfS-Gebäude in der Zeit nach der Wende, also vor dem 03. 10. 1990, neuen Zwecken zugeführt worden und standen damit für die Nutzung durch den BStU nicht mehr zur Verfügung. Neue Unterkünfte konnten ζ. T. in ehem. Kasernen oder anderen Einrichtungen der NVA gefunden werden, z. T. auch in Dienstgebäuden aufgelöster Behörden. In einigen Fällen mußten Container aufgestellt werden; vgl. den Bericht des BMI vom 30. 03. 1993 - Ζ 6-006 610 BStU/2, S. 1. Der bauliche Zustand der Außenarchive des BStU ließ noch im Frühjahr 1994 erheblich zu wünschen übrig. Stasi-Akten, die dort lagerten waren von der Vernichtung durch Feuchtigkeit bedroht, bauliche Sicherungen gegen Eingriffe Außenstehender fehlten oft. Teilweise waren Räume im Winter nicht beheizbar, teilweise bestand Einsturzgefahr von Wänden und Dekken; vgl. deswegen die Pressemitteilung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Nr. 53/1993 vom 10.03.93; Gauck, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 23. Gauck verweist (a. a. Ο.) ζ. B. auf die Außenstellen in Halle und Potsdam. Der BMI rechnet mit einem Aufwand für Baumaßnahmen zur Unterbringung des BStU von rd. 207 Mio. DM bis 1997; vgl. den o. a. Bericht des BMI vom 30. 03. 1993, S. 5.

71 Vgl. zur Entstehung des Runden Tisches die Darstellung bei Süß, DA 1991, 470 (470472). 7 2 Vgl. Süß, DA 1991, 470 (471).

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

gende wie grandiose Forderung. Einen Nachrichtendienst aufzulösen, der strukturiert war wie eine Armee, dessen Mitglieder bis hin zur Spitze militärische Dienstgrade bekleideten,74 und der obendrein auch noch die Größe einer Armee besaß, ist eine kaum realisierbare Aufgabe für Zivilisten, denen die genaue Kenntnis der einschlägigen Strukturen fehlt. 75 Allerdings sprach dies für den Einsatzwillen und die Motivation der Bürgerkomitees, mit dem alten System aufzuräumen. Schließlich enthielt der Beschluß noch die Forderung, die DDR-Regierung möge für die Handlungen der Bürgerkomitees den rechtlichen Rahmen abstecken. Die Reaktion der Regierung Modrow erfolgte rasch. Bereits einen Tag nach der Sitzung des Runden Tisches gab der Regierungssprecher bekannt, daß der Ministerpräsident in allen Bezirken Regierungsbeauftragte eingesetzt habe, die „in seinem Auftrag in engem Zusammenwirken mit den örtlichen Staats- und Rechtspflegeorganen und Vertretern des Bürgerkomitees alle mit der Tätigkeit der Dienststellen des Amtes für nationale Sicherheit zusammenhängenden Fragen beraten und einer Lösung zuführen" 76 sollten. Mit dieser schwammigen Formulierung wollte die DDR-Regierung Zeit gewinnen. Erst sollte beraten, das heißt geredet werden. Die aufgebrachte Bevölkerung in der ehemaligen DDR wollte aber kein Gerede mehr hören, sie wollte Taten sehen. Es wundert daher nicht, daß mit dieser Ankündigung niemand, der sich betroffen fühlte, wirklich zufrieden war. Hinzu kam der Umstand, daß die Bürgerkomitees den neuen Regierungsbeauftragten in den Bezirken mit erheblichem Mißtrauen begegneten.77 Dieses Mißtrauen bestätigte sich dann, als sich herausstellte, daß ein Teil dieser Beauftragten ehemalige Mitglieder des MfS - Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) - waren. 78 Von einem vertrauensvollen Zusammenwirken konnte also nicht die Rede sein.

73 Vgl. MfS, S. 72; Saathoff, S. 68. Der damalige Leiter des AfNS schlug hingegen den Bürgerbewegungen lediglich vor, die Akten Vernichtung gemeinsam vorzunehmen; vgl. Saathoff, a. a. O. 74 Vgl. § 14 II MfS-Statut, Statut des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates Nr. 5/69 vom 30. 06. 1969 („Geheime Kommandosache"), abgedruckt bei: S/D, S. 267 (272). 75 Paradoxerweise war dieser Nachrichtendienst auch wie eine (Bürgerkriegs-)Armee ausgerüstet (Fuhrpark) und bewaffnet. Seiner Größe entsprechend ging sein Jahresetat in die Milliarden DM; vgl. Fricke, DA 1990, 242 (244); ders., DA 1990, 1881 (1883); Schell/Kalinka, S. 49; vgl. auch Gauck, S. 76. 76 Zit. nach: Gill/Schröter, S. 178f. 77 Vgl. zum Beispiel für Rostock, Ammer/Memmler, S. 62. 78 Vgl. Gauck, S. 81; Gill/Schröter, S. 179. OibE waren Mitarbeiter des MfS, die unter einer Legende in der Volkswirtschaft oder in sonstigen gesellschaftlichen Bereichen für das MfS tätig waren; vgl. Nr. 2.1 der „OibE-Ordnung", Ordnung Nr. 6/86 über die Arbeit mit Offizieren im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit vom 17. 03. 1986 ( W S 0008-9/86). Man darf mit Fug und Recht von einer Elitetruppe des MfS sprechen. Nach G/K, Einl. Rdnr. 5 gehörten mehr als 3000 Personen in diese Kategorie.

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I I I . Die Pläne der Regierung Modrow Nachdem auch dieser Versuch, das MfS zu erhalten, aufgedeckt und mißlungen war, beschloß die Regierung Modrow am 14. 12. 1989, das AfNS aufzulösen 79 und an dessen Stelle ein Verfassungsschutzorgan der D D R und einen Auslandsnachrichtendienst der D D R zu setzen. 80 Auch dieses Konzept sollte prinzipiell mit den ehemaligen Mitarbeitern des MfS realisiert werden. Hohe Offiziere bzw. Generäle sollten leitende Funktionen in den neuen Diensten haben. Gleichzeitig beschloß die Regierung großzügige finanzielle Leistungen für MfS/AfNS-Angehörige, die in den neuen Diensten keine Verwendung finden sollten. Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß auch dieser Plan auf den entschiedenen Protest der Bevölkerung traf, 8 1 insbesondere, als öffentlich bekannt wurde, wie großzügig die Regierung Modrow die freizusetzenden Mitarbeiter von M f S / A f N S zu entschädigen bzw. zu versorgen gedachte. 82 Trotzdem wurde am 19. 12. 1989 ein Regierungsbeauftragter für die Auflösung des AfNS ernannt. Für die gewaltige Aufgabe hatte dieser Beauftragte einen Arbeitsstab von 30 Mitarbeitern. Verglichen mit den Legionen der MfS-Mitarbeiter bedeutete das sich ergebende krasse Mißverhältnis den wohl deutlichsten Hinweis auf die fehlende Ernsthaftigkeit des Bemühens, die Stasi aufzulösen.

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Vgl. die Regierungsinformation „Amt für Sicherheit wird aufgelöst", in: Neues Deutschland vom 18. 12. 1989; ferner: Fricke, DA 1990, S. 59. so Vgl. den Beschluß des Ministerrates (der DDR) Az: 6/18.a/89, Dienstsache 816/89 vom 14. 12. 1989 (85 Exemplare, 7 Seiten). Vgl. auch: Fricke, DA 1990, 59 (61); Worst, S. 29, 228 (dort Anm. 14). Bezeichnenderweise sollte dieser Beschluß, so war es vorgesehen, nach seiner Realisierung vernichtet werden. si Vgl. MfS, S. 73; Fricke, DA 1990, 59 (61) berichtet davon, daß der Protest (der demokratischen Opposition) so heftig war, daß er fast zur Spaltung des Runden Tisches geführt hätte; Worst, S. 30; Gauck, in: Hassemer/Starzacher-Gauck, S. 17 (19). 82 Vgl. Gauck, S. 83. Geplant waren eine großzügige Rentenregelung (für ältere Mitarbeiter), Übergangshilfen bei Ausscheiden aus dem MfS von bis zu 36 Monatseinkommen; vgl. deswegen auch: Schell/Kaiinka, S. 345f.; Scholz, BB 1991, 2515 (2518), und die Vermittlungjüngerer Stasi-Mitarbeiter in andere staatliche (!) Stellen. Der Übergang von Stasi-Mitarbeitern in andere öffentliche und wirtschaftliche Bereiche wurde seinerzeit als Personalabbau (!) deklariert, vgl. Schell/Kaiinka, S. 323. Heute ist klar, daß damit die Basis für die „alten Seilschaften" auf breiter Basis in den neuen Ländern gelegt wurde; vgl. Schell/Kalinka, S. 375. Vgl. auch die Petition des thüringischen LStU an den Deutschen Bundestag vom 20. 07. 1994 - Ha/Se - , wo es wörtlich heißt: „Dem kommunalen Arbeitgeberverband angehörig, Bezahlung nach Bundesangestelltentarif, arbeitsrechtliche Gleichstellung (mit) dem öffentlichen Dienst, so tummeln sich heute noch etliche 'Ehemalige' in sicheren Arbeitsverhältnissen." Der Deutsche Bundestag hat denn auch nach dem Beitritt durch das sog. Rentenüberleitungsgesetz die Stasi-Renten auf die Durchschnittsrente von 800 DM monatlich gekürzt und zwar unabhängig davon, ob es sich bei dem Mitarbeiter um eine Putzfrau oder einen General gehandelt hat. Die Verfassungsmäßigkeit dieses Tuns ist Mitte März 1994 vom Bundessozialgericht angezweifelt worden.

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IV. Der Runde Tisch und die Staatssicherheit Am 27. 12. 1989 beschäftigte sich der Runde Tisch erneut mit der Auflösung des MfS/AfNS. Er kritisierte die bisherigen Bemühungen der Regierung Modrow im Hinblick auf die Stasi-Auflösung und verlangte eine Stellungnahme kompetenter RegierungsVertreter über die Strukturen und Methoden des MfS. Gleichzeitig bildete der Runde Tisch eine Arbeitsgruppe Sicherheit, die als Kontrollinstrument für die Auflösung des MfS/AfNS dienen sollte. Das war ein Schritt, der bereits auf die sich abzeichnende Vertrauenskrise zwischen dem Runden Tisch und der Regierung hindeutete.83 Diese Krise kam in der 6. Sitzung des Runden Tischs am 08. 01. 1990 voll zum Ausbruch. In einer angespannten und zugespitzten Atmosphäre wurde das Thema „Staatssicherheit" erneut behandelt.84 Die Regierungsvertreter erklärten, daß bislang 25000 Mitarbeiter des MfS/AfNS entlassen und sämtliche 216 Kreisdienststellen des MfS aufgelöst worden seien. Alle Waffen des MfS befänden sich unter Verschluß des Innen- bzw. Verteidigungsministeriums. Bei der weiteren Befragung durch die Mitglieder des Runden Tisches stellte sich jedoch heraus, daß die Regierungsvertreter nicht in der Lage waren, selbst einfachste Fragen, die das MfS betrafen, zu beantworten. 85 Daraufhin sprachen die oppositionellen Mitglieder des Runden Tisches den Regierungsvertretern das Mißtrauen aus, im ganzen mißbilligte der Runde Tisch die unzureichende Beantwortung seiner Fragen und forderte erneut Auskunft von kompetenten Personen,86 insbesondere eine Stellungnahme von Ministerpräsident Modrow, der - unterwegs zu einem Staatsbesuch in Sofia - an der Sitzung des Runden Tisches nicht teilnehmen konnte.87 Daraufhin vertagte der Runde Tisch die Beratung auf den 15. 01. 1990. An diesem Tag nahm Ministerpräsident Modrow an den Beratungen teil. Er verwies allerdings nur auf eine kurz zuvor gegenüber der Volkskammer abgegebene Erklärung, wonach bis zum 06. 05. 1990 - für diesen Tag waren ursprünglich die Volkskammerwahlen angesetzt gewesen - keine neuen Institutionen gebildet würden, die mit nachrichtendienstlichen Aufgaben befaßt wären. Damit war klar, daß auch der Plan, einen Verfassungsschutz und einen Auslandsnachrichtendienst zu schaffen, gescheitert war. 88 „Nach wochenlangen Versuchen, in irgendeiner Form

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Worst, S. 30 hat sehr bildhaft, aber treffend ausgedrückt, in der Arbeitsgruppe habe ein „Krieg ohne Waffen" stattgefunden, nämlich „die Altkader" gegen die „jungen politischen Gruppen". Vgl. auch Saathoff, S. 68. 84 Fricke, DA 1990, 59 (61) spricht von „leidenschaftlichen Protesten der demokratischen Opposition", des Runden Tisches, die „fast zu dessen Spaltung führten"; vgl auch Worst, S. 31. 85 Vgl. Gill/Schröter, S. 180. So war zum Beispiel die Frage nach dem Standort des Zentralcomputers des MfS unbeantwortet geblieben; ferner: Süß, DA 1991, 470 (472). 86 Tatsächlich faßte der Ministerrat daraufhin am 13. 01. 1990, Az: 9/l.b/90; Dienstsache 48/90 u. a. den Beschluß, in der nächsten Sitzung des Runden Tisches am 15. 01. 1990 dessen Fragen durch Minister und kompetente Sachverständige zu beantworten. 87 Vgl. Süß, DA 1991, 470 (473).

2. Kap.: Das Ende des MfS

63

Nachfolgeeinrichtungen des MfS zu errichten, war damit durch die Regierung Modrow endgültig entschieden worden, das M f S / A f N S ersatzlos aufzulösen." 8 9 Das reichte aber der aufgebrachten Bevölkerung i m Ergebnis nicht. Noch am selben Tag drangen mehrere tausend Demonstranten in die Zentrale des MfS in der Normannenstraße ein, besetzten die Gebäude, bildeten gleich den bestehenden Vorbildern Bürgerkomitees und begannen die riesigen Aktenbestände des Ministeriums zu sichern. 9 0

V. Die Regierung der nationalen Verantwortung I m Anschluß an die Sitzung des Runden Tisches vom 15. Ol. 1990 wurde die Regierungskommission zur Auflösung des M f S / A f N S umgebildet. Sie bekam u. a. am 18. 01. 1990 einen neuen Regierungsbeauftragten als Leiter, und drei vom Runden Tisch am 22. 01. 1990 bestellte Beauftragte zur Kontrolle der Stasi-Auflösung stießen hinzu. 9 1 Das neue Gremium nahm am 29. 01. 1990 mit seiner ersten Arbeitsberatung seine Tätigkeit offiziell auf. Einen Tag zuvor war in der D D R eine Regierung der nationalen Verantwortung gebildet worden, nachdem Ministerpräsident Modrow sich mit dem Runden Tisch darauf verständigt hatte, daß alle Partei88 Was den Verfassungsschutz angeht, so hatte die Volkskammer bereits am 12. 01. 1990 beschlossen, einen solchen nicht zu bilden; vgl. Gill/Schröter, S. 204; MfS, S. 73 verweist auf einen entsprechenden Beschluß des Ministerrats vom gleichen Tage. Fricke, DA 1990, 242 vermutet, daß diese Erklärung die einzige Möglichkeit für Modrow war, einen Bruch der Regierungskoalition zu verhindern. Auch Süß, DA 1991, 470 (473) berichtet davon, daß die anderen Regierungsparteien auf Modrow Druck ausübten, vor den Volkskammerwahlen auf den Aufbau von Nachfolgeorganisationen für das MfS zu verzichten. 89 Gill/Schröter, S. 181; vgl. Gauck, S. 82. 90 Vgl. Lageberichte, S. 9; danach sollen sich allein im Haus VIII des MfS allein 18 km (!) Personendossiers befunden haben, über die auf eine 6 Mio. Namen (!) umfassende Kartei zugegriffen werden konnte. Allerdings verweist MfS, S. 73 darauf, daß die fragliche Demonstration von Angehörigen des MfS gesteuert worden sein soll; vgl. deswegen auch Gauck, S. 80; Worst, S. 36 bis 39; Hoffmann, S. 235. Ursprünglich sollte die vom Neuen Forum organisierte Demonstration nur an den Haupteingängen der ehemaligen MfS-Zentrale stattfinden (so: Ammer/Memmler, S. 10). Die Haupteingänge sollten mit Steinen zugemauert werden, als sich plötzlich das Haupttor öffnete (vgl. Gauck, S. 79; Schell/Kaiinka, S. 353f.). Gestürmt wurde dann nur der unwichtigste Gebäudetrakt (Büro- und Versorgungsräume; nach Gauck, a. a. O., ausschließlich Räume der Spionageabwehr). Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen; nach Schreier, Horch und Guck 1/1992, S. 3 (Teilnehmer der Besetzung) „erstürmte" die Mehrheit der Demonstranten die Kaufhalle, den Friseurladen, die Vorratskeller und den Buchladen des MfS, während sich andere „mit konkreten Zielstellungen in den Büros der Spionageabwehr zu schaffen machten." Wirklich wichtige Akten blieben unberührt bzw. konnten in konspirative Verstecke gebracht werden; vgl. auch Fricke, DA 1990, 242 (244f); bzw. die Darstellung in CILIP 35 (Nr. 1/1990), S. 52f. Wenn man dem Neuen Deutschland vom 16. 01. 1990 (zit. in: Vereinigung, S. 119f.) glauben will, hatten die Demonstranten das Gebäude nur betreten, um dort zu randalieren und alles zu plündern, was nicht niet- und nagelfest war. Wegen weiterer Pressereaktionen vgl. Worst, S. 32f. 91 Vgl. Gill/Schröter, S. 193.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

en und Bürgerbewegungen je einen Minister ohne Geschäftsbereich in die Regierung einbringen durften. 92 Erst jetzt waren wirklich die Voraussetzungen geschaffen, das MfS endgültig aufzulösen. Durch Beschluß des Ministerrates vom 08. 02. 199093 wurde für die weitere Auflösung des ehemaligen AfNS ein staatliches Auflösungskomitee gebildet. Es war der neuen Regierungskommission und der Regierung gegenüber rechenschaftspflichtig. Dieses Komitee sollte, um der Aufgabe gewachsen zu sein, aus Spezialisten bestehen, nötigenfalls aus ehemaligen Mitarbeitern des MfS. Tatsächlich ließ sich ein Rückgriff auf solche Mitarbeiter nicht vermeiden; von den 251 Mitarbeitern des Komitees waren 69 ehemalige MfS-Mitarbeiter. 94

VI. Die MfS-Auflösung schreitet voran Nun ging die weitere Auflösung rasch vor sich. Zum 31. 03. 1990 wurden alle Mitarbeiter des MfS aus ihrem Dienstverhältnis entlassen. Allerdings Schloß das Auflösungskomitee dann mit rd. 700 ehemaligen Mitarbeitern des MfS befristete Arbeitsverträge ab, um kompliziertere Teilaufgaben bei der weiteren Auflösung sachgerecht wahrnehmen zu können.95 Das bewegliche Sachvermögen des MfS wurde entweder anderen staatlichen Stellen gegeben (ζ. B. Waffen) oder an Betriebe und Private verkauft (ζ. B. Kraftfahrzeuge, EDV-Einrichtungen) oder verschrottet (ζ. B. Abhöranlagen). Dabei konnte der Gesamtwert des beweglichen Sachvermögens nicht mehr genau ermittelt werden, weil die Nachweisunterlagen unvollständig oder ungenau waren. Bis zum 30. 06. 1990 waren jedenfalls bewegliche Sachen im Wert von rd. 84 Mio. DM bereits verkauft. 96 Wesentlich problematischer gestaltete sich die Verwertung der Liegenschaften und Gebäude des ehemaligen MfS zugunsten neuer Nutzer. Zwar waren bereits Anfang Februar 1990 von den 216 Gebäuden der Kreisdienststellen 187 an neue Nutzer übergeben und einige Dienstobjekte auf andere staatliche Stellen übertra92 Diese „Verständigung", Süß, DA 1991, 470 (473) nennt sie „fast eine Kapitulation", fand in der Sitzung des Runden Tisches am 15. 01. 1990 statt, vgl. die Darstellung bei Süß, a. a. Ο. 93 Beschluß des Ministerrates (13/4/90 vom 08. 02. 1990 Dienstsache 125/90) über weitere Maßnahmen zur Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit, zit. bei Gill/ Schröter, S. 197; vgl. auch MfS, S. 74. Das Komitee bestand aus 2 Vertretern des Runden Tisches, 1 Regierungsbeauftragten und 2 Kirchen Vertretern. 94 Diese Zahlen geben an: Gill/Schröter, S. 201; nach MfS, S. 74f. hatte das Komitee (am 16. 05. 1990) 186 Mitglieder, von denen allein in der Zentrale 80 ehemalige MfS-Offiziere an der Auflösung ihrer ehemaligen Dienststelle mitwirkten, die (lt. Gauck, S. 83) sämtliche Leitungspositionen besetzten. 95 Vgl. Gill/Schröter, S. 202f. 96 Vgl. auch die Darstellung bei Gill/Schröter, S. 206 -208; dort findet sich auch die Zahlenangabe.

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ?

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gen worden, jedoch war den „Auflösern" die genaue Zahl der Liegenschaften anfangs nicht bekannt. Insbesondere konspirative Objekte und solche, die zwar vom MfS genutzt worden waren, aber eigentlich anderen Rechtsträgern gehörten, waren in ihrer Gesamtheit nicht bekannt. Nach einer späteren Aufstellung des Auflösungskomitees waren es insgesamt über 9200 Objekte! 97 Es wundert daher niemanden, daß es dem Auflösungskomitee und letztlich auch der Regierungskommission nicht möglich war, in der knappen Zeit bis zum Beitritt der ehemaligen DDR am 03. 10. 1990 alle Objekte einer neuen Nutzung zuzuführen. So war selbst nach der Vereinigung beider deutscher Staaten noch in einer Reihe von Fällen unklar, wer Rechtsträger eines bestimmten Objektes war. Diese Fälle wurden dann der Treuhandanstalt zur Klärung übergeben.98

VII. Das Ende der Auflösungsarbeit Inzwischen ist die offizielle Auflösung des MfS/AfNS vollendet.99 Übriggeblieben ist im wesentlichen nur das Schriftgut des MfS, also die Akten usw. Über deren Schicksal bis zur Vereinigung am 03. 10. 1990 ist bereits berichtet worden. 100

3. Kapitel

Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR? I. Die Sichtweise des MfS Die „offizielle" DDR hatte in einem Lehrbuch über das Staatsrecht der DDR auf diese Frage geantwortet: „Wie in jedem anderen sozialistischen Land, so bestehen auch in der DDR spezielle Organe zur Abwehr der verdeckten und heimtückischen Angriffe des Klassengegners gegen den sozialistischen Staat und seine Bürger. Diese Funktion obliegt dem Ministerium für Staatssicherheit mit seinen Organen. Es übt seine Tätigkeit unter Führung der Partei der Arbeiterklasse in strikter Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit aus ... Die Tätigkeit der Organe der Staatssicherheit beruht

97 Vgl. hierzu: Gill/Schröter, S. 209; vgl. auch die detaillierteren Angaben bei: MfS, S. 37. 98 Vgl. (bedauernd): Gill/Schröter, S. 211. 99 Vgl. Schell/Kaiinka, S. 378. A. A. ist MfS, S. 75, allerdings unter Berufung auf einen Bericht in: Neues Deutschland vom 28. 09. 1990(!). Krit. auch das Resümee von: Schwenke, CILIP 36 (Nr. 2/1990), 60 (72ff.). 100 Vgl. 1. Teil, 2. Kapitel, I - IV. 5 Engel

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

auf dem Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit ... Die Hauptaufgaben dieses Ministeriums und seiner Organe sind: - Aufklärung und Entlarvung der gegen den Frieden und die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR gerichteten Pläne und Maßnahmen der imperialistischen Kräfte und der verbrecherischen Aktionen ... der imperialistischen Geheimdienste und ihrer Helfer gegen die DDR und andere sozialistische Länder; - Unterbindung jeder staatsfeindlichen Tätigkeit gegen die politischen und ökonomischen Grundlagen der Arbeiter-und-Bauern-Macht; - Aufdeckung und Mitwirkung bei der Überwindung von feindlichen Einflüssen und anderen Bedingungen und Umständen, die Staatsverbrechen und andere, die sozialistische Entwicklung hemmende Handlungen begünstigen. Die Organe der Staatssicherheit erfüllen ihre Aufgaben im engen Vertrauensverhältnis zu den Werktätigen und den anderen staatlichen Organen und unterstützt von vielen patriotischen Kräften." 101

II. Zum Verständnis der DDR-Sichtweise 1. Verdunkelung Das erste, was bei der Betrachtung dieser Definition auffällt, ist die Tatsache, daß damit nichts erklärt, sondern eher verschleiert wird. Die Aufgaben und Methoden des MfS werden nicht klar umrissen, sondern hinter „sozialistischen" Gemeinplätzen wie „sozialistische Gesellschaft", imperialistische Kräfte", „Arbeiter-undBauern-Macht", versteckt. Wo dies nicht reicht, müssen andere nichtideologische und daher eigentlich wertfreie Begriffe herhalten. Begriffen, wie „Staatsverbrechen", „Vertrauensverhältnis" 102 oder „patriotische Kräfte", wurden andere Inhalte unterlegt. Diese Verdunkelungstaktik lag ganz auf der Linie der ehemaligen DDRStaatsführung. Niemand sollte genau wissen, woran er mit dem MfS eigentlich war. Je weniger über die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes öffentlich bekannt war und je mehr Gerüchte über sein Wirken kursierten, umso mehr hatten die Machthaber die Nation in ihrem Griff. Und schlimmer noch: Da das MfS keiner behördlichen oder parlamentarischen Kontrolle unterlag, sondern nur dem zentralen politischen Willen in dessen Spitze untergeordnet war, 103 war damit der Weg ιοί Staatsrecht, S. 375f.; etwas knapper gefaßt bei Schell/Kaiinka, S. 52; Fakten II, S. 15, 19f. Vgl. auch § lf. des „Statut des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik" (MfS-Statut), abgedruckt bei: S/D, S. 267ff. 102 Die Verwendung dieses Begriffs ist geradezu eine Verhöhnung derjenigen, die mit dem MfS „vertraut" (gemacht) wurden, wie noch zu zeigen sein wird. 103 Vgl. Politik, S. 173; Schell/Kaiinka, S. 68; Mechtel, Zwiegespräch Nr. 3, 13 (14); ders. Zwiegespräch Nr. 6, 13 (20).

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ?

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bereitet, einen Staat im Staate zu errichten; ohne diesen hätte die SED ihre Herrschaft in der DDR niemals so lange behaupten können.

2. Feindbilder 104 und Unwahrheiten Dennoch ist die genannte Definition in vieler Hinsicht bezeichnend. Sie gibt bei entsprechender Transformation in den Klartext - Hinweise darauf, wie das MfS mit den Bürgern des „Arbeiter-und-Bauern-Staates" umzugehen gedachte. Wenn von „Angriffen des Klassengegners" die Rede ist, so sind damit „Angriffe" gemeint, die das damals bestehende System in seinem Bestand gefährden konnten. Der Klassenfeind in diesem Sinne war selbstverständlich die „alte" Bundesrepublik Deutschland,105 und der Angriffsbegriff war so weit und diffus gefaßt, daß zum Beispiel bereits das „Westfernsehen" bzw. „Westradio" davon erfaßt wurde. Fricke hat es einmal treffend auf den Punkt gebracht: „Schon die Information, die das Nachrichtenmonopol des Regimes durchbricht, ist angesichts der ideologischpolitischen Selektion in der Nachrichtengebung der DDR-Medien eine ständige Herausforderung für die Mächtigen ... Um wieviel mehr sind es Sendungen, in denen über oppositionelle und regimefeindliche Bestrebungen in der SED oder ihrem Staat informiert wird." 1 0 6 Signifikant für den Stellenwert des einzelnen in der sozialistischen Gesellschaft war auch, daß der sozialistische Staat in der Definition vor seinen Bürgern genannt wurde, mithin der Erhalt des Staates vor dem Schutz der Bürger rangiert. Die Praxis des MfS zeigte dann auch, daß im Interesse des Staates selbst vor den eigenen Bürgern nicht haltgemacht wurde. 107 Mit der „Partei der Arbeiterklasse" war die damalige SED gemeint. Sie war die einzige beherrschende politische Kraft der damaligen DDR. Sie war nicht nur die Staatspartei, sie war praktisch der Staat. Die Ziele der SED waren identisch mit den Zielen des Staates, der von ihr gleichsam wie eine Marionette gelenkt wurde. Wer den Staat angriff, griff die SED an, und wer die SED angriff, mußte damit rechnen, daß sich das MfS, das von der SED geführt wurde, mit ihm „beschäftigte". Dabei sind die Verflechtungen von Partei- und MfS-Apparat so vielfältig gewesen, daß sie eine eigene Untersuchung wert sind. Es mangelt jedoch noch an einer 104 „Jeder Angehörige (Anm.: des MfS) benötigt ein reales und aufgabenbezogenes Feindbild."; so: Studienmaterial, S. 43. los Vgl. Wollweber, NJ 1956, 227; von zur Mühlen, SBZ-Archiv, Nr. 22/1953, 337 (339).

106 Opposition, S. 212f.; vgl. auch Lageberichte, S. 113 (117), wo im Rahmen einer Dienstbesprechung beim MfS der Einfluß der Westmedien auf die DDR-Bevölkerung angesprochen wird. 107 Vgl. Mechtel, Zwiegespräch Nr. 6, 13 (16). Es bedarf keines besonderen Beweises, daß dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland eine derartig menschenverachtende Einstellung abgeht; im Gegenteil, vgl. Art. 11 GG. 5*

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

tiefgründigen historischen Offenlegung. Für die juristische Aufarbeitung seien trotzdem einige grundlegende Feststellungen getroffen. Ausgangspunkt für die Beziehungen der jeweiligen SED-Ebene und dem MfSBereich war ein Befehl des Ministers für Staatssicherheit aus dem Jahr 1974, der aufgrund einer Sperrung des Archivs vom Untersuchungsausschuß Rostock nur noch im Entwurf dokumentiert werden konnte. Zur Zusammenarbeit von SED und MfS heißt es dort u. a.: „Die Informationstätigkeit an leitende Partei- und Staatsfunktionäre ist in allen operativen Diensteinheiten als Bestandteil und Ergebnis der politisch-operativen Arbeit des MfS zu organisieren. Sie ist auf der Grundlage der dem MfS von der Partei- und Staatsführung übertragenen Hauptaufgabe, den sich daraus für alle operativen Diensteinheiten ableitenden konkreten Verantwortlichkeiten und politisch-operativen Schwerpunkten und insbesondere unter Berücksichtigung des speziell dem MfS von der Partei- und Staatsführung eingeräumten Rechts der Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern und konspirativen Mitteln und Methoden zu organisieren." 108 Bereits hier wird deutlich, daß die Tätigkeit des MfS ihre Legitimation direkt von der Partei- und Staatsführung erhielt. Es fragt sich jedoch, wie sich dieses Auftragsverhältnis in der täglichen Überwachungs- und Unterdrückungsarbeit vollzog. Die Antwort auf diese Frage stellt eine im MfS-Bereich gebildete Struktureinheit zur Information der jeweiligen Parteiebene dar. Diese Struktureinheit war die Auswertungs- und Informationsgruppe (AIG), die dem Leiter der Bezirksverwaltung des MfS unmittelbar unterstand. 109 Die AIG war beauftragt, beginnend bei den 1. Sekretären der jeweiligen SED-Ebene erforderliche MfS-Informationen zuzuleiten, wobei der Empfängerkreis unter dem Gesichtspunkt der Geheimhaltung so klein wie möglich zu halten war. 110 Eine prinzipielle Informationspflicht be108 Zit. nach: Rostock, S. 75. 109 Vgl. Frankfurt (Oder), S. 81. no Der Personenkreis, welcher als unmittelbarer Nutznießer der MfS-Informationen in Erscheinung trat, ist schwierig zu bestimmen. Nimmt man nur die sog. Parteiinformationen als Maßstab, so gab es neben dem 1. Sekretär des ZK der SED, den 1. Sekretären der SED-Bezirksleitungen und den 1. Sekretären der SED-Kreisleitungen folgenden Adressatenkreis: a) ßr Informationen aus der Mß-Zentrale: die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, der Vorsitzende des Ministerrates, die 1. Stellvertreter, Stellvertreter und Mitglieder des Ministerrates und die Leiter weiterer zentraler staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen; b)ßr Informationen aus den Bezirksverwaltungen des MfS: die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, die Leiter der Abteilung Sicherheit der SED-Bezirks Verwaltungen, die Vorsitzenden der Räte der Bezirke, die Chefs der Bezirksverwaltungen der Deutschen Volkspolizei, die Bezirksstaatsanwälte und die Kommandeure der Grenzkommandos; c) ßr Informationen aus den Bezirksverwaltungen des MfS in besonderen Fällen (!): die 1. Sekretäre der FDJ-Bezirksleitungen, die Leiter der Wehrbezirkskommandos, die Oberbürgermeister der Bezirksstädte, die Direktoren von Kombinaten und wichtigen Großbetrieben sowie die Leiter und Parteisekretäre anderer staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen (Kliniken, Universitäten usw.); d) ßr Informationen aus den Kreisdienststellen des Mß: i. d. R. ausschließlich die 1. Sekretäre der SED-Kreisleitungen, wobei bei vorhandenen Objektdienststellen - größere Betriebe hatten zuweilen eine eigene MfS-Dienststelle auf dem Betriebsgelände - die verant-

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ?

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stand laut einem MfS-Befehl u. a. für: „ . . . Im Verantwortungsbereich festgestellte feindliche Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen auf politischem, ideologischem, ökonomischem, militärischem und weiteren Gebieten sowie anderen subversiven Aktivitäten des Gegners zur Verwirklichung seiner Pläne und Absichten, die dabei konkret festgestellten Auswirkungen und andere Erscheinungen, die im Zusammenhang damit beachtet werden müssen . . . " m Informationspflichtig war das MfS auch für: „Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen, die der Durchsetzung der Beschlüsse und Aufgaben der Partei und des Staates entgegenwirken, die geeignet sind, die Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens im Verantwortungsbereich zu hemmen, die begünstigende Bedingungen und Umstände für das Wirksamwerden feindlicher und negativer Kräfte darstellen .. " 1 1 2 Unter dieser Prämisse ließen sich ζ. B. die Bezirkssekretäre der SED nicht nur über „staatsfeindliche Hetze" und „feindliche Kontakttätigkeit" informieren, sondern waren auch an Personenkreisen mit feindlichen Ideologien wie dem Sozialdemokratismus oder Liberalismus interessiert. Über diese Berichte profitierten die SED-Funktionäre nicht nur direkt vom MfS-Bespitzelungssystem, sie ließen sich auch unmittelbar anhand von „Beweismitteln" in Kenntnis setzen. „Teilweise enthielten die Informationen auch Anhänge mit Fotodokumentationen, Abschriften/ Ablichtungen von Briefen,,subversiven' Aufrufen usw. Pro Bericht wurden 4 bis 7 Exemplare angefertigt, wobei das Original in der Regel an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung ... ging." 1 1 3 So nutzten die Bezirkssekretäre ζ. T. durch persönliche Zurhandnahme die seitens des MfS widerrechtlich - ζ. B. durch Brieföffnung - gewonnenen Objekte. Die Anzahl dieser Parteiberichte nahm im Laufe der Zeit kontinuierlich zu. 1 1 4 Doch diese Parteiberichte waren keineswegs nur Informationsmittel. Sie waren vielmehr Ausgangspunkt gezielter, durch die Bezirksleitung der SED initiierter Repressionsmaßnahmen verschiedener staatlicher Organe einschließlich des MfS. Aus Neubrandenburg ist beispielsweise folgender Hinweis aus einem MfS-Papier über „feindliche Aktivitäten" in kirchlichen Kreisen bekannt: „Bei Beachtung der Entwicklung und Aktivitäten in der DDR und im Bezirk Neubrandenburg existierender personeller Zusammenschlüsse und anderer Erscheinungen der politischen Untergrundtätigkeit wird vorgeschlagen: 1. Die Koordinierungsgruppe Kirche bei der Bezirksleitung der SED sollte ihre bewährte Federführung bei der politischen Bekämpfung aller genannten Erscheinungsforwortlichen Leiter der Objekte und die 1. Sekretäre der jeweiligen zentralen Parteileitung informiert worden sind. Quelle: Schreiben des Abg. Schwanitz, an den Arbeitskreis Recht seiner Partei vom 26. 12. 1990, S. 2f.. Daher beschränkt sich die Darstellung hier auf die Ebene der Bezirkssekretäre der SED. m Zit. nach: Rostock, S. 77. 112 Zit. nach: Rostock, a. a. O. 113 Zit. nach: Rostock, S. 80. 114 Vgl. für Rostock: 1984: 78 Stück, 1987: 106 Stück, 1988/89: alle zwei bis drei Tage (!) ein Bericht; Quelle: Rostock, S. 81.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

men ... weiter ausbauen. Dazu notwendige Festlegungen hinsichtlich der bekannten personellen Schwerpunkte sollten wie bisher abgestimmt getroffen und über die ... Koordinierungsgruppen bei den KL-SED ständig aktuell umgesetzt werden ... 3. Repressive Maßnahmen gegen die im Verantwortungsbereich vorhandenen personellen Zusammenschlüsse und deren Mitglieder sind aufgrund der Lage im Territorium aktuell nicht angebracht. Ausnahmen sollten anlaßbezogen in der Koordinierungsgruppe Kirche bei der BL-SED beraten und abgestimmt realisiert werden." 115 Hier tritt die SED-Bezirksleitung nicht nur als Informationsabnehmer des MfS in Erscheinung, sondern die Bezirksleitung wird vielmehr zum direkten Entscheidungsträger bei ausgewählten Repressivhandlungen. Ein weiteres Feld der Zusammenarbeit zwischen SED und MfS war im Rahmen der sog. Einsatzleitungen gegeben. Derartige Gremien bestanden sowohl auf Bezirks- als auch auf Kreisebene. Es ist heute sicher, daß diese Einsatzleitungen vor allem für die Wahrnehmung staatlicher Funktionen im Krisenfall konzipiert waren. Die Ereignisse im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution zeigen, daß die Einsatzleitungen jedoch auch handfeste Kompetenzen als Unterdrückungsinstrument besaßen. Personell setzte sich eine Bezirkseinsatzleitung wie folgt zusammen: - der 1. und 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED, - der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, - der Leiter der Abt. Sicherheit d. Bezirksleitung der SED, - der Chef des Wehrkreiskommandos, - der Chef der Bezirksbehörde d. Deutschen Volkspolizei und - der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS. 1 1 6 Die Regie einer Bezirkseinsatzleitung lag, quasi durch die Funktion, immer in der Hand des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung. 117 Die Einsatzleitungen beauftragten das MfS nicht nur ihrerseits mit der Überwachung bestimmter Personen, 118 sie ordneten auch spezielle Unterdrückungsmaßnahmen in koordinierter Form an, für die die Einsatzleitungen - bei der aufgezeigten Personalbesetzung - die besten Voraussetzungen boten. Aus Rostock ist ζ. B. ein Beschluß des Sekreteriats der SED-Bezirksleitung vom 21. 03. 1984 bekannt, in dem u. a. folgendes festgestellt wurde: „Die 1. Sekretäre nehmen regelmäßig Konsultationen mit den Kreisdienststellen des MfS ... vor. In den Kreiseinsatzleitungssitzungen werden die Fragen der Zurückdrängung behandelt und auf der Grundlage der Berichte der Mitglieder us 116 117 us

Zit nach: Saß/Suchodoletz, S. 140. Vgl. Suhl, S. 40. Vgl. Saß/Suchodoletz, S. 125. Vgl. Rostock, S. 85.

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ?

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operative Maßnahmen festgelegt. . . . A u f provokatorisches Verhalten von Übersiedlungsersuchenden wurde in den letzten Wochen Einfluß genommen - durch verstärkte Bahnhöfen usw.;

Überwachungstätigkeit

in Betrieben,

Wohngebieten,

auf

- durch Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen.. , " 1 1 9 Daraus folgt, daß die jeweiligen SED-Ebenen, d. h. die 1. Sekretäre der Partei, die volle persönliche Verantwortung für die Tätigkeit des MfS in ihrem Vollzugsbereich inne hatten. Insbesondere die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen waren nicht nur Nutznießer, sondern auch Veranlasser zahlreicher MfS-Aktivitäten. Damit ist erwiesen, daß der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen D D R letztlich nur dazu diente, die Macht der SED zu erhalten. Der Begriff der „sozialistischen Gesetzlichkeit" ist anfechtbar. 120 Jede Form der Gesetzlichkeit setzt voraus, daß es überhaupt rechtsstaatliche Gesetze gibt, die dem Staat i. w. S. Beschränkungen für sein Handeln auferlegen. Das war i m Fall des MfS nicht gegeben. 1 2 1 Das in der Definition genannte Gesetz umschreibt die Befugnisgrenzen des MfS n i c h t . 1 2 2 Es mag sein, daß der Staatssicherheitsdienst sich i m Rahmen seiner Tätigkeit als Ermittlungsorgan i m Strafprozeß an die Bestimmungen der ehemaligen DDR-StPO gehalten hat. Jedoch war dies nur eine Nebentätigkeit des Ministeriums. Es bedarf kaum eines Nachweises, daß die 119 Zit. nach Rostock, S. 92. Diese Ausführungen geben die Alltagsarbeit der Einsatzleitungen wieder. Es bedarf besonderer Untersuchungen, um aufzuzeigen, welche Rolle diese Befehlsgremien bei den Ereignissen im Herbst 1989 - etwa bei den „Montagsdemonstrationen" - spielten. 120 Der Begriff stammt aus der Zeit unmittelbar nach Stalins Tod und kennzeichnet Reformbestrebungen im Zusammenhang mit der Entstalinisierung in der ehem. UdSSR. Das Ende der politischen Säuberungen bzw. die Freilassung politischer Gefangener war damit gemeint. Erstmals tauchte dieser Begriff in der „Prawda" vom 06. April 1953 auf ; vgl. Leonhard, S. 183. In der ehem. DDR wurde nur der Begriff übernommen, die damit verbundenen Inhalte nicht. Versuche kritischer Theoretiker (z. B. Harich, Behrens, Benary, Janka), Reformkonzepte vorzulegen, scheiterten. Die Verfechter solcher Konzepte wurden entweder von ihren Positionen entfernt, degradiert oder verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt; vgl. Leonhard, S. 372 bis 375; Hoffmann, S. 210. Einer der Reformvorschläge ging dahin, den Staatssicherheitsdienst aufzulösen. Damit soll nicht gesagt sein, daß alle unter der Herrschaft der SED in Kraft befindlich gewesenen Gesetze der DDR weithin mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar waren. Im Gegenteil, daß Arbeits-, Familien- und Zivilgesetzbuch würden ζ. B. auch bundesdeutschen Ansprüchen genügt haben. Die Kritik setzt vielmehr an der Tatsache an, daß die Rechtsordnung nach der Ideologie und Politik der SED ausgerichtet war; vgl. Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. Β 4/93, 13. 121

Etwas derartiges hat es im SED-System nie gegeben; im Gegenteil, schon vor 1949 hat man sich auf dem Boden der ehemaligen DDR vom herkömmlichen Rechtsstaatsbegriff verabschiedet und einen solchen sozialistischer Prägung konstruiert, um die eigene staatliche Existenz zu rechtfertigen; vgl. Sieveking, S. 46, 67ff; ferner BGH, NJW 1994, 529 (530). A. A. war das MfS, vgl. das Interview mit dem früheren Stellvertreter Mielkes, Rudi Mittig, in Neues Deutschland vom 06. 11. 1989, S. 3. 1 22 Vgl. das Gesetz, GBl. 1950, 95.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

Hauptaufgabe des MfS darin bestand, das seinerzeit bestehende Herrschafts- und Gesellschaftssystem nach innen zu sichern, das heißt oppositionelle Regungen und klassenfeindliche Umtriebe zu erkennen und zu bekämpfen. Die präventiv-überwachende Tätigkeit stand eindeutig im Vordergrund der S tasi-Arbeit. 123 Zu diesem Zweck und nur dazu sind jene Unmengen von Akten angehäuft worden, mit deren verantwortungsvollem Umgang sich diese Untersuchung beschäftigt. Zunächst bleibt aber festzustellen, daß es mit der Gesetzlichkeit im Zusammenhang mit dem MfS nicht gut bestellt war. 1 2 4 Aber selbst wenn es eine solche Gesetzlichkeit gegeben hätte, hätte sie jedenfalls nicht rechtsstaatlichen Überlegungen entsprochen, sondern „sozialistischen". Was „sozialistisch" war oder, prägnanter ausgedrückt, „wer" sozialistisch war, bestimmte der sozialistische Staat und damit letztlich die SED. Folglich war jeder Andersdenkende Beobachtungsobjekt des MfS, da er außerhalb der sozialistischen Gesetzlichkeit stand. Dieser Begriff baute also keine Schranken für das staatliche Handeln auf, sondern fegte die letzten juristischen Konturen, die mit dem Begriff „Gesetzlichkeit" verknüpft waren, hinweg. 125 Begriffe wie „feindliche Einflüsse", „verbrecherische Aktionen", „imperialistische Kräfte" sollten jedem Unkundigen klarmachen, daß die DDR trotz einer „entwickelten sozialistischen Gesellschaft" einem ständigen Existenzkampf um ihre Unabhängigkeit ausgesetzt war. Jeder Bürger sollte wachsam sein, 126 damit die staatlicherseits verordnete Heilsvorstellung, d. h. der real existierende Sozialismus, gemeinsam mit den anderen sozialistischen Bruderländern errungen werden konnte. Mit dieser Überlegung wurde das Bespitzeln von Bürgern durch das MfS oder andere Bürger im Dienst des MfS gesellschaftsfähig gemacht. Der Umfang dieses Tuns ist erst bekannt geworden, als die Stasi und mit ihr die DDR untergin-

123 Vgl. Materialien, S. 70.

124 Vgl. G/K, Einl. Rdnr. 12. Anders sah diesen Punkt das MfS; vgl. Fakten II, S. 26f., 28ff., 3Iff. 125 Vgl. Mötsch, Helmrich-FS, S. 95 (96). Man vgl. auch, welchen Mißbrauch Wollweber, NJ 1956, 227f. mit diesem Begriff treibt, um die Maßnahmen des MfS zu verharmlosen bzw. zu legalisieren. Selbst einige „Fehler, die gemacht wurden, ändern nichts an der Tatsache, daß die Organe der Staatssicherheit nach strengen Richtlinien über die Einhaltung der Gesetzlichkeit arbeiten." (Wollweber, a. a. O.); vgl. ferner die krit. Auseinandersetzung bei: Sieveking, S. 109ff., 115ff. 126 Vgl. Wollweber, NJ 1956, 227 (228); Fricke, S. 99; Studienmaterial, S. 2; Worst, S. 13 unter Berufung auf Mielke. Ähnlich: Mechtel, Zwiegespräch Nr. 6, 13 (17). 127 Für die DDR ist dies sicher, ob die Stasi bzw. ihre Reste nicht noch teilweise im Untergrund oder unerkannt in anderer Rechtsform tätig sind, ist völlig unklar. Der Apparat des MfS ist zwar zerschlagen, aber ob sich nicht noch Teilstrukturen regenerieren werden, das heißt konspirative Aktivitäten ehemaliger MfS-Offiziere zu besorgen sind, kann heute noch nicht beantwortet werden. Jedenfalls gibt es schon Zusammenschlüsse ehemaliger Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes (und anderer bewaffneter Ministerien) unter den Namen ISOR und ODOM. Diese Vereinigungen nehmen für sich in Anspruch, reine Interessenvertretungen zu sein; vgl. Schmieder, BT-Prot. S. 4675 (4683); dieser „ . . . möchte sie fast als

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR?

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Fraglos hat jeder Staat ein Recht darauf, einen eigenen Nachrichtendienst zu haben. Am MfS fiel aber auf, daß der Personalbestand im Abwehrsektor gegenüber dem Aufklärungssektor um ein Vielfaches größer war, was auf die vorherrschende innere Sicherungsfunktion zurückzuführen ist; und wichtiger noch: das MfS besaß Polizeibefugnisse, 128 von denen es in seiner Geschichte regen Gebrauch machte. Gemeint sind Verhaftungen, Hausdurchsuchungen usw. Der vergleichbare Nachrichtendienst, der Verfassungsschutz, kennt weder eine derart kämpferische Aufgabenumschreibung, noch besitzt er irgendwelche Polizeibefugnisse, von einer vergleichbaren personellen Ausstattung ganz zu schweigen.129 Letztlich dienen die kämpferischen Phrasen also weniger der Aufgabenerfüllung als der Einschüchterung der eigenen Bevölkerung mit der Überlegung: Wer sich so aggressiv gibt, dem kommt man besser nicht zu nahe. Aus heutiger Sicht kann aber festgestellt werden, daß die ehemaligen Machthaber einen historischen Irrtum begangen haben. Die Behauptung, die DDR besitze eine entwickelte sozialistische Gesellschaft, die man schützen müsse, ist gemeinsam mit dem alten System im Nov. 1989 anläßlich der „stillen Revolution" widerlegt worden. Die Mehrheit der Ex-DDR-Bürger wollte eine solche Gesellschaft nicht, die nur einzelnen herrschenden Personen Privilegien zuwies und die große Masse mit dem Volkseigentum abfand. Daran konnte auch das MfS nichts ändern; es konnte den Zusammenbruch verzögern, aber aufhalten konnte es ihn nicht. Erst der Zusammenbruch hat den Umfang der Tätigkeit des MfS in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. Für eine genaue Beschreibung dessen, was der ehemalige Staatssicherheitsdienst der DDR war, ist die oben I. genannte Definition also denkbar ungeeignet. Es muß versucht werden, den Staatssicherheitsdienst von einem Ansatz außerhalb des ehemaligen SED-Systems zu beschreiben.

3. Das MfS aus bundesdeutscher Sicht Die erste Überlegung hierzu hat bei der Vergleichbarkeit des MfS mit den Nachrichtendiensten der Bundesrepublik anzusetzen. Sollten die MfS-Mitarbeiter nämlich nichts anderes getan haben als die Mitarbeiter aller Nachrichtendienste - einschließlich jener der Bundesrepublik - , so ist es nicht möglich, ihre Tätigkeit als unrechtmäßig zu betrachten. Nachfolgeorganisationen bezeichnen" und „ . . . ein wachsames Auge auf sie ... werfen." (Schmieder, a. a. O.); vgl. auch: DER SPIEGEL, Nr. 31/1991, S. 51. Tatsächlich liegt in der Zahl der ehemaligen Mitarbeiter, die nach Schätzungen zu zwei Dritteln arbeitslos sind bzw. soweit sie tätig sind, ζ. T. nur untergeordnete Funktionen erfüllen, ein soziales Unruhepotential; vgl. Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (588); vgl. auch Büttner, BT-Drucks. 12/ 4434, S. 14f., Fragen 23 bis 26 und die Antworten der Bundesregierung hierzu. 128 Vgl. z. B. § 20 II Volkspolizeigesetz der ehem. DDR. 129 Vgl. Schell/Kaiinka, S. 220ff.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

Hier wird man nun entsprechend der Aufteilung der Funktionen der hiesigen Nachrichtendienste nach der Inlands- und der Auslandsaufklärung zu differenzieren haben. Für den Bereich der Auslandsaufklärung, also beim Vergleich zwischen dem BND und der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HVA), ist die Behauptung von der Vergleichbarkeit der Tätigkeiten tatsächlich aufgestellt worden. 130 Zur Begründung verweisen die Vertreter dieser Ansicht darauf, daß die dem früheren MfS zugeordneten Sicherheitsorgane eine unterschiedliche Betrachtung verlangten. So lasse sich der in der Bevölkerung verhaßte Inlandsapparat nicht mit dem Nachrichtendienst der HVA vergleichen, der eine weitgehend autonome Stellung hatte und eine Tätigkeit entfaltet habe, wie sie von fast allen Staaten betrieben werde. 131 Nach der herrschenden Gegenmeinung kommt es auch im Bereich der Auslandsaufklärung zu keiner Gleichsetzung der HVA des MfS mit dem BND. 1 3 2 Sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung ergäben sich vor allem daraus, daß die äußere Sicherheit der Bundesrepublik durch das frühere Tun der MfS-Mitarbeiter möglicherweise weiterhin betroffen werde, da die Auswirkungen dieser Tätigkeit durch den Beitritt der DDR nicht weggefallen seien. So sei die Weitergabe von MfS-Informationen an den sowjetischen Geheimdienst KGB der Regelfall gewesen.133 Dagegen sei objektiv gesehen von der Bundesrepublik keine Gefährdung für die DDR ausgegangen. Selbst die Aufklärungstätigkeit der Nachrichtendienste der Bundesrepublik im Ausland diene letztlich dem Schutz dieses Staates.134 Im übrigen ergebe sich die Untrennbarkeit der HVA von den übrigen Diensteinheiten des MfS aus der Tatsache, daß die HVA auch Aufgaben für andere Diensteinheiten erfüllte bzw. andere Diensteinheiten der HVA im Einzelfall bei der Aufgabenerfüllung behilflich waren. Eine weitgehend autonome Stellung der HVA innerhalb des MfS liege daher nicht vor. 1 3 5 Die Argumente der h. M. bedürfen kritischer Erörterung.

130 Vgl. Widmaier, NJW 1990, 3169 (3171); KG, NJW 1991, 2501 (2503); besonders bemerkenswert: BGH - Ermittlungsrichter - , NJW 1991, 929 (932), der ein „gleichzuwertendes Verhalten" erkannt hat und dann daraus doch die entgegensetzte Schlußfolgerung zieht. 131 Vgl. Kammergericht, a. a. O. (2503); OLG Rostock, DtZ 1994, 47 (48) betr. die Spionageabwehr unter dem „Dach des MfS"; G/K, Einl. Rdnr. 15; v. Borcke, BlOst Nr. 36/1992, S. 29 (betr. KGB). 132 Vgl. z. B. BGH - Ermittlungsrichter-, a. a. O., Ls. Nr. 3; BGH, NJW 1991, 2498 (2500); Lippold, NJW 1992, 18 (22f.); OLG Stuttgart, NJW 1993, 1406. 133 Vgl. BGH - Ermittlungsrichter - , a. a. O. (932). 134 Vgl. BGH, NJW 1991, 2498 (2499). 135 Vgl. OLG Stuttgart, a. a. O.

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ?

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Es ist nicht recht verständlich, wieso die Tätigkeit des MfS für die Bundesrepublik gefährlich gewesen sein soll (oder noch ist), wenn gleichzeitig die Aufklärung des BND die ehem. DDR nicht gefährdet haben soll. Die Bundesrepublik und die ehem. DDR waren zwei Staaten, die sich in unterschiedlichen politischen Lagern befanden. Beide Staaten befanden sich in einem akuten Machtkampf. Im Ringen der Ideologien, mag dieses auch als „friedliche Koexistenz" auf der Basis eines Grundlagenvertrages bezeichnet werden, waren beide (!) Staaten daran interessiert, sich durch gezielte Aufklärung selbst zu schützen bzw. ihre Position zu stärken. Den HVA-Mitarbeitern war „die Aufgabe gestellt, alle Kraft auf die ... Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik, ... zu konzentrieren, dem Feind keine Möglichkeit zur Störung des sozialistischen Aufbaus zu geben und die revolutionären Hauptkräfte bei der Abwehr der konterrevolutionären Anschläge des Imperialismus zu unterstützen." 136 Folgt man dem Ansatz der h. M., was die Schutzrichtung der Tätigkeit des BND angeht, so muß man umgekehrt anerkennen, daß die HVA eine Schutzfunktion für die ehem. DDR besaß. Ohne Belang ist insoweit die Tatsache, daß die HVA eine offensive Auslandsaufklärung betrieben hatte. Zum einen benutzt auch der BND jede Möglichkeit zur offensiven Auslandsaufklärung. Zum andern ist die Frage, ob eine Auslandsaufklärung offensiv oder defensiv durchgefühlt wird, rechtlich nicht faßbar. Maßgebend ist der Inhalt der nachrichtendienstlichen Tätigkeit. 137 Zweifelhaft ist auch, ob aus der Zusammenarbeit mit anderen Diensteinheiten gefolgert werden kann, die HVA sei nicht weitgehend unabhängig gewesen. Richtig daran ist, daß die HVA nicht jene organisatorische Unabhängigkeit besaß wie z. B. der BND. Dieser stellt eine eigene Behörde für Auslandsaufklärung dar. Aber auch der BND ist anderen Nachrichtendiensten der Bundesrepublik im Einzelfall behilflich oder läßt sich von diesen mit Informationen aushelfen. Es existieren denn auch entsprechende Verpflichtungen dieser Dienste. Diese Zusammenarbeit der Nachrichtendienste gab es auch in der ehem. DDR. Der einzige formale Unterschied bestand in der Tatsache, daß das MfS als ein Nachrichtendienst alle Aufgaben „unter einem Dach" erledigte. Diese Tatsache spricht aber nicht zwingend gegen die Annahme, die HVA habe eine weitgehend autonome Stellung innerhalb des MfS gehabt. Die Argumente der h. M. sind also nur begrenzt tragfähig. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß eine Gleichwertigkeit der Tätigkeit von HVA und BND gegeben ist. Den Vertretern der Mindermeinung ist zuzugeben, daß unter dem Gesichtspunkt des einem Staat völkerrechtlich zuzuerkennenden Rechts auf Selbstverteidigung 136 Aus der Einleitung der Richtlinie für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern im Operationsgebiet; GVS MfS 0008-21/79, abgedruckt bei: Gill/Schröter, S. 480. Der Begriff „Operationsgebiet" meinte andere Staaten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland. 137 Vgl. KG, a. a. O. (2503).

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

die Unterhaltung einer Auslandsaufklärung erlaubt ist. 1 3 8 Demnach wird die Auslandsspionage auch von allen Staaten gegeneinander betrieben. 139 Aber nur bei ausschließlich formaler Betrachtung lassen sich die Tätigkeiten der Nachrichtendienste der Bundesrepublik und der HVA des MfS gleichsetzen. Damit ist der Kritikpunkt gefunden, der der Mindermeinung vorzuhalten ist. Die Gleichsetzung kann nicht dort stattfinden, wo es um Inhalt und Ziel der Tätigkeit geht. 140 Maßgebliches Beurteilungskriterium ist hierfür der legitime Standpunkt der ihrer Identität nach fortbestehenden Bundesrepublik. 141 Dies ergibt sich aus dem besonderen Aspekt des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik. Mit der Beitrittserklärung wurde die DDR Bestandteil der Bundesrepublik. Durch den freiwilligen Beitritt verlor die bisherige DDR ihre Qualität eines Staats- und Völkerrechtssubjekts, d. h. die DDR ging unter. Die Identität der Bundesrepublik als Staats- und Völkerrechtssubjekt blieb bestehen.142 Hierdurch wird schon die Unvergleichbarkeit der HVA-Arbeit mit der BND-Tätigkeit deutlich. Letztere erfolgte für die Bundesrepublik Deutschland und erstere gegen sie. Diesen unterschiedlichen Zielrichtungen stehen zudem noch unterschiedliche Tätigkeitsinhalte gegenüber. Die Mitarbeiter der HVA haben nie eine politisch neutrale Aufklärungsarbeit verrichtet. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand als Vollstrecker der „Aufträge der machtausübenden Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei" 143 fungiert oder ob er der „freiheitlich demokratischen Grundordnung" dient. 144 Dabei ist zu berücksichtigen, daß dies keine politische Argumentation ist. Es handelt sich vielmehr um die Konsequenz aus der Feststellung, daß das GG sich nicht neutral gegenüber jeglichen politischen Zielsetzungen zeigt. Indifferent steht es nur jenen Zielen gegenüber, die sich im Rahmen der Verfassungsordnung bewegen, die also ζ. B. demokratisch sind und nicht - wie das MfS - Bezug nehmen auf eine Staatspartei. Zielrichtungen, die aus diesem Rahmen fallen, werden unter dem Gesichtspunkt der „wehrhaften Demokratie" bekämpft. 145 Der Standpunkt der h. M. ist daher Vorzugs würdig. Eine Gleichsetzung der Tätigkeit der HVA des MfS mit hiesigen Auslandsnachrichtendiensten verbietet sich. 138 Vgl. BGH - Ermittlungsrichter - , NJW 1991, 929 (930); BGH, NJW 1991, 2498 (2499) m. w. N.; krit. Simma/Volk, NJW 1991, 871 (872). 139 Es handelt sich um das Prinzip „tu quoque"; vgl. BGH, a. a. O. (2499); KG, a. a. O. (2503); BGH - Ermittlungsricher - , a. a. O. (931 f.). 140 Vgl. BGH, NJW 1991, 2498 (2500); Lippold, NJW 1992, 18 (20); a. Α.: Widmaier, NJW 1990, 3169 (3172), der diesen Einwand als politische Argumentation zurückweist. 141 Vgl. BGH, a. a. O. (2500); vgl. auch BGH, NJW 1993, 3147ff.; krit. Rittstieg, NJW 1994, 912, der von einer „betriebsblinden strafrechtlichen Konstruktion" spricht. 142 Vgl. BGH, NJW 1991, 929 (931) mit zahlr. w. N. aus der Lit. 143 Vgl. Staatsrecht, S. 271. 144 Vgl. wegen des Begriffes: Art. 10 II 2, 11 II, 18, 21 II, 73 Nr. 10 b, 87 a IV, 911 GG. 145 Vgl. Lippold, NJW 1992, 18 (21). Zur „wehrhaften Demokratie" vgl. BVerfGE 28, 36 (48f.); 28, 51 (55); 30, 1 (19f.); 39, 334 (339); 40, 287 (291).

3. Kap.: Was war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR ?

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Soweit es die Inlandstätigkeit angeht, ist man mit der Erörterung der Vergleichbarkeit des MfS mit (ζ. B.) dem Verfassungsschutz rasch am Ende. Es gibt niemanden in Rspr. und Lit., der die Vergleichbarkeit der Inlandstätigkeit des MfS mit den Inlandsdiensten hier für möglich hält. Bereits die verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen und die gesetzlichen Regelungen waren völlig verschieden. Aus bundesrepublikanischer Sicht sollte das MfS vorrangig dem Schutz der seinerzeit gegebenen Verfassungsordnung und der damals vorhandenen Verfassungsinstitutionen im Inneren dienen. Damit war die marxistisch-leninistische Verfassungsordnung gemeint. Verglichen mit der Tätigkeit der hiesigen Verfassungsschutzbehörden liegt darin noch keine abwertende Qualifikation des Handelns des MfS begründet. Da in einer pluralistischen Gesellschaft alle geistigen Strömungen gleichberechtigt nebeneinander stehen, ist der behördliche Schutz einer sozialistischen Verfassungsordnung prinzipiell von gleichem Rang wie der Schutz der hiesigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Aber eine formale Betrachtungsweise führt auch hier nicht weiter. Die ehemalige DDR war niemals eine pluralistische Gesellschaft. Dagegen spricht schon der Umstand, daß es neben der SED keine Partei gab, die diese Bezeichnung wirklich verdient hätte. Ferner ist zu bedenken, daß das MfS seine hauptamtlichen Mitarbeiter aus den Reihen der sozialistischen Kader rekrutierte, so daß sichergestellt war, daß nur linientreue Kommunisten Staatsschutzarbeit verrichten konnten. Wenn also das gesamte System auf den Erhalt und die Förderung einer geistigen Zielrichtung ausgerichtet war, dann wird deutlich, daß das MfS in erster Linie Staatschutz im Sinne von Ideologieschutz betrieben hat. 1 4 6 Wirksamen Ideologieschutz kann aber nur betreiben, wer sorgfältig alle potentiell Andersdenkenden beobachtet und ihre Aktivitäten aktenkundig macht. Tatsächlich existierte denn auch in der ehemaligen DDR ein weitverzweigtes, dichtes Überwachungs- und Spitzelsystem, das die Stimmungen und Strömungen in der Bevölkerung meldete, bewertete und u. U. zu Gegenmaßnahmen Anlaß gab. 147 Die Gegenmaßnahmen bestanden neben Ermittlungsverfahren und Inhaftierungen durch das MfS auch in der Verunsicherung, Kriminalisierung und Disziplinierung der diese Stimmungen bzw. Strömungen tragenden Personen. Das Ziel war jedenfalls klar. Es galt, „alle gesetzlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die negative Wirksam146 Vgl. Mechtel, Zwiegespräch Nr. 1, 11 (14ff.). 147 Dabei hatte sich das MfS zum Ziel gesetzt, auch die Spitzel im Sinne eines angewandten Ideologieschutzes zu erziehen : „Die politisch-ideologische Erziehung und tschekistische Befähigung der patriotischen Kräfte ist eine ... wichtige Aufgabe der mit ihrer Führung beauftragten Mitarbeiter. Sie hat zum Ziel, die patriotischen Kräfte immer besser in die Lage zu versetzen, wertvolle Arbeitsergebnisse bei der Vorbeugung und Bekämpfung des Feindes zu erzielen." aus: Fachschulstudium Rechtswissenschaft, Vertrauliche Verschlußsache VVS0001, MfS JHS-Nr. 12/86, S. 9.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

keit derartiger Personen/Personenkreise einzuschränken, sie zu isolieren und zu gesellschaftskonformem Verhalten zu zwingen." 148 Da nach den Idealvorstellungen des MfS kein Lebensbereich, sei er nun staatlicher, gesellschaftlicher oder privater Natur, ausgespart bleiben sollte, 149 mußte jeder Bürger, der in irgendeiner Form von der sozialistischen Norm abwich, das heißt auffiel, mit Pressionen rechnen. Hinter diesen Verhaltensweisen des MfS stehen jene drei Grundprinzipien, die die wahre Basis des Handelns der Staatssicherheit bildeten: „1. Jeder ist ein potentielles Sicherheitsrisiko." „2. Um sicherzugehen, muß man alles wissen." „3. Sicherheit geht vor Recht." 150

I I I . Die Antwort Mit diesem Wissen läßt sich nun die eingangs gestellte Frage nach dem richtigen Verständnis von Sinn und Zweck des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR beantworten. Das MfS war Herrschaftsinstrument der SED, dessen sich die politischen Machthaber bedienten, um ihre Ziele voranzutreiben. 151

148 Aus einem 1980 in Gera, in der Bezirksverwaltung des MfS gehaltenen Referat, zit. nach: DER SPIEGEL, Nr. 48/1991, S. 72. 149 Vgl. Staatssicherheit, S. 27; Überwachung, S. 20; Schell/Kaiinka, S. 99f.; Gill/Schröter, S. 95; Gauck, S. 23; Starck, VVDStRL 51 (1991), 7 (39). 150 So zit. in: DER SPIEGEL, Nr. 48/1991, S. 72; ebenso: Schell/Kaiinka, S. 18 unter Berufung auf Regierungsbeauftragte der ehemaligen DDR-Regierung; vgl. ferner den BStUBericht, S. 53; ähnlich: Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 3 (10). Aus StasiSicht hörte sich das etwa so an: „Wachsende Widersprüche in der Gesellschaft sollten mit immer umfangreicheren administrativen Maßnahmen zugedeckt werden. Das drückte sich in dem Bestreben aus, alles wissen zu wollen."; so Schwanitz gegenüber dem „Neues Deutschland", vgl. die Ausgabe vom 23. 11. 1989, hier zit. nach Petzold, Horch und Guck Nr. 5/(= Heft 9) 1993,3 (11).

151 Vgl. auch: (recht drastisch) Scholz, BB 1991, 2515 (2516).

4. Kap.: Erledigung der Aufgaben durch den Staatssicherheitsdienst

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4. Kapitel

Wie erledigte der Staatssicherheitsdienst die ihm obliegenden Aufgaben? I. Ein erster Einblick Eine erste knappe Antwort auf diese Frage gibt das DDR-Handbuch: „Die Dienststellen des MfS unterhalten ein weitverzweigtes, alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche umspannendes Spitzelsystem, das ideologisch mit der notwendigen ,politischen Wachsamkeit gegenüber den Feinden der Arbeiterklasse' begründet wird." 1 5 2 Und weiter heißt es dort: "Das Haupttätigkeitsfeld ... ist die DDR selbst." 153

II. Der Faktor Mensch 1. Die Spitzel Die unverzichtbare Grundlage des Informationsnetzes des MfS bildeten also Menschen, die man je nach Geschmack als Kontaktpersonen, Verbindungsleute, Zuträger oder Spitzel bezeichnen kann. Im Sprachgebrauch der ehemaligen DDR waren diese Personen jene „patriotischen Kräfte", auf die in der gerade genannten Definition des Staatssicherheitsdienstes Bezug genommen wurde. Bis in die 60er Jahre hinein wurden diese Leute durch das MfS als „Geheime Informanten" (Gl) bzw. als „Geheime Mitarbeiter" (GM) bezeichnet.154 Dann änderte sich der „offizielle" Sprachgebrauch. Die Bezeichnungen „Inoffizieller Mitarbeiter" ( I M ) 1 5 5 und „Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit" (GMS) wurden eingeführt. In der Sache dagegen wurde nichts verändert. 156 152 DDR-Handbuch, S. 909f.; vgl. auch von zur Mühlen, SBZ-Archiv Nr. 22/1953 S. 337 (341). 153 DDR-Handbuch, a. a. O. 154 Vgl. wegen dieser alten Abkürzungen zum Beispiel die Darstellung im SBZ-Archiv 1954, S. 8 (ohne Autorenangabe); Richtlinie 1/58 des Ministeriums für Staatssicherheit GVS 1336/58 - vom 1. 10. 1958 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, S. 7 ff. 155 Nach Wawrzyn, S. 27f. besaß das MfS verschiedene Kategorien von IM, zum Beispiel 1MB, IME, IMS, IMK usw. Die Kategorisierung erfolgte durch das MfS je nach Bedeutung und Verwendung der Person. Der Einfachheit halber soll hier nur von I M die Rede sein; vgl. auch Gill/Schröter, S. 101 ff.; Schell/Kaiinka, S. 53ff.; Gauck, S. 64ff; Akten S. 17; G/K, Einl. Rdnr. 6f. 156 Vgl. Fricke, S. 98; Lageberichte, S. 9. Im Unterschied zu den I M wurden GMS nicht speziell verpflichtet und waren auch nicht unter einem Decknamen tätig; vgl. Fricke, DA 1990, 1881 (1884).

2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

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Die Aufgabe dieser Mitarbeiter bestand nach wie vor darin, alle Lebensbereiche zu unterwandern, um jede Regung des privaten und gesellschaftlichen Lebens auszuspähen und die erhaltenen Informationen an die operative Ebene der Staatssicherheit weiterzugeben. Dort sollte dann nach der Aufklärungstätigkeit die Abwehrarbeit beginnen. Nach vorsichtigen Schätzungen belief sich das Heer der IM bzw. GMS Anfang der 80er Jahre auf etwa 80000 - 100000 Informanten. 157 Hinzu kam noch ein Personalbestand an hauptamtlichen Mitarbeitern, der etwa 20000 Personen auf allen Ebenen umfaßte. 158 Zur Zeit seiner Auflösung (Ende 1989) besaß das MfS nach eigenen Angaben mehr als 100000 hauptamtliche Mitarbeiter und 500000 inoffizielle Mitarbeiter. 159 Bei einer Bevölkerungszahl von 17 Mio. Menschen in der ehemaligen DDR bedeutet dies, daß auf rd. 29 Bürger ein MfSMitarbeiter kam.

2. Einige Beispiele der Spitzeltätigkeit Um eine Vorstellung davon zu geben, wie weit verzweigt das Informationsnetz des MfS tatsächlich war, mögen die folgenden Beispiele dienen:

a) Die Ärzteschaft Das MfS hatte das ostdeutsche Krankenhauswesen unter ständiger Beobachtung. So war zum Beispiel die Renommierklinik des SED-Regimes, die Charité, ein Hort für Bespitzelungen. „Charité-Àrzte, so geht aus Akten des früheren DDR-Mi157

Mangels genauerer Kenntnis aus dieser Zeit sind alle Schätzungen mit Vorsicht zu genießen, auch (heutige) amtliche Quellen sind hier nicht glaubwürdiger; kaum den Tatsachen dürfte aber die Behauptung von v. zur Mühlen, SBZ-Archiv 1957, 183 entsprochen haben, es habe (seinerzeit) bereits über 100.000 Spitzel gegeben. 158 Diese Bestandszahlen gibt Fricke an, vgl. dort S. 81 und 99, in seinem späteren Buch MfS-intern (hier zit. als MfS) gibt er die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter mit (über) 85000 (für den Stand Jan. 1990) an; vgl. auch die Zahlen von Gill/Schröter, S. 34f; bzw. die von Wawrzyn, S. 7. 159 Quelle: BT-Drucksache 12/283 vom 20. 03. 1991, S. 1; vgl. ferner: Schmieder, BTProt. S. 4675 (4683). Zum Vergleich: 1950, im ersten Jahr seiner Existenz, zählte das MfS ca. 1000 hauptamtliche Mitarbeiter (so Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 3 (4)); 1952 betrug der Personalbestand 4000 hauptamtliche Mitarbeiter (so MfS, S. 21), 1955 (lt. derselben Quelle): bereits über 9000. 1960 wies das MfS lt. Staatssicherheit, S. 25 einen Bestand von 13000-14000 hauptamtlichen Mitarbeitern auf. 1973 war der Bestand an hauptamtlichen Mitarbeitern bereits auf rd. 53000 gewachsen (MfS, S. 21.). Auch DER SPIEGEL, Nr. 3/1992, S. 26 (27) gibt eine Zahl von rd. 100.000 hauptamtlichen Mitarbeitern an, allerdings geht er (a. a. O. unter Berufung auf die Einschätzung hoher MfS-Offiziere) von einem Millionenheer von I M aus; vgl. auch Schell/Kaiinka, S. 114, die ebenfalls von 1-2 Mio. IM sprechen. Eine derartige Zahl dürfte aber übertrieben sein. Nach G/K, Einl. Rdnr. 6 soll es zum Stichtag 31. 12. 1988 über 109.000 IM gegeben haben. Fricke, DA 1990, 1881 (1883); ders., Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 3 (4) spricht - unter Berufung auf Presseberichte - von nur rd. 86.000 hauptamtlichen Mitarbeitern.

4. Kap.: Erledigung der Aufgaben durch den Staatssicherheitsdienst

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nisteriums für Staatssicherheit hervor, bespitzelten ... Pfleger, Schwestern und Kollegen; sie gaben ... hemmungslos Krankenakten an die Stasi weiter und informierten MfS-Offiziere detailliert über den Zustand ihrer Patienten ... Besonders anfällig für Spitzeldienste zugunsten der Stasi waren Karrierestreber; als überaus nützlich für den Überwachungsapparat erwiesen sich aber auch Ärzte, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen und vom MfS erpreßt wurden. Von mehr als 200 überprüften Klinikdirektoren und leitenden Ärzten sind mehr als 30 durch MfS-Beziehungen schwer belastet. In der Führungsriege dieser rund 200 Ärzte hat gut jeder fünfte, so schätzen Fachleute, nicht nur seinen Patienten, sondern als ,Inoffizieller Mitarbeiter' (IM) auch der Stasi gedient." 160 Die Hand des MfS soll selbst bei Entscheidungen über Organtransplantationen, wenn es also um Leben und Tod ging, im Spiel gewesen sein. 161 Festzustehen scheint ferner, daß nicht nur Charité-Ârzte gegen Standesehre und Moral verstießen. „Mit der Aufdeckung ihrer Machenschaften sei erst die ,Spitze eines Eisbergs' sichtbar geworden, befürchtet... der Präsident der Berliner Ärztekammer. Auch Bedienstete anderer Krankenhäuser hätten sich schuldig gemacht .. . " 1 6 2 Es ist nur eine Frage der Zeit und der Aufarbeitung der existierenden StasiAkten, bis das ganze Ausmaß der Unterwanderung geklärt ist. 1 6 3

b) Die Kirchen Das MfS hat die Aktivitäten der in der DDR bestehenden Kirchen scharf beobachtet. Davon war insbesondere die evangelische Kirche betroffen. Die Kirchen haben zu einer Reihe politischer Themen Stellung bezogen, und zwar in einer Weise, die den damaligen Machthabern nicht unbedingt gefiel. „Obwohl die SED ihrer kirchenpolitischen Ziele im Laufe der weiteren Machtstabilisierung weitestgehend erreichen konnte (...), ist eine vollständige Kontrolle und Einflußnahme zu keinem Zeitpunkt erreicht worden - trotz zum Teil erfolgreichem IM- Einsatzes durch das MfS. Handlungen, Reaktionen und Aktionen aus diesen Personengruppen waren daher nie eindeutig berechenbar." 164 Insbesondere in den 80er Jahren stellte die evangelische Kirche einen Freiraum für Andersdenkende dar, in dessen Schutz

160 DER SPIEGEL, Nr. 35, 1991, Seite 60. Vgl. auch den Beschluß des VG Berlin, LKV 1992, 139ff. betreffend Akteneinsicht und Auskunft aus den Akten für den damaligen Direktor der Charité. 161 Das behauptet: DER SPIEGEL, a. a. O., Seite 60 (62f.). 162 DER SPIEGEL, Nr. 36, 1991, Seite 129 (132); vgl. auch Schell/Kaiinka, S. 171-174. 163 Ammer/Memmler, S. 128 ff. berichten, daß das MfS bereits die Bewerber für ein Medizinstudium sicherheitsdienstlich überprüfte. Mindestens seit 1977 war die Ärzteschaft einer umfassenden politisch-operativen Überwachung unterworfen und damit Gegenstand besonderer Kontrolle durch das MfS (vgl. auch S. 117). 164 Vgl. Landtag Thüringen, LT-Drucks. 1/3325, S. 14; Neubert, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 11 (12f.).

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

sich politische Diskussionen entwickeln konnten. 1 6 5 Es entstand so ein pluraler Raum, der bei wachsender Beteiligung Jugendlicher ein echtes Gegengewicht zu der Einheitsideologie der SED von der entwickelten sozialistischen Gesellschaft darstellte. 1 6 6 Es ist dabei kein Zufall, daß die Revolution des Jahres 1989 in einer Kirche, der Nicolai-Kirche in Leipzig, ihren Anfang nahm. Von dort gingen, jeweils i m Anschluß an den Gottesdienst, die später berühmt gewordenen „ M o n tagsdemonstrationen" a u s . 1 6 7 Zu diesem Zeitpunkt waren die Kirchen in der D D R bereits ein politischer Faktor, unter dem Druck der Verhältnisse hatten sie den Stellenwert einer politischen Opposition i m L a n d e . 1 6 8 Das verwundert auch nicht, wenn man bedenkt, daß die Kirchen die einzigen staatsfreien Großorganisationen in der D D R waren. Aber der Gegensatz zwischen dem Staat und den Kirchen in der D D R schwelte schon wesentlich länger. Insbesondere die protestantische Kirche wurde zu Beginn der 70er Jahre nicht müde, immer wieder die Einhaltung der Menschenrechte vom Staat zu fordern. Der bekannte Theologe Hans-Joachim Fränkel drückte dies seinerzeit so aus: „Wesentliche Menschenrechte sind in unse165 Vgl. z u m Beispiel Lageberichte, S. 76f., wo über eine Veranstaltung in einer Berliner Kirche am 08. 06. 1989 berichtet wird. Dort heißt es u. a.: „Die von feindlichen, oppositionellen und anderen negativen Kräften ... angekündigte Veranstaltung ... fand ... statt. ... Über Inhalt und Verlauf der Veranstaltung, die kaum einen religiösen Bezug hatte, sondern fast ausschließlich politisch geprägt war, liegen dem MfS nachfolgende Hinweise vor: ..." Ferner heißt es dort, daß an ihr „kirchenleitende Amtsträger und Kräfte" teilnahmen, „die offensichtlich aus religiösen und anderen Gründen an der ... Veranstaltung interessiert waren."; ferner: Lageberichte, S. 97 (99f.); Landtag Thüringen, LT-Drucks. 1/3325, S. 14. 166 Vgl. Luchterhandt, S. 182. 167 Für wie gefährlich (für das System) das MfS diese Montagsdemonstrationen hielt, geht aus einem Fernschreiben des MfS hervor, wiedergegeben in: Lageberichte, S. 227f., in welchem Erich Mielke alle verfügbaren Kräfte anweist, „Dienst bis auf Widerruf zu verrichten (S. 228); vgl. auch die Schilderungen des Verlaufs einer solchen Demonstration, ebenda, S. 174f. und S. 190f. Diese Demonstrationen fanden ähnlich auch in anderen Städten statt, so berichten Ammer/Memmler, S. 5, daß es in Rostock „Donnerstags-Demonstrationen" gab, die von verschiedenen Kirchen ausgingen. 168 Eine kritischere Schilderung der Bedeutung der Kirche (und ihrer Geistlichen) findet sich bei: Wawrzyn, S. 140. Dort berichtet ein ehemaliger MfS-Mitarbeiter über Abhörmaßnahmen des MfS gegen die Kirche (in Dresden). Danach war die überwiegende Zahl der Geistlichen staatstragende Opportunisten. Richtig daran ist, daß viele Geistliche die direkte Konfrontation mit dem Staat scheuten, wohl aus dem traditionellen Verhältnis der protest. Kirche gegenüber dem Staat; Vgl. deswegen: DER SPIEGEL, Nr. 8/1992, S. 24 (28). Gegen die Ansicht Wawrzyns spricht aber, daß eine ganze Reihe von Geistlichen sich sehr wohl politisch stark engagiert haben, insbesondere (hohe) Staatsämter bzw. politische Stellungen erlangt haben; so ist zum Beispiel Manfred Stolpe (inzwischen wegen seiner Stasi-Kontakte in die Kritik geraten), der jetzige Ministerpräsident von Brandenburg, ehemals (vor dem Untergang der DDR) Konsistorialpräsident (und damit leitender Kirchenfunktionär) gewesen. Pfarrer Rainer Eppelmann war letzter Verteidungsminister der ehemaligen DDR und ist heute Abgeordneter der CDU/CSU Fraktion im 12. Deutschen Bundestag. Pfarrer Heinz Eggert (selbst in besonderem Maße Stasi-Opfer) ist heute Innenminister des Bundeslandes Sachsen. Pfarrer Joachim Gauck, Mitglied des Neuen Forums, später Volkskammerabgeordneter, ist heute Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten. Krit. zum Vorwurf der „Kumpanei" zwischen SED-Regime und Kirche: Neubert, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 11 (15, 21).

4. Kap.: Erledigung der Aufgaben durch den Staatssicherheitsdienst

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rer Verfassung verankert. Die Frage ist, wie sie zu verstehen sind. Menschenwürde, Freiheit, Rechtsgleichheit sind i m Marxismus-Leninismus an das Maß der Leistung für den Sozialismus gebunden, werden also aufgrund erfüllter Bedingungen nachträglich zugesprochen. Damit aber werden Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Freiheiten wie Grundrechte in ihrem Wesen verkannt. Sie sind das, was sie sind, nur, wenn sie als dem Menschen vorgegeben anerkannt und nicht unter das Soll einer bestimmten Gesinnung gebeugt werden . . . , , 1 6 9 Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß das MfS sich bemühte, gerade in diesen Organisationen auf möglichst hoher Ebene Informanten anzusiedeln, 1 7 0 die entweder freiwillig oder auf Druck hin bereit waren, Pfarrer, Kirchenfunktionäre und Gläubige zu überwachen. 1 7 1 So sind heute Fälle bekannt und belegt, in denen Pfarrer andere Pfarrer bzw. Gläubige bespitzelten und deren Ansichten an das MfS verrieten. 1 7 2 Eines der Opfer war Pfarrer Joachim Gauck, später Mitglied des Neuen F o r u m s 1 7 3 und Vorsitzender des parlamentarischen Sonderausschusses zur Überprüfung der Stasi-Auflösung in der Volkskammer. Es gleicht einer späten Anerkennung der kirchlichen Bemühungen um die Befreiung vom SED-Regime, daß gerade ihm, einem ehemaligen Pfarrer, die Aufsicht über die Stasi-Akten anvertraut wurde.

169

H. J. Fränkel, zit. nach Luchterhandt, S. 169. Fränkel (Bischof von Görlitz) wurde vom MfS als besonders „negativ-feindlich" eingestuft; vgl. DER SPIEGEL, Nr. 8/1992, S. 24. 170 Tatsächlich waren die Kirchen, insbesondere die ev. Kirche, die wichtigste Zielgruppe des MfS, sie waren die einzigen staatsunabhängigen (autonomen) Organisationen unter deren Dach sich eine politische Opposition bilden konnte; vgl. Gill/Schröter, S. 154; Schell/Kalinka, S. 280f; Kleßmann, Aus Politik und Zeitgeschichte 1991, Nr. B/5, S. 52 (61f.); DER SPIEGEL, Nr. 8/1992, S. 24 berichtet (unter Berufung auf einen hohen MfS-Offizier) mehrere tausend I M hätten in den ev. Kirchengemeinden auf allen Ebenen für das MfS gearbeitet; Hoffmann, S. 301. Vgl. auch das (umfangreiche) Konzept zur politisch-operativen Bearbeitung der evangelischen Landeskirche in Sachsen für den Zeitraum von 1986 bis 1990; abgedruckt in: Zwiegespräch Nr. 3, 3Iff. Vgl. auch die Darstellung über die Landeskirche in Thüringen von: n. n., Telegraph, Nr. 7/1991, 9ff.; ferner: Landtag Thüringen, LT-Drucks. 1/3325, S. 14. 171 Vgl. Neubert, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 11 (12f.). Fricke zum Beispiel schildert einen Fall der Verletzung des Beichtgeheimnisses durch den Vorgesetzten eines Beichtvaters; der Beichtende war vorher vom MfS als I M geworben worden, um seine Studentengemeinde auszuspionieren, er offenbarte sich aber in der Beichte; der Beichtvater gab dies an seinen Vorgesetzten weiter; dieser unterrichtete das MfS; vgl. Fricke, S. 105. ™ Vgl. zum Beispiel die Geschichte des Pfarrers Schilling in: DER SPIEGEL, Nr. 48 1991, S. 72 (73,76). 173 Er soll sogar Mitbegründer des Neuen Forums gewesen sein. Das behauptet: DER SPIEGEL, Nr. 46/1991, S. 26, wie sich aber aus: Lageberichte, S. 153 (163f.) ergibt, steht sein Name nicht unter den Erstunterzeichnern der Gründungsurkunde; vgl. auch: Vereinigung, S. 60f. Mithin kann er kaum als Mitbegründer dieser Bewegung betrachtet werden.

6*

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

c) Die Postkontrolle Das MfS verletzte das Brief-/Postgeheimnis und stahl Pakete. Die Post- und Paketkontrolle gehörte zu den Stützpfeilern des SED-Staates. Sie wurde von der Abteilung M des MfS betrieben. In jedem größeren Postamt hatte das MfS Räume in Beschlag genommen, um hinter verschlossenen Türen die Postsendungen der Bürger der ehemaligen DDR zu durchsuchen. Allein in Ost-Berlin waren mit dieser Aufgabe 600 MfS-Offiziere beschäftigt. 174 Diese schon seit den fünfziger Jahren betriebene Schnüffeltätigkeit war nach außen hin als Kontrollstelle /Dienststelle 12 getarnt, 175 deren „offizieller" Auftrag es war, u. a. die Durchlaufzeiten der Post zu kontrollieren, die ordentliche Sortierung und Sauberkeit der Post zu gewährleisten und den korrekten Sitz der Stempel auf den Briefumschlägen zu prüfen. Offizieller Veranlasser dieser Tätigkeit war das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen. 176 Die Kontrolleure, die Abertausende von Adressen im Kopf hatten, suchten gezielt nach bestimmten Postsendungen. Das System war immer dasselbe: Postsendungen wurden unter Dampf geöffnet, dann samt Umschlag fotokopiert und an die zuständige Stelle zur Auswertung weitergegeben. Anschließend wurde das Postgut wieder verschlossen und in den normalen Postverkehr eingeschleust.177 Das Kontrollsystem ging soweit, daß aus bestimmtem Anlaß das MfS sogar selbst, statt der Post, Briefkästen ausleerte. 178 Eine wie immer geartete Rechtsgrundlage für diese Tätigkeit des MfS gab es nicht. 179 Das MfS gab sich nicht einmal sonderlich viel Mühe, diese Tätigkeit geheim zu halten. Jeder sollte wissen, daß es keine Sicherheit davor gab, unbehelligt zu bleiben. 180 Zwar sah die StPO der DDR die Beschlagnahme von Postgut sowie die 174

Vgl. die Darstellung bei Wawrzyn, S. 122, der sogar behauptet, im Berliner Hauptbahnhof habe die Stasi eine eigene Etage (für diesen Zweck) gehabt. "s Vgl. Fricke, S. 115; BGH, NJW 1994, 1228 (1231). 1 76 Vgl. die Schilderung eines ehemaligen MfS-Mitarbeiters bei Wawrzyn, S. 123f. 1 77 Vgl. Fricke, S. 116; Staatssicherheit, S. 33; Wawrzyn, S. 127 (Schilderung eines ehemaligen MfS-Mitarbeiters); Schell/Kaiinka, S. lOlff. 17** Vgl. die Darstellung bei Wawrzyn, S. 125; Schell/Kaiinka, S. 104.; die Kontrolle von Postsendungen vollzog sich nach der Dienstanweisung Nr. 3/85 zur politisch operativen Kontrolle und Auswertung von Postsendungen durch die Abteilungen M (GVS, MfS 0008-10/85, zu finden zum Beispiel bei Gill/Schröter, S. 403ff. Die dort enthaltenen Regelungen galten bis zuletzt. 179 Vgl. Fricke, S. 116; Wawrzyn, S. 122; Staatssicherheit, S. 124; Worst, S. 134f. Vgl. auch für den Bereich des Fernmeldeverkehrs („Linie 26" des MfS) die instruktiven Ausführungen des KG, DtZ 1993, 381 (382f.), wo das Fehlen einer hinreichenden Rechtsgrundlage auch im Hinblick auf die damalige DDR-Verfassung deutlich wird. Ebenso wie das KG auch das OLG Dresden, DtZ 1993, 287 (betr. Telefonabhören durch das MfS). 180 Vgl. Überwachung, S. 22. Dort wird allerdings auch behauptet, der Umfang der Kontrollmaßnahmen sei nicht so groß gewesen, wie häufig vermutet würde. Dem widerspricht: Fricke, DA 1990, 242 (243). Theoretisch war es mit dem System des MfS jedenfalls möglich, jede Briefsendung zu kontrollieren. Praktisch hätte dies aber zu erheblichen Verzögerungen im Postverkehr geführt; vgl. Politik, S. 181.

4. Kap.: Erledigung der Aufgaben durch den Staatssicherheitsdienst

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Überwachung und Aufnahme des Fernmelde Verkehrs durchaus vor (§115 DDRStPO), jedoch nur im Rahmen laufender Strafverfahren bzw. nur gegenüber Beschuldigten und grundsätzlich mit deren späterer Kenntnis von den Maßnahmen. 1 8 0 3 Davon kann im Fall des MfS keine Rede gewesen sein. 1 8 0 b

3. Der ideale Informant Nach der Grundvorstellung des MfS sollten die inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums sich vor allem durch ihre gefestigte sozialistische Lebenseinstellung auszeichnen, das heißt durch Liebe zur Arbeiterklasse, Treue zur Sache, Optimismus, Patriotismus, Internationalismus, Humanismus, Einsatzbereitschaft und Opfermut. 181 Mit solchen Eigenschaften pflegen Literaten für gewöhnlich ihre Romanhelden zu beschreiben. Tatsächlich sah die Wirklichkeit etwas anders aus. 182 Die Tatsache, daß nicht alle Spitzel Überzeugungstäter waren, wird noch bei der Betrachtung der Tätertypen näher zu erläutern sein. 183 Jedenfalls war das vorrangige Auswahlkriterium für die I M der häufige oder dauernde Umgang mit Menschen, wobei die Personen bevorzugt wurden, die aufgrund ihres Berufes viele persönliche Kontakte hatten. Gleichzeitig wurde darauf geachtet, daß alle sozialen Schichten und politischen Gruppen (Bauern, Industriearbeiter, Soldaten, Sportler, Akademiker) unter den I M vertreten waren, da sonst das Informationsnetz nicht lückenlos gewesen wäre. Im einzelnen kannte das MfS folgende Werbungsvarianten, die auch miteinander kombiniert wurden: „Werbung auf politisch-ideologischer Grundlage: Die angesprochene Person entscheidet sich aus Einsicht in die politische Notwendigkeit einer Spitzeltätigkeit und erklärt sich aus Überzeugung freiwillig zu geheimer Mitarbeit bereit - oder sie verpflichtet sich, um Zweifel an ihrer politischen Loyalität auszuschließen;" 180a

Vgl. auch Strafverfahrensrecht, S. 209 f. Vgl. ζ. B. die Diskussion, die um die Vielzahl sog. Telefonzielkontrollkarten des MfS geführt wurde. Zwar wurden die Abhörergebnisse schon 1990 vernichtet. Die Karten, die quasi den Abhörauftrag bildeten, gelangten aber erst im Frühjahr 1992 zum BStU. Bis dahin „vagabundierte" das Material ζ. B. heim Bundesminister der Verteidigung oder beim Bundesamt für Verfassungsschutz; der Generalbundesanwalt hat es sogar fertiggebracht, bei ihm befindliche Kontrollkarten erst im November 1993 an den BStU herauszugeben: vgl. die Aussprache über den Bericht der Bundesregierung in: BT-InnenA-Prot. (83. Sitzung), S. 46ff. zu TOP 10; BGH, NJW 1994, 1228 (1229f)· 180b

181 Das geht aus einem Schulungspapier des MfS hervor, aus dem Fricke zitiert, vgl. dort S. 98; vgl. auch Gill/Schröter S. 68ff.; Mielke, in: Studienmaterial, S. 41. 182 „Ein Mitarbeiter war nur solange ein guter Mitarbeiter, wie er fleißig, aufopferungsvoll und kritiklos nützlich war."; Schell/Kaiinka, S. 389. „Bei den I M und auch bei den Stasioffizieren findet sich ... kein Sonderverhalten, daß sie für ihre ... Arbeit prädestinieren ... würde. Sie sind weder... Monster, noch ... Helden ... Es sind 'normale* Menschen mit zumeist sehr durchschnittlichen Biographien."; Neubert, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 11

(16).

ι«3 Vgl. 5. Teil, 2. Kapitel, II.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

„Werbung auf materieller Grundlage: Der Kandidat verpflichtet sich zu ,Inoffizieller Mitarbeit 4, weil ihm berufliche Vorteile oder wirtschaftliche Vergünstigungen in Aussicht gestellt werden, Karriere, höhere Bezahlung am Arbeitsplatz, eine bessere Wohnung. Auch Spitzeltätigkeit gegen Bezahlung ist nicht unüblich. Studenten zumal, die Stipendien erhalten, werden gegen finanzielle Zuwendungen geworben - häufig bereits mit der Perspektive, daß sie nach dem Examen weiterhin als Inoffizielle Mitarbeiter tätig bleiben oder als hauptamtliche Mitarbeiter in die Staatssicherheit eintreten;" „Werbung durch Nötigung: Zur Spitzelverpflichtung kommt es, nachdem die angesprochene Person durch Drohungen gegen sie selber oder gegen ihr nahestehende Menschen eingeschüchtert und gefügig gemacht worden ist; oder nachdem ihr wegen eines vorgetäuschten oder tatsächlichen Gesetzesverstoßes eine Strafe oder bei einer moralischen Verfehlung eine Enthüllung angedroht worden ist, die ihr im Falle einer,Bewährung 4 als I M erspart bleiben kann." 1 8 4 Zusammengefaßt bedeutet dies, daß, sofern die ausgesuchten Personen nicht politisch der SED nahestanden, sie mittels „Zuckerbrot und Peitsche" gefügig gemacht wurden. 185 Von den hehren Eigenschaften, die ein I M haben sollte, ist also überwiegend nichts zu erkennen. Im Gegenteil: „Es bedarf ... nicht immer der edelsten Motive, um Personen für die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS zu gewinnen. Wichtig ist jedoch, stets genau zu wissen, warum sie mit uns zusammenarbeiten. 44186

4. Der „Arbeitsvertrag" mit dem MfS War ein I M erfolgreich angeworben worden, mußte er sich schriftlich verpflichten, über seine Tätigkeit gegenüber jedermann zu schweigen.187 Eine entsprechende Schweigeverpflichtung mußte übrigens auch deijenige abgeben, der sich weigerte, für das MfS zu arbeiten 188 . Die Verpflichtungserklärung konnte sowohl aus184 Fricke (2.Aufl., 1984), S. 104; s. a. ders. 3.Aufl. S. 104, dort nur verkürzt dargestellt; ferner: Gill/Schröter, S. 108f; Überwachung, S. 21; Staatssicherheit, S. 29; Schell/Kaiinka, S. 118; Meinel, S. 13. iss Vgl. von zur Mühlen, SBZ-Archiv, Nr. 22/1953, 337 (341). 186 Fachschulstudium Rechtswissenschaft, Vertrauliche Verschlußsache VVS-0001, MfS JHS-Nr. 12/86, S. 7. 187 Vgl. Fricke, S. 105; Staatssicherheit, S. 29f. (dort auch ein Beispiel, wie der Text einer solchen Erklärung aussah); Worst, S. 199; Gill/Schröter, S. l l l f . (dort auch 2 Beispiele für unterschiedliche Verpflichtungserklärungen); ferner: Ammer/Memmler, S. 116, wo sich ein besonders verabscheuungswürdiges Beispiel für eine Verpflichtungserklärung befindet. Eine umfangreichere Verpflichtungserklärung findet sich in: Zwiegespräch Nr. 1, 29ff. Schell/Kalinka, S. 116f. weisen aber darauf hin, daß in den letzten Jahren des MfS auf schriftliche Verpflichtungserklärungen in einer Reihe von Fällen verzichtet wurde, wodurch einer Manipulationen der Akten Tür und Tor geöffnet war. Vgl. auch das Beispiel bei Scholz, BB 1991, 2515(2517); Kloepfer, S. 61.

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drücklich als auch konkludent erfolgen. Sie war für die IM-Einstufung konstitutiv. Eines Tätigwerdens für das MfS bedurfte es bis dahin n i c h t . 1 8 9 Dann wurde dem neuen Mitarbeiter ein Führungsoffizier zugewiesen, der den operativen Einsatz des I M , welcher durch das MfS konspirativ abgeschirmt wurde, leitete. 1 9 0 Der Führungsoffizier gab dem I M zunächst einfachere Aufgaben, wie ζ. B. Stimmungsberichte aus seiner Umgebung zu liefern usw., die später gezielt ausgeweitet wurden i m Hinblick auf die Überwachung bestimmter Personen oder den Eintritt in bestimmte Kreise, die das MfS interessierten. Über die Ergebnisse seiner Aufklärungstätigkeit hatte der I M seinem Führungsoffizier an einem vereinbarten, konspirativen Treffpunkt schriftlich Bericht zu erstatten. 191 Bevorzugte Treffpunkte waren Restaurants, Cafés, Parkanlagen, Wohnungen, die vom MfS genutzt wurden. Die Reglementierung der Arbeit mit den I M war dabei gewaltig, und der einzelne I M war eine bessere Schachfigur, der man sich nach Belieben bediente. Und, so unglaublich es auch klingt, der organisatorische Rahmen wurde gebildet von dem Konzept der Planwirtschaft. 1 9 2 Gleichsam wie Schweine und Kühe in einer LPG wurden sie nach Stückzahlen i m Plan aufgelistet, nach Zu- und Abgängen erfaßt und verwaltet. 1 9 3 Es ist durchaus angebracht, in diesem Zusammenhang mit den 188 Vgl. Fricke, S. 106. Die Mehrzahl angesprochener Personen wagte es jedoch erfahrungsgemäß nicht, das Anliegen des MfS zurückzuweisen, vgl. Staatssicherheit, S. 30. Man muß hier jedoch differenzieren zwischen der echten Verpflichtungserklärung, mit dem MfS zusammenzuarbeiten (dort wurde auch der zu verwendende Deckname festgelegt) und der bloßen Stillschweigeverpflichtung. Letztere war abzugeben, wenn es zur Kontaktanbahnung gekommen war, eine Zusammenarbeit mit dem MfS aber - aus welchen Gründen auch immer - scheiterte. 189 Krit. zu dieser formalen Sichtweise im Hinblick auf das StUG: v. Lindheim, DtZ 1993, 358 (dort Fn. 6, 7, 13), der auf einige, seltene Ausnahmefälle verweist, in denen die IM-Zuordnung aufgrund der Verpflichtungserklärung allein nicht ausreichend scheint. Der BStU hat zu diesem Punkt ausgeführt, daß in den einschlägigen Richtlinien des MfS nicht geregelt gewesen sei, wie man jemanden zu einem I M machte. „In der Praxis sei das durch eine formlose handschriftliche Verpflichtung geschehen. Wenn eine Person eine herausragende Position gehabt hätte, habe man ihr das nicht zugemutet. Es habe eine Verpflichtung per Handschlag ausgereicht; in der Akte sei protokolliert worden, was da gesagt worden sei. Der I M habe die Konspiration zu wahren gehabt. Es gebe offensichtlich besondere Ausnahmefälle. Man habe diesen Personen nicht zugemutet, sich bereitzuerklären. Es habe Treffen mit ihnen gegeben. Wenn man einig geworden sei, daß diese Personen Stillschweigen über die Gespräche bewahren würden, dann seien sie in IM-Akten geführt worden. Es sei ihnen kein Decknamen mitgeteilt worden. Wieder sei die Wahrung der Konspiration Voraussetzung gewesen."; Stellungnahme des BStU zu TOP 1 der 11. Sitzung des BT-InnenA-UA; ebenda, Prot. (11. Sitzung), S. 6. 190 Vgl. Fricke, S. 98.

191 Vgl. die Darstellung bei Fricke, S. 107; ferner: Staatssicherheit, S. 30. 1 92 Vgl. zum Beispiel die umfangreiche Richtlinie 1/79 über die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern, in der Erich Mielke u. a. forderte: „Die Leiter der HA (Hauptabteilungen/selbständige Abteilungen) und BV/V (Bezirksverwaltungen/Verwaltungen) haben insbesondere die Entwicklungsziele und -richtungen zur Umsetzung meiner Vorgaben und Orientierungen sowie der meiner Stellvertreter zu erarbeiten. Die Vorgaben sind entsprechend der Leitungsebene in Planorientierungen, Planvorgaben, Jahresplänen, Sicherungskonzeptionen u. a. Dokumenten zu fixieren." (S. 57). Vgl. auch: r. 1., Telegraph, Nr. 8/1990, 16.

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2. Teil: Der Staatssicherheitsdienst der DDR

gängigen Begriffen der „Planschuld" und der „Planübererfüllung" zu operieren und von einem „sozialistischen Wettbewerb" zu sprechen. Das bemerkenswerte an diesem Wettbewerb war jedoch, daß das Bezugsobjekt nicht Gegenstände, sondern Menschen waren.

I I I . Ein erfolgreiches Konzept Der Erfolg dieses Bespitzelungskonzepts war ungeheuer. Den ehemaligen Bürgern der DDR war selbst die geringste Respektierung ihrer privaten Sphäre verwehrt. Das Rechtsinstitut eines gesetzlich garantierten Datenschutzes, in der alten Bundesrepublik längst eine Selbstverständlichkeit 194, war in der DDR unbekannt. 195 Es hätte nicht in ein System gepaßt, in dem der einzelne fürchten mußte, von einem Kollegen, Freund, Sportkameraden usw. wegen seiner inneren Einstellung zum Staat denunziert zu werden. Die personenbezogenen Daten der DDRBürger, aber auch solche von Bürgern der ehemaligen Bundesrepublik (ζ. B. Politiker), 196 wurden vom MfS total erfaßt und - angesichts der hinterlassenen Aktenmenge - mit Akribie dokumentiert und im Interesse der Machthaber ausgewertet. 1 9 7 Die Bürger der ehemaligen DDR lebten in einem Staat der „absoluten Sicherheit". 5. Kapitel

Eine Zusammenfassung der historischen und politischen Erwägungen Damit schließt sich auch der Kreis der historischen und politischen Überlegungen. Ausgehend von dem Aktenberg und den Regelungen, die seiner Zukunft dienen sollen, über die Institution „MfS" und dessen Entwicklung und Methoden, ist 193 Vgl. Worst, S. 20If. Umso unmenschlicher erscheint, daß dieses Plankonzept auch auf Opfer angewendet wurde. Vgl. Meinel, S. 12, wo es heißt: „Zu bespitzelnde Menschen tauchten in Tabellen als geplante OPK's und OV's auf. Spitzel wurden geplant und Ermittlungen der Abteilung IX (Untersuchungsabteilung) berechnet. Regelmäßig wurden diese Zahlen auf Dienstkonferenzen mit dem aktuellen Stand verglichen." 194 Und zwar nicht erst seit dem Volkszählungsurteil, BVerfGE 65, 1 (43ff.), wo es ausdrücklich - mit Verfassungsrang - postuliert wurde. 195 Vgl. Lutterbeck/Mühlbauer, CR 1990, 528 (531); Überwachung, S. 49.

M So berichtet zum Beispiel DER SPIEGEL, Nr. 34/1991, S. 26ff. darüber, daß der verstorbene Ex-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, Zielperson des Staatssicherheitsdienstes war und es über ihn ausführliche Dossiers gab, mit dem Ziel, ihn zu kompromittieren und dadurch erpreßbar zu machen; vgl. auch: Schell/Kaiinka, S. 190-192. 197 So heißt es in: Überwachung, S. 49, daß die wichtigsten Dateien von SED, MfS und der Volkspolizei (und anderer Organisationen) quergeschaltet waren, das heißt eine Instanz konnte im Bedarfsfall das Wissen aller anderen in Anspruch nehmen.

5. Kap.: Zusammenfassung

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die Erörterung wieder bei den Akten als Zeitdokument politischer Verfolgung angekommen. Nun können die Folgerungen gezogen werden, die den Hintergrund für die anschließende juristische Erörterung des Untersuchungsgegenstandes bilden. 1. Das MfS war das gefürchtetste Instrument der DDR-Führung, um die Bevölkerung umfassend zu kontrollieren und jegliche organisierte Opposition - außerhalb der Kirchen - zu ersticken. 2. Die Akten des MfS sowie seiner Vorgänger- und Nachfolgeorganisationen stellen ein beispielloses Erbe dar, das ein untergegangener Staat hinterlassen hat. 1 9 8 3. Die Unterlagen sind im ganzen rechtsstaatswidrig zustandegekommen; zum einen wegen der fehlenden gesetzlichen Legitimation, zum anderen wegen der Verletzung materieller Persönlichkeitsrechte. 4. Die Akten des MfS sind Dokumente menschlicher Selbsterniedrigung. Nachbarn haben Nachbarn, Brüder haben Brüder, Söhne haben Väter bespitzelt. 5. Trotz der sozialen und politischen Brisanz konnten die Unterlagen nicht einfach vernichtet werden. Sie sind historisch unersetzlich und werden benötigt, um die Ehrenhaftigkeit zahlloser Bürger der ehemaligen DDR zu beweisen. 6. Also mußte eine gesetzliche Regelung getroffen werden, die nicht zwischen den Mühlsteinen der widerstreitenden Interessen der Beteiligten zerrieben werden konnte.

198 Α. A. wohl Stoltenberg, zit. in: DER SPIEGEL, Nr. 26/1991, S. 91, der einen Vergleich mit den Akten der Gestapo zieht. Der Vergleich hinkt allerdings, da die Archive der Gestapo gegen Ende des 2. Weltkriegs überwiegend vernichtet worden sind.

3. Te i l

Der Inhalt des StUG Das Gesetz hat sich zum Ziel gesetzt, die in den Unterlagen des MfS vorhandene, durch den Ausspähungs- und Überwachungsapparat des Staatssicherheitsdienstes entstandene Hinterlassenschaft der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik im rechtsstaatlichen Sinne zu bewältigen. Es ist der Versuch, verschiedene auseinanderstrebende bzw. miteinander streitende Zwecke in einem Regelwerk zu verfolgen. 1 Beim ersten Lesen des Gesetzes fällt auf, daß der Opferschutz, das heißt der Schutz und die Wahrung des Persönlichkeitsrechts der Stasi-Verfolgten, Vorrang genießt gegenüber anderen Belangen. Jedoch nimmt das StUG auch für sich in Anspruch, andere berechtigte Interessen sowohl individueller als auch gesamtstaatlicher Art angemessen zu berücksichtigen. Verantwortlich für die Erreichung der gesetzlichen Ziele ist der BStU. Ihm zur Seite steht eine eigene Behördenorganisation, die inzwischen ihren Endausbau abgeschlossen hat. Ihre Entwicklung ist es wert, kurz skizziert zu werden. Auf der 37. Tagung der 10. Volkskammer am 28. 09. 1990 erstattete der Vorsitzende des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS, Joachim Gauck, vor der Volkskammer seinen Abschlußbericht. Im Anschluß daran stimmte die Volkskammer dem Vorschlag des Ministerrates der DDR vom 25. 09. 1990 zu, Joachim Gauck als Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwahrung der Akten und Dateien des ehem. MfS/AfNS vorzuschlagen.2 Die Bundesregierung entsprach diesem Anliegen. Zur Zeit des Beitritts am 03. 10. 1990 standen dem damaligen Sonderbeauftragten nur einige Mitarbeiter zur Seite, die in dem einschlägigen Volkskammersonderausschuß und für ihn in den ehemaligen Bezirksverwaltungen des MfS tätig gewesen waren.3 Ende des Jahres 1990 hatte die Behörde 52 Mitarbeiter. Zu dieser Zeit schienen die Tage der „Gauck-Behörde" bereits gezählt. Es lief eine öffentliche Kampagne zur Diffamierung der MfS-Akten, der Behörde und ihres Leiters Gauck.4 Sie blieb erfolglos, da der Gesetzgeber ι Vgl. § 11 Nrn. 1-4 StUG dort sind die Zwecke genannt. Der Abschlußbericht des Sonderausschusses und der Vorschlag für den Sonderbeauftragten der Bundesregierung befinden sich in: VK-Prot. (37. Tagung), S. 1802ff. Der Vorschlag des Ministerrates vom 25. 09. 1990 befindet sich in der VK-Drucks. Nr. 249. 3 Vgl. Gill/Schröter, S. 291; BStU-Bericht, S. 6. 2

4 Vgl. die Darstellung von Bornhöft, Die „taz" vom 30. 01. 1991, S. 13; Schwanitz, Schreiben des Abg. Schwanitz an den Arbeitskreis Recht vom 26. 12. 1990, S. 5; Gauck, BTInnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 64ff.

3. Teil: Der Inhalt des StUG sich von ihr unbeeindruckt zeigte und an den Vorgaben des Einigungsvertrages festhielt. Die Aufbauarbeit konnte fortgesetzt werden. Ende 1991, also zur Zeit des Inkrafttretens des StUG, besaß die Behörde bereits 591 Mitarbeiter. Mittlerweile hat die „Gauck-Behörde" den bisherigen Berechnungen entsprechend rund 3500 Mitarbeiter. Sie ist also eine große Behörde geworden. 5 Der Gesetzgeber rechnete allerdings seinerzeit „nur" mit 2500 neuen Planstellen für die neue Behörde. Aber selbst unter Zugrundelegung der geringeren Zahl werden immer noch ca. 98 Mio. D M an Personalkosten jährlich anfallen. Hinzu kommen dann noch Personalfolgekosten in Höhe von ca. 76 Mio. D M pro Jahr. 6 Daraus ist ersichtlich, daß die Aufarbeitung der Stasi-Akten eine erhebliche finanzielle Belastung für den Bund mit sich bringt. Der Bundesbeauftragte rechnet ferner damit, daß monatlich 50000 Anträge bezüglich der Unterlagen des MfS bei ihm eingehen werden; er strebt aber nach Möglichkeit eine Abwicklung binnen Jahresfrist an. 7 Ob diese Prognosen realistisch sind, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, daß der Schwerpunkt der Tätigkeit

5 Die Mitarbeiterzahlen stammen aus: BStU-Bericht, S. 6. Die genaue Zahl der Planstellen schwankt: Nach BStU-Bericht, S. 6 handelt es sich um 3355 Planstellen. Genau 3604 Stellen, „streng nach Refa", meinte aber der Organisationsreferent der „Gauck-Behörde", Thiel, in einem Gespräch mit dem Verfasser; vgl. auch: Gauck, in: DER SPIEGEL, Nr. 46/ 1991, 26 (31). Die Behörde hätte ihren vollen Personalausbau weitaus früher abschließen können, wenn der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages dem BStU nicht für das Jahr 1992 1250 Stellen vorübergehend gesperrt hätte, vgl. Gauck, BT-InnenA-UA-Prot. (9. Sitzung), S. 11. Wichtiger ist aber, daß unter den Mitarbeitern des BStU noch rd. 10 Ex-MfSMitarbeiter mit Dreijahres Verträgen beschäftigt werden. Gauck wollte sich dieser Mitarbeiter an sich längst entledigt haben; er braucht sie aber dringend für Spezialaufgaben wegen der Verworrenheit der Archive; vgl. Gauck, a. a. O, S. 12. Α. A. ist ζ. B. das Bürgerkomitee Leipzig; vgl. dessen Stellungnahme an den Innen A des Deutschen Bundestages vom 21. 07. 1991, S. 15. Diese Leute - so Gauck - könnten aber nichts ohne Aufsicht allein machen. Sie seien in Vereinzelung „unter ganz vielen Demokraten" (Gauck, a. a. O., S. 13). Im Prot, zur 20. Sitzung des BT-InnenA-UA, S. 12 ist von 16 ehemaligen MfS-Mitarbeitern die Rede, die nicht mehr so notwendig seien, „aber man könne sie nicht einfach wie eine Zitrone auspressen und wegwerfen." (Prot. a. a. O.). 6 Vgl. wegen der Belastungen für den Bund: BT-Drucks. 12/1540, S. 3. Vgl. auch den Bericht des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom 10. 10. 1991, BT-Drucks. 12/1541, der insgesamt von Mehrausgaben des Bundes in Höhe von rd. 160 Mio. DM spricht (S. 2). Der Bericht stellt fest (a. a. O.), daß die wortgleichen Gesetzentwürfe (Reg-Ε und Fraktionenentwurf) „mit der Haushaltslage des Bundes vereinbar" sind. Allerdings ging die Bundesregierung im Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093 S. 2 - kaum realistisch - von 250 neuen Planstellen mit Personalkosten in Höhe von nur rd. 18 Mio. DM und Personalfolgekosten in Höhe von nur rd. 6,5 Mio. DM aus.

ι So Gauck, in DER SPIEGEL, Nr. 46/1991, a. a. O. Allerdings ist auch schon von 70000 Anträgen pro Monat die Rede, vgl. DER SPIEGEL, Nr. 1/1992 S. 18. Im Monatsdurchschnitt 1992 waren es dann tatsächlich 52.000 Anfragen; so BStU-Bericht, S. 8. Bis Anfang 1994 sind etwa 650.000 Anträge von Bürgern und Bürgerinnen und mehr als eine Million Anträge fast ausschließlich von öffentlichen Stellen gestellt worden; vgl. Simitis, NJW 1994, 99. Nach dem Pressesprecher des BStU, Rogalla, sind von Anfang 1992 bis Anfang Februar 1994 annähernd zwei Millionen Anträge gestellt worden, davon über 1,3 Millionen von Verwaltungen, Parlamenten etc. Derzeit gehen etwa 10.000 Anträge monatlich ein; vgl. DER TAGESSPIEGEL, 50. Jahrgang, vom 05. 02. 1994, S. 6.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

der Behörde nicht in der Erfassung und Verwahrung der Unterlagen, das heißt den eigentlichen Archivarbeiten, sondern in ihrer Verwaltung und Verwendung liegt (vgl. § 2 I StUG). 1. Kapitel

Die einzelnen Vorschriften des StUG (ohne den dritten Abstand) I. Der erste Abschnitt Im ersten Abschnitt mit den § § 1 - 6 StUG behandelt das Gesetz die grundsätzlichen Fragen der Stasi-Akten-Problematik. 1. Der Zweck des Gesetzes § 1 I StUG beschäftigt sich mit dem Zweck des Gesetzes; er wiederholt im Prinzip die schon bekannten Postulate der Aufarbeitung der Akten. 8 Interessant ist aber, daß er auch eine allerdings unvollständige Legaldefinition des Begriffes „Staatssicherheit" enthält. Diese umfaßt neben dem eigentlichen MfS auch dessen Vorläufer- und Nachfolgeorganisationen. Gemeint sind z. B. die Κ 5, die DVdl, die DWK-Hauptverwaltung zum Schutz des Volkseigentums und das AfNS. 9 Da auch heute noch nicht sicher ist, daß das AfNS die einzige Nachfolgeorganisation des MfS war 10 und ferner der Prozeß der rechtswidrigen Informationssammlung nicht erst mit dem MfS begonnen hatte, ist eine derart weite Definition das gegebene Mittel, um wirklich alle fragwürdigen Unterlagen zu erfassen. Unabhängig davon, ob eine Organisation nun Vorläufer oder Nachfolger des MfS war, so war doch die Tätigkeit im wesentlichen dieselbe, nur unter einem anderen „Etikett". 11 In konse8

Vgl. hierzu auch die Aufzählung in den Arbeitsmaterialien des BMI für das StUG vom 11. 03. 1991 - Ο I 5-191 081/0 - , S. 17f. Krit. äußerte sich das Bundesarchiv zu dem Katalog des § 1. Die Aufgabe des Sonderbeauftragten erscheine „als Daueraufgabe, die sie nicht sein darf, wenn die 'politische und juristische' Aufarbeitung gelingen soll." Die historische Aufarbeitung durch den Sonderbeauftragen zu gewährleisten sei ohnehin unmöglich. Stellungnahme des Bundesarchivs vom 02. 08. 1991 - 1 1113/58-4 - , S. 1. 9 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel, III., 2. und 3 bzw. 2. Kapitel, III. 10 Vgl. aber auch BT-Drucks. 12/692 (Alt-E StUG), S. 14, wo als Nachfolgeorganisationen das AfNS, der Verfassungsschutz der DDR und der Nachrichtendienst der DDR genannt werden. Ebenso wie hier: S/D, § 1 Rdnr. 4. n So war auch das Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei der Staatssicherheit zuzurechnen, daher ist die Definition unvollständig, vgl. Stoltenberg, § 1 Rdnr. 2. Problematisch ist auch, inwieweit dem MfS nachgeordnete Bereiche unter den Begriff „MfS" subsumiert werden müssen. Das wird grds. dann der Fall sein, wenn die Angehörigen dieser Bereiche (ζ. B. der MfS-Betriebe) in einem offiziellen Dienst- oder Arbeitsverhältnis zum MfS gestanden haben. Vgl. v. Lindheim, DtZ 1993, 358 (359f.).

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

93

quenter Umsetzung der Gesetzesprogrammatik ordnet denn auch § 11 Nr. 1 an, daß „dem einzelnen" der Zugang zu den Unterlagen ermöglicht werden soll, die Informationen zu seiner Person enthalten. Ein derart breit angelegter persönlicher Wirkbereich mag überraschen, da er auch Personen umfaßt, die nach der Laienwertung nicht als schutzwürdig erscheinen („Täter"). Jedoch ist es nicht unwahrscheinlich, daß das MfS auch auf das Schicksal dieser Personen in verdeckter Form Einfluß genommen hat. 12

2. Auffällige begriffliche Grundlagen a) Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staats Sicherheitsdienste s der ehem. DDR (BStU) § 21 StUG befaßt sich mit den Aufgaben des Bundesbeauftragten für die StasiAkten. Er erfaßt, verwahrt, verwaltet und verwendet die fraglichen Unterlagen. Die Norm ist Ausdruck des politischen Willens des Gesetzgebers, für eine zentrale Verwaltung bei dezentraler Verwahrung der Unterlagen Sorge zu tragen. Zugleich weist die Norm dem BStU eine Monopolstellung für die Betreuung der Stasi-Unterlagen zu. Es handelt sich dabei um eine generalklauselartige Zuständigkeitsnorm; irgendwelche besonderen Befugnisse des BStU ergeben sich aus ihr nicht. Vielmehr stellt § 2 StUG klar, daß der BStU nur nach Maßgabe des StUG überhaupt tätig werden darf. Die Bestimmung ist notwendig, weil die Stasi-Akten im EV zu Archivgut des Bundes erklärt wurden und damit an sich der Verwaltung durch das Bundesarchiv in Koblenz unterliegen würden. § 211 StUG ist durch das Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUÄndG) eingefügt worden. 13 Abs. 2 Satz 1 betrifft den Zugriff des BStU auf bestimmte „Informationen aus dem Zentralen Einwohnerregister der ehemaligen" DDR (ZER). 14 Nachdem sich herausgestellt hatte, daß der BStU zur Erfüllung seiner Aufgaben bestimmte, personenbezogene Informationen aus dem ZER benötigte, 15 bedurfte es einer klarstellenden gesetzlichen Regelung, da nach Auffassung 12 Vgl. Stoltenberg, § 1 Rdnr. 6. 13 StUÄndG vom 22. 02. 1994; BGBl. I, S. 334. 14

Entsprechend der Einwohnerzahl der ehem. DDR handelte es sich um eine Datensammlung von etwa 17 Mio. Datensätzen, wegen des Umfangs vgl. Stoltenberg, DtZ 1994, 386. ZER enthielt, neben typischen" Meldedaten auch viele Informationen, die für ein Melderegister an sich unerheblich sind, ζ. B. Hinweise auf Verurteilungen, Auslandsreisen, Sprachkenntnisse einer Person usw. Gängiges Verknüpfungselement dieser Informationen war die Grundpersonalie „Personenkennziffer" (PKZ); vgl. Stoltenberg, a. a. O. (388). ι 5 Gauck hat hierzu folgendes ausgeführt: „Der Bundesbeauftragte benötigt bei seiner täglichen Arbeit ständig die PKZ - sowohl bei Überprüfungsfällen als auch bei Anträgen auf Akteneinsicht - , um die Identität von Personen sicher und ohne Verwechselungsgefahr fest-

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

der ostdeutschen Bundesländer, die über die Daten des ZER verfügen, die Regelungen des EV für eine Nutzung und Übermittlung dieser Informationen nicht ausreichten. 16 Nach Abs. 2 Satz 2 sind die ZER-Informationen auf Antrag auch den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zur Erfüllung ihrer Aufgaben zu übermitteln. Das StUÄndG selbst ist befristet. Es tritt am 31. 12. 1996 außer Kraft (vgl. Art. 2 StUÄndG). Die gesetzliche Regelung ist in einigen Punkten kritikwürdig. Zunächst muß der Standort der Norm verwundern. Als Befugnisnorm für den BStU hätte sie nicht in den ersten Abschnitt gehört. Dort befinden sich „allgemeine und grundsätzliche" Vorschriften (vgl. die Überschrift des Abschnitts). Die getroffene Regelung ist weder allgemein noch grundsätzlich, denn sie betrifft nur bestimmtes Nicht-Stasi-Unterlagen-Material. Sie hätte erst recht nicht in den § 2 StUG gepaßt, der bis dahin eine generelle Zuständigkeitszuweisung enthielt, also gerade keinen Befugnischarakter aufwies. Vielmehr gehört die Regelung systematisch in den vierten Abschnitt des StUG, und zwar entweder eingebettet in den § 37 StUG oder - besser noch - als eigener § 37 a StUG. Die Formulierung des § 2 II 1 StUG ist eigenartig. Der BStU kann danach bestimmte Informationen „verwenden". Nach § 6 IX 1 StUG umfaßt der Begriff „Verwendung" u. a. die Weitergabe von Unterlagen und die Übermittlung von Informationen aus Unterlagen. Dann wäre die Norm so zu lesen als könne der BStU aufgrund des § 2 II 1 StUG Informationen übermitteln. Das kann nicht der Zweck des Gesetzes sein und ist es auch nicht. Der Begriff „Verwendung" wird auch nicht dadurch klarer, daß § 6 IX 1 StUG auf das ZER-Material nicht anwendbar ist, da es sich nicht um Stasi-Unterlagen i. S. d. Gesetzes handelt.17 Soweit dann der Rückgriff auf das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) 18 möglich ist (vgl. § 6 IX 2 stellen zu können. Dies ergibt sich aus folgenden Gründen: - Angesichts der 6 Millionen Karteikarten mit häufig doppelt vorkommenden Namen besteht eine hohe Verwechselungsgefahr.- Das MfS hat zur Legendierung von Mitarbeitern Doppel-PKZ (wobei eine PKZ von einem nichtsahnenden Mitbürger genommen wurde) benutzt.- In Rentenfällen muß häufig die PKZ zur Ausschließung von unberechtigten Zahlungen abgefragt werden.- Es liegen Unterlagen vor, die allein auf eine PKZ hinweisen, so daß erst durch weitere Recherchen die zugehörige Person herausgefunden werden kann."; Gauck, Bericht an den InnenA des BT vom 25. Ol. 1993, S. 6. 16 Vgl. Gauck, Bericht an den InnenA des BT vom 25. Ol. 1993, S. 7; BT-Drucks. 12/ 6100, S. 1; der Gesetzentwurf der Einbringerfraktionen befindet sich in BT-Drucks. 12/5775, vgl. dort S. 1 bzw. 4; ferner: Hoffmann, BT-InnenA-UA-Prot. (19. Sitzung), S. 6f.: „Bei einer Sitzung der Datenschutzbeauftragten der neuen Länder im April 1993 sei eine Herausgabe von Daten ohne gesetzliche Grundlage abgelehnt worden."; a. A. war der BMI, ebenda, S. 7; vgl. auch: Kittlaus, ebenda, S. lOf. und 14 (krit.). 17 Vgl. Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (388). Allerdings knüpfen Stoltenbergs Bedenken nur am Begriff der „Übermittlung" an. is Vom 20. 12. 1990 (BGBl. III 204-3).

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

95

StUG) ist dort der Begriff „Verwenden" nicht definiert (vgl. §§ 2, 3 BDSG). Gemeint ist doch, daß eine Rechtsgrundlage für die Übermittlung von Informationen an den BStU durch die ostdeutschen Länder geschaffen worden ist. Man hätte somit auf das Übermitteln rekurrieren müssen (vgl. § 3 V Nr. 3 BDSG) und nicht auf das Verwenden. Diese unglückliche Formulierung muß konkretisiert, und die Verpflichtung der ostdeutschen Länder zur Informationsübermittlung muß stärker betont werden. Neben den systematischen und grammatischen Bedenken gegen § 2 II StUG gibt die Norm auch sonst zu Zweifeln Anlaß. Diese knüpfen sich an § 2 II 2 StUG. Die Intention des Gesetzes war es, dem BStU die Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen. Dieser Zweck wird mit § 2 II 1 StUG erreicht. Mit der Regelung in Abs. 2 S. 2 ist der Gesetzgeber über dieses Ziel hinausgegangen,19 und zwar ohne das hierzu eine Notwendigkeit bestand.20 Der Bestand des ZER gehört sachlich in den Bereich des Melderechts. Dies folgt bereits aus der weitgehend identischen Zweckrichtung zwischen dem ZER der ehem. DDR und den bundesdeutschen Melderegistern. Daran hat auch der EV nichts geändert. Soweit das ZER jetzt in der Zuständigkeit der ostdeutschen Bundesländer verwaltet wird, stehen sie den Melderegistern gleich. Für diese gibt es bereits in § 18 I, III Meldrechtsrahmengesetz (MRRG) 21 detaillierte Übermittlungsregelungen für die Datenübermittlung an Gerichte und Strafverfolgungsbehörden des Bundes und der Länder. Diese gehen über den Katalog des § 2 II 1 StUG inhaltlich noch hinaus. Einzig das Personenkennzeichen (PKZ) war DDR-typisch. Hierzu findet sich im MRRG keine Entsprechung. §211 (S. 2) StUG ist demnach überflüssig, wenn man das MRRG um die PKZ soweit vorhanden - erweitert. Wieso der Gesetzgeber nicht diesen Weg gegangen ist, sondern meinte eine besondere Regelung für Gerichte und Strafverfolgungsbehörden treffen zu müssen, bleibt unklar. Die Gesetzgebungsmaterialien verhalten sich zu dieser Frage nicht. 22 Für den BStU läßt sich die Regelung (Abs. 2, S. 1) noch mit der besonderen Stellung und Aufgabe der Behörde rechtfertigen. Eine derartige Rechtfertigung gibt es für Gerichte und Strafverfolgungsbehörden jedoch nicht.

19 Über diesen Punkt gab es eine Kontroverse zwischen dem Innenausschuß und dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages. Der Rechtsausschuß setzte sich schließlich durch; vgl. BT-Drucks. 12/6100, S. 5 und die Gesetzesfassung. 20 Α. A. war der Rechtsausschuß des Bundesrates, vgl. BR-Drucks. 838/1/93, der die fraglichen Daten nicht für so sensibel hielt, um die Übermittlung auf den BStU zu beschränken. Der Bundesrat ist dieser Ansicht gefolgt und hat erfolgreich den Vermittlungsausschuß deshalb angerufen, vgl. BT-Drucks. 12/6493 und BT-Drucks. 12/6732. Vgl. auch die Darstellung bei Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (387). 21 Vom 16. 08. 1980, BGBl. III 210-4. 22 Die Materialien, die von lapidarer Kürze sind, lassen allerdings mehr Fragen offen als sie beantworten. In seiner (drastischen) Bewertung des 1. StUÄndG gelangt Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (387f.), denn auch zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, da u. a. die verfassungsrechtlichen Überlegungen des Gesetzgebers nicht nachvollziehbar seien.

96

3. Teil: Der Inhalt des StUG

b) Erschlossene Unterlagen § 31 StUG gewährt jedermann das Recht auf Auskunft, ob in den erschlossenen Unterlagen Informationen über ihn enthalten sind. Ob dem Anfragenden weitere Rechte zustehen, hängt dann von einem positiven Anfrageergebnis ab. Wichtig ist hier der Hinweis, daß nur die erschlossenen Unterlagen von dieser Norm erfaßt sind - unabhängig davon, was erschlossen letztlich bedeutet - also jedenfalls nicht alle. Der Begriff „erschlossen" ist ein archivalischer Begriff, der aus § 4 II Β ArchivG 23 stammt. Der Gesetzgeber hat ihn der Formulierung des § 31 StUG zugrunde gelegt.24 Danach sind Unterlagen erschlossen, wenn das Schriftgut geordnet und hinsichtlich der Namen durchgesehen, gekennzeichnet und der Ordnungszustand durch geeignete Hilfsmittel gesichert ist. Die angesprochenen Hilfsmittel müssen den Zugriff auf die Unterlagen ermöglichen. Daraus ergeben sich zwei praktisch bedeutsame Schlußfolgerungen. Erstens: Auf nicht erschlossene Akten kann auch bei sicherem Wissen um die Existenz der Unterlagen nicht zugegriffen werden. Vielmehr hängt die Verwirklichung der gesetzgeberischen Intentionen davon ab, in welchem Tempo der Bundesbeauftragte die Unterlagen erschließt und damit weitere Folgerungen ermöglicht. 25 Zweitens: Bis zum vollständigen Abschluß der Erschließung 26 der Unterlagen ist es prinzipiell unvernünftig, bereits Anfragen an den Bundesbeauftragten zu richten, da sich die Antwort nur auf den Stand des bisher erschlossenen Materials beziehen kann. Sollten im Falle einer Negativauskunft später doch noch Informationen gefunden werden, würde der einzelne davon nichts erfahren und u. U. damit seine gesetzlichen Rechte nicht wahrnehmen können.27 Andererseits würden regel23 Vgl. MD Wedler (BMI), BT-InnenA-Prot. (16. Sitzung ), S. 85. Vgl. auch BArchG, vom 06. 01. 1988; BGBl. I, S. 62 (BGBl. III 224-8). 24 Vgl. den Bericht der Abg. Büttner, Schwanitz, Schmieder und Köppe in: BT-Drucks. 12/1540, S. 57; G/K, § 6 Rdnr. 32. 25 Auch das ist ein Problem, das von der Personalausstattung abhängt. Diese war aber nicht immer gut; von den 3600 Mitarbeitern, die die Gauck-Behörde rechnerisch benötigt, hatte der Bund Anfang 1992 nur Stellen für rund 2000 Mitarbeiter freigegeben; vgl. DER SPIEGEL, Nr. 1/1992, S. 21. Erst seitdem Anfang 1993 der Personalaufbau abgeschlossen wurde, ist die Behörde voll funktionsfähig. 26 „Der außerordentlich umfangreiche Bestand der Unterlagen konnte bisher nur zum Teil erschlossen werden."; so: Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 12/1093 (vom 29. 08. 1991), S. 18; vgl. auch DER SPIEGEL, Nr. 1/1992, S. 21, der berichtet, daß zum Beispiel in Dresden bislang erst weniger als die Hälfte des Materials archiviert, das heißt erschlossen ist. Auch lt. Gauck, S. 13 ist das meiste Material nur grob geordnet. 27 Gauck, BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung) hat dieses Argument etwas relativiert. Er führt aus (S. 58): „Vielmehr werden in der Regel auch solche Teile unsortierten Aktenmaterials für unsere Auskünfte beigezogen, die wir großflächig in Stellagen, Borden usw. geordnet haben. Es gibt dort die Möglichkeit, zu sagen, welche Abteilung ungefähr in welchem Planquadrat aufgestellt ist, so daß sich die Suchaktionen auch im ungeordneten Material einigermaßen zielgerichtet abspielen können." „Wie Behördensprecher Rogalla erklärte, schreite die Er-

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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mäßige Wiederholungsanfragen einzelner, um die zuvor genannte Gefahr zu umgehen, dazu führen, daß die Behörde mit einem Vorgang die mehrfache Arbeit hätte, was die Bearbeitungszeit aller Anfragen verlängern und die ohnehin knappen Kapazitäten der Behörde noch mehr beanspruchen würde. 2 8 Der in § 3 I StUG fixierte Auskunftsanspruch ist nicht zu verwechseln mit den Auskunftsansprüchen aus den §§ 13ff. StUG. Die Auskunft nach § 3 I StUG ist darauf gerichtet, herauszufinden, ob Informationen über den Anfragenden vorhanden sind. Der weitere Auskunftsanspruch setzt voraus, daß dieser Punkt positiv geklärt ist; denn der weitere Anspruch auf Auskunft ist darauf gerichtet, welchen Inhalt die vorhandenen Informationen haben. 2 9 Auskunftsberechtigt nach § 3 I ist jede natürliche Person, nicht allerdings öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen. Deren Zugangsrecht richtet sich nach § 19 S t U G . 3 0 Nach § 3 I I StUG dürfen die Personen, die Material vom Bundesbeauftragten nach den §§ 13ff. StUG erhalten haben, dieses i m Rahmen „der allgemeinen Gesetze" verwenden. Ob sich dahinter die gängige Terminologie aus Art. 5 I I GG verbirgt, kann dahingestellt bleiben. 3 1 Gemeint ist jedenfalls, daß Betroffene, Schließung der ... Stasi-Akten ständig fort. Dabei könne es auch zu neuen Erkenntnissen bereits überprüfter Personen kommen. Eine 'automatische' Benachrichtigung der Antragsteller sei schon aus organisatorischen Gründen nicht möglich."; so: DER TAGES SPIEGEL, 50. Jahrgang, v. 05. 02. 1994, S. 6. Derzeit sind 80 % der Stasi-Akten erschlossen; vgl. Simitis, NJW 1994, 99. Nach Gauck, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 29, liege der Unsicherheitsfaktor in den Auskünften seiner Behörde noch bei ca. 30 %. Allerdings brächte auch eine 100%ige Erschließung der personenbezogenen Unterlagen keine absolute Sicherheit, da immer noch personenbezogenes Material auftauchen könne, zu dem es keine Fundhilfsmittel gebe; Gauck, a. a. O., S. 30. 28 Trotzdem sind zum Beispiel allein im Monat Okt. 1991 lt. Gauck, in: DER SPIEGEL, Nr. 46/1991, S. 26 (31) 70000 Anträge eingegangen. Man kann diese „Unvernunft" der ehemaligen DDR-Bürger allenfalls damit begründen, daß diese nicht mehr länger warten wollen, um zu erfahren, was das MfS über sie wußte. Inzwischen hat auch der BStU-Bericht, S. 57 zu diesem Problem Stellung genommen; es ergehe „die dringliche Bitte, vor 1995 keine weiteren Nachfragen zu stellen,..." Nach Dörr, ZG 1991, 170 (171) soll es mindestens 200 Mannjahre dauern, ehe das ganze Material (Säcke, etc.) voll erschlossen ist. Gauck, BT-InnenAProt. (2. Sitzung), S. 59 gibt einen Zeitraum von 228 Mannjahren an; 128 Mannjahre für das Zentralarchiv in Berlin und etwa 100 Mannjahre für die Außenarchive in den ostdeutschen Bundesländern. „Nun braucht man ja nicht mit einem Mann zu arbeiten,..."; Gauck, a. a. O. 29 Auskünfte nach § 13 enthalten ζ. B. bei I M ungefähr folgende Informationen: 1. Die Mitteilung ob jemand I M war und, wenn ja, in welcher Kategorie. 2. Den Tätigkeitszeitraum. 3. Das Vorhandensein eines IM-Vorlaufs. 4. Die Art der Verpflichtung (mündlich oder schriftlich). 5. Der Zweck und die Methode der IM-Werbung. 6. Den Umfang der Berichte, Anzahl und Inhalt derselben. 7. Einschätzungen des MfS über die Person des IM. 8. Evtl. erhaltene Honorare, Auszeichnungen etc. 9. Eine Stellungnahme des BStU, ob der Werbezweck, ob die Tätigkeit, die das MfS geplant hatte, von der Person tatsächlich erfüllt worden ist. Vgl. Geiger, BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 90ff. 30 Vgl. Stoltenberg, § 3 Rdnr. 4f.

31 Das ist sehr unwahrscheinlich. Nach S/D § 3 Rdnr. 4 soll es sich ζ. B. um Normen des StGB (§§ 185, 240 StGB) oder um sonstige gesetzliche Regelungen handeln, die das Persönlichkeitsrecht schützen. 7 Engel

98

3. Teil: Der Inhalt des StUG

Dritte, Mitarbeiter des MfS und Begünstigte etc. bei der Verwendung ihrer Unterlagen nicht den Restriktionen unterliegen, die das StUG aufstellt (vgl. § 29 StUG). Diese beliebige Verwendungsbefugnis ist aber nicht ganz unbedenklich. Was für Betroffene und Dritte bzw. deren Angehörige noch hinnehmbar ist, ist auf der Täterseite mißglückt. Wie noch zu zeigen sein wird, erhalten ehemalige Mitarbeiter u. U. Einsicht in die von ihnen erstellten Spitzelberichte (§ 16IV StUG). Wenn diese durch Einsichtnahme ihr Wissen „auffrischen", bestehen erhebliche Gefährdungen für das Persönlichkeitsrecht der von ihnen Bespitzelten. Für Mitarbeiter und Begünstigte hätte daher eine zweckgebundene Verwendung angeordnet werden müssen. Zumindest hätten diese Personen nicht in den Kreis des § 3 II StUG aufgenommen werden dürfen. 32

c) Öffentliche

und nicht-öffentliche

Stellen

§ 4 StUG eröffnet den Zugang zu den Unterlagen für öffentliche und nicht-öffentliche Stellen im Rahmen des Gesetzes. Was öffentliche und nicht-öffentliche Stellen sind, ist in § 21, II, IV BDSG legal definiert, der gem. § 6 IX 2 StUG mit der Maßgabe anwendbar ist, daß die Religionsgesellschaften zu den nicht-öffentlichen Stellen zählen. Im übrigen regelt das StUG den Begriff der öffentlichen Stelle unter dem Aspekt der Zuständigkeit nicht näher, es setzt vielmehr eine anderweitige Bestimmung der Zuständigkeit voraus. 33 Diese Zweiteilung ist durchaus sinnvoll. Die Interessenlagen öffentlicher und nicht-öffentlicher Stellen werden im Einzelfall höchst unterschiedlich sein. Die Benutzung eines Pauschalverweises ist dabei ein elegantes, gesetzestechnisches Mittel, um den Gesetzestext übersichtlich zu gestalten. Zwei Problemkreise haben sich jedoch ergeben, die näher betrachtet werden müssen. Sonderproblem : Religionsgesellschaften Fraglich ist, wie es sich mit der Sonderregelung für die Religionsgesellschaften verhält. Bedenken könnten sich ergeben im Hinblick auf die Vereinbarkeit von § 6 IX 2 StUG mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 V WRV 3 4 . Danach sind die Religionsgesellschaften prinzipiell Körperschaften des öffentlichen Rechts. Es versteht sich dabei von selbst, daß ein einfaches Bundesgesetz die Religionsgesellschaften nicht ihres verfassungsmäßig abgesicherten, öffentlich-rechtlichen Charakters entklei-

32

So im Erg. wohl auch: Stoltenberg, § 3 Rdnr. 8ff. 33 Vgl. VG Berlin, Beschl. v. 24. 9. 1993 - 26 A 105.93 - , η. v. 34 Sog. Weimarer Reichsverfassung; Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 08. 1919, RGBl. S. 1383.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

99

den kann, und sei es auch nur für ein Teilrechtsgebiet. 35 Es fragt sich nur, ob § 6 IX 2 StUG eine so weitgehende Regelung trifft bzw. welche inhaltliche Ausgestaltung er hat und warum die Religionsgesellschaften besonders behandelt werden. Der Normhistorie ist hierzu nichts zu entnehmen. Schon der Reg-Ε. sah die Ausnahmeregelung für die Religionsgesellschaften vor, ohne diese näher zu begründen. 36 Auch im Verlauf der weiteren Beratung wurde diese Sonderregelung kommentarlos akzeptiert. 37 Allerdings lassen sich für das Verständnis der Norm systematische Gesichtspunkte fruchtbar machen. Zunächst ist festzustellen, daß sich das StUG nicht im Bereich der innerkirchlichen Angelegenheiten, sondern ausschließlich im staatlichen Bereich bewegt. Vom System her regelt das StUG den Umgang mit dem Nachlaß eines aufgelösten Nachrichtendienstes. Mithin gehört es (auch) zum Recht der Nachrichtendienste und knüpft damit an eine originäre Staatsaufgabe, nämlich die Förderung der inneren und äußeren Sicherheit, an. 38 Eine korporierte Religionsgesellschaft, die Zugang zu den Stasi-Unterlagen wünscht, begibt sich somit auf ein Feld, auf dem der Staat „die Spielregeln" bestimmt. Hinzu kommt, daß nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV die für alle geltenden Gesetze von den Religionsgesellschaften bei der Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten zu beachten sind. Gesetze in diesem Sinne sind alle Rechtsnormen, denen sich jede Religionsgesellschaft ohne Beeinträchtigung ihres Selbstverständnisses fügen kann und als Teil der Gesamtheit auch fügen muß. 39 Dieser Ansatz muß erst recht gelten, wenn es sich bei der geregelten Materie überhaupt nicht um eine kirchliche Angelegenheit handelt. Es dürfte im übrigen auch keine Religionsgesellschaft geben, die in ihrem religiösen Selbstverständnis beeinträchtigt wäre, wenn ihr der Zugang zu und die Verwendung von Stasi-Unterlagen versagt bliebe. Soweit geht die Regelung des § 6 IX 2 StUG aber nicht. Die Religionsgesellschaften sollen auf die Unterlagen zugreifen dürfen, wenn auch als

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Lt. BStU-Bericht, S. 63 sind tatsächlich vielfach kirchliche Stellen bei Ersuchen an den BStU der Auffassung, sie seien - unter Berufung auf Art. 140 GG und entgegen § 6 IX 2 StUG - zu den öffentlichen Stellen zu zählen. Vgl. auch Neubert, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 21/92, 11 (20). Diese Auffassung hat einen praktischen Grund: Öffentliche Stellen sind von den Kosten für Amtshandlungen nach den §§ 20, 21 StUG freizustellen. Nichtöffentliche Stellen müssen bezahlen; vgl. G/K, § 19 Rdnr. 32; Gauck, Bericht an den InnenA des BT vom 25. 01. 1993, S. 19. 36 Vgl. Reg-Ε., BT-Drucks. 12/1093, S. 22 zu § 4. 37 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 58 zu § 4. 38 Diese Anknüpfung ist jedoch nur so lose, daß sie nicht geeignet ist, ζ. B. eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes zu begründen. Zwischen den beiden Bereichen sind weder Sachgleichheit noch Anhaltspunkte für einen Annex feststellbar. 39 Vgl. BVerfGE 18, 385 (388); E 30, 415 (422); E 42, 312 (334); ferner: BAGE 30, 252f.; BSGE 16, 289 (291f.); BVerwGE 68, 62 (66f.); etwas abweichend (enger): BGHZ 22, 383 (387) bzw. 34, 372 (374). 7*

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

nicht-öffentliche Stellen. Sie stehen damit in der Reihe der Interessenten an den Unterlagen, die sich an das für alle geltende StUG zu halten haben. In dieser Situation kommt eine Privilegierung durch den an sich öffentlich-rechtlichen Charakter der Religionsgesellschaften nicht in Betracht. Der Körperschaftsstatus der Religionsgesellschaften, der sich historisch erklärt, ist ein besonderer. Er bedeutet nicht, daß die korporierten Religionsgesellschaften ihre Aufgaben und Befugnisse vom Staat ableiten oder gar staatliche Gewalt ausüben. Gemeint ist nur die Fähigkeit, Träger gewisser staatstypischer Rechte und Rechtspositionen zu sein. 40 Im Bereich der nachrichtendienstlichen Regelungen gibt es keine derartigen staatstypischen Rechte bzw. Positionen der Religionsgesellschaften. Sie haben in diesem Bereich weder originäre noch vom Staat verliehene Befugnisse. Vielmehr besteht ein volles Regelungsrecht des Staates in dieser Materie. Dabei muß er zwar die Freiheit des religiösen Bekenntnisses (Art. 4 I GG) bzw. die Freiheit der Religionsausübung (Art. 4 II GG) beachten, aber die öffentlich-rechtliche Natur der Religionsgesellschaften muß er nicht berücksichtigen. Da § 6 IX 2 StUG die Regelungsmaterie der Art. 4 I und 4 II GG ersichtlich nicht betrifft, sondern sich nur mit der Zuordnung der Religionsgesellschaften für die Belange des StUG befaßt, bleibt der öffentlich-rechtliche Charakter der Religionsgesellschaften in Wahrheit unberührt. Bereits von Verfassungs wegen ist ausgeschlossen, daß auf einer rein staatlichen Ebene eine andere als die staatliche, öffentlich-rechtliche Gewalt ausgeübt wird. Die Gesetzesnorm hat lediglich klarstellenden Charakter, als sie feststellt, daß für das StUG nur staatliche Stellen solche öffentlicher Art sind. Also verstößt § 6 IX 2 StUG nicht gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 V WRV.

Sonderproblem: Ausländische öffentliche Stellen Öffentliche Stellen i. S. d. Gesetzes sind nur Stellen des Bundes, der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände, deren Körperschaften, Anstalten, Stiftungen sowie deren Vereinigungen ungeachtet ihrer Rechtsform. 41 Nicht-öffentliche Stellen können ausländische sein. Ausländische öffentliche Stellen können nicht an den Bundesbeauftragten herantreten. Zu welchen Komplikationen die Regelung führen kann, mag ein Beispiel zeigen: Es ist heute allgemein bekannt, daß (nach Erkenntnissen des amerikanischen Geheimdienstes CIA) über Vietnam abgeschossene amerikanische Piloten mit Wissen und Billigung des MfS in die DDR verschleppt und dort festgehalten worden sind. Offiziell gelten diese Personen auch heute noch als vermißt. Unterstellt: Das amerikanische Außenministerium wollte nun das Schicksal dieser Menschen 40 Vgl. BVerfGE 18, 385 (386); E 42, 312 (332); BGHZ 12, 323. Man muß hier innerhalb der öffentlichen Aufgaben differenzieren nach solchen, die Staatsaufgaben sind, und sonstigen öffentlichen Aufgaben; vgl. MDHS-Maunz, Art. 140 Rdnr. 12 m. w. N. 41 Vgl. S/D, § 6 Rdnr. 37.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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anhand eventuell vorhandener Stasi-Unterlagen aufklären. Ein direktes Herantreten des „State Department" an die Gauck-Behörde funktionierte jedoch nicht. Übrigens: Wäre statt des Außenministeriums die „Washington Post" mit diesem Anliegen zum Bundesbeauftragten gekommen, hätte sie die erbetenen Auskünfte ohne weiteres erhalten. Daraufhin wenden sich die USA an die (deutsche) Bundesregierung mit der Bitte um „Amtshilfe". Internationale Rechtshilfe liegt ja nicht vor, da es nicht um Strafverfolgung geht. Nun wird es kompliziert. Es fragt sich nämlich, ob eine bundesdeutsche, sachlich zuständige Stelle an den BStU herantreten darf, um die erhaltenen Auskünfte dann an das „State Department" weiterzugeben. Auch hier sei ein (fiktives) Beispiel gegeben: Das Bundesministerium des Inneren besitzt Referate, die sich mit dem Suchdienst vermißter Personen beschäftigen. Das BMI würde im Ausgangsbeispiel die erbetenen Auskünfte vom BStU erhalten. Allein, es dürfte sie nicht an die US-Stellen weitergeben. Dieses mißliche Resultat folgt aus § 29 StUG, welcher die besondere Zweckbindung der Weiterverarbeitung von BStU-Informationen anordnet. Die für den deutschen Suchdienst übermittelten Daten, dienen hiesigen Suchdienstzwecken und nicht der Beauskunftung ausländischer öffentlicher Stellen. Dies könnten im Extremfall sogar Nachrichtendienste sein. Im übrigen würde der BMI im gegebenen Beispiel nur als „Strohmann" fungieren, um so eine Umgehung der Zweckbindung aus § 29 StUG erreichen zu können. Da die Zweckbindung aber ein elementares Erfordernis des Datenschutzes ist, ist ein solches Vorgehen höchst kritikwürdig. Selbst eine ausdrückliche Zustimmung des BStU (vgl. den Fall des § 29 II StUG) zur Weitergabe der Informationen würde nichts ändern. Da der ausländische öffentliche Stelle - gleich zu welchem Zweck - nicht direkt Auskunft erteilt werden darf, ändert eine Zustimmung zur Zweckveränderung nichts am generellen Verbot. Ersteres ist eine Frage des „Wofür" und letzteres bezieht sich auf das „Ob" der Informationspreisgabe. Die andere Seite des Problems besteht nun darin, dem anderen Staat die deutsche Rechtslage zu verdeutlichen. Je nach Anlaß und Bedeutung der Sache kann sich die Bundesrepublik wegen ihrer AuskunftsVerweigerung in außenpolitische Schwierigkeiten bringen. Bei der Ausgestaltung des § 4 I StUG sind die Wechselwirkungen zwischen den Definitionen der öffentlichen Stellen im BDSG und den Erfordernissen des Datenschutzes, hier der Zweckbindung, vom Gesetzgeber übersehen worden. Die Lösung des Problems kann nur vom Gesetzgeber ausgehen. Am einfachsten wäre es, die ausländischen öffentlichen Stellen den bundesdeutschen öffentlichen Stellen im Hinblick auf die Erteilung von Auskünften gleichzustellen. Ausländische öffentliche Stellen sollten also weder Einsicht in die Unterlagen erhalten noch sollte ihnen Material herausgegeben werden. Diese Beschränkung rechtfertigt sich aus dem Umstand, daß die Zweckbindung bei der Weiterverarbeitung der Informationen durch die ausländische öffentliche Stelle weder durch den BStU noch durch den BfD überwacht werden kann. Sie unterliegt vielmehr dem Recht des fremden

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Staates. Will man einerseits dem ausländischen Staat helfen, andererseits aber auch keine größeren Gefahrenquellen bei der Informationsvermittlung eröffnen, muß ein Auskunftsrecht ausreichend sein. Selbstverständlich müßten vom Begriff der ausländischen öffentlichen Stelle Nachrichtendienste bzw. Sicherheitsbehörden fremder Staaten ausgeschlossen bleiben. Wenn schon die eigenen Nachrichtendienste bzw. Sicherheitsbehörden nur unter bestimmten Voraussetzungen Zugang zu dem Unterlagenmaterial erhalten, muß der Zugriff fremder Dienste ausgeschlossen werden. Die eigenen Dienste unterliegen den deutschen verfassungsrechtlichen Bindungen und Kontrollmöglichkeiten. Fremde Nachrichtendienste unterliegen ihnen nicht. § 4 I StUG müßte in diese Sinne ergänzt werden. Zugang und Verwendung der Unterlagen durch öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen hängen davon ab, daß das StUG es erlaubt oder anordnet. § 4 I 1 StUG ist § 4 I BDSG nachgebildet. Allerdings ist § 4 I 1 StUG in drei Punkten restriktiver als sein Vorbild im BDSG. Erstens trägt die Regelung abschließenden Charakter, das heißt die Verwendung von Stasi-Unterlagen aufgrund anderer Gesetze wird nicht zugelassen.42 Zweitens ist die Verwendung von Stasi-Unterlagen selbst dann nicht zulässig, wenn der Betroffene in die Verwendung eingewilligt hat. Allerdings ist diese Regelung insoweit aufgeweicht, als § 4 I 2 StUG vorsieht, daß dann keine Verwendungsschranken vorliegen sollen, wenn Opfer, deren Angehörige oder Tater Unterlagen von sich aus zu einem bestimmten Zweck vorlegen. Es handelt sich dabei um einen die fraglichen Stellen begünstigenden Rechtsreflex des in § 3 II StUG niedergelegten Prinzips der Verwendungsfreiheit des einzelnen.43 Drittens schließlich unterliegen nach dem Wortlaut des Gesetzes auch Informationen ohne Personenbezug dem Gesetzes vorbehält. Das in § 4 Abs. 1 S. 1 ausgesprochene allgemeine Verwendungsverbot ist umfassender Natur. Es gilt für den Bundesbeauftragten und jeden Empfänger der übermittelten personenbezogenen Informationen. Von zwei Ausnahmen abgesehen. Erstens gilt es nicht für die Justizakten nach §§ 18, 24 StUG; obwohl der Gesetzeswortlaut die Geltung des § 4 für diese Unterlagen nicht ausschließt, sind die §§18 und 24 StUG dem Inhalt nach Einschränkungen des Gesetzesvorbehaltes.44 Zweitens gilt es nicht für die Verwendung von Unterlagen durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundes oder der Länder (§ 22 I, II StUG). Diese sollen die Stasi-Unterlagen auf jeden Fall unabhängig von den Verwendungsbeschränkungen des StUG erhalten. 45

42 Vgl. s/D, 4 Rdnr. 2; BT-Drucks. 12/1093, S. 20; Kloepfer, S. 29. 43 Stoltenberg, § 4 Rdnr. 5 sieht in Satz 2 eine gefährliche Ausnahmeregelung, die die Möglichkeit eröffne, das Gesetz zu umgehen. Die Beispiele, die er bringt, sind aber nur von geringer praktischer Bedeutung. 44 Vgl. Stoltenberg, a. a. O., Rdnr. 6.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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3. § 5 StUG Diese Norm statuiert ein grundsätzliches Verwendungsverbot der Unterlagen zum Nachteil der Opfer. Wenn man es Betroffenen und Dritten zumutet, daß ihre Unterlagen in bestimmter Weise verwendet werden, obwohl der darin enthaltene Informationsbestand nach den Maßstäben des GG nicht existieren dürfte, dann sind erhebliche Vorkehrungen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte dieser Personen erforderlich. Das ist der Kern der gesetzlichen Regelung und auch die zwangsläufige Konsequenz aus der Grundentscheidung, die Unterlagen aufzubewahren. Damit werden die legitimen Verwendungszwecke zugunsten bestimmter Personengruppen begrenzt. Allerdings gilt dieses Verbot nicht ohne Ausnahmen. Die erste befindet sich in § 5 I 2 StUG. Sie greift dann ein, wenn die Angaben des Betroffenen/Dritten, verglichen mit den Informationen aus den Unterlagen, ganz oder teilweise unzutreffend sind und die Frage nach der Rehabilitierung oder dem Schutz des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen/Dritten im Raum steht. Diese Ausnahme hat ihren guten Sinn. Die Unterlagen können nur insoweit für die Zwecke des § 21 I Nrn. 1 und 2 StUG herangezogen werden, als in ihnen begangenes Unrecht dokumentiert ist. Behauptet das Opfer nun „mehr" als den Akteninhalt, was bedeutsam ist zum Beispiel für die Frage von Geldleistungen des Staates im Rahmen der Rehabilitierung, so ist die Benutzung der Stasi-Unterlagen für den Betroffenen/Dritten objektiv nachteilig. Sie stützen seine Behauptungen ja nicht. Ein ausnahmsloses Verwendungsverbot würde dann bedeuten, daß jedes relativ harmlose Unrecht beliebig aufgebauscht werden könnte, um sich des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Anerkennung zu versichern, obwohl der Unterlageninhalt dem widerspräche. Mit anderen Worten: Um die Zwecke des § 21 I Nrn 1 u. 2 StUG vernünftig erfüllen zu können, ist es nicht nur erforderlich zu wissen, ob man einen Betroffenen oder Dritten vor sich hat, sondern auch, wie intensiv das Opfer von Stasi-Maßnahmen betroffen ist. Über die wahre Intensität der Beeinträchtigung gibt aber nur das Stasi-Material zuverlässig Auskunft; die subjektiven Empfindungen der Opfer sind dafür untauglich. Dann muß man folgerichtig auch das Material verwerten können, wenn es inhaltlich nicht ganz dem Wunsch des Opfers entspricht, aber doch dessen Interesse dient. Diese Ausnahme vom Verwendungsverbot des § 5 I StUG ist in ihren Auswirkungen noch erträglich, da es letztlich immer noch darum geht, dem Betroffenen/Dritten „Gutes" zu tun. 45 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 60. Dabei ist die gesetzliche Regelung (§ 22 I StUG) völlig überflüssig. Das Recht der Beweiserhebung für Untersuchungsausschüsse (des Bundes) ergibt sich schon aus der Auslegung des Art. 44 I GG. Hierzu gehört auch das Recht auf die Vorlage von Akten; vgl. BVerfGE 76, 100 (128); VG Berlin, 1 A/449/92, S. 28 = NJW 1993, 2548ff.; Aulehner, DÖV 1994, 853 (854). Lediglich § 22 II StUG gibt Sinn im Hinblick auf die Untersuchungsausschüsse der Länder. Ein klassisches Beispiel war der „Stolpe-Untersuchungsausschuß" des Landtages des Landes Brandenburg. Α. A: (Regelung notwendig) S/D, § 22 Rdnr. 2. § 22 II StUG ist das Resultat einer Forderung, die von der Gemeinsamen Kommission der neuen Länder für das Stasi-Unterlagen-Gesetz erhoben worden ist; vgl. die Stellungnahme der Gemeinsamen Kommission vom 06. 09. 1991. Maßgeblich für den Umfang der Aktenherausgabe ist der Umfang des Kontrollauftrags des Ausschusses; vgl. G/K, § 22 Rdnr. 3 bzw. 5.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

An versteckter Stelle im StUG (§ 23 I 2 StUG) befindet sich eine weitere Ausnahme von § 5 I 1 StUG, die weitaus bedenklicher ist. Für die Zwecke der Strafverfolgung können die Unterlagen über Betroffene und Dritte ohne weiteres benutzt werden, wenn eine der Katalogtaten des § 23 I StUG vorliegt. Dann gelten nur die allgemeinen strafprozessualen Beweisverwertungsverbote (§ 23 I 3 StUG). Bedenken erweckt dabei die Auflistung in § 23 I StUG. Sicher, der Zweck der Strafverfolgung rechtfertigt im Prinzip auch eine Verwendung der Unterlagen der Opfer. Soweit unabweisbare Bedürfnisse der Strafverfolgung in Rede stehen, unterliegen auch die Freiheitsrechte des einzelnen Einschränkungen. Das folgt aus der rechtsstaatlich, das heißt grundgesetzlich begründeten Schutzfunktion des Strafrechts für die Rechtsgüter des einzelnen und der Allgemeinheit. 46 Ob solche Bedürfnisse im Katalog des § 231 StUG hinreichend konkretisiert sind, ist aber zweifelhaft. 47 Abgesehen von den Regimestraftaten der ehemaligen DDR (§ 23 I Nr. 1 a StUG), steht der Rest in keinem spezifischen Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. Vielmehr handelt es sich um eine Ansammlung mehr oder weniger gemeingefährlicher Straftaten aus dem Bereich des StGB oder des Nebenstrafrechts. Dabei fällt dann auf, daß die Taten der Nr. 1 a und d des § 23 I StUG, also die SED- und die NS-Taten, nur pauschal angesprochen werden. Insoweit ist der Katalog schon zu unbestimmt. Die Frage, ob die letzteren Taten überhaupt noch eigenständige Bedeutung besitzen, ist ohnehin zweifelhaft; entweder sind diese Taten verjährt oder sie fallen unter § 23 I Nr. 1 lit. b StUG. Völlig unverständlich wird der Katalog, wenn man sich die Qualität der Nr. 1 b und der Nr. 1 d anschaut. Was die Verwendung der Opferakten zum Nachteil der Opfer angeht,48 werden Mord und Totschlag gleich behandelt wie Straftaten nach § 44 StUG. Bei Mord und Totschlag, also bei schweren Verbrechen, mag dies noch mit einem unabweisbaren Bedürfnis nach einer vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren zu rechtfertigen sein. § 44 StUG ist jedoch kein Verbrechens-,

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Folgerichtig hat das BVerfG die gesellschaftliche Bedeutung der Strafverfolgung bzw. erforschung mehrfach anerkannt; vgl. ζ. B. BVerfGE 19, 342 (347); 20, 45 (49); 20, 144 (147); 33, 367 (383); 77, 65 (76). Es hat dabei betont, daß die Aufklärung schwerer Straftaten wesentlicher Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens ist; vgl. ζ. B. BVerfGE 29, 183 (184); 33, 367 (383); 57, 250 (275). 47 Wäre der Gesetzgeber ζ. B. den Vorstellungen des BKA in dessen Stellungnahme vom 05. 08. 1991 - Pr 12-4010 - gefolgt, so sähe die Norm heute ganz anders aus; vgl. dort S. 6. Aus der Stellungnahme spricht die Sorge, daß StUG könne die Notwendigkeiten der Strafverfolgung bzw. Gefahrenabwehr nicht richtig berücksichtigen; vgl. S. 4f. Vgl. auch die ähnliche Stellungnahme des Generalbundesanwalts beim BGH vom 15. 8. 1991 - 4100/14 - ; dort insbes. S. 5 f. 48

Ursprünglich sollten diese Unterlagen nur für die strafrechtliche Verfolgung von Mitarbeitern zur Verfügung stehen; daher fand kein absolutes Verwendungsverbot Eingang in das Gesetz; vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 25 (zu § 18 Reg-Ε). Im Zuge der weiteren Beratungen gelangte der Gesetzgeber jedoch zu der Ansicht, daß es „nicht vertretbar" schien, bei ... schweren Delikten dem Opferschutz absoluten Vorrang einzuräumen."; BT-Drucks. 12/1540, S. 61.

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sondern ein Vergehenstatbestand im Sinne des StGB (vgl. § 12 II StGB). 49 Hier werden wesentlich ungleiche Fälle gleich behandelt, obwohl im Hinblick auf Art. 3 I GG kein sachgerechter Grund erkennbar ist. 50 Die Ausschaltung des besonderen Verwendungsverbotes des § 5 I 1 StUG ist allein in den Fällen des § 23 I Nr. 1 lit. b) StUG zu rechtfertigen. Die Nichtanwendung des § 5 I 1 StUG wäre vielleicht noch zu ertragen, wenn die strafprozessualen Beweisverbote einen ähnlichen Schutz für die Betroffenen / Dritten ergeben würden. Das ist aber nicht der Fall. Das Gesetz stellt nur auf die Verwertungsverbote ab und trägt damit konsequent dem Umstand Rechnung, daß die Erlangung der Informationsbestände mit rechtsstaatswidrigen Mitteln durch eine nicht-bundesdeutsche Staatsgewalt erfolgt ist. Der Übergang der Informationen auf den bundesdeutschen Rechtsstaat hat diesen Makel nicht beseitigt. Weil die rechtswidrige Erlangung von Beweismitteln ihre Verwendung grundsätzlich nicht hindert, ist die Feststellung eines strafprozessualen Verwertungsverbotes erforderlich. Mehr bringt das StUG nicht zum Ausdruck. Vergleicht man die strafprozessualen, das heißt die allgemeinen Verwertungsverbote mit § 5 I StUG, also dem besonderen Verwendungsverbot, so ergibt sich, daß § 5 I 1 StUG der Sache nach ein verfassungsrechtliches Verwertungsverbot darstellt, da die Norm vor allem die rechtswidrige Informationsgewinnung zur DDR-Zeit im Blick hat. Sie ist Ausdruck der grundrechtlichen Mindestbedingungen, die man an eine Rückanknüpfung an die DDR-Vergangenheit stellen muß. Nimmt man den spezifischen Verwendungszweck für das Strafverfahren hinzu, so ergibt sich für die Verwendung der Opferakten eine ungeheure Argumentationslast für die Betroffenen und Dritten. Bei der Beurteilung der Unterlagen für die Zwecke der Strafverfolgung sind die Maßstäbe der Rückanknüpfung erheblich höher anzusetzen als bei den üblichen Strafverfahrenshandlungen der Strafverfolgungsbehörden. Man wird sagen müssen, daß jedenfalls solche Informationen nicht zum Nachteil der Betroffe49

Der Gesetzgeber hat diese Frage überhaupt nicht gesehen. Dies ergibt sich aus der Gesamtschau der Gesetzgebungsmaterialien. Im Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093 war die Regelung so noch nicht gefaßt. Der Reg-Ε ging zunächst nur von Stasi-Straftaten bzw. schweren Straftaten nach § 129a StGB aus, vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 25, zu § 18 StUG-E. Die Änderung (im jetzigen Sinne), so BT-Drucks. 12/1540, S. 61 zu § 18 StUG-E, sei „gemäß den Vorschlägen des Bundesrates" erfolgt. Dies stimmt jedoch so nicht. Zum einen sind die (noch vertraulichen) Bundesratsmaterialien an dieser Stelle, was die Änderungsvorschläge angeht, nicht so konkret wie die gesetzliche Regelung. Zum andern ist bei den Vorschlägen des Bundesrats nirgends von den Straftaten nach § 44 StUG (damals: § 36 StUG-E) die Rede. Vielmehr ging auch der Bundesrat davon aus, daß (nur) die Verfolgung schwerer Straftaten (!) die Regelung rechtfertigen sollte. Vgl. auch BT-InnenA-UA-Prot. (6. Sitzung), S. 13f. 50 Zur Notwendigkeit eines sachlichen Grundes im Rahmen des Art. 3 I GG, der eine Differenzierung/Gleichbehandlung nicht als willkürlich erscheinen läßt, vgl. BVerfGE 1, 14 (52); E 10, 234 (246); E 25, 101 (105); E 49, 192 (209) (st. Rspr.). Zwar steht der staatlichen Gewalt und dem Gesetzgeber insbesondere im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Sachverhalten ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, vgl. BVerfGE 36, 321 (331 f.), wenn der Gesetzgeber diesen aber nicht gesehen hat, vgl. Fn. zuvor, kann er ihn auch nicht ausgeschöpft haben.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

nen verwendet werden dürfen, deren Erhebung auch vom Gesetzgeber der alten Bundesrepublik nicht gestattet werden könnte. Anderenfalls würde man das Handeln des MfS nachträglich sanktionieren und den Beweiserhebungsfehlern bundesdeutscher Staatsanwaltschaften gleichstellen. Aus der Natur der Sache folgt also, daß der bloße Rekurs auf die strafprozessualen Verwertungsverbote nicht ausreicht, um die Unterlagenverwertung richtig zu erfassen. Daran ändert auch nichts, daß die Katalogtaten, zumindest die in § 23 I Nr. 1 b StUG, recht schwere Straftaten darstellen. Denn aus dem Katalog ergibt sich nur, daß in den genannten Fällen das Interesse an der Strafverfolgung größer sein soll als das Interesse der Betroffenen und Dritten an der NichtVerwendung. Eine Rechtfertigung für die Strafverfolgungsbehörden, alle Beweiserhebungsverbote bei schweren Straftaten außer Betracht zu lassen, also: der Zweck heiligt die Mittel, folgt daraus aber nicht. Eine solche Rechtfertigung ist auch der StPO fremd. Dann rechtfertigt es der Katalog des § 23 I StUG auch nicht, das verfassungsrechtliche Verwertungsverbot des § 5 I StUG auszublenden.51 Eine weitere Ausnahme von § 5 I StUG befindet sich in § 24 I 2 StUG. Es handelt sich bei § 24 I 1 StUG um eine Spezialregelung für die Justizakten. Hier hat der Gesetzgeber versucht, den in § 23 I StUG angedachten Aspekt verfahrenstechnisch umzusetzen. Tatsächlich liest sich die Norm des § 24 StUG so, als sei die Nichtgeltung des Verwertungsverbotes zum Nachteil der Opfer dadurch hinreichend kompensiert, daß die spezielleren Verwertungsverbote, insbesondere der StPO, zur Anwendung gelangen. Anders ist der Hinweis auf die Anwendbarkeit der gesetzlichen Verfahrensordnungen nicht zu verstehen. Das ist aber, wie bereits bei § 23 StUG dargestellt, der Sache nicht angemessen. Es darf nicht vergessen werden, daß die MfS-Informationen die Bildung von kompletten Persönlichkeitsprofilen zuließen und daß das MfS auch bestrebt war, den innersten Kern der Persönlichkeit auszuforschen. Selbst wenn man die bedenkliche Tagebuchentscheidung des BVerfG 52 zu Rate zieht und keinen absoluten Persönlichkeitsschutz für schriftlich niedergelegte Aufzeichnungen aus der Gefühls- und Gedankenwelt zubilligen will, 5 3 kann man nicht daran vorbeigehen, daß im „Tagebuchfair die Aufzeichnungen durch den Betroffenen selbst und freiwillig gemacht wurden. Die MfS-Materialien sind aber von anderen Personen erstellt worden, die, da sie von den Betroffenen für vertrauenswürdig gehalten wurden, keine Schwierigkeiten hatten, die Opfer für ihre Zwecke auszufragen. Solche Erhebungen verstoßen gegen

51 In diese Richtung geht ζ. B. der Änderungsantrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks. 12/1557. 52 BVerfGE 80, 367. 53 Gössel, GA 1991, 483 (503) hat dagegen nicht zu Unrecht eingewandt, daß damit der Schutz der Intimssphäre nur noch auf die Vorgänge beschränkt bleibe, die sich allein im Inneren des Menschen abspielten und die daher faktisch immer einem Zugriff unzugänglich seien. Man kann ohnehin trefflich darüber streiten, ob die MfS-Informationen überhaupt in das Raster der Persönlichkeitssphären passen, die das BVerfG in E 34, 238 (245) aufgestellt hat; krit. hierzu: Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (67f.).

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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die Menschenwürde und sind deshalb jeder staatlichen Verfügungsbefugnis, gleich zu welchem Zweck, entzogen. An und für sich hat der Gesetzgeber mit § 5 I StUG eine richtige Idee verwirklicht. Für einen wichtigen Bereich hat er sie dann, zugunsten der Strafverfolgung, zurückgestellt, ohne aber genau zu sagen in welchem Umfang, und ohne einen anderen angemessenen Schutz für die Betroffenen und Dritten aufzurichten. 54

4. Der Unterlagenbegriff in § 6 StUG § 6 StUG definiert die wichtigsten Begriffe des Gesetzes, wie ζ. B. Betroffene, Dritte, Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes usw. 55 Über die meisten dieser Definitionen wird später noch zu reden sein. 56 Hier soll erst einmal auf den Begriff der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes eingegangen werden. Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes sind zum einen sämtliche Informationsträger, unabhängig von der Form der Speicherung, die beim MfS oder beim Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei der Volkspolizei entstanden, in deren Besitz gelangt sind oder ihnen zur Verwendung überlassen wurden. Zum anderen sind Unterlagen im Sinne des Gesetzes auch die Akten, die dem MfS von Gerichten und Staatsanwaltschaften überlassen worden sind. Zunächst fällt auf, daß der Unterlagenbegriff des StUG weiter ist als der des bereits erwähnten Volkskammergesetzes. Dieser umfaßte zwar auch prinzipiell alle Informationsträger, beschränkte sich aber auf die Entstehung, die Überlassung bzw. den Übergang von Unterlagen beim bzw. an das MfS. Die Einbeziehung des Arbeitsgebietes 1 der Volkspolizei (Kriminalpolizei) war auch im Reg-Ε StUG ursprünglich nicht vorgesehen; sie erfolgte erst im Rahmen der Beratungen des Innenausschusses des Bundestages. Der Grund für diese Einbeziehung liegt in dem 54

Stoltenberg folgert denn auch, daß das Verwendungsverbot, entgegen der Absicht des Gesetzgebers, von nur geringer praktischer Bedeutung sei, eben wegen der Ausnahme für die Strafverfolgung; § 5 Rdnr. 5ff. Ähnlich kritisch auch S/D, § 5 Rdnr. 5. Besser wäre es gewesen eine Anregung des BfD aufzugreifen und eine Abwägungsklausel in das Gesetz aufzunehmen, die bei Unzumutbarkeit der Verwendung des Materials für den Betroffenen in Strafverfahren eine Verwendungssperre vorsieht. Eine derartige Sperre in Bezug auf Akten und Schriftstücke ist dem Strafverfahrensrecht durchaus bekannt (§ 96 StPO). Daß die Sachverhaltserforschung im Strafverfahren dann zurücktreten muß, wenn ansonsten Grundrechte Betroffener in übermäßiger Weise beeinträchtigt würden, hat ebenfalls im Strafverfahrensrecht eine Parallele (§ 81 c IV StPO); vgl. Anlage 6 zum BT-InnenA-UA-Prot. (6. Sitzung), dort mit Formulierungsvorschlag des BfD. Vgl. zum ganzen auch Klinghardt, NJ 1992, 185 (187f.); Stellungnahme des Generalbundesanwalts beim BGH vom 15. 8. 1991 - 4100/14 - , S.7. 55 Die Begriffe mit denen das Gesetz nach Personen differenziert, finden sich (als Vorschlag) erstmals bei: Dörr, ZG 1991, 170 (173). Das ist auch nicht verwunderlich, denn Dörr wirkte bei der Fassung des Gesetzes mit. 56 Vgl. 5. Teil, 1. Kapitel, I, V, bzw. 5. Teil, 2. Kapitel, II.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Umstand, daß sich dieser Teil der Volkspolizei nur dem Namen nach vom MfS unterschied. Das Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei hatte dem Staatssicherheitsdienst vergleichbare Aufgaben. Es war auch vergleichbar organisiert. 57 Seine Dienststellen wurden regelmäßig von Offizieren des MfS oder von I M geleitet. 5 8 Die Einbeziehung der dort vorhandenen Unterlagen in die Regelungen des StUG war also erforderlich. 5 9 Dann erhebt sich aber die Frage, ob es nicht auch notwendig war, die staatsbezogenen Parteiakten der SED, der Blockparteien bzw. der Massenorganisationen der ehemaligen D D R in den Regelungsbereich des StUG einzubeziehen. Der A l t - E sah dies vor. 6 0 Für eine Einbeziehung auch dieser Unterlagen könnte folgende Überlegung sprechen: „ D i e SED hatte nicht nur über die Verfassung der D D R eine herausgehobene Stellung als Regierungspartei. Sie war in allen Bereichen untrennbar verwoben mit dem Staatsapparat und den Maßnahmen der verschiedenen Regierungsstellen. Ohne politische Beteiligung der Leitungsorgane der SED wären die speziellen Maßnahmen zum Beispiel des MfS undenkbar gewesen. Das MfS galt

57 Vgl. Befehl Nr. 22/64 des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über die Aufgaben und die Arbeitsorganisation der Kriminalpolizei vom 09. 11. 1964, S. 6; Richtlinie 003/83 der Abteilung I der Hauptabteilung Kriminalpolizei des Ministeriums des Innern - GVS Ο 013474 - vom 15. 12. 1983 über die Kontrolle von Personen mit speziellen Mitteln und Methoden, S. 3f.; Dienstanweisung Nr. 2/79 des Ministeriums für Staatssicherheit - W S MfS 0008-85/79 - vom 08. 12. 1979 über das politisch-operative Zusammenwirken der Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit mit der Deutschen Volkspolizei und den anderen Organen des Ministeriums des Innern und die dazu erforderlichen grundlegenden Voraussetzungen, S. lOff.; siehe auch die 1. Durchführungsbestimmung des MfS zu dieser Dienstanweisung vom 14. 05. 1987 - GVS MfS Ο 008-42/87 über das politisch-operative Zusammenwirken mit dem Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei, S. 7f, 9ff., 12ff. Vgl. ferner die Ausarbeitung des MfS / JHS Potsdam - W S JHS 001-114/77 - vom 24. 06. 1971 über „Die Notwendigkeit, das Ziel und der Gegenstand sowie sicherheitspolitische Voraussetzungen und Grundsätze des politisch-operativen Zusammenwirkens des MfS mit dem Mdl und seinen Organen, insbesondere mit der Deutschen Volkspolizei". 5

8 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 57f; vgl. auch wegen der Aktivitäten und der Verbindungen der Κ 1 zum MfS: DER SPIEGEL, Nr. 51/1991, S. 50-52. Vgl. auch: S/D, § 6 Rdnr. 4, wo auch die Aufgaben des Arbeitsgebietes 1 der Kriminalpolizei geschildert werden; G/K, § 6 Rdnr. 23. So besaß das Κ 1 ζ. Β. ein eigenes IM-Netz, und zwar im Einvernehmen mit dem MfS; vgl. „Richtlinie für die Arbeit mit den inoffiziellen Mitarbeitern der Kriminalpolizei", GVS 2035/54 vom 20. 10. 1954, Veröffentlichungen des BStU, Reihe A (Dokumente) Nr. 1, Dokument 7, S. 69ff.; Befehl des Chefs der Deutschen Volkspolizei, Nr. 49/55 vom 15. 08. 1955, „Instruktion über die Arbeit mit den geheimen Informatoren der Kriminalpolizei"; ferner: Landtag Thüringen, LT-Drucks. 1/3325, S. 7, 9f. 59 Das operative Unterlagenmaterial des Arbeitsgebiets I der Kriminalpolizei wurde entweder beim MfS archiviert oder auf der Ebene des Dezernates I der Kriminalpolizei abgelegt; vgl. Erfassungs- und Aktenrichtlinie der Hauptabteilung I des Mdl - GVS Ο 020074 - , Richtlinie Nr. 004/87 vom 25. 05. 1987, Bl. 11 ff. Vgl. auch den Befehl des Leiters der MfSHauptabteilung V I I - GVS MfS ο 008-5/87 - vom 16. 06. 1987 betreffend die Erfassung der vom Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei bearbeiteten Personen in der Abteilung X I I (= Registratur des MfS). 60 Vgl. § 2 I Nr. 3 (Alt-E StUG), BT-Drucks. 12/692, S. 3.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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als ,Schild und Schwert der Partei 4 . 61 Eingebunden in das Netzwerk der SED-Herrschaft waren auch die Blockparteien mit einem garantierten Einfluß in den Staatsorganen und die Massenorganisationen wie der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund ... SED und Blockparteien waren keine Parteien im Sinne demokratischer Gesellschaften. Ein Teil der bei ihnen lagernden und insbesondere von ihnen erstellten Unterlagen kann deshalb nicht... als Unterlagen, die diesen Parteien gehören, verstanden werden. Insoweit diese im Zusammenhang mit Staatsaufgaben erstellt wurden, handelt es sich um Staatsakten von besonderem öffentlichen Interesse." 62 Richtig an dieser Überlegung ist, daß das MfS nicht nur auf seinen eigenen Unter lagenbestand zurückgreifen konnte, um die Frage „Wer ist wer?" 63 zu klären. Im Prinzip standen ihm alle Informationsquellen des Systems bis hin zu den Kaderakten einzelner Personen der volkseigenen Betriebe offen. Von diesen Möglichkeiten hatte das MfS auch regen Gebrauch gemacht.64 Daraus ergibt sich aber schon das Hauptproblem einer Einbeziehung auch dieser Unterlagen in das StUG. Man müßte zunächst einmal alle diese Aktenbestände erfassen und danach sortieren, welche bei den jeweiligen Organisationen verbleiben können und welche an den BStU abzuliefern wären. Es ist schon schwer genug, die Unterlagen des MfS selbst zu erfassen bzw. zu sichten, da ein Teil der Zugriffsmittel in den letzten Tagen des Apparates von den Mitarbeitern vernichtet wurde. 65 Um wieviel komplizierter und langwieriger ist es erst, den sonstigen „staatstragenden" Unterlagenbestand auf seine Entstehung bzw. Nutzung durch das MfS zu prüfen. Dies gilt umsomehr, als das MfS wohlweislich nicht vermerkt hat, wann es warum auf welche Unterlagen anderer Organisationen der ehemaligen DDR zugegriffen hat. Bis zu einer Öffnung der Unterlagen und ihrer historischen Aufarbeitung würden viele Jahre vergehen, in denen Betroffene ohne Informationen möglicherweise ihre Rehabilitation nicht betreiben könnten. Schließlich würde dann auch ein riesiger Behördenapparat man denke nur an die gewaltigen Recherchen, die erforderlich wären - notwendig 61 So Mielke anläßlich der Rede zum 35. Jahrestag der Gründung des MfS, Neues Deutschland vom 07. 02. 1985. 62 BT-Drucks. 12/283, S. 2 (Antrag der Abg. Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Dort wird für diese Unterlagen noch ein eigenes Staatsaktengesetz gefordert (S. 3). Vgl. ferner die dieser Forderung zustimmende Stellungnahme des Präsidenten des Bundesarchivs vom 24. 07. 1991 - 1000 / 94 - , S. 3f., die mit Schreiben vom 16. 07. 1991 (!) dem InnenA des Bundestages zugeleitet wurde. Vgl. auch BT-Prot. (21. Sitzung), zu TOP 5, dort Abschnitt (B).

63 Vgl. Fricke, S. 103; Worst, S. 15f. 64 Vgl. Schröter, Zwiegespräch Nr. 5, 7 (11); bereits die Schülerakten nutzte das MfS zur Informationsgewinnung aus. 65 Vgl. die bereits geschilderte „Aktion Reißwolf'; MfS, S. 71f. Nach Gauck, S. 89 wurden damals (Anfang 1990) auf einen Beschluß des Runden Tisches hin (heute unbegreiflicherweise) alle elektronischen Datenträger des MfS vor laufenden Fernsehkameras (!) vernichtet. Vgl. auch BStU-Bericht, S. 5; Worst, S. 112; Mötsch, Helmrich-FS, S. 95 (99); Saathoff, S. 69. Wie sich aus CILIP 35 (Nr. 1/1990), S. 51 ergibt, datiert der entsprechende Beschluß des Runden Tisches vom 20. 02. 1990; nach Saathoff, a. a. Ο. datiert der Beschluß vom 08. 03. 1990.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

werden. Dieser Apparat müßte vermutlich die Größe des ehemaligen MfS erreichen, was kaum bezahlbar wäre, um alle seine Aufgaben in noch vertretbarer Zeit zu erfüllen. Der Gedanke, alle Unterlagen von Organisationen der ehemaligen DDR einzubeziehen, die das MfS für seine Zwecke benutzte, ist zwar sehr löblich und naheliegend, aber nicht praktikabel, weil nicht mehr überschaubar bzw. nicht bezahlbar. 66 Der Unterlagenbegriff des StUG konnte daher nur eine „kleine" Lösung anbieten, nämlich primär nur die Unterlagen zu erfassen, die unmittelbar dem MfS bzw. seiner Tätigkeit zuzurechnen waren. Allerdings gestattet § 10 StUG dem Bundesbeauftragten, nach solchen Unterlagen zu forschen, diese einzusehen und sich Duplikate aushändigen zu lassen, wenn ein Zusammenhang mit der Tätigkeit des MfS besteht. Es erstaunt aber zunächst nicht wenig, daß auch Justizakten von Staatsanwaltschaften und Gerichten, die dem MfS überlassen wurden, zu den Stasi-Unterlagen gezählt werden. Allerdings bestand in der ehemaligen DDR die Besonderheit, daß Gerichte und Staatsanwaltschaften an das MfS Akten zur Archivierung abgaben.67 Das MfS hatte zu diesem Zweck sogar ein eigenes Archiv eingerichtet. 68 Als Beispiel für das Zusammenwirken von MfS und Justiz sei die Strafjustiz, und zwar hier insbesondere die „politischen Straftaten", also Hochverrat, Republikflucht, staatsfeindliche Hetze usw., genannt.69 In diesem Bereich der Rechtspflege war das MfS selbst als staatliches Untersuchungsorgan tätig (vgl. § 88 DDR-StPO). Als solches unterlag es zumindest pro forma der Aufsicht der Staatsanwaltschaft (vgl. § 89 DDR-StPO).70 Soweit das MfS im Rahmen der „Ermittlungen" Unterlagen anlegte, waren diese formal solche der Staatsanwaltschaft. Ferner war das MfS jederzeit in der Lage, in politischen Strafsachen ein gerichtliches Urteil zu präjudizieren oder zu verhindern. 71 Dabei reichte der Einfluß des MfS auf die Ge-

66 Das dürfte auch der Grund sein, warum der Bundestag dem Vorschlag nach einem eigenen „Staatsaktengesetz" nicht nahegetreten ist. Auch scheint es Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Staatsakten und Nicht-Staatsakten gegeben zu haben; vgl. BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 19f. bzw. 25 und 35. 67 Vgl. BT-Drucks. 12/1093 (Reg-Ε StUG), S. 21; S/D, § 6 Rdnr. 8. 68 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 59; vgl. auch Anlage 1 zum BT-InnenA-UA-Prot. (8. Sitzung). 69 Dort lag der Schwerpunkt der Tätigkeit des MfS als Untersuchungsorgan; vgl. Hoffmann, S. 224. Daneben erfüllte das MfS noch Aufgaben im Bereich der Verkehrssicherung und der Brandaufklärung; vgl. Scholz, BB 1991, 2515 (2516); G/K, Einl. Rdnr. 14. 70

Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968 (GBl. I. S. 1). In Wahrheit war es natürlich genau umgekehrt. Nicht die Staatsanwaltschaft kontrollierte das MfS, im Gegenteil: das MfS kontrollierte die Staatsanwaltschaft, und zwar soweit, daß es einer Bestätigung durch das MfS bedurfte, wenn ein Jurist als Staatsanwalt in „politischen" Verfahren eingesetzt werden sollte; vgl. MfS, S. 61; ferner: Fricke, S. 135; Politik, S. 216. 71 Das hing davon ab, ob die betreffende Person für das MfS von Interesse war und sich auch einer Zusammenarbeit gegenüber aufgeschlossen zeigte, vgl. MfS, S. 62, wo dies an einem Beispiel geschildert wird; ferner: Fricke, S. 136; vgl. auch Crüger, S. 163f., der seinen

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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richte bis hin zur Vorgabe der Höhe des Strafmaßes. 72 Auch diese Handlungsweise war formal, das heißt soweit dokumentiert, dem erkennenden Gericht zugeordnet; obwohl es höchstens dem Namen nach Gerichtsakten waren. Trotzdem hatte die deutsche Justiz von Anfang an die Herauslösung dieser Aktenbestände aus den Stasi-Unterlagen und die Abgabe an die Justizbehörden verlangt. 73 Es versteht sich aber von selbst, daß das MfS nach Abschluß der jeweiligen Verfahren diese „Justizakten" bei sich aufbewahren wollte, schon um die Spuren seines Tätigwerdens zu verschleiern und Dritten keine Rückschlüsse auf seine Ermittlungsmethoden zu ermöglichen. Ferner ist davon auszugehen, daß diese Akten nicht nur archiviert, sondern im Bedarfsfall auch im Rahmen konkreter Maßnahmen herangezogen wurden. Eine Behandlung dieser Akten als normale Justizakten wäre daher nicht sachgerecht.74 Also mußten diese Akten Bestandteil des besonderen Unterlagenbegriffes des StUG werden. Allerdings werden diese Justizakten nur beim Bundes beauftragten verwahrt. Ihre Behandlung (das heißt Auskunft, Einsicht, Herausgabe) erfolgt, so will es das StUG in den §§18 und 24, nach den allgemeinen gesetzlichen Verfahrensvorschriften. Welche Probleme sich für die Betroffenen aus der Sonderbehandlung der Justizakten ergeben wird im 5. Teil unter IV. 3. untersucht. Die weitreichenden Befugnisse des BStU werfen aber die Frage nach der Wahrung der Kompetenzen der Justizorgane im Verhältnis zur Verwaltung auf, wenn es um den Zugriff auf Stasiakten geht, die nicht Justizakten sind. Hier gelten die §§ 18 und 24 StUG nicht; vielmehr gilt zunächst der Grundsatz des § 19 III 1 StUG. Dieser ist nicht konsequent durchgehalten. Jenen Justizstellen und nicht den Verwaltungsbehörden ist die strafprozessuale Ermittlung und Beurteilung der materiellen Wahrheit überantwortet. Damit verträgt sich eine verwaltungsrechtliche Befugnis zur Überprüfung von Auskunftsersuchen dieser Organe nur dann, wenn -

eigenen Fall schildert; ferner: Schell/Kaiinka, S. 125ff.; ein Beispiel findet sich auch bei: Worst, S. 12; allg. zur präjudizierenden Wirkung der Tätigkeit der Untersuchungsorgane der ehem. DDR: Luther, NStZ 1990, 361 (364). Vgl. auch BGH, NJW 1994, 529 (531). 72 Vgl. Gauck, S. 24; MfS, S. 63f; Politik, S. 237f. Differenzen zwischen MfS, Gerichten und Staatsanwaltschaften über die Behandlung von Fällen gab es dabei grundsätzlich nicht. Eher war ein Kooperationsverhältnis die Regel, indem allerdings das MfS dominierte; vgl. Politik, S. 239. Offensichtlich gefiel sich das MfS in seiner Rolle als „Organ der Rechtspflege"; vgl. die Ausführungen Erich Mielkes zum Rechtspflegeerlaß, auszugsweise zit. in: Politik, S. 467f. (dort als Dok. 187). Vgl. auch Fricke, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. Β 4/ 93, 13 (20f.); Hoffmann, S. 219. 73 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 59. 74 Diese Folgerung zieht auch der Reg-Ε StUG, BT-Drucks. 12/1093, S. 21. In den Arbeitsmaterialien des BMI zum StUG vom 11. 03. 1993 - Ο I 5-191 081 / 0 - , S. 5f., findet sich im Kern folgende Begründung: „Die Zentralisierung der Gerichtsakten beim Sonderbeauftragten hat für seine Aufgabenerfüllung, ggfs. auch für Gerichte und andere Behörden den Vorteil des leichteren Zugangs. ... Im Falle einer dezentralen Unterbringung der Akten bei den zuständigen Justizbehörden ist außer dem Arbeitsaufwand der Aufteilung des Materials auf die jeweils zuständige Behörde noch zu beachten, daß dann dem Sonderbeauftragten der Zugang zu diesen Akten erheblich erschwert wird." Vgl. auch a. a. O., S. 44f.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

wie für jede andere Verwaltungsbehörde - das Gebot gilt, daß zwingende verfahrensrechtliche Bestimmungen zu beachten sind. Hat aber ζ. B. ein Gericht darüber zu befinden, welche Beweismittel beigezogen werden und trägt es die Verantwortung für die Entscheidung, auf welche Beweismittel der Schuldspruch gestützt wird, so hat die Verwaltungsbehörde diesen überragenden Interessen Rechnung zu tragen und nicht umgekehrt das Gericht verwaltungsmäßige Erwägungen als Richtschnur seines Handelns zugrundezulegen. Das gilt für Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, soweit sie als Hilfsorgane der Staatsanwaltschaften handeln, entsprechend. Folgerichtig darf gem. § 19 III 2 StUG der BStU die Zulässigkeit eines Ersuchens solcher Organe nur dann prüfen, wenn dazu Anlaß besteht.75 Trotz der Einbeziehung der Justizakten in den Unterlagenbegriff des StUG, und trotz der Einstufung der Justizorgane als öffentliche Stellen i. S. d. Gesetzes ist der Zugriff der Justizorgane weitgehend von den Beschränkungen des StUG befreit. Entweder gelten, anstelle des StUG, die gesetzlichen Verfahrensordnungen oder die Möglichkeiten des BStU Justizersuchen zu überprüfen oder gar abzulehnen sind stark eingeschränkt. 76 Keine Unterlagen im Sinne des StUG sind erstens Schreiben des MfS an andere öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen, wenn diese ihm gegenüber nicht weisungsbefugt waren. Der Grund hierfür liegt darin, daß solche Schreiben des MfS ihren Empfängern regulär zugegangen sind und damit als deren Eigentum zu betrachten sind. Die Vollständigkeit der MfS-Unterlagen wird hierdurch nicht gefährdet, da sich im Rahmen der üblichen Verwaltungspraxis die Entwürfe dieser Schreiben bei den dem MfS verbliebenen Unterlagen befinden werden. 77 Stoltenberg hat hiergegen eingewandt, daß sich, soweit keine Kopien im Unterlagenbestand des Bundesbeauftragten vorhanden wären, erhebliche Informationslücken auftäten. Auch könnten von diesen Schreiben fortdauernde Gefahren für das Persönlichkeitsrecht der Opfer ausgehen.78 Allerdings dürfte es recht selten sein, daß Durchschriften fehlen werden. Daß ganze Akten vernichtet worden sind, ist bekannt. Es muß aber bezweifelt werden, ob die Zeit im Herbst 1989 ausreichte, die Unterlagen zu durchforsten, um einzelne kompromittierende Schreiben zu entfernen. Sollten sich wirklich beim Bundesbeauftragten Informationslücken auftun, können diese im Zusammenwirken mit dem Bundesarchiv geschlossen werden. Insbesondere ist an eine Zusammenarbeit mit der Stiftung betreffend die „sonstigen Staatsakten" der ehemaligen DDR zu denken. Was jetzt noch an Schriftverkehr übrigbleibt, ist mengenmäßig geringfü-

75 Die gesetzliche Regelung ist vom Generalbundesanwalt beim BGH kritisiert worden; vgl. dessen Stellungnahme an den InnenA des Deutchen Bundestages vom 15. 08. 1991, S. 6 bzw. 13. 76 Vgl. G/K, § 19 Rdnr. 16ff. 77

Vgl. den Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, S. 21, der die gleiche Schlußfolgerung zieht.

™ Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (68) und ders. § 6 Rdnr. 10.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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gig und nicht unbedingt persönlichkeitsgefährdend. Das MfS hat zwar wie ein Schwamm Informationen aufgesaugt; aber benutzt hat es sie im wesentlichen auf seiner oder auf höherer Ebene. Diese Fälle erfaßt das Gesetz jedoch. Zweitens sind Stasi-Unterlagen nicht solche, die das MfS, ohne Anhaltspunkte dafür, daß es Maßnahmen getroffen oder veranlaßt hatte, zuständigkeitshalber an andere Stellen weiter- oder zurückgegeben hatte; vielmehr handelt es sich bei diesen um Unterlagen, für die andere Stellen zuständig waren. Das MfS hatte diese Unterlagen aber erst einmal angelegt oder an sich gebracht, um festzustellen, ob es zur Verfolgung eigener Ziele tätig werden sollte oder konnte. Es ist ein Gebot der Praktikabilität, solche Unterlagen, sofern das MfS nicht tätig wurde, als Akten der eigentlich zuständigen Stelle zu betrachten. 79 Diese Ausnahmeregelung bildet das Pendant zu den in den Unterlagenbegriff einbezogenen Justizakten. Ebenso wie es sinnvoll ist, die Unterlagen einzubeziehen, die nur formal einer anderen Stelle zuzurechnen waren, ist es richtig, die Unterlagen auszunehmen, die nur formal dem MfS zuzuordnen sind. Keine Stasi-Unterlagen sind - drittens - NS-Akten, abgeschlossen vor dem 08. 05. 1945, wenn das MfS sie nur archiviert hatte. Dahinter steht die Überlegung, daß die Aufarbeitung der NS-Zeit und die Tätigkeit des MfS zwei verschiedene Sachverhalte darstellen. Es besteht kein Grund, solche NS-Akten den besonderen Regelungen des StUG zu unterwerfen, nur weil das MfS sie archiviert hatte. Andernfalls würde man zwei unterschiedliche Systeme miteinander vermengen. Die Nutzung solcher Akten muß also nach den üblichen archivrechtlichen Regelungen beurteilt werden. Diese Folgerung gilt aber dann nicht, wenn das MfS diese Akten für eigene Zwecke nutzbar gemacht hat, das heißt, wenn diese alten Akten als Grundlage für Aktivitäten des MfS dienten.80 Schließlich sind - viertens - Gegenstände bzw. Unterlagen, die Opfern des MfS widerrechtlich weggenommen oder vorenthalten worden waren, keine Unterlagen im Sinne des StUG (vgl. § 6 II StUG). Der Grund für diese Ausnahme liegt darin, daß das MfS in vielen Fällen Bürgern ihr persönliches Eigentum willkürlich weggenommen oder vorenthalten hat. „So wurden bei Durchsuchungen persönliche Gegenstände wie Familienfotos oder Orden und Ehrenzeichen mitgenommen. Ausreisewilligen wurde ein Großteil ihrer Habe abgenommen. Strafurteile wurden den Betroffenen nicht ausgehändigt, sondern vom Staatssicherheitsdienst in die eigenen Unterlagen genommen. Einreisenden in die Deutsche Demokratische Republik wurden persönliche Unterlagen wie Manuskripte für Bücher oder Dissertationen abgenommen. Die Personaldokumente von Übersiedlern in die Deutsche Demo-

79 Vgl. den Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, S. 21. Dort heißt es dazu weiter: „In Betracht kommen dürften hier in erster Linie Ermittlungsunterlagen der Polizei in Fällen normaler Kriminalität, die der Staatssicherheitsdienst an die zuständige Polizeibehörde weitergeleitet oder zurückgegeben hat." so Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 58. 8 Engel

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

kratische Republik wurden vom Staatssicherheitsdienst ohne Rechtsgrundlage beschlagnahmt. Diese Gegenstände und Unterlagen sind als legitimes Eigentum der Betroffenen anzusehen und dürfen daher nicht wie Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes behandelt werden. Sie sind vielmehr an die Betroffenen herauszugeben." 81 Besser als es der Reg-Ε in der Begründung formuliert, kann man die Notwendigkeit dieser Regelung nicht darstellen. Staff hat am Unterlagenbegriff des StUG kritisiert, er sei zu eng geraten. Hinsichtlich der bei öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen der Bundesrepublik, z. B. der Nachrichtendienste oder des BKA, vorhandenen Materialien, die nicht von § 6 I StUG erfaßt seien, sei weder ein Zugriff des Bundesbeauftragten möglich, noch bestehe irgendeine Befugnis oder Verpflichtung. Das gelte auch für Fälle, in denen der Inhalt dieses Materials Rückschlüsse auf die Arbeits- und Funktionsweise des MfS zuließe. Es könne angesichts der langen Jahre der Koexistenz der beiden deutschen Staaten kein Zweifel daran bestehen, daß nicht nur Unterlagen der DDR, sondern auch Unterlagen öffentlicher Stellen der Bundesrepublik, ζ. B. der Nachrichtendienste oder des BKA, vorhanden seien, die zwar keine Stasi-Unterlagen im Sinne von § 6 I StUG wären, aber doch dazu beitragen könnten, die Einflußnahme des Staatssicherheitsdienstes auf das Schicksal einzelner Personen aufzuklären oder die Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS zu fördern. 82 Insoweit bleibe der Unterlagenbegriff hinter den gesetzlichen Zwecken (§ 1 I StUG) zurück. Diese Kritik ist nicht durchgreifend. Die angesprochenen Materialien stehen in der Verfügungsgewalt der bundesdeutschen Stellen, die mit ihnen arbeiten. Aufgaben und Befugnisse dieser Stellen sind spezialgesetzlich geregelt; man denke ζ. B. an das BVerfschG, das MAD-G, das BKA-G etc. Es bestand daher keine Veranlassung, die Verwendung dieses Materials neu zu regeln. Prinzipiell ging es nur darum, den beim MfS vorgefundenen Unterlagenbestand gesetzlich zu betreuen. Nichts anderes ergibt sich aus § 1 I StUG. Die Norm beschreibt lediglich die programmatischen Ziele und Zwecke des Gesetzes. Sie entfaltet grundsätzlich keine konstitutiven Wirkungen, begründet also weder Rechte noch Pflichten. 83 Ein Verstoß gegen einen Programmsatz ist aber unerheblich. Anders ausgedrückt: Die Entscheidung, das Archiv eines Nachrichtendienstes zugänglich zu machen, rechtfertigt nicht die Folgerung, alle Archive öffentlicher Stellen für einen bestimmten Zweck zu eröffnen.

si BT-Drucks. 12/1093, S. 21; vgl. auch die Arbeitsmaterialien des BMI für das StUG vom 11. 03. 1991 - 0 1 5 - 1 9 1 81 / 0 - , S. 30. 82 Staff, ZRP 1992, 462 (464). Sie geht dabei soweit (464f.), einen Verstoß des § 6 I StUG gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung anzunehmen. 83 Vgl. Stoltenberg, § 1 Rdnr. 1.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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I m ganzen ist der Unterlagenbegriff des StUG recht ausgewogen und differenziert. Er ist dem früheren Volkskammergesetz überlegen, da er nicht nur starr auf das MfS beschränkt ist; er ist ferner nicht so weit gefaßt wie der Begriff i m Alt-E, so daß er unpraktikabel w i r d . 8 4 Eine Sortierung der Unterlagen nach rechtmäßig oder rechtswidrig gewonnenen Informationen sieht das Gesetz sinnvollerweise nicht vor. Trotzdem wies es an dieser Stelle zunächst eine bedenkliche Ungenauigkeit auf. Nach § 6 Nr. 1 b StUG sind nur solche Unterlagen erfaßt, die beim MfS entstanden sind, in dessen Besitz gelangten oder ihm zur Verwendung überlassen wurden. Sonstige Duplikate waren nicht erfaßt. Gemeint waren Kopien, Abschriften oder sonstige Duplikate, die von Dritten angefertigt wurden, ohne daß sie der Verwendung durch das MfS zugeführt oder anders in deren Besitz gelangt wären. 8 5 Diese „vagabundierenden Unterlagen" waren infolge eines Redaktionsversehens des Gesetzgebers von dem Schutz des Persönlichkeitsrechts, den das StUG gewähren will, ausgeschlossen worden. Dabei sind diese Unterlagen ebenso gefährlich wie „echte" Stasi-Unterlagen. 86 Diese Gesetzeslücke wurde jedoch mit dem 2. StUÄndG geschlossen. 87

84

Dies gilt umso mehr, als der Unterlagenbegriff im Alt-E (BT-Drucks. 12/692) überhaupt keine Differenzierung zwischen Unterlagen und Nicht-Unterlagen kennt; vgl. § 2 I - III AltE StUG. 85 Vgl. Kloepfer, S. 38f. (mit Pressebezug); Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (68). 86 Vgl. auch Stoltenberg, § 6 Rdnr. 4 StUG; Simitis, in: Hassemer/Starzacher-Simitis, S. 30 (42f.). Das LG Halle hat daher dieses Material „in ergänzender Auslegung" des Gesetzes „als Unterlagen i. S. des § 6 I Nr. 1 b StUG" angesehen; vgl. LG Halle, LKV 1994, 71 (72). Vgl. auch 5. Teil, 3. Kapitel, II., 1. lit. d). Dieser Fehler des Gesetzgebers ist umso unverständlicher, als der Abg. Blens in der internen Studie „Überlegungen zur zukünftigen Verwendung der Akten des Staatssicherheitsdienstes" vom 29. 10. 1990 (!) bereits auf das „Problem der vagabundierenden Akten" hinwies. Auf S. 8 der Studie heißt es: „Offenbar sind Teile der Aktenbestände an andere Geheimdienste, insbesondere den KGB, weitergegeben worden. Andere Akten sind von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern auf (die) Seite geschafft worden. Es muß damit gerechnet werden, daß Erpressung versucht wird und daß Akten an Medien weitergegeben werden, um Personen des öffentlichen Lebens zu desavouieren. Meines Erachtens muß sich der Gesetzgeber dieses Problems annehmen und wegen der Außergewöhnlichkeit der Situation für diesen Bereich besondere gesetzliche Schutzmaßnahmen ergreifen." Blens schlug (a. a. O.) vor: „In Frage kommt ein besonderer Strafrechtschutz ... Ferner könnten die Medien zu sorgfältigerem Umgang mit Stasi-Akten veranlaßt werden, wenn ... besondere Schadensersatzansprüche und Widerrufsrechte mit Beweiserleichterungen für den Betroffenen geschaffen würden." Vgl. ders., BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 72. Diese Überlegungen von Blens sind im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr aufgegriffen worden. 87 BGBl. I (1994), S. 1748; vgl. auch die Darstellung bei Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (389). *

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

II. Der zweite Abschnitt Im zweiten Abschnitt des Gesetzes ( § § 7 - 1 1 StUG) ist das Problem der Erfassung der Unterlagen des MfS angesprochen.

1. Die Erfassung der Unterlagen Jede natürliche Person und jede Stelle, sei sie öffentliche oder nicht-öffentliche, ist verpflichtet, dem Bundesbeauftragten unverzüglich das Vorhandensein von MfS-Unterlagen in ihrem Besitz anzuzeigen, soweit ihr dies bekannt ist bzw. sobald ihr dies bekannt wird (vgl. § 7 I, III StUG). Die Anzeigepflichten in § 7 I, III StUG beziehen sich nicht nur auf Originalunterlagen des MfS. Der Besitz von Kopien, Abschriften oder sonstiger Duplikate muß ebenfalls angezeigt werden. 88 Da nicht sicher ist, wie groß der Umfang der MfS-Unterlagen ist, andererseits aber davon ausgegangen werden muß, daß die Unterlagen im Gewahrsam des Bundesbeauftragten unvollständig sind, mußten alle Aufbewahrungsmöglichkeiten für eine vollständige Erfassung in Betracht gezogen werden. Daher erklärt sich auch die weite Fassung des Gesetzes. Das hauptsächliche Anwendungsgebiet dieser Norm wird aber das Gebiet der ehemaligen DDR sein. Einerseits werden natürliche Personen und andere Stellen in der alten Bundesrepublik, abgesehen von den Nachrichtendiensten, keine Gelegenheit gehabt haben, solche Unterlagen in ihren Besitz zu bringen. Andererseits werden Unterlagen des MfS, soweit sie es wert waren, aus den Archiven zu verschwinden, eher vernichtet worden sein, als daß sie zwecks weiterer „Aufbewahrung" in die alte Bundesrepublik verbracht wurden. Es fällt auch auf, daß das Gesetz keinen Zeitrahmen für die Erfassung vorgibt, sondern sich mit einer unverzüglichen Anzeige begnügt. Eigentlich sollte man erwarten, daß insbesondere die öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen sich unverzüglich auf die Suche begeben, ob sich Unterlagen der fraglichen Art in ihrem Besitz befinden; denn das Postulat: „Ohne vollständige Erfassung der noch existierenden Unterlagen gibt es auch keine vollständige Aufarbeitung der MfSVergangenheit" liegt auf der Hand. Trotzdem glaubt das Gesetz, aus praktischen Gründen auf eine derartige Suchpflicht verzichten zu können.89 Zum einen spricht 88

Das war nicht immer so. Ursprünglich brauchte nur der Besitz von Original-Unterlagen dem BStU angezeigt zu werden. Das war jedoch ein Redaktionsversehen, da sich ein ausdrückliches Herausgabe verlangen des BStU nach den §§ 8, 9 StUG auch auf Duplikate erstrecken kann. Es war jedoch fraglich, wie der BStU die Herausgabe von Unterlagen fordern sollte, wenn er nichts von deren Existenz wüßte. Die jetzige Fassung entstammt dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, BGBl. I (1994), S. 1748. Vgl. auch den Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/7878, S. 5; Geiger, BT-InnenA-Prot. (101. Sitzung), S. 29; Bericht des BT-InnenA, BT-Drucks. 12/8132, S. 4f.; vgl. auch Geiger, NJW 1994, 2676 (2677); Stoltenberg, a. a. O. (389). 8 9 Vgl. Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, S. 22; BT-InnenA-Prot. (16. Sitzung), S. 89. S/D, § 7 Rdnr. 1.

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hierfür der Umstand, daß die Suche nach den MfS-Unterlagen bereits seit Ende 1989 - wenn auch unter wechselnden Rechtsgrundlagen - läuft. Also müßten öffentliche und nicht-öffentliche Stellen schon fündig geworden sein. Zum anderen spricht dafür, daß die Gauck-Behörde seit Ende 1990 nach fehlenden Unterlagen forscht und entsprechende Anfragen an mögliche Besitzer von Unterlagen gerichtet hat. § 7 II StUG gibt dem Bundesbeauftragten - ergänzend zur Anzeigepflicht - ein Einsichtsrecht in alle Register, Archive und sonstigen Informationssammlungen öffentlicher Stellen, wenn Anhaltspunkte für das Vorhandensein von MfS-Unterlagen dort vorliegen und die betroffene öffentliche Stelle hierzu ihr Einvernehmen erteilt. Die Betonung liegt hier auf dem Vorhandensein von konkreten Anhaltspunkten. Es ist nicht zulässig, daß der BStU im Rahmen einer Art Schleppnetzfahndung generell öffentliche Stellen aufsucht, um zu erkunden, ob sich dort StasiUnterlagen befinden. Kommt das Einvernehmen nicht zustande, entfällt das Einsichtsrecht. 2. Die Herausgabe von Unterlagen a) Der Grundsatz umfassender Herausgabepflicht Die §§8 und 9 regeln die Herausgabe von MfS-Unterlagen seitens öffentlicher und nicht-öffentlicher Stellen bzw. natürlicher Personen. Grundsätzlich gilt eine umfassende Herausgabepflicht aller Unterlagen, und zwar sowohl der Originale wie auch eventueller Kopien, Abschriften und sonstiger Duplikate (§ 8 I, 9 I StUG), es sei denn, daß die Unterlagen für die Aufgabenerfüllung der öffentlichen Stelle noch erforderlich sind (§ 8 II StUG) oder der nicht-öffentlichen Stelle bzw. juristischen Person gehören, das heißt in ihrem Eigentum stehen (§ 9 I a. E. StUG). 90 In diesen Fällen hat der Bundesbeauftragte das Recht, sich jeweils Duplikate dieser Unterlagen herausgeben zu lassen. Dies ist auch einleuchtend. Einerseits kann die Aufgabenerfüllung einer anderen öffentlichen Stelle nicht durch die Weggabe der Originalunterlagen gefährdet werden. Dabei soll unterstellt werden, daß der Verwendungszweck durch das StUG gestattet ist. Andererseits kann der Bundesbeauftragte nicht für den gesetzlichen Zweck die rechtmäßigen Eigentümer der Unterlagen durch Wegnahme des Materials enteignen. Die gesetzliche Regelung versteht sich also von selbst.91 90 Darin liegt nach Kloepfer, S. 40f. eine Umkehrung der Eigentumsvermutung aus § 1006 I 1 BGB, welcher es - wegen § 10061 2 BGB - nicht bedurft hätte. Das trifft zu. Stasi-Unterlagen, die heute nicht beim BStU sind, sind abhanden gekommen, denn man konnte zu keiner Zeit rechtmäßigen Besitz an Original-Unterlagen des MfS erwerben. 91 Α. A. ist: Weichert, ZRP 1992, 241 (242), der den Unterlagenbegriff für nicht klar und die gesetzliche Herausgabepflicht für spitzfindig hält. Weicherts Kritik muß aber im ganzen allerdings mit großer Vorsicht genossen werden. Wie Weberling, ZRP 1993 71 f. zu Recht

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Umstritten ist jedoch die Frage, ob nicht doch quasi eine Enteignungsmöglichkeit des BStU besteht, wenn die Originalunterlage beim BStU nicht vorhanden ist, ihm aber bekannt ist, wer Eigentümer einer Unterlagenkopie ist. Nach Ansicht des BMI soll der Nachweis des Betroffenen für sein Eigentum an der Unterlagenkopie zusätzlich den Nachweis der Berechtigung des Originalunterlagenbesitzers beinhalten.92 Gelinge dieser Nachweis nicht, so sei - trotz vorhandenen Eigentums des Duplikatbesitzers - eine Herausgabe verlangen des BStU zulässig. Nur so könne wirklich sichergestellt werden, daß das Archiv des BStU vervollständigt und „private Giftküchen" stillgelegt würden. Nach der Gegenansicht kommt auch in diesem Fall kein Herausgabeverlangen des BStU in Betracht. 93 Die Möglichkeit eines Herausgabeverlangens seitens des BStU stelle eine Enteignung dar, da der Betroffene sich jeglicher Rechtsmacht über das Material begeben müßte. Eine Enteignung sei jedoch nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig (Art. 14 III 1 GG) und dürfe nur gegen eine Entschädigung durchgeführt werden (Art. 14 III 2 GG). Eine Entschädigungsregelung, wie Art. 14 III 2 GG sie fordere, kenne das StUG jedoch nicht. Darüber hinaus sei eine Enteignung auch unverhältnismäßig, da der BStU der Einfachheit halber eine geschützte Rechtsposition entziehen könne, ohne zuvor den Versuch gemacht zu haben, sich in den Besitz des Materials zu bringen, dessen rechtswidrige Existenz er vermute, aber dessen Aufenthalt er nicht kenne. Für die letztgenannte Ansicht spricht, daß es sich tatsächlich um eine Enteignung handelt, wenn das Duplikatmaterial vom dinglich Berechtigten an den BStU herausgegeben werden müßte. Die Konzeption des StUG weist dem BStU nämlich eine Monopolstellung im Hinblick auf das Material zu, mit der eine parallele Rechtsmacht Dritter über das Material nicht zu vereinbaren wäre. Allerdings kann das formale Hindernis der fehlenden Entschädigungsregelung durch gesetzgeberisches Tätigwerden behoben werden. So könnte die Entschädigung ζ. B. so aussehen, daß der Materialwert und die Kosten der Duplikatherstellung ersetzt würden. Für den Inhalt des Materials gibt es ohnehin keine Entschädigung. Zum einen gibt es Eigentum bzw. Inhaberschaft begrifflich nur an Sachen und Rechten aber nicht an Informationen. Zum andern will der BStU den Informationsgehalt des Materials gar nicht enteignen; das Wissen aus dem Material verbleibt ja beim Inhaber. Der BStU will lediglich den Informationsträger in seine Verfügungsgewalt überführen. feststellt, handelt es sich um einen „(offensichtlichen)" Schnellschuß „aus dem Bauch heraus" und nicht um eine fundierte Analyse. Krit. auch: Kloepfer, S. 55, der die Herausgabepflicht des § 9 II StUG für verfassungswidrig hält, soweit Originale und Kopien von StasiUnterlagen herauszugeben sind. Nach Kloepfer reichte die Herausgabe der Originale aus. Dieser Ansatz überzeugt jedoch nicht. Wenn Originale vorhanden sind, werden i. d. R. keine Duplikate da sein, die herausgabepflichtig sind. Wieso sollte ζ. B. ein Presseorgan Stasi-Unterlagen-Duplikate erwerben, wenn es parallel über die entsprechenden Original-Unterlagen verfügte? Außerdem rechtfertigt sich die Herausgabepflicht aus dem Umstand, daß die Originale und die Stasi-Kopien in gleicher Weise persönlichkeitsgefährdend sind. 92 93

So Schmidt (Referat 0 1 5 d. BMI) im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser. So der Verfasser im persönlichen Gespräch mit Schmidt, vgl. Fn. zuvor.

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Angesichts der Schwäche der formalen Barriere fragt es sich, ob inhaltliche Kriterien für die eine oder andere Ansicht fruchtbar gemacht werden können. Zweifelhaft ist, ob ein derartiges Herausgabeverlangen des BStU dem „Wohl der Allgemeinheit" entspricht. Primär dient es nämlich dem Wohl des BStU (Arbeitserleichterung). Sekundär dient die Herausgabemöglichkeit dem Schutz des Persönlichkeitsrechts der von der konkreten Akte betroffenen Personen. Damit wird Individualschutz bezweckt. Allerdings ist es Sache des Gesetzgebers, die Gemeinwohlaufgaben zu bestimmen.94 Daher ist es prinzipiell nicht ausgeschlossen, die aufgezeigten Ziele „gemeinwohlfähig" zu machen. Die Frage kann jedoch offen bleiben, wenn sich aus anderen Überlegungen ergibt, daß ein derartiges Gesetzesverständnis zu unverhältnismäßigen Resultaten führen würde. Das Wohl der Allgemeinheit ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze für die dem Eigentümer des Materials aufzuerlegenden Beschränkungen. Um vor Art. 14 GG Bestand zu haben müssen sie vom geregelten Sachbereich her geboten und auch in ihrer Ausgestaltung sachgerecht sein. Dem entspricht die Bindung des Gesetzgebers an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 95 Es mangelt bereits an der Geeignetheit. Zweck der Enteignung wäre ζ. B. die Vollständigkeit des BStU-Archivs herzustellen, indem verstreutes Material zum BStU käme. Materialien, die dem BStU aber nicht gehören, können aber nicht verstreut bzw. „vagabundierend" sein. Die Rechtsmacht „Eigentum" und die tatsächliche Gewalt „Besitz" fallen, in einer von der Rechtsordnung nicht beanstandeten Weise zusammen. Verstreut kann nur solches Material sein, welches bei einer dritten Person ist, aber de jure beim BStU sein müßte. Gemeint sind die Fälle des besitzenden Nicht-Eigentümers bzw. des fehlgeschlagenen Eigentumsnachweises durch den Inhaber des Materials. Es handelt sich ja nicht um Stasi-Unterlagen i. S. d. § 6 I StUG. Die fraglichen Duplikate sind nicht beim MfS entstanden. Die §§8, 9 StUG erweitern den Kreis der herauszugebenden Unterlagen auf Nicht-Stasi-Material. Das kann aber nicht mehr gelten, wenn dem Betroffenen der Eigentumsnachweis gelingt. Auch der erwähnte Individualschutz gibt keinen tauglichen Zweck für eine Enteignung her. Es handelt sich nicht um „eine private Giftküche", die stillgelegt werden muß. Soweit die Verwendung dieses Materials persönlichkeitsrechtlich relevant ist, ist die Benutzung nicht schrankenlos, sondern unterliegt den allgemeinen Gesetzen. Gemeint sind ζ. B. das StGB, das BDSG, die Pressegesetze usw. Das Material unterliegt lediglich den Restriktionen des StUG nicht. Dieser Gedanke kommt bereits in § 3 II StUG im Ansatz zum Ausdruck. Wenn Stasi-Unterlagen, die vom BStU überlassen worden sind, bereits im Rahmen der allgemeinen Gesetze verwendet werden können, so gilt dies erst recht für Nicht-Stasi-Material. 94 Vgl. BVerfGE 56, 261 f.; S/H-Antoni, Art. 14 Rdnr. 12. 95 Vgl. BVerfGE 52, 1 (29f.).

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse dürfen nicht weiter gehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient. 96 Dies würde aber geschehen, wenn man die Herausgabe anordnen könnte. Dann würde Material, daß nicht dem StUG unterworfen ist, quasi durch die Hintertür, doch als Stasi-Akten behandelt. Der Schutzzweck der §§ 8, 9 StUG findet jedoch seine sachliche Begrenzung auf Unterlagenmaterial, welches dem Besitzer nicht gehört. Es fehlt auch an der Erforderlichkeit. Um die Vollständigkeit des Archivs zu sichern würde es ausreichen, den Unterlageninhaber zu verpflichten, dem BStU das Material für die Anfertigung einer Kopie zur Verfügung zu stellen. Der betroffene Eigentümer könnte dann sein Duplikat behalten. Diesem Vorschlag vermag man nicht mit dem Hinweis zu begegnen, Stasi-Informationen müßten in jedem Fall aus dem Verkehr gezogen werden, da es sich bei dem Duplikatmaterial um Privaturkunden handelt. Wenn der Informationsträger nicht dem MfS zurechenbar ist, handelt es sich bei dem Inhalt des Materials sachlich um Privatinformationen. Anders als die Originalakte genießen private Duplikate nämlich nicht den Anschein behördlicher Herkunft. Auch für den Individualschutz ist es nicht erforderlich, den Eigentümer zu enteignen. Als milderes Mittel käme ζ. B. eine Pflicht zur Anonymisierung in Betracht, wenn man nicht ohnehin den Schutz durch die allgemeinen Gesetze in diesen Fällen für ausreichend erachtet. Entscheidend ist aber, daß eine Enteignung unangemessen wäre. Die Ausdehnung des Eigentumsnachweises um den Nachweis der Berechtigung des Veräußeres legt dem Betroffenen etwas tatsächlich Unmögliches auf und beseitigt das Rechtsinstitut des gutgläubigen Eigentumserwerbs in diesem Bereich. Da niemand sagen kann durch wieviele Hände das fragliche Material gegangen ist, läßt sich die Herkunft für den Eigentümer nicht mehr klären. Wenn aber schon der BStU, mit seinem riesigen Behördenapparat, es nicht schafft, herauszufinden, wer (wie) in den Besitz der Originalakte gelangt ist, oder ob diese überhaupt noch existiert, so fragt es sich, wie denn der Eigentümer im Einzelfall diesen erweiterten Nachweis überhaupt führen soll. Vielmehr muß folgendes gelten: Der Inhaber des Duplikats hat den Eigentumsnachweis zu führen; dazu genügt der Nachweis gutgläubigen Erwerbs vom Veräußerer. Es obliegt dagegen dem BStU nachzuweisen, daß zur Zeit der Veräußerung ein gutgläubiger Erwerb nicht in Betracht kam (Fälle des § 935 BGB). Folglich verdient die Ansicht den Vorzug, die eine Enteignungsmöglichkeit in diesem besonderen Fall ablehnt. Die Ratio der §§ 8 und 9 StUG ist folgende: Es gilt, verstreute Unterlagen, die aufgefunden worden sind, in den Gewahrsam des Bundesbeauftragten zu bringen, da diese originär dem MfS zugehörig waren und die Vollständigkeit des Aktenbe-

96 Vgl. BVerfGE 21, 150 (155); 25, 112 (117f.); 37, 132 (141); 52, 1 (30); st. Rspr.

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standes des BStU gewährleistet sein muß. Enteignenden Charakter tragen die Normen nicht. Es genügt, wenn der Inhaber des Materials nur seinen berechtigten Erwerb vom Veräußerer nachweist. Dazu soll § 9 StUG auch die Persönlichkeitsrechte Betroffener schützen. Kloepfer 97 hat hiergegen eingewandt, diesen Schutzzweck könne das Gesetz nicht erfüllen, da die Unterlage jedenfalls ihrem Besitzer bereits zur Kenntnis gelangt sei. Das ist im Ansatz richtig. Kloepfer übersieht aber, daß es dann darum geht, Schadensbegrenzung zu betreiben. Wird Unterlagenmaterial ζ. B. von einem Presseorgan vor der Veröffentlichung herausverlangt, kann sich keine weitere Persönlichkeitsgefährdung realisieren. b) Die Unterlagen von anderen ehemaligen DDR-Organisationen Vervollständigt wird die gesetzliche Regelung noch durch ein Recht des Bundesbeauftragten auf Herausgabe von Duplikaten der Unterlagen der SED, der Blockparteien und der anderen Massenorganisationen der ehemaligen DDR (§ 10 III, IV StUG). Die Notwendigkeit, den Zugriff des Bundesbeauftragten auch auf diese Unterlagen sicherzustellen, ergibt sich aus dem Umstand, daß dort wichtige Hinweise auf die Tätigkeit des MfS enthalten sein können. Da das MfS alle Lebensbereiche durchdrungen hatte, konnten praktisch überall auf Grund seines Einwirkens Unterlagen entstanden sein, die nicht nur zur Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS dienen können, sondern auch geeignet sind, die Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht bzw. die Rehabilitierung Betroffener zu fördern. 98 Läßt der Bundesbeauftragte sich solche Duplikate herausgeben, werden diese automatisch Stasi-Unterlagen im Sinne des Gesetzes (§ 10 III 2 StUG). Damit ist zugleich ein Kompromiß gefunden zwischen der Forderung, die Unterlagen der SED bzw. der SED-nahen Organisationen von vornherein in den Stasi-Akten-Begriff einzubeziehen, was praktisch nicht möglich war, 99 und einem nur MfS-bezogenen Unterlagenbegriff. Gerade weil das MfS jede Regung des gesellschaftlichen Lebens dokumentierte, ist die Chance groß, daß sich entsprechende Gegenstücke/Ergänzungsstücke dieser Unterlagen in den Archiven anderer Organisationen finden. 100 Faktisch hängt 97 Vgl. Kloepfer, S. 55. 98 Vgl. Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, S. 22f. 99 Vgl. oben 3. Teil, 1. Kapitel, I., 4. 100 Vgl. S/D, § 10 Rdnr. 2; Simitis, NJW 1994, 99 (100); G/K, § 10 Rdnr. 2f. Nachdem Anfang 1992 das BArchG geändert worden ist, gibt es auch eine Regelung über die Benutzung und Aufbewahrung der Unterlagen der SED, der Blockparteien und der Massenorganisationen der ehemaligen DDR. Im Bundesarchiv ist die unselbständige Stiftung des öffentlichen Rechts „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR" mit Sitz in Berlin errichtet worden, die sich dieser Unterlagen anzunehmen hat (Archivierung, Verwendung, etc.). Zur Genese und Ausgestaltung dieser Stiftung: vgl. Raum, DtZ 1992, 105ff. Zur Situation dieser Archive für die Zeit zwischen dem Beitritt und der Stiftung: vgl. Weber, DA 1991, 452ff.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

der Zugriff des Bundesbeauftragten dann allein von seiner Entscheidung ab, ob er - nach Einsicht in die fraglichen Archive - behauptet, daß es sich um Unterlagen handelt, die im Zusammenhang mit dem MfS stehen und für die Aufgabenerfüllung des Bundesbeauftragten benötigt werden. Denn für Außenstehende dürfte die Stichhaltigkeit dieser Behauptung nicht zu kontrollieren sein, da sie kein Einsichtsrecht in die Unterlagen des Bundesbeauftragten bekommen.

c) Der absolute Zugriff des Bundesbeauftragten Mit den Vorschriften der § § 7 - 1 0 des Gesetzes ist dem Bundesbeauftragten der absolute Zugriff auf jedwedes Material, zumindest in Duplikatform, eröffnet, welches auch nur entfernt mit dem MfS in Verbindung gebracht werden kann. Das ist auch gut so angesichts der Dimensionen dieser Unterlagen. Allerdings gilt das nur für die Unterlagen, die Stasi-Unterlagen im Sinne des § 6 I Nr. 1 StUG sind. Dies sind bedauerlicherweise aber nicht alle Unterlagen, die bei Stellen außerhalb des Bundesbeauftragten befindlich sind. Für derartige Unterlagen hat sich der Terminus der „vagabundierenden Duplikate" eingebürgert. Es handelt sich dabei um Kopien oder Abschriften, die außerhalb des Bereichs der Staatssicherheit zum Beispiel durch Dritte gefertigt worden sind. Sie unterlägen an sich dem StUG nicht. Ihr Besitz bräuchte dem Bundesbeauftragten nicht angezeigt zu werden, und sie unterlägen auch keiner Herausgabepflicht. Der Grund liegt darin, daß der Bundesbeauftragte prinzipiell nur originales Stasi-Material erfassen und verwalten darf (vgl. § 37 StUG i. v. m. § 6 I StUG), also solches, das beim MfS entstanden ist oder ihm zur Verwendung überlassen wurde. Das ist bei diesen Duplikaten aber nicht der Fall. 1 0 1 Allerdings hat das 2. StUÄndG für das „vagabundierende" Material auch die Anzeige- und Herausgabepflicht eingefühlt. Auf die Probleme im Umgang mit diesem Material wird zurückzukommen sein, wenn es darum geht, aus solchen Duplikaten Informationen zu veröffentlichen. 102

3. Die Herausgabe von Unterlagen durch den BStU Abgeschlossen wird der 2. Abschnitt des Gesetzes durch § 11 StUG. Dieser befaßt sich mit den Unterlagen, die der Bundesbeauftragte aus seinem Unterlagenbestand heraus- oder zurückzugeben hat. Dabei verwendet das Gesetz den Begriff Rückgabe im Zusammenhang mit Unterlagen anderer Behörden. Zurückgegeben werden also Nicht-Stasi-Unterlagen. Herausgegeben werden Stasi-Unterlagen, und zwar an dritte Stellen, die das Material zu ihrer Verfügung haben sollen. ιοί Α. A. ist (wohl) Simitis, NJW 1994, 99 (100), der (ohne nähere Begründung) eine Herausgabpflicht öffentlicher und nicht-öffentlicher Stellen unmittelbar aus den §§ 37, 38 StUG herleitet. 102 Vgl. 5. Teil, 3. Kapitel, II., 1., lit. d).

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a) Die Pflicht zur Rückgabe von Unterlagen Die Rückgabeverpflichtung in § 11 I StUG geht davon aus, daß das MfS auch Unterlagen anderer Behörden besaß, um sie für seine Zwecke zu verwerten. Insoweit korrespondiert die Norm also mit § 6 I Nr. 1 a. E. StUG, wonach derartiges Material prinzipiell auch zu den Stasi-Unterlagen zählt. Fand eine derartige Verwertung jedoch nicht statt, das heißt lassen sich heute keine Anhaltspunkte dafür erkennen, daß das MfS aufgrund dieser Unterlagen Maßnahmen getroffen oder veranlaßt hat, handelt es sich begrifflich um Nicht-Stasi-Unterlagen (vgl. § 6 II Nr. 2 StUG). Der Unterschied zwischen § 6 II Nr. 2 StUG und § 11 I StUG besteht nur darin, daß bei § 6 II StUG die fraglichen Unterlagen, soweit sie gefunden worden sind, bereits wieder zurückgegeben wurden. § 11 I StUG ordnet deren Rückgabe erst an. Zurückzugeben hat der BStU Unterlagen entweder, wenn die zuständige öffentliche Stelle deren Rückgabe fordert oder wenn der BStU gelegentlich der Erfüllung seiner Aufgaben das Vorhandensein solcher Unterlagen feststellt. Der erstere ist der praktisch relevantere Fall. Er betrifft Unterlagen anderer Behörden, die der BStU noch nicht aufgefunden hat. Auf die Anforderung der zuständigen Stelle hin beginnt er eine gezielte Suche und prüft nach dem Auffinden der Unterlagen, ob Anhaltspunkte für Maßnahmen des MfS in den Unterlagen vorhanden sind. Ist dies der Fall, findet keine Rückgabe statt, denn es handelt sich um Stasi-Unterlagen. Anderenfalls werden die Unterlagen zurückgegeben. Der zweite Rückgabetatbestand betrifft die Zufallsfunde. Darunter versteht man, daß der BStU im Rahmen der Erledigung seiner Aufgaben Unterlagen anderer Behörden findet, ohne nach diesen gezielt gesucht zu haben. Auch dann schließt sich eine Prüfung an, ob Anhaltspunkte für Maßnahmen des MfS ersichtlich sind. Die Folge ist dann identisch mit der bereits geschilderten. Nach der Konstruktion des Gesetzes muß der BStU nicht von sich aus nach den Unterlagen anderer Behörden suchen 103 oder deren Vorhandensein der zuständigen Stelle anzeigen, um ihre Entschließung abzuwarten. Wenn die Voraussetzungen des § 11 I StUG aber vorliegen, dann hat der BStU kein Ermessen mehr, ob er zurückgibt oder nicht. Er muß zurückgeben. Jedoch: Der Regelfall ist der der Nichtrückgabe von Unterlagen. Dies beruht darauf, daß der unbestimmte Rechtsbegriff „Anhaltspunkte für Maßnahmen des Staatssicherheitsdienstes" weit auszulegen ist. Maßnahmen in diesem Sinne sind alle Handlungen, die einer Verwertung des Materials für Zwecke des MfS notwendig vorausgehen, alle Handlungen, die das Material unmittelbar verwerten, und alle Handlungen, die der Nachbereitung verwerteten Materials dienen. Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder noch so schlichte Hinweis auf Maßnahmen der vorher genannten Art. Diese Sichtweise findet ihre Stütze im Gesetzeswortlaut, in dem darauf abgestellt wird, ob „der Staatssicherheitsdienst Maßnahmen getroffen oder veranlaßt" hatte. Die bloße Zustän-

!03 So: BT-Drucks. 12/1540, S. 58 zu § 9. „Eine solche Verpflichtung würde ihm die Erfüllung seiner eigentlichen Aufgaben praktisch unmöglich machen."

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

digkeit einer anderen Behörde verpflichtet den BStU somit noch nicht zur Rückgabe von Unterlagen. Erst die Feststellung, es handele sich um Nicht-Stasi-Material, die der BStU anhand des Korrektivs „Anhaltspunkte für Maßnahmen des Staatssicherheitsdienstes" selbst trifft, verpflichtet ihn zur Rückgabe. Liegt schließlich eine Rückgabeverpflichtung vor, darf der BStU im Interesse der Vollständigkeit seines Materialbestandes Duplikate zu seinen Unterlagen nehmen (§11 I 2 StUG).

b) Die Herausgabe von Unterlagen In allen anderen Fällen gibt der BStU bestimmte Stasi-Unterlagen an den jetzt Verfügungsberechtigten heraus (§ 11 III, IV StUG). 104 Es handelt sich dabei um Unterlagen ohne personenbezogene Informationen, die der neue Berechtigte für seine weiteren Dispositionen benötigt. Dabei trägt § 11 III StUG dem Umstand Rechnung, daß das MfS an verschiedenen Wirtschaftsunternehmen beteiligt war. Als Beispiel wäre zu nennen die Wismuth AG, die zur Hälfte im Eigentum des Staatssicherheitsdienstes stand, oder das „KoKo-Imperium", also die Beteiligung des MfS an Unternehmen in der alten Bundesrepublik und anderswo. Diese ihrer Natur nach für einen Wirtschaftsbetrieb typisch innerbetrieblichen Unterlagen sind deshalb als Stasi-Unterlagen erfaßt, weil das MfS ihr Urheber war. Sie entsprangen aber nicht der eigentlichen Tätigkeit des MfS und sind daher für die Aufgaben des BStU durchaus entbehrlich. Für die neuen Eigentümer dieser Unternehmen - es dürfte sich überwiegend um Privatpersonen handeln - sind diese Unterlagen für die Fortsetzung der Tätigkeit von erheb licher Bedeutung. So ergibt sich ζ. B. aus diesen Unterlagen das Vorhandensein eventueller Altlasten. 105 § 11 IV StUG beschäftigt sich mit Unterlagen, die Einrichtungen des MfS direkt betreffen. Auch hier zur Verdeutlichung ein Beispiel: In dem riesigen Gebäudekomplex des MfS in der Normannenstrasse in Berlin-Lichtenberg befindet sich heute vorwiegend die Reichsbahndirektion Berlin, die das Gelände von der Treuhandgesellschaft erworben hat. Als neue Verfügungsberechtigte könnte die Reichsbahn nun nach § 11 IV StUG vom BStU zum Beispiel die Grundrißpläne oder die Pläne über Telefon- und Versorgungsleitungen verlangen, um den Renovierungsaufwand oder die Ausbaumöglichkeiten zu beurteilen. Das ist nur eine mögliche Fallgestaltung. § 11 IV StUG dient auch dem Zweck, überhaupt Einrichtungen des MfS aufzuspüren. 106 Deutlich wird dies, wenn man § 11 III mit § 11 IV StUG vergleicht. In § 11 III StUG gibt der BStU nur auf Anforderung des Berechtigten entsprechende Unterlagen heraus. Da der BStU auch hier nicht von sich aus gezielt

104 Wegen nachrichtendienstlicher Unterlagen (§ 11 I I StUG) siehe: 5. Teil, 4. Kapitel, IV. 2. 105 Vgl. auch BT-Drucks. 12/1093, S. 23 zu § 9 III. 106 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 58.

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suchen muß und keine Anzeigepflicht des BStU bei Zufallsfunden besteht, setzt § 11 III StUG also voraus, daß der jetzige Berechtigte aus anderen Quellen über die Stasi-Vergangenheit des Unternehmens erfahren hat. Mit diesem Wissen tritt er dann an den BStU heran. Bei § 11 IV StUG sucht der BStU von sich aus nach derartigen Unterlagen. Das ergibt sich aus dem Fehlen eines Anforderungserfordernisses und dem Fehlen einer Zufallsfundregelung wie in § 11 I StUG. Hinzu kommt der Umstand, daß es gerade zu den Aufgaben des BStU gehört, die Struktur des MfS und damit auch seine Einrichtungen offenzulegen. Findet er derartige Unterlagen, gibt er sie an den regelmäßig unwissenden Verfügungsberechtigten heraus. Dies wird zum Beispiel dann relevant, wenn ein ahnungsloser Wohnungseigentümer erfährt, daß sein neuerworbenes Domizil Ort konspirativer Treffen des MfS war. Zwar wurden in der Regel MfS-eigene Wohnungen für solche Treffs verwandt. Aber meistens tauchte das MfS als Rechtsträger nicht auf, sondern vielmehr eine andere, unverfängliche Person oder Organisation. Auch in diesen Fällen hat der BStU die Möglichkeit, für sich Duplikate anzufertigen. Die Absätze 5 und 6 des § 11 StUG betreffen Sonderfälle der begrenzten Übermittlung personenbezogener Unterlagen von MfS-Mitarbeitern. Es geht darum, die für die Beschäftigung des Ex-MfS-Mitarbeiters erforderlichen Personalakten zusammenzustellen bzw. die für die Versorgung des rentenempfangenden Mitarbeiters erforderlichen Unterlagen dem Versorgungsträger zu übermitteln. Der Hintergrund dieser Regelung ist, daß das MfS zu den Personalunterlagen seiner Mitarbeiter auch solche genommen hatte, die nach unserem Rechtsverständnis nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Personalakten stehen. In den Personalunterlagen finden sich beispielsweise Einschätzungen über die politische Zuverlässig keit des Mitarbeiters. c) Folgerungen Aus § 11 StUG ergibt sich der Grundsatz, daß Originalunterlagen nur dann aus dem Bestand des BStU weggegeben werden, wenn entweder feststeht, daß es sich um Nicht-Stasi-Material handelt oder daß Stasi-Material im Original für die Aufgabenerfüllung entbehrlich ist. Originalunterlagen mit personenbezogenem Inhalt werden grundsätzlich nicht herausgegeben. Wenn Originalunterlagen weggegeben werden müssen, so sichert eine konsequente Duplikatmöglichkeit die Vollständigkeit des Bestandes des BStU.

I I I . Der vierte Abschnitt Der vierte Abschnitt des StUG besteht aus den §§ 35 - 41 des Gesetzes. Er beschäftigt sich mit dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und seinem Umfeld. Im Mittelpunkt steht die Verwaltungsorganisation des BStU.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG 1. Wesen und Rechtsstellung des BStU a) Eine normale Verwaltungsbehörde?

Es wird noch zu erläutern sein, welch heftige Kontroverse um die Verwaltungszuständigkeit für die Stasi-Akten geführt w u r d e . 1 0 7 Durchgesetzt hat sich jedenfalls das Modell, das den Bundesbeauftragten als eine Bundesoberbehörde mit einer Zentralstelle in Berlin sowie Außenstellen in allen neuen Bundesländern eingerichtet h a t . 1 0 8 Diesem Modell hat sich auch der Bundesrat letztlich angeschlossen. 1 0 9 Es ist das Ergebnis einer Überlegung, die trotz aller Kontroversen niemand ernsthaft in Frage stellen konnte. Es galt, eine staatliche Unterlagenverwaltung einzurichten, denn der Staat war und ist der einzige, der einen verantwortungsvollen Umgang mit den Unterlagen sicherstellen kann. Aber er ist auch einer der Interessenten an einer Verwendung der Unterlagen für seine Zwecke. Die Auflösung dieses inneren Widerspruches setzt für die Errichtung einer Institution, die mit den Unterlagen umgehen soll, besondere Maßstäbe. Dies beginnt bereits bei der Einstellung der Institution zu dem Material. Zunächst waren die Stasi-Akten solche eines Nachrichtendienstes, also eines bestimmten Verwaltungszweiges, die für die Erfüllung einer ganz bestimmten Ver-

107 Vgl. 4. Teil, 2. Kapitel, II., 1. So hat ζ. B. die Gemeinsame Kommission der neuen Länder für das Stasi-Unterlagen-Gesetz durch ihren Vorsitzenden Weichert (in Berlin) am 10. 06. 1991 eine Stellungnahme gegenüber dem Bundestag abgegeben, wonach die Errichtung einer Sonderbehörde des Bundes zur Verwaltung der Unterlagen abgelehnt werde. Später hatte Weichert noch die Gelegenheit die Vorstellungen der Kommission im Innenausschuß des Bundestages vorzutragen. Er fand jedoch kein Gehör. Nach übereinstimmender Aussage von Schmidt, Claus und Bernrath, jeweils im Gespräch mit dem Verfasser, trug Weichert den Kommissionsstandpunkt so vehement vor, daß er „einem Rausschmiß" aus dem Ausschuß nahe war. Dies kann jedoch nicht der Grund für den Fehlschlag seiner Mission sein. Vielmehr ergibt sich bei einem zeitlichen Abgleich zwischen den Protokollen der Gemeinsamen Kommission und des InnenA, daß erstere mit ihren Vorstellungen schlicht zu spät kam, um noch Veränderungen herbeizuführen. Es war bereits alles „festgeklopft". 108 Allerdings ist dieser Punkt bereits bei den innerparlamentarischen Beratungen kontrovers diskutiert worden, vgl. ζ. B. BT-InnenA-UA-Prot. (6. Sitzung), S. 8f. 109 Der vom Land Sachsen in die Diskussion eingebrachte Vorschlag einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts mit einem paritätisch besetzten Verwaltungsrat (Bund und neue Länder) - BR-Drucks. 365/2/91 ; vgl. auch die Stellungnahme des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz vom 05. 08. 1991 -1007-III/2-a dr. kli.rö, S. 5ff. (8) - hat im Bundesrat keine Mehrheit gefunden; vgl. BR-Prot. Nr. 633, S. 313 (314) und im Bundestag auch nicht, vgl. Büttner, BT-Prot. (57. Sitzung) S. 4678 (4679); Schwanitz, ebenda, S. 4680 (4682); Schmieder, ebenda, S. 4683 (4686). Das Modell erschien zu unpraktisch und drohte politischen Einflüssen zuviel Raum zu geben. Vgl. auch „FAZ" vom 01. 11. 1991, S. 6. Für die Anstaltslösung war jedoch die Gemeinsame Kommission der neuen Länder für das StasiUnterlagen-Gesetz; vgl. die Stellungnahme des Sekretetariats (in Dresden) vom 10. 06. 1991 an die Präsidenten der ostdeutschen Länderparlamente. Auch der Verband der Historiker Deutschlands hielt den sächsischen Vorschlag für sachgerecht; vgl. Stellungnahme dieses Verbandes vom 08. 08. 1991 an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages, S. 4.

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waltungsaufgabe benötigt wurden: Nach dem Beitritt sind die Unterlagen immer noch Verwaltungsakten im technischen Sinne und immer noch Unterlagen eines Nachrichtendienstes, aber sie sind ihrer ursprünglichen Aufgabe entkleidet worden. Das StUG weist dem Material auch direkt keine neue Funktion zu, sondern stellt zunächst klar, daß die Unterlagen für die Zwecke des Gesetzes zu sichern sind (vgl. § 2 StUG). Dann obliegt die Verwendung im Einzelfall grundsätzlich der Entscheidung des Bundesbeauftragten nach Maßgabe des Gesetzes. Daraus läßt sich nicht, wie üblich, folgern, daß es sich bei dem Material um ausgediente Akten handelt. Man müßte sie dann ins Archiv bringen. Anderenfalls müßte man das Material für die praktische Verwaltungsarbeit benutzen und so einer neuen Funktion zuführen. Beides kommt nicht in Betracht. Einerseits ist das öffentliche Interesse an dem Material zu groß, um es ins Archiv zu verbringen, andererseits kann dem rechtswidrig erlangten Material aufgrund seines brisanten Inhaltes kein neuer Zweck so einfach zugewiesen werden. Mithin handelt es sich nicht um einfache Verwaltungsakten oder gar Archivakten. Dann kann auch die Stelle, die das Material erfassen, verwahren, verwalten und verwenden soll, keine normale Verwaltungsbehörde oder gar ein Ersatzarchiv sein. Zum andern mußte bei der Bestellung des Bundesbeauftragten das staatliche Verwendungsinteresse beschränkt werden. Die Informationen, die in den Unterlagen vorhanden sind, büßen - auch in der Hand des Staates - nichts von ihrem rechtswidrigen Charakter ein. Daher mußte konsequenterweise der Schutz vor unberechtigter Verwendung auch gegen den eigenen Zugriff bewerkstelligt werden. Das ging aber nur, wenn die verwaltende Institution hinreichend unabhängig war, nämlich unabhängig von der hierarchischen Verwaltungslinie des Staates und damit unabhängig von fachlichen Weisungen. Die vom StUG eingerichtete Institution des Bundesbeauftragten ist funktional abgekoppelt von diesem Teil des Staatshandelns, ohne aber den Bereich der Exekutive zu verlassen. Also kann der Bundesbeauftragte auch insoweit keine normale Verwaltungsbehörde sein. 110

b) Die Stellung des BStU nach dem StUG Der BStU wird vom Bundestag gewählt; trotzdem ist er kein Parlamentsorgan. 111 Soweit er die Unterlagen „verwaltet", also den Zugang zu ihnen eröffnet oder versagt, nimmt er nämlich typische Verwaltungstätigkeiten wahr; er prüft und entscheidet im Einzelfall (vgl. auch § 19 III 1 StUG). Darüber hinaus arbeitet er aber auch dem Parlament, wie sich aus § 37 III StUG ergibt, durch Gutachten und Berichte zu. Der Bundesbeauftragte ist daher ein Exekutivorgan mit besonderem parlamentarischen Zugriff. Diese Ausgestaltung ist bereits im Gesetzgebungsverfahren kritisiert worden. Badura hat die Ansicht vertreten, eine derartige Konstruk-

uo Ebenso im Ergebnis: Simitis, NJW 1994, 99. m Vgl. dazu 4. Teil, 2. Kapitel, II., 2., lit. b).

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

tion sei „irregulär". 112 Insbesondere die Wahl des Behördenleiters durch das Parlament und das Fehlen einer Ressortanbindung seien bei einer Bundesbehörde höchst ungewöhnlich und im Hinblick auf die parlamentarische Verantwortlichkeit der Exekutive und den Grundsatz der Gewaltenteilung bedenklich. 113 Richtig daran ist, daß tatsächlich ein gewisser ministerialfreier Raum entsteht, der bei Exekutivorganen so bislang nicht bekannt war. Allein die zu lösende Aufgabe ist auch ohne historisches Beispiel, und eine wirklich unabhängige Behörde konnte nicht ohne völligen Verzicht auf eine Fachaufsicht verwirklicht werden. Das Fehlen der Ressortanbindung ist der Preis für die Unabhängigkeit der Behörde. Was bei dieser Konstruktion an exekutiver Aufsicht fehlt, wird durch den direkten parlamentarischen Zugriff auf die Behörde in zulässiger Weise wieder ausgeglichen.114 Darin liegt auch keine Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, weil weder nach der Intensität, der Intention, noch der Quantität des parlamentarischen Zugriffs eine merkbare Verschiebung von originärer Verwaltungstätigkeit auf die Legislative stattfindet.

c) Vergleich mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz (BfD) Vergleicht man die §§ 35 und 36 StUG mit den §§ 22 und 23 BDSG, so scheint der Gesetzgeber sich keine große Mühe gemacht zu haben. Vieles ist aus dem BDSG schlicht übernommen. So entspricht zum Beispiel § 36 StUG wörtlich dem § 23 BDSG mit Ausnahme des nicht in das StUG übernommenen § 23 IV BDSG. Gleiches gilt im Verhältnis von § 22 III BDSG zu § 35 IV StUG (Amtsperiode, Wiederwahl). § 35 V StUG ist inhaltlich zusammengesetzt aus § 22 IV und V 2 BDSG (Status, Aufsicht). § 35 II StUG entspricht inhaltlich dem § 22 I BDSG (Wahl). § 35 III StUG entspricht wörtlich § 22 II BDSG (Amtseid). Die einzigen Regelungen, die keine Korrespondenznorm haben, sind im StUG: § 35 I und im BDSG: §§ 22 V (ohne S. 2) und V I bzw. 23 IV. Dafür gibt es sachliche Gründe. Anders als der BfD ist der BStU nicht beim Bundesminister des Inneren eingerichtet (vgl. § 22 V 1 BDSG), sondern ist eine eigene Bundesoberbehörde (§ 35 I StUG). Soweit es also um die besondere Unabhängigkeit der „Gauck-Behörde" geht, kommt die inhaltliche Übernahme der BDSG-Vorschriften nicht in Betracht. Aus diesem Grund bedarf es auch keiner besonderen Vertretungsregelung im StUG, wie sie § 22 V I BDSG enthält. Entsprechendes gilt für das besondere Zeugnisverweigerungsrecht in § 23 IV BDSG. Damit soll verhindert werden, daß der BMI den BfD anweisen kann, in bestimmten Fällen sich zu anvertrauten Tatsachen zu äußern. Da der BStU von solchen Weisungen unabhängig ist, ist eine Übernahme des § 23 IV BDSG in das StUG entbehrlich gewesen. Es bleibt festzustel112 Badura, Schriftliche Stellungnahme v. 10.08.91 zur InnenA-Sitzung v. 27.08.91, S. 489 (513). 113 Vgl. Badura, a. a. O. 114 Vgl. Trute, JZ 1992, 1043 (1046f.) m. w. N.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

129

len, daß der Gesetzgeber sich bei der Einrichtung des Bundesbeauftragten an dem bewährten Vorbild des BfD stark orientiert hat und nur dort, wo Abweichungen in der Natur der Sache erforderlich waren oder entbehrlich schienen, auf wörtliche oder inhaltliche Übernahmen des BDSG ins StUG verzichtet hat. Daraus ist denn auch zu folgern, daß, soweit die Regelungen in BDSG und StUG identisch oder dem Sinne nach gleich sind, die Auslegung der StUG-Bestimmungen denen der Korrespondenznormen im BDSG entspricht.

d) Der BStU als Archivar; Einflüsse des Bundesarchivgesetzes (BArchG) Wenn es auch auf den ersten Blick nicht auffällt, so sind doch StUG und BArchG „nahe Verwandte". Freilich, synoptisch läßt sich das nicht immer an einzelnen Normen festmachen. Vielmehr ergeben sich die Gemeinsamkeiten bei einer Gesamtschau der im BArchG niedergelegten Prinzipien. Nach dem sog. Volkszählungsurteil des BVerfG aus dem Jahre 1983 war eine bereichsspezifische Archivgesetzgebung notwendig geworden. Trotzdem dauerte es bis 1988, ehe der Bundesgesetzgeber das BArchG vorlegte. Neuartig daran war seinerzeit, daß es erst mais einen allgemeinen Anspruch auf Einsicht in unveröffentlichte Archivalien amtlichen Ursprungs und in solche unveröffentlichten Behördenunterlagen gewährte, die vergleichsweise lange in der Verwaltung verblieben. Diese prinzipielle Grundentscheidung, Staatsakten der öffentlichen Verwendung zugänglich zu machen, hat das StUG nach vollzogen (1. Übereinstimmung). StUG und BArchG beschäftigen sich aber nur mit Unterlagen, denen bleibender Wert für die Erforschung der deutschen Geschichte, die Sicherung berechtigter Belange der Bürger oder die Bereitstellung von Informationen für Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung zukommt (2. Übereinstimmung). Allerdings kommt eine Unterlagenverwendung nach dem BArchG nicht in Betracht, soweit schutzwürdige Belange dritter Personen dadurch beeinträchtigt sind. Diesen Grundsatz verfolgt auch das StUG (3. Übereinstimmung). Die Ausgestaltung ist dann im BArchG und im StUG anders. Während das BArchG den schutzwürdigen Belangen anderer vor allem durch lange Schutzfristen von 30 bis zu 110 Jahren Rechnung trägt, ist das StUG auf eine möglichst zeitnahe Aufarbeitung gerichtet. Ferner: Aus dem BArchG und aus dem StUG spricht der Grundsatz, die Einheitlichkeit der Archivverwaltung durch die Übertragung der archivfachlichen Aufgaben auf eine besondere Fachbehörde festzuschreiben (4. Übereinstimmung), wobei insbesondere der Schutz des Materials vor unkontrollierter Vernichtung, Zersplitterung, körperlichem Zerfall und unbefugtem Zugriff gemeint sind. Und: Die Gewährleistung der Benutzung durch Dritte steht sowohl im BArchG als auch im StUG gleichberechtigt neben der wissenschaftlichen Tätigkeit des Bundesarchivs oder des BStU. Eine Privilegierung dieser Stellen gegenüber anderen Einrichtungen der Forschung oder einzelnen Forschern findet nicht statt (5. Übereinstimmung). 115 9 Engel

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

2. Aufgaben und Befugnisse des BStU a) § 37 StUG - eine Befugnisnorm ? Wenn man die amtliche Überschrift der Norm betrachtet, könnte man auf den Gedanken kommen, der Gesetzgeber habe in Abs. 1 Zuständigkeitsregelungen und Handlungsermächtigungen miteinander in einer Norm vermischen wollen. Ein Gedanke, der gesetzestechnisch recht ungewöhnlich wäre, da üblicherweise Zuständigkeitsregelungen und Ermächtigungsgrundlagen getrennt gehalten werden. Es lohnt sich daher, die in den Nummern 1 bis 8 niedergelegten Tätigkeiten einmal auf ihre Qualität hin zu überprüfen. Die Nrn. 1 bis 3 enthalten die Erfassung, Verwahrung und Verwaltung der Unterlagen. Dabei sind die in § 37 I Nr. 2 StUG genannten Tätigkeiten der Bewertung, Ordnung und Erschließung nur Unterfälle einer nach archivalischen Grundsätzen erfolgenden Verwaltung der Unterlagen. Die Nrn. 4 bis 8 befassen sich mit einzelnen Unterfällen der Verwendung der Unterlagen. Diese Tätigkeiten - gemeint sind das Erfassen, Verwahren, Verwalten und Verwenden - sind bereits nach § 2 StUG dem Bundesbeauftragten als Aufgaben grundsätzlich zugewiesen. Da es kaum verständlich wäre, wenn eine doppelte Zuständigkeitszuweisung ausgesprochen würde, könnten die in § 37 I StUG niedergelegten Tätigkeiten nur als Befugnisse des Bundesbeauftragten angesehen werden. § 37 I StUG wäre eine Ermächtigungsnorm. Gegen eine derartig pauschale Sichtweise bestehen jedoch Bedenken, und zwar insoweit, als die in dem Katalog niedergelegten Tätigkeiten den Bundesbeauftragten nicht berechtigen, sondern Ausdruck einer Verpflichtung des Bundesbeauftragten sind, wenn diese sich bereits aus anderen Normen des StUG ergibt. So ist der Bundesbeauftragte verpflichtet, Auskünfte und Mitteilungen etc. zu machen (§§ 13, 15, 16f., 27, 28 StUG) und die Forschung in bestimmter Weise zu unterstützen (§ 32f. StUG). In diesen Fällen (§ 37 I Nrn. 4 und 6 StUG) bedarf es daher keiner besonderen Ermächtigungsgrundlage mehr; vielmehr müssen die dort getroffenen Regelungen reine Aufgabenzuweisungen sein. Zum Vergleich: die in den Nrn. 5 (Befugnis zum Betreiben 115 Α. A. (nur) Weberling, DÖV 1992, 161 (163); ders. DVB1. 1991, 681 (684), der (in seiner recht einseitigen Kritik am StUG) von einem „Forschungsmonopol" des Bundesbeauftragten spricht und sich wünscht, man hätte sich am BArchG orientiert. In diese Richtung zielt auch die Stellungnahme des Verbandes der Historiker Deutschlands vom 08. 08. 1991. Auf S. 2 heißt es dort: „Es ist noch nie zweckmäßig gewesen, Forschung und exekutive Aufgaben unter dem gleichen Dach anzusiedeln." Unter umgekehrten Vorzeichen sind die Beschäftigten der Abt. Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten auch nicht zufrieden. Diese stellen sich die Frage, ob sie wirklich ihre Forschungserkenntnisse interessierten außenstehenden Forschern eröffnen müßten, wo doch die „Gefahr" bestünde, daß diese dritten Forscher die Erkenntnisse der behördlichen Forscher benützten und veröffentlichten und sich so „mit fremden Federn" schmückten. Das StUG ist in dieser Hinsicht jedoch eindeutig und läßt eine Privilegierung der behördlichen Forschung nicht zu. Vgl. Gauck, BT-InnenA-UAProt. (9. Sitzung), S. 11; ders. BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 23; G/K, § 37 Rdnrn 9 bis 11. Wegen der Aktivtäten der Abt. Bildung und Forschung vgl. Richter, FAZ v. 09. 08. 1994, S.4.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

131

eigener Forschung), 7 (Beratung, Information) und 8 (Dokumentationszentren einrichten und unterhalten) genannten Tätigkeiten sind sonst nirgends im StUG mehr angesprochen. Da der Bundesbeauftragte diese Tätigkeiten via § 2 StUG zuständigkeitshalber wahrnimmt, muß insoweit die Rechtsgrundlage in § 37 I StUG zu finden sein. Aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt sich bei einer Zusammenschau mit anderen Normen eine gewisse Zweigleisigkeit. Der Befugnischarakter überwiegt jedoch. Als Zwischenresultat ist daher festzuhalten, daß § 37 I StUG überwiegend Ermächtigungscharakter trägt.

b) § 37 StUG - eine Zuständigkeitsnorm? Will man den Charakter der Norm genau ermitteln, muß man mit den hergebrachten Auslegungsmethoden versuchen, sich ihr zu nähern. Bei einer grammatischen Auslegung der Vorschrift ergibt sich die gerade angesprochene Zweigleisigkeit. Im Falle einer systematischen Betrachtungsweise erkennt man, daß § 37 StUG in den Abschnitt des Gesetzes eingebettet ist, der sich abschließend mit dem BStU beschäftigt. Dabei deckt die Regelung einen Teilbereich ab, der keine direkte sachliche Verbindung zu den übrigen Normen des Abschnitts hat. Die §§35 bis 40 StUG sind allein durch den Oberbegriff „Bundesbeauftragter für ... „ miteinander verbunden. Daraus lassen sich keine Erkenntnisse für die Auslegung der Norm gewinnen. Betrachtet man das gesamte StUG, so ergeben sich die bereits unter a) aufgezeigten Möglichkeiten von Befugnis- bzw. Zuständigkeitsfällen. Auch die Genese gibt letztlich für das Verständnis der Norm nichts her. „Die Vorschrift legt die Aufgaben des Bundesbeauftragten fest." 116 Mit diesen Worten stellt die Gesetzesbegründung den Normcharakter als Zuständigkeitsnorm dar. Von irgendwelchen Befugnissen des BStU ist überhaupt nicht die Rede. 117 Vielmehr kommt zum Ausdruck, daß in dem Katalog lediglich Zuständigkeiten zugewiesen werden sollten. Eine Absicht, die umsomehr überraschen muß, als das Gesetz wörtlich auch auf die Befugnisse abhebt. Ob der Gesetzgeber plante, für den § 2 I StUG ergänzende oder erläuternde Zuständigkeitsregelungen zu treffen, 118 oder ob er die Doppelwertigkeit der Norm überhaupt gesehen hat, läßt sich nicht zweifelsfrei beurteilen. Im ersteren Falle dürften nur die Nrn. 4 und 6 des § 37 I StUG Norminhalt geworden sein. Das enspräche der Begründung, aber nicht dem Wortlaut. Der letztere Fall ist daher wahrscheinlicher. 116 BT-Drucks. 12/1093, S. 29 (zu § 30 StUG-E); vgl. auch S/D, § 37 Rdnr. 2. 117 Daran hat sich auch im späteren Gang der Gesetzesberatung nichts geändert, vgl. BTDrucks. 12/1540, S. 39f. und 63, wo der Tätigkeitskatalog erweitert, aber die prinzipielle Begründung unangetastet bleibt. u 8 Davon geht Stoltenberg § 2 Rdnr. 2 aus, der in § 2 StUG eine Zusammenfassung der Aufgaben und Befugnisse sieht. Für eine derartige Sichtweise gibt die Gesetzesbegründung aber nichts her. Ähnlich: S/D, § 2 Rdnr. 2. *

132

3. Teil: Der Inhalt des StUG

Es bleibt zu prüfen, ob Sinn und Zweck der Norm zu ihrem Verständnis beitragen können. Diese Betrachtungsweise wird erschwert durch den Katalog der im Gesetz umschriebenen Tätigkeiten. Denkt man sich § 37 I StUG weg, so ergibt sich, daß aus § 2 I StUG dem BStU Zuständigkeiten erwachsen würden, die er mangels Ermächtigungsgrundlage nicht wahrnehmen könnte. Soweit das Gesetz solche Befugnislücken ausfüllen soll, ist es sein Sinn und Zweck, Ermächtigungsgrundlage zu sein. Der Gesetzeszweck ist damit erschöpft. Dies gilt jedoch nicht für den Tätigkeitenkatalog des § 37 I StUG. Der Sinn und Zweck der Aufzählung der verbleibenden Tätigkeiten bleibt fraglich. Wenn es darum gegangen wäre, zusätzliche Ergänzungen und Erläuterungen zu § 2 I StUG zu geben, so fragt es sich, wieso der Gesetzgeber diese nicht bei § 2 I StUG angebracht hat. Deutlicher noch: Es fragt sich, warum der Gesetzgeber § 2 I StUG nicht von vornherein so gefaßt hat, daß derartige Erläuterungen bzw. Ergänzungen unnötig waren. Dabei ist noch nicht gesagt, daß Erläuterungen überhaupt notwendig sind. § 2 I StUG ist nämlich inhaltlich hinreichend bestimmt. Sollte es der Sinn sein, daß zusätzlich zu § 2 I StUG eine Spezialregelung geschaffen werden sollte, so bestand hierfür keine Veranlassung. Die umfassend beschriebenen Zuständigkeiten des § 2 I StUG, die sich allein an den BStU wenden, würden bei Interpretation dieser Norm die Tätigkeiten des § 37 I Nrn. 4 und 6 StUG mit einschließen. Der Sinn und Zweck des Gesetzes muß deshalb substantiell im Befugnisbereich liegen. Der verbleibende Rest sind überflüssige Hervorhebungen aus dem Regelungsbereich des § 2 I StUG. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß § 37 I StUG eine Befugnisnorm ist. Trotz ihrer ungewöhnlichen Ausgestaltung wird sie keine praktischen Probleme aufwerfen, da die Begründung der Zuständigkeit und der Handlungsermächtigung mit zwei verschiedenen StUG-Normen einhergeht. Selbst wenn die Norm ursprünglich als Zuständigkeitsregelung gedacht war, ändert auch die Gesetzesbegründung nichts daran, daß sie jetzt Ermächtigungscharakter hat.

3. Die Beteiligung der ostdeutschen Bundesländer an der Tätigkeit des BStU Nachdem die Streitfrage nach der Verwaltungszuständigkeit für die Akten entschieden war, suchte der Gesetzgeber die ostdeutschen Bundesländer an der Verwaltung des Materials zu beteiligen. Das StUG sieht zwei Einrichtungen vor; zum einen die in § 38 StUG genannten Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und zum andern den in § 39 StUG vorgesehenen Beirat.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

a) Die Landesbeauftragten

133

(Laba)

Sie sollen den BStU nach § 38 I 1 StUG bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nach § 37 StUG unterstützen. Es fragt sich, was man hierunter zu verstehen hat. Bei einer isolierten Betrachtung des § 38 I StUG und des recht umfänglichen Kataloges des § 37 StUG könnte man folgern, daß alle „Aufgaben" des BStU auf Länderebene von den Laba in der Weise „mit erfüllt" werden, daß diese ihm zuarbeiten. Mittelbar nähmen die Laba also die Aufgaben des BStU nach § 37 StUG ebenso wahr wie dieser, wenn der BStU sich ihrer Unterstützung bediente. Für ein derartiges Verständnis des § 38 I 1 StUG scheint auch der Umstand zu sprechen, daß die näheren Einzelheiten der Unterstützung sich nach dem jeweiligen Landesrecht richten sollen (§ 38 I 2 StUG). Damit sind die Regelungen über die Behördenorganisation und das Verfahren der Laba zur Unterstützung des BStU gemeint. Wollte man das Gesetz so landesfreundlich verstehen, wäre eine wesentliche Beteiligung der neuen Bundesländer am Umgang mit den fraglichen Unterlagen gesichert. Zwar gibt das Gesetz den Laba keine materiell-rechtliche Entscheidungsbefugnis an die Hand, die hat nur der BStU, aber die Laba hätten zumindest Einfluß auf die Intensität und Geschwindigkeit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit für ihren Bereich. Sie wären auf Landesebene das „Auge" bzw. das „Ohr" bzw. der „verlängerte Arm" des BStU. Jedoch ist das Gesetz nicht so konstruiert. Um die Funktion der Laba richtig zu verstehen, muß man sich von dem Katalog des § 37 StUG etwas lösen und allein den § 38 StUG betrachten, insbesondere die Absätze 2 und 3 der Norm, wie noch zu zeigen sein wird. Ausgangspunkt der weiteren Erörterungen mag zunächst die Grundüberlegung sein, die Eingang in die Gesetzesbegründung und teilweise wörtlich in das Gesetz gefunden hat: „Um die besonderen Interessen der neuen Länder stärker zu berücksichtigen, wird diesen ausdrücklich das Recht eingeräumt, Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zu bestimmen. Sie sollen dafür sorgen, daß landesspezifische Besonderheiten bei der Verwendung der Unterlagen berücksichtigt werden." 119 Diese Be gründung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst wird pauschal auf die „besonderen Interessen" der neuen Länder rekurriert, ohne diese näher zu bezeichnen. Dann wird der Aufgabenkreis der Laba eingeengt auf „landesspezifische Besonderheiten bei der Verwendung der Unterlagen". Letztere Formulierung hat dann praktisch wörtlich Eingang in § 38 II StUG gefunden, wobei der Umfang nochmals „verengt" worden ist auf die Verwendung der Unterlagen nach den Normen des Dritten Abschnitts des StUG. Auch werden die behaupteten Besonderheiten nicht näher erläutert. Statt dessen begnügt sich das Gesetz in § 38 III StUG damit festzustellen, das Landesrecht könne bestimmen, daß Beteiligte nach den §§ 1 3 - 1 7 StUG bei der Wahrnehmung ihrer Rechte auch in psycho-sozialer Hinsicht beraten werden könnten. 120 Im übrigen gelte, so die Gesetzesbegründung, 119 BT-Drucks. 12/1540, S. 63 (zu § 30a des StUG-E). 120

Die Idee der psycho-sozialen Beratung entstammt einer Anregung des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands; vgl. S. 2 der Stellungnahme dieses Verbandes vom 06. 08.

134

3. Teil: Der Inhalt des StUG

daß „weitergehende bundesrechtliche Regelungen der Aufgaben der Landesbeauftragten ... aus kompetenzrechtlichen Gründen nicht möglich" 121 seien. In diesen Materialien liegt der Schlüssel zum Verständnis des § 38 I StUG. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die gerade genannte landesfreundliche Auslegung berechtigt ist. Wie sich aus § 2 I StUG, der Korrespondenznorm zu § 37 StUG, ergibt, sind die Erfassung, Verwahrung, Verwaltung und Verwendung der Unterlagen vier verschiedene Aufgaben des BStU. Nach der Konzeption des Gesetzes sollen die Laba den landestypischen „Touch" bei der Verwendung der Unterlagen beisteuern. Das bedeutet, daß die Laba von einer Einflußnahme auf die Erfassung, Verwahrung und Verwaltung der Unterlagen von vornherein ausgeschlossen sind. Einfluß auf die Verwendung der Unterlagen haben sie nur, wenn landestypische Besonderheiten gegeben sind. Damit fällt auch für einen Teil der Unterlagenverwendung, nämlich jene ohne „Landesbesonderheiten", ein Einfluß der Laba weg. Funktional bleiben für die Laba demnach nur „Nischen" übrig, in denen sie ein „Schattendasein" führen. Diese These wird noch durch weitere Überlegungen untermauert. Zunächst bleibt die Frage, was „landesspezifische Besonderheiten" eigentlich sind. Die ehemalige DDR war ein zentral gelenkter Einheitsstaat, der seit 1952 keine Länder mehr besaß, weil er gerade nicht mehr auf irgendwelche regionalen Besonderheiten Rücksicht nehmen wollte. Dementsprechend einheitlich war auch das MfS in seiner Zentrale bzw. den „Außenstellen" organisiert. Das fragliche Unterlagenmaterial hatte demzufolge auch eine relativ einheitliche äußere Form. Vom Inhalt sei hier einmal abgesehen. Die Verwendung der Unterlagen ist durch das StUG für alle ostdeutschen Länder einheitlich geregelt. Selbst wenn man eine brauchbare Definition für diese „Besonderheiten" findet, die das Gesetz schuldig bleibt, ist damit noch lange nicht gesagt, ob es der Sache nach überhaupt Raum gibt für derartige landestypische Aspekte. Das ist nach dem zuvor Gesagten sehr zweifelhaft. Entscheidend ist aber folgendes : Selbst wenn man annimmt, es gäbe derartige Besonderheiten, und unterstellt, es gäbe auch eine brauchbare Definition für die landesspezifischen Besonderheiten, dann ist für die Laba immer noch nichts erreicht. Denn dann steht ihnen lediglich ein Recht zur Stellungnahme zu; dazu gibt ihnen der BStU Gelegenheit (§ 38 II StUG), nachdem er darüber entschieden hat, ob derartige Besonderheiten vorliegen oder nicht. Da mit dieser Stellungnahme keine Bindungswirkung für den BStU verbunden ist, trägt sie den Charakter einer Meinungsäußerung des Laba. In letzter Konsequenz ist damit nicht sichergestellt, daß

1991 an den InnenA des Deutschen Bundestages. Zustimmend: Fuchs, Stellungnahme an den InnenA des Deutschen Bundestages ohne Datum, S. 4. Die psycho-soziale Betreuung ist wohl so gedacht, daß diese Tätigkeit vom BStU und den Laba parallel vorgenommen werden soll. § 37 I Nr. 7 StUG schließt nämlich nach seinem Wortlaut auch diese Beratungstätigkeit ein; a. Α.: G/K, § 37 Rdnr. 12. Allerdings sprechen hier praktische Gesichtspunkte für einen Vorrang der Betreuung durch die Laba. Dem Bund ist es kaum möglich, in jeder Außenstelle und in der Zentrale des BStU einen (umfangreichen) psychologischen Dienst einzurichten. Vgl. auch: S/D, § 37 Rdnr. 12; BT-InnenA-UA-Prot. (6. Sitzung), S. 11 f.; BT-InnenA-UAProt. (9. Sitzung), S. 10f.; Gauck, BT-InnenA-UA-Prot. (15. Sitzung), S. 15. 121 BT-Drucks. 12/1540, S. 63 (zu § 30a des StUG-E).

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

135

landesspezifische Besonderheiten bei der Verwendung der Unterlagen berücksichtigt werden. Die eben aufgestellte These ist also richtig. Nicht einmal das in § 38 III StUG angesprochene Beratungsrecht ist exklusiv für die Laba reserviert. Im Gegenteil, ob die Laba nun nach Landesrecht beraten oder nicht, ist dem StUG völlig egal, da der BStU jedenfalls ein Recht zur Information und Beratung von natürlichen Personen hat (§ 37 I Nr. 7 StUG) und dieses Recht nach seinem Wortlaut auch die Beratung von Beteiligten nach den § § 1 3 - 1 7 StUG umfaßt. 122 Es fragt sich nun, was eigentlich noch mit dem Begriff „Unterstützung" in § 38 I 1 StUG gemeint ist. § 38 I 1 StUG ist nur eine allgemeine Einrichtungserlaubnis für die ostdeutschen Länder, eine Behörde zu errichten, die in einer Art erlaubter „Verwaltungskonkurrenz" in einem Randbereich des StUG unterstützende Tätigkeiten, das heißt „Hilfstätigkeiten" ausführt. Wie die „Unterstützung" aussieht, steht letztlich in § 38 II und III StUG. Daß dieses Resultat richtig ist, ergibt sich zum Beispiel aus folgenden Überlegungen: Durch die Beschränkung auf die Verwendung der Unterlagen fallen für die Laba aus § 37 StUG die Nrn. 1 bis 3, die sich mit der Erfassung, Verwahrung und Verwaltung beschäftigen, heraus. Was die in § 37 Nrn. 4 - 6 und 8 StUG genannten Aufgaben angeht, so können diese nur von demjenigen erfüllt werden, der die Stasi-Unterlagen in seiner Verfügungsgewalt hat. Das ist nur der BStU. Die Laba haben keine Stasi- Unterlagen. Sie haben nicht einmal Zutritt zu den Unterlagen und damit kein eigenes Akteneinsichtsrecht. 123 Sie sind auch nicht identisch mit den Leitern der Außenstellen des BStU in den ostdeutschen Bundesländern. Diese sind Bundesbeamte, während die Laba Landesbedienstete sind. Bezüglich der Nr. 7 des § 37 StUG schließlich gibt es die einengende Spezialregelung für die Laba in § 38 III StUG. Es bleiben also nur nachrangige Tätigkeiten (Stellungnahmen schreiben, Handlangertätigkeiten) ohne die Möglichkeit eigenverantwortlicher Lenkung übrig, die das StUG den Laba zuweist. Weitere Befugnisse wollte das Gesetz im Hinblick auf die Landeskompetenzen nicht regeln. Es fragt sich nur, welche weiteren materiellen Kompetenzen das jeweilige Landesrecht unter den gegebenen Umständen noch auf die Laba übertragen könnte. Daß die Behördenorganisation und das Verfahren der Laba Sache der Länder ist, versteht sich von selbst und ergibt sich schon aus § 38 I 2 StUG. 124 122

Der Begriff „Beratung" ist in einem umfassenden Sinne gemeint und erstreckt sich nicht nur auf die psycho-soziale Komponente. Zu weit geht allerdings der Vorschlag der Gruppe BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN den Opfern durch juristisch kundige Mitarbeiter Auskünfte über die Möglichkeiten der Strafverfolgung zu geben, sofern Nutzer in den Unterlagen entsprechende Hinweise auf Straftaten gegen ihre Person vorfänden; vgl. Abschnitt II, Ziff. 10 Vorschläge der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, aus einem internen Papier der Koordinationsstelle AK III (Innen- und Rechtspolitik) vom 04. 11. 1992. Dann würde man den Opfer nämlich Rechtsberatung erteilen, die gem. der BRAO bzw. dem Rechtsberatungsgesetz ausschließlich der Rechtsanwaltschaft vorbehalten ist. Im übrigen sollte man die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer möglichen Strafverfolgung den Behörden überlassen, deren originäre Aufgabe sie ist. Gemeint sind die Staatsanwaltschaften. 123 Vgl. G/K, § 38 Rdnr. 7f. Garstka, BT-InnenA (12. Sitzung), Prot. Nr. 12, S. 82 (83f.) hat gefordert, den Laba zumindest den Zugang zu den Unterlagen einzuräumen und sie als Vermittlungsstelle für Forschungsanliegen an den Bundesbeauftragten zu verwenden.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Aber für weitere inhaltliche Kompetenzen, insbesondere eine Entscheidungsgewalt der Laba, ist durch Landesrecht kein Raum mehr, da der Bund für alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit den Stasi-Unterlagen abschließende Regelungen in eigener Zuständigkeit getroffen hat. Raum für Landesrecht bleibt nur dort, wo der Bund diesen eröffnet hat bzw. eröffnen mußte, also bei spiels weise bei § 38 I 2, III StUG. Dann stellt sich die Frage, warum es überhaupt Laba im StUG gibt. Diese Frage ist aber weniger juristischer als politischer Natur, und die Antwort soll hier nur angedeutet werden: Eine Unterlagen Verwaltung in alleiniger Bundeszuständigkeit, ohne eine Beteiligung der ostdeutschen Bundesländer bzw. deren Bürger, hätte sich so dargestellt, als würden die Unterlagen „über den Kopf der Betroffenen hinweg" in eine vorwiegend „westdeutsch" dominierte Einflußsphäre überführt. Darüber waren sich die Einbringelfraktionen des StUG-E (CDU / CSU, SPD und FDP) auch im klaren. Andererseits konnte den ostdeutschen Ländern durch eigene Beauftragte kein ernsthaftes Mitspracherecht eingeräumt werden, wollte man nicht das Postulat einer einheitlichen politischen Verantwortung für die Unterlagen in Frage stellen. Auch dieser Punkt stand den Einbringern des Gesetzes vor Augen. Der letztere Aspekt hat sich durchgesetzt; § 38 StUG ist in diesem Sinne nur „Ergebniskosmetik". Wie man dies politisch bewerten will, bleibt jedem selbst überlassen. Juristisch müßte § 38 StUG anders gefaßt werden, weil er in seiner gegenwärtigen Form zumindest auslegungsbedürftig, um nicht zu sagen zweideutig ist. Als Resultat ist festzuhalten, daß die Laba über die Stasi-Unterlagen nicht zu entscheiden haben und auch nur ganz begrenzt Einfluß auf den Umgang mit den Unterlagen nehmen können. 125 Die Laba sind kein Gegenpol zum BStU, sondern ganz gewöhnliche öffentliche Stellen i. S. d. § 19 StUG. Sie vermögen den BStU letztlich nicht besser zu unterstützen als ζ. B. eine staatliche Forstbehörde. Da das Gesetz und auch die Gesetzesbegründung sich weder die Mühe machen zu definieren, worin die besonderen Interessen der ostdeutschen Länder liegen, noch zu sagen, was landesspezifische Besonderheiten sind, bleiben die den Laba nach dem StUG gegebenen Möglichkeiten in ihrem Umfang dunkel und hängen nicht zuletzt vom guten Willen des BStU ab. Besonders bemerkenswert ist der Umstand, daß die Gesetzesbegründung in sich unschlüssig ist. Wenn man nicht nur „besondere Interessen" der neuen Bundesländer anerkennt, sondern diese sogar „stärker" berücksichtigen will, dann kann man diese Interessen im folgenden Satz nicht nur auf die Verwendung der Unterlagen beziehen. Es bestehen sicherlich auch „besondere Interessen" der neuen Bundesländer im Hinblick auf Erfassung, Verwahrung und Verwaltung der Unterlagen. Diese werden aber, der getroffenen politischen Grundentscheidung gemäß, nicht beachtet. Im Grunde handelt es sich 124 S/D, § 38 Rdnr. 2 weisen zu Recht darauf hin, daß es der bundesrechtlichen Regelung nicht bedurft hätte, da die Einrichtung von Länderbehörden ohnehin den Ländern obliegt. 125 Vgl. die Arbeitsmaterialien des BMI zum StUG vom 11. 03. 1991-015-191 081/0-, S. 48.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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dabei um einen Widerspruch mit dem Ziel der stärkeren Berücksichtigung der Länderinteressen. Die Kernfrage nach einer effektiven Mitwirkung der ostdeutschen Bundesländer durch die Laba muß verneint werden. 126

b) Der Beirat Zu untersuchen bleibt, ob der in § 39 StUG dem BStU beigegebene Beirat ein effektives Mittel der Mitwirkung der Länder an der Verwaltung der Unterlagen darstellt. Der Beirat besteht aus 16 Mitgliedern, von denen 9 durch die 5 ostdeutschen Länder und das Land Berlin benannt werden, und 7 Mitgliedern, die vom Deutschen Bundestag gewählt werden (§ 39 I 2 StUG). Nach der ursprünglichen Fassung dieser Norm sollten 6 Landesvertretern (1 pro Land) insgesamt 10 vom Deutschen Bundestag gewählte Vertreter (6 MdB und 4 sonstige) gegenüberstehen. 127 Der „Bundestag" wäre also überrepräsentiert gewesen. Trotzdem hieß es in der Gesetzesbegründung über die Zusammensetzung des Beirats: „Die Zusammensetzung des Beirats soll gewährleisten, daß ... die neuen Länder, deren Bevölkerung durch die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes besonders betroffen ist, ihre Interessen in angemessener Weise einbringen können. Die Mitglieder aus den neuen Ländern sollen die Mehrheit im Beirat bilden." 128 Erst im weiteren Gesetzgebungsverfahren ist diesem Anspruch in der jetzt gegebenen Weise Rechnung getragen worden. 129 Jedoch läßt das Gesetz nicht mehr erkennen, welches Land wie viele Vertreter entsenden darf bzw. welche Qualität die Vertreter des Deutschen Bundestages haben müssen, um in den Beirat gewählt zu werden. Lediglich aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, daß aus jedem Land mindestens 1 Vertreter kommen soll und daß die Beiratsmitglieder, die der Bundestag wählt, nicht aus

126 Bereits im Vorfeld des StUG hat Gauck die mangelnden Mitgestaltungs- und Mitverantwortungsmöglichkeiten der Laba kritisiert und die Situation auf die für die Länder ungünstige Rechtslage zurückgeführt; Gauck, BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 88. An den gegebenen Umständen hat das StUG jedoch nichts geändert. Schmidt hat vermutet - im Gespräch mit dem Verfasser - , diese Konstruktion sei nur gewählt worden, damit die Zustimmung der Länder im Bundesrat sicher war. Im Grunde genommen sei es nur darum gegangen, daß sich die ostdeutschen Länder im StUG wiederfänden. Diese Folgerung dürfte richtig sein. Allerdings stand die Zustimmung der Länder im Bundesrat nie ernsthaft zur Disposition. Wie sich aus den (noch vertraulichen) Materialien des Bundesrates ergibt, war diesem klar, daß die Länder dem Bund hier keine Sachkompetenzen würden abhandeln können. Höchstwahrscheinlich hätten die Länder auch dann mehrheitlich zugestimmt, wenn es keinen § 38 StUG gegeben hätte. Der Gesetzgeber hat von Anfang sehenden Auges für den „Papierkorb" gearbeitet.

™ Vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 15f. (zu § 31 StUG-E). 128 BT-Drucks. 12/1093, S. 28 (zu § 31 StUG-E). 129 Vgl. die Beschlüsse des 4. Ausschusses des BT: BT-Drucks. 12/1540, S. 41 bzw. 63 (zu § 31 StUG-E).

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

seiner Mitte kommen müssen.130 Dieser Hinweis ist aber für keinen Beteiligten verbindlich. Praktisch werden sich die Länder untereinander darüber verständigen müssen, welches Land wie viele Vertreter entsendet. Was den Deutschen Bundestag angeht, so werden die Vertreter regelmäßig aus der Mitte desselben kommen, da es auch ein erklärter Zweck des Gesetzes ist, eine parlamentarische ßegleitung der Tätigkeit des BStU zu sichern. 131 Eine derartige Begleitung ist aber mit Nichtparlamentariern kaum möglich. Wenn die Vertreter der Länder benannt und die Vertreter des Bundestages gewählt sind, ist der konstitutive Akt der Beiratszusammensetzung erledigt. Die Bestellung der Beiratsmitglieder durch den BMI ist nur deklaratorischer Natur. Eine Ablehnung der Bestellung eines benannten bzw. gewählten Vertreters durch den BMI kommt nicht in Betracht. Das folgt zum einen aus der Tatsache, daß das StUG dem BMI keine Eingriffsbefugnisse in die organschaftlichen Rechte des Bundestages oder der Länder gibt und zum andern aus der insoweit eindeutigen Formulierung des § 39 I 3 StUG („... werden ... bestellt."). Mithin steht dem BMI auch kein Prüfungsrecht benannter Personen auf eine mögliche MfS-Belastung zu. 1 3 2 Die Beiratsmitglieder selbst sind keine Beamten, dies folgt aus dem Umstand, daß sie bestellt werden. Beamte würden ernannt. Trotzdem stehen die Beiratsmitglieder in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis zum Bund. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß der Beirat ein überwiegend von den sechs betroffenen Ländern beschicktes Gremium ist, welches sich den Länderinteressen an den fraglichen Unterlagen und der parlamentarischen Kontrolle des BStU gleichermaßen verpflichtet fühlt. Diese Zweigleisigkeit der Zweckrichtung muß kein Nachteil sein. Beide Zwecke schließen sich jedenfalls nicht aus und können parallel verfolgt werden. Allein es fragt sich, ob dem Beirat für die Erfüllung beider Zwecke ein effektives Instrumentarium an Einflußmöglichkeiten zur Verfügung steht, wobei hier vorwiegend die Möglichkeiten der sechs Länder interessieren. Das wird nun zu prüfen sein. Die Befugnisse des Beirats ergeben sich aus § 39 II StUG. Der dort aufgezählte Katalog von Gegenständen (Nrn. 1 bis 8) ist nicht abschließend, was sich aus der Formulierung des § 39 II 2 StUG („... insbesondere ...") ergibt. Vielmehr hat der BStU die Pflicht, alle grundsätzlichen oder sonst wichtigen Angelegenheiten dem Beirat zur Kenntnis zu bringen und diese dann mit ihm zu erörtern (vgl. § 39 I 1 StUG). Eine nähere Definition der unbestimmten Rechtsbegriffe „grundsätzliche" oder „andere wichtige" Angelegenheiten kennt das Gesetz aber nicht. Insoweit sichert der Katalog des § 39 II 2 StUG nur einen Mindestbestand der Beteiligung des Beirats ab. Selbst dieser Mindestkatalog sollte ursprünglich nicht so umfangreich sein, wie er sich jetzt darstellt. Nach dem Willen der Einbringerfraktionen

130 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, a. a. O. BT-InnenA-Prot. (17. Sitzung), S. 46. 131 Vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 28 (zu § 31 StUG-E). 132 Vgl. G/K, § 39 Rdnr. 4.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

139

sollten sich die Möglichkeiten des Beirats auf die jetzigen Gegenstände des § 39 I 2 Nrn. 5 - 8 StUG beschränken. 133 Im weiteren Gesetzgebungsverfahren kamen die Nrn. 1 - 4 hinzu. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Übertragung zusätzlicher Aufgaben erfolge, um die Bedeutung des Beirats zu stärken. 134 Am grundsätzlichen Charakter des Beirats als einem beigegebenen Beratungsgremium ohne die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, wurde aber nichts geändert. Im Gegenteil, nach der Konstruktion des Gesetzes steht der Beirat in einer gewissen Abhängigkeit zum BStU. Er kann sich nur mit den Dingen befassen, über die der BStU ihn unterrichtet. Dabei obliegt es prinzipiell der Entscheidung des BStU, ob eine Angelegenheit von grundsätzlicher oder sonst wichtiger Bedeutung ist. Eine Unterrichtungsmöglichkeit des Beirats abseits des BStU ist nicht vorgesehen und auch nicht gewünscht. In der Regel sollen die Beiratsmitglieder keinen Einblick in die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erhalten. 135 In dieser Situation ist es nur konsequent und richtig, wenn durch einen Mindestkatalog von Zuständigkeiten die Ziele des Beirats gewahrt werden sollen. Damit reduziert sich die Beteiligungsfrage auf das Problem, ob der Katalog sachlich ausreicht, um zum Beispiel die Interessen der sechs betroffenen Länder zu wahren. Betrachtet man zunächst die Nrn. 5 - 8 des § 39 II 2 StUG, also den Ursprungskatalog, so ergibt sich, daß die Beratungstätigkeit des Beirats sich auf die Festlegung von Prioritäten für Anträge und Ersuchen an den BStU, die Festlegung der Aufgaben der Außenstellen bei ihrer Beratungstätigkeit, die Erstellung von Arbeitsprogrammen für die Aufarbeitung der Stasitätigkeit bzw. die Unterrichtung der Öffentlichkeit und die Unterstützung der Forschung/politischen Bildung richtet. Die so beschriebenen Funktionen waren dem Gesetzgeber offenbar zu geringfügig. Tatsächlich ist festzuhalten, daß, wenn die zuvor genannten Prioritäten bzw. Aufgaben einmal festgelegt sind, die Angelegenheit von selbst funktioniert. Hier ist Änderungsbedarf und damit Beratungsbedarf selten. Gleiches gilt für die angesprochenen Arbeitsprogramme; einmal in Gang gesetzt, entwickeln sie ein Eigenleben; da die Zahl dieser Programme nicht beliebig hoch ist (Finanzmittel!), wird sich auch hier der Beratungsbedarf rasch erschöpfen. Was die Unterstützung der Forschung/politischen Bildung angeht, so werden die Grundsätze hierfür nicht einmal vom BStU nach seinem Ermessen festgesetzt; hier gibt es beachtliche Vorgaben durch das StUG, das heißt, wenn man so will, eine „vorrangige Beratungspraxis". Diese praktischen Bedenken und die Tatsache, daß der Umfang der Länderinteressen, der gewahrt werden soll, auch im Zusammenhang mit dem Beirat nirgends verdeutlicht wird, mögen den Gesetzgeber dazu bewogen haben, den Katalog der Beiratsaufgaben zu erweitern. Die hinzugekommenen Nrn. 1 bis 4 des § 39 II 2 StUG befassen sich mit der Beratung des BStU durch den Beirat hinsichtlich der Erfassung, der Verwahrung (Archivierung), Verwaltung und der Verwendung (Einsichtnahme in bzw. Herausgabe von Unterlagen, Überprüfung von Personen auf eine Tätigkeit für den Staats133 Vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 16 (zu § 31 StUG-E). 134 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 63 (zu § 31 StUG-E). 135 Vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 28 (zu § 31 Abs. 5 StUG-E).

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Sicherheitsdienst). Auf den ersten Blick betrachtet wird damit dem Beirat das eingeräumt, was den Laba verwehrt worden ist, nämlich Länderinteressen über die Verwendung der Unterlagen hinaus zur Diskussion zu stellen, und zwar unabhängig vom Vorhandensein landesspezifischer Besonderheiten. Allein, diese Betrachtungsweise ist verfehlt. Während die Laba noch zu aktivem Tun (Geltendmachung landestypischer Besonderheiten; Unterstützung des BStU) aufgerufen sind, ist der Beirat praktisch zur Beratung - also zur Passivität - „verurteilt". Seinen besten Dienst leistet er dann, wenn er dem BStU bei der Bewältigung der schwierigen Materie sachkundige Hilfe leistet. Eine echte eigenverantwortliche Mitwirkung des Beirats bei der Verwaltung und Verwendung der Unterlagen gibt es immer noch nicht. Auch sind die Nrn. 1 bis 4 nicht allein um der Länderinteressen willen in das Gesetz gekommen, sondern auch um einen ständigen Überblick des Bundestages über die Tätigkeit des BStU, abseits zu erstattender Berichte, zu gewährleisten. Die dort genannten Tätigkeiten des BStU sind aussschließlich verwaltungsinterner Natur bzw. betreffen das einzuhaltende Behördenverfahren. Gleichsam wie durch ein „Guckloch" schaut der Beirat auf die Tätigkeit des BStU, ohne die Möglichkeit einer echten Einflußnahme. 136 Dieser Beobachterstatus des Beirats paßt aber besser zur parlamentarischen Begleitung des Geschehens, also zum Überblick des Bundestages, als zur Berücksichtigung der Länderinteressen. Daraus folgt, daß die beiden Zwecke des Beirats nicht mit der gleichen Effektivität verfolgt werden. 137 Jedenfalls sind die Ländervertreter auch im Beirat nur Zuschauer.

c) Sonstige Einflußmöglichkeiten

der Länder

Mag die gegenwärtige Konstruktion der Länderbeteiligung auch unbefriedigend erscheinen, viel mehr als das, was jetzt geschehen ist, läßt sich für die Länder nicht machen. Einer weitergehenden Beteiligungsmöglichkeit würde das verfassungsrechtliche „Verbot der Mischverwaltung" entgegenstehen. Dieses Verbot beruht auf der scharfen Trennung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. 138 Beide können und dürfen diese Abgrenzung nicht verändern, selbst wenn die Beteiligten dies gemeinsam wollten. So ist es zum Beispiel nicht zulässig,

136 Vgl. auch die Geschäftsordnung des Beirates beim BStU vom 19. 11. 1992; Bek. d. BMI v. 01. 12. 1992 - 0 1 5 - 1 9 1 082-3/2 - ; GMB1. 1993, Nr. 1, S. 12ff. 137 Tatsächlich wird der Gesichtspunkt der parlamentarischen Begleitung der Tätigkeit des BStU in der Gesetzesbegründung vor den Interessen der betroffenen Länder genannt; vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 28 (zu § 31 StUG-E). Hirsch, Baumann-FS, S. 517 (519) rechtfertigt den beschränkten Einfluß des Beirats mit dem Hinweis, der Beirat „könnte den Versuch unternehmen, die Arbeit der Behörde politisch und parlamentarisch unkontrollierbar zu beeinflussen." Der ungehinderte, direkte Informationsfluß vom BStU zum Parlament, konkret zum InnenA, ist der Zweck der Regelung. Umgekehrt soll das Parlament keinen Einfluß auf diesem Wege auf den BStU ausüben. 138 Vgl. BVerfG in: BVerfGE 11, 105 (124); BVerfGE 21, 312 (325f.); dass., NVwZ 1983, 537 (540). Für das StUG ausdrücklich: S/D, § 35 Rdnr. 3.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

141

Maßnahmen des Bundes von der Zustimmung der Länder abhängig zu machen, wenn der Bund die Verwaltungszuständigkeit hat. Eine Mitwirkung der Länder im Sinne einer Mitbestimmung ist demnach in Angelegenheiten der Bundesverwaltung prinzipiell nicht möglich. Das hat zur Folge, daß in diesem Fall keine anderen Möglichkeiten der Länder zur direkten Einflußnahme bestehen.139 Dies ist die Kehrseite der alleinigen Bundeskompetenz für die Stasi-Akten-Betreuung.

4. Der BStU und der Datenschutz Eine Behörde, die auf dem Aktenmaterial eines untergegangenen Nachrichtendienstes „sitzt", muß Vorkehrungen treffen, das Material gegen unbefugten Zugriff zu sichern. Dieser Forderung trägt § 40 I StUG Rechnung. Damit der BStU auch genau weiß, was er mindestens zu beachten hat, ist in § 40 II StUG ein Katalog von Grundanforderungen niedergelegt. Dieser ist nicht abschließend, wie sich aus dem Wort „insbesondere" in § 40 II StUG ergibt. Er orientiert sich jedoch an der Anlage zu § 9 BDSG, wobei Einzelheiten angesichts der besonderen Situation des BStU angepaßt und konkretisiert worden sind. Dementsprechend hat der BStU in Umsetzung der gesetzlichen Weisung eine Reihe von Arbeitsanweisungen erlassen. Diese Anweisungen werden streng innerbehördlich gehandhabt, das heißt sie sind Außenstehenden unzugänglich, sogar die bloße Einsichtnahme ist untersagt. Man mag sich darüber wundern, daß eine Behörde, die derartig im öffentlichen Interesse steht und die für eine geradezu beispiellose historische Transparenz sorgen soll, aus ihrer Ansicht zum Umgang mit den Unterlagen ein Geheimnis machen darf. Aber man muß bedenken, daß es sich hier nicht um eine normale Verwaltungsbehörde handelt. 140 Hier geht es nicht darum darzustellen, wer zum Beispiel alles an der Erteilung einer Baugenehmigung mitwirkt. Aus den Arbeitsanweisungen geht hervor, wie die Behörde verfährt, um „Täter" zu ermitteln. Wenn man sich überlegt, wieviele hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter es gab („die können ja nicht alle in Moskau sein" 141 ) oder über wieviele Politiker es Dossiers mit kompromittierendem Inhalt gibt, könnten solche Personen aufgrund einer Publizierung der Arbeitsanweisungen sich darauf einrichten, „entdeckt" zu werden. Sie könnten dann u. U. Vorkehrungen treffen, das Verfahren der Behörde zu sabotieren. Folgerichtig sind denn auch die wichtigsten Arbeitsanweisungen Verschlußsachen. Daher soll hier nur ein kursorischer Überblick gegeben werden, wie der BStU den „Datenschutz" betreibt. Es gibt beispielsweise eine Arbeitsanweisung für den Haussicherungsdienst (Arbeitsanweisung nach § 40 II Nrn. 5 und 6 StUG) betreffend den Zugang zu den 139 So für die Laba: S/D, § 38 Rdnrn 2 bzw. 8a und für den Beirat: S/D, § 39 Rdnr. 7. 140 Vgl. 3. Teil, 1. Kapitel, III., 1., lit. a). 141 So: Thiel, Referent für Organisation beim BStU ggü. dem Verfasser bei einem persönlichen Gespräch in der „Gauck-Behörde".

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

Gebäuden und zu den darin befindlichen Archiven. Danach sind die Unterlagen selbst zum Beispiel durch Stahlschränke mit Codeschlössern gesichert. Diese Stahlschränke wiederum befinden sich in VS-Magazinen. Diese Magazine haben ebenfalls Codeschlösser und werden in ihrem Innern durch Bewegungsmelder überwacht. Im Falle eines Alarms wird der Haussicherungsdienst (Hsd) verständigt; diese bewaffnete Wachtruppe vervollständigt das Sicherheitssystem in den Archivgebäuden. Nach menschlichem Ermessen ist damit praktisch jeder unbefugte Zugriff auf die Unterlagen ausgeschlossen.142 Ein anderes Beispiel: Es gibt eine Arbeitsanweisung für den Aktentransport (Arbeitsanweisung nach § 40 II Nr. 8 StUG). Danach würde zum Beispiel ein Aktentransport von der Außenstelle X zur Zentrale des BStU wie folgt aussehen: Der Versender erstellt eine Liste des zu versendenden Materials in zweifacher Ausfertigung und gibt eine Liste zusammen mit dem Material in einen Stahlbehälter, der anschließend verschlossen wird. Als Verschlußvorrichtung dient ein Zählschloß. Der Abholer / Überbringer (A/Ü) holt diesen Stahlbehälter dann beim Hsd der Außenstelle ab und quittiert dem Hsd die Abgabe des verschlossenen Behälters (Stand des Zählschlosses etc.). Dann findet der Transport statt. In der Zentrale quittiert der A / Ü dem Hsd in der Zentrale den Transport und die Abgabe an den Hsd., der wiederum den Empfang des Behälters (verschlossen etc.) quittiert. Eine Öffnung während des Transports ließe sich dadurch nachweisen, daß das Zählschloß, dessen Zählwerk mit jedem Öffnen eine Position weiter rückt, hinsichtlich des Standes des Zählwerks bei der Ankunft nicht mit dem bei der Abfahrt übereinstimmt. Anschließend wird der (immer noch verschlossene) Behälter in das zuständige Referat (in der Zentrale) gebracht. Dort wird er geöffnet. Anhand der im Behälter befindlichen Materialliste wird die Vollständigkeit des übersandten Materials vom Bearbeiter (Empfänger) überprüft. Anschließend quittiert der Empfänger auf der Liste die Vollständigkeit des Materials und schickt die Liste an den Versender zurück zum Abgleich mit dem dort vorhandenen Exemplar der Liste. Ebenso wird verfahren beim Transport von Datenträgern. Auch hier sichert also die „typisch deutsche Gründlichkeit" den richtigen Umgang mit den brisanten Unterlagen. Daß der BStU Wert legt auf die peinlich genaue Beachtung der zu § 40 II StUG ergangenen Arbeitsanweisungen bedarf keiner näheren Erläuterung mehr. Was die Sicherung vor unbefugtem Zugriff angeht, nimmt die Behörde die Angelegenheit also sehr genau. Parallel zu den Arbeitsanweisungen und ihrer innerbehördlichen Kontrolle gibt es noch die eigentliche Datenschutzkontrolle nach dem BDSG (§§ 24f. BDSG). Diese wird in der Weise durchgeführt, daß ein Referent des BfD beim BStU eingerichtet ist und die Datenschutzkontrolle in Permanenz durchführt. Die Zusammenarbeit zwischen BStU und BfD ist gut; Beanstandungen der Datenschutzmaßnahmen des BStU (§ 40 II Nr. 9 StUG) hat es noch keine gegeben.143 Auch das ist ein ι « Vgl. auch die Stellungnahme des BStU zu TOP 1 der 11. Sitzung des BT-InnenA-UA, ebenda Prot. (11. Sitzung), S. 13f.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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Fingerzeig dafür, wie ernst die Schwierigkeiten im Umgang mit den Unterlagen genommen werden.

5. Folgerungen Erstens: Die Einrichtung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ist so bislang einzigartig. Man nehme bewährte Grundsätze aus dem BDSG und dem BArchG und verknüpfe das Ganze mit einer lediglich formalen Einbettung in die Exekutive, und man erhält eine Bundesoberbehörde, die keine normale Verwaltungsbehörde mehr ist. Das wird durch die parlamentarischen Einflußmöglichkeiten noch unterstrichen. Diese Konstruktion hat sich bislang bewährt und ist der Sache nach auch angemessen. Daß der Gesetzgeber Aufgaben und Befugnisse der Behörde in einer Norm untergebracht hat, statt Zuständigkeitsnorm und Ermächtigungsgrundlage sauber zu trennen, stellt einen Schönheitsfehler dar, der bei Gelegenheit korrigiert werden sollte. Zweitens: Was die Beteiligung der Länder an der Tätigkeit des BStU angeht, so ist zunächst festzuhalten, daß der Gesetzgeber eine Reihe wichtiger Begrifflichkeiten der Ausgestaltung durch die Staatspraxis überlassen hat. Das muß kein Manko sein, wenn die Konstruktion im übrigen in sich stimmig ist. Das ist aber nicht der Fall. Das Gesetz sieht die Einrichtung von Laba vor, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wofür diese gut sein sollen. 144 Die Laba-Konstruktion entstammt ursprünglich dem Modell einer dezentralen Unterlagenverwaltung durch die betroffenen 6 Bundesländer, also einem Modell, das ausdrücklich nicht Gegenstand des Gesetzes geworden ist. Der Beirat gehört im Prinzip auch zu dem abgelehnten Modell. Erstmals war von der Errichtung eines Beirats die Rede im Alt-Ε des StUG. Mitglieder des Beirats sollten Personen sein, die aufgrund ihres gesellschaftlichen Engagements, zum Beispiel bei der Auflösung des MfS, ausgewählt werden sollten. 145 Der Reg-Ε hat diese Beiratskonstruktion übernommen, die Bürgerkomponente jedoch entfernt und dafür den Bundestag und die Ländervertreter eingesetzt. 143 Diese Angaben beruhen auf Auskünften, die der seinerzeitige Pressesprecher der „Gauck-Behörde", Gill, dem Verfasser in einem persönlichen Gespräch erteilte. In seinem 14. Tätigkeitsbericht für das Jahr 1992 kommt der BfD aber durchaus zu einer Beanstandung im Hinblick auf den BStU; vgl. BfD-Bericht, S. 15. Im Ganzen widme der BStU aber dem Datenschutz große Aufmerksamkeit. Der BfD folgert aus seinen Kontrollen beim BStU: „Erfreulicherweise ergab sich ... nur wenig Anlaß zu Kritik."; BfD-Bericht, S. 38.

1 44 Weichert, ZRP 1992, 241 (243) vermutet, daß u. a. die unzureichende Kontrolle durch die Laba sogar beabsichtigt war. Eine merkwürdige Vermutung (!), angesichts der Tatsachen; was sollte wohl sonst damit beabsichtigt worden sein? Vgl. auch die drastische Kritik an Weichert bei Schmidt, ZRP 1993, 72. Vgl. den Alt-Ε, BT-Drucks. 12/692, zu § 7 II.

144

3. Teil: Der Inhalt des StUG

Im übrigen wurde auch die Grundaufgabe des Beirats, von einer Kontrollinstanz hin zu einer Beratungsinstanz, durch den Reg-Ε verändert. 146 Weder der Beirat noch die Laba passen in ihrer gegenwärtigen Form aus Ländersicht richtig ins StUG. Nun stört es erheblich, daß wichtige Begriffe vom Gesetz nirgendwo näher erläutert werden. Gemeint sind ζ. B. der Inhalt der Länderinteressen, die landesspezifischen Besonderheiten, die grundsätzlichen Angelegenheiten usw. Die jetzige Form der Länderbeteiligung läßt sich nur mit der Überlegung rechtfertigen, daß es nicht angängig war, eine Bundesoberbehörde zu errichten, deren Leiter sachlich unabhängig sein und nur einer Rechts- bzw. Dienstaufsicht durch die BReg. unterliegen sollte, wenn zu gleicher Zeit bestimmte Bundesländer der Sache nach Einflußmöglichkeiten haben sollten. Wenn man dieser vertretbaren Überlegung aber zuneigt, dann muß man auch konsequent sein. Entweder der BStU ist unabhängig, so will es das Gesetz, dann bleiben die Länder außen vor; dann bedarf es für die Länder weder der Laba, noch des Beirats. Oder man erkennt berechtigte Länderinteressen an, dies macht das StUG widersprüchlicherweise auch, dann muß man den Ländern auch materielle Einflußmöglichkeiten einräumen. Man könnte ζ. B. an bindende Empfehlungen des Beirats an den BStU denken. Allerdings würde dann die Verwaltungszuständigkeit des Bundes in bedenklicher Weise in Frage gestellt. Im Ergebnis vermag die Konstruktion der Länderbeteiligung nach dem StUG nicht zu überzeugen. Drittens: Überzeugend ist dagegen die in § 40 StUG niedergelegte Konzeption zum Schutz der Unterlagen gegen unbefugten Zugriff und deren Umsetzung durch den BStU. Die peinlich genaue Beachtung der - im übrigen „typisch deutschen", das heißt stark formalisierten und bürokratischen - Arbeitsanweisungen, erreicht den gewünschten Zweck. Es besteht kein Grund, sich über den umfangreichen Kontrollapparat zu erheben. Die Natur des Materials und die vielschichtigen Motive der „Interessenten" rechtfertigen eine totale Zugriffskontrolle. Vervollständigt wird das Konzept durch die vom BfD in der „Gauck-Behörde" praktisch durchgeführte permanente Datenschutzkontrolle nach dem BDSG.

IV. Der fünfte Abschnitt In diesem letzten Teil des Gesetzes finden sich die Schlußvorschriften. Genaugenommen ist es ein Sammelsurium von miteinander nicht zusammenhängenden Aspekten. Beim Durchlesen des Abschnitts hat man das Gefühl, hier das wiederzufinden, wofür der Gesetzgeber keinen rechten Platz an anderer Stelle wußte.

146 Vgl. auch Ermisch, BR-Prot. (638. Sitzung), Anlage 6, S. 612 (613). Nach BT-InnenAProt. (15. Sitzung), S. 43f. beruht die jetzige Beiratskonstruktion auf einem Vorschlag des Berliner Datenschutzbeauftragten Garstka, dem der Gesetzgeber gefolgt ist.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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1. Die Kostenregelung Amtshandlungen im Sinne von § 42 I 1 StUG sind die Auskunft über das Vorhandensein von Unterlagen, die Einsicht in Unterlagen, die Herausgabe von Duplikaten dieser Unterlagen sowie die Anonymisierung/Löschung personenbezogener Informationen. Mögliche Kostenschuldner sind Betroffene/Dritte, nahe Angehörige dieser Personen, ehemalige MfS- Mitarbeiter/Begünstigte des MfS und andere nicht-öffentliche Stellen, die Unterlagen in bestimmter Weise verwenden (§§ 20, 21, 32, 34 StUG). Der Kostenbegriff wird vom Gesetz legal definiert als Gebühren und Auslagen. Eine nähere Definition dieser beiden Begriffe unterbleibt, allerdings kann insoweit auf die gängigen Definitionen der Verwaltungspraxis zurückgegriffen werden. a) Gebühren Das BVerfG versteht zum Beispiel unter Gebühren „öffentlich-rechtliche Geldleistungen", die aus Anlaß individuell zurechenbarer öffentlicher Leistung dem Gebührenschuldner durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder sonstige hoheitliche Maßnahmen auferlegt werden und dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken. 147 Da hier an konkrete Amtshandlungen angeknüpft wird, handelt es sich bei den Gebühren in § 42 I StUG um geradezu klassische Verwaltungsgebühren, wie sie im Bereich der Leistungsverwaltung überall zu finden sind. Die ζ. T. ungeschriebenen Voraussetzungen des § 42 11 StUG sind folgende: - Antrag auf Vornahme einer Amtshandlung nach den §§ 13-17 StUG bzw. §§20 und 21 StUG. Die letztgenannten Normen betreffen nur nicht-öffentliche Stellen. Dabei dürfen an das Antragserfordernis keine allzu hohen Voraussetzungen geknüpft werden. Die bloße Bitte an den BStU, in zulässiger Weise tätig zu werden, dürfte bereits ausreichen. Allerdings begründet ein bloßes behördeninternes Handeln keine Gebührenpflicht. Der BStU muß schon nach außen in Erscheinung treten. Sonstige Amtshandlungen des BStU sind nicht kostenpflichtig. - Durch einen potentiellen Kostenschuldner. Das ist prinzipiell jeder, der sich an den BStU in einer im Gesetz vorgesehenen Weise wendet. Ob tatsächlich eine Kostentragungspflicht besteht und in welcher Höhe, wird erst nach der Vornahme oder Nichtvornahme der begehrten Amtshandlung durch den BStU entschieden. Das Gesetz definiert aber in § 42 I 3 StUG bereits eine Ausnahme zugunsten von Betroffenen, Dritten und nahen Angehörigen vermißter oder verstorbener Personen, die generell nicht zu den Kosten von Auskünften bzw. Einsichtnahmen herangezogen werden. Hier wird die Opferschutzperspektive konsequent umgesetzt. Es versteht sich auch von selbst, bei den Angehörigen i. S. d. § 15 StUG eine Parallelität zu Betroffenen und Dritten im Kostenbereich vor147 Vgl. BVerfGE 50, 217 (226). 10 Engel

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

zusehen. Hinsichtlich ihrer Rechte behandelt das Gesetz nahe Angehörige ähnlich wie Betroffene und Dritte, weil eine vergleichbare Interessenlage besteht. 148 Einen wesentlichen Bereich möglicher Kostenschuldner hatte das Gesetz jedoch anfangs vergessen, nämlich Wissenschaft und Medien. Antragsteller aus diesen Bereichen waren ursprünglich keine Kostenschuldner i. S. d. Gesetzes. Dieses Resultat war vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt.149 Tatsache ist jedenfalls gewesen, daß die letztgenannten Interessengruppen niemals Kostenschuldner waren, 150 während die Opfer für die Herausgabe von Duplikaten Geld bezahlen mußten. Die angesprochene Ausnahme für Betroffene und Dritte erstreckte sich nur auf die Amtshandlungen „Auskunft" bzw. „Einsicht". Es handelte sich um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers, welches mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bereinigt worden ist. 1 5 1 - Vornahme der begehrten Amtshandlung durch den BStU. In den Fällen des Widerrufs oder der Rücknahme einer Amtshandlung, der Ablehnung oder Zurücknahme eines Antrags auf Vornahme einer Amtshandlung sowie der Zurückweisung oder Zurücknahme des Widerspruchs sind ebenfalls Kosten zu erheben (§ 42 I 2 StUG). Wenn es um die Ablehnung oder Rücknahme von Anträgen geht, sollten die Kosten jedoch nur einen Bruchteil der für die Amtshandlung vorgesehenen betragen. Zum einen ist der Verwaltungsaufwand für die Nichtvornahme der Amtshandlung weniger hoch als für die Vornahme. Zum andern sollte hier zum geringen Antragserfordernis noch der Umstand als gebührenbegründend hinzukommen, daß der Beteiligte durch die begehrte Maßnahme be148 Das war in der Ursprungsfassung des Gesetzes auch nicht so. Erst mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (2. StUÄndG), BGBl. I (1994), S. 1748 hat der Gesetzgeber den § 42 I 3 StUG so gefaßt. Vgl. den Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/ 7878, S. 4 und S. 6; Bericht des BT-InnenA, BT-Drucks. 12/8132, S. 5. Vgl. auch Geiger, NJW 1994, 2676 (2677). 149 Vgl. aber (zweifelnd) S/D, § 42 Rdnr. 5.

1 50 Das hatte zur Folge, daß Journalisten und Forscher ohne jedes Kostenrisiko aufwendige Recherchen veranlassen konnten, deren Kosten, insbesondere erhebliche Aufwendungen für Kopien, der Bundeskasse zur Last fielen. Es war daher nur gerecht und kein „Anschlag" auf die Forschungs- und Pressefreiheit, wenn diese Interessenten mit in die Kostenregelung einbezogen wurden. „Dir. Dr. Geiger ergänzt hierzu, daß pro Woche ca. 50-70 Medienvertreter in der Behörde verkehrten, die Unterlagen erhielten. Der Umfang des herausgegebenen Materials liege zwischen 15 Seiten und teilweise 600 bis 800 Kopien."; BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 31. 151 BGBl. I (1994), S. 1748; vgl. den Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/7878, S. 6; BT-InnenA-Bericht, BT-Drucks. 12/8132, S. 5. Krit. Barbe, BT-InnenA-Prot. (101. Sitzung), S. 27, die eine Einschränkung der Veröffentlichungs- und Forschungsfreiheit für Einzelforscher und freie Journalisten befürchtet; dies., BT-Prot. (237. Sitzung, Nachtrag) Anlage 6, S. 20918. Ebenso: Lowack, BT-Prot. (237. Sitzung), S. 20879; Köppe, BT-Prot. (237. Sitzung, Nachtrag), Anlage 7, S. 20919 (20920). Dagegen: Marx, BT-Prot. (237. Sitzung), S. 20878, die folgert, „daß für die Herausgabe von Dokumenten neben den Kopierkosten noch eine Gebühr von 10 bis 15 DM anfällt - also der Preis einer Pizza."; ferner: Schmieder, BT-Prot. (237. Sitzung, Nachtrag), Anlage 7, S. 20919; Geiger, NJW 1994, 2676 (2677f.). Vgl. auch (krit.) Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (390).

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

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günstigt wird, was bei einer Nichtvornahme regelmäßig nicht der Fall sein wird. Es kann im übrigen auch nicht angehen, daß der BStU bei der bestehenden Arbeitsüberlastung relativ geringfügigen Kosten „nachläuft" in Verfahren, die bereits mit einer Negativauskunft an den Antragenden beendet worden sind. - Damit ist aber noch nicht der komplette Gebührentatbestand umschrieben; es fehlen insbesondere Aussagen zum Gebührenmaßstab, zur Form der Gebührenveranlagung und zur Fälligkeit der Gebühren im Gesetz. Daher sieht das Gesetz in § 42 II StUG vor, daß der BMI durch Rechtsverordnung die gebührenpflichtigen Tatbestände und Gebührensätze näher bestimmt. 152 Eine derartige Verfahrensweise ist heute üblich geworden und hier auch nicht zu beanstanden, da das Gesetz jedenfalls die Essentialia der Gebührenerhebung selbst regelt.

b) Auslagen Dabei handelt es sich um solche Geldleistungen, die im Zusammenhang mit der Amtshandlung stehen, ohne bereits Bestandteil einer Gebühr zu sein. Im Falle des StUG sind dies ζ. B. Aufwendungen für die Erstellung von Abschriften bzw. Duplikaten von Unterlagen für die Beteiligten auf deren Antrag hin. Auslagen sind auch die Postgebühren und Schreibauslagen des BStU im Rahmen des Schriftverkehrs mit dem Antragsteller sowie die Kosten für die Bereitstellung von Räumen, um Beteiligten in der Zentrale und in den Außenstellen Gelegenheit zur Einsicht in die Unterlagen zu geben. Ferner umfaßt der Auslagenbegriff die Kosten für den Transport von Unterlagen zu diesem Zweck. Hierher gehören auch die Kosten für eine Beratung der Antragsteller im Vorfeld durch den BStU, wenn dann tatsächlich ein bestimmter Antrag gestellt wird.

2. Das Konkurrenzverhältnis zu anderen Gesetzen Aus § 43 S. 1 StUG ergibt sich, daß das Stasi-Unterlagen-Gesetz gegenüber allen anderen gesetzlichen Regelungen lex specialis sein soll. Lediglich im Hinblick auf das BDSG soll für einige Bestimmungen des BDSG (§§ 2, 3, 20, 24ff.) etwas anderes gelten (vgl. § 43 S. 2 StUG). 153 Diese auf den ersten Blick sinnvolle Vorrangklausel enthält jedoch zwei Einschränkungen, die am praktischen Wert der Norm zweifeln lassen. Da ist - erstens - die Beschränkung des StUG-Vorrangs auf die Übermittlung von - zweitens - personenbezogenen Informationen. Wenn das StUG nur für die Übermittlung von Informationen Vorrang genösse, würden bei 152 Hier: die Stasi-Unterlagen-Kostenordnung - StUKostV - v. 13. 07. 1992; BGBl. I S. 1241. 153 Vgl. zu diesem Punkt auch die beiden Beiträge von Schmidt, RDV 1991, 174ff. bzw. ders. RDV 1992, 183ff.; G/K, § 43 Rdnr. 3; VG Berlin, LKV 1992, 419; OVG Berlin, LKV 1992, 417. 10*

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

der sonstigen Verarbeitung bzw. Verwendung von Stasi-Unterlagen die übrigen Gesetze neben dem StUG fortgelten. Das kann aber im Hinblick auf öffentliche und nicht-öffentliche Stellen nicht richtig sein. Diese dürfen nämlich gem. § 4 1 1 StUG Stasi-Unterlagen nur verwenden, soweit das StUG es erlaubt oder anordnet. Dementsprechend widerspricht die Gesetzeslücke, die sich durch die Beschränkung auf personenbezogene Informationen eröffnet, auch der Regelung des § 4 I 1 StUG. Ein sachlicher Grund für diese beiden Einschränkungen ist nicht zu sehen.154 Allerdings wird die Lückenhaftigkeit des § 43 dadurch wieder relativiert, daß § 4 I 1 StUG auch die in § 43 StUG nicht umfaßten Tätigkeiten bzw. Informationen regelt. Der Begriff der Verwendung umfaßt nämlich begrifflich die Verarbeitung einschließlich der Übermittlung - und die Nutzung von Informationen, und zwar auch solcher ohne Personenbezug.155 Im Unterschied zu Satz 1 ist in Satz 2 des § 43 StUG der Vorrang des StUG gegenüber dem BDSG umfassend ausgestaltet, das heißt er ist nicht auf die Übermittlung bzw. auf die personenbezogenen Informationen beschränkt.

3. Strafe und Bußgeld a) Strafe § 44 StUG ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Norm im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung praktisch „zurechtgebogen" wird. 1 5 6 Ursprünglich sah der Reg-Ε vor, die entsprechende Strafvorschrift des § 43 BDSG im wesentlichen zu übernehmen und nur das Strafmaß angemessen im Hinblick auf die zu regelnde Materie zu erhöhen. 157 Strafbar wäre demnach nur das vorsätzliche unbefugte Speichern, Verändern, Übermitteln, Nutzen und Veröffentlichen der vom StUG geschützten, nicht offenkundigen, personenbezogenen Informationen gewesen. Anschließend brach ein Sturm der Entrüstung seitens der Presse aus. So war u. a. zu hören, es handele sich um einen „Maulkorb-Paragraphen". 158 Dieser Einflußnahme der Medien beugte sich der Ge154

Stoltenberg, § 43 Rdnr. 2 vermutet ein Versehen des Gesetzgebers. Tatsächlich schleppte sich die mißglückte Gesetzesfassung von BT-Drucks. 12/1093 (Reg.-E), S. 28 (zu § 35) an durch das gesamte Gesetzgebungsverfahren. 155 Vgl. Stoltenberg, § 43 Rdnr. 2 unter Hinweis auf § 3 V und V I BDSG. 156

Dieses „Zurechtbiegen" geschah - ungewöhnlicherweise - erst kurz vor dem Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens im Bundestag, nämlich erst in der gemeinsamen zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes. 157 Vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 28 (zu § 36 StUG-E); s. a. die praktisch unveränderte Form in BT-Drucks. 12/1540, S. 43f. 158 So der Deutsche Journalistenverband in seiner Pressemitteilung vom 31. 10. 1991; vgl. auch die Pressemitteilung dess. vom 06. 11. 1991; ähnlich: DER SPIEGEL, Nr. 45/1991, S. 23f. („Staatsgeheimnis Stasi", „große Koalition der Vertuscher"); ferner: „Die Zeit", vom

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

149

setzgeber. 159 Die Gesetz gewordene Textfassung, die unter dem Druck der öffentlichen Meinung zustandegekommen ist, ist gegenüber der ursprünglichen erheblich „aufgeweicht" worden. Zwar ist der gesetzte Strafrahmen noch derjenige der Ursprungsfassung, aber auf der Tatbestandsseite der Norm hat es erhebliche Veränderungen gegeben. Bestraft wird nur noch die öffentliche Mitteilung der nach dem StUG geschützten Originalunterlagen oder Duplikate von Originalunterlagen mit personenbezogenen Informationen über Betroffene und Dritte, wenn diese ganz oder in wesentlichen Teilen im Wortlaut erfolgt, sofern nicht der Betroffene oder Dritte eingewilligt hat. Auf die Herkunft der Unterlagen kommt es nicht an; ob das veröffentlichte Material von Betroffenen, Dritten, oder sonstigen Beteiligten zugetragen wurde bzw. ob die veröffentlichende Stelle das Material rechtmäßig oder rechtswidrig erlangt hat, ist gleichgültig, solange es sich nur um durch § 441 StUG erfaßte Unterlagen handelt. 160 Das bedeutet zunächst, daß die öffentliche Wortlautdarstellung aus Stasi-Unterlagen über Opfer in indirekter Rede mit geringfügigen sprachlichen Abweichungen ein strafrechtlich relevantes Verhalten nicht mehr zu begründen vermag. 161 Eine wörtliche Veröffentlichung des Inhalts von Aufzeichnungen über oder Abschriften von Originalen oder Duplikaten ist ebenso strafrechtlich irrelevant. Selbst wer tatbestandlich im obigen Sinne handelt, wird nicht bestraft, wenn er die rechtfertigende Einwilligung des Opfers hat. Dies wird praktisch immer der Fall sein, nicht zuletzt wegen des finanziellen Hintergrundes, der mit einer Veröffentlichung der Unterlagen für das Opfer verbunden ist. Auch einen strafrechtlichen Schutz der Täterunterlagen vor unbefugter Veröffentlichung gibt es nicht mehr. Man fragt sich unwillkürlich, welches Verhalten 15. 11. 1991 („Unter Ausschluß der Öffentlichkeit"; „Soll die Geschichte des Unrechts verschleiert werden?"); „Die Welt", vom 02. 11. 1991 („Stasi-Akten mit Maulkorb?"); „Saarbrücker Zeitung", vom 03. 11. 1991 („Das dient dem Schutz der Täter"); „Süddeutsche Zeitung", vom 06. 11. 1991 („Verleger drohen mit Verfassungsklage". Vgl. auch das „taz"-Interview mit Gauck, „taz", vom 12. 11. 1991 („Ich werde kein Zensor sein"). Vgl. ferner: S/D, § 44 Rdnr. 2. 159

Vgl. die Stellungnahme des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger vom 05. 11. 1991 gegenüber dem Bundestag; ähnlich auch die Stellungnahme des Verbands Deutscher Zeitungsverleger vom 08. 11. 1991. Vgl. auch „Kölner Stadt-Anzeiger" vom 08. 11. 1991 („Journalistenkritik irritiert die SPD"). Am 11. 11. 1991 fand ein Gespräch mit Vertretern von Presse und Rundfunk über die Vorschriften des Gesetzentwurfes statt, die die Interessen der Medien berührten. Im Anschluß daran wurde der Gesetzentwurf so geändert wie er danach Gesetz wurde; vgl. BT-Drucks. 12/1563 vom 13. 11. 1991; Presseerklärung der SPD Nr. 2930 vom 12. 11. 1991 zum Stasi-Unterlagen-Gesetz. 160 Dieser Punkt ist kontrovers gesehen worden. Vgl. Otto, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4722 (4723), der das Gesetz so versteht, als wäre die Veröffentlichung von Unterlagen ausgeschlossen, es sei denn, daß „die von Gauck freigegebenen Unterlagen veröffentlicht werden ...". Folgerichtig hat er auch beantragt, das StUG zugunsten der Presse abzuändern; vgl. den Änderungsantrag von Otto vom 12. 11. 1991. 161 Vgl. die Folgerung von Reinartz, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4716; ebenso: Stoltenberg, DtZ 1992, 64 (72); Gounolakis/Vollmann, DtZ 1992, 77 (78); dies. AfP 1992, 36 (40), Kloepfer, S. 84, 9Iff., 118ff., welche alle die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift bezweifeln; Eberle, DtZ 1992, 263 (264).

150

3. Teil: Der Inhalt des StUG

denn jetzt noch bestraft wird. Jedenfalls ist die anfängliche Zielsetzung einer Anlehnung an das BDSG verfehlt worden. Stattdessen ist die Norm nun an der Fassung des § 353 d Nr. 3 StGB orientiert. Auch dieser verbietet das wörtliche Zitieren, nicht jedoch eine inhaltsgleiche Veröffentlichung unter Bezugnahme auf die verwendeten Quellen. Damit laden beide Vorschriften geradezu zu einer kaum überprüfbaren, nur sinngemäßen Berichterstattung e i n . 1 6 2 Die personenbezogenen Informationen über Stasi-Opfer werden jetzt geringer geschützt als jede andere personenbezogene Information nach dem B D S G . 1 6 3 Folglich besteht hier akuter Novellierungsbedarf. 1 6 4 Damit erhebt sich die Frage, wie die Norm de lege ferenda denn gefaßt sein müßte, um ihre Schutzrichtung zu realisieren. Das hängt davon ab, welche Verhaltensweisen man bestrafen will. In persönlicher Hinsicht werden dem Tatbestand Grenzen zu setzen sein was die personenbezogenen Informationen über Betroffene und Dritte angeht. Nur diese Personen sind schutzwürdig. Dies folgt aus der Intention des StUG, die Täter nicht zu schützen. In sachlicher Hinsicht sind zwei Verhaltensweisen sanktionswürdig. Z u m einen die ungenehmigte Veröffentlichung von Opferinformationen und zum anderen i m Vorfeld - die unbefugte Übermittlung solcher Informationen. 1 6 5 Denn es muß

162 Vgl. auch Schuppert, AfP 1992, 105 ( l l l f . ) , der § 44 StUG deshalb für untauglich und verfassungswidrig hält; das dürfte aber zu weit gehen, vgl. für das analoge Problem des § 353d Nr. 3 StGB: BVerfGE 71, 206 (213). § 44 StUG ist immerhin bedingt tauglich, seinen Zweck zu erfüllen, das würde aber ausreichen, um die Norm zu halten; ähnlich auch Staff, ZRP 1993, 46 (50); Klinghardt, NJ 1992, 185 (187). 163 Vgl. auch Marx, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4708 (4709); Hirsch, in: Hassemer/Starzacher-Hirsch, S. 55 (57); Mötsch, Helmrich-FS, S. 95 (106). Ebenso sieht dies auch der BfD, BfD-Bericht, S. 37. Diese Tatsachen haben Gounolakis, DtZ 1993, 307 aber nicht daran gehindert, zu behaupten, § 44 StUG werfe die Frage auf, ob er mit der durch Art. 5 12 GG geschützten publizistischen Verbreitungsfreiheit vereinbar sei. Die Norm lasse angeblich nicht genügend Raum für eine Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit anhand der Umstände des Einzelfalls. Dieser Einwand geht fehl. In der jetzigen Fassung muß die Presse sich schon „sehr anstrengen", um überhaupt eine Kollisionslage herbeizuführen, die eine Interessenabwägung notwendig machen würde. Der Tatbestand des § 44 StUG ist so weich gefaßt, daß er spielend umgangen werden kann. Selbst wenn er einschlägig ist, muß immer noch der Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen beachtet werden. Eine Pressestrafbarkeit nach § 44 StUG ist daher nicht der Regelfall, sondern die absolute Ausnahme für einen ungeschickten Umgang mit den Stasi-Unterlagen. Mit der gesetzlichen Regelung sind die Medienvertreter immer noch nicht zufrieden, vgl. die Stellungnahme des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger vom 13. 11. 1991 an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages bzw. die Stellungnahme des Verbandes Deutscher ZeitungsVerleger vom 13. 11. 1991, die ebenfalls an den Innenausschuß gerichtet war. 164 Alle Bemühungen des Gesetzgebers den § 44 StUG noch in der 12. Legislaturperiode abzuändern sind gescheitert. Obwohl der Handlungsbedarf anerkannt wurde, vermochten sich die Einbringerfraktionen (CDU/CSU, SPD und F.D.P) nicht auf einen einheitlichen Entwurf zu einigen. Scheinbar ist der Gesetzgeber vor der befürchteten Medienreaktion „aus taktischen Gründen" zurückgewichen; vgl. aber BT-InnenA-Prot. (101. Sitzung), S. 25, S. 27; ferner: (bedauernd) Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (390).

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

151

auf jeden Fall verhindert werden, daß personenbezogene Informationen über Betroffene und Dritte verkehrsfähig gemacht werden. Strafbar handeln dabei jene Personen, die durch ihr Tun die Gefahrengrenze überschreiten, d. h. es geht um die übermittelnde bzw. die veröffentlichende Person oder Stelle. Die bloße Annahme von Informationen oder der bloße Besitz der Informationen sollten grds. straflos sein; es sei denn die Annahme bzw. der Besitz seien mit der Absicht verbunden, eine der strafbaren Verhaltensweisen zu realisieren. Auf diese Weise könnte man dem Informationszwischenhandel (MfS-Seilschaften, politische Tätergruppen etc.) wirksam begegnen. Einer Versuchsstrafbarkeit dagegen bedarf es nicht, da die fehlgeschlagene Veröffentlichung bzw. Übermittlung die Grenze der Gefährdung des geschützten Rechtsgutes noch nicht überschreitet. Die im Versuch steckengebliebene Veröffentlichung oder Übermittlung kommt nämlich der Nicht-Veröffentlichung bzw. Nicht-Übermittlung gleich, selbst wenn der Versuch in odiöser Absicht unternommen worden sein sollte. Der Straftatbestand ist also ein reinblütiges Erfolgsdelikt. Um einen effektiven Schutz der fraglichen Informationen zu erreichen, ist es nötig, jede Form der Veröffentlichung oder Übermittlung unter Strafe zu stellen. Denn die Rechtsgutverletzung ist auch in der Weise möglich, daß personenbezogene Information mündlich übermittelt oder veröffentlicht werden. Es darf keinen Unterschied machen, ob die veröffentlichende bzw. übermittelnde Person oder Stelle sich des Mediums Sprache oder Schrift bedient, solange jenes Herrschaftswissen inhaltlich verbreitet wird, welches das MfS angehäuft hatte. Bei der Fassung des Tatbestandes muß aber berücksichtigt werden, daß das Rechtsgut nur solange gefährdet bzw. verletzt sein kann, soweit die veröffentlichten oder übermittelten Informationen noch nicht bekannt sind. Ist dies der Fall oder sind die Informationen gar offenkundig, kann der Schutzzweck nicht mehr erreicht werden. Die wiederholte Veröffentlichung - auch wenn sie rechtswidrig ist - ist daher ungeeignet den Straftatbestand zu erfüllen. Sie bewirkt regelmäßig keinen neuen Schaden beim Betroffenen oder Dritten bzw. sie vertieft den bestehenden Schaden nicht. Schließlich muß man noch dem Umstand Rechnung tragen, daß der jeweilige Betroffene oder Dritte über seine personenbezogenen Informationen prinzipiell 165 Α. A. ist die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die Gruppe wollte in ihrem Entwurf die unbefugte Übermittlung von Informationen nicht tatbestandlich erfassen, da „in der Regel unüberwindbare Probleme der juristischen Praxis" bestehen, die Übermittlung festzustellen. Dem Betroffenen oder Dritten werde die unbefugte Übermittlung erst bekannt werden, wenn die Information veröffentlicht würde. Vgl. Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Sitzung des BT-InnenA vom Ol. 12. 1993, Ziff. 1 der Begründung. Gegen diese Ansicht spricht aber, daß damit nur die veröffentlichende Person bestraft würde. Der gewerbsmäßige Informationshändler, der auf der Basis einer „privaten Giftküche" Informationen aus Stasi-Unterlagen an einen unbestimmten Kundenkreis liefert, bliebe straffrei. Der Handel mit Informationen im Vorfeld der Veröffentlichung muß aber auch sanktioniert werden.

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3. Teil: Der Inhalt des StUG

verfügen kann. Daher muß die Einwilligung (voherige Zustimmung) oder die Genehmigung (nachträgliche Zustimmung) der betroffenen Person zum Wegfall der Strafbarkeit führen. Die mündliche Zustimmung muß ausreichend sein, wenn sie gegenüber der veröffentlichenden oder übermittelnden Person oder Stelle erklärt wird. Man könnte alternativ auf die Möglichkeit der nachträglichen Genehmigung verzichten, wenn man die Tat als Antragsdelikt ausgestalten würde. 166 Dagegen bestehen jedoch Bedenken, weil die Informationen in den Unterlagen, wie die Unterlagen selbst dem BStU gehören. Ihre Übermittlung und Veröffentlichung liegt daher auch im öffentlichen Interesse. Im Falle eines reinen Antragsdelikts ist die gesamte Materie praktisch frei verfügbar, wenn der Betroffene oder Dritte von der Veröffentlichung oder Übermittlung nichts erfährt. 167 Ihre Zustimmung kann die fragliche Person jedoch nur geben, wenn sie auch Kenntnis erlangt hat. Eine Kombination von Antragsdelikt und Verfolgung bei Bejahung des öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft scheitert daran, daß sie der Konzeption des StUG widerspricht. Gibt der Betroffene oder Dritte durch seine Zustimmung zu erkennen, daß er gegen die Veröffentlichung/Übermittlung nichts einzuwenden hat, so soll das an sich bestehende öffentliche Interesse dahinter zurückstehen. § 44 StUG könnte dann folgendermaßen neu gefaßt werden: „Wer personenbezogene Informationen über Betroffene oder Dritte aus Unterlagen i. S. dieses Gesetzes ganz oder teilweise veröffentlicht oder den Inhalt solcher Unterlagen ganz oder teilweise unbefugt übermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Das gilt nicht, wenn der Betroffene oder Dritte der Veröffentlichung oder Übermittlung zugestimmt hat oder die Informationen bereits zuvor in anderer Weise bekannt geworden sind."

b) Bußgeld Die Bußgeldpflicht des § 45 StUG richtet sich ausschließlich an Personen im nicht-öffentlichen Bereich. Sanktionen gegen öffentliche Stellen werden nicht ausgesprochen, da davon ausgegangen werden kann, daß die Erfüllung der Anzeigeund Herausgabepflicht durch diese Stellen mit disziplinarrechtlichen Mitteln erzwungen werden kann. Auffällig ist das Höchstmaß der angedrohten Geldbuße von 500.000 DM (zum Vergleich: § 44 II BDSG: 50.000 DM). Der Gesetzgeber wollte durch die Höhe der Geldbuße Druck ausüben und zwar insbesondere auf die

166 Vgl. den Vorschlag des BfD auf der 8. Sitzung des BT-InnenA-UA, ebenda Prot. (8. Sitzung), S. 37. Der Vorschlag wurde abgelehnt, vgl. ebenda, S. 38. Im Innenausschuß hat der BfD seinen Vorschlag dann wiederholt; vgl. BT-InnenA-Prot. (17. Sitzung), S. 48. Auch diesmal blieb er ohne Erfolg. Für ein Antragsdelikt auch der Entwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vgl. den Änderungsantrag dieser Gruppe zur InnenA-Sitzung vom 01. 12. 1993. 167 Vgl. G/K, § 44 Rdnr. 7.

1. Kap.: Die einzelnen Vorschriften des StUG

153

Medien, soweit sie sich in der Wendezeit illegal Stasi-Unterlagen beschafft hatten. Ordnungswidrig handelt nach § 45 StUG, wer entweder - als natürliche Person oder nicht-öffentliche Stelle nicht unverzüglich anzeigt, daß sich Original-Stasi-Unterlagen, Kopien, Duplikate oder sonstige Abschriften in seinem Besitz befinden, - als natürliche Person oder nicht-öffentliche Stelle solche Unterlagen nicht oder nicht rechtzeitig an den Bundesbeauftragten herausgibt, obwohl dieser die Herausgabe verlangt hat, oder - als natürliche Person oder nicht-öffentliche Stelle Stasi-Unterlagen, die sich in seinem Eigentum befinden, nicht dem Bundesbeauftragten zur Anfertigung von Kopien und sonstigen Duplikaten überläßt. Von der gesetzlichen Regelung waren ursprünglich nur Originalunterlagen erfaßt. 168 Die Nichtherausgabe von Duplikaten ist nicht bußgeldbewehrt worden. Das war ein Redaktionsversehen, welches der Gesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bereinigt hat. 1 6 9 Zuständige Bußgeldbehörde ist der BStU. 1 7 0

4. § 47 StUG Die Regelungen des EV zu den Stasi-Unterlagen werden in § 47 I StUG aufgehoben. Das ist nur folgerichtig, da sie von Anfang an als vorläufig betrachtet worden waren und ein Handeln des gesamtdeutschen Gesetzgebers im EV und in der DV zum EV von beiden Vertragsparteien für nötig gehalten wurde. Einer expliziten Aufhebung hätte es allerdings nicht bedurft; ausgehend von dem vorläufigen Charakter der EV-Regelungen und den in § 1 I StUG niedergelegten Zwecken des Gesetzes, die mit der Aufzählung in der DV zum EV große Ähnlichkeit haben, ergibt sich schon schlüssig, daß das StUG jenes Gesetz sein sollte, welches an die vereinbarten Regelungen anknüpfen, d. h. diese ersetzen sollte. § 47 I StUG hat also nur deklaratorischen Charakter. 171 Die Bestimmungen des StUG über den Status des BStU gelten auch für den 1. Amtsinhaber, allerdings braucht er nicht erneut vom Bundestag gewählt zu wer168 Vgl. Kloepfer, S. 44. 169 BGBl. I (1994), S. 1748; vgl. den Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/7878, S. 6; Bericht des BT-Innen-A, BT-Drucks. 12/8132, S. 6; Geiger, NJW 1994, 2676 (2677). 170 Vgl. die „Verordnung über die Zuständigkeit für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nach § 45 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes;" vom 23. 04. 1992 (BGBl. 1992 Teil I, S. 953). 171 Etwas anders: S/D, § 47 Rdnr. 2. Danach soll die Regelung erforderlich sein, um ζ. B. die „vorläufige Benutzerordnung" gegenstandslos zu machen. Angesichts der Rechtsgrundlagen (u. a. EV), auf denen diese Ordnung beruht, ist dies jedoch überflüssig.

154

3. Teil: Der Inhalt des StUG

den. Das ergibt sich aus §§ 47 II 1, 48 II StUG. Überraschend erscheint, daß das Gesetz an die Person des Amtsinhabers anknüpft und diesen „überleitet" (vgl. die Überschrift des § 47 StUG). Überleiten kann man nur Gegenstände (Rechtsverhältnisse, hier: ein Amt), aber keine Personen. Das geht begrifflich nicht; Amtsinhaber treten entweder in den neuen Dienst über oder werden übernommen (vgl. wegen der Begriffe: § 128 BRRG). Was wie ein Redaktionsversehen aussieht, hat aber einen guten Grund. Eine Anknüpfung an das Amt war - da nicht vorhanden nicht möglich; der erste Amtsinhaber amtierte bis zum Inkrafttreten des StUG als „Sonderbeauftragter der Bundesregierung für... „ danach als „Bundesbeauftragter für ... „. Auch die mit den verschiedenen Amtsbezeichnungen verbundenen Wirkungskreise waren im Umfang unterschiedlich. Die jetzigen Möglichkeiten des BStU sind viel weitgehender als die des früheren Sonderbeauftragten. Folglich hat mit dem Inkrafttreten des StUG eine Ämterumwandlung stattgefunden. Dabei ist der bisherige Sonderbeauftragte in der neuen Funktion „übrig geblieben". § 47 II 1 StUG drückt nun den gesellschaftlichen und politischen Konsens aus, ihn auch in der neuen Funktion behalten zu wollen.

5. Inkrafttreten Das Gesetz ist am Tag nach seiner Verkündigung in Kraft getreten (vgl. § 48 I StUG). Es ist am 28. 12. 1991 im BGBl. Teil I, S. 2272ff. verkündet worden; folglich ist es am 29. 12. 1991 in Kraft getreten.

2. Kapitel

Schlußfolgerungen Aus den bisherigen Ausführungen folgt, daß der Gesetzgeber die fundamentalen Probleme einer Regelung des Umgangs mit den Stasi-Unterlagen richtig gesehen hat. Er wollte mit dem StUG im Wege einer Kodifikation das Stasi-UnterlagenProblem mit einem Schlag abschließend regeln. Allerdings ist nicht jede Gesetz gewordene Regelung bereits völlig ausgereift. Insbesondere das Zusammenspiel einzelner Normen und ihre Wechselwirkungen aufeinander machen deutlich, daß noch Unzuträglichkeiten bestehen. Dies gilt ζ. B. bei den Begrifflichkeiten. Recht gut gelungen sind die Normen des ersten Abschnitts des Gesetzes, in denen quasi als allgemeiner Teil des StUG wichtige Aspekte „vor die Klammer gezogen" worden sind. Seit den Tagen der Entstehung des BGB ist dies ein gängiges Prinzip. Noch einmal überarbeitet werden sollten die Normen des zweiten Abschnitts; dies gilt insbesondere für die §§ 8, 9, 11 StUG. Hier sollten die (Herausgabe-)Tat-

2. Kap.: Schlußfolgerungen

155

bestände neu gefaßt werden. Mit der Anzeige- und Herausgabepflicht für „vagabundierende" Unterlagen ist bereits ein Schritt in die richtige Richtung getan. Überzeugend sind die Regelungen des vierten Abschnitts, ausgenommen die §§38 und 39 StUG. Die Beteiligung der neuen Bundesländer stört die Systematik der Unterlagenverwaltung, da in dieser Beteiligung keine Substanz steckt. Auch der Beirat hätte mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden sollen als mit der bloßen Beratung und - in geringem Maße - der Kontrolle des Bundesbeauftragten. Die Schlußvorschriften des fünften Abschnitts begegnen nur im Hinblick auf den mißratenen Straftatbestand Bedenken. Bewußt sind die Normen des dritten Abschnitts bei dieser Vorstellung ausgeklammert worden. Sie sind sozusagen die gesetzlichen „Umgangsformen" mit den Stasi-Akten. Ihnen ist daher ein eigener Teil (5. Teil) gewidmet. Bevor es aber zu einer Würdigung dieser Normen kommt, sollen erst einmal andere kritische Stimmen zum StUG zu Wort kommen.

4. Te i l

Eine frühe Kritik 1. Kapitel

Die Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR und das StUG I. Der Kern der Gesetzeskritik 1. Die Aneignung der Vergangenheit „Wir Ostdeutschen verlieren schon wieder: Der Westen wird sich mit dem .. Stasi-Akten-Gesetz die Macht über einen Teil unserer Vergangenheit aneignen ... Die Bundesregierung kapert mit dem ... Gesetz das alte Herrschaftswissen. Den neuen Bundesländern bleibt kaum Einfluß ... So übel, wie der Gesetzentwurf nun da liegt, so übel kam er auch zustande: Wir, die Bürger der ehemaligen DDR, waren die Opfer der Stasi. Wir haben es geschafft, den Geheimdienst zu zerschlagen. Wir haben zumindest einen Teil der Akten der Maschine Stasi gerettet. Wir haben begonnen zu sortieren, zu weiten, aufzuarbeiten. Die letzte Volkskammer hat unter Gaucks Federführung ein Gesetz verabschiedet, das die weitere Aufklärung der Akte Stasi sichern sollte. Unser Selbstbewußtsein war das von Siegern, und wir wollten Selbstbestimmung. Doch die Bonner Unterhändler zogen uns damals über den Tisch - Stück für Stück ... Nun soll mit dem neuen Gesetz die Macht des Westens über die Vergangenheit des Ostens sanktioniert werden. Für die Bürger im Osten ist das ein Tritt in die Weichteile .. ," 1

1

Konrad Taut (Theologe, Gründungsmitglied des Leipziger Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit), zit. nach: DER SPIEGEL, Nr. 46/1991, S. 28f. Vgl. auch den Aufruf des Bürgerkomitees „15. Januar" e. V. vom 06. 11. 1991, indem zum „Ungehorsam" gegenüber dem (zu erwartenden) StUG aufgerufen wurde, veröffentlicht in: Telegraph Nr. 11/ 1991, 16. Ähnlich liest sich auch die Presseerklärung der Gemeinsamen Kommission der neuen Länder für das Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 09. 09. 1991.

1. Kap.: Die Bürgerbewegungen und das StUG

157

2. Die westdeutsche Bevormundung Diese drastischen Worte sind der Ausdruck starker Gefühle. Das Zitat ist symptomatisch für die Ansichten der ostdeutschen Bürgerbewegungen bzw. ihrer Mitglieder zum StUG. Die Angehörigen der Bürgerkomitees fühlen sich entmündigt und um den Erfolg ihrer Arbeit - eine Aufklärung der MfS-Tätigkeit unter ostdeutscher Federführung - gebracht. Sie trauern dem Volkskammergesetz zu den StasiAkten nach, von dem sie auch heute noch annehmen, daß es dem neuen StUG überlegen war, weil sie an seiner Schaffung unmittelbar beteiligt waren. In diese Trauer mischt sich auch die Enttäuschung darüber, daß „ihr" Volkskammergesetz von den „Wessis" verworfen und nur prinzipiell bei einer endgültigen Lösung der Stasi-Akten-Frage berücksichtigt werden sollte. Nach Ansicht der Mitglieder der Bürgerbewegungen ist damit auch ihr Geist verworfen worden. 2 Es fragt sich nur, was bei nüchtern-juristischer Betrachtung an dieser emotionalen Kritik berechtigt ist. Gewiß haben sich die Bürgerbewegungen große Verdienste erworben, als sie in den Dienststellen des MfS überall im Lande Unterlagen sicherstellten, sammelten und bewachten. Auch scheint die Arbeit der später gewählten 10. Volkskammer nur die logische Fortsetzung der von den Bürgerkomitees geleisteten Vorarbeit zu sein, deren Krönung das am 24. 08. 1990 beschlossene Gesetz über die Unterlagen des ehemaligen MfS sein sollte. Nach dem Willen der Bürgerkomitees sollte damit der Fall Stasi erledigt sein, bevor die neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland beitraten. Man wollte die Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS gleichsam „auf dem Silbertablett" mit in das vereinigte Deutschland bringen. 3 Wie aber die bereits geschilderte Geschichte des Volkskammergesetzes zeigt, ließ sich diese Absicht nicht verwirklichen, da die Bundesregierung Bedenken gegen die ostdeutsche Lösung des Problems, das heißt gegen das spätere Volkskammergesetz, hatte.4 Tatsächlich fragt es sich - und damit steht und fällt die Berechtigung der Kritik - , ob die von den Bürgerkomitees bevorzugte Lösung wirklich eine sachgerechte Aufarbeitung des Problems bedeutet hätte.

2

Den Gipfelpunkt dieser Kritik stellt der „Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik" dar, der von den Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS/AfNS am 10. 02. 1991 „beschlossen" wurde. Sein Wortlaut findet sich bei: Gauck, S. 117ff. Die Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Volkskammergesetz ist unverkennbar. Vgl. auch die kritischen Anmerkungen bei: T., Telegraph, Nr. 11/1991, 17 (19f.). 3 Vgl. auch Haschke, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1456f. 4 Vgl. oben 1. Teil, 2. Kapitel, II.

158

4. Teil: Eine frühe Kritik

II. Die 10. Volkskammer Bedenken ergeben sich zunächst im Hinblick auf das handelnde Organ, nämlich die am 18. 03. 1990 gewählte Volkskammer, deren 10. Wahlperiode am 05. 04. 1990 begann und mit Ablauf des 02. 10. 1990 endete.

1. Die Volkskammer als Revolutionstribunal Fraglich ist schon, ob die Folgerung, die Volkskammer setze die Revolutionsarbeit der Bürgerkomitees für diese fort, richtig ist. Sicherlich war die 10. Volkskammer ein Teil des Prozesses, der mit der Herbstrevolution 1989 eingeleitet wurde. Auch läßt sich nicht leugnen, daß die Volkskammer die Revolutionsinstitution des Runden Tisches ablöste und den oppositionellen Kräften in der ehemaligen DDR damit die demokratische Legitimation gab, den Revolutionsprozeß voranzutreiben.5 Jedoch steht auch fest, daß die Bürgerbewegungen, 6 also die Kräfte, die den Ausgangspunkt der Herbstrevolution von 1989 bildeten und deren besonderes Anliegen die Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS war, in der Volkskammer in der Opposition standen. Es regierte eine Koalition, bestehend aus der konservativen „Allianz für Deutschland". Sie bestand aus der CDU, der SPD und dem „Bund freier Demokraten" (federführend: die FDP). Es handelte sich also um eine Regierung unter maßgeblicher Beteiligung ehemaliger Blockparteien der DDR oder Westparteien.7 Nach einem Revolutionstribunal, das sich der bedingungslosen Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS verschrieben hatte, sah dieses Parlament nicht aus, obwohl es in seiner Zusammensetzung - ähnlich wie der Runde Tisch - ein repräsentativ-demokratischer Querschnitt war. 8 Diese Volkskammer schickte sich nun an, die Arbeit des Runden Tisches fortzuführen, das heißt die Zerschlagung des MfS zu betreiben und die Rehabilitierung der Opfer des Partei- und Staatsap-

5 Vgl. Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, 450 (451). 6

Die Bürgerbewegungen waren im Bündnis 90/Grüne zusammengefaßt und bildeten neben der PDS - die stärkste Fraktion in der (letzten) Volkskammer; vgl. Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991,450 (451). 7 Vgl. Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, 450 (451). 8 Nach dem Verständnis der Regierung de Maizière sollte die Tätigkeit der Bürgerkomitees tatsächlich nach den Volkskammerwahlen beendet sein. Eine Fortführung der Revolution war (regierungsamtlich) mit parlamentarischen Mitteln nicht geplant; vgl. das Schreiben des damaligen DDR-Innenminister Diestel an das Bürgerkomitee in Rostock, zit. bei: Ammer/ Memmler, S. 24. Dort heißt es u. a. „In dem vom Volk der DDR ausgelösten Prozeß der friedlichen Revolution ... hat das Bürgerkomitee ... eine verdienstvolle Arbeit geleistet... Nunmehr ist aus freien und demokratischen Wahlen eine von der Mehrheit der Bürger ... legitimierte Regierung hervorgegangen ... Damit wird die Tätigkeit des Bürgerkomitees einen rechtsstaatlich geordneten Abschluß finden, . . D e r „Runde Tisch" hatte dieser Logik entsprechend seine letzte Sitzung bereits am 12. 03. 1990 abgehalten. Seine Befugnisse wurden dann von der neuen Volkskammer übernommen.

1. Kap.: Die Bürgerbewegungen und das StUG

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parates in die Wege zu leiten. Wichtigstes Instrument hierzu war der bereits erwähnte Sonderausschuß der Volkskammer, der sehr bemüht war, Licht in die Tätigkeit des MfS zu bringen. 9 Jedoch waren nicht alle Abgeordneten der Volkskammer an einer vollständigen Aufklärung interessiert. Joachim Gauck, der Vorsitzende des Sonderausschusses, brachte es in seinem Abschlußbericht des Ausschusses vor der Volkskammer am 28. 09. 1990 auf den Punkt, als er den Abgeordneten zurief: „ . . . wir werden uns ... wiederzuerkennen haben ... in den Taten und Worten der Anpassung und des Verrats ... in der Feigheit und in der Fähigkeit, diese Feigheit als unsere Feigheit zu benennen, und in einer Kraft, eben Verrat Verrat zu nennen, und darin, daß wir uns möglicherweise sogar verstehen können, Schuld nicht nur anderer zu benennen, sondern von Schuld als ,meiner Schuld4 zu sprechen." 10 Pfarrer Gauck wußte, an wen er diese mahnenden Worte richtete. Mindestens 76 Abgeordnete und Minister bedurften der näheren Überprüfung auf eine MfS-Tätigkeit; 56 von ihnen wurden in der Zentralkartei des MfS als Mitarbeiter geführt. 11 Erst nach der entschiedenen Intervention der Abgeordneten der Bürgerbewegungen während der 37. Volkskammertagung gelang es, der Forderung nach der Säuberung der Volkskammer von den Mitarbeitern des MfS Rechnung zu tragen. 12 Zuvor hatten die etablierten Parteien jedoch den vergeblichen Versuch unternommen, die namentliche Bezeichnung der belasteten Abgeordneten zu verhindern bzw. in nicht-öffentlicher Sitzung zu behandeln.13 Es beschleicht den Betrachter ein ungutes Gefühl, wenn er sich überlegt, daß mit diesem „Beritt" in der 9 Gewachsen war er dieser Aufgabe aber letztlich nicht, vgl. den von Gauck erstatteten Abschlußbericht; Gauck, VK-Prot. (37. Tagung), S. 1802ff., der alles andere als eine Vollzugs· bzw. Erfolgsmeldung darstellt. Das lag aber auch daran, daß die Volkskammer dem Ausschuß auch Aufgaben zuwies, die keinen Stasi-Bezug besaßen, vgl. Worst, S. 93f. 10 Gauck, VK-Prot. (37. Tagung), S. 1802 (1804). u Vgl. Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, 450 (462); ebenso: Fricke, DA 1990,

1881 (1888).

12 Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, a. a. Ο. spricht sogar von einem Sitzstreik in der Volkskammer. Über die analoge „Säuberung" der Landtage der neuen Länder berichtet Schlomann, Politische Studien 1991, 581 (589). Auch dort „klebten" belastete Abgeordnete grundsätzlich so lange wie möglich an ihren Stühlen, bevor sie ihr Mandat zurückgaben; einige taten es überhaupt nicht, trotz Bekanntwerdens ihrer Vergangenheit. Auch der 12. Deutsche Bundestag kämpfte mit diesem Problem, vgl. den Fall der Kontaktperson „Ilja" - später I M „Robert"; BT-Drucks. 12/4613 Anlage 5 und Anlage 6. Vgl. auch die Ausführungen des Abg. Blens, „Überlegungen zur zukünftigen Verwendung der Akten des Staatssicherheitsdienstes" vom 29. 10. 1990, S. 11 f. 13 So trat Günter Krause (CDU, ehemaliger Bundesminister für Verkehr) für den Ausschluß der Öffentlichkeit auf der Volkskammertagung ein; vgl. VK-Prot. (37. Tagung), S. 1827; die Volkskammerpräsidentin (!) Sabine Bergmann-Pohl (CDU) war nicht in der Lage, die fraglichen Namen zu nennen; vgl. VK-Prot. (37. Tagung), S. 1819. Es waren die Bürgerbewegungen (Bündnis 90/Grüne), die die Namen der belasteten Abgeordneten im Parlament nannten. Gauck, dem die Namen ebenfalls bekannt waren, hatte sich Zurückhaltung auferlegt. Für ihn waren die „Bedingungen" für eine Veröffentlichung „nicht erfüllt"; vgl. Gauck (Interview mit Walter Süß), Das Parlament, Nr. 44 v. 26. 10. 1990, S. 6 (3. Spalte v. links).

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4. Teil: Eine frühe Kritik

Volkskammer einen Monat zuvor jenes Gesetz verabschiedet wurde, auf das die Opfer des MfS so große Hoffnungen setzten. Auch diese Umstände sind nicht geeignet, die Volkskammer als ein Revolutionstribunal, das heißt als legitimen Nachfolger der Bürgerbewegungen zu betrachten. Es mag sein, daß die Volkskammer nach dem Verständnis der Bürgerbewegungen ein Diskussionsforum und ein Revolutionstribunal sein sollte. 14 Objektiv war die Volkskammer aber nur ein Übergangsparlament;15 zwar war anfangs nicht klar, wie lange die Wahlperiode dauern würde, jedoch stand den meisten Abgeordneten die herannahende deutsche Einheit ebenso vor Augen wie das umfangreiche Pensum der Parlamentsarbeit, welches bis dahin noch - u. a. in den Ausschüssen der Volkskammer - zu erledigen war. 16 Die Volkskammer der 10. Wahlperiode war ein Parlament ohne Vergangenheit, 17 denn sie hatte mit der Tradition der 1. bis 9. Legislaturperiode gebrochen. Das ergibt sich deutlich aus der Regierungserklärung des seinerzeit neu gewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maizière vom 19. 04. 1990 vor der Volkskammer: „Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten."18 Und er fügte hinzu: „Es gilt das bürokratisch-zentralistische System staatlicher Leitung zu beseitigen."19 Die Kürze der Legislaturperiode ließ jedoch die Volkskammer an der Aufarbeitung und Abrechnung mit der Vergangenheit scheitern, 20 und die Querelen um die belasteten Abgeordneten zeigen, daß sie nicht einmal in der Lage war, mit ihrer eigenen Gegenwart umzugehen.21 Es bleibt also nur noch die Schlußfolgerung üb14

Davon geht Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, 450 (465) wohl aus. Anders wohl: Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, 450 (463f.), der der Volkskammer zumindest zum Ende ihrer Tätigkeit den Charakter eines Revolutionstribunals geben will. Allerdings war es zu dieser Zeit bereits zu spät, um noch sinnvoll an revolutionäre Traditionen anzuknüpfen. 15

16

Tatsächlich hatte die Volkskammer bis zum Ende der 10. Legislaturperiode (also in 6 Monaten) ein enormes Pensum bewältigt, vgl. das Zahlenmaterial bei Kloth, Parlamentsfragen 1991, 467 (472). 17 Anders wohl: Thaysen, S. 109ff., der bestreitet, daß die 10. Volkskammer überhaupt ein Parlament war. is VK-Prot. (3. Tagung), S. 42. 19 VK-Prot. (3. Tagung), S. 48. 20

ähnlich: Müller-Enbergs, Parlamentsfragen 1991, 450 (464); er spricht von einer Aufarbeitung der (MfS-)Vergangenheit nur am Rande und macht hierfür primäre (vorrangige) Ziele wie die Herstellung der deutschen Einheit verantwortlich. 21 In diese Richtung tendiert auch Gauck, Das Parlament, Nr. 44 vom 26. 10. 1990, S. 6. In einem Interview mit Walter Süß (ebenda) antwortete Gauck auf die Frage, wie er die Art und Weise des Umgangs der Volkskammerabgeordneten mit der Vergangenheit beurteile: „Als deutsch, als verständlich, als quälerisch, als unentschlossen, noch nicht angemessen." (a. a. O., 2. Spalte von links). Vgl. auch die merkwürdige und daher bezeichnende Debatte darüber, ob Hans Modrow (PDS) als Vertreter seiner Fraktion nach Auflösung der Volkskammer in den Bundestag (!) einziehen sollte oder nicht; VK-Prot. (37. Tagung) S. 1807ff. Modrow, noch im April 1990 der populärste DDR-Politiker, vgl. auch das Lob von L. de Mai-

1. Kap.: Die Bürgerbewegungen und das StUG

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rig, daß das Postulat, die 10. Volkskammer habe die Revolutionsarbeit der Bürgerkomitees fortgesetzt, falsch ist. 22

2. Der Anspruch der Volkskammer im Hinblick auf die Stasi-Akten Bedenken begegnet auch der Anspruch, den die Volkskammer mit dem von ihr verabschiedeten Stasi-Unterlagen-Gesetz verknüpft hatte. Die Volkskammer ging von der 1. Beratung ihres Gesetzentwurfes an davon aus, daß die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen allein ein DDR- Problem sei. 23 Ferner postulierte sie es als eine zwingende Notwendigkeit - als Folgerung aus dem zuvor Gesagten - , das Gesetz als Anlage in den EV mit aufzunehmen, damit es über den 3. Okt. 1990 (dem Datum des Beitritts) hinaus noch Bestand habe.24 Dahinter stand die Sorge, die Bürger der alten Bundesrepublik seien zu wenig für das Material in den Stasi-Archiven sensibilisiert, um ermessen zu können, welche Dimension die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen habe. Diese Befürchtung erwies sich jedoch als unbegründet; der gesamtdeutsche Gesetzgeber wußte sehr wohl, worum es ging. 25 Im Gegenteil, entscheidend ist, daß der Volkskammer bei allem guten Willen zu handeln einige wichtige Aspekte entgangen sind.

a) Das Mß, ein reines DDR-Problem? Zunächst einmal bedeutet der Umstand, daß das MfS eine Institution der ehemaligen DDR war, nicht zwingend, daß die Aufarbeitung allein eine Sache der DDRBürger bzw. ihrer Volksvertreter ist. Vielmehr wurden auch 2 Millionen „alte" Bundesbürger vom MfS erfaßt und überwacht. 26 Auch die persönlichen Angaben dieser Personen sind in den Stasi-Archiven enthalten. Auch diese Personen sind gleich den Bürgern der ehemaligen DDR als Opfer des Staatssicherheitsdienstes zu betrachten. Mag die Volkskammer auch ein demokratisch gewähltes Parlament gewesen sein, ein Mandat zur Regelung des Umgangs mit den Stasi-Akten dieser Personen besaß sie jedenfalls nicht, da die Volkskammer von den westdeutschen Stasi-Opfern nicht gewählt wurde. Also war der Umgang mit den Stasi-Akten nur ziére für ihn anläßlich der Regierungserklärung am 19. 04. 1990; VK-Prot. (3. Tagung), S. 42., war ins Gerede geraten. Es war eine typische Gegenwartskrise der Volkskammer. 22 Tatsächlich haben die Bürgerkomitees ihre Tätigkeit bis heute in (postrevolutionärer Zeit) nicht eingestellt, vgl. zum Beispiel die Adressenliste in: Akten, S. 118ff. 23 Vgl. Opitz, VK-Prot. (27. Tagung), S. 1260; Birthler, ebenda, S. 1261; Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1454. 2 * Vgl. Geisthardt, VK-Prot. (32. Tagung, S. 1455; Brinksmeier, ebenda, S. 1455; Haschke, ebenda, S. 1457. 2 5 Vgl. zum Beispiel die Problemdarstellung im Alt-E, BT-Drucks. 12/692, S. 1.; ferner: BT-Drucks. 12/1540, S. 56. 2 6 Vgl. wegen der Zahlenangabe: BT-Drucks. 12/692, S. 1. 11 Engel

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4. Teil: Eine frühe Kritik

zu einem - allerdings großen - Teil ein Problem der ehemaligen DDR, er war aber auch ein Problem derjenigen, die in der Rechtsordnung der alten Bundesrepublik lebten. Daraus ergibt sich, daß nur ein gesamtdeutscher Gesetzgeber mit Verbindlichkeit für alle Deutschen endgültige Regelungen über die Stasi-Akten treffen konnte.27 Zum Zeitpunkt des Beitritts gab es diesen gesamtdeutschen Gesetzgeber aber noch nicht. Daher kam als „zweitbeste" Lösung nur eine gesamtdeutsche Übergangslösung in Betracht, die nicht nur dem ostdeutschen Blickwinkel, sondern auch den westdeutschen Interessen Rechnung zu tragen hatte. Das war die Basis für die Regelungen des EinigungsVertrages und der hierzu gehörenden DurchführungsVereinbarung. Insoweit wäre die einfache Übernahme des Volkskammergesetzes, also der rein ostdeutschen Lösung, nicht sachgerecht gewesen.28 Sie mußte allerdings berücksichtigt werden. Eine Durchsetzung des Volkskammeranspruches war jedoch nicht möglich.

b) Die Bedeutung des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Entgangen ist der Volkskammer offenbar auch, daß die ehemalige DDR der alten Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist und sich ihre Legitimation mit diesem Beitritt jedenfalls erledigt hatte. Gleichfalls erledigt war damit ihr Einfluß auf den weiteren Umgang mit den Akten des MfS. Ob die Volkskammer dies wahrhaben wollte oder nicht, kann dahingestellt bleiben; es ist ein Faktum. Symptomatisch für diese Einstellung ist folgende Aussage aus der 32. Tagung der Volkskammer vom 24. 08. 1990, die im Rahmen der abschließenden Beratungen des Volkskammergesetzes gemacht wurde: „ ... Nicht nur der Innenminister der Noch-DDR wollte das Gesetz in dieser Form,... nicht mittragen, auch das Bundesministerium des Innern sperrt sich dagegen. Den Innenminister der DDR gibt es nur noch wenige Tage. Er ist für uns schon kein Problem mehr.. , " 2 9 Diese an sich richtige Äußerung ist aber unvollständig. Es fehlt die Folgerung, daß auch der Fortbestand der Volkskammer dementsprechend nur noch eine Frage weniger Tage sein würde. Aber von Untergangsstimmung findet sich keine Spur. Im Gegenteil: „Der Bundesinnenminister wird in Zukunft unser Ansprechpartner, .. . " 3 0 Dieser Wechsel auf eine nicht vorhandene Zukunft bedeutet den Versuch, den Geist einer untergegangenen Institution in ein neues System einzubringen. Ein solches Vorhaben ist aber mit dem Begriff des „Beitretens" unvereinbar. Beitritt meint den freiwilligen Zu-

27 Das ist ja auch in der Zusatzvereinbarung zum EV postuliert; vgl. Art. 1 Nrn. 1 und 2 der Vereinbarung (BGBl. II S. 1239). Vgl. auch Simitis, in: Hassemer/Starzacher-Simitis, S. 30 (32f.) 28 Diesen Standpunkt - Notwendigkeit einer gesamtdeutschen Übergangslösung - hat die Bundesregierung eingenommen; vgl. die Stellungnahme von Werthebach, zit. bei Gill/Schröter, S. 287. 2 9 Haschke, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1456. 30 Haschke, a. a. O.

1. Kap.: Die Bürgerbewegungen und das StUG

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tritt zu einem existierenden System mit dem Ziel, ein Bestandteil desselben zu werden, unter verbindlicher Anerkennung der Wertmaßstäbe dieses Systems. Davon war die Volkskammer, was die MfS- Unterlagen angeht, weit entfernt.

c) Zwischenergebnis Festzustellen bleibt dann nur, daß sich die Volkskammer in der Einschätzung ihrer Möglichkeiten geirrt hat. Das gilt insbesondere hinsichtlich ihres Anspruches - durch das Gesetz vom 24. 08. 1990 - , auch über den Tag des Beitritts hinaus Einfluß auszuüben.

3. Ursachenforschung Fraglich ist aber, wieso angesichts derart naheliegender Überlegungen sich die 10. Volkskammer nicht einsichtig zeigte gegenüber diesen gesamtdeutschen Notwendigkeiten. Zur Antwort sei auf die Berufs- und Bildungsstruktur der Volkskammerabgeordneten verwiesen. Stark dominiert wurde das ostdeutsche Parlament von naturwissenschaftlich-technischen Berufen, die über 50 % der Volksvertreter stellten. So waren zum Beispiel rd. 28 % der Abgeordneten Ingenieure, 31 rd. 7 % der Abgeordneten Theologen.32 Diese Berufe waren relativ ideologieneutral, eine indifferente Einstellung zu Staat und Partei konnte durch gute fachliche Kenntnisse kompensiert werden. Sie waren eine Nische für alle die DDR-Bürger, die dem System relativ kritisch gegenüberstanden. Der Vorteil solcher Abgeordneter liegt auf der Hand. Sie sind weitgehend politisch unbelastet und daher für einen Einstieg in ein neues demokratisches System besonders gut geeignet. Aber auch der Nachteil ist klar erkennbar. Es mangelt solchen Abgeordneten am notwendigen Verständnis für die Essentialia der Parlamentsarbeit, nämlich die intensive Verwaltungskontrolle und die Gesetzgebung. Diese Mängel ließen sich auch nicht während der nur 6 Monate dauernden Legislaturperiode beheben. Vielmehr hätte es einer größeren Zahl von Geistes- und Sozialwissenschaftlern bedurft. Insbesondere der Mangel an Politologen und Juristen war fühlbar. Diese waren aber in der 10. Volkskammer erheblich unterrepräsentiert. 33 Zur Gesetzgebung über die Akten des MfS und ebenso zur Bewertung des Standes der Verhandlungen mit der alten Bundesrepublik über die Unterlagen des MfS waren juristisch-methodische und politische Kenntnisse unerläßlich. Vor allem die ersteren waren in der Volkskammer nur 31

Die Zahlenangabe stammt von Kloth, Parlamentsfragen 1991,467 (469). So: Kloth, a. a. O., 467. Damit saßen in der 10. Volkskammer etwa zehnmal so viele Theologen wie im 10. Deutschen Bundestag. 33 Vgl. Kloth, Parlamentsfragen 1991, 467 (469). Kloth führt die Unterrepräsentanz der Geistes- und Sozialwissenschaftler darauf zurück, daß diese Gruppen als stark belastet galten. 32

11

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4. Teil: Eine frühe Kritik

unzureichend vorhanden. 34 Rechnet man noch die sonstigen Volkskammerbesonderheiten hinzu, also die kurze Legislaturperiode und die MfS-Belastung eines Teils der Abgeordneten, dann wundert es niemanden, daß die Bewertung der Volkskammerarbeit in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich ausfällt. Was nach ostdeutschen Maßstäben eine wesentliche Errungenschaft war, nämlich das Volkskammergesetz über die Stasi-Akten, war nach den Maßstäben des Deutschen Bundestages allenfalls amateurhafte Parlamentsarbeit. 35

I I I . Das Volkskammergesetz über die Stasi-Akten Nicht nur das Beschlußorgan, auch das Beschlußprodukt, das bereits erwähnte Volkskammergesetz vom 24. 08. 1990, bedarf kritischer Würdigung. Gemeint ist eine solche nach den Maßstäben, die in der Bundesrepublik für einen praxisgerechten Umgang mit personenbezogenen Informationen gelten. Hier zeigen sich Mängel, die das jetzt geltende StUG, soviel sei vorweggenommen, nicht besitzt. Zwei Aspekte seien beispielhaft herausgegriffen. 36

1. Kritikpunkt: Dezentrale Verwaltung Die §§ 3, 5 I, III des Volkskammergesetzes sahen vor, daß die fraglichen Unterlagen dezentral, das heißt in Sonderarchiven der neuen Länder verwaltet und gelagert würden. Die dezentrale Archivierung entsprach einer politischen Forderung der Bürgerbewegung in der DDR und der mit der Auflösung des MfS befaßten Bürgerkomitees. 37 Hinter dieser Überlegung stand zum einen der Gedanke größerer Bürgernähe; man wollte dem Mißtrauen vieler ehem. DDR-Bürger gegenüber einer zentralen Exekutivgewalt begegnen. Zum anderen sollte so gewährleistet werden, daß die zu erwartenden zahlreichen Anträge auf Auskunft, Einsicht, Nutzung usw. in einem noch vertretbaren Zeitrahmen bearbeitet werden könnten.38 34 Bezeichnend für diesen Zustand ist die Äußerung des Abg. Tschiche (Bürgerbewegung, das heißt Bündnis90/Grüne) in der 10. Tagung der Volkskammer am 01. 06. 1990: „Was ich selber gestern abend erfahren habe, ist, daß ich einen Berg auf den Tisch bekam und mir im Grunde gesagt wird: Vertraue nur, die Mächtigen, die werden schon das Gute für euch tun!"; VK-Prot. (10. Tagung), S. 290. Das klingt übrigens auch nicht gerade nach dem „Selbstbewußtsein von Siegern". 35 Α. A. ist Gauck, in: Hassemer/Starzacher-Gauck, S. 17 (20f.), der die Motive der Volkskammer bzw. ihrer Abg. darstellt. 36 Das Volkskammergesetz über die Stasi-Akten hatte eine Vielzahl von Mängeln, die das StUG nicht hat. So kannte das Volkskammergesetz kein Akteneinsichtsrecht für Betroffene; es fehlte ein Mindestschutz vor behördlichem Zugriff auf intime Daten, und es gab keine Berechtigung zur straffreien Publikation von Angaben über Mitarbeiter des MfS; vgl. (bedauernd) Saathoff, S. 19. 37 Vgl. ζ. B. Bürgerkomitee Leipzig, Stellungnahme vom 21. 07. 1991 an den InnenA des Deutschen Bundestages, S. 3f.; vgl. auch Kloepfer, S. 15.

1. Kap.: Die Bürgerbewegungen und das StUG

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Diesem scheinbar naheliegenden Gedanken begegnen aber Bedenken. Zunächst ist fraglich, wie bei einer dezentralen Verwaltung und Verwertung der Unterlagen eine einheitliche Aufarbeitung des Materials stattfinden soll. Nach dem Grundprinzip des föderalen Systems, dem sich das Volkskammergesetz verpflichtet fühlte, 39 würde jedes der neuen Länder dann seine Unterlagen nach seinem Gutdünken verwalten und verwerten. Gegen diese Überlegung haben die Vertreter der Bürgerbewegungen eingewandt, zur Sicherung einer einheitlichen Verwaltung und Auswertung der Akten genüge es nach ihrer Erfahrung, wenn ein Gesetz, die Verfahrenswege in den Ländern einheitlich regle. 40 Dieser Einwand greift aber nicht. Zum einen wäre die Festlegung von Verfahrensregeln, bei richtigem Verständnis des föderalen Prinzips, 41 dann Sache der fünf ostdeutschen Länder, so daß fünf wortgleiche Landesgesetze erforderlich gewesen wären. Es war aber bereits schwierig genug, den Entwurf für das Volkskammergesetz zu erarbeiten, um wieviel schwieriger wäre es gewesen, die spezifischen Verwaltungsinteressen der fünf neuen Länder miteinander zu vereinbaren. Die zeitliche Verzögerung bei der Eröffnung der Unterlagen wäre erheblich gewesen. Die Alternative hätte zum anderen darin bestanden, die neuen Länder in angemessener Weise, vergleichbar der Zustimmung des Bundesrates in Art. 841 GG, an der Gesetzgebung der Zentralgewalt zu beteiligen. Das ist aber nicht geschehen, weil die zu dieser Zeit noch gültige Verfassung der DDR ein föderales System nicht vorsah 42 und es außerdem zur Zeit des Gesetzgebungsverfahrens noch gar keine ostdeutschen Länder gab. 43 Auch der begründende Hinweis auf die Erfahrung der Bürgerkomitees muß mit Skepsis betrachtet werden. Die Erfahrungen der Bürgerkomitees mit Gesetzgebungsverfahren beschränkten sich auf sechs Monate Parlamentsarbeit in der 10. Volkskammer, also in einem Übergangsparlament, dessen Aufgabe es war, die Reste des SED-Staates soweit zu reorganisieren, daß sie überhaupt beitrittsfähig wurden. Dabei ist der Umstand, daß die Bürgerbewegungen, d. h. ihre Vertretung im BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, während dieser Zeit beständig in der Opposition standen, noch nicht einmal berücksichtigt. Es fragt sich daher, welche Erfahrungen, insbesondere über den Föderalismus, dort gemacht worden sein sollen. Ferner: Der Umstand, daß das meiste Material in ehemaligen Bezirksstädten wie Dresden, Leipzig oder Rostock liegt und dort wegen des Zustandes der Unter38 Vgl. Gauck, VK-Prot. (32. Tagung) S. 1454; Taut, in: DER SPIEGEL, Nr. 46/1991, S. 28. 39 Vgl. Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1454. 40 Vgl. zum Beispiel Taut, in: DER SPIEGEL, Nr. 46/1991, S. 28. 41

Vgl. die in Art. 83, 841 GG niedergelegten Grundsätze. Die 10. Volkskammer hat es nie geschafft, vor dem Beitritt noch eine neue DDR-Verfassung vorzulegen. 43 Die fünf ostdeutschen Länder wurden erst mit Wirkung vom 14. 10. 1990 gebildet; vgl. § 1 Ländereinführungsgesetz vom 22. 07. 1990; GBl. 1990, S. 955. 42

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4. Teil: Eine frühe Kritik

lagen auch verbleiben muß, zwingt nicht zu einer dezentralen Verwaltung der Akten. Zwar ist es richtig, daß Anfragen der Zentrale an eine Außenstelle u. U. zeitaufwendig sind, 44 aber dieses Manko wird durch folgende Überlegung wieder kompensiert: „ ... Jeder, der mit dem Staatssicherheitsdienst mal zu tun hatte, weiß, daß die Akten einer Person über die ganzen Länder verstreut sind. Es reichte, wenn ein Berliner irgendwann einmal nach Erfurt fuhr und da Leute traf. Da liegt dort mit Sicherheit für ihn auch eine Akte .. . " 4 5 Soll man nun einem Betroffenen zumuten, sich u. U. mit fünf Länderbehörden in fünf verschiedenen Verfahren über die Einsicht in seine Unterlagen auseinanderzusetzen? Das kann nicht richtig sein; in Wahrheit ist es viel bürgernäher, wenn Betroffene einen zentralen Ansprechpartner haben, der das Material für sie durchsieht und ihnen dann Akteneinsicht ermöglicht. 46 Denn dadurch erst erhalten Betroffene die Gewißheit, daß das aufgefundene Material den Kenntnisstand des MfS zuverlässig wiedergibt. Nur eine zentrale Verwaltung der Unterlagen kann die einheitliche Aufarbeitung des Materials garantieren. Dabei ist das genannte Mißtrauen gegenüber einem zentralen Exekutivorgan fehl am Platze. Wer die Stellung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gleichsetzt mit der Position, die das SED-Regime ausübte, der gibt nicht Mißtrauen, sondern Unwissenheit zu erkennen.

2. Kritikpunkt: Vernichtungsregelung Das Volkskammergesetz kannte keinen Anspruch der Opfer auf Vernichtung/ Löschung ihrer personenbezogenen Unterlagen. Das war auch von der Intention der Volkskammer her so beabsichtigt. „ . . . Gegenwärtige Vernichtung ist überhaupt ... nicht sinnvoll, da noch keine Bewertung vieler personenbezogener Akten möglich ist, ... Vieles liegt jetzt immer noch in Säcken ... Es ist völlig unmöglich, einer alsbaldigen Vernichtung zuzustimmen, und es gibt Gründe, dies auch künftig nicht zu tun .. , " 4 7 Gedacht war daran, auch in Zukunft Beschuldigungen hinsichtlich einer MfS-Vergangenheit nachgehen zu können. 44 Vgl. Taut, in: DER SPIEGEL, a. a. O. 45 Birthler, VK-Prot. (27.Tagung), S. 1261. Paradoxerweise räumt der Alt-Ε in seiner Begründung zu § 12 diesen Umstand selbst ein, zieht daraus aber keine zutreffenden Folgerungen; vgl. BT-Drucks. 12/692, S. 19. 46 In diese Richtung geht ζ. B. die Stellungnahme des Bundesfachausschusses Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr vom 22. 07. 1991 an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages; vgl. dort S. 2. Ebenso auch die Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz vom 06. 08. 1991 an den InnenA des Deutschen Bundestages, vgl. dort S. 11. 47 Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1453. Tatsächlich fanden sich im Berliner Zentralarchiv (des MfS) 17200 Säcke mit zerissenem Papier. Davon waren rd. 7.000 Säcke in einem solchen Zustand, daß ihre weitere Aufbewahrung keinen Sinn mehr machte. Sie wurden vom BStU vernichtet. Der Rest konnte bisher nur teilweise aufgearbeitet werden (Zeitmangel!); vgl. BStU-Bericht, S. 7, 38.

1. Kap.: Die Bürgerbewegungen und das StUG

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Auch dieser Ansatz ist bedenklich. Grundsätzlich sind personenbezogene Daten zu löschen bzw. zu vernichten, wenn ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich ist, vgl. zum Beispiel § 20 II Nr. 2 BDSG. Mit der Auflösung des MfS hatten auch seine Aufgaben ihre Erledigung gefunden; mithin waren die gesammelten Unterlagen „zwecklos" geworden und hätten dementsprechend der Vernichtung anheimfallen müssen. Dieser Folgerung glaubte der letzte DDRGesetzgeber aber dadurch entgehen zu können, daß er den Unterlagen eine neue Zweckbestimmung unterschob, die die dauerhafte Aufbewahrung des fraglichen Materials rechtfertigte. 48 Gefährlich an dieser Überlegung ist aber der Umstand, daß der genannte Grundsatz Daten betrifft, die einmal rechtmäßig erhoben wurden, während das MfS-Material praktisch durchweg rechtswidrig gesammelt wurde. Will man rechtmäßig erlangten Informationen eine neue rechtmäßige Zweckrichtung geben, so wird hierdurch niemand in seinen Rechten beeinträchtigt. Das MfSMaterial, dem der Mangel der Verletzung des Persönlichkeitsrechts anhaftet, hätte schon nie erhoben werden dürfen; schlimmer noch: Wer nunmehr eine neue Zweckrichtung für das Material schafft - und sei sie auch für sich genommen rechtmäßig - , der verlängert die Verletzung des Persönlichkeitsrechts bis in alle Ewigkeit. Aber auch diesem Argument gegenüber war die 10. Volkskammer nicht aufgeschlossen. „Ich möchte übrigens noch etwas sagen, zu dem Argument, daß das Material zu vernichten sei, da es rechtswidrig erworben ist. Wissen Sie, wenn wir alle die Akten aufbewahren wollten, die auf Grund unserer Rechtsvorstellungen rechtens sind, was bleibt dann von den Akten all der Staatsorgane oder der Regierung übrig, die ja nach unserer Ansicht eh nicht legitimiert waren ... Meines Erachtens kann man dieses Argument nicht anwenden .. , " 4 9 Das heißt im Klartext, daß das Recht der Betroffenen auf Löschung / Vernichtung dauerhaft hinter dem Interesse an der Aufarbeitung des Materials zurücktreten sollte, da sonst nichts mehr übrig bliebe, was aufzuarbeiten wäre. Das ist in Wahrheit kein Gegenargument, sondern vielmehr das Eingeständnis der bereits geschilderten Perpetuierung der Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Tatsächlich kommt man um die Notwendigkeit einer gesetzlichen Vernichtungsregelung nicht umhin. Ausschließen kann man sie nicht; allerdings kann man unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an einer historischen, politischen und juristischen Aufarbeitung des Materials Einfluß nehmen auf den Zeitpunkt der Vernichtung/Löschung. Das ist aber eine Frage der Verhältnismäßigkeit einer gesetzlichen Regelung; diese Frage kann hier noch dahinstehen, da das Volkskammergesetz hierzu überhaupt nichts geregelt hatte und damit jedenfalls hinter rechtsstaatlichen Ansprüchen zurückblieb.

48 Vgl. Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), a. a. O. 49 Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1453 (1454).

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4. Teil: Eine frühe Kritik

3. Zwischenergebnis Zu folgern ist jedoch anhand der geschilderten Aspekte, daß das Volkskammergesetz die Probleme im Zusammenhang mit den MfS-Unterlagen nicht optimal gelöst hat.

IV. Die fehlende Berechtigung der Kritik Blickt man erneut auf die eingangs geschilderte Kritik der Vertreter der Bürgerbewegungen am StUG, so bleibt, schiebt man den emotionalen Ton einmal beiseite, nur die Feststellung übrig, daß die Kritik in der Sache fehlgeht, und die Wünsche der Bürgerbewegung auf Übernahme des alten Volkskammergesetzes nicht realisierbar waren. Die Kritik der Bürgerbewegungen, so menschlich aufrüttelnd sie auch vorgebracht wurde, beruht vielmehr auf einem grundlegenden Irrtum. Sie beruht auf der irrigen Annahme, wenn das MfS-Material ihre Vergangenheit dokumentiere, so müßten auch die Unterlagen ihnen zugehörig sein. 50 Aber dieser Schluß ist falsch. Es handelt sich um Unterlagen, die im staatlichen Auftrag von einer staatlichen Behörde mit hoheitlichen - wenn auch rechtswidrigen - Mitteln angelegt worden sind. Mithin handelt es sich um Staatsakten, d. h. um Staatseigentum. In der Summe der Einzelschicksale dokumentieren die fraglichen Unterlagen die Vergangenheit eines Staates. Die Kritik der Bürgerbewegungen ist aber deshalb bemerkenswert, weil sich in ihr kaum bestimmte politische Anschauungen widerspiegeln. Ihr Inhalt ist vielmehr Ausdruck des Lebensgefühls der Menschen und entspringt der Sorge um den Fortbestand des eroberten Herrschaftswissens der ehem. DDR. Das ist nur natürlich. Mit dem Fortfall der Institution erleben die Akten eine eigentümliche Renaissance. Das MfS lebt in den Akten fort. Es wird nur noch aus diesem Blickwinkel heraus wahrgenommen. Daher erhalten die Akten über den institutionellen Wert als Staatsakten hinaus für die Bürger noch einen persönlichen Eigenwert. Auf die Unterlagen richet sich alle Aufmerksamkeit; sie werden zum Maß aller Dinge. Aber juristisch faßbar und damit berücksichtigungsfähig ist dieser Aspekt nicht. 50

Dieser Irrtum findet sich selbst noch in der Bundestagsdebatte zum StUG wieder, vgl. Poppe, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4698 (4699/4700); Köppe, ebenda, S. 4686; dies., BT-Prot. (21. Sitzung), zu TOP 5 dort Abschnitt (D). Vgl. auch T., Telegraph Nr. 11/1991, 17, der ebenfalls von dieser Annahme ausgeht. Sogar Gauck hatte (zunächst) diesen Standpunkt vertreten; vgl. Gauck, Auflösung, S. 39 (42); ders., Das Parlament, Nr. 44 vom 26. 10. 1990, S. 6 (1. Spalte v. rechts). Ähnlich auch: Schwenke, Telegraph, Nr. 15/1990, 9 (10); Fuchs, Stellungnahme an den InnenA des Deutschen Bundestages ohne Datum, S. 2f. Krit.: Hirsch, Baumann-FS, S. 517 (518f.). Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens wurde einmal erwogen (unter dem Zugehörigkeitsaspekt), Unterlagen nach einer gewissen Zeit an die betroffenen Personen herauszugeben. Diese Unterlagenübernahme wurde aber dann durch die Regelungen zur Anonymisierung ersetzt. Das Verfahren der Unterlagenübernahme erschien zu kompliziert, da die in den Unterlagen enthaltenen Informationen über dritte Personen vor der Herausgabe hätten anonymisiert werden müssen. Vgl. dazu: Dörr, ZG 1991, 170 (174).

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

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2. Kapitel

Die PDS bzw. das BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und das StUG I. Die PDS 1. Das Gelöbnis der Besserung „ ... Dieses Gesetz hat zum Ziel ..., die Auseinandersetzung über die Vergangenheit hinsichtlich der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit und des Amtes für Nationale Sicherheit zu gewährleisten ... Die PDS unterstützt dieses bedeutsame Anliegen .. . " 5 1 Dieses Zitat, noch aus der Zeit der Beratungen des Volkskammergesetzes, sollte das gewandelte Verständnis der ehemaligen SEDMitglieder zu ihrer Vergangenheit dokumentieren. Dementsprechend brachte die PDS dieses Verständnis mit in den 12. Deutschen Bundestag. Nach den Wahlen vom 03. 12. 1990 zog sie dort als Gruppe ein. Es fragt sich nur, ob dieses Angebot zur Mitarbeit, als Gelöbnis der Besserung, ernst gemeint war oder nicht.

2. Der ernsthafte Wunsch zur Mitarbeit Erste Zweifel an der Ernsthaftigkeit des zuvor genannten Postulates ergeben sich, wenn man die bereits erwähnte Historie des Volkskammergesetzes betrachtet. In ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf machte die PDS gegen einzelne Vorschriften des Gesetzes eine Reihe von Bedenken geltend, die darauf hinausliefen, die „Rechtsstaatlichkeit" des Gesetzes sei nicht gewährleistet. 52 Daher schlug die PDS vor, den Entwurf zu ändern und „eine 3. Lesung zu diesem Gesetz"53 durchzuführen. In einem „normalen" Parlament wäre dies sicher ein üblicher Vorschlag gewesen. Nur war die 10. Volkskammer kein normales Parlament. Zu der fraglichen Zeit verblieb ihr noch eine Existenzfrist von fünf Wochen bzw. sechs Sitzungen. Wäre man dem Vorschlag der PDS gefolgt - aus „rechtsstaatlichen" Gründen - , hätte die Vorlage zur Änderung erneut in den Ausschüssen beraten werden müssen. Berücksichtigt man ferner die Erwägung, daß es von der 1. Lesung des Gesetzentwurfs am 22. 07. 1990 bis zur 2. Lesung am 24. 08. 1990 über vier Wochen gedauert hatte, hätte die erneute Überweisung und spätere Beratung in einer 3. Lesung „gute Chancen" gehabt, vor dem Beitrittstermin (03. 10. 1990) nicht mehr realisiert zu werden. Diese Form des „Zeitspiels" wurde daher von den übri-

51 Heuer, VK-Prot. (32. Tagung) S. 1455/1456. 52 Vgl. Heuer, a. a. O. S. 1456. 53 Heuer, a. a. O. S. 1456.

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4. Teil: Eine frühe Kritik

gen Fraktionen höflich, aber bestimmt abgelehnt.54 Es mutet auch allzu paradox an, wenn eine Partei, die den Begriff der Rechtsstaatlichkeit 40 Jahre lang nicht in ihrem Vokabular hatte, nunmehr unter anderem Namen, aber mit denselben Personen versucht, sich auf Kosten ihrer ehemaligen Opfer zu rehabilitieren, indem sie sich zum Anwalt der rechtsstaatlichen Interessen dieser Menschen macht. Vielmehr befolgte die PDS mit dem gerade genannten und anderen Postulaten eine Taktik, die der kommunistischen Bewegung schon seit Mitte der dreißiger Jahre eigen ist. In einer unterlegenen Kampfposition werden die eigenen Ziele verschleiert und zugleich populäre, um nicht zu sagen opportunistische Ziele vertreten. 55 Aus den Extremisten von einst werden so unauffällige, harmlose Parlamentarier, die sich nicht von den übrigen unterscheiden lassen.56 Tatsächlich hatte die PDS bereits zu dieser Zeit keinen akzeptablen Beitrag für die Aufarbeitung der MfSUnterlagen geleistet. 3. Der Kern der Kritik Demzufolge kann die Mitarbeit der PDS im Deutschen Bundestag am StUG nicht ohne eine gewisse Skepsis betrachtet werden. Aus ihr heraus müssen die Ansichten der PDS gewürdigt werden. So bemängelte die PDS zunächst ihre geringen Mitwirkungsmöglichkeiten an dem StUG. „ . . . Zur Geschichte des Gesetzentwurfs gehört auch die Verletzung elementarer Rechte der Demokratie, nämlich die nicht gleichberechtigte Teilnahme der Opposition an den Beratungen und den Informationen über den Gesetzentwurf. In diesem Bundestag war die Gruppe PDS/Linke Liste als eine der kleinen Oppositionsgruppen auf besondere Weise von der Diskussion ferngehalten worden. Sie war während der ganzen entscheidenden Zeit der Vorbereitungen des Gesetzentwurfs von dessen Beratung im Unterausschuß des Innenausschusses ausgeschlossen ... Die Gruppe PDS/Linke Liste konnte daran erst nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Sommer 1991 teilnehmen."57 Dann zweifelte die PDS die erklärten Intentionen des Gesetzes an. „ . . . Wenn der Schlachtruf,Stasi 4 aber nur noch gebraucht wird, um ganz andere Ziele zu ver54 Vgl. zum Beispiel Gauck, VK-Prot. (32. Tagung), S. 1457; Thietz, ebenda, S. 1457; Haschke, ebenda, S. 1457. Maurer hat - im Gespräch mit dem Verfasser - darauf hingewiesen, daß es der PDS durchaus um „rechtsstaatliche Bedenken" gegangen sein könnte. Dagegen spricht aber, daß eine dezidierte Aufzählung dieser Bedenken unterblieben ist, vgl. Heuer, a. a. O. 55 Vgl. Lippold, NJW 1992, 18 (22), der beispielhaft auf die Positionen der KPD/SED nach 1945 verweist, als statt (offen) von einer sozialistischen Politik von einer antifaschistisch-demokratischen Politik die Rede war (dort Fn. 57); ferner: Sieveking, S. 17. 56 Ein „gutes" Beispiel dafür gibt der Abg. Gregor Gysi (Ex-PDS-Vorsitzender), der in den Verdacht geraten ist, als I M „Notar" lange Zeit für das MfS gearbeitet zu haben; vgl. DER SPIEGEL, Nr. 3/1992, S. 26 (27, 31, 33). 57 Jelpke, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4688 (4689f). Vgl. auch Jelpke/Maurer, S. 13, 15f.

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

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folgen, kann von Aufarbeitung keine Rede mehr sein. Es geht dann nur noch um Abrechnung ... dann kann von Einzelfallgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit hier wirklich nicht mehr die Rede sein." 58 „An die Stelle der politischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit sowie des konkreten, verfahrensrechtlich abgesicherten Nachweises von strafbaren Handlungen ist die Denunziation mit dem Hinweis auf Stasi-Akten und deren Kommentierung durch die GauckBehörde getreten. Auf dieser... fragwürdigen Grundlage wird eine Schablone von der Täter- Opfer-Struktur der DDR konstruiert, die jede vernünftige Aufarbeitung der Vergangenheit in Frage stellt." 59 Schließlich sah die PDS die Interessen der Betroffenen nicht richtig gewahrt. „ . . . Es ist kein Zufall, daß ... die Betroffenen ganz am Ende stehen. Das ist exakt auch ihre Position im Gesetzgebungsverfahren ..., seit die Bundesregierung Herr des Verfahrens ist ... Die Betroffenen sind mit diesem Gesetz in die Rolle von Bittstellern gedrängt worden .. . " 6 0

4. Die Frage nach der Berechtigung der Kritik Es fragt sich nur, ob diese unjuristische Kritik berechtigt ist oder nicht.

a) Die PDS und die parlamentarischen Spielregeln Es bleibt ein unerklärliches Phänomen, wie es geschehen konnte, daß das politische System der DDR unterging, obwohl ihm eine Staatspartei vorstand, die zumindest formal 2,3 Mio. Mitglieder aufwies. Obgleich also rd. jeder 7. sich zum Führungsanspruch der marxistisch-leninistischen Partei bekannte, ging das System unter. Offenbar war die SED im Herbst 1989 kein einheitlicher Block mehr, der von einem entsprechenden Wollen und Handeln bestimmt war, sondern eher ein Gebilde, das einer ideologischen „Erosion" unterworfen war. Auslöser für diesen Prozeß waren die fortschreitende Vergreisung an der Spitze der Partei und der Unmut der Basis über das Fehlen von zeitgemäßen Strukturen des innerparteilichen Lebens.61 Hinzu kamen divergierende Ansichten beim Menschenrechts- und Demokratieverständnis. Begonnen hatte dieser Prozeß schon in den 70er Jahren. 62 Die weiteren Stationen waren der Beginn der Perestroika (1985) und das Verbot des russischen Magazins „Sputnik" (November 1988).63 Zu dieser Zeit glückte es

58 Jelpke, a. a. O., S. 4690. 59 Heuer, BT-Prot. (237. Sitzung, Nachtrag), Anlage 7, S. 20920. 60 Jelpke, a. a. O.S. 4691. 61 Vgl. Bortfeldt, DA 1991, 733 (736); Moreau, Aus Politik und Zeitgeschichte, B5/92, S. 35. 62

Bortfeldt, DA 1991, 733 markiert die Schlußakte von Helsinki als Auslöser.

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4. Teil: Eine frühe Kritik

der Parteispitze nicht mehr, die Basis zu disziplinieren. Im Gegenteil, 1988 traten fast 11000 Menschen aus der SED aus; insgesamt gab es in diesem Jahr 23000 Parteiverfahren. Viele davon wurden deshalb eingeleitet, weil die fraglichen Personen nicht mehr auf der Linie der Partei lagen. 64 Diese Signale wurden aber von der Parteispitze ignoriert und unter dem Gesichtspunkt der Reinheit der Ideologie als notwendig abgetan.65 Der Zerfallsprozeß war im Herbst 1989 soweit fortgeschritten, daß sich die Partei - unfähig, sich neu zu orientieren - selbst lahmgelegt hatte. Große Zukunftsperspektiven für den Sozialismus sah kaum noch einer der verbliebenen SED-Genossen, aber die Rückkehr zu einem wiedervereinigten Deutschland oder gar die Wiedereinführung eines kapitalistischen Systems war für diese Leute noch weniger vorstellbar. Doch genau dies geschah und komplettierte die Identitätskrise der SED. In dieser Lage wurde auf dem außerordentlichen Parteitag der SED am 08. 12. 1989, auf dem sich die demonstrierende Basis durchsetzte, beschlossen, die Partei nicht aufzulösen, sondern unter dem geänderten Namen „SED/PDS" fortzuführen und zu „säubern". 66 Damit war aber die Auseinandersetzung um den künftigen Kurs der Partei noch nicht beendet. Da man sich innerparteilich nicht auf eine sozialdemokratische, kommunistische oder demokratisch-sozialistische Orientierung oder auf den „dritten Weg" einigen konnte, wurde im Januar 1990 erneut über die Auflösung der Partei diskutiert. Die Mehrheit des Parteivorstandes lehnte dies jedoch ab, und so kam es wieder zu einer personellen Auszehrung der Partei, als viele reformwillige Mitglieder die Partei verließen. 67 Wenn man der These anhängt, daß die Geschichte sich in regelmäßigen Abständen zu wiederholen pflegt, so würde die Situation der PDS hierfür ein gutes Beispiel geben. Auch die SED hatte in der Frühphase der SBZ ein reformkommunistisches Programm gehabt. Dieses Programm wurde getragen von einer breiten Basis, die vorwiegend aus Intellektuellen bestand. Es beruhte auf den historischen Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre. Gesucht wurde ein „eigener Weg" zum Sozialismus, der sich sowohl an den Entwicklungen in West- wie in Osteuropa orientieren sollte. Jedoch scheiterte dieses Konzept bereits 1948 im Zuge des „Kalten Krieges". An die Stelle des Reformkonzepts trat dann das Modell einer marxistisch63 Vgl. Kleßmann, Aus Politik und Zeitgeschichte 1991, Nr. B/5, S. 52 (62); ferner: DER SPIEGEL, Nr. 48/1988, S. 26f. 64 Die Zahlenangaben stammen von Bortfeldt, DA 1991, 733 (734). 65 Vgl. Bortfeldt, a. a. O. (735). 66 Die Partei hatte sich also nicht aufgelöst und durch eine Neugründung reformiert, sondern sich lediglich umbenannt. „Die Gründung einer neuen Partei hätte den Verlust des SEDPartei Vermögens - das ja bis zum Untergang der DDR Staats- bzw. Volksvermögen war bedeutet."; Hoffmann, S. 261. Danach bemühte sich die PDS nach Kräften ihre Vermögensverhältnisse in der Öffentlichkeit zu verschleiern; vgl. Hoffmann, S. 261 f. 67 So verließ zum Beispiel der erst im Dezember 1989 zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählte Wolfgang Berghofer die Partei im Zuge der Januar-Auseinandersetzungen. Von Januar bis August 1990 sank die Zahl der PDS-Mitglieder dann von 1,3 Mio. auf ca. 350.000. Zum Jahresende 1990 betrug sie 284.000, Ende Sept. 1991 hatte die Partei nur noch 180.000 Mitglieder.

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

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leninistischen Kaderpartei. 68 Die Verwandtschaft zwischen dem Bemühen um einen „eigenen Weg" und jenem um „einen dritten Weg" ist offenkundig. Es sieht daher so aus, als sei die PDS in derselben Situation wie die SED nach 1945. Ein Unterschied zwischen damals und heute läßt sich jedoch feststellen. Die gegenwärtige Diskussion der PDS um einen „neuen Kurs" wird auf einer gegenüber den 40er Jahren verengten intellektuellen Basis geführt, die überwiegend einseitig orientiert ist. Dominierend in der PDS sind heute die alten, treuen „Genossen" bzw. die ehemaligen hauptamtlichen Funktionäre. 69 Das Krankheitsbild der SED nach 1948, nämlich das einer starren, wandlungsunfähigen, gescheiterten Partei, findet sich also auch bei der PDS wieder. Es wundert daher nicht, wenn die Partei Schwierigkeiten hat, ihre eigene Vergangenheit aufzuklären und dabei gleichzeitig ihre umfassende Diskreditierung zu überwinden. 70 Erschwerend kommt hinzu, daß für die PDS in der bundesdeutschen Parteienlandschaft praktisch kein Raum ist. Die Marktwirtschaft und der hiesige Sozial- und Verfassungsstaat sind einem linken, das heißt sozialistischen Verständnis, weitgehend unzugänglich. Es fragt sich aber, wie eine sozialistische Partei einer Verfassungsordnung die Treue halten kann, deren Fundamente ihr fremd sind. Paßt sie sich den gegebenen Verhältnissen an, verliert sie ihren Charakter als „echte" Links-Partei; beharrt sie auf den theoretischen Grundlagen des Marxismus, verliert sie ihre parlamentarische Bedeutung. In jedem Fall sind ihre Chancen gering. 71 Die PDS hat sich nun dafür entschieden, eine „konstruktive Opposition" zu betreiben, um den „parlamentarisch verfaßten Rechtsstaat ... zu verteidigen, aber vor allem weiterzuentwickeln". 72 Das läßt den Schluß zu, die PDS wolle sich in Zukunft an die parlamentarischen Spielregeln halten. Aber selbst diese an sich befriedigende Erkenntnis ist noch voll innerer Widersprüchlichkeit. Etwas zu „verteidigen" bedeutet, das Erreichte vor äußerer Veränderung abzusichern, weil man es als schützenswert anerkannt hat. Sieht man die Notwendigkeit, etwas weiterentwickeln zu müssen, so bezeichnet 68 Vgl. Kleßmann, Aus Politik und Zeitgeschichte 1991, Nr. B/5, S. 52 (54) m. w. N. 69 Der größte Teil der PDS-Mitglieder sind Rentner (über 41%), also Altmitglieder (im wahrsten Sinne des Wortes). Über 21% der Mitglieder sind zwischen 51 und 60 Jahre alt. Zum Vergleich: der Anteil der unter 21jährigen Mitglieder liegt bei rd. 1%. Vgl. auch Moreau, Aus Politik und Zeitgeschichte, B5/92, 35 (37), der u. a. auf Angaben von Gysi hinweist. 70 Vgl. auch Bracher, Recht und Politik 1991, 137 (139f.); Bracher weist darauf hin, daß selbst die ehemaligen Blockparteien der DDR den vollen Bruch mit der Vergangenheit noch nicht vollzogen haben. Wenn aber selbst die gegenwärtigen bundesdeutschen großen Volksparteien ein „Blockflötenproblem" haben (vgl. zum Beispiel DER SPIEGEL, Nr. 29/1991, S. 78ff.; Nr. 49/1991, S. 22f.), fragt es sich, wie die PDS - ohne westdeutsche „Schützenhilfe" - ihre Probleme lösen soll. Vgl. auch Hoffmann, S. 262f. Ein Schritt zur Lösung des Problems scheint die „offene Kandidatenliste" der PDS für die Bundestagswahl im Oktober 1994 zu sein. 71 Vgl. Moreau, Aus Politik und Zeitgeschichte, B5/92, 35 (40, 44), der dies ebenso sieht. Vgl. wegen der Distanz der PDS zu ihrer kommunistischen Basis: Seils, Die taz vom 24. 08. 1994, S. 5. 72 PDS, S. 42ff.

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4. Teil: Eine frühe Kritik

man den gegenwärtigen Zustand gerade nicht als befriedigend und damit als nicht schützenswert. Bedenkt man ferner, daß nach dem gerade erwähnten Postulat die Weiterentwicklung der Verteidigung vorgehen soll („vor allem"), dann wird klar, daß die PDS den gegenwärtigen Zustand jedenfalls nicht unbedingt für verteidigungswürdig hält. Dabei kann kein Zweifel darüber bestehen, in welcher Richtung diese Weiterentwicklung gehen soll. Anders als die großen Volksparteien sind Parteien wie die FDP, die PDS oder auch DIE GRÜNEN nur der jeweilige parlamentarische Spiegel ihrer Wählerschaft, also der sie tragenden Interessengruppen. Die Klientel der PDS besteht aber aus den Personen in der ehemaligen DDR, die mit den geänderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen unzufrieden sind und die dem SED-System, insbesondere dem Führungsanspruch dieser Partei „nachtrauern". 73 Der Versuch, derartige Denkweisen in einem parlamentarischen System unterzubringen, ist jedoch zum Scheitern verurteilt.

b) Eine konstruktive

Kritik

Es verwundert nicht wenig, daß gerade eine Partei, die zumindest ihrer Denkweise nach einem Alleinvertretungsanspruch huldigt und die andere politische Kräfte grundsätzlich neben sich nicht duldet, kein Verständnis dafür aufbringt, daß man ihr mißtraut und versucht, ihre Mitwirkungsmöglichkeiten im Parlament zu beschränken. Allerdings so, wie die PDS ihren Mitwirkungsausschluß verstanden wissen will, als Repression gegen sie selber, stellt sich die Lage nicht dar. Tatsächlich hatte der Bundestag zunächst den Zusammenschluß der Abg. des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Gruppe gem. § 10 IV GO-BT anerkannt und der Gruppe bestimmte Gruppenrechte eingeräumt. 74 Gleichzeitig hatte der Bundestag beschlossen, die PDS ebenfalls als Gruppe im Sinne der GO-BT anzuerkennen und ihr die gleichen Rechte wie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einzuräumen. 75 Die beiden kleinen Parteien, die aufgrund ihrer Abgeordnetenzahl beide nicht den Fraktionsstatus erreichten, sollten also gleichbehandelt werden. Das war der PDS zuwenig. Sie verlangte entweder eine Herabsetzung der Fraktionsmindeststärke auf sieben Mitglieder 76 oder aber ihre Anerkennung als Fraktion durch den Bundestag.77 Nachdem der Bundestag diese Primärziele verworfen und den bereits 73 Tatsächlich sind der Mangel an innerparteilicher Demokratie, das heißt das Fehlen der erforderlichen Toleranz gegenüber Andersdenkenden kennzeichnend für die Haltung der PDS. Diese Haltung zeichnete sich schon auf der „Erneuerungskonferenz" der PDS im Sept. 1990 ab und setzte sich auf dem 2. Teil des PDS-Parteitags (21. - 23. 06. 1991) fort. Überwunden ist sie bis heute nicht. 74 Das geschah in der 9. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21.02. 1991; die entsprechende Beschlußempfehlung des Altestenrates findet sich in BT-Drucks. 12/149. 75 Vgl. auch hierzu die Beschlußempfehlung des Ältestenrates des Bundestages in BTDrucks. 12/150, die vom Bundestag ebenfalls am 21. 02. 1991 akzeptiert wurde. 7 6 Vgl. BT-Drucks. 12/5 zur Abänderung des § 101GOBT. 77

Vgl. BT-Drucks. 12/86.

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

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angeführten Beschluß gefaßt hatte, zog die PDS vor das BVerfG, um im Wege des Organstreitverfahrens vorrangig den Fraktionsstatus auf dem einen oder anderen Weg zu erhalten oder alternativ hilfsweise als Gruppe bestimmte weitere Rechte zu erhalten. 78 Soweit es um den Fraktionsstatus ging, war die PDS auch vor dem BVerfG erfolglos. „Der 12. Deutsche Bundestag war nicht verpflichtet, der Antragstellerin durch Herabsetzung der Fraktionsmindeststärke in der Geschäftsordnung oder durch einen Beschluß nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GO-BT den Fraktionsstatus einzuräumen ... Der Bundestag hat der Antragstellerin in weitgehendem Maße Rechte eingeräumt, die nach der Geschäftsordnung des Bundestages Fraktionen vorbehalten sind. Ihr Gruppenstatus umfaßt ... die Schwerpunkte parlamentarischer Arbeit... Es bedeutet keinen Verstoß gegen ... Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ..., wenn der Bundestag an der bisherigen Regelung der Fraktionsmindeststärke festgehalten hat und auf die Besonderheiten der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag durch die Zuerkennung eines spezifisch ausgestalteten Gruppenstatus ... reagiert hat. Nichts anderes gilt für die ... begehrte Anerkennung ... als Fraktion gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 GO-BT." 79 Auch das Begehren bezüglich weiterer Gruppenrechte erwies sich als überwiegend unbegründet. Allein erfolgreich war die Forderung, „daß die Gruppe auf ihr Verlangen in den Unterausschüssen vertreten sein muß .. . " 8 0 Die PDS ist nicht in besonderer Weise, wie behauptet, von der Mitwirkung am StUG ausgeschlossen worden, 81 sondern es sind nur die Gruppenrechte im Hinblick auf eine effektive Parlamentsarbeit nicht ganz richtig definiert worden. Von einer Verletzung elementarer Rechte der Demokratie, wie auch behauptet worden war, kann nicht die Rede sein. Insoweit ist die von der PDS vorgebrachte Kritik also unzutreffend. 82 Auch die Behauptung, der „Schlachtruf Stasi" werde nur noch zur „Abrechnung" mißbraucht, begegnet Bedenken. Zum einen ist zu berücksichtigen, woraus sich das Potential der PDS zusammensetzt, nämlich aus den „Wendegeschädig78 Vgl. dazu das Rubrum des Urteils des BVerfG vom 16.070.1991-2 BvE 1/91 bzw. S. 7 u. 8 des Urteils. 79 So: BVerfG-2 BvE 1/91, S. 30/31. so So: BVerfG, a. a. O. S. 33. 81 Die „Mitwirkung" der PDS am StUG bestand aus a) dem Antrag einen Untersuchungssauschuß einzusetzen, betreffend Stasi-Akten und westdeutsche Sicherheitsbehörden; BTDrucks. 12/881; b) verschiedenen Kleine Anfragen zu dem unter a) genannten Themenkreis bzw. zu damit in Verbindung stehenden Themen; BT-Drucksachen 12/332; 12/680; 12/383; 12/583; 12/592; 12/678; 12/928; 12/920 und 12/968. Die Antworten der Bundesregierung, die für sich sprechen, finden sich größtenteils bei Jelpke/Maurer, S. 129ff. 82 Nachdem die PDS ihren Sitz im BT-InnenA-UA erstritten hatte, war die Abg. Jelpke häufig - entschuldigt - abwesend, und zwar ohne das ein Vertreter von der PDS gestellt wurde; vgl. die Anwesenheitslisten des UA, die sich bei den Prot, befinden. Es fragt sich aber, wie eine politische Kraft mitwirken will, wenn ihre Vertreter nicht anwesend sind. Freilich hegt die PDS Novellierungsplänen für das StUG: „Man wird im ... Bundestag mit einer starken Fraktion der PDS zu rechnen haben, für die es eine wichtige Aufgabe sein wird, das Stasi-Unterlagen-Gesetz grundlegend zu novellieren."; Heuer, BT-Prot. (237. Sitzung, Nachtrag), Anlage 7, S. 20920 (20921).

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ten", zum andern muß man sich an den „Beitrag" der PDS zum Volkskammergesetz über die Stasi-Akten erinnern. Es ist zwar richtig, daß die Stasi-Akten nicht angelegt wurden, um später von Bürgerrechtlern, Staatsanwälten, Wissenschaftlern und Medienorganen gelesen zu werden. Aber die hinter der Ansicht der PDS stehende Forderung, die Akten zu schließen, entspringt dem Wunsche derjenigen, die für ihre Entstehung verantwortlich waren. 83 Schließt man jedoch die Akten, ist es mit der Aufarbeitung der Vergangenheit vorbei. Die Sorge der PDS leistet keinen konstruktiven Beitrag für ein Gesetz, das sich zum Ziel gesetzt hat, eben diese Aufarbeitung zu ermöglichen. Ob man von Abrechnung oder von Vergangenheitsbewältigung spricht, ist letztlich nur eine Frage des Blickwinkels. Da die ehemaligen Stasi-Konfidenten aber der Solidarität der PDS-Mitglieder sicher sein können, 84 besteht über den Blickwinkel der PDS wohl kein Zweifel. Schließlich bedarf auch die Behauptung, die Betroffenen seien in die Rolle von Bittstellern gedrängt worden, einer kritischen Würdigung. Nach dem Grundkonzept des Gesetzes sind die Betroffenen Rechtsträger. Praktisch gibt es ein subjektives öffentliches Jedermannrecht auf Auskunft darüber, ob und welche Unterlagen über eine Person vorhanden sind, und zwar unterschiedslos nach Opfern und Tätern (vgl. die §§ 13 I 1, V I I StUG und 16 I, 17 I StUG in der Zusammenschau). Wenn geklärt ist, ob Unterlagen vorhanden sind und welche Qualität die an fragende Person besitzt, richten sich die Betroffenenrechte (§§13 III bis V StUG) nach den Wünschen des einzelnen. Auch diese Wünsche haben den Charakter subjektiver öffentlicher Rechte. Mit anderen Worten, das Gesetz gibt den Betroffenen ein Instrumentarium gerichtlich durchsetzbarer Ansprüche an die Hand. Das ist weitaus mehr, als es einem „Bittsteller" zukäme. Die Anknüpfung dieser Rechte an das Verlangen eines schriftlichen Antrags (vgl. § 12 I StUG) ist dabei nicht zu beanstanden. Zum einen hat es jeder Betroffene selbst in der Hand, wie weit er bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit gehen will, das heißt wieviel er wissen möchte. Ein Tätigwerden des Bundesbeauftragten von Amts wegen käme hier einer staatlichen Bevormundung gleich. Zum andern ist im modernen Verwaltungshandeln der Antrag inzwischen das hauptsächliche Mittel, Verwaltungsverfahren einzuleiten. Dies ergibt sich aus der im Laufe der Zeit gestiegenen Bedeutung der Leistungsverwaltung gegenüber den klassischen Verwaltungszweigen. Der Staat, der regelmäßig nicht wissen wird, wieviele Personen eine bestimmte öffentliche Leistung 83

Schult drückt dies sehr plastisch aus, wenn er von „der Hysterie der Täter" vor der Entdeckung spricht, in: DER SPIEGEL, Nr. 9/1992, S. 35. Noch deutlicher wird Loest, DA 1991, 905: „Längst wird diese Soße gerührt: In der DDR waren alle Täter und Opfer gleichermaßen ! Aus dem Qualm der Schuld soll der Nebel des Vergessens werden. Das könnte der PDS so passen." Ganz in diesem Sinne: Heuer (PDS/Linke Liste), BT-Prot. (237. Sitzung, Nachtrag), Anlage 7, S. 20920f. 84 Das beste Beispiel hierfür dürfte der Fall des Ex-PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi sein, der trotz höchstwahrscheinlicher MfS-Vergangenheit „ I M Notar" (?) immer noch politisch aktiv ist. Vgl. auch Moreau, Aus Politik und Zeitgeschichte 1992, B5, S. 35 (42f.), der auf den fragwürdigen Umgang der PDS mit ehemaligen MfS-Mitarbeitern in den eigenen Reihen verweist und Beispiele nennt.

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in Anspruch nehmen wollen, hat mit dem Antragserfordernis das einzig praktikable Werkzeug zur Verfügung, sich über den Kreis der Anspruchsteller zu informieren. Für den Zutritt zu den Stasi-Akten gilt insoweit nichts anderes; mag auch die Zahl der Beteiligten ungefähr bekannt sein, so ist die gesetzliche Regelung doch als Grundlage für eine leistende Verwaltung einzustufen. Ob der Staat Geldleistungen, Sachleistungen oder „Einsichts- bzw. Zugriffsleistungen" gewährt, ist letztlich nicht erheblich. Da nicht alle Antragsteller gleichzeitig Auskunft, Einsicht etc. erhalten können, sind die Zugriffsprioritäten gesetzlich geregelt (vgl. § 12 III StUG). 85

c) Fazit Die Kritik der PDS, ausschließlich destruktiver Natur, ist nicht berechtigt. Im Prinzip folgt sie einer Richtung, die von der PDS bereits bei den Beratungen zum Volkskammergesetz über die Stasi-Unterlagen eingeschlagen worden ist. Sie wird verständlich, wenn man sich den politischen Hintergrund erschließt. Gehaltvoll ist sie jedoch auch dann nicht.

II. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1. Der Kern der Kritik Verglichen mit den Bedenken der PDS, sind die Erwägungen des BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN von großer Konstruktivität. Ein Umstand, der nicht zuletzt damit zusammenhängt, daß sich die Anhänger dieser politischen Kraft schon frühzeitig Gedanken über eine gesetzliche Regelung des Stasi-Unterlagen-Problems machten und später auch an der Erarbeitung des jetzigen Gesetzes mitwirkten. Daher erkannte das BÜNDNIS 90/GRÜNE auch an, „daß das Gesetz, das die Mehrheit dieses Hauses verabschieden wird, unseren Forderungen in sehr wesentlichen Teilen entspricht, .. . " 8 6 Aber eben nicht in allen Teilen. „Unübersehbar aber sind auch die Schwächen,.. , " 8 7

85 Es gilt zunächst der Grundsatz „Opfer vor Täter"; vgl. Geiger, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 34. Daneben gibt es Prioritäten für die Abarbeitung der Anträge wie ζ. B. Alter, Krankheit oder eine „aktuelle Bredouille"; vgl. Gauck, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 21. Wegen der Reihenfolge der Antragsbearbeitung vgl. auch VG Berlin, Urt. v. 12.070.1993-1 A 365.92. Wegen der Prioritäten vor der Schaffung des StUG, vgl. Gauck, BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 61.

87

Poppe (BÜNDNIS 90/GRÜNE), BT-Prot (57. Sitzung), S. 4698 (4699). Poppe, a. a. O.

12 Engel

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4. Teil: Eine frühe Kritik

a) Das StUG und die Intentionen der Durchführungsvereinbarung zum Einigungsvertrag Nach der DV zum EV sollten die Grundsätze des Volkskammergesetzes über die Stasi-Akten „umfassend berücksichtigt" werden. 88 Es wurde bemängelt, daß das StUG dieser Forderung nicht nachkäme.89 Allein es fragt sich, was mit dem Begriff „umfassend berücksichtigt" gemeint ist. Sollte sich dahinter eine Pflicht zur vollständigen Umsetzung der Grundsätze des Volkskammergesetzes verbergen, so wäre die Kritik berechtigt. Festzustellen ist zunächst, daß die in Nr. 1 der DV vereinbarte Berücksichtigung der Grundsätze des Volkskammergesetzes eine inhaltliche Abänderung der Regelungen über die Stasi-Akten im EV darstellt. Dort hatten die Vertragsparteien dem Gesetzgeber lediglich empfohlen, die Grundsätze des Volkskammergesetzes zu berücksichtigen. Die Formulierung in der DV stellt demgegenüber eine verstärkte politische und rechtliche Bindung des Gesetzgebers dar. Aus dem Umstand, daß die Grundsätze nunmehr „umfassend" berücksichtigt werden mußten, folgerte das BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN, daß diese unverändert in das StUG übernommen werden mußten. Diese Annahme begegnet jedoch Bedenken. Das Volkskammergesetz war der Versuch, die schwierige Materie in der Kürze der Zeit so zu regeln, wie es in der ehemaligen DDR niemals der Standard war, nämlich rechtsstaatlich. Genau das ist mißlungen, dafür sprechen schon die angeführten problematischen Regelungsbereiche.90 Das Hauptproblem des Volkskammergesetzes bestand aber darin, daß es sich als abschließende Regelung verstand, und das zu einer Zeit, als das vorhandene Material weder systematisch erfaßt, gesichtet, noch kategorisiert war. 91 Genaugenommen hat man das „Pferd von hinten aufgezäumt"; erst wenn die nötige Sachkunde vorhanden ist, kann die gesetzgeberische Arbeit beginnen. Aber für vernünftige Vorarbeiten war einfach keine Zeit. Die Folge davon war, daß wichtige Aspekte zu pauschal und undifferenziert geraten sind; man denke ergänzend zu den dargestellten Problembereichen 92 noch an die Regelungen über die Nutzung für die historisch-politische Aufarbeitung. 93 Ferner: Nach dem Beitritt, das heißt mit dem Fortschreiten der Zeit, wuchs auch das Wissen über die Stasi-Unterlagen. Wäre der Gesetzgeber nun gezwungen gewesen, die Grundsätze des Volkskammergesetzes unverändert zu übernehmen, hätte sich das Wissen der Nachbeitrittszeit nicht recht realisieren können, da der Gesetzgeber dann an den Stand des Volkskammergesetzes gebunden gewesen wäre. Die umfassende Berücksichtigung der Grundsätze kann daher nur so verstanden

88 Vgl. Art. 1 Nr. 1 der DV; Köppe, BT-Prot. (57. Sitzung), 4686 (4687f.) 89 Vgl. ζ. B. Saathoff, S. 18f. Saathoff ist Referent beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den Bereich Innenpolitik. 90 Vgl. 4. Teil, 1. Kapitel, III. 1. und 2. 91 Darauf hat schon Stoltenberg, ZRP 1990,460 (461) hingewiesen. 92 Vgl. 4. Teil, 1. Kapitel, III. 1. und 2. 93 Vgl. zum Beispiel die Kritik bei Stoltenberg, a. a. O. (462).

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

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werden, daß der Versuch unternommen werden mußte, dem Volkskammergesetz weitgehend Rechnung zu tragen. Das folgt nicht zuletzt aus der Formulierung „erwarten" in Art. 1 der DV zum EV. Die Umsetzung der Volkskammergesetzprinzipien entsprang also nicht dem Willen, insoweit eine völkerrechtlich verbindliche Regelung zu treffen, sondern war Ausdruck der Erwartungshaltung der Vertragsparteien des EV. 94 Dafür spricht auch der Umstand, daß letztlich offen geblieben ist, welche Grundsätze gemeint waren. Da nur „Grundsätze" zu berücksichtigen waren, konnte der Gesetzgeber auch Ausnahmen zulassen, und bei Regelungen ohne grundsätzlichen Charakter war er sogar ganz frei in seinen Überlegungen. 95 Man darf auch nicht vergessen, daß bereits die Regelungen über die Stasi-Unterlagen im EV Einschränkungen für eine umfassende Berücksichtigung der Grundsätze des Volkskammergesetzes enthielten und daß die DV-Regelungen als Kompromißlösungen zwischen den Vertragsparteien von diesen Grundsätzen auch etwas abrückten. 96 Eine Verpflichtung zur unveränderten Umsetzung der Grundsätze des Volkskammergesetzes bestand also nicht. 97 Die Kritik ist insoweit unberechtigt. b) Mehr Rechte für die ostdeutschen Länder Der von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (im folgenden: Gruppe) dem interfraktionellen StUG-E entgegengestellte Entwurf eines StUG, der weitgehend textgleich war mit einem von den Bürgerkomitees erarbeiteten Vorschlag für ein Stasi-Akten-Gesetz,98 bildete die Basis für die Kritik. Neben den angeblich unkontrollierbaren Zugriffsrechten der Nachrichtendienste und der unzureichenden Medienregelung rügte die Gruppe vor allem das Fehlen einer „föderalen Verwaltung" der Unterlagen. 99 Über die ersten beiden Punkte wird noch gesondert zu sprechen sein. 100 Hier soll der Ruf nach Föderalismus einmal unter Zuständigkeitsgesichtspunkten betrachtet werden. 94

22.

Darauf hat Stoltenberg, § 2 Rdnr. 3 zu Recht hingewiesen. Vgl. auch G/K, Einl. Rdnr.

95 Vgl. Kloepfer, S. 104 bzw. S. 106. 96 Zu diesen durch EV und DV bedingten Beschränkungen zählen zum Beispiel die zentrale Verwaltung in der Hand des Bundes oder die Nutzung der Unterlagen für die Einstellung/ Wiederverwendung von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, vgl. auch § 11 V StUG. Beides war nach dem Volkskammergesetz „grundsätzlich" anders geregelt; vgl. auch Stoltenberg, § 2 Rdnr. 4. 97 So im Erg. auch: Stoltenberg, a. a. Ο. (464). 98 vom 10. 02. 1991; abgedruckt bei: Gauck, S. 117ff. Nach Saathoff, S. 20f. handelte es sich um eine verbesserte Fassung des Bürgerkomiteentwurfes. 99 Vgl. zum ganzen zum Beispiel Köppe, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4686 bis 4688. Gedacht war dabei an ein Bund-Länder-Modell, vgl. Köppe, BT-Prot. (21. Sitzung), zu TOP 5 dort Abschnitt (D); Saathoff, S. 21. 100 Vgl. 5. Teil, 3. und 4. Kapitel. 12*

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4. Teil: Eine frühe Kritik

2. Die Berechtigung dieser Kritik Der Ruf nach einer Aktenverwaltung in der Zuständigkeit der „neuen" Bundesländer entstammt dem Einfluß der Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR innerhalb der Gruppe. Konsequent zu Ende gedacht, ist eine mögliche Verwaltungszuständigkeit der beigetretenen Bundesländer nur ein Teil der Wünsche. Vielmehr sollen die ostdeutschen Bundesländer in allen Belangen allein zuständig sein, so auch für die Aufarbeitung des Stasi-Erbes. Unter diesem Blickwinkel ergibt sich, daß die Stasi-Unterlagen als ein rein ostdeutsches Problem betrachtet werden sollen. Dieser Ansatz ist aber bereits bei der Kritik am Volkskammergesetz der ehemaligen DDR abgelehnt worden. 101 Trotzdem ist das Verlangen nach einer Länderzuständigkeit nicht ohne verfassungsrechtliche Relevanz. Die Länder haben, soweit das GG nichts anderes bestimmt oder zuläßt, die umfassende Verwaltungszuständigkeit. 1 0 2 Das GG hat es dem Bundesgesetzgeber nicht freigestellt, ob und in welcher Weise er die Länder an der Ausführung der Bundesgesetze beteiligen will. Allerdings handelt es sich um eine widerlegbare Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder. 103 Hier hat der Bundesgesetzgeber eine Bundeseigenverwaltung für die Stasi-Akten durch den BStU angeordnet. Dies geht nur durch Bundesrecht (hier: das StUG). Damit werden aber zwei Fragen aufgeworfen: Besaß der Bund die Zuständigkeit für die StUG-Gesetzgebung? Hat sich der Bund bei der Verteilung der Verwaltungszuständigkeit an die Vorgaben der Art. 83ff. GG gehalten? a) Die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers für das StUG Bislang hat niemand die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das StUG ernsthaft in Zweifel gezogen. Sie ist deshalb auch nirgends vertieft untersucht worden. 104 Offenbar hat man sie stets als selbstverständlich angenommen; trotzdem ist ιοί Vgl. 4. Teil, 1. Kapitel, II, 2., lit. a). 102 Das ergibt sich aus Art. 30 GG bzw. Art. 83 GG. Vgl. auch: BVerfGE 55, 274 (318). 103 Vgl. BVerfGE 11, 6 (15); BSGE 1, 25; OVG Lüneburg, OVGE 11, 288; OVG Münster, OVGE 13, 315 (318). 104 Es gibt allerdings ein „Rechtliches Kurzgutachten'4 von Weichert zur „Frage der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für ein Stasi-Unterlagengesetz" vom 04. 06. 1991. Weichert untersucht darin auch die Gesetzgebungskompetenz und gelangt zu dem Ergebnis die Länder seien für die Gesetzgebung des StUG zuständig. Aus dem Gutachten geht nicht hervor für wen es erstattet worden ist und wo es veröffentlicht worden ist. Auftraggeber scheint die sog. „Gemeinsame Kommission der neuen Länder für das Stasi-Unterlagengesetz (StUG)" gewesen zu sein, deren Stellv. Vorsitzender Weichert war. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat dem Verf. eine Ausfertigung dieses Gutachtens zur Verfügung gestellt. Saathoff hat in einem zusammenfassenden (internen) Vermerk für die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 12. 06. 1991 die Resultate des Gutachtens für „diskussionsbedürftig" gehalten. Es ist im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht verwendet worden und findet sich demzufolge auch nicht in den Gesetzgebungsmate-

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

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diese Annahme nicht unproblematisch, wie noch zu zeigen sein wird. Zu Zeiten der ehemaligen DDR hätte man noch eine Gesetzgebungszuständigkeit aus dem Umstand begründen können, daß die Volkskammer das einzige gesetzgebende Organ war. Wenn sie handelte, war sie auch zuständig. Nach der Wiedervereinigung kann ein derartiger Aspekt nicht mehr angeführt werden. In dem ausbalancierten System von Zuständigkeiten, die das GG normiert, ist für eine Bundeszuständigkeit unter dem Gesichtspunkt der „normativen Kraft des Faktischen" kein Raum mehr. Man muß sich daher die Mühe machen, genau zu bestimmen, woraus eine Bundeszuständigkeit für das StUG hergeleitet werden kann. Badura hat vorgeschlagen, die Zuständigkeit des Bundes aus Art. 23 S. 2 GG (a. F.) i. V. m. dem Wiedervereinigungsgebot des GG zu begründen. 105 Richtig an diesem Ansatz ist, daß es stets eines legislativen Aktes bedurfte, um einen Beitritt nach Art. 23 S. 2 GG (a. F.) zu vollziehen, und das GG im Beitrittsgebiet in Kraft zu setzen. Richtig ist auch, daß dieser Akt nur in der Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers liegen konnte, da er das GG betraf. Nimmt man nun das Wiedervereinigungsgebot hinzu, könnte man zu der Folgerung gelangen, daß der Bund die Gesetzgebungszuständigkeit für alle beitrittsbedingten Probleme und damit auch für die Stasi-Akten habe. Dennoch liegen die Bedenken gegen Baduras These auf der Hand. Sie ergeben sich bereits aus dem EV. Nach Art. 4 Nr. 1 EV wird die Präambel des GG dahingehend verändert, daß die Einheit Deutschlands vollendet ist. Mit anderen Worten: Es gibt kein Wiedervereinigungsgebot mehr. Nach Art. 4 Nr. 2 EV wurde Art. 23 GG (a. F.) mit dem Beitritt der ehem. DDR komplett aufgehoben. Demnach gilt auch Art. 23 S. 2 GG (a. F.) nicht mehr. Hinzukommt die Maßgabe der Durchführungsvereinbarung zum EV, wonach der Gesetzgeber sich unverzüglich nach dem Beitritt an die Gesetzgebungsarbeit machen sollte. Sollte Baduras These richtig sein, würde dies bedeuten, daß die Zuständigkeit des Gesetzgebers aus Normen begründet würde, die zu der Zeit, als die Zuständigkeitsfrage für das StUG „akut" wäre, nämlich erst nach dem Beitritt, schon nicht mehr existierten. Diesen mißlichen Umstand hat Badura auch gesehen. Er behauptet aber, die Verfassungsänderung, die sich aus dem EV ergeben habe, habe diesen Kompetenztitel (Art. 23 S. 2 GG a. F.) nicht beseitigt. Vielmehr müsse man die aufgehobenen Normen im Sinne einer deutschlandpolitischen Bundeskompetenz auslegen.106 Diese Behauptung überzeugt jedoch nicht. Für die Begründung einer gegenwärtigen Zuständigkeit des Bundes ist zu fordern, daß auch die Zuständigkeitsnormen

rialien. Allerdings befindet sich das Gutachten als Anlage bei den sog. „Detailanmerkungen zum StuG-Gesetzentwurf der Bundesregierung" von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 16. 07. 1991. Im folgenden soll auch auf die Gedanken Weicherts eingegangen werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis (wie Weichert) gelangt das Bürgerkomitee Magdeburg in seiner Stellungnahme vom 04. 08. 1991 an den InnenA des Deutschen Bundestages; vgl. dort S. 3. 105 Vgl. Badura, Schriftliche Stellungnahme vom 10. 08. 1991 in: BT-Innenausschuß, Ausschuß-Drucks. 12/14. Badura beruft sich bei seinem Vorschlag auf die Entscheidung des BVerfG in E 82, 316 (320). 106 Vgl. Badura, InnenA, Prot. (12. Sitzung), Nr. 12, (Anlage II), S. 515.

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4. Teil: Eine frühe Kritik

gegenwärtig und gültig sind. „Recht" aus der Vergangenheit kann zu diesem Zweck nicht fruchtbar gemacht werden. Es fragt sich schon, wie eine derartige Auslegung „alten Rechts" unter den durch den Beitritt veränderten historischen und politischen Verhältnissen vollzogen werden sollte. Folglich ist der Vorschlag Baduras abzulehnen.107 Möglicherweise läßt sich die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers für das StUG aus dem EV und der DV dazu entnehmen. Die gesetzliche Regelung der Stasi-Akten ist nach dem Willen der Vertragspartner dem gesamtdeutschen Gesetzgeber aufgegeben worden. Allein es fragt sich, ob es sich bei dieser Bestimmung um eine Zuständigkeitsregelung handelt, und wenn ja, ob damit zwingend der Bundesgesetzgeber gemeint ist. Bedenken zur ersten Frage ergeben sich aus dem Umstand, daß zwei unabhängige Vertragsparteien primär eine Äußerung darüber gemacht haben, daß erst nach dem Beitritt und nicht im Rahmen des EV eine endgültige Lösung des Problems getroffen werden sollte. Mithin sollte die Meinung eines „vereinigten" Gesetzgebers maßgeblich sein. Darin kann nur bedingt eine Zuständigkeitszuweisung gesehen werden. Im wesentlichen ist die Vereinbarung zwischen der DDR und der Alt-Bundesrepublik von dem Willen einer einheitlichen politischen Verantwortung für ganz Deutschland getragen. Bereits im Vorfeld der Wiedervereinigung sollte klargestellt werden, daß sich das vereinte Deutschland auf gesetzgeberischem Wege des Stasi-Erbes annehmen würde. 108 Damit ergibt sich, daß das Problem nicht allein den übrigen Staatsgewalten, sondern - im ersten Zugriff - dem Gesetzgeber überlassen werden sollte. EV und DV ordnen also nur die Verteilung der Prioritäten unter den Staatsgewalten bei der Lösung des Problems. 109 Aber selbst wenn man eine Zuständigkeitszuweisung annähme, bliebe die zweite Frage noch offen; der Bund wäre nicht automatisch zuständig. Da der EV und die DV nach dem Beitritt im Range von Bundesrecht fortgelten (Art. 45 II EV), muß sich sein Inhalt im Rahmen der vom GG gesetzten höherrangigen Schranken halten. Nach dem GG ist es jedoch so, daß es dort keinen „gesamtdeutschen Gesetzgeber" gibt. Das GG kennt nur den Bundes- und die Landesgesetzgeber und verteilt die Gesetzgebungszuständigkeiten unter diese. Der EV, der in verfassungsmäßiger Weise keinen neuen Gesetzgeber „installieren" kann, muß demnach entsprechend den Vorgaben des GG ausgelegt werden. Dann ist es aber prinzipiell möglich, daß zwei unterschiedliche Gesetzgeber gemeint sein können. 110 Nun läßt sich einwenden, daß die Formulierung „der gesamtdeutsche Gesetzgeber" (Ein-

107

Badura, a. a. O., will die Notwendigkeit für seine „deutschlandpolitische" Auslegung einer ungeschriebenen Bundeskompetenz (aus der Natur der Sache) entnehmen. Ob eine ungeschriebene Bundeskompetenz direkt vorliegt, untersucht er nicht. los Vgl. z > g. die Erläuterungen der Bundesregierung zum EV; BT-Drucks. 11/7817. 109

So im Resultat auch: Badura, a. a. O. „Der Einigungsvertrag hat für sich allein keine kompetenzbegründende Wirkung." 110 Anders: Badura, a. a. O. Wie hier: Weichert, Gutachten S. 3.

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

183

zahl) auf den Bund hinweise, da dieser auf der EV-Ebene nach dem Beitritt allein verblieben sei. Dieser Hinweis ist aber nicht durchgreifend. Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, wird der jeweilige Landesgesetzgeber auch allein auf seiner Ebene tätig, und die Formulierung „gesamtdeutsch" betrifft nur den Hinweis auf die politische Verantwortlichkeit. Ferner: Nach dem Beitritt gibt es keine EV-Ebene mehr, sondern nur noch fortgeltendes Bundesrecht. Der Terminus „gesamtdeutscher Gesetzgeber" ist also nur ein Platzhalter für den nach innerstaatlichem Verfassungsrecht zuständigen Gesetzgeber. Als Resultat ist festzuhalten, daß sich aus dem EV und der DV keine zwingende Bundeszuständigkeit für die Stasi-Akten ergibt. Als nächstes ist zu prüfen, ob sich eine Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers aus dem GG ergibt. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz hat den Standpunkt vertreten, die Bundeszuständigkeit folge aus Art. 73 Nr. 10 b GG. 1 1 1 Danach ist der Bund zuständig für die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder zum Schutze der Freiheitlich-Demokratischen-Grundordnung (FDGO), des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes. Gemeint ist der Verfasssungsschutz. Diese Überlegung geht fehl. Zentraler Zweck des StUG ist nicht der Schutz der FDGO, sondern die Sicherung und Nutzung der Personendaten des ehemaligen MfS. Art. 73 Nr. 10 b GG ließe zudem nur Zusammenarbeitsregelungen zu und keine zentrale Verwaltungsstruktur, wie sie mit dem BStU geschaffen worden ist. Auch Art. 73 Nr. 8 GG, wonach die Rechtsverhältnisse der Bundesbediensteten in die Bundeskompetenz fallen, greift nicht umfassend, da die MfS-Unterlagen nicht nur für Einstellungen in den Bundesdienst, sondern für eine Vielzahl anderer Zwecke verwendet werden. Gemeint sind ζ. B. die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Strafverfolgung, etc. Aus dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung sind - bei großzügiger Betrachtung - Art. 74 Nrn. 1, 6, 9, 12, 13 GG berührt. Alle genannten Vorschriften tangieren die Materie des StUG jeweils nur am Rande. Keine von ihnen wäre in der Lage, die Gesetzgebungskompetenz des Bundes umfassend zu begründen. Diese Folgerung korrespondiert mit der Tatsache, daß keine der genannten Vorschriften sich der Lösung gesamtdeutscher Probleme widmet. Diese Feststellung gilt entsprechend für Art. 75 GG; keine der dort genannten Materien erfaßt den Kerngehalt des StUG. In den Art. 72 - 75 GG findet sich eine Zuständigkeitszuweisung an den Bund also nicht ausdrücklich. Neben den geschriebenen Gesetzgebungszuständigkeiten gibt es aber auch ungeschriebene. Abgesehen einmal von der unglücklichen Terminologie, man spricht besser von „stillschweigend mitgeschriebenen" Zuständigkeiten und dem umstrittenen Umfang dieser Zuständigkeiten, ist ihr Vorhandensein heute allgemein in zwei Spielarten anerkannt. 112 m Vgl. SSJ, S. 2.

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Zum einen gibt es die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs. Sie wird dann bejaht, wenn eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitgeregelt wird, wenn also ein Übergreifen in die nicht ausdrücklich zugewiesene Materie unerläßliche Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie. 113 Mangels einer ausdrücklichen Zuweisung an den Bund für den Problemkreis gesamtdeutscher Fragen kommt eine Kompetenz kraft Sachzusammenhanges für die Regelung der Stasi-Akten nicht in Betracht. Art. 23 S. 2 GG a. F. bzw. das Wiedervereinigungsgebot der Präambel existieren ja nicht mehr. Zum anderen gibt es die Kompetenz aus der Natur der Sache; diese hat der Bund für sich in Anspruch genommen. Sie liegt dann vor, wenn bestimmte Sachgebiete, weil sie ihrer Natur nach eine eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheit des Bundes darstellen, vom Bund und nur von ihm geregelt werden können. 114 Die Frage, die sich stellt, lautet nun, ob der Tatbestand einer derartigen stillschweigenden Bundeszuständigkeit gegeben ist. Dabei liegt, angesichts der Regelungen in den Art. 30 und 70 GG, die „Beweislast" beim Bund. Wollte man sich nun einer einfachen Argumentationsweise zuwenden, könnte man auch hier mit der „normativen Kraft des Faktischen" argumentieren: Die grundsätzliche Allzuständigkeit der Länder (Art. 70 I GG) sei bereits weitgehend ausgehöhlt durch die Zuweisung von Kompetenzen durch das GG an den Bund i. V. m. einer teilweise recht großzügigen Auslegung dieser Vorschriften durch die vom Bundesverfassungsgericht sanktionierte Staatspraxis. Faktisch liege der Gesetzgebungsschwerpunkt bereits beim Bund. Das überrasche auch nicht, wenn man sich überlege, daß bei der Größenordnung der Bundesrepublik viele gesellschaftliche Fragen nur auf der Ebene des Gesamtstaates erfolgversprechend angegangen werden könnten. Wolle man dieser Realität aber Rechnung tragen, müsse man den Blickwinkel verändern; man dürfe nicht mehr fragen, wieso der Bund hier ausnahmsweise zuständig sein sollte, sondern man müsse fragen, ob der den Ländern via Art. 79 III GG abgesicherte, eigenständige substantielle Bereich der Gesetzgebung noch garantiert wäre, wenn der Bund auch noch die Zuständigkeit für die

112

Vgl. allgemein zu den ungeschriebenen Kompetenzen im Bundesstaat: Bullinger, AöR 96 (1971), 237ff. Daneben soll es auch noch Annexkompetenzen geben. Diese stellen jedoch keinen eigenen Kompetenztitel, sondern vielmehr nur das Ergebnis einer teleologischen Auslegung geschriebener Gesetzgebungstitel dar, bei denen man eventuelle systematische Bedenken zurückgestellt hat. Abi. gegen jede Form der „Annexkompetenz": Weichert, Gutachten, S. 2f. unter Hinweis auf BVerwG, BayVBl. 1982, 540. Π3 Vgl. BVerfGE 3,407 (421); 26, 246 (256). 114 Vgl. Anschütz, Bd. I, S. 367 (für das Reich); BVerfGE 26, 246 (257). Diese Form der Zuständigkeit ist nur in sehr beschränkten Ausnahmefällen gegeben; vgl. vM, Art. 70, Rdnr. 21 f.

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Stasi-Akten bekäme. Stellt man die Frage aber so, ist sie praktisch bejahend beantwortet. Das Stasi-Akten-Problem ist ein neues beitrittsbedingtes; es hat den Mindestkatalog der bis dahin bestehenden Landeszuständigkeiten nicht angetastet. Einen automatischen Anspruch auf den Erhalt neuer Gesetzgebungszuständigkeiten zugunsten der Länder kennt das GG aber nicht. Weder Art. 70 noch Art. 79 III GG können hierfür fruchtbar gemacht werden. Vielmehr wäre die Tatsache des Beitritts der ehem. DDR zur Bundesrepublik, also zum Bund, ihrer Natur nach zuständigkeitsbegründend. Allein, es führt nicht weiter, mit der Lebenswirklichkeit zu argumentieren. Maßgebend für die Zuständigkeitsfrage ist nur die theoretische Verfassungswirklichkeit. Man muß nach einem anderen Ansatz suchen. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes könnte sich aus seiner uneingeschränkten und ungeschriebenen Befugnis ergeben, Grundrechte zu statuieren. Da dem BStU die Aufgabe zufällt, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des einzelnen Geltung zu verschaffen bzw. Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts des einzelnen abzuwehren, ist der Umstand der Sicherung eines Grundrechts gegeben. Folgte man diesem Ansatz, wäre, soweit sein Umfang reicht, eine Kompetenz des Bundes zu bejahen. Fraglich ist jedoch, ob die Grundrechte in das Einteilungsschema, welches den Art. 70ff. GG zugrunde liegt, passen. Entscheidend dagegen spricht, daß die Grundrechte alle Lebensbereiche durchziehen und der Bund im grundrechtsrelevanten Bereich dann prinzipiell eine Gesetzgebungskompetenz hätte. Damit wäre das Zuständigkeitssystem des GG unterlaufen. Außerdem werden die Grundrechte, anders als Bundesgesetze, nicht im Sinne der Art. 83 und 86 GG ausgeführt, sondern sie werden beachtet. Das ergibt sich aus Art. 1 III GG. Eine Bundeszuständigkeit kann somit nicht daraus hergeleitet werden, daß der BStU Grundrechte sichern soll. Möglicherweise kann für eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes die Tatsache fruchtbar gemacht werden, daß es um ein gesamtdeutsches Problem geht, welches auch die Bürger aus den alten Bundesländern betrifft. Das Stasi-AktenProblem trägt einen überregionalen Charakter. Sein Wirkbereich liegt im gesamten Bundesgebiet. Es ist nicht zu sehen, wie ein Land allein bzw. mehrere für sich genommen, diesem Aspekt Rechnung tragen wollen. Selbst wenn sich alle Länder auf eine einheitliche Behandlung verständigen würden, so bliebe doch die Ausgangslage der westlichen und östlichen Bundesländer verschieden. So gibt es ζ. B. Stasi-Archive nur in den östlichen Bundesländern. Nur dort gibt es besondere Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen usw. Zu unterschiedlich ist der Erfahrungsschatz, der in West- und Ost- Deutschland über das Problem vorhanden ist. Hinzu kommt, daß es eine Reihe von Vorbildern gab, bei denen ebenfalls die Regelung gesamtdeutscher Fragen aus der Natur der Sache heraus dem Bund zugesprochen wurde. So ist zum Beispiel bei der Schaffung des Zonenrandförderungs-

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4. Teil: Eine frühe Kritik

gesetzes,115 seinerzeit ebenfalls ein „neues" Problem, dem Bund die Kompetenz aus der Natur der Sache - unbestritten - zugesprochen worden, weil es sich um eine gesamtdeutsche Angelegenheit gehandelt hat. 1 1 6 Gleiches gilt für das Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen 117 und für das Gesetz betreffend den preußischen Kulturbesitz. 118 Auch die Stasi-Akten sind eine gesamtdeutsche Angelegenheit in diesem Sinne. Ihre Behandlung erfordert zudem noch einen breiten gesellschaftlichen Konsens und berührt die Interessen des Gesamtstaates nach Rechtseinheit und gleichen Lebensverhältnissen. Die Bedeutung des MfS in Berlin lag nicht nur in seinem Bestand an Unterlagen ersten Ranges. Seine Hauptbedeutung liegt darin, daß es den Gedanken „Wissen ist Macht" auf breitester Front und mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit umsetzte. Man hat quasi einen wertvollen Kulturbesitz vor sich, der sich aus dem Schaffen einer organisch gewachsenen, DDR-weiten Einrichtung herleitete. Die gesetzgeberische Betreuung dieser Materie läßt sich sinnvollerweise weder regional aufteilen, noch läßt sich ihre Erhaltung und Pflege von der Auswertung des Materials für die Allgemeinheit in Wissenschaft und Bildung und der damit verbundenen Hoheitsverwaltung sondern. Die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes ist eine nationale Aufgabe, die eine bundeseinheitliche Regelung notwendig macht. Für die zuvor genannten Aspekte könnte eine alleinige Länderzuständigkeit, selbst im Wege einer Verwaltungsgemeinschaft, nicht garantieren. Dies wird besonders deutlich, wenn man die fragliche Materie klassischen landesgesetzlichen Bereichen (Schule, Polizei) gegenüberstellt. Dort ist es für die Aufgabenerfüllung unschädlich, wenn diese auf mehrere existierende Rechtsträger verteilt wird. Da aber weder die ehemalige DDR, noch das MfS fortgeführt worden sind, mußte nach dem Beitritt ein neuer Rechtsträger für die Stasi-Akten gefunden werden. Damit ergab sich am 115 Vom 05. 08. 1971; BGBl. I S. 1237. 116 Vgl. die Beratung zum Zonenrandförderungsgesetz im Bundesrat, insbesondere: Franke, BR-Prot. (359. Sitzung), 284 (286); ferner: BT-Drucks. VI/1548, S. 5. 117 Vgl. Prot, der 165. Sitzung des Rechtsausschusses des BR vom 25. 04. 1956 zu TOP 2, S. 5ff. 118 Die Frage nach der Zuständigkeit des Bundes aus der Warte der gesamtdeutschen Angelegenheit war zunächst zwischen Bundestag und Bundesrat heftig umstritten. Für eine Zuständigkeit des Bundes: StS Hartmann (BMF) in: BR-Prot. (140. Sitzung), S. 106f.; ders. BR-Prot. (173. Sitzung), S. 553ff. Dagegen: Weber, BR-Prot. (140. Sitzung), S. 104 (105f.); Weyer, BR-Prot. (173. Sitzung), S. 550 (551f.). Die Frage wurde schließlich vom BVerfG im Sinne der Bundeszuständigkeit (aus Art. 135 GG) wegen der gesamtdeutschen Natur der Angelegenheit entschieden; vgl. BVerfGE 10, 21 (40f.; 45f.). Wenige Jahre später, als es um das Gesetz betr. die Rundfunkanstalten des Bundesrechts ging (1960), leugnete der Bundesrat erneut, aber letztmalig, daß „es bei der Wahrung des gesamtdeutschen Anliegens im innerstaatlichen Bereich ein Monopol des Bundes gebe."; v. Brünneck (Hessen); BR-Sonderausschuß „Rundfunkgesetz"-Prot. (1. Sitzung), zum einzigen TOP, S. 4f; ebenda, S. 11 findet sich ein Beschluß des Ausschusses, dessen Begründung mit den Worten beginnt: „Da die Wahrnehmung gesamtdeutscher Belange dem Bund und den Ländern in gleichem Maße zusteht, ...".

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3. Oktober 1990 die merkwürdige Situation, daß nach dem Beitritt die neuen Bundesländer noch nicht existierten, während die alten Bundesländer aus dem E V nicht in die Pflicht genommen waren, für die Stasi-Unterlagen zu sorgen. M i t dem Wegfall der ehem. D D R blieb auf der Ebene des Gesamtstaates nur der Bund übrig. Dieser trat folgerichtig die Rechtsnachfolge an und reklamierte das Eigentum an den Stasi-Unterlagen für sich. Wegen dieser besonderen Umstände liegt eine Vergleichbarkeit mit den üblichen Materien des Landesrechts nicht vor. Vergleicht man ferner die Bedeutung der vorher als Beispiele genannten Gesetze mit der des StUG, dann liegt eine Bundeszuständigkeit kraft Natur der Sache hier „erst recht" v o r . 1 1 9 I m Unterschied zu Baduras Ansatz ist hier der Vergleichsmaßstab nicht weggefallen. Der Kompetenztitel „Natur der Sache" ist noch da. Weil eine Kompetenz aus der Natur der Sache stets eine ausschließliche Bundeskompetenz ist, ist der Bundesgesetzgeber für das StUG also allein zuständig. 1 2 0 Dabei reicht die Kompetenz des Bundes für eine gesetzliche Regelung des Umgangs mit den Stasiunterlagen von der Erfassung über die Verwaltung bis zur Verwendung der Unterlagen. 1 2 1

119 Α. A. ist Weichert auf S. 3 seines Gutachtens; er folgert dort: „Für eine zentrale Regelung der Stasi-Unterlagen-Verwaltung werden eine Vielzahl von sachlichen Argumenten vorgebracht. Dem werden aber... von den Ländern ... andere sachliche Argumente entgegengesetzt. Die erstgenannten Argumente sind bei weitem nicht so dominant, daß davon gesprochen werden könnte, die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergebe sich 'aus der Natur der Sache'. Es handelt sich bei der Materie des Umgangs mit den Stasi-Akten nicht um einen Bereich, welcher nur die Bundesverwaltung betrifft und deshalb die Annahme einer 'ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenz rechtfertigt ..." Diese Überlegungen sind viel zu allgemein gehalten, um tragfähig zu sein. Mangels einer detaillierten Darstellung und Abwägung der vorgebrachten Argumente ist die Wertung Weicherts nicht nachvollziehbar. Es geht weniger um die Dominanz der Argumente, als um die Praktikabilität der Betreuung der Materie. Letztere ist aber beim Bund besser aufgehoben. Im übrigen kann die Gesetzgebungskompetenz nur dann streitig sein, wenn nicht bloß die Bundesverwaltung betroffen ist. Aus dem Umstand, daß auch die Länder betroffen sind, kann nicht automatisch gefolgert werden, der Bund besäße in diesen Bereichen keine Zuständigkeiten. 120 Im Erg. ebenso: Kloepfer, S. 69ff., der die Bundeskompetenz damit begründet, daß die gesammelten Unterlagenbestände des MfS nach dem Beitritt der DDR zu bundesunmittelbaren Archiven geworden seien. Für bundesunmittelbare Archive komme aber nur eine Kompetenz aus der Sache in Betracht. Gegen diesen Archivansatz: Weichert, Gutachten, S. 3f.; Schäuble, S. 274f. 121 Das gilt für das Gesetz im allgemeinen. Für die (besonderen) Straf- und Bußgeldvorschriften des Gesetzes (§§ 44 bis 46 StUG) folgt die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Nr. 1 GG (Strafrecht). Krit. Kloepfer, S. 92, der annimmt, es handele sich bei der Strafvorschrift trotz der unverfänglichen Formulierung um Pressesonderrecht. Der Bund hätte insoweit nur eine Rahmenkompetenz aus Art. 75 Nr. 2 GG. Das überzeugt aber nicht. Weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte des § 44 StUG geben für eine derartige Auslegung etwas her. Die Bestimmung ist von Anfang als materielles Strafrecht verstanden worden.

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4. Teil: Eine frühe Kritik

b) Die Verwaltungszuständigkeit

des Bundes

Der Bund hat für die Verwaltung der Stasi-Akten mit dem Bundesbeauftragten eine eigene Verwaltungsbehörde eingerichtet. Es fragt sich, ob der Bund dabei die Vorgaben der Art. 83ff. GG beachtet hat. Grundsätzlich führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus (Art. 83 GG) und richten die dafür erforderlichen Behörden ein (Art. 84 I GG). Auch soweit die Länder die Bundesgesetze im Auftrag des Bundes ausführen, bleibt die Einrichtung der Behörden ihre Angelegenheit (Art. 85 I GG). Der Bund selbst kann eigene Behörden dagegen nur ausnahmsweise dann einrichten, wenn die besonderen Voraussetzungen nach den Art. 86ff. GG vorliegen. Zu prüfen ist daher, ob diese Voraussetzungen bei der Bundesbehörde „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe maligen Deutschen Demokratischen Republik" vorliegen. Zunächst erscheint fraglich, ob der BStU überhaupt als Organ der Exekutive bezeichnet werden kann. Er wird nämlich vom Deutschen Bundestag gewählt (vgl. § 35 II 1 StUG) und könnte daher die Stellung eines Parlamentsbeauftragten haben. 122 Dafür könnte eine analoge Überlegung wie zu Art. 45 b GG sprechen. Das parlamentarische Kontrollrecht des Bundestages über die Bundesverwaltung könnte durch den BStU als Hilfsorgan des Bundestages erleichtert werden. Dabei würde der BStU nicht ein Teil der Exekutive. 123 Dieser Gedanke wird noch dadurch erhärtet, daß der BStU dem Bundestag gegenüber berichtspflichtig ist und auf Weisung bzw. Anforderung des Bundestages tätig werden muß, was die Erstellung von Gutachten etc. angeht (§ 37 III 3 StUG). Trotzdem geht die Annahme, der BStU sei kein Exekutivorgan, letzlich fehl. Ein Hilfsorgan des Parlaments müßte seinen Sitz bei diesem haben (vgl. für den Wehrbeauftragten: § 16 I WBeauftrG). Der BStU wird dagegen im Geschäftsbereich des Bundesministers des Inneren eingerichtet, und zwar ausdrücklich als Bundesoberbehörde (§ 35 I 1 StUG). Ein Hilfsorgan des Parlaments unterliegt, wie dieses selbst keiner Rechtsaufsicht der Exekutive. Der BStU jedoch unterliegt der Rechtsaufsicht der Bundesregierung (§ 35 V 3 StUG), also eines Exekutivorgans. Ferner: Die Dienstaufsicht für einen Parlamentsbeauftragten liegt beim Parlament selbst. Der BStU untersteht aber der Dienstaufsicht des Bundesministers des Inneren (§ 35 V 4 StUG). 124 Schließlich: Ein Parlamentsorgan würde keine Weisungen bzw. Anforderungen der Exekutive entgegennehmen. Der BStU ist jedoch auch der Bundesregierung auf Anforderung berichtspflichtig (§ 37 III 3 StUG). 122 Davon scheint Trute, JZ 1992, 1043 (1046) auszugehen, wenn er davon spricht, der Bundesbeauftragte sei (auch) dem Parlament funktional zugeordnet. 123 Vgl. (auch die analoge Argumentation beim Wehrbeauftragten:) Wolff-Bachof, VerwR III. S. 484; Hahnenfeld, ZRP 1973, 60ff.; ders. NJW 1963, 2145 (2147). 124 Das gilt nicht nur für seine Person, sondern auch für seine Mitarbeiter; d. h. gegenüber seinen Mitarbeitern ist der BStU nicht selbst Dienstbehörde. Vgl. auch die Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten von Berlin, Garstka, vom 08. 08. 1991, S. 12 (krit.).

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

189

Folglich ist der BStU ein Exekutivorgan, das einem besonderen parlamentarischen Zugriff unterliegt, ohne hierdurch aber seine Qualität als Bestandteil der Exekutive zu verlieren. Bedenken im Hinblick auf die Art. 86ff. GG könnten sich ferner daraus ergeben, daß die Einrichtung des BStU unmittelbar durch das Gesetz selbst erfolgt (vgl. § 35 I StUG). Nach Art. 86 S. 2 GG regelt grundsätzlich die Bundesregierung die Einrichtung der Behörden. Eine anderweitige Regelungsmöglichkeit durch einfaches Bundesgesetz ist jedoch ausdrücklich vorgesehen. Also ist eine Behördenregelung unmittelbar durch Gesetz prinzipiell zulässig. Für das Verfahren des BStU, welches die Rechte der Betroffenen, Dritten, Täter etc. berührt, kommt auf Grund des Gesetzesvorbehalts, der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, ohnehin nur eine parlamentarische Entscheidung in Betracht. Daher bietet sich auch für die Einrichtung des BStU als Bundesbehörde die Anordnung durch Parlamentsakt an, wenn sie sich nicht sogar zwingend aus dem GG ergibt (vgl. Art. 87 III 1 GG; „durch Bundesgesetz"). Ob ein solcher Zwang besteht, kann dahinstehen; jedenfalls ist festzuhalten, daß die Einrichtung des BStU durch das StUG zweckmäßig und nach Art. 86 GG zulässig ist. Die nächste Frage geht dahin, ob für den Aufgabenbereich, für den der BStU zuständig sein soll, eine Bundesoberbehörde eingerichtet werden darf. Die Gegenstände bundeseigener Verwaltung sind in den Art. 87 - 90, 108, 114 und 120a GG enumerativ aufgeführt. Da keiner der ausdrücklich benannten Gegenstände in Betracht kommt, könnte sich die Verwaltungszuständigkeit des Bundes allein aus Art. 87 III 1 GG ergeben, wenn es um Angelegenheiten ginge, für die dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zusteht. Denn die äußerste Grenze für Verwaltungsbefugnisse des Bundes ist seine Gesetzgebungskompetenz.125 Das würde zunächst voraussetzen, daß Art. 87 III 1 GG eine echte Zuständigkeitsregelung ist und nicht eine bloße Organisationsvorschrift, die bestimmt, wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts zu errichten ist. Für den Charakter des Art. 87 III 1 GG als Zuständigkeitsregelung sprechen zunächst einmal Wortlaut und Stellung der Norm. Art. 87 I und II GG sind eindeutige Kompetenznormen, die nur - anders als Abs. III - an bestimmte Sachgebiete anknüpfen. Wenn Abs. III aber an Abs. I und II mit dem einleitenden Wort „außerdem" an schließt, so deutet dies an, daß auch hier dem Bund eine zusätzliche Verwaltungskompetenz eröffnet wird. 1 2 6 Bedenken gegen diese Auslegung könnten sich aber aus den Konsequenzen er geben, die sich möglicherweise einstellen. Die Allzuständigkeit der Länder auf dem Gebiet der Gesetzgebung ist bekanntlich nur Theorie. Praktisch ist der Bund für alle wesentlichen Dinge zuständig. Im Nachgang zu dieser Ausweitung der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes würde eine derartige Auslegung des Art. 87 III 1 GG den Bund geradezu einladen, auf breiter Front in die Verwaltungs-

125 Vgl. BVerfGE 12, 205 (229) m. w. N. 126 Vgl. BVerfGE 14, 197 (210); Krebs, JuS 1989, 745 (747).

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4. Teil: Eine frühe Kritik

hoheit der Länder einzubrechen. Ähnlich wie der in Art. 70 GG niedergelegte Grundsatz zugunsten der Gesetzgebungszuständigkeit für die Länder, könnte dann auch der in Art. 83 GG niedergelegte Grundsatz der Länderzuständigkeit für die Ausführung der Bundesgesetze faktisch ins Gegenteil verkehrt werden. Richtig daran ist, daß diese Möglichkeit besteht; trotzdem darf man sie nicht überbewerten. Es ist zu beachten, daß der Bund nach Art 87 III 1 GG nur selbständige Bundesoberbehörden oder bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten errichten kann, aber keinen eigenen Verwaltungsunterbau. Daraus ist zu folgern, daß auch nur solche Aufgaben als Legitimation für die Errichtung in Frage kommen, die der Sache nach für das ganze Bundesgebiet von einer Oberbehörde ohne Mittel- und Unterbau und ohne Inanspruchnahme von Verwaltungsbehörden der Länder wahrgenommen werden können. 127 Damit relativiert sich die Gefahr einer Durchbrechung der Regel des Art. 83 GG erheblich. Angesichts dessen ist im Hinblick auf den klaren Wortlaut des Art. 87 III 1 GG dem Verständnis der Vorschrift als Kompetenznorm der Vorzug zu geben. Als bloße Organisationsnorm wäre die Vorschrift zudem nicht verständlich. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum die Gesetzgebung des Bundes eine zusätzliche Voraussetzung für die Errichtung von Behörden sein sollte, wenn dem Bund ohnehin schon aufgrund einer anderen Norm die Verwaltungskompetenz und damit auch das Recht, Behörden zu errichten, zustehen müßte. Art. 87 III 1 GG ist also eine Zuständigkeitsregelung. Es bleibt dann noch zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 87 III 1 GG vorliegen. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Stasi-Akten ist aus der Natur der Sache heraus bejaht worden. 128 Der Bund hat eine selbständige Oberbehörde errichtet, die die Betreuung der Stasi-Akten für das ganze Bundesgebiet durchführt und die sich dabei weder eines Mittel- oder Unterbaus, noch Verwaltungsbehörden der Länder bedient. Die Voraussetzungen des Art. 87 III 1 GG sind demnach erfüllt. Die Verwaltungshoheit der Länder in diesem Bereich ist damit beendet. Die Verwaltungszuständigkeit für die Stasi-Akten steht dem Bund zu.

c) Resultat Damit ergibt sich, daß das Vorgehen des Bundes betreffend Gesetzgebung und Verwaltung wegen der Stasi-Unterlagen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Die Kritik der Gruppe BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN im Hinblick auf eine „föderale" Verwaltung der Akten setzt am Ermessen des Bundes an, wie es in Art. 87 III 1 GG statuiert ist. Sie ist nur begrenzt juristischer, vielmehr politischer Na-

127 So: BVerfGE 14, 197 (211); vgl. auch Kirschenmann, JuS 1977, 570. 128 Vgl. oben lit. a) a. E.

129 Diese Erwägungen unterfallen vielmehr allein dem gesetzgeberischen Freiraum, in dem dieser entscheiden darf. Vgl. BVerfGE 10, 21 (40) (betr. StiftungsG preuß. Kulturbe-

2. Kap.: Die PDS bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und das StUG

191

I I I . Folgerungen Die hier dargestellten Kritikpunkte zeigen, daß eine Meinungsäußerung nicht ohne ihren politischen Hintergrund verständlich ist. Mag auch im Einzelfall die Kritik durchaus allein juristisch gemeint sein, so fällt sie doch immer wieder auf den politischen Standpunkt zurück. 130 Obwohl gerade bei einem derart sensiblen Thema wie den Stasi-Akten die Konsensfähigkeit eigentlich hoch sein sollte, registriert man mit Verblüffung, daß die widerstreitenden politischen Standpunkte ζ. T. in aller Öffentlichkeit ausgefochten und nur mühsam hinter juristischen Erwägungen verborgen wurden. Letztlich haben alle Beteiligten versucht, ihre Vorstellungen von Vergangenheitsbewältigung zu realisieren. Das gilt insbesondere für die PDS auf ihre Art, ebenso wie für das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit seiner These von der Primärverantwortung der neuen Bundesländer. Freilich vermochten beide Standpunkte nicht zu überzeugen. Insbesondere DIE GRÜNEN müssen sich unter dem Einfluß der in ihrer Gruppe wirkenden Bürgerrechtler den Vorhalt gefallen lassen, eines der Grundprinzipien des GG übersehen zu haben, nämlich das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Niemand verkennt das Engagement bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Mag ihrem Einsatz auch viel, wenn nicht gar alles für die Erhaltung der S tasi-Unterlagen zu verdanken sein, so können sie vor dem GG doch keine Privilegierung erfahren. Auf der Basis einer exklusiven Gruppenzugehörigkeit läßt sich kein Anspruch auf besondere Kontroll- oder Mitspracherechte herleiten. Gleichgültig mit wieviel Vehemenz die Interessen verfochten werden, eine Einflußnahme auf die Bildung des politischen Willens findet nach dem GG auf andere Weise statt. Von entscheidender Bedeutung ist auch, daß das StUG dem Volkskammergesetz in vieler Hinsicht weit überlegen ist, gerade weil nicht alles, was Prinzip des Volkskammergesetzes war, unverändert übernommen worden ist. So sind insbesondere die Regeln über die Verwendung / Verwertung der Unterlagen im Volkskammergesetz zu pauschal geraten, während das StUG diesem Aspekt breiten Raum gibt, nämlich im gesamten dritten Abschnitt.

sitz), wo es ausdrücklich heißt: „Einer näheren Prüfung der Frage, ob .... auch andere, möglicherweise bessere Lösungen denkbar wären, bedarf es ... nicht ... Es ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, im einzelnen die Erwägungen nachzuprüfen, die den Gesetzgeber zum Erlaß des Stiftungsgesetzes bestimmt haben." 130 Daraufhat auch Schmidt, ZRP 1993, 72 hingewiesen; er stellt aber lediglich (aus Platzmangel) fest, daß die politisch motivierten Kritikpunkte inhaltlich unzutreffend seien. Eine dezidierte Richtigstellung hält er aber wohl für nötig.

5. T e i l

Der Umgang des StUG mit den Unterlagen nach dem dritten Abschnitt des Gesetzes Innerhalb des dritten Abschnitts des Gesetzes befinden sich die eigentlichen Kernregelungen über das Verfahren und die Zugriffsrechte der an den Unterlagen Beteiligten und Interessierten. Aufgeteilt in drei weitere Unterabschnitte, trifft das Gesetz Regelungen über die Zugangs- und Einsichtsmöglichkeiten von Opfern und Tätern für ihre persönlichen Zwecke, über den Zugriff öffentlicher oder nicht-öffentlicher Stellen für die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe der Stellen und über die besondere Verwendung der Unterlagen durch die Wissenschaft und die Medien.

1. Kapitel

Die Rechte der Opfer I. Der Opferbegriff des Gesetzes 1. Ein elementares Begriffspaar Immer wieder fiel im Rahmen der Gesetzesberatungen das Begriffspaar „Opfer - Täter". Nach herkömmlicher, laienhafter Vorstellung scheint dies auch die gegebene Klassifizierung für die Bespitzelten („die Guten") bzw. die Spitzel („die Bösen") zu sein. Insbesondere die Massenmedien haben diese „Schwarz-Weiß-Malerei" aufgegriffen und damit den Blick für das eigentliche Problem verstellt. Natürlich liegt die Grundaussage auf der Hand: Information und Rehabilitation für die Opfer und Stigmatisierung bzw. Strafe für die Täter. Aber wenn man diese simple Aussage einmal hinterfragt, wenn man zum Beispiel danach fragt, woran man einen „Täter" oder ein „Opfer" erkennt, oder ob es nicht Mischformen von beiden geben könnte und wie diese zu behandeln wären, dann werden die Antworten schon rar, und auch die Medien ziehen sich dann zurück, um nicht in einem Sumpf menschlicher Unzulänglichkeiten Farbe bekennen zu müssen. Entscheidend ist es, nicht simple Begriffe zu prägen, sondern sie mit Leben auszufüllen. Der sorglose Umgang mit Schlagworten wie ζ. Β „Opfer, Täter" kann im Falle der Stasi-Akten

. Kap.: Die Rechte der

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193

dazu führen, daß ein Teil der ehemaligen DDR-Bürger aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt und dem Haß ihrer Mitmenschen ausgesetzt wird. Wer nur an gesteigerten Einschaltquoten bzw. Auflagenzahlen interessiert ist, den kümmert es nicht besonders, ob es für diejenigen, über die er berichtet, noch ein „Morgen" gibt. Wenn im folgenden von „Opfern" und „Tätern" die Rede ist, so ist zu berücksichtigen, daß diese Begriffe nicht in der Form verwandt werden, die mit Begriffen wie „absolut weiß" und „absolut schwarz" identisch sind. Man hat eher einen „Grauton" vor sich.

2. Betroffener gleich Opfer Der gesamtdeutsche Gesetzgeber, der, der Menschenwürde verpflichtet, den Erhalt des sozialen Friedens einerseits berücksichtigen, andererseits jedoch materielle Gerechtigkeit schaffen mußte, konnte es sich nicht so einfach machen bei der Frage, wer Opfer, Täter usw. ist. So verwundert es denn auch nicht, daß das StUG weder den Begriff „Opfer", noch den Begriff „Täter" und die damit implizierten Wertungen benutzt. Stattdessen arbeitet das StUG mit dem wertfreien Begriff des Betroffenen (§ 6 Abs. 3 S. 1 StUG). Nach der Definition des Gesetzes sind Betroffene Personen, über die der Staatssicherheitsdienst auf Grund zielgerichteter Informationserhebung oder Ausspähung einschließlich heimlicher Informationserhebung In formationen gesammelt hat. Daß dieser Betroffenenbegriff tatsächlich wertfrei ist, ergibt sich aus dem Umstand, daß er, so formuliert, auch Personen umfaßt, die bespitzelt wurden, um sie zu I M zu machen bzw. ihre Tätigkeit als I M zu kontrollieren, oder auch solche Personen, die in das Blickfeld des MfS gerieten, um von diesem geschützt oder gefördert zu werden. Diese Personen würde man nach Laienwertung zu den „Tätern" rechnen müssen. Daher stellt § 6 Abs. 3 S. 2 StUG sofort klar, daß diese Personen nicht Betroffene im Sinne des StUG sein sollen.1

3. Ein weiter Opferbegriff Im ganzen erscheint diese Definition des Begriffs „Opfer" gewunden. Tatsächlich sollen der Begriff des „Betroffenen" im Sinne des Gesetzes und der Begriff „Opfer" identisch sein. In der Begründung des Regierungsentwurfes heißt es nämlich kurz und bündig: „Betroffene sind die ,Opfer 4 des Staatssicherheitsdienstes. Dies sind Personen, gegen die der Staatssicherheitsdienst vor allem zum Zwecke politischer Repressionen mit rechtsstaatswidrigen Mitteln vorgegangen ist." 2 Damit wird die Konstruktion des gesetzlichen Opferbegriffs deutlich. Statt diesen von 1 Vgl. auch den Bericht der Abg. Büttner, Schwanitz, Schmieder und Köppe in: BTDrucks. 12/1540, Seite 58. 2 BT-Drucks. 12/723 S. 20.

13 Engel

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

innen heraus zu definieren, hat sich der Gesetzgeber dazu entschlossen, ihm den weiteren Begriff des Betroffenen „überzustülpen" und diesen dann bis auf die „Opfergrenze" einzuschränken. Es versteht sich von selbst, daß bei einer solchen Definition „von außen" der Kern der Sache nur unter Schwierigkeiten getroffen werden kann.3 Es wird vielmehr nur festgestellt, wer noch oder nicht mehr Opfer ist, aber nicht „was" ein Opfer ist. Selbst die dann, das heißt bei Anwendung dieses Betroffenenbegriffes, auf eine Person getroffene Feststellung hinsichtlich ihrer Opfereigenschaft kann unrichtig sein. Was ist zum Beispiel mit all den Personen, deren Daten das MfS aufgrund von Zufallsfunden, das heißt nicht durch zielgerichtete Ausspähung, erlangt hat, oder den Personen, deren Daten von anderen Stellen, die üblicherweise mit dem MfS zusammenarbeiteten, offiziell, also nicht heimlich, an dieses weitergegeben wurden? Diese Personen werden ebenso ungewollt durch die Informationssammlung des MfS in ihren Rechten beeinträchtigt. Trotzdem sind sie für das StUG keine Betroffenen, also keine Opfer, sondern nur „Dritte", das heißt „sonstige Personen", vgl. § 6 Abs. 7 StUG. Ein weiteres Beispiel ist die Übermittlung von Daten zu Rechtsradikalen. In den Archiven des MfS haben sich auch Unterlagen zu rechtsextemistischen Personen gefunden. Angesichts der derzeitigen politischen Situation besteht ein Interesse verschiedener Stellen, diese Unterlagen zu verwenden, um sowohl die Hintergründe als auch die Vorgehensweise des rechtsextremistischen Spektrums erkennen zu können. Solche Personen wurden aber im Regelfall vom MfS beobachtet und kontrolliert und somit als „Opfer", d. h. Betroffene, erfaßt. Daher sind die Unterlagen für die mit dieser Thematik befaßten Behörden (Verfassungsschutz) prinzipiell nicht zugänglich. Es spricht jedoch einiges gegen die vom Gesetz vorgegebene Einordnung von rechtsextremistischen Personen als „Opfer" des MfS, sobald das MfS diesen Personenkreis beobachtete. Gemeint ist ζ. B. die verfassungsfeindliche politische Zielrichtung. Unproblematisch sind nur die Fälle, in denen das MfS Personen aus diesem Umfeld vor Strafverfolgung geschont hat oder hat schonen lassen. Letzteres macht diese Personen nämlich zu „Begünstigten" i. S. d. StUG. Sollten derartige Unterlagen nicht generell den zuständigen Behörden zugänglich gemacht werden (ζ. B. nach § 25 StUG)? Es handelt sich ja um Personen, die legitimerweise vom Verfassungsschutz beobachtet werden, und über die es auch unter den grundgesetzlichen Voraussetzungen Unterlagen gibt. Für den Fall der Novellierung des StUG sollten diese Personen aus der Opferkategorie entfernt und den Begünstigten des MfS zugerechnet werden.4

3 So hält zum Beispiel Weichert, ZRP 1992, 241 (242) den Opferbegriff des StUG für „zu vage". 4 Allerdings hat Gauck in seinem Bericht vom 25. Ol. 1993, S. 5f - an den InnenA des BT - zu diesem Problem darauf hingewiesen, daß es nicht zu einer Aushöhlung des Opferbegriffes kommen dürfe. Gauck schlägt vor (a. a. O.), eine spezielle Regelung für diesen Personenkreis zu schaffen.

1. Kap.: Die Rechte der Opfer

195

II. Alternativen zum gesetzlichen Opferbegriff 1. Der Opferbegriff des Alternativentwurfes (Alt-E) Nach § 2 IV des Alt-E des StUG der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5 sollte ein Betroffener eine natürliche Person sein, „über die personenbezogene Daten und Unterlagen des MfS gespeichert oder sonst aufbewahrt sind, soweit sie nicht offizieller oder inoffizieller Mitarbeiter des MfS war oder anderweitig bewußt an der Herstellung der jeweiligen Unterlagen mitgewirkt hat." 6 Wie selbstverständlich wird auch hier der Begriff „Betroffener" stellvertretend für das Wort „Opfer" verwandt. 7 2. Kritik am Opferbegriff des Alt-E Auffällig an dieser Definition ist zunächst einmal der Umstand, daß sie, im Gegensatz zum Gesetz, nicht auf die Haupttätigkeit des MfS, nämlich Informationserhebung/Ausspähung abstellt, sondern vom Bestand gespeicherter/gesammelter Daten/Unterlagen ausgeht. Während das Gesetz bei den „Zielgruppen" der StasiArbeit ansetzt, geht der Alt-E vom Resultat der Stasi-Arbeit aus, nämlich den Akten. Es fragt sich nur, ob damit ein besseres Verständnis vom Opferbegriff gewonnen werden kann, als das StUG vermittelt. Die Logik erscheint verblüffend einfach: Trennt man die Akten der Mitarbeiter des MfS i. w. S. von den übrigen Akten ab, so müssen die Akten der Opfer übrigbleiben. Einfach, aber unzutreffend. Würde man so verfahren, blieben nur die Personen übrig, die „nur", das heißt 100%ige Opfer, echte Märtyrer, wären. Die große Zahl derjenigen, die als Opfer der Verhältnisse zu Tätern wurden (IM-Werbung durch Nötigung, Erpessung o. ä.) blieben unberücksichtigt, und das auch gegenüber den Unterlagen, die sie erst zu Opfern machten. Ein bloßes Abstellen auf den Bestand gespeicherter Daten/gesammelter Unterlagen ist daher zu kurz gegriffen. Zuviele Personen würden dann ungerecht behandelt.

3. Das Volkskammergesetz und der Opferbegriff Verdienstvoll ist aber an beiden Definitionen, daß sich der gesamtdeutsche Gesetzgeber über den Opferbegriff im Zusammenhang mit den Stasi-Akten und seine Auslegung überhaupt Gedanken gemacht hat und die Notwendigkeit einer klaren 5 BT-Drucks. 12/692. 6 BT-Drucks. 12/692, S. 3. 7

Vgl. zum Beispiel § 1 Nr. 3 Alt-E, der u. a. von der Rehabilitierung des Betroffenen spricht. In der Gesetzesbegründung zu § 1 Nr. 3 Alt-E heißt es dazu wörtlich: „Die Rehabilitierung des Opfers ist in der Regel ohne vorherige Überprüfung der gesammelten Daten nicht möglich." BT-Drucks. 12/692, S. 13 a. E. 13*

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

gesetzlichen Sprachregelung gesehen hat. Das Volkskammergesetz der ehemaligen DDR vom 24. 08. 1990 über den Umgang mit den Stasi-Akten machte es sich hier sehr einfach. Ohnehin nur sehr spärlich mit eigenen Begriffsbestimmungen ausgestattet,8 verzichtete das Gesetz auf eine eigene Opferdefinition und verwies pauschal auf die analoge Anwendung der im BDSG verwandten Begriffe. 9 Das BDSG wiederum definiert den Begriff des Betroffenen in § 3 I. Ein Betroffener ist danach eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person, über die personenbezogene Daten, das heißt Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse vorliegen. Legt man diese Definition des „Opferbegriffs" dem Volkskammergesetz zugrunde, so ergibt sich mangels weiterer Differenzierung im Gesetz, daß in diesen Betroffenenbegriff auch diejenigen Personen fallen, die man als „Täter" bezeichnen muß, denn es gab auch Akten über diese. So gesehen ist der Begriff „Betroffener" nur ein Oberbegriff für Opfer und Täter und damit zur Klarstellung, was ein „Opfer" ist, untauglich.10 4. Ein Zwischenergebnis Es bleibt als Zwischenergebnis festzuhalten, daß von den angebotenen Lösungen die letzte untauglich und die beiden anderen mehr oder weniger bedenklich sind.

I I I . Eine Definition des Opferbegriffs „von innen" heraus (Überlegungen de lege ferenda) 1. Der Versuch einer Definition Als Ausgangspunkt der Überlegungen mag die Formel dienen, die im Entwurf des jetzigen StUG zur Begründung des Betroffenenbegriffs verwandt wurde; vgl. oben I., 1., lit. c). Opfer sind demnach also natürliche Personen, gegen die das MfS im Rahmen seiner Zuständigkeit zu repressiven Zwecken mit rechtsstaatswidrigen Mitteln vorgegangen ist. Diese Formel ist aber noch unvollständig. Seinem Wortsinn nach umfaßt der Begriff „Opfer" notwendig die Einbuße bzw. Darbietung eines wie auch immer gearteten Interesses. Auch für die Gewinnung von IM durch das MfS wurden ganz erhebliche - ungesetzliche und damit repressive - Informationssammlungen durchgefühlt, bevor es zu einer Werbung kam. 11 Selbstverständlich waren die hierbei eingesetzten Mittel auch rechtsstaatswidrig. Aber man 8 Vgl. § 2 des Volkskammergesetzes; GBl. 1990, S. 1419. 9

Vgl. § 2 I V des Volkskammergesetzes. Es wundert daher nicht, daß das VolkskammerG grundsätzlich die fragl. Daten für gesperrt erklärte ( § 9 1 1 des Gesetzes) und den „Betroffenen" nur ein Auskunftsrecht über die gespeicherten Daten gewährt wurde (und kein Einsichtsrecht), vgl. § 111 1 des Gesetzes. u Vgl. Fricke, S. 104; Gill/Schröter, S. 108f. 10

. Kap.: Die Rechte der

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197

wird nicht sagen können, daß diejenigen, die sich dann bereit fanden, für das MfS zu arbeiten, irgendwelche Interessen aufopferten. Im Gegenteil, die Mitarbeit beim MfS war zumeist mit politischen, wirtschaftlichen, beruflichen oder sozialen Vorteilen verbunden. Gemeint sind ζ. B. der Hochschulzugang, Auslandsreisen, ein Telefonanschluß etc. Folglich muß die Formel noch erweitert werden. Opfer (Betroffene) sind natürliche Personen, gegen die das MfS im Rahmen seiner Zuständigkeit zu repressiven Zwecken mit rechtsstaatswidrigen Mitteln vorgegangen ist und die hierdurch einen Schaden erlitten haben. Nun muß man als nächstes dem Umstand Rechnung tragen, daß es nicht nur „reine" Opfer gibt, sondern daß eine Vielzahl von Fällen existiert, in denen die Opfer zugleich auch „Täter" waren. Dann kann diesen Personen nur insoweit der Status eines Opfers zuerkannt werden, als der ihnen entstandene Schaden reicht. Also muß man die vorher genannte Formel nochmals verändern: Opfer (Betroffene) sind natürliche Personen, gegen die das Mß im Rahmen seiner Zuständigkeit zu repressiven Zwecken mit rechtsstaatswidrigen Mitteln vorgegangen ist, wenn und soweit ihnen hierdurch ein Schaden entstanden ist. Damit ist der Kerngehalt des Opferbegriffes gefunden. Es geht jetzt nur noch darum, ihn stilistisch aufzubereiten und von Überflüssigkeiten und Selbstverständlichkeiten im Tatbestand zu befreien. Da es keinen legal definierten Zuständigkeitskatalog für das MfS gab, vielmehr das MfS in seiner Gier nach Informationen alles aufsog, was es bekommen konnte, ist zu folgern, daß das MfS sich für alles zuständig fühlte, was auch nur entfernt wert gewesen wäre, gewußt zu werden. Mithin war die Zuständigkeit des MfS immer dann begründet, wenn es tätig wurde. Also kann der Einschub in der Definition „im Rahmen seiner Zuständigkeit" entfallen. Unterlagen wurden nur dann angelegt, wenn vorher ein Sammeln von Informationen vorausging. Ferner sah das MfS-Gesetz von 1950 keine Befugnisse - insbesondere keine Polizeibefugnisse - für das MfS vor. Mangels vorhandener gesetzlicher Ermächtigung konnte das MfS im rechtsstaatlichen Rahmen, also nach hiesigem Verständnis des Rechtsstaatsprinzips,12 überhaupt nicht tätig werden. Soweit das MfS in seinem Hauptbetätigungsfeld gehandelt hat, um Informationen zu erlangen, ist es demnach von vornherein mit rechtsstaatswidrigen Mitteln vorgegangen.13 Der Hinweis auf diese Mittel im Rahmen der Definition ist folglich auch überflüssig. Nun sieht der Betroffenenbegriff wie folgt aus: „Opfer (Betroffene) sind natürliche Personen, gegen die das Mß zu repressiven Zwecken vorgegangen ist, wenn 12 Die Rede ist vom Vorbehalt des Gesetzes, also vom Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; Art. 20 III GG; vgl. dazu S/H-Seifert, Rdnr. 9 zu Art. 20 GG; dazu: BVerfGE 8, 274 (325f.); BVerfGE 9, 137 (147f); BVerfGE 48, 210 (221). 13 Davon geht auch der Regierungsentwurf des StUG aus; vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 20.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

und soweit ihnen hierdurch ein Schaden entstanden ist. " Der angesprochene repressive Zweck bestand sowohl in einer Abwehr- als auch in einer Sicherungsfunktion nach innen hin. 1 4 Beide Funktionen trafen im obersten Ziel, dem Machterhalt der SED, zusammen.15 Da letztlich jegliches Handeln des MfS sich an diesem Endziel ausrichtete, ferner das MfS nur tätig wurde, wenn es Bestrebungen vermutete, die wider die Ziele der SED waren, wird deutlich, daß das MfS nur zu repressiven Zwecken gegen Personen vorging. Auch die Zweckbestimmung kann so aus der Definition entfernt werden. Dafür muß man allerdings den Begriff des Vorgehens näher definieren. „Vorgehen" bedeutet insoweit, daß das MfS Informationen über eine bestimmte Person (oder Personengruppe usw.) gesammelt hat. Der Betroffenbegriff lautet dann wie folgt: „Opfer (Betroffene) sind natürliche Personen, über die das Mß Informationen gesammelt hat, wenn und soweit ihnen hierdurch ein Schaden entstanden ist." Da der Schadensnachweis im Einzelfall schwierig sein kann und u. U. vom Zufall abhängt, die Akten aber den Betroffenen geöffnet werden sollen, dürfen für mögliche Opfer keine allzu großen Hürden für den „Opfernachweis" aufgerichtet werden. Es muß also ausreichen, wenn sich aus den Unterlagen die für die Bearbeiter des BStU erkennbare Absicht des MfS ergibt, die gesammelten Informationen zum Schaden des Bespitzelten zu verwenden. Im übrigen ist eine Beschränkung auf natürliche Personen auch nicht zwingend notwendig, um den „Opfertatbestand" zu umschreiben. Dann hat der Opferbegriff nunmehr folgende Fassung: „Opfer (Betroffene) sind Personen, über die das Mß Informationen gesammelt hat, um sie objektiv zu deren Schaden zu verwenden. " Jetzt braucht man nur noch das Wort „Opfer" durch den wertfreien Begriff „Betroffener" zu ersetzen und das Wort „Schaden" mit dem sinngleichen, aber stilistisch besseren Begriff „Nachteil" auszutauschen, und man erhält den „Opferbegriff von innen heraus" definiert: „ Betroffene sind Personen, über die das Mß Informationen sie objektiv zu deren Nachteil zu verwenden. "

gesammelt hat, um

2. Vergleich der Opferbegriffe Damit ist begrifflich eine Definition des „Opfers" gefunden. Es fragt sich nur, wo der so definierte Betroffenenbegriff von dem Begriff des StUG abweicht und warum dies der Fall ist. Beiden Opferbegriffen gemeinsam ist, daß es auf die Art der Informationssammlung nicht ankommt. Uninteressant ist, da nur eine Formulierungsfrage, ob der Staatssicherheitsdienst „zu" diesen Personen Informationen gesammelt hat oder ob er sie „über" solche Personen gesammelt hat. Bedeutsamer ist schon der Hinweis in § 6 III 1 StUG, daß es sich um eine zielgerichtete Infor14 Vgl. Fricke, S. 13. 15 Vgl. Fricke, S. 11.

. Kap.: Die Rechte der

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mationssammlung gehandelt haben muß. Das StUG vermag auf das Merkmal der Zielrichtung nicht zu verzichten, da es die Betroffenen von den Dritten abgrenzen will. Aber nicht die Zielrichtung der Informationssammlung, sondern der tatsächliche Aufbau des Unterlagenbestandes rechtfertigt die Differenzierung. Mithin geht es also um das konsequente Fortführen der in den Unterlagen angelegten Stasi-Logik. Das führt ganz folgerichtig zu dem mühsamen Unterfangen, für jede Information gesondert feststellen zu müssen, welche Personenkategorie betroffen ist (§ 6 VIII StUG). 16 Das ist erforderlich, um sich von der in § 6 III StUG angelegten Stasi-Logik wieder zu lösen. Diese komplizierte Verfahrensweise hätte man vereinfachen können, wenn man bereits im Opferbegriff sich von der Stasi-Logik verabschiedet und auf objektive Nicht-Stasi-Kriterien abgestellt hätte. Der eben gefundene Opferbegriff ist demgegenüber griffiger. So kommt er zum Beispiel ohne die Ausnahme regelung in § 6 III 2 StUG aus, da er derartige Personen (Täter) schon tatbestandlich nicht er faßt. Auch hat der Opferbegriff des StUG noch einen anderen unangenehmen Nebeneffekt. Von seinem Tatbestand sind auch Personen erfaßt, die das SED-Regime gestützt haben. Gemeint sind Amtsträger und Inhaber politischer Funktionen, zu denen das MfS im Zuge von Sicherheitsüberprüfungen zielgerichtet Informationen gesammelt hat. 17 Da auch eine Informationssammlung ohne Ausspähung von der gesetzlichen Definition erfaßt ist, kommen diese Personen in den Genuß der Opferrechte (fast unbeschränkter Zugang zu den Informationen, erhebliche Beschränkung der Verwendung durch Dritte, etc.). Der hier entwickelte Opferbegriff vermeidet diese Schwierigkeit, da solche Personen mangels Nachteilsabsicht bei der Informationssammlung nicht Opfer sein können. Es läßt sich also durchaus folgern, daß der gesetzliche Opferbegriff nicht nur schwerfällig formuliert, sondern auch inhaltlich bedenklich ist. 18 Hier ist erheblicher Korrekturbedarf, der umso dringender ist, als das gesamte Gesetz auf einer vernünftigen Unterscheidung von Tätern und Opfern beruhen soll.

16

Hierin liegt der Grund dafür, daß es Rückstände bei der Bearbeitung von Anträgen gegeben habe bzw. gebe. Es müsse „jede Aktenseite zur Vorbereitung einer Entscheidung gelesen werden ..., so wolle es das Gesetz."; Gauck in BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 22. „Dabei stehe ζ. B. die Frage im Raum, was in Unterlagenkopien geschwärzt werde. Er (Gauck) wolle sich nicht der Kritik aussetzen, ,schlampige Arbeit' abzuliefern, ..."; Gauck, a. a. O. 17 Vgl. auch Stoltenberg, § 6 Rdnr. 16. 18

Vgl. auch in diesem Kapitel oben I 3.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

IV. Die Rechte der Betroffenen nach dem StUG 1. Auskunft über den Inhalt vorhandener Unterlagen § 13 StUG ist eine der zentralen Regelungen des Gesetzes. Der in Abs. 1 niedergelegte Auskunftsanspruch ist, anders als der des § 3 I StUG, darauf gerichtet, konkret zu erfahren, welche Unterlagen über eine Person vorhanden sind. Ebenso wie § 3 I StUG ist er aber auf das erschlossene Material bezogen. Der Bundesbeauftragte ist demnach nicht verpflichtet, auch nach Feststellung der Opfereigenschaft einer Person, seine noch nicht geordneten Bestände auf vorhandenes Material zu untersuchen. Im Auskunftsbegehren „sollen" Angaben gemacht werden, die das Auffinden der Informationen ermöglichen. Dem Bundesbeauftragten soll damit die Arbeit des Suchens erleichtert werden. Es ist jedoch nicht zwingend, solche Angaben zu machen. Auch wenn sie nicht gemacht werden, muß der Bundesbeauftragte seine Bestände durchsuchen. Allerdings erhöht sich die Erfolgsquote bzw. die Sucharbeit verkürzt sich, wenn die Betroffenen entsprechende Angaben machen. § 13 II StUG beruht auf der Überlegung, daß der Bundesbeauftragte bei der Vielzahl von Anträgen kaum in der Lage ist, so detaillierte Auskünfte zu erteilen, wie erforderlich wäre, um die Betroffenen zufrieden zu stellen. Daher setzt das Gesetz einen Mindeststandard inhaltlicher Art fest (Satz 1) und überläßt es im übrigen den Betroffenen, sich vollständig zu informieren (Satz 2). Unverkennbar spricht daraus eine Tendenz, nach Möglichkeit die Einsicht in die Unterlagen durch Betroffene an die Stelle der Auskunft zu setzen, um so die Arbeit des Bundesbeauftragten zu erleichtern. Tatsächlich ist denn auch die Akteneinsicht die am häufigsten von den Betroffenen begehrte Maßnahme. Mit bloßen Auskünften sind nur die wenigsten zufrieden.

2. Einsicht und Herausgabe von evtl. vorhandenen Unterlagen Demzufolge steht das in § 13 III StUG niedergelegte Einsichtsrecht gleichberechtigt neben dem Anspruch auf Auskunft. Das Einsichtsrecht ist unbeschränkt und an keinerlei Voraussetzungen gebunden. Notwendig ist natürlich das Vorhandensein der Opfereigenschaft. Ergänzend kommt noch das Recht auf die Herausgabe von Unterlagen hinzu (§ 13 IV 1 StUG). In den herauszugebenden Duplikaten werden die personenbezogenen Informationen über andere Opfer anonymisiert; personenbezogene Informationen über die Täter allerdings bleiben erkennbar. Sind in den Unterlagen Decknamen von Mitarbeitern des Staatsicherheitsdienstes oder von Denunzianten enthalten, so erhält der Betroffene auf Verlangen die Klarnamen bzw. weitere Identifizierungsangaben der Mitarbeiter oder Denunzianten (§ 13 V 1, 2 StUG). 19 Voraussetzung dafür ist allerdings, daß sich zum Beispiel die Klar19 Dies gilt allerdings nur für die schriftliche Denunziation. Telefonische Anzeigen sind nicht erfaßt, und zwar auch dann nicht, wenn es Gesprächsprotokolle oder sogar -mitschnitte

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namen aus den Unterlagen des MfS eindeutig entnehmen lassen. Der Sinn der Regelung liegt darin, daß nur wirklich gesicherte Informationen dem Antragsteller zur Kenntnis gelangen dürfen. Zu fordern ist daher mindestens, daß - anhand der Unterlagen - bewiesen ist, daß der fragliche I M auf den jeweiligen Antragsteller angesetzt war und auch über ihn berichtet hat.

3. Sonderproblem: Justizakten und Betroffene Nach § 18 StUG finden die Regelungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes über die Akteneinsicht u. a. durch Betroffene, Dritte, nahe Angehörige etc. auf Justizakten keine Anwendung. Stattdessen gelten die jeweiligen gesetzlichen Verfahrensordnungen. § 24 I StUG enthält eine entsprechende Regelung für die Verwendung von Justizakten durch öffentliche und nicht-öffentliche Stellen. Gemeint sind damit die Unterlagen i m Sinne des § 6 I Nr. 2 StUG, das heißt die dem MfS überlassenen Unterlagen von Gerichten und Staatsanwaltschaften. 20 Das Gesetz blendet an dieser Stelle die Rechte der Opfer aus und ersetzt sie durch die Möglichkeiten der gesetzlichen Verfahrensordnungen. 21 Damit werden i m wesentlichen die Möglichkeiten nach der StPO gemeint sein. 2 2 Begründet wurde diese Sonderbehandlung der Justizakten mit folgenden Überlegungen: „In den Akten von Gerichten und Staatsanwaltschaften geht es um einen anderen Personenkreis als den, der Gegenstand des StUG ist. Verfahrensbeteiligte wie Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Zeugen ... werden von den Begriffen des StUG nicht erfaßt ... Eine Anwendung des StUG auf die bei dem Bundesbeauftragten verwahrten Justizakten führte zu unterschiedlichen Rechten der Verfahrensbeteiligten. Diejenigen, deren Prozeßakten zufällig beim Sonderbeauftragten lagern, hätten andere und größere Auskunfts- und Einsichtsrechte als diejenigen, deren Akten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften geblieben sind. Die Rechtslage muß aber für alle Verfahrensbeteiligten gleich sein und darf nicht von Zufälligkeiten abhängen ... Die Akten ... können von ihrem Inhalt her nicht mit Stasi-Unterlagen gleichgesetzt werden .. . Die rechtsstaatswidrigen

gab; vgl. S/D, § 13 Rdnr. 14. (krit.); Stellungnahme des Bundesfachausschusses Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr vom 22. 07. 1991 an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages, S. 5 (krit.); Gauck, Stellungnahme vom 12. 08. 1991 an den InnenA des Deutschen Bundestages, S. 4. 20 Vgl. Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (69), der darauf hingewiesen hat, daß die Terminologie „verwahrten Akten" in den §§18 und 24 StUG insoweit mißverständlich ist. Andere Justizakten als die in § 61 Nr. 2 StUG genannten verwahrt der Bundesbeauftragte ja nicht. 21 Unverständlicherweise hat der Gesetzgeber es für den Parallelfall des Zugangs von Forschern und Medien zu den Justizakten unterlassen, diese in ihrem Zugriff auf beigezogene Akten zu beschränken. Denn die §§32 und 34 StUG gelten auch für die Justizakten. 22 Stoltenberg, a. a. O. hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Richtlinien für das Strafund das Bußgeldverfahren aufgrund der gesetzlichen Formulierung keine Anwendung finden. Ebenso, G/K, § 18 Rdnr. 6.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes Handlungen werden meist im Stadium der Ermittlungen vorgenommen worden sein und sind dann in den Akten der Ermittlungsbehörden dokumentiert, bei Ermittlungen des MfS also in Stasi-Unterlagen. In den Akten der Gerichte und Staatsanwaltschaften hingegen taucht regelmäßig nur das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen auf. Die das Persönlichkeitsrecht besonders tangierenden Informationen, die die besonderen Rechte und Schutzvorkehrungen des StUG erforderlich machen, sind daher überwiegend in den Ermittlungsakten der Polizei und des MfS, nicht aber in den Justizakten zu finden." 23

Allein es fragt sich, ob diese Begründung tragfähig ist. Zu dem Argument der Verfahrensbeteiligung bestimmter Personen ist anzumerken, daß der Hinweis zutrifft, sachlich jedoch nicht weiterführt. Richter, Staatsanwälte etc. sind Verfahrensbeteiligte i. s. d. StPO, aber sie sind keine - und das ist entscheidend - Verfahrensbeteiligten i. S. d. StUG. Für die Anwendung des StUG ist es allein entscheidend, daß das Material der Natur nach eine Stasi-Akte ist, daß also wenigstens ein Beteiligter i. S. d. StUG gegeben ist. Sollte dies ein Betroffener sein, so will ihn das Gesetz begünstigen. Das Gesetz blickt dann nur auf diese Person. Es ist nicht einzusehen, wieso diese Begünstigung wieder entfallen soll, nur weil weitere Nicht-StUG-Beteiligte mitwirken bzw. mitgewirkt haben. Hinzu kommt, daß das MfS nicht „zufällig" Unterlagen archiviert hat. Wenn es bestimmte Unterlagen von Gerichten und Staatsanwaltschaften archiviert hatte, so gab es dafür Gründe, d. h. für den BStU, daß die bei ihm befindlichen Prozeßakten auch nicht „zufällig" vorhanden sind. „Außerdem war es in der Praxis der DDR-Justiz oftmals nur eine Frage des Zufalls, ob sich die uneingeschränkte Unterwerfung der Justiz unter Staat und Partei in politischer Strafverfolgung oder in der Anwendung allgemeinen Strafrechts manifestierte." 24 Daher ist der Schluß, die Rechtslage müsse insoweit für alle Verfahrensbeteiligten gleich sein, nicht zwingend. Nicht nachvollziehbar ist die Behauptung, in den Akten der Gerichte und Staatsanwaltschaften tauchte i. d. R. nur das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen auf. In den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften der ehem. DDR befanden sich alle relevanten Vorgänge eines Verfahrens. Gemeint sind ζ. B. Anzeigen, Vernehmungs-, Durchsuchungs-, Verhaftungsprotokolle, Lichtbilder, Beschlagnahmen, Telefonabhörprotokolle usw. Mit der Anklageerhebung wurden diese Unterlagen den Gerichten zugänglich gemacht und zu den Gerichtsakten genommen. Damit finden sich auch grds. die besonderen Maßnahmen in den Unterlagen, die das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen tangieren. Denn in der ehem. DDR hätte sich niemand die Mühe gemacht, die Unterlagen, um derartige Maßnahmen zu bereinigen. 25 Die dargestellte Begründung des Gesetzes ist also anfechtbar. 23

Stellungnahme des BMI, in: BT-InnenA-UA-Prot. (8. Sitzung), Anlage 1 zu § 14a (des Reg-Ε). Vgl. auch Pröhl (Bürgerkomitee Dresden), Protokoll der 9. Sitzung der Gemeinsamen Kommission der neuen Länder für das Stasi-Unterlagen-Gesetz, S. 5. 24 BT-Drucks. 12/1608, S. 13, im Zusammenhang mit dem 1. SED-UnBerG. 25 Α. A. ist (wohl) Klinghardt, NJ 1992, 185, der darauf hinweist, daß die Erkenntnisse aus operativen Vorgängen nicht direkt als Beweismittel dienten, sondern zur Schaffung bzw. Beschaffung gerichtsverwertbarer Beweismittel verwendet wurden. Damit ist jedoch nicht zwingend dargelegt, daß auch die Gerichtsakten entsprechend „bereinigt" wurden.

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Bleibt man beim Beispiel der StPO, folgt man dem StUG, so ergibt sich folgendes: Möglichkeiten für die Einsicht in Justizakten hat der Beschuldigte (über seinen Verteidiger nach § 147 StPO), der Privatkläger (§ 385 StPO), der Nebenkläger (§ 397 StPO) und der Verletzte (§ 406 e StPO). Nichtverfahrensbeteiligte wie z. B. Behörden und Privatpersonen haben also in die Justizakten kein Akteneinsichtsrecht. Damit tauchen bereits die Bedenken auf. Betreibt ein Betroffener seine Rehabilitierung im Rahmen eines behördlichen Verfahrens und zieht die Justiz die Akten zum Zwecke der Strafverfolgung bei, dann hat sich der Opferschutz praktisch erledigt. 26 Ein Akteneinsichtsrecht für die Behörde, die über die Rehabilitierung entscheidet, gibt es dann ja nicht. Nahe Angehörige werden als Nichtverfahrensbeteiligte im unklaren über das Schicksal des Opfers bleiben, da sie keinen Zugang zu den Unterlagen haben. Sicher, wenn das Opfer verstorben ist, wird die Justiz kein Verfahren mehr führen. Was aber geschieht, wenn das Opfer vermißt ist und das Strafverfahren lediglich ruht? Die Unterlagen würden u. U. auf Jahre hinaus ihren Charakter als Justizakten behalten. Die gerade aufgezeigte Fallkonstellation ist also durchaus real. Bedenken erweckt auch der Umstand, daß hier auf „kaltem Wege", entsprechend zu § 12 StUG, ein Anwaltszwang statuiert wird, damit Betroffene/Dritte überhaupt Einblick in die Justizakten erhalten. Als Beschuldigter hat man nach der StPO selbst keinen Anspruch auf Akteneinsicht. Ein Zustand, der sich mit der Intention der §§ 13, 15 StUG nicht vereinbaren läßt. Betroffene und Dritte sollen sogar das Recht haben, personenbezogene Informationen über andere Personen (Täter) zu erhalten. Wie widersprüchlich muß es daher anmuten, wenn die Opfer von den Justizakten ausgeschlossen bleiben, die weitaus weniger „spannend" sind. Entscheidend ist aber folgendes: In einem Strafverfahren gilt man solange als unschuldig, bis der Schuldnachweis erbracht worden ist. Das ergibt sich schon aus der Unschuldsvermutung. Bis zum Abschluß eines Strafverfahrens muß man daher einen Beschuldigten so behandeln, wie es einem Betroffenen oder Dritten zukommt, der nicht strafrechtlich verfolgt wird. Also gebühren ihm auch die besonderen Rechte, die er aus dem StUG herleiten kann. Weil ein Tatverdacht für ein Ermittlungsverfahren vorliegt, können die Unterlagen demnach nicht gesperrt werden. Wenn dagegen eingewandt wird, es müsse verhindert werden, daß der Beschuldigte die Unterlagen zu seinen Gunsten manipuliere, so trägt diese Überlegung nicht. Solche Manipulationen kann man dadurch verhindern, daß man einen Bediensteten des BStU bei der Einsichtnahme in die Originalunterlagen als Aufsicht abstellt. Dazu ist der Bundesbeauftragte im Prinzip verpflichtet. Dies folgt aus § 40 II Nr. 7 StUG, der auch für die Justizakten gilt. Unklar ist auch die Auswirkung der §§ 18, 24 I StUG auf die Frage, wer denn im Falle der Justizakten über Zugangs- und Verwendungsbegehren von Betroffe26 Darauf weist auch der BfD-Bericht, S. 36f. hin. Ähnlich: Simitis, NJW 1994, 99 (101); vgl. auch den BfD, BT-InnenA-Prot. (16. Sitzung), S. 93; Saathoff, S. 22; G/K, § 18 Rdnrn. 1 bzw. 8.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

nen/Dritten entscheidet. Wie sich aus § 18 StUG ergibt, finden § 12 IV bis V I StUG keine Anwendung auf Justizakten. Das heißt prinzipiell, daß auch bei Auskunftsersuchen betreffend Justizakten der Bundesbeauftragte entscheidet (vgl. § 12 II StUG). Das ist solange praktikabel, wie der BStU die Unterlagen bei sich hat. Wenn die Justiz die Akten beigezogen hat, dann sollte zweckmäßigerweise, entsprechend den gesetzlichen Verfahrensordnungen, die Justiz über das Auskunftsersuchen entscheiden. Dem ist aber nicht so. Nach § 12 II StUG entscheidet der Bundesbeauftragte auch dann über das Auskunftsersuchen, wenn er die fraglichen Unterlagen überhaupt nicht hat. Der Bundesbeauftragte müßte sich dann die Unterlagen zurücksenden lassen, um überhaupt eine vernünftige Entscheidung treffen zu können. Diese unpraktikable Handhabung könnte man nur umgehen, wenn man auch das Auskunftsrecht der Betroffenen/Dritten neben den Rechten aus §§ 13, 15 StUG ausschaltet. Das ist aber in § 18 StUG vergessen worden.

4. Anonymisierung /Löschung von Unterlagen a) Die gesetzliche Regelung Nach § 14 I 1 StUG können Betroffene und Dritte ihre personenbezogenen Unterlagen, soweit es um Informationen zu ihrer Person geht, anonymisieren lassen.27 Der Anspruch erstreckt sich auch auf Findhilfsmittel. Fraglich ist, was anonymisieren bedeutet. Eine eigene Begriffsbestimmung kennt das StUG nicht. Aber über §§ 43 S. 2, 6 IX StUG sind die Begriffsbestimmungen des BDSG anwendbar. Anonymisieren ist danach das Verändern personenbezogener Daten derart, daß die Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr ... einer natürlichen Person zugeordnet werden können (vgl. § 3 V I I BDSG) Gemeint ist also das Schwärzen etc. von Informationen, und zwar so, daß es nicht mehr möglich ist, die betreffenden Informationen wieder sichtbar zu machen. Entsprechende Anträge können ab 01. 01. 1997 gestellt werden (§ 14 I 2 StUG). Nach § 14 II StUG unterbleibt die Anonymisierung in drei Fällen. § 14 III StUG erweitert die Abs. 1 und 2 auf Personalunterlagen über Mitarbeiter des MfS. § 14 IV StUG trifft Regelungen dafür, was geschieht, wenn eine Anonymisierung rein tatsächlich nicht möglich ist. Dann ergibt sich folgende Grundkonzeption: Im Regelfall werden Informationen unkenntlich gemacht, es sei denn, dies ist aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich. Im letzteren Fall gilt dann die Reihenfolge Vernichtung vor Löschung.28 27 Zur Genese der Norm vgl. BT-InnenA-UA Prot. (6. Sitzung), S. 16ff. Allein Stoltenberg, § 14 Rdnr. 5 hat sich auf den Standpunkt gestellt, im Falle der Dritten sei die Gesetzesformulierung ungenau, da es keine zu den Dritten geführten Unterlagen gebe. Das ist aber praktisch irrelevant. Es bleibt sich gleich, ob es nun Informationen zu oder über Personen sind, um die es geht. Sobald klar ist, daß die Informationen über einen Dritten vorhanden sind, soll auch anonymisiert werden.

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Zunächst zu den Fällen, die eine Anonymisierung aus rechtlichen Gründen unterbleiben lassen: Die Anonymisierung unterbleibt, wenn andere Personen ein offensichtlich überwiegendes Interesse an einer zulässigen Nutzung der Informationen zur Behebung einer Beweisnot haben (§ 14 II Nr. 1 StUG). Diese recht gewundene Formulierung bedarf der Auslegung, um die Vorstellungen des Gesetzgebers zu verdeutlichen. Mit dem Begriff „andere Personen" können nach der Logik des StUG nur andere Betroffene oder Dritte gemeint sein. Denn die Rechte der Mitarbeiter und Begünstigten bleiben in jedem Fall hinter den Opferrechten zurück, soweit es wie hier die persönlichen Informationen der Opfer betrifft. Das „offensichtlich überwiegende Interesse" deutet darauf hin, daß eine Interessenabwägung hier nicht stattfindet. Wenn etwas offensichtlich ist, bedarf es nämlich keiner näheren Prüfung mehr. Bei dem hohen Rang, den die Opferinteressen nach dem StUG einnehmen, muß ein überwiegendes Interesse von geradezu existentieller Bedeutung sein. Der Rekurs auf die „zulässige Nutzung" ist ein irrelevanter Hinweis. Für nach dem StUG unzulässige Nutzungen werden die Unterlagen überhaupt nicht eröffnet, und für derartige Zwecke läßt sich auch kein offensichtlich überwiegendes Interesse herleiten. Was „die Behebung einer bestehenden Beweisnot" angeht", so ist das die Stelle, an der man sich fragen muß, welchen praktischen Sinn die Norm hat. Das Bestehen einer Beweisnot setzt voraus, daß in einem bestimmten laufenden Verfahren ein Stasi-Opfer für bestimmte Tatsachen beweispflichtig ist. Das können aber nur behördliche oder gerichtliche Verfahren sein. Wo sonst existieren Beweispflichten für einen Beteiligten? Da die MfS-Opfer prinzipiell nicht von Amts wegen zum Gegenstand von Verfahren gemacht werden, muß es sich also um Verfahren handeln, die von den Betroffenen/Dritten selbst in Gang gesetzt wurden. Wer aber selbst ein kompliziertes Verfahren in Gang setzt, nachdem er in seine Stasi-Unterlagen gesehen oder diese erhalten hat, wird - womöglich noch anwaltlich beraten - die Erfolgschancen für ausreichend erachten und kaum in Beweisnot geraten. Außerdem ist es schwer zu erkennen, wie personenbezogene Informationen über einen anderen Betroffenen oder Dritten Beweis erbringen sollen über Tatsachen, die das ersuchende Opfer betreffen und die aus dessen Unterlagen nicht hervorgehen. Dabei ist zu beachten, daß diese Tatsachen ein Interesse begründen sollen, das noch wichtiger sein soll als jenes an der Anonymisierung. Hier liegt ein WertungsWiderspruch. Sobald die Beweisnot beseitigt ist, wenn sich also das überwiegende Interesse erledigt hat, darf anonymisiert werden. § 14 II Nr. 1 StUG ist demnach nur ein vorübergehendes Hindernis; von großer praktischer Relevanz ist es nicht, dafür sorgt schon die schwer verständliche Formulierung. Die Anonymisierung unterbleibt auch, soweit die Informationen für die Forschung zur politischen und historischen Aufarbeitung erforderlich sind (14 II Nr. 2 StUG). Der Regelung liegt die Überlegung zu Grunde, daß, bei aller Bedeutung 28 Vgl. auch die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 12/1540 S. 59 zu § IIa StUG-E.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

der Sachakten,29 sich die Arbeitsweise des MfS nur aus den personenbezogenen Unterlagen erschließt. 30 Gerade die Ausnutzung persönlicher Bekanntschaften war 29 Nach der Stasi-Logik waren die sog. „Sachakten" wie folgt zu unterscheiden: 1. Feindobjektakten. Diese wurden angelegt zu Organisationen und Einrichtungen des westlichen Auslands, die nach einer Kategorisierung, die von Erich Mielke bestätigt wurde, aus der Sicht des ehemaligen MfS gegen die DDR gerichtete feindliche Aktivitäten durchführten. Betroffen waren ζ. B. die Vereinigung der Opfer des Stalinismus, Fluchthilfeorganisationen oder Ostforschungsinstitute. Mit der Kategorisierung war verbunden, welche Diensteinheit das jeweilige sog. Feindobjekt zu bearbeiten hatte. Diese Diensteinheiten legten dementsprechend eine sog. Feindobjektakte an, in der alle offiziellen und inoffiziellen Informationen über diese Objekte zusammengeführt wurden. Außerdem wurden in diesem Rahmen aktive Bearbeitungsmaßnahmen gegen die betreffenden Organisationen und Einrichtungen konzipiert und durchgefühlt. Das waren zum Beispiel Maßnahmen der Zersetzung, öffentlichen Diskreditierung, aber auch der Werbung von Mitarbeitern dieser Objekte als IM. 2. "Echte " Sachakten. Diese wurden geführt als sogenannte Arbeitsakten aus den verschiedensten Diensteinheiten (ca. 40 Stück insgesamt) des MfS. Objekte waren ζ. B. Einrichtungen in der ehemaligen DDR. So konnte etwa über ein Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder, für dessen Konzeption und Baudurchführung das Industrieministerium zuständig war, das MfS eine Akte führen. Inhalt dieser Akte waren die dort beschäftigten Personen, wie etwa der Werksleiter und führende Technologen. Berichtet wurde über die Arbeitsleistung dieser Personen, deren Charakter, Freizeitverhalten und Zuverlässigkeit ihrer Aussagen. In diesem Zusammenhang kommt 3. den Unterlagen aus dem Bereich „Kommerzielle Koordinierung " eine besondere Bedeutung zu. Hier hat das MfS hauptsächlich Personeninformationen, ζ. B. über bestimmte Geschäftsleute, deren Ankunftszeitpunkt in der DDR, deren Ziel in der DDR bzw. deren Kontaktleute gesammelt. 4. Unterlagen der zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS. Diese Unterlagen sind Komprimate aus den Arbeitsergebnissen des MfS für die Führungsebene. Sie enthalten insbesondere Stimmungsberichte und Lagebeurteilungen. Diese Darstellung läßt erkennen, daß es sehr schwierig ist, nach personenbezogenen und nicht-personenbezogenen Unterlagen zu unterscheiden.

30 Daraufhat schon Gauck, S. 22 hingewiesen; ähnlich: Weberling, DÖV 1992, 161, 162. Angesichts der in der Fn. zuvor dargestellten Schwierigkeiten sollte man besser von „personenorientierten Vorgängen" sprechen und die „Sachakten" als objekt- bzw. ereignisbezogene Unterlagen erfassen. Das Gesetz hat diese Wertung leider nicht nachvollzogen. Besondere personenorientierte Unterlagen (Unterlagen mit personenbezogenen Informationen i. S. d. StUG) sind: 1. IM-Vorgänge. Es handelt sich um Unterlagen zu inoffiziellen Mitarbeitern, geordnet nach den zu dieser Person angelegten Materialien sowie nach den von dieser Person erbrachten Berichten. 2. Kaderakten. Damit sind die Personalakten der hauptamtlichen Mitarbeiter mit den zu diesen Personen angelegten Gesundheitsakten gemeint. 3. Operative Personenkontrolle-Vorgänge (OPK). Solche Vorgänge wurden eingeleitet, wenn sogenannte operative Anhaltspunkte (keine Verdachtshinweise!) zu klären waren. Operative Anhaltspunkte waren ζ. B. untersagte Kontakte zu Personen aus dem westlichen Ausland, Tätigkeit in sicherheitsrelevanten Bereichen usw. Obwohl so in den Richtlinien nicht festgelegt, verstärkte sich in den letzten Jahren zunehmend die Tendenz, durch die Bearbeitung von Personen in OPK die Verletzung von Straftatbeständen nachzuweisen. Dadurch ist zu erklären, daß sich OPK vielfach inhaltlich nicht wesentlich von einem operativen Vorgang (dazu 4.) unterscheiden; vgl. auch G/K, Einl. Rdnr. 13. 4. Operative Vorgänge (OV). Sie wurden angelegt, wenn für eine Person konkrete Hinweise des Verdachts der Verletzung von Straftatbeständen vorlagen. Ein OV wurde genauestens vorbereitet und schriftlich ausgearbeitet; vgl. G/K, Einl. Rdnr. 13. 5. Der Zentrale-Operativ-Vorgang (ZOV) wurde angelegt, wenn mehrere Diensteinheiten Personen zu bearbeiten hatten, die gleichen Sachverhalten zuzuordnen waren. Der ZOV wurde von der Diensteinheit geführt, die für die Bearbeitung aller Personen die Haupt-

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ein wesentliches Element der Stasi-Arbeit. 31 Dieser Zusammenhang könnte nicht aufgedeckt werden, wenn den Wissenschaftlern lediglich anonymisierte personenbezogene Unterlagen zur Verfügung stünden. Dieser an sich richtige Gedanke begegnet aber im Hinblick auf seine Umsetzung Bedenken. Nach der Formulierung

Verantwortung trug. 6. Ein Teilvorgang (TV) wurde durch Diensteinheiten geführt, die im Rahmen der Gesamtbearbeitung eines ZOV einzelne Personen zu bearbeiten bzw. Teilaufgaben zu erledigen hatten. ZOV und Teil Vorgang sind als solche gekennzeichnet, tragen einen einheitlichen Decknamen und waren zentral in der Abteilung XII (Registratur) erfaßt. 7. Untersuchungsvorgänge (V-Vorgänge). Diese wurden ausschließlich durch das Untersuchungsorgan des MfS (Linie IX) bearbeitet. In der Regel entstanden V-Vorgänge auf der Grundlage eingeleiteter und abgeschlossener ZOV, TV oder OV. V-Vorgänge waren gleichzeitig immer an die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch das Untersuchungsorgan des MfS gebunden. Sie sind als solche gekennzeichnet und waren in der Abt. X I I zentral registriert. Sofern als Ergebnis von eingeleiteten V-Vorgängen gerichtliche Verfahren stattgefunden haben, sind die Gerichtsakten nach deren Abschluß ebenfalls im Archiv des MfS registriert und gelagert. 8. In einem Sicherungsvorgang (SVG) wurden Personen/Personengruppen erfaßt, die einem festgelegten Verantwortungsbereich der SVG-führenden Diensteinheit zuzuordnen waren. Mit der Erfassung in SVG sicherte sich der betreffende MfS-Mitarbeiter einen Überblick über ihn operativ interessierende Personen. Damit war gewährleistet, daß der Mitarbeiter alle im MfS erarbeiteten Informationen zu den in SVG erfaßten Personen zugeleitet bekam. Im Gegensatz zum ZOV, TV und OV handelt es sich hier um keine aktive Bearbeitung von Personen, sondern lediglich um deren Erfassung. Da die Vorschriften des MfS keine zweite aktive Erfassung erlaubten, konnte eine im SVG erfaßte Person nicht gleichzeitig als IM erfaßt sein. Ausnahmen davon stellten immer einen Verstoß gegen bestehende Regelungen dar und dürften nur durch persönliche Vereinbarung zwischen dem Leiter der SVG-führenden Diensteinheit und dem Leiter der Abteilung XII zustande gekommen sein. Jede aktive Bearbeitung einer im SVG erfaßten Person (IM-Vorgang, ZOV, TV, OV oder OPK) setzte zwingend die Löschung der Erfassung im SVG voraus. 9. Personendossiers. Sie wurden erstellt zu Reisekadern, Auslandskadern, Verhandlungskadern, westlichen Firmenvertretern oder zu Personen mit einer herausragenden beruflichen oder gesellschaftlichen Stellung. Vom Charakter her sind Personendossiers Auskunftsakten, die vor allem Informationen über die berufliche Entwicklung, Persönlichkeitseigenschaften, das soziale Umfeld und über Verbindungen der betroffenen Personen enthalten. Von Ausnahmen abgesehen, stellt ein Personendossier mehr oder weniger eine Sammlung offiziell zugänglicher Materialien dar. Die Führung von Personendossiers enthielt außer der Sicherung der Auskunftsfähigkeit zu einer Person grundsätzlich keine weiteren operativen Zielsetzungen im Sinne einer aktiven operativen Bearbeitung. Personendossiers stellten keine besondere Erfassungsart dar. Demzufolge existieren darüber auch in der Abteilung X I I keine Findmittel wie ζ. B. Karteikarten o. ä. 10. Gerichtsakten. Wie bereits zum V-Vorgang bemerkt, wurden Gerichtsakten nach Abschluß des Verfahrens dem MfS zur weiteren Verwahrung zugeleitet, wenn das MfS Untersuchungsorgan gewesen war. Dies bedeutet, daß im MfS insbesondere die Unterlagen zu „Staatsschutzdelikten" und zu solchen Verfahren vorliegen, denen das MfS besondere Bedeutung beigemessen hat (ζ. B. schwere Havarie-Fälle). Daneben liegen beim BStU - allerdings nicht vollständig - Gerichtsakten über Verfahren zu ganz gewöhnlichen Straftaten vor. 3i Vgl. Gauck, S. 23ff.; Frankfurt (Oder), S. 35ff.; ferner: die Richtlinie 1/79 (GVS MfS 0008, Nr. 1/79) für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit; abgedruckt ζ. B. bei Gill/Schröter, S. 414ff.; ferner: in den Veröffentlichungen des BStU, Reihe A (Dokumente), Nr. 1, Dokument Nr. 35 (S. 659ff.); dort sind auch die Durchführungsbestimmungen zu dieser Richtlinie als Dokumente Nrn. 36 bis 40 und 42 enthalten.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

des Gesetzes ist die Anonymisierung solange ausgeschlossen, bis die Arbeiten zur historischen und politischen Aufarbeitung abgeschlossen sind. Damit folgt das Gesetz dem vorübergehenden Charakter der Nr. 1 des § 14 II StUG. Allerdings läuft die Regelung auf einen dauernden Ausschluß der Anonymisierung im Einzelfall heraus. Man muß bedenken, daß im Parallelfall der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bis heute noch kein befriedigender Abschluß gefunden worden ist. Noch immer wird dort in bestimmten Richtungen geforscht, und die Opfer von einst sind inzwischen größtenteils verstorben. Solange noch jemand das MfS und seine Methoden untersucht, können derartige Opferakten nicht anonymisiert werden, da nicht abzusehen ist, ob nicht für den Forschungszweck bestimmte Unterlagen benötigt werden. Hier kommt ζ. Β der Zweck der Überprüfung früherer Resultate oder der Versuch der Verknüpfung von Erkenntnissen in Betracht. Ferner ist gerade jetzt das Forschungsinteresse an den Unterlagen extrem hoch, da die Aufarbeitung noch am Anfang steht. Auf viele Jahre, auch über 1997 hinaus, werden die Wissenschaftler noch mit der historischen und politischen Aufarbeitung beschäftigt sein. Ebensolange werden die personenbezogenen MfS-Akten im Einzelfall für Forschungszwecke erforderlich sein. Hier wird eine intensive Interessenabwägung notwendig sein, bei der die Opferinteressen eigentlich nur dann zurückstehen können, wenn es sich um Personen der Zeitgeschichte handelt. Es fragt sich nämlich, welche Personen sonst für die politische oder historische Forschung - die soziologische ist von der Regelung ausgenommen - so interessant sein sollten, daß es erforderlich ist, sich ihrer personenbezogenen Informationen zu bemächtigen.32 Die Regelung des § 14 II Nr. 2 StUG ist demnach für einen relativ begrenzten Personenkreis gedacht. Schließlich kommt eine Anonymisierung nach § 14 II Nr. 3 StUG nicht in Betracht, solange ein diese Unterlagen betreffendes Zugangsersuchen einer zuständigen Stelle anhängig ist. Auch diese Formulierung ist nicht aus sich heraus verständlich. Fraglich ist nämlich, was denn mit dem Begriff der „zuständigen Stelle" gemeint ist. Das können nur Stellen im Sinne des § 19 StUG sein, da der Begriff „Stelle" natürliche Personen ausschließt. Noch präziser gefaßt, können nur öffentliche Stellen gemeint sein, denn nur diese können für die Erfüllung einer Aufgabe „zuständig" sein (vgl. § 19 II 1 StUG). Nicht-öffentliche Stellen haben ihre Zugangsberechtigung nachzuweisen (vgl. § 19 II 2 StUG). Der Begriff der „Zuständigkeit" impliziert also die öffentliche Stelle. Der Begriff „anhängig" bedeutet in diesem Zusammenhang den Eingang eines Zugangsersuchens beim Bundesbeauftragten; auf die abschließende Bearbeitung und deren Resultat kommt es zunächst nicht an. Wenn also Gerichte und Behörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit auf bestimmte Unterlagen zugreifen wollen, ist die Anonymisierung zunächst von vornherein ausgeschlossen. Eine besondere Interessenabwägung findet nicht statt.

32

Tatsächlich sind es denn auch solche Personen, die ihre Stasi-Unterlagen von sich aus bereitwillig (teilweise) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben; zum Beispiel die Schriftsteller Kunze und Loest; die Bürgerrechtler (und Politiker) Bohley und Schult etc.

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Es reicht vielmehr aus, wenn „deswegen" das Interesse des Opfers zurücktreten muß. Diese Klausel, die für alle drei Ausnahmen gilt, muß hier überraschen. Sind die Ausnahmen der Nummern 1 und 2 noch an ein überwiegendes materielles Betroffenen- oder Forschungsinteresse geknüpft, so bezieht sich das „deswegen" in der Nr. 3 auf die Anhängigkeit eines Zugangsersuchens, also auf einen formalen Akt. Argument: Wie das Zugangsersuchen der öffentlichen Stelle vom BStU in materieller Hinsicht bewertet wird, ist nicht mehr Sache des § 14 StUG, sondern des § 19 III StUG. Die materielle Bewertung der in § 14 II Nrn. 1 und 2 StUG niedergelegten Interessen obliegt aber dem Bundesbeauftragten bereits nach dieser Norm. So werden bei komplizierten Gesuchen u. U. auf Monate hinaus die Opferinteressen an der Anonymisierung aus formalen Gründen beiseitegeschoben. Verglichen mit den beiden anderen Ausnahmeregelungen ist die praktische Bedeutung der Nr. 3 am größten. Wird jedoch der Zugang verweigert, so ist auch hier das Hindernis für die Anonymisierung entfallen. Andernfalls, und das gilt auch für alle Nrn. des § 14 II StUG, wird durch § 14 II 2 StUG eine enge Zweckbindung ausgesprochen. Die personenbezogenen Informationen müssen für die Zweckerreichung „unerläßlich" sein. Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Informationsübermittlung, zugleich aber auch ein Anhaltspunkt, der auf ein schlechtes Gewissen des Gesetzgebers schließen läßt. Tatsächlich ist es schwer verständlich, wenn man einerseits wie folgt argumentiert: Den Opfern „muß die Möglichkeit gegeben werden, für eine Beendigung dieses Eingriffs in ihr Persönlichkeitsrecht zu sorgen," 33 andererseits es aber unterläßt, sich über einen Interessenausgleich Gedanken zu machen. An einigen Stellen im StUG findet sich das Abwägungsergebnis im Gesetz; hier wäre es auch nötig gewesen. Nun gilt es, die tatsächlichen Hindernisse einer Anonymisierung zu betrachten. Kommt die Anonymisierung aufgrund der Natur des Informationsträgers nicht in Betracht und liegen keine Hindernisse nach Abs. 2 vor, werden die Informationen hilfsweise vernichtet oder, falls es sich um automatisierte Datenträger handelt, gelöscht (§ 14 IV 1 StUG). Dabei kennen weder das StUG noch das BDSG eine Umschreibung des Begriffs „Vernichten". Gemeint ist aber die nachhaltige Zerstörung der körperlichen Substanz des Informationsträgers. Der Begriff „Löschen" ist dagegen im BDSG als das Unkenntlichmachen gespeicherter personenbezogener Daten definiert (vgl. § 3 V Nr. 5 BDSG). Bei der Regelung des § 14 IV StUG handelt es sich also um eine Ausgestaltung des bestehenden Anspruches aus § 14 I StUG. Ihr Ziel liegt darin, den faktischen Verhältnissen Rechnung zu tragen, die je nach der Beschaffenheit der Informationsträger andere Maßnahmen erfordern.

33 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 59 zu § IIa StUG-E. 14 Engel

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

b) Unterschiede zum Bundesdatenschutzgesetz Anders als das BDSG (vgl. dort § 20) ist § 14 StUG darauf gerichtet, Informationen aus Stasi-Unterlagen zumindest im Personenbezug unkenntlich zu machen. Das BDSG kennt demgegenüber auch noch die Berichtigung unrichtiger und die Sperrung von personenbezogenen Informationen, wobei letztere auch ersatzweise an die Stelle der Löschung von Daten tritt. Da das StUG die Möglichkeit der Berichtigung nicht kennt, folgt daraus, daß es auf die objektive Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Stasi-Informationen nicht ankommt. Auch die Ansicht der Betroffenen und Dritten über die Richtigkeit der Informationen ist nicht maßgeblich, da das StUG auf die Möglichkeit der Sperrung streitiger Informationen (vgl. z. B. § 20 IV BDSG) verzichtet hat. Anknüpfungspunkt für das StUG ist im Vergleich zum BDSG allein das rechtswidrige Zustandekommen des Materials. Solches Material müßte nach der Logik des BDSG gelöscht werden, da es jedenfalls nicht gespeichert werden dürfte (vgl. § 20 II Nr. 1 BDSG). Nur ausnahmsweise (§ 20 III BDSG) kommt eine Sperrung in Betracht. Also liegt die Priorität im BDSG so, daß vorrangig das „Aus-der-Welt-Schaffen" der Informationen vor dem Erhalt derselben angestrebt wird. Im StUG ist es genau umgekehrt, erst die Informationserhaltung, dann das „Aus-der-Welt-Schaffen". Nun stößt man auf einen scheinbaren Wertungswiderspruch innerhalb des Datenschutzrechts. Das BDSG widmet sich vor allem Informationsbeständen, die auf legalem Wege erhoben wurden bzw. erhoben werden sollten. Dann sollte man annehmen, die Reihenfolge des BDSG müßte für einen bewußt illegal erhobenen Informationsbestand erst recht gelten. Dem ist jedoch nicht so. Die Abweichung läßt sich nicht damit begründen, daß es auch noch andere legitime Interessen an den Informationen gibt (Forschung, Beweisnot, etc.), denn diese sind im Konzept des BDSG auch enthalten (§ 20 V I BDSG), und zwar zunächst, ohne die Interessen der betroffenen Personen zu tangieren. Für die Frage, ob die Löschung oder Sperrung der Informationen zu erfolgen hat, bleiben diese Drittinteressen außen vor. Erst wenn es um die Verwendung gesperrter Daten geht, kommen die Interessen Dritter ins Spiel. Die Sperrung von Informationen ist der Anonymisierung von Informationen qualitativ jedoch nicht gleichwertig. Bei der Anonymisierung bleibt der „neutrale Teil" der Information übrig. Bei der Sperrung bleibt die komplette Information erhalten. Im Ergebnis bleiben beide Maßnahmen aber gleich. Ob man eine komplette Information erhält, die eigentlich gesperrt ist, oder ob die Information komplett zugänglich ist, weil man jeweils ein berechtigtes Interesse nachweist, ist irrelevant. Soweit es aber den „neutralen Teil" der Information angeht, der keinen Persönlichkeitsschutz genießt, ist die Anonymisierung der Sperrung überlegen. Reicht das Drittinteresse nicht aus, den Zugang zu begründen, so erhält der Interessent aus gesperrten Daten überhaupt keine Informationen, nach dem StUG bekäme er zumindest anonymisierte Informationen. Hierin liegt die Rechtfertigung für die Abweichung von der Konzeption des BDSG. Ohne eine zusätzliche Gefährdung für das Persönlichkeitsrecht Betroffener und Dritter weitet das StUG die Möglichkeiten Außenstehender aus.

1. Kap.: Die Rechte der Opfer

c) Zur Verfassungsmäßigkeit

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der gesetzlichen Regelung

Bedenken ergeben sich unter zwei Aspekten. Zum einen, ob mit der in § 14 I 1 StUG niedergelegten Anonymisierung die richtige Maßnahme getroffen worden ist, zum andern, ob das in § 1412 StUG genannte Datum für den Beginn der Antragstellung mit dem GG verein bar ist. Grundsätzlich ist dem StUG die Wertung zu entnehmen, die Unterlagen des MfS in personenbezogener Form aufzubewahren. Die Anonymisierung soll nur beschränkt, eine Löschung nur hilfsweise möglich sein. In dieser Konzeption liegt ein erheblicher Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Opfer, der an Tiefe und Intensität auch nicht dadurch verliert, daß ein Bundesbeauftragter über das Material und seine Verwendung wacht. Daraus ergibt sich, daß nur ganz herausragende Allgemeininteressen die weitere Aufbewahrung der Unterlagen in der gegebenen Form zu rechtfertigen vermögen. Das sind hier zum Beispiel das Interesse der Rehabilitierung, der Wissenschaft oder der Strafverfolgung. Es ist zu berücksichtigen, daß man schwerlich mit der Anonymisierung des erschlossenen Materials beginnen kann, wenn zugleich noch ein beachtlicher Teil der Unterlagen unerschlossen ist. Wichtige Informationszusammenhänge könnten verloren gehen, die erst erkennbar werden, wenn das gesamte Material erschlossen ist. Für die Verfolgung der gerade genannten Interessen sind diese Zusammenhänge aber unverzichtbar. Außerdem gibt es häufig Fälle, in denen die Täterakte vernichtet ist, in Opferakten aber Kopien der Berichte gefunden werden und eine MfS-Mitarbeit auf diesem Wege nachgewiesen werden kann. Auch kann man erst dann, wenn man einen vollständigen Überblick hat, zuverlässig einschätzen, welche sonst überwiegenden Interessen anderer Personen oder Stellen an den Unterlagen bestehen.34 Allerdings, und davon geht das Gesetz auch aus, vermag keines der angeführten Interessen die Aufbewahrung im jetzigen Zustand für alle Zeit zu sichern. Die Strafverfolgung, die Forschung etc. werden nämlich mit der Zeit zu einem gewissen Abschluß gebracht werden. Mit einer zeitlichen Zäsur ist das Gesetzeskonzept also erträglich. Allerdings kann man sich fragen, ob der Gesetzgeber die Löschung nicht hilfsweise, sondern regelmäßig hätte anordnen sollen. Nach der Gesetzesbegründung soll im Regelfall durch eine Anonymisierung der Gefahr vorgebeugt werden, daß wichtige Informationen ansonsten für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung stehen. 35 Das überzeugt hier aber nicht. Mit diesem Argument ist bereits die Grund-

34 Vgl. Stoltenberg, § 14 Rdnr. 3. 35 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 59; BT-InnenA-Prot. (16. Sitzung), S. 92. Dem ging aber eine lange Diskussion über diesen Punkt voraus. Es wurde ζ. B. geltend gemacht, daß ein Löschungsanspruch nicht praktikabel sei, da wegen des Umfangs und der Art der Unterlagen diverse Aktenbestände (u. U. an verschiedenen Orten) durchsucht werden müßten, was sehr zeitaufwendig sei. Dies mag im Grds. richtig sein. Jedoch überzeugt das Argument nicht, denn auch die Anonymisierung müßte den gesamten zu einer Person bestehenden Unterlagenbestand erfassen. Der BStU ist insoweit genauso in die (Such-)Pflicht genommen (wie bei der Löschung). 1*

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

konzeption gerechtfertigt worden. 36 Für die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahme hätte der Gesetzgeber weitere Erwägungen anstellen müssen. Bis 1997 sollen die Unterlagen ja für legitime Zwecke in der gegenwärtigen Form zur Verfügung stehen, danach soll das Persönlichkeitsrecht überwiegen. Dann müßte man ebenso konsequent zu einem Löschungsanspruch gelangen, wie man zuvor den unveränderten Unterlagenerhalt propagiert hat. Trotzdem ist eine prinzipielle Anonymisierung anstatt einer Löschung noch verfassungsrechtlich erträglich. Der Vorrang des Persönlichkeitsrechts ab 1997 läßt sich in verhältnismäßiger Weise durch jedes Mittel sichern, das den personenbezogenen Charakter der Information aufhebt, das heißt sie des Personenbezugs entkleidet. Geeignet, aber auch erforderlich ist dazu mindestens die Anonymisierung. Sicher, ein Löschungsanspruch würde das gleiche leisten. Allerdings läuft eine Löschung auf eine Art „tabula rasa" hinaus, die nicht nur den Personenbezug, sondern die gesamte Information, also auch den persönlichkeitsrechtlich irrelevanten Teil entfallen ließe. 37 Von einer Vernichtung der Informationsträger soll hier einmal abgesehen werden. Die Gefahren für das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen sind aber dann gebannt, wenn der personenbezogene Teil nicht mehr erkennbar ist. Daß mit Beginn des Jahres 1997 die oben genannten Interessen nicht mehr überwiegen sollen, bedeutet zudem nicht, daß sie nicht mehr zu berücksichtigen sind. Auch nach 1997 wird noch Forschung, Rehabilitierung usw. betrieben. Ferner muß auch der BStU nach dem Stichtag noch arbeitsfähig sein, weil auch nach dem Stichtag ζ. B. Überprüfungen für den öffentlichen Dienst vorgenommen werden. Eine Löschung könnte aber Taterakten entwerten, da entweder Gegenstücke (Opferakten) zu ihnen dann fehlen, oder direkt in ihnen gelöscht würde. Daher wäre die Einräumung eines Löschungsanspruchs nicht angemessen. Ein Anspruch auf Anonymisierung dagegen schon, weil dann immer noch ein Teil der Information erhalten bleibt. Mit diesen Überlegungen ist ein Anspruch auf Anonymisierung als verfassungsmäßig anzusehen.38 Dann bleibt noch der Ol. Januar 1997 als Stichtag zu untersuchen. Die gesetzliche Regelung wäre ungeeignet, wenn die Erfüllung des gesetzlichen Anspruchs objektiv unmöglich wäre. Das Versprechen einer unmöglichen Leistung begründet nämlich keine Verbindlichkeit und damit auch keine Verpflichtung des Staates. Hier wird man nun differenzieren müssen: Soweit Unterlagen noch nicht erschlossen sind, ist eine Anonymisierung absolut unmöglich, da noch nicht bekannt ist, zu welchen Personen diese Akten angelegt sind. 36

Vgl. oben lit. a). Vgl. auch oben lit. b) a. E. 38 Im Erg. ebenso: Stoltenberg, § 14 Rdnr. 4, der allerdings der Ansicht ist, die Gesetzesbegründung sei insoweit schon überzeugend. Der Gesetzgeber will aber prüfen, ob bei einer Novellierung des StUG nicht ein Löschungsanspruch möglich ist; vgl. BT-InnenA-Prot. (83. Sitzung), S. 59. 37

. Kap.: Die Rechte der

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Bei erschlossenen Unterlagen stellt sich das Problem ebenfalls, wenn auch in anderer Weise. Die Namen von Betroffenen und Dritten können aus den unterschiedlichsten Anlässen in die verschiedensten Vorgänge aufgenommen worden sein. Eine Anonymisierungsmöglichkeit in Vorgängen, die nicht speziell zum jeweiligen Betroffenen angelegt sind, hinge vom reinen Zufall ab. Eine vollständige Anonymisierung wäre nicht gewährleistet. Dies gilt erst recht für Dritte, die nur in zu anderen Personen angelegten Akten erwähnt werden. Daraus folgt, daß die Einräumung eines sofortigen Löschungs- oder Anonymisierungsanspruchs - in konsequenter Umsetzung der vom BVerfG im sog. Volkszählungsurteil niedergelegten Grundsätze - an der Natur der Sache gescheitert wäre. Allerdings ist es nur eine Frage der Zeit bis alle Unterlagen erschlossen, Querverbindungen zwischen Betroffenen- und sonstigen Drittvorgangsunterlagen hergestellt, der Umfang der Verbreitung personenbezogener Informationen im Einzelfall ermittelt und die erforderlichen Findhilfsmittel geschaffen bzw. rekonstruiert sind. Um den bestehenden Zustand zu erreichen, hat der BStU Jahre gebraucht. Um die Entwicklung zu vollenden, werden noch weitere Jahre nötig sein. Das ist der Hintergrund des auf den Jahresbeginn 1997 verlegten Stichtags.39 Mit dem Stichtag können die Betroffenen/Dritten ein besonderes Verwaltungsverfahren in Gang setzen. Opfer, die die Anonymisierung ihrer personenbezogenen Informationen begehren, beantragen den Erlaß eines Verwaltungsaktes i. S. v. § 35 VwVfG. Denn der Schwerpunkt des behördlichen Handelns liegt hier nicht auf dem Realakt der Anonymisierung, sondern auf der Entscheidung, ob die Anonymisierung durchgeführt werden kann. Das ergibt sich schon aus der Notwendigkeit der behördlichen Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 14 II StUG dem Begehren nicht entgegenstehen. Erst wenn die positive Entscheidung getroffen worden ist, kann anonymisiert werden; andernfalls muß dem Betroffenen/Dritten die negative Entscheidung mitgeteilt werden. Da das Verfahren einen Antrag des Betroffenen voraussetzt, handelt es sich bei der Anonymisierung um einen mitwirkungsbedürftigen VA. Weil der Mitwirkungsakt nach dem StUG erst ab Ol. Ol. 1997 vollzogen werden darf, sind die gesetzlichen Regelungen des § 14 I - IV StUG bis dahin quasi suspendiert, das heißt Verfahren nach § 14 StUG können erst zu diesem Zeitpunkt in Gang kommen. Fraglich ist, ob eine derartige Verfahrensweise mit dem allg. Persönlichkeitsrecht der Betroffenen/Dritten noch vereinbar ist. Für die Dauer von fünf Jahren seit Öffnung der Stasi-Archive und etwas mehr als sechs Jahre nach dem Beitritt sollen also die Interessen der Opfer an der Beseitigung der sie beeinträchtigenden personenbezogenen Informationen pauschal gehindert sein, sollen andere - zugegeben auch legitime Zwecke - verfolgt werden dürfen. 40 Das Problem liegt nun darin, ob die willkürliche Festsetzung eines zukünftigen Datums 39 Krit. insoweit Mötsch, Helmrich-FS, S. 95 (104), dem nicht einleuchtet, daß das Recht auf Löschung „sowohl vertagt als auch relativiert" worden ist. Diese Frage ist auch im Innenausschuß des Bundestages kontrovers diskutiert worden; vgl. BT-InnenA-Prot. (17. Sitzung), S. 11 f.; BT-InnenA-Prot. (18. Sitzung), S. 34.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

wirklich einen angemessenen Interessenausgleich ermöglicht. Die Bestimmung eines geeigneten Stichtags setzt eine politische - sei es ζ. B. eine wirtschafts-, gesellschafts- oder rechtspolitische - Entscheidung voraus. Naturgemäß muß der Gesetzgeber bei dieser Entscheidung von der Beurteilung der z. Zt. des Erlasses des Gesetzes bestehenden Verhältnisse ausgehen. Da die Entwicklung sich nicht genau vorausberechnen läßt und aus den verschiedensten Gründen der erwartete Geschehensablauf eine unvorhergesehene Wendung nehmen kann, müssen Irrtümer in Kauf genommen werden. Ein gesetzlich festgelegter Stichtag kann nicht schon deswegen als verfassungswidrig angesehen werden, weil er u. U. auf einer Fehlprognose beruht. 41 Die Frage nach der Zwecktauglichkeit eines gesetzlich fixierten Stichtags kann also nicht nach der tatsächlichen Entwicklung, sondern nur danach beurteilt werden, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, daß die getroffene Maßnahme zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet sein würde, ob also seine Prognose bei der Beurteilung bestimmter politischer Zusammenhänge sachgerecht und vertretbar war. 42 Dieser Maßstab verlangt, daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert. Er muß die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können. Die sichersten Anhaltspunkte für die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung vermögen dabei Erfahrungen mit vergleichbaren Normen zu liefern 4 3 In derartigen Stichtagsregelungen liegt eine gewisse Statik verborgen. Bis zum Stichtag ist die Interessenlage so, danach verkehrt sie sich u. U. ins Gegenteil. Tatsächlich denkt der Gesetzgeber daran, im Falle der Novellierung des StUG die Frage einer Verkürzung der Frist zu untersuchen, um die Rechte der Opfer besser zu wahren. 44 Wie die umfangreichen Gesetzgebungsmaterialien zeigen hat der Gesetzgeber tatsächlich alle seinerzeit vorhandenen Erkenntnisquellen ausgeschöpft und will dies auch künftig machen. Die Tatsache, daß das zu lösende Problem ohne Beispiel war, es somit keine vergleichbaren Normen gab, und daß dem Gesetzgeber, was die zu regelnde Praxis anging, ein weiter Prognosespielraum einzuräumen war, hindert daran, die gesetzliche Regelung von vornherein als unverhältnismäßig oder gar willkürlich anzusehen.45 Das gilt umsomehr, als jede Stichtags40

Eine derartige Regelung hat der BfD anläßlich der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen zum StUG-E am 27.080.1991 für akzeptabel gehalten; vgl. Einwag, BT-InnenA, Prot. Nr. 12, S. 272. 41 Vgl. BVerfGE 30, 250 (263) mit Hinweis auf BVerfGE 25, 1 (12f.); dass., E 38, 61 (88f.); dass., E 39, 210 (226). 42 Vgl. BVerfGE 30, 250 (263); dass., E 38, 61 (88); dass., E 39, 210 (230). 43 Vgl. BVerfGE 50, 290 (333f.). 44 Vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 59 zu § IIa StUG-E. 45 Das BVerfG betont in st. Rspr. den weiten legislativen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob eine bestimmte vorgesehene Maßnahme allgemein geeignet ist, das erstrebte Ziel zu erreichen; vgl. BVerfGE 30, 292 (316); E 33, 131 (181); E 40, 223; E 77, 84 (106).

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regelung ihre Härten enthält. Allerdings bedenklich ist sie doch, da das gegenwärtige Datenschutzrecht für rechtswidrig erhobene, das heißt unzulässig gespeicherte Daten die unverzügliche Löschung vorsieht. 46 Die Rechtfertigung ergibt sich jedoch aus der Natur der Sache. Eine Fristverlängerung durch Novellierung des Gesetzes dürfte unzulässig sein, da der gegenwärtige Stichtag die Grenze des Erträglichen markiert 47 Die gesetzliche Regelung wirft also einige verfassungsrechtliche Fragen auf; durchgreifende Bedenken ergeben sich jedoch nicht. Je kürzer der Gesetzgeber im Falle der Novellierung die Frist des § 14 I 2 StUG faßt, umso unbedenklicher wird die Regelung.

5. Die Rechte von Angehöngen der Betroffenen Nahe Angehörige vermißter oder verstorbener Personen können nach § 15 I StUG quasi stellvertretend für diese Personen Auskunft aus den Unterlagen über diese Personen erhalten. Wer als naher Angehöriger anzusehen ist, ist in § 15 III StUG legal definiert. 48 Vermißte oder verstorbene Personen müssen nicht nur Betroffene und Dritte gewesen sein, auch die Mitarbeiter des MfS und Begünstigte werden erfaßt. Dahinter steht die Überlegung, daß besorgte Angehörige von Tätern nicht automatisch auch Täter sein müssen. Einsicht in bzw. Herausgabe von Unterlagen an die Angehörigen wird auch gewährt (§ 15 II StUG). Allerdings geschieht dies nur, soweit es für den verfolgten Zweck erforderlich ist. Das ergibt sich zwar nicht ausdrücklich, aber schlüssig aus dem Gesetz. Da die Ansprüche auf Aus46

Der BfD hält die gesetzliche Regelung für „wenig befriedigend"; vgl. BfD-Bericht,

S. 36. 47 Er bezieht sich wie angedeutet nur auf bestimmte Verwaltungsverfahren. Betroffene und Dritte sind aber nicht gehindert, bereits vor 1997 zum Beispiel im Wege der Petititon gem. Art. 17 GG eine behördliche Aussage darüber zu erhalten, wie es mit der Möglichkeit der Anonymisierung ihrer Unterlagen aussieht. D. h. der BStU würde dann Angaben darüber machen, ob die konkreten Unterlagen bislang für Forschungszwecke etc. gebraucht würden oder entsprechende Anträge öffentlicher oder nicht-öffentlicher Stellen vorlägen. Die Stichtagsproblematik wird kontrovers diskutiert, vgl. ζ. B. Marx, BT-InnenA-Prot. (94. Sitzung), S. 28, die die Frage stellt, ob der individuelle Löschungsanspruch nicht zeitlich vorgezogen werden könne. Dagegen: Gauck, ebenda, S. 29f. Er halte es für zu gewagt, die Einschätzung abzugeben, in weniger als fünf Jahren mit der Erschließung des Materials fertig zu sein. Dies scheitere schon daran, daß größere Umstrukturierungen seiner Behörde, die dafür notwendig wären, nicht möglich seien. Gemeint ist die Anonymisierungskapazität, die beim BStU bislang noch nicht existiert. Bedenklich an der Antwort Gauck's ist, daß das Argument „noch nicht fertig zu sein" 1997 dazu benützt werden könnte, die Frist für die Antragstellung weiter hinauszuschieben. Vgl. zu diesem Problem auch die Stellungnahme von Gauck an den InnenA des Deutschen Bundestages vom 12. 08. 1991, S. 11 ff., wo u. a. dieser Aspekt anklingt. 48

Die Legaldefinition des Begriffs führt lt. BStU-Bericht, S. 54 gelegentlich zu persönlichen Härten, wenn ζ. B. Anträge von Partnern langjähriger eheähnlicher Gemeinschaften abgelehnt werden müssen. Das ist aber kein StUG-typisches Problem, sondern vielmehr eine Frage des zivilrechtlichen Angehörigenbegriffes.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

kunft, Einsicht und Herausgabe konstruktiv nebeneinander stehen sollen (Nachbildung zu § 13 StUG), können Einsicht und Herausgabe nicht unter leichteren Voraussetzungen möglich sein als die Auskunft. Anders als bei Betroffenen und Dritten sind die Möglichkeiten des Unterlagenzugangs bei den Angehörigen auf die im Gesetz abschließend aufgezählten drei Zwecke beschränkt. Der verfolgte Zweck muß im Auskunftsersuchen glaubhaft gemacht werden (§ 294 ZPO); das Verwandtschaftsverhältnis muß nachgewiesen werden. Dies wird i. d. R. durch Personenstandsurkunden geschehen.49 Ein Recht der Angehörigen besteht nicht, soweit der Vermißte/Verstorbene eine andere Verfügung getroffen hat, oder sein entgegenstehender Wille sich aus den Umständen ergibt (§ 15 IV StUG). Der Wille der fraglichen Person geht dann den Wünschen der Angehörigen anders als im Erbrecht dauernd vor. Das ergibt sich aus der Formulierung des § 15 IV StUG „Absatz 1 gilt nicht, ..."; der Anspruch der Angehörigen gelangt dann gar nicht erst zur Entstehung. Damit sichert das Gesetz die Herrschaft der Vermißten über die Anwesenden bzw. die Herrschaft der Toten über die Lebenden.50 6. Sonderproblem: Der „gruppenübergreifende" Antrag Die bisherigen Schilderungen gehen von der Prämisse aus, daß ein Betroffener seine Rechte als Betroffener geltend macht. Opfer und Täter sind also schon bei Verfahrensbeginn klar getrennt. Es bleibt jedoch die Frage, was geschieht, wenn jemand seine Rechte als Betroffener anmeldet, in Wahrheit aber als Mitarbeiter in den Unterlagen geführt wird oder umgekehrt. Der letztere Fall ist nur theoretischer Natur. Die Person, die sich irrig für einen Mitarbeiter des MfS hält, nach der Aktenlage jedoch Betroffener ist, wird nach dem Günstigkeitsprinzip behandelt. Ihr werden die Opferrechte eingeräumt. Das gilt entsprechend für einen antragstellenden Dritten. Der erstere Fall ist dagegen problematisch. Es gilt folgendes: Solange nicht rechtskräftig festgestellt worden ist, daß die fragliche Person Mitarbeiter des MfS war, muß der BStU zunächst nach § 4 II StUG verfahren. Derjenige, der für sich Betroffenenrechte reklamiert, in den Unterlagen aber als Mitarbeiter verzeichnet ist, bestreitet schlüssig die Richtigkeit der Angaben in den Unterlagen. Ist die Feststellung einer Mitarbeit rechtskräftig getroffen, so werden dem Antragsteller die Täterrechte eingeräumt. Sein Antrag wird analog §§ 133, 157 BGB umgedeutet. Dahinter steht die Überlegung, daß der Antragsteller sich mit der getroffenen Fest49 Aber auch alle übrigen zivilprozessualen Beweismittel (außer Parteivernehmung) sind zugelassen; vgl. S/D, § 15 Rdnr. 4. so Nach BT-Drucks. 12/1093, S. 24 soll die Vorschrift in das StUG aufgenommen worden sein, nachdem zahlreiche Bürgereingaben ein praktisches Bedürfnis erkennen ließen. Die Grenze der Berücksichtigungsfähigkeit solcher Wünsche dürfte jedoch dort liegen, wo die Angehörigen eigene Rechte nach dem StUG verfolgen können; vgl. Kloepfer, S. 33.

. Kap.: Die Rechte der

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Stellung abfinden muß. Dann ist es sachgerecht, den gestellten Antrag im Sinne der Täterperspektive zu verstehen. Es bleibt noch zu klären, welche Informationen etc. dem Antragsteller in der Zwischenzeit zu geben sind. Dem Antragsteller stehen die Opferrechte nicht zu. Da die Opfer-Täter- Differenzierung von einer materialbezogenen Sichtweise ausgeht, gibt die Aktenlage eine solche Einstufung nicht her. Die bloße Behauptung des Auskunftersuchenden reicht allein nicht aus. Dem Antragsteller stehen aber auch nicht die Täterrechte zu. Es bedürfte nämlich eines entsprechenden Antrags, der nicht vorliegt. Eine Umdeutung ist hier nicht möglich, da der Wille des Antragstellers ihr ersichtlich entgegensteht. Der Antragsteller will in der Schwebezeit des Verfahrens Opfer sein. In diesem Fall kann dem Antragsteller an sich nur (erneut) mitgeteilt werden, daß sich in den Unterlagen Informationen über ihn befinden, nach denen er - entgegen den eigenen Angaben - als Mitarbeiter geführt worden ist. Dies ist der wesentliche Inhalt der Auskunft nach § 3 I 1 StUG. 51 Das Problem liegt darin, daß der Antragsteller dann auf jeden Fall, d. h. unabhängig von seiner Einstufung, weitere Rechte hat ( § 3 1 2 StUG), die nicht durch das zu wählende Verfahren blokkiert werden dürfen. Eine ausdrückliche Lösung dieses Falles hält das Gesetz nicht bereit. Aus der Zusammenschau von § 4 II StUG und § 6 VIII StUG läßt sich jedoch entnehmen, daß bei Streitigkeiten über die Einstufung einer Person der BStU dem Grunde nach von Amts wegen hierüber entscheiden soll. 52 In der Regel wird der Antragsteller dann als Mitarbeiter des MfS behandelt werden. Wird diese Einstufung dem Antragsteller ausdrücklich oder schlüssig zusammen mit der zuvor genannten Auskunft mitgeteilt, verliert diese ihren Charakter als Wissenserklärung des BStU und wird zu einer behördlichen Regelung mit Verbindlichkeitsintention gegenüber dem Antragsteller (Verwaltungsakt). Die vorstehenden Ausführungen gelten für einen antragstellenden Begünstigten entsprechend. Beachtung verdient auch die Fallgestaltung, in der ein Antragsteller nach Lage der Akten mehrere Personenkategorien (ζ. B. Betroffener und Mitarbeiter) erfüllt. Dann gilt: Läßt der Akteninhalt eine zeitliche Zäsur zu, so ist für jeden abgrenzbaren Zeitraum gesondert festzustellen, ob die Person Betroffener oder Mitarbeiter war (arg. aus § 6 VIII StUG). Die Rechte des Antragstellers richten sich dann danach, für welchen Zeitraum er Auskunft, Einsicht bzw. Herausgabe wünscht.

51

Zu restriktiv: G/K, § 12 Rdnr. 5, die in diesen Fällen Auskunft nur im Rahmen des Antrages erteilen wollen. Dann dürfte man dem Anfragenden gar keine Auskunft geben; nicht einmal den Hinweis, daß man in den Unterlagen Hinweise auf eine mögliche andere Einstufung der Person gefunden habe. 52 Vgl. auch Bork, ZIP 1992, 90 (92), der diese Folgerung mit der Überlegung begründet, daß es ein sonstiges vorgeschaltetes, justizförmiges Verfahren, die Stasi-Zugehörigkeit eines Beteiligten gleichsam mit „inter-omnes-Wirkung" festzustellen, nicht gibt.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Gibt es zeitliche Überschneidungen bzw. ist eine zeitliche Zäsur nicht möglich, so ist für jede Information gesondert festzustellen, wie sie den Antragsteller betrifft (§ 6 VIII StUG). Die Detailschärfe geht dabei so weit, daß u. U. für einzelne Daten auf einem Aktenblatt unterschiedliche Einstufungen erfolgen müssen, wenn dies möglich ist. Sind die Einzelinformationen bivalent oder auslegungsfähig oder ist die nach § 6 VIII StUG gebotene Feststellung aus sonstigen Gründen nicht zweifelsfrei möglich, so richten sich die Rechte des Antragstellers nach der ihm günstigeren Regelung. Dahinter steht die Überlegung, daß Unklarheiten des MfS bei der Informationssammlung bzw. Schwierigkeiten bei der Bewertung des Materials durch den BStU nicht zu Lasten des Rechtsuchenden gehen dürfen.

V. Die Dritten 1. Die gesetzliche Definition Dritte sind nach dem StUG sonstige Personen, über die das MfS Informationen gesammelt hat (vgl. § 6 VII StUG). Gemeint sind damit die Personen, über die im Rahmen der Ausspähung von Betroffenen Informationen angefallen sind, 53 wobei nach der Systematik des Gesetzes bereits die Personen ausgeschieden worden sind, die zuvor einer anderen Kategorie von Personen zuzurechnen waren. Ihrer Qualität nach sind die Dritten dem Kreis der Opfer zuzurechnen; für sie sind im Gesetz ähnlich wie für Betroffene besondere Schutzvorschriften vorgesehen.54

2. Opfer zweiter Klasse Der einzige substantielle Unterschied zwischen Betroffenen und Dritten scheint demnach darin zu liegen, daß die personenbezogenen Informationen über Dritte nur zufällig in die Unterlagen einbezogen worden sind. Über Dritte gibt es keine direkt auf sie zugeschnittenen Vorgänge.55 Sie sind eingebunden in den Zusammenhang mit den Unterlagen Betroffener. Soweit ein Dritter selbst zum Gegenstand eines operativen Vorgangs gemacht wurde aufgrund des Erscheinens in anderem Zusammenhang, ist er zum Betroffenen geworden. Tatsächlich sind denn auch die Rechte von Betroffenen und Dritten nahezu identisch, soweit es Auskunft, Einsicht und Herausgabe von Unterlagen angeht, und völlig identisch, soweit es die Anonymisierung und Löschung von Informationen angeht (vgl. § 14 I StUG). Es 53 Vgl. den Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, S. 21. 54 Vgl. Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, a. a. O. 55 Wurde z. B. eine Demonstration oder eine kirchliche Veranstaltung generell überwacht, so handelt es sich bei den erhobenen personenbezogenen Informationen nicht unbedingt um Informationen über Betroffene, da nicht die Einzelperson Objekt der Erhebung war.

. Kap.: Die Rechte der

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gibt nur zwei kleine Unterschiede in der Behandlung von Betroffenen und Dritten (im Rahmen des § 13 StUG). Zum einen müssen Dritte Angaben machen, die das Auffinden der Informationen erleichtern, § 13 V I I 1 StUG (Betroffene: „sollen"). Zum andern erhalten Dritte nur dann Auskunft, wenn der nötige Verwaltungsaufwand nicht unverhältnismäßig hoch ist (§ 13 VII 2 StUG). Gemeint sind die Fälle, in denen die Informationen zum Dritten nicht durch Findmittel erschlossen sind. 56 Um es vorwegzunehmen, weder die eine noch die andere Abweichung ist geeignet, die Differenzierung nach Betroffenen und Dritten transparent zu machen. Erstens werden auch die Betroffenen sich nicht nur damit begnügen, ihren Namen anzugeben und zu behaupten, sie seien Betroffene. Bei der Geschicklichkeit, mit der das MfS seine Aufgaben erledigte, werden viele eine Bespitzelung überhaupt nicht bemerkt haben, so daß eine Unmenge von Verdachtsanfragen erfolgen werden, bei der die Antragsteller unter Schilderung eines konkreten Sachverhaltes sich an den BStU wenden werden. Erst bei der Überprüfung der gemachten Angaben wird die Behörde dann feststellen, ob der Antragsteller Betroffener oder Dritter ist, und zwar dann, wenn sie einen Vorgang findet, der sich auf die Person bezieht, oder wenn sie feststellt, daß zur fraglichen Zeit des geschilderten Falles Erkenntnisse über den Antragsteller angefallen sind. Sollte weder das eine noch das andere der Fall sein, wird ein Negativattest erforderlich. Faktisch werden - aus Gründen der Verwaltungstechnik - Betroffene und Dritte also gleichbehandelt. Zweitens hängt die Höhe des Verwaltungsaufwandes, der zum Auffinden von Unterlagen erforderlich ist, bei Betroffenen und Dritten von den gleichen Faktoren ab, nämlich zum Beispiel vom Grad des erschlossenen Materials, von der Anzahl der Anfragen, die bei den Landesstasiarchiven notwendig werden, um ein Gesuch zu bearbeiten, und von der Reorganisation der Zugriffsmittel, das heißt zum Beispiel von der Wiederherstellung der computergesteuerten Aktenführung oder der Rekonstruktion des Karteiwesens. Hinzu kommen noch aktenunabhängige Faktoren wie zum Beispiel die Gesamtzahl zu bearbeitender Gesuche, die Personalausstattung der Gauck-Behörde bzw. der Landesarchive usw. Je weiter diese Faktoren verbessert oder beschleunigt werden, umso verhältnismäßig geringer wird der Verwaltungsaufwand, das heißt mit der Zeit wird die Gauck-Behörde in der Lage sein, die Gesuche Dritter ebenso effektiv zu bearbeiten wie die Gesuche Betroffener. Die Prüfung des Verhältnisses zwischen dem Aufwand und dem Interesse des Dritten ist also letztlich nur ein Zeitproblem. Wenn man sich überlegt, daß, wie schon geschildert, auch die Betroffenen besser mit Anfragen abwarten, bis der BStU das Material vollständig erschlossen bzw. rekonstruiert hat, ist eine materielle Schlechterstellung der Dritten gegenüber den Betroffenen nicht gegeben. Jedenfalls sind die Dritten keine „Opfer 2. Klasse".57

56 Vgl. G/K, § 13 Rdnr. 11. 57 A. A. ist BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vgl. BT-Drucks. 12/1556, S. 2.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

3. Der Sinn der Differenzierung nach Betroffenen und Dritten Damit erhebt sich die Frage, warum der Gesetzgeber überhaupt zwischen Betroffenen und Dritten differenziert. Da diese Frage in den Gesetzgebungsmaterialien nirgendwo beantwortet wird, ist es notwendig, sich an dieser Stelle eigene Gedanken zu machen. Als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen mag die Tatsache dienen, daß das Vorhandensein von 6 Mio. personenbezogener Einträge in den Dossiers des MfS nicht gleichbedeutend ist mit dem Vorhandensein von 6 Mio. Personenakten. Nicht selten betrifft ein operativer Vorgang mehrere Personen, die vom MfS beobachtet wurden. Dabei muß, so will es das Gesetz (§ 6 VIII 1 StUG), für prinzipiell jede Information gesondert festgestellt werden, welche Personenkategorie sie betrifft. Blickt man nur auf die Personen, ist das problematisch. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Sind in einer „Opferakte" die Personen A und Β beobachtet worden und A verlangt nun Einsicht in den Vorgang, so sind die Informationen, die ihn betreffen, ihm als Betroffenem zugänglich zu machen. Die Informationen, die Β betreffen, sieht er nicht. Sind aber in der Akte des Β auch Erkenntnisse über A enthalten, kann A nicht von vornherein Einsicht in die Akte des Β verlangen, denn aus der Sicht des BStU stünde A der Akte des Β indifferent gegenüber. Strenggenommen müßte man diesen Vorgang dann auseinanderreißen und nach den Personen A und Β auseinanderdividieren, um dann getrennte Vorgänge jeweils zugänglich machen zu können. Abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten einer solchen Verfahrensweise ginge dabei die innere Ordnung des Unterlagenbestandes verloren. Einen solchen Zustand wollte das StUG aber unbedingt vermeiden. Es geht dem Gesetz vielmehr um die Ordnung der Unterlagen nach Maßgabe ihres personenbezogenen Informationsgehaltes, auf deren Grundlage sich die Auskunftstätigkeit des BStU entfaltet und sich die Zugangsmöglichkeiten eröffnen. Die ganze Typisierung in Betroffene und Dritte ist aber nicht auf einem personenbezogenen, sondern auf einem unterlagenbezogenen Hintergrund zu sehen. Das wird noch weiter verdeutlicht, wenn man den § 6 VIII 2 StUG betrachtet, wonach die Feststellung, in welche Kategorie eine Information gehört, danach getroffen wird, mit welcher Zielrichtung sie in die Unterlagen aufgenommen wurde. Diese Sichtweise trägt weniger dem persönlichkeitsrechtlichen Aspekt des „Opferschutzes" Rechnung, sondern huldigt einer archivarischen, an die Logik des Materials anknüpfenden Perspektive. Das ist der Sinn der Differenzierung, nämlich das Material in der vorgefundenen Weise archivieren zu können. Eine solche Sichtweise ist solange unproblematisch, wie die Rechte der „Dritten" nicht wesentlich hinter den Rechten zurückbleiben, die die „Betroffenen" für sich in Anspruch nehmen können. Das ist der Fall. 58

58 Α. A. ist (wohl) Saathoff, S. 21, der das Gesetz mißverstanden hat, wenn er meint, den Dritten würden wichtige Schutzrechte vor einem behördlichen Zugriff auf ihre Daten vorenthalten.

1. Kap.: Die Rechte der Opfer

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VI. Sonderproblem: § 121 StUG Die Rechte der Betroffenen und Dritten werden entweder von ihnen selber wahrgenommen (§12 11 StUG) oder von ihrem Rechtsanwalt (§ 12 13 StUG), wobei dieser ausdrücklich ermächtigt sein muß, die Rechte des Mandanten nach dem StUG wahrzunehmen. Diese restriktive Handhabung des Unterlagenzugangs schließt andere Vetrauenspersonen des Opfers vom Zugriff aus. Im Hinblick auf den Grundgedanken des Gesetzes, die Bewältigung des vorhandenen Materials dem einzelnen selbst zu überlassen, scheint dies konsequent zu sein. Allein die Norm ist praktisch recht hinderlich. Es fragt sich zum Beispiel, wieso der ausdrücklich bevollmächtigte Rechtsanwalt vertrauenswürdiger sein soll als der entsprechend bevollmächtigte Ehegatte des Opfers oder eines seiner Kinder. 59 Auch bleibt zu fragen, was ein Opfer machen soll, welches einen entfernten Wohnsitz, vielleicht gar im Ausland, hat und sich selbst zeitlich nicht um einen Zugang zu den Unterlagen kümmern kann. Ferner muß man den Fall berücksichtigen, daß das Opfer aufgrund gesundheitlicher oder körperlicher Gebrechen nicht in der Lage ist, selbst seine Akten einzusehen.60 Der dann durch das StUG angeordnete „Anwaltszwang" kann für das Opfer sehr teuer werden (Gebühren, Reisekosten, Spesen etc.). Es ist durchaus möglich, daß derart sachfremde Überlegungen den einzelnen in seiner Entscheidung, ob er sich Zugang zu den Unterlagen verschaffen will, negativ beeinflussen. Schließlich muß man fragen, worin der Unterschied liegt, ob ein Rechtsanwalt kommt, Einsicht in die Unterlagen nimmt und sich ein Duplikat der Opferakte geben läßt, oder ob eine andere Vertrauensperson das gleiche macht. Beide werden nämlich nicht in der Lage sein, die Fragen zu stellen, die das Opfer selbst stellen würde, denn sie haben nicht das Leben des Betreffenden gelebt. Soweit sie sich aber die Unterlagen verschaffen, um das Opfer zu unterrichten, bleibt die letzte Entscheidung über die weiteren Maßnahmen doch beim Betroffenen oder Dritten. Die eigentliche Rechtsberatung, so denn eine erforderlich scheint, erfolgt in jedem Falle erst nach Verschaffung der Unterlagen. Für das bloße Durchblättern und Übermitteln der Duplikate ist es aber nicht zwingend nötig, seinen Rechtsanwalt zum Bundesbeauftragten zu schicken. Die besondere Bevollmächtigung einer Vertrauensperson und deren Entsendung reicht völlig aus. Schwer verständlich ist auch, daß das Gesetz insoweit undeutlich gefaßt ist, als es auch im Falle der Antragstellung durch den ordentlich bevollmächtigten Rechtsanwalt dem Bundesbeauftragten theoretisch ermöglicht, Auskunft, Einsicht etc. gegenüber dem u. U.

59 Folgerichtig fordert die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier eine Änderung des Gesetzes in der Weise, daß der Betroffene/Dritte einen persönlichen Beistand seiner Wahl bestellen darf, der nicht Anwalt sein muß; vgl. Abschn. II Ziff. 2 der Vorschläge der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Novellierung des StUG aus einem internen Papier der Koordinationsstelle AK III (Innen- und Rechtspolitik) vom 04. 11. 1992. 60 Gauck hat im Bericht an den InnenA des BT vom 25. 01. 1993, S. 7 zu Recht darauf hingewiesen, daß alte, hilflose Menschen keine Begleitperson mitbringen können, da diese an der Akteneinsicht nicht beteiligt werden darf.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

weit entfernten Vollmachtgeber zu leisten.61 Das ergibt sich aus dem Wort „oder" in § 1213 StUG. 62 Aus diesem Satz hätte man besser zwei gemacht. Der Bundesbeauftragte hat in der jetzigen Fassung insoweit ein Ermessen bei der Auswahl, wem er im Falle des § 12 I 3 StUG die begehrten Auskünfte etc. erteilt. Entsprechend stellt sich das Problem auch für Mitarbeiter und Begünstigte des MfS. Auch diese Personen müssen entweder selbst erscheinen oder ihren Anwalt schicken. Allerdings hat das Problem hier eine andere, geringere Qualität. Es ist verständlich, wenn die Täter eine gewisse Scheu davor haben, mit dem Bundesbeauftragten direkt in Kontakt zu kommen. Gleichzeitig bestehen aber auch Bedenken, einer allgemeinen Vertrauensperson des Mitarbeiters den Zugang zu gewähren. Bei der Kaderpolitik, die das MfS betrieben hat, und der Kontrolldichte, die es auch im privaten Bereich der Mitarbeiter ausübte, besaßen selbst die Familienmitglieder i. d. R. zumindest das Vertrauen des MfS. Da die Interessen der Mitarbeiter von denen des StUG prinzipiell abweichen, wird dies analog auch für eine allgemeine Vertrauensperson des Mitarbeiters gelten. Es sei denn, besondere Umstände in der Person lassen einen anderen Schluß zu. Das ist bei Rechtsanwälten der Fall, da sie nicht bedingunglos ihrem Mandanten verpflichtet sind, sondern auch als Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 BRAO) fungieren. Insoweit läßt sich eine sachliche Rechtfertigung für den „Anwaltszwang" herleiten. Da das Gesetz in § 12 I Opfer und Täter verfahrenstechnisch gleichbehandelt, obwohl es sich der Sache nach um wesensverschiedene Fälle handelt, wird man hier nachzubessern haben. Es bietet sich an, für die Betroffenen und Dritten eine eigene Vertrauenspersonenregelung in § 121 StUG einzufügen.

VII. Exkurs: Rechtsschutz gegen Entscheidungen des BStU Soweit das StUG keine besonderen Regelungen trifft, gelten für die Frage nach den Rechtsschutzmöglichkeiten die einschlägigen gesetzlichen Verfahrensordnungen, hier insbesondere die VwGO (arg. e contrario aus § 31 StUG). Die Ansprüche 61

Stoltenberg, § 12, Rdnr. 2 sieht dieses Problem aus einem anderen Blickwinkel, wenn er folgert, daß es zweifelhaft erscheine, ob dem Antragsteller in Gegenwart seines Rechtsanwaltes (!) zum Beispiel Akteneinsicht gewährt werden könne. Nach S/D, § 12 Rdnr. 6 soll diese Art des Tätigwerdens sogar der Regelfall sein, es sei denn, der Rechtsanwalt sei neben der allgemeinen Bevollmächtigung noch besonders zusätzlich ermächtigt worden, Auskunft, Einsicht und Herausgabe von Unterlagen zu fordern. Diese Ansicht geht allerding zu weit. Sie läßt sich aus dem Gesetz nicht herleiten. 62 Mißverstanden hat das Gesetz allerdings Staff, ZRP 1992, 462 (463), wenn sie fragt, weshalb die Regelung des § 12 I 3 StUG überhaupt geschaffen wurde. § 12 I 1, 2 StUG beziehen sich auf den Normalfall, daß zum Beispiel ein Opfer seine Rechte selbst verfolgt. Der Begriff des Antragstellers rekurriert dabei auf die im Gesetz niedergelegten Personenkategorien (vgl. die Überschrift der Norm). Zu diesen zählt ein normaler Bevollmächtigter, der ja fremde Rechte geltend machen soll, regelmäßig nicht. Daher war eine besondere Regelung erforderlich.

. Kap.: Die Rechte der

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auf Auskunft, Einsicht, Herausgabe im Hinblick auf die Stasi-Unterlagen sind ihrer Natur nach subjektive öffentliche Rechte. Das folgt schon aus der Gesamtkonzeption des StUG. Das gilt für alle im StUG genannten Personenkategorien, also Betroffene, Dritte, Mitarbeiter und Begünstigte. Werden entsprechende Ersuchen durch den Bundesbeauftragten versagt, ist demzufolge der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 I VwGO eröffnet. Fraglich ist aber, welches die richtige Klageart ist. Dafür ist das tatsächliche Klagebegehren maßgeblich, wie es sich bei verständiger Würdigung darstellt. 63 Da Auskunft, Einsicht und Herausgabe von Unterlagen der Sache nach schlichtes Verwaltungshandeln sind, d. h. nicht auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen zielen, wäre das Klagebegehren nicht auf den Erlaß eines Verwaltungsaktes gerichtet, da mit der begehrten Handlung keine Rechtsfolgen gegenüber dem Antragsteller intendiert würden. Demnach wäre die allgemeine Leistungsklage die richtige Klageart. Diese Folgerung ist aber bedenklich. In der Ablehnung des begehrten Handelns liegt auch die Entscheidung des Bundesbeauftragten darüber, daß ein entsprechender Anspruch nicht besteht, und diese Feststellung belastet den Antragsteller, da sie mit Verbindlichkeit das Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem Bundesbeauftragten gestaltet. Genau bei dieser verbindlichen Feststellung, die einen Verwaltungsakt darstellt, liegt der Schwerpunkt des behördlichen Handelns. Bevor der Bundesbeauftragte Auskünfte etc. erteilt, prüft er nämlich, ob das erstrebte Verwaltungshandeln mit der Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben seiner Behörde vereinbar und von den Möglichkeiten des StUG gedeckt ist. Bei der Brisanz des Materials kann dies auch nicht anders sein. Wer also einen entsprechenden Antrag stellt, ist vor allem daran interessiert, eine positive Zugangsentscheidung zu erhalten. Mithin ist das Klagebegehren dann auf den Erlaß eines Verwaltungsaktes gerichtet. Für diesen Fall ist die Verpflichtungsklage nach § 42 I 2. Alt. VwGO die richtige Klageart. 64 Im weiteren sind dann die üblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine derartige Klage zu beachten. Einstweiliger Rechtsschutz wird in Fällen der Verpflichtungsklage nach § 123 VwGO gewährt. Diese Feststellungen gelten entsprechend für alle nicht-öffentlichen Stellen für die Ablehnung von Zugangs- und Verwendungsersuchen durch den Bundesbeauftragten. 65 63 Unstreitig, vgl. schon OVG Münster, OVGE 1, 102 (104). 64 Α. A. ist G/K, § 12 Rdnr. 17. Danach soll die Anfechtungsklage die richtige Klageart in diesen Fällen sein. Das überzeugt jedoch nicht. Mit der Anfechtungsklage würde der Kläger nur die ablehnende Entscheidung des BStU angreifen. Es würde nicht darüber entschieden, ob der Kläger einen Anspruch auf die begehrte Handlung hätte. 65 Bei den dargestellten Klagemöglichkeiten geht es im Kern stets darum, den Nachweis zu führen, daß die ablehnende Entscheidung des BStU falsch ist. Die Beweislast trägt dabei die Person oder Stelle, die sich bestimmter Rechte berühmt. Dabei kommt eine Beweisführung mittels der Stasi-Unterlagen nicht in Betracht. Sonst würde durch die gerichtliche Beweiserhebung der mit der Klage geltend gemachte Anspruch erfüllt. Vgl. Bork, ZIP 1992, 90 (92). Vgl. auch die Entscheidung des KG, NStZ 1993, 45f., wo die Anfechtung eines Ver-

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Für den umgekehrten Fall, wenn also der BStU sich in irgendeiner Weise wertend über den Inhalt oder die Bedeutung von Unterlagen in seinem Gewahrsam öffentlich äußert, gilt: Die betroffene Person erlangt verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz dann, wenn die Äußerung vom BStU in seiner Eigenschaft als Amtsträger getätigt worden ist, und zwar in Ausübung seiner öffentlich-rechtlichen Befugnisse. Es handelt sich dann um schlichthoheitliches Verwaltungshandeln, ohne obrigkeitlichen Charakter. Nun muß man weiter differenzieren: Für getätigte Äußerungen, die in die Welt gesetzt sind, kann man sich allenfalls noch entschuldigen. Aber die Folgen der Äußerung zu beseitigen, also den status quo ante wieder herzustellen, ist praktisch unmöglich. Man muß berücksichtigen, daß für einen eventuellen Widerrufsanspruch der Kläger den Nachweis führen müßte, daß die Äußerung des BStU unrichtig ist. Das wird einem Außenstehenden, der von der Äußerung überrascht wird, ohne umfängliche Aktenkenntnis regelmäßig nicht möglich sein. Richtige Klageart für einen solchen Widerrufsanspruch ist die allgemeine Leistungsklage, denn der geltend gemachte Anspruch teilt die Rechtsnatur des Eingriffs, also die des schlichthoheitlichen Handelns.66 Konkret hätte man eine „actio negatoria" des öffentlichen Rechts vor sich. 67 Für drohende, künftige weitere Äußerungen des BStU steht die allgemeine Leistungsklage in der Form der vorbeugenden Unterlassungsklage zur Verfügung, und zwar dann, wenn eine konkrete Wiederholungsgefahr gegeben ist. 68 Sollten sich ehrverletzende Äußerungen des BStU in einem Umfeld bewegen, welches keinen Bezug zu dem ausgeübten Amt hat, ist der Zivilrechtsweg gegewendungsverbotes nach § 5 II StUG durch einen Beschuldigten dem Verwaltungsrechtsweg unterstellt wurde. 66 Vgl. prinzipiell zur öffentlich-rechtlichen Natur von Unterlassungs- und Widerrufsansprüchen: BVerwGE 44, 235 (243f.); dass., NJW 1974, 817; OVG Koblenz, NJW 1986, 953; OVG Münster, NJW 1984, 1982 (1983); ferner: BVerwGE 50, 282 (286); konkret wegen der Klageart in solchen Fällen: BVerwGE 31, 301 (303). 67

Das Bestehen eines solchen öffentlich-rechtlichen Beseitigungsverlangens wird heute allgemein angenommen. Die Meinungen über die dogmatische Ableitung gehen jedoch auseinander. Entweder handelt es sich um einen Anspruch entsprechend § 1004 BGB und verwandter Bestimmungen wie §§ 12 bzw. 862 BGB (so: VGH Mannheim, NJW 1990, 1808 (1809) m. w. N; ders., NJW 1986, 340 m. w. N.), oder es handelt sich um einen allein in Betracht zu ziehenden allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch (so: BVerwG, NJW 1989, 2272, 2277; offengelassen in BVerwG, UPR 1990, 267). Letztlich schließen sich die einzelnen Begründungen nicht aus, sondern ergänzen einander. 68 Vgl. BVerwGE 14, 323 (327f.); E 59, 319 (325f.) und aus jüngerer Zeit: VG Berlin, 1 A/449/92, „Fall Stolpe", S. 13 des Urteils. Im Falle der vorbeugenden Unterlassungsklage muß der Kläger allerdings noch besonders sein Rechtsschutzbedürfnis darlegen, so BVerwGE 71, 183 (188). Dafür dürfte es aber reichen vorzutragen, die Äußerung verletze den Betroffenen in seinem Recht auf Ehre (vgl. BVerwGE 82, 76, (78)), als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Denn die Grundrechte schützen den Bürger auch vor Beeinträchtigungen durch schlichthoheitliches Verwaltungshandeln (so: BVerwGE 87, 37 (42); OVG Schleswig, NJW 1993, 807).

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ben. Es handelt sich dann um private Meinungsäußerungen des BStU. Dabei liegt das Problem aber regelmäßig darin, für den Rechtsweg zuvor abzugrenzen, ob die Äußerung in privater oder amtlicher Eigenschaft erfolgt ist. Wie dies zu geschehen hat, ist umstritten. Die herrschende Meinung nimmt die Rechtswegabgrenzung zwischen dem ordentlichen Rechtsweg und dem Verwaltungsrechtsweg nach der Theorie der Akzessorietät vor. 69 Danach kommt es für die Frage, ob in einem solchen Fall der Zivilrechtsweg gegeben ist, weder auf die vom Kläger herangezogenen Anspruchsnormen noch auf den Inhalt der Äußerungen, sondern entscheidend darauf an, ob sich das Klagebegehren als Folge eines Sachverhaltes darstellt, der nach bürgerlichem Recht zu beurteilen ist. Der Verwaltungsrechtsweg ist nach dieser Auffassung dann eröffnet, wenn die Äußerungen in einem Funktionszusammenhang mit den Bereichen hoheitlicher Betätigung des Amtswalters stehen.70 Äußert sich der BStU in der Öffentlichkeit über eine Mitarbeit bestimmter Personen für das MfS in ehrverletzender Weise, gewinnt die Äußerung ihr Gewicht durch die Bedeutung des BStU. Denn wie kaum ein anderer Behördenleiter in der Bundesrepublik Deutschland wird er in der Öffentlichkeit mit der von ihm geleiteten Behörde gleichgesetzt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der BStU nämlich als „Gauck-Behörde" bezeichnet.71 Die korrekte Umschreibung kehrt bestenfalls in amtlichen Schriftstükken wieder. Die Person des Pfarrers Gauck rückt hier in den Hintergrund. Nach h. M. liegt also der Verwaltungsrechtsweg vor. Nach einer weiteren, im Ausgangspunkt der h. M. entsprechenden Ansicht, 72 soll bei ehrverletzenden Äußerungen von Hoheitsträgern der Zivilrechtsweg nur dann gegeben sein, wenn die in Frage stehenden Äußerungen von einem Amtsträger nicht in seiner Eigenschaft als Hoheitsträger, sondern erkennbar und unzweifelhaft nur gelegentlich einer nach öffentlichem Recht zu beurteilenden Tätigkeit oder überhaupt ohne Zusammenhang damit gemacht wurden. 73 Auch nach dieser Ansicht ist der Verwaltungsrechtsweg zu bejahen, denn das Maß an Erkennbarkeit und Unzweifelhaftigkeit, welches hier gefordert wird, ist beim BStU nicht erreichbar, wenn er sich zu den Unterlagen in seinem Gewahrsam äußert und dazu einen Personenbezug herstellt.

69 Vgl. BGH, NJW 1978, 1860f.; OLG Zweibrücken, NVwZ 1982, 332; OVG Koblenz, NJW 1987, 1660 m. w. N. 70 Vgl. BGH, NJW 1978, 1860 (1861); VGH Mannheim, NJW 1990, 1808 (1809). Vgl. VG Berlin, 1 A/449/92, S. 20; Simitis, NJW 1994, 99, der darauf hinweist, daß mit dieser Personalisierung u. a. die Erinnerung an die besondere Vorgeschichte der Behörde wachgehalten werden soll. 72 Vgl. BVerwG, NJW 1988, 2399. Das BVerwG sieht an dieser Stelle auch keinen Widerspruch zur h. M. 73 Vgl. VGH Mannheim, NJW 1990, 1808 (1809). 15 Engel

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Nach anderer Ansicht wird darauf abgestellt, ob der Akt der Äußerung selbst bürgerlich- rechtlich oder öffentlich-rechtlich zu beurteilen ist, ob also eine Äußerung mit gleichen Auswirkungen auch von einem Privatmann hätte getan werden können.74 Da die negativen Auswirkungen der Äußerungen des BStU nur aufgrund der ihm durch das öffentliche Recht verliehenen Kompetenzen eintreten kann, ist auch nach dieser Ansicht der Verwaltungsrechtsweg zu bejahen. Ein Privatmann kann sich zwar in vergleichbarer Weise wie der BStU äußern. Die Wirkungen der Äußerungen sind jedoch verschieden. Der BStU findet mehr Beachtung, was darauf zurückzuführen ist, daß sich die Stasi-Akten in seinem öffentlich-rechtlichen Gewahrsam befinden. Schließlich wird für die Beurteilung des Rechtsweges noch auf das sachnächste Gericht abgestellt.75 Dann würde hier folgendes gelten: Wenn der BStU als Hoheitsträger in einen Ehrenschutzprozeß verwickelt werden soll, so geht es im Kern um die typisch öffentlich-rechtliche Rechtsfrage nach Inhalt und Grenzen des Grundrechtsschutzes des einzelnen. Für die Beurteilung dieser Frage sind die Verwaltungsgerichte die sachnächsten und sachkundigsten Gerichte. Also liegt auch hier der Verwaltungsrechtsweg vor. Da alle vertretenen Ansichten zum gleichen Ergebnis kommen, kann eine Diskussion der einzelnen Theorien unterbleiben. Vielmehr kann man mit der h. M. folgende Abgrenzungsformel bilden: Ergibt der Gesamtzusammenhang, in dem die Äußerung sich bewegt (Anlaß, Forum, Zeitpunkt, etc.), daß sie auf dienstlich erlangtem Unterlagenwissen beruht oder solches wiedergibt, dann ist die Äußerung amtsbezogen. Steht dagegen der persönliche Charakter der Äußerung im Vordergrund, so ist sie privater Natur. Letzteres ist dann der Fall, wenn der erhobene Vorwurf unbeschadet einer möglichen Zurechnung zur Amtsführung so sehr Ausdruck seiner persönlichen Meinung oder Einstellung ist, daß wegen dieses persönlichen Gepräges der Ehrkränkung nur die persönliche Gegenerklärung des BStU als Privatmann der Wiederherstellung der Ehre dient. 76 Im Zweifelsfall ist eine Äußerung amtsbezogen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Äußerung eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil darstellt. Regelmäßig werden sich betroffene Personen nämlich gegen die Aussage wenden wollen, Stasi-Konfidenten gewesen zu sein. Diese Kernaussage beinhaltet aber nicht nur eine Tatsachenbehauptung, sondern zugleich auch ein herabsetzendes Werturteil, und zwar insoweit, als zum Ausdruck gebracht wird, die fragliche Person habe bewußt und gewollt mit der Stasi zusammengearbeitet, dem MfS wichtige Dienste geleistet usw. 77 74 Vgl. OLG Oldenburg, AfP 1984, 247. 75 Vgl. BGHZ 67, 81 (87) m. w. N. 76 Vgl. die ähnlichen Überlegungen bei: BGHZ 34, 99 (107); OVG Koblenz, NJW 1987,

1660(1661).

77 Vgl. VG Berlin, 1 A/449/92, S. 22; LG Halle, LKV 1994, 71; offengelassen, ob Tatsache und Werturteil für den Begriff „Stasi-Helfer": OLG Hamburg, DtZ 1992, 223.

1. Kap.: Die Rechte der Opfer

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Die für den BStU selbst geltenden Folgerungen sind auf die Mitarbeiter seiner Behörde entsprechend anzuwenden. Noch etwas komplizierter sieht die Situation bei den öffentlichen Stellen aus. Hier ist die Sonderregelung des § 31 StUG zu beachten. Grundsätzlich gelten die bereits genannten Folgerungen auch für öffentliche Stellen, es sei denn, sie sind Behörden. 78 Dann gelten einige verfahrensmäßige Besonderheiten. Auf Antrag der betroffenen Behörde entscheidet das OVG Berlin über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Unterlagenzugriffs durch unanfechtbaren Beschluß.79 Ein Vorverfahren (§ 68ff. VwGO) findet nicht statt. Fraglich ist, um welche Art von Rechtsschutz es sich hier handelt. Die Notwendigkeit eines Antrags könnte darauf hindeuten, daß es sich gar nicht um ein Klageverfahren, sondern um ein Antragsverfahren sui generis handelt, das die VwGO so nicht kennt. Dagegen spricht aber, daß der Gesetzgeber meinte, den Ausschluß des Vorverfahrens besonders anordnen zu müssen. Er hat sich demnach eine Verfahrensform vorgestellt, bei der ein Vorverfahren prinzipiell erforderlich war. Also kann es sich im Verfahren nach § 31 I StUG nur um ein solches der Anfechtungsoder Verpflichtungsklage handeln, da prinzipiell nur für diese ein Vorverfahren vorgesehen ist (vgl. § 68 I, II VwGO). Der Begriff „Antrag" meint also Klageantrag. Da der Gegenstand des Verfahrens die Ablehnung des Zugangs bzw. der Verwendung der Stasi-Unterlagen ist, könnte man entsprechend den obigen Folgerungen an eine Verpflichtungsklage denken. Dann müßte das OVG sich mit der Frage beschäftigen, ob die Behörde einen Anspruch auf das begehrte Handeln haben könnte. Das ist aber gerade nicht Inhalt der gerichtlichen Prüfung. Prüfungsinhalt ist die Rechtmäßigkeit der Ablehnung, genauer die Rechtmäßigkeit der Ablehnungsverfügung. Soweit aber die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes nachgeprüft wird, befindet man sich im Bereich der Anfechtungsklage. Dogmatisch ist die Gesetzeskonstruktion also als ein Verfahren der „unechten isolierten Anfechtungsklage" an zusehen. Während bei der echten isolierten Anfechtungsklage das Klagebegehren hinter dem eigentlichen Rechtsschutzziel (als minus) zurückbleibt, ist es im andern Fall so, daß das weitergehende Rechtsschutzziel qua Gesetz hinter dem Anfechtungsantrag abgeschnitten ist. In beiden Fällen liegen Anfechtungsanträge vor, obwohl Verpflichtungsbegehren sachgemäß wären. Die Regelung des 78

Das wird aber nur selten auseinanderfallen. Die Möglichkeit, daß ein Gericht im Rahmen eines Verfahrens vom Bundesbeauftragten eine „Abfuhr" erhält, ist mehr theoretischer Natur; vgl. deshalb auch BT-Drucks. 12/1540, S. 61 (zu § 24a StUG-E). Sollte dies doch einmal geschehen, so bleibt dem Gericht nur übrig gem. § 244 II StPO, die ablehnende Entscheidung im Wege der Dienstaufsicht nachprüfen zu lassen. Alternativ käme nur eine Wiederholung des Ersuchens durch die Staatsanwaltschaft in Betracht; vgl. Klinghardt, NJ 1992, 185 (189); G/K, §31 Rdnr. 3. 79 Im BT-InnenA wurde die Möglichkeit einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des VG Berlin erwogen, dann wurde jedoch, einer Anregung des Rechtsausschusses folgend, die jetzige Regelung gewählt. Die Tatsache, daß es sich um einen Konfliktfall zwischen Behörden handele und damit eine atypische Fallkonstellation vorliege, lasse eine Klärung in nur einer Gerichtsinstanz hinreichend erscheinen. Vgl. BT-InnenA-Prot. (17. Sitzung), S. 41. 1*

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

§ 3 1 1 StUG ist allerdings unbedenklich. Zum einen liegt kein Verstoß gegen Art. 19 IV GG vor, da sich eine Behörde als staatliche Stelle i. w. S. nicht auf dieses Grundrecht berufen kann. Zum andern ist der Prüfungsumfang für das Behördeninteresse ausreichend. Wenn nämlich geklärt ist, daß die Ablehnung rechtswidrig war, dann muß die Behörde - eine andere Möglichkeit besteht logisch nicht - einen Anspruch auf Zugang und Verwendung der Unterlagen haben. Im umgekehrten Falle dementsprechend nicht. Einstweiligen Rechtsschutz erhält die antragstellende Behörde nach § 123 I VwGO, da das Verfahren nach § 31 I StUG einen Auswuchs der Verpflichtungsklage darstellt. Alternativ besteht für Behörden die Möglichkeit, auf dem Dienstweg an die Bundesregierung heranzutreten, um im Wege der Rechtsaufsicht ( § 35 V 3 StUG) vorzugehen. Schließt sich die Bundesregierung der Ansicht der antragstellenden Behörde an, so kann sie im Aufsichtswege den Bundesbeauftragten anweisen, dem Antrag stattzugeben. Allerdings ist das ein sehr zeitaufwendiges Verfahren. 80

Sonderproblem : Untersuchungsausschuß Fraglich ist zunächst, ob auch Untersuchungsausschüsse der Regelung des § 31 StUG unterliegen. Dann müßte der Untersuchungsausschuß eine Behörde sein. Ein Untersuchungsausschuß ist keine feste Einrichtung des Parlaments, sondern wird nur aufgrund eines speziellen Einsetzungsbeschlusses des Parlaments errichtet. Er teilt mit dem Parlament das Prinzip der Diskontinuität, findet also mit Ablauf der Legislaturperiode sein Ende. Behörde i. S. d. § 1 IV VwVfG (Bund) ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Diese weite Definition umfaßt zunächst jede Person des öffentlichen Rechts und ihre Organe, d. h. jede Stelle, die - durch Organisationsrecht gebildet - vom Wechsel des Amtsinhabers unabhängig und nach der einschlägigen Zuständigkeitsregelung berufen ist, unter eigenem Namen nach außen eigenständige Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen.81 Ein Untersuchungsausschuß nimmt aber nach h. M. keine Aufgaben der Exekutive wahr, sondern er ist eine Einrichtung der Legislative zur Aufklärung von Sachfragen zum Zwecke politischer Bewertung. 82 Trotzdem können einzelne Maßnahmen eines Untersuchungsausschusses, wie ζ. B. ein Aktenvorlagebeschluß, sich für außenstehende Dritte als Akte einer Behörde darstellen. Weder die nur fakultative Einrichtung eines Untersuchungsausschusses noch die beschränkte Dauer desselben schließen die Behördeneigenschaft so Vgl. S/D, 31 Rdnr. 3. 81 Vgl. BVerwGE 9, 172 (178); Stelkens/Bonk/Leonhardt, § 1 Rdnr. 124ff. (127). 82 Vgl. BVerfGE 77, 1 (39ff.) „Neue Heimat"; Stern, AöR 109, 199 (217).

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eines solchen Ausschusses aus.83 Auch die Zuordnung des Untersuchungsausschusses als Hilfsorgan des Parlaments zur Legislative hindert die Qualifikation des Ausschusses als Behörde nicht. Allgemein anerkannt ist die Behördenqualität bspw. der Bundestagsverwaltung, obwohl sie Teil des Parlaments ist. 84 Ähnliches gilt auch für einen Untersuchungsausschuß, der zumindest im Hinblick auf die Anordnung einer Aktenvorlage im Untersuchungsverfahren als Behörde zu qualifizieren ist. 85 Streitigkeiten, an denen ein Untersuchungsausschuß beteiligt ist, können auftauchen, wenn es um die Frage geht, ob und in welchem Umfang Unterlagen an den Ausschuß gegeben werden können. Prinzipiell gilt die Prüfungspflicht des BStU aus § 19 III StUG auch für Untersuchungsausschüsse.86 Der BStU muß also feststellen, ob die Vorlage von bestimmten Unterlagen für den Untersuchungsauftrag des Ausschusses erforderlich ist oder nicht. Die Brisanz dieser Feststellung liegt darin, daß ein Untersuchungsausschuß nicht wie jede andere Behörde behandelt werden kann, da er das parlamentarische Kontrollrecht gegenüber der Regierung ausübt. Formal ist eine Abwägung zwischen dem Recht des Ausschusses und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen erforderlich. Diese Abwägung wird vom BStU durchgeführt. Damit wird zugleich die Reichweite des Rechts eines Legislativorgans durch die Exekutive bestimmt, u. U. läuft dieses Recht sogar leer, wenn ohne die Unterlagen der Auftrag des Ausschusses nicht erfüllt werden kann. Dieses Problem hat der Gesetzgeber übersehen, sonst hätte er in § 22 StUG eine besondere Regelung aufgenommen, die dem Interessenausgleich dienen sollte. 87 Die derzeit einzig praktikable Lösung des Problems liegt darin, den § 19 III StUG - anhand der Grundsätze des „Flick-Urteils" des BVerfG 88 - verfassungskonform auszulegen, wenn ein Untersuchungsausschuß Antragsteller ist. 89 Dauerhaft wird eine Gesetzesänderung unumgänglich sein.

83 Vgl. OVG Münster, DVB1. 1987, 100 (102 m. w. N.); OLG Köln, NJW 1985, 336; allgemein: BVerwG, DVB1. 1985, 57 (59); vgl. auch MDHS-Maunz, Art. 44 Rdnr. 27. 84 Vgl. OVG Münster, a. a. O; Kopp, VwVfG, § 1 Rdnr. 23, 41 m. w. N.; differenzierend: Stern, AöR 109, 199 (224f; 241 ff.). 85 Str., wie hier, aber ohne Begründung: G/K, § 22 Rdnr. 6, vgl. auch die Überlegungen des BVerwG, DÖV 1981, 300; Stern, a. a. Ο (246f.). Α. Α., die Behördeneigenschaft eines Untersuchungsausschusses ablehnend: Stelkens/Bonk/Leonhardt, § 1 Rdnr. 132; OVG Lüneburg, DVB1. 1986, 476; dass., DÖV 1986, 210 (211). 86 Vgl. S/D, § 19 Rdnr. 16; Aulehner, DÖV 1994, 853 (854) (krit.). 87 Vgl. Aulehner, DÖV 1994, 853 (854). 88 BVerfGE 67, lOOff. 89 Vgl. S/D, § 22 Rdnr. 9, unter Berufung auf BVerfGE 67, 100 (139 bzw. 144), wo aber (Rdnr. 10) auch vermutet wird, daß die Verschiedenheit der Sachverhalte (Steuerakten - Stasi-Akten) häufiger zur Nicht-Herausgabe von Unterlagen führen werde.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Sonderproblem: Staatsanwaltschaft Auch die Staatsanwaltschaften und ihre Hilfsorgane sind antragsberechtigt nach § 3 1 1 StUG. Verweigert der Bundesbeauftragte beispielsweise die Übermittlung personenbezogener Opferdaten, weil er daran zweifelt, ob diese für das Ermittlungsverfahren tatsächlich benötigt werden, so ist damit eine praxisnahe Fallgestaltung bereits getroffen. Auch insoweit enthält § 31 StUG für Streitigkeiten zwischen dem Bundesbeauftragten und der Justiz eine abschließende Regelung. Das ergibt sich aus der Zusammenschau des § 31 StUG mit § 4 I 1 StUG. Wenn die Verwendung von Stasi-Unterlagen aufgrund anderer Gesetze als des StUG ausgeschlossen ist, dann sind ζ. B. Durchsuchungen oder gar Beschlagnahmen von Stasi-Unterlagen beim BStU auf der Basis der StPO unzulässig.90

2. Kapitel

Die Rechte der Täter I . Die gesetzliche Intention 1. Der öffentliche Pranger „Besonders verletzend war auch die ... Behauptung, durch die Regelungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sollten Täter geschützt werden. Das ist absurd." 91 „Wie die friedliche Revolution einen Preis kostete, nämlich den Preis, daß viele Untäter und auch Verbrecher des alten Systems erst einmal untertauchen konnten, ... so kostet natürlich auch der Rechtsstaat seinen Preis; denn wir räumen mit dem Rechtsstaat den Tätern von gestern sämtliche Rechte des Rechtsstaates bei der Verfolgung ihrer Taten ein." 92 „Die Grundentscheidung i s t . . . die Öffnung der Akten, das Recht der Opfer, ihre Spitzel ... offen zu erkennen ... Wir müssen auf der anderen Seite auch daran denken, wie viele Menschen wir in einen Rechtfertigungs- und Erklärungszwang versetzen und wie viele Pranger wir errichten." 93 Diese Äußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren lassen erkennen, daß das StUG gewiß nicht die Absicht verfolgt, die Täter gegenüber den Opfern in irgendeiner Form zu privilegieren. Im Gegenteil, das Gesetz bringt zum Ausdruck, daß 90

Vgl. Stoltenberg, § 31 Rdnr. 3 unter Hinweis auf den Beschluß des Kammergerichts Berlin vom 21. 05. 1992 - Az: ER 15/92-1 OJs 60/91. Ebenso: S/D, § 31 Rdnr. 4 unter Hinweis auf: KG, Beschluß vom 01. 07. 1992 - 1 Ws 2/92 - . Die Entscheidung des KG ist veröffentlicht in der DtZ 1992, 331f. Vgl. auch Klinghardt, NJ 1992, 185 (188). 91 Gerster, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4691 (4693). 92 Gerster, a. a. O., S. 4691. 93 Hirsch, BT-Prot. (57. Sitzung), S. 4696 (4697).

2. Kap.: Die Rechte der Tter

231

es gerade nicht der Amtsvormund der Opfer sein will (vgl. § 13 V 1, 3 StUG). Ob ein Betroffener oder Dritter die Namen von Spitzeln und Denunzianten erfährt, bleibt nach dem StUG ihm überlassen. Es gilt der Grundsatz: Aufarbeitung selbst durch harte zwischenmenschliche Konfrontation - geht vor Geheimhaltung.

2. Schutz durch den Rechtsstaat Wenn das StUG die Täter also nicht schützt, bleibt die Frage offen, welche Mittel den betroffenen Mitarbeitern zur Verfügung stehen, um zu verhindern, daß Personen, die Akteneinsicht nehmen, erfahren, wer (Klarnamen!) in welcher Weise konspirativ tätig geworden ist. Mit anderen Worten, es geht um die Frage, wie ein Mitarbeiter des MfS seine Rechtsposition gegenüber dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wahren kann.

a) Schutz durch das BDSG Sieht man richtigerweise die in § 13 V 1 StUG vorgesehene Namensbekanntmachung als Übermittlung personenbezogener Daten an, liegt der Gedanke an den Datenschutz nach dem BDSG nahe. Der Rückgriff auf die §§ 19ff. BDSG ist aber durch § 43 S. 2 StUG ausgeschlossen. Allein möglich wäre eine Datenschutzkontrolle nach den §§ 24f. BDSG. Damit ist aber für den betroffenen Mitarbeiter nichts gewonnen. Zum einen findet die Kontrolle erst statt, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Verletzung des Datenschutzes vorliegen, zum andern kann eine erfolgte Übermittlung damit nicht rückgängig gemacht werden. Der Betroffene erfährt entweder, daß in der fraglichen Angelegenheit seine Rechte gewahrt worden sind oder daß der Datenschutzbeauftragte ein Beanstandungsverfahren eingeleitet hat. Insoweit ist der bundesgesetzlich geregelte Datenschutz durch das speziellere Bundesgesetz StUG eingeschränkt. Auf der einfachgesetzlichen Ebene ist demnach kein Schutz zu erwarten.

b) Schutz durch das Grundrecht auf informationelle

Selbstbestimmung

Jedoch ist das StUG nicht in der Lage, das hinter dem Datenschutz stehende, mit Verfassungsrang ausgestattete, informationelle Selbstbestimmungsrecht94 ebenso leicht auszublenden wie das BDSG. Im Gegenteil, dieses Recht stellt die Meßlatte dar, an der die Übermittlungsregelungen in § 13 StUG zu messen sind. Bevor aber irgendetwas an diesem Recht gemessen wird, muß zunächst geklärt sein, ob der betroffene Mitarbeiter im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für das 94 Es handelt sich um eine Ausprägung des allg. Persönlichkeitsrechts (Art. 1 I i. V. m. Art. 21 GG); so das BVerfG in ständiger Rspr., vgl. zum Beispiel BVerfGE 78, 77 (84).

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

MfS überhaupt Inhaber dieses Grundrechts ist. Hier wird man nun differenzieren müssen: Hauptamtliche Mitarbeiter des MfS Wie prinzipiell jedes Grundrecht ist auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat.95 Der Staat selbst kann sich - das ist unstreitig - auf das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung nicht berufen. Es fragt sich nun, ob ein „Amtsträger" als handelndes Organ des Staates sich in dieser Eigenschaft auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht berufen darf, oder ob er nicht insoweit als Teil des Staates anzusehen ist und deshalb wie dieser nicht Grundrechtsinhaber ist. Bedenklich an dieser Fragestellung scheint zunächst der Umstand zu sein, den hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS einen Amtsträgerstatus zu verleihen, da es in der ehemaligen DDR Beamte im eigentlichen Sinne nicht gab. Jedoch liegt der zutreffende Anknüpfungspunkt für die Bejahung dieser Eigenschaft nicht im statusrechtlichen Bereich, sondern ist im funktionellen Aspekt zu sehen. Amtsträger in diesem Sinne war demnach jeder öffentlich Bedienstete, der für den Staat, gleich in welcher Eigenschaft und Form, tätig geworden ist. Dann ist jedoch noch unklar, ob es zulässig ist, diesen auf dem Boden der Alt-Bundesrepublik entwickelten Amtsträgerbegriff im Nachhinein auf die öffentlich Bediensteten der Ex-DDR zu übertragen. Die gegenwärtige Rechtslage ist dadurch bestimmt, daß Art. 8 des EV den Grundsatz festlegt, daß das Recht der DDR durch das der Bundesrepublik abgelöst wird. Diese Regelung ist geradezu beitrittstypisch; sie kennzeichnet die Selbstaufgabe der DDR mit Ablauf des 02. 10. 1990. Daraus könnte man schließen, mit dem Beitritt der DDR sei auch zunächst der öffentliche Dienst der DDR komplett untergegangen. Mangels Kontinuität über den Beitrittstermin hinaus, handele es sich um ein abgeschlosssenes Kapitel, auf das man aus hiesiger Sicht keinen Zugriff mehr habe. Als Resultat wäre dann festzuhalten, daß für eine Anwendung des hiesigen Amtsträgerbegriffes auf den öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR kein Raum wäre. Diese Überlegungen sind aber nicht stichhaltig. Zunächst einmal ist mit der Beitrittstypik in der Sache noch nichts präjudiziell Vielmehr standen die Deutschen vor der Wahl, entweder ihre staatliche Einheit nach Art. 23 GG (a. F.) oder nach Art. 146 GG (a. F.) zu verwirklichen. Die Entscheidung für den Beitritt nach Art. 23 GG (a. F.) fiel zugunsten des technisch einfacheren Verfahrens. Die gebotenen Modalitäten des Beitritts wollten beide Parteien dann im EV aushandeln. So ist es auch geschehen. Der EV selbst läßt erkennen, daß Bund und Länder grundsätzlich eine Kontinuität des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR als bundesdeutschen öffentlichen Dienst anstrebten.96 Daher gab es die gerade genannte Zäsur nicht. 97 Durch die 95 Vgl. zur Natur der Grundrechte schon: BVerfGE 1, 97 (104); E 7, 198 (204); E 21, 362 (369); E 50, 290 (337); Seifert/Hömig-Seifert, Vor Art. 1 Rdnr. 3; Art. 1 Rdnr. 13. 96 Vgl. Anlage I, Kap. XIX, Sachgebiet A, Abschnitt III Nr. lf. EV; tatsächlich sind durch den Wegfall der DDR als Arbeitgeber die Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst nicht

2. Kap.: Die Rechte der Tter

233

Rechtsnachfolge der Bundesrepublik auch auf dem Gebiet des Rechts des öffentlichen Dienstes ist die Kontinuität gewahrt worden, die es erlaubt, den öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR mit den in der Bundesrepublik gebräuchlichen Begriffen zu umschreiben. Daß die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS anläßlich der Auflösung, also bereits vor dem Beitritt, aus dem Dienst entlassen wurden, hindert dieses Ergebnis nicht. Als Rechtsnachfolgerin der DDR wird der Bundesrepublik auch das Althandeln wie „öffentlicher Dienst" zugerechnet. Nachdem diese Vorfragen geklärt sind, kann man sich wieder der Ausgangsfrage zuwenden. Sicherlich kann man nicht pauschal behaupten, ein „Amtsträger" sei stets wie das Organ zu behandeln, für das er handelt. Auch der öffentlich Bedienstete besitzt Grundrechte im Verhältnis zu seiner Anstellungskörperschaft. Allerdings besitzt er diese Rechte nur insoweit, als er dem Staat als Individuum oder genauer als Rechtssubjekt entgegentritt. Dort, wo der Amtsträger aber für den Staat handelt, sein Tun daher dem Staat zugerechnet wird, kann er schon rein logisch nicht Grundrechtsträger sein. Sonst würde man zu dem unsinnigen Ergebnis gelangen, daß der Amtsträger bei der Ausübung seines Amtes zugleich seine Persönlichkeit frei entfaltet (vgl. Art. 2 I GG) oder seinen persönlichkeitsrechtlichen Freiraum realisiert. Dies ist ein Postulat, das mit der prinzipiell dienenden Funktion des öffentlichen Dienstes nicht vereinbar ist. Wenn aber der Inhalt des amtlichen Tätigwerdens nicht Ausdruck der individuellen Selbstbestimmung der handelnden Person ist, dann kann auch die Übermittlung von Informationen über dieses Handeln - und seien sie auch personenbezogener Natur - nicht der Dispositionsbefugnis des Amtsträgers unterliegen. Mithin kann das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf Amtsträger in Ausübung ihrer Amtstätigkeit keine Anwendung finden. Das könnte für die hauptamtlichen Mitarbeiter des ehemaligen MfS folgendes bedeuten: Wenn der Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten Informationen über die Tätigkeit und Funktion hauptamtlicher Mitarbeiter aus den Unterlagen an Betroffene oder Dritte im Rahmen des StUG übermittelt, bleibt nicht nur das informationelle Selbstbestimmungsrecht unberührt, sondern es werden gar keine Grundrechte der ehemaligen Bediensteten tangiert. Bei dieser Folgerung kann man jedoch nicht stehenbleiben. Sie erfaßt zeitlich nur den Zeitraum der Existenz des MfS. Die Behörde ist aber als Einrichtung des Staates DDR nicht fortgeführt worden. Die fraglichen Personen sind demnach nicht mehr MfS-Amtsträger. Soweit sie nicht irgendwo in den öffentlichen Dienst Gesamdeutschlands übernommen oder wieder eingestellt worden sind (dazu gleich untergegangen, vgl. BVerfG, DVB1. 1991, 580 (581). Davon geht auch das StUG aus, wenn es sich in § 11 V StUG mit hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS beschäftigt, die entweder in den öffentlichen Dienst eingestellt werden oder dort weiterbeschäftigt werden sollen. Ebenso auch: Majer, KJ 1992, 147. 97 Diese Zäsur gab es allerdings nach 1945; vgl. BVerfGE 3, 58, wo es u. a. heißt: „Alle Beamtenverhältnisse sind am 08. 05. 1945 erloschen."

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

d)), stehen sie dem Staat heute wie jeder andere Bürger als Grundrechtsträger gegenüber. M. a. W.: Eine amtsträgerbezogene Betrachtungsweise ist zwar möglich, sie führt jedoch nicht weiter. Wenn gegenwärtig personenbezogene Informationen über ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter übermittelt werden sollen, so unterliegt dieses Tun den gleichen Beschränkungen wie ζ. B. die Übermittlung von Informationen über IM. Auch diese sind heute normale Bürger.

Inoffizielle Mitarbeiter Es kommt somit auf die Situation bei den I M an. Die IM, die als Informanten in keinem Anstellungsverhältnis zum Staat gestanden haben, haben von Zeit zu Zeit dem Staat Informationen zur Verfügung gestellt. Soweit sie für den Staat tätig geworden sind, haben sie nach den Maßstäben des GG ihr Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit wahrgenommen. Dies muß auch dann gelten, wenn man sie zu ihrer Tätigkeit gezwungen hatte. Sonst käme man zu dem merkwürdigen Resultat, daß die „freiwilligen" IM grundrechtlichen Schutz beanspruchen könnten und die genötigten nicht. Dabei sind die letzteren I M doch vergleichsweise schutzwürdiger, d. h. ihre Interessen sind besonders gewichtig. 98 Will nun der BStU Informationen über diese Tätigkeit an andere Personen übermitteln, kann der betroffene Mitarbeiter den Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts für sich in Anspruch nehmen, da ihm jedenfalls der Amtsträgerstatus fehlt. Das folgt schon aus dem Umstand, daß der öffentliche Dienst seinem Begriff nach „öffentlich" ist, während die Tätigkeit der I M gerade „inoffiziell", das heißt nicht-öffentlich war. Der Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts ist also betroffen. Die Übermittlung personenbezogener Informationen durch den BStU an andere Personen stellt auch einen Eingriff in dieses Recht dar. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß ehemalige hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter den Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung für sich in Anspruch nehmen können. Bei der Intensität des grundrechtlichen Schutzes wird aber die „Nähe zum Apparat" entscheidend sein.

98 Dies bedeutet umgekehrt jedoch auch, daß es für die prinzipielle Schutzwürdigkeit der fraglichen Personen ohne Belang ist, ob die Informationen über den Mitarbeiter im Hinblick auf eine moralisch zu mißbilligende oder gar strafbare Handlung des Mitarbeiters zurückgehen. Das Persönlichkeitsrecht schützt auch derartige Informationen vor einem unbefugten Zugriff; vgl. Bork, ZIP 1992, 90 (94).

2. Kap.: Die Rechte der Tter

235

Die Schrankenprüfung Dann fragt es sich, ob nicht die Ermächtigungsgrundlage zur Datenübermittlung in § 13 StUG den Anforderungen genügt, die an eine Beschränkbarkeit des Grundrechts zu stellen sind. Beispielhaft sei hier § 13 V 1 StUG untersucht. Wie jedes andere Grundrecht ist auch die informationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet. Der einzelne ist vielmehr in eine soziale Gemeinschaft eingebunden. Grundsätzlich muß er daher auch Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Das trifft in besonderem Maße bei Daten des einzelnen zu, die nicht nur dem Bereich seiner privaten Lebenssphäre zuzuordnen sind, sondern auch sein soziales Verhalten betreffen, und die unter diesem Aspekt seiner ausschließlichen Verfügungsmöglichkeit entzogen sind." Diesen Ausgangspunkt hat das BVerfG weiter konkretisiert und die Voraussetzungen für Einschränkungen des Grundrechts aufgezeigt: - Es bedarf einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Betroffenen erkennbar ergeben und die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit und überdies dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, 100 - ferner hat der Gesetzgeber organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr der Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken. 101 Dabei gibt es unter den Bedingungen der modernen wie auch der konventionellen102 Datenverarbeitung kein belangloses Datum mehr. 103 Dies erfordert im Hinblick auf personenbezogene Daten, die zum Beispiel in individualisierter Form gegen den Willen des Betroffenen verarbeitet werden, daß zum einen der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und daß zum andern die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. 104 - Die Verwendung der Daten ist auf den gesetzlichen Zweck zu begrenzen, und es ist ein amtshilfefester Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote erforderlich. Im übrigen besteht die Notwendigkeit, weitere verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen wie Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten einzurichten. 105 99 Vgl. BVerwG, NJW 1990, 2765 (2766). 100 Vgl. BVerfGE 65, 1 (44) - Volkszählungsurteil - . 101 Vgl. BVerfGE, a. a. O. 102 BVerfG, NJW 1988, 203Iff. hat die Reichweite der Grundsätze des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auch auf die konventionellen Mittel der Datenverarbeitung (Akten, Karteien usw.) erstreckt. 103 Vgl. BVerfGE 65, 1 (45).

104 Vgl. BVerfGE 65, 1 (44). 105 Vgl. BVerfGE, a. a. O. (46).

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Was den zuletzt genannten Aspekt angeht, so ist festzustellen, daß das StUG derartige Regelungen enthält. Von diesen war bereits die Rede bzw. wird noch zu reden sein. 106 Hier sollen die beiden anderen Punkte unter dem Stichwort „Verhältnismäßigkeit der Informationsübermittlung" betrachtet werden. Hierzu bedarf es einer Interessenabwägung zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem öffentlichen Interesse an der Übermittlung der Informationen. 107 Das StUG hat das Ergebnis dieser Abwägung mit in seinen Wortlaut aufgenommen. „Interessen von Mitarbeitern ... an der Geheimhaltung ihrer Namen stehen der Bekanntgabe ... nicht entgegen." (§ 13 V 3 StUG). Offenbar war dem Gesetzgeber dieses Postulat so wichtig, daß er seine Erkenntnis nicht der Praxis überlassen wollte. 108 Die Interessen der Betroffenen/Dritten überwiegen also. Zu prüfen bleibt daher nur noch, ob dieses Ergebnis auf dem richtigen Weg erzielt wurde. Man wird zunächst berücksichtigen müssen, daß die Bedeutung der Klarnamenregelung nur relativ gering ist. Die getroffene Grundentscheidung des StUG, Informationen über Mitarbeiter und gleichgestellte Personen nicht zu anonymisieren, folgt aus §§ 12 IV, V; 13 IV; 6 V StUG. Sie bildet die Basis für das Verständnis des § 13 V 1 StUG. Die Regelung ist begrenzt auf die Mitarbeiter, die selbst über die Betroffenen Informationen gesammelt oder verwertet haben. Die generelle Bekanntgabe aller an einem Vorgang überhaupt beteiligten Mitarbeiter kann also nicht verlangt werden. Ferner muß die Mitarbeiteridentität aus den Unterlagen eindeutig entnehmbar sein, d. h. selbst der geringste Zweifel an der Identität des Mitarbeiters muß ausgeschlossen sein. Damit sind die zwei Abwägungskriterien gefunden, deren sich der Gesetzgeber bedient hat. Zum einen liegt eine Begrenzung in quantitativer Hinsicht, zum anderen in qualitativer Hinsicht vor. 1 0 9 Legt man also die Intention des StUG, Schicksale aufzuklären und Verantwortlichkeiten aufzuzeigen, zugrunde, so ergibt sich in § 13 V 1 StUG eine Verschärfung zugunsten der Täter in der Weise, daß nur diejenigen mit Klarnamen, Adressen o. ä. bezeichnet werden, bei denen völlig sicher ist, daß sie das Leben des Betroffenen/Dritten unmittelbar „verpfuscht" haben. Nur unter diesen Prämissen überwiegen die Interessen der Opfer an der Namensbekanntgabe bzw. der Nennung weiterer Identifizierungsmerkmale. Sonst nicht; die Opfer erhalten sonst ζ. B. nur Duplikate mit Decknamen. So gewendet, stellt sich die Frage nach dem 106 Vgl. 5. Teil, 1. Kapitel, IV., 1., 4.; 2. Kapitel, III.; vgl. auch § 29 StUG. 107 Vgl. BVerfGE 27, 344 (352) wegen Übersendung von Scheidungsakten; BVerwGE 26, 169 (172) wegen erkennungsdienstlicher Maßnahmen. i° 8 Stoltenberg, § 13 Rdnr. 9 hat darauf hingewiesen, daß die Regelung nötig war, da sonst Schwierigkeiten im Verhältnis zu § 3 III StUG auftauchen könnten. Ähnlich: S/D, § 13, Rdnr. 15. 109 Hierbei soll die Jugendsündenregelung (§ 13 VI StUG) einmal außer Betracht gelassen werden. Auch sie stellt eine qualitative Einschränkung des § 13 V 1 StUG dar, die bereits im Gesetzgeimngsverfahren umstritten war; vgl. S/D, § 13 Rdnr. 16; Stellungnahme des Bundesfachausschusses Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, S. 5.

2. Kap.: Die Rechte der Tater

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Schutz der Täter schon weniger dringend. Durch die erheblichen Schranken, die das Gesetz aufgebaut hat, wird die Bekanntgabe der begehrten Informationen nicht der Regelfall sein. Wenn jedoch einerseits die Opfer prinzipiell schutzwürdiger sind als die Täter, andererseits aber die Opfer nur unter besonderen Voraussetzungen die Namen ihrer Peiniger erfahren, dann ist nicht einzusehen, wieso in den Fällen, die der Tatbestand umfaßt, die Täterinteressen noch überwiegen sollen. Vielmehr handelt es sich doch um Fälle, in denen der durch die Sammlung von Informationen ausgelöste und bis zur Kenntnis der Namen von Mitarbeitern und Denunzianten fortbestehende Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen durch die Preisgabe der Namen usw. beendet werden soll. 1 1 0 Den Interessen der Mitarbeiter ist durch § 13 V StUG hinreichend Rechnung getragen worden. Ein Überwiegen der Täterinteressen in diesem Bereich würde den Gesetzeszweck, insbesondere § 1 I Nr. 1 StUG, ins Gegenteil verkehren. Das Abwägungsresultat des Gesetzgebers ist folglich richtig.

c) Sonstige Vorgaben Obwohl im Hinblick auf die Übermittlung von Informationen über hauptamtliche Mitarbeiter diese einer zulässigen Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ausgesetzt sind, ist der Staat trotzdem nicht frei in seiner Entscheidung, welche Informationen er über diese Mitarbeiter an andere Personen übermittelt. Als Schranke für die Informationsübermittlung bietet sich zum Beispiel Art. 20 III GG an; präziser, der dem Rechtsstaatsprinzip innewohnende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es sind durchaus nichtgrundrechtliche Belange denkbar, die eine Übermittlung der fraglichen Informationen hindern. Ob diese aber durchgreifen, hängt davon ab, wie die Interessenabwägung zwischen dem Informationsanspruch der Betroffenen bzw. den Geheimhaltungsinteressen im Rahmen der Verhält nismäßigkeit i. e. S. ausfällt. Der Informationsanspruch der Betroffenen/Dritten hat, dies bedarf keines Beweises, ein ganz erhebliches Abwägungsgewicht. Für eine Geheimhaltung könnte auf der Gegenseite die Funktionsfähigkeit des betroffenen Behördenapparates sprechen sowie eine mögliche, wenn auch sehr theoretische, Fürsorgepflicht der Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgedienstherr gegenüber ehemaligen Amtsträgern der DDR. Die Funktionsfähigkeit staatlicher Behörden ist ein Aspekt, der auch auf gesetzlichen Entscheidungen beruht, nämlich auf dem Willen, eine Behörde zu errichten, die ihre gesetzlich fixierten Aufgaben so effektiv wie möglich zu erfüllen hat. Wird auf diese Art und Weise der Wille des Gesetzgebers umgesetzt, so ist dieser 110 Vgl. die Überlegungen des Rechtsausschusses des Bundesrates, 637. Sitzung, BRDrucks. 365/91, S. 9.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

zum Ausdruck gekommene Wille zu achten; wird er durch eine Preisgabe von Informationen über Identität und Tätigkeit der Mitarbeiter der Behörde in Frage gestellt, so muß die Information unterbleiben. Diese im Grunde allgemein anerkannte Überlegung ist für das MfS allerdings bedeutungslos geworden. Die Behörde gibt es nicht mehr, sie ist aufgelöst. Die einzige Instanz, der ein reibungsloses Funktionieren der Staatssicherheit am Herzen lag, die SED bzw. ihr System, gibt es auch nicht mehr, und Parallelen zu altbundesdeutschen Nachrichtendiensten verbieten sich von selbst. Da es also auf den Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit nicht mehr ankommt, kann er auch einer Übermittlung personenbezogener Informationen nicht im Wege stehen. Es fragt sich aber, ob der Fürsorgegesichtspunkt für den ehem. Bediensteten nicht zur Geheimhaltung seiner Identität bzw. Tätigkeit zwingt. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die informationelle Selbstbestimmung, sondern um andere Schutzgüter, wie zum Beispiel Leben, Gesundheit, Eigentum usw. des Bediensteten, je nachdem, wie weit sich der hauptamtliche Mitarbeiter bei seiner Tätigkeit exponieren mußte. Gerade unter dem Gesichtspunkt der bereits angesprochenen Kontinuität des öffentlichen Dienstes und des Prinzips der Rechtsnachfolge könnte man nun auf den Gedanken kommen, zu bejahen, daß die Bundesrepublik gewisse Schutzpflichten auch gegenüber den Mitarbeitern des ehemaligen MfS wahrzunehmen hat. 111 Man braucht sich nur zu überlegen, daß der Inhalt der Unterlagen zu einem bestimmten Zweck erstellt und nun zu einem anderen gegenteiligen Zweck verwendet wird; wer will (wie?) heute noch nachprüfen, wie hoch der Wahrheitsgehalt der Unterlagen war, als sie angelegt wurden, und welche Richtigkeitsgewähr und Vollständigkeitsgarantie heute - nach einer teilweisen Vernichtungsaktion - von der Behörde übernommen werden kann, der man gestattet, Informationen aus diesen Unterlagen preiszugeben. Allerdings werden diese Überlegungen durch den Umstand überlagert, daß es gilt, die Vergangenheit aufzuarbeiten; wollte man nicht den Mut haben, „Roß und Reiter" zu nennen, würde man keine Aufarbeitung erhalten, sondern lediglich eine unverbindliche Geschichtsbetrachtung. Es ist eher zumutbar, Fehler bei der Aufarbeitung später zu korrigieren, das heißt einen Unschuldigen in den Verdacht der Konspiration zu bringen und dann zu entlasten, als mittels einer diffusen Fürsorgepflicht gegenüber entlassenen Mitarbeitern, deren Grenzen kaum abzustecken sind, die Bürger in den neuen Ländern mit ihrer Vergangenheit allein zu lassen.112 Im ganzen gesehen ist daher das m Darauf stellen zum Beispiel Lansnicker-Schwirtzek, MDR 1992, 529 (532) ab. 112 Vgl. auch den noch extremeren Standpunkt von Lampe, NJW 1993, 1407, der folgert: „Das Staatsvolk der DDR hat... dem gesamten MfS-Apparat... ein Ende bereitet. Die SED ... löste sich ... ebenfalls auf. Das Volk der DDR hat mithin den MfS-Offizieren den Schutz des SED-Staates entzogen ... Die Bundesrepublik hat keine Fürsorgepflichten ... gegen die MfS-Offiziere erworben. Dieser Pflicht hatte sich das Volk der DDR bereits entledigt, als die fünf neuen Länder der Bundesrepublik beitraten." Für den Bereich der Freistellung von Strafe hat auch der BGH eine Fürsorgepflicht der Bundesrepublik abgelehnt und offengelassen, ob einer solchen Pflicht überhaupt verfassungsrechtliches Gewicht zukommt. Vgl. BGH, NJW 1991,929 (933).

2. Kap.: Die Rechte der Tter

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vom Gesetzgeber in das StUG implementierte Abwägungsresultat nicht zu beanstanden.

d) Sonderproblem: Schutz durch den neuen Dienstherrn Deutlichere Konturen bekommt der genannte Fürsorgeaspekt jedoch im Hinblick auf hauptamtliche Mitarbeiter, die im öffentlichen Dienst nach dem Beitritt weiterbeschäftigt oder neu eingestellt sind. Diese Personen sind praktisch davor geschützt, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, das heißt zum Beispiel öffentlich als Täter bekanntgemacht zu werden. Wenn sich auf den ersten Blick auch viel Widerspruch gegen dieses bewußt vorangestellte Resultat regen mag, so läßt es sich doch aus dem Gesetz ableiten. Ausgangspunkt der Überlegungen ist § 11 V 1 StUG. Danach sind die Personalakten von hauptamtlichen Mitarbeitern, die sich gegenwärtig im öffentlichen Dienst befinden, an die jeweilige aktenführende Dienststelle herauszugeben. Diese an sich selbstverständliche Regelung bekommt einen anderen Beigeschmack, wenn man sich überlegt, was hier mit dem Begriff „öffentlicher Dienst" gemeint ist. Das MfS war ein Nachrichtendienst. Seine hauptamtlichen Mitarbeiter waren Spezialisten auf ihrem Gebiet. Einige dieser Spezialisten sind so „hochkarätig", daß auch das wiedervereinigte Deutschland auf ihre Dienste nicht verzichten kann. Es geht also nicht darum, bestimmte Mitarbeiter des MfS jetzt zum Beispiel in der Finanz-, Kommunal- oder Sozialverwaltung zu beschäftigen. Dort wären diese Spezialisten fehl am Platze. Der Begriff des öffentlichen Dienstes meint hier primär die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, denn nur dort können die Ex-MfS'ler ihre Kenntnisse richtig zur Geltung bringen; nur dort sind sie für den Staat von Wert. 113 Damit stehen die Originalakten über diese Personen praktisch nicht mehr für die Zwecke des StUG zur Verfügung. Der BStU kann zwar Duplikate der herausgegebenen Akten zu seinen Unterlagen nehmen (§ 11 V 2 StUG), der Wert dieser Duplikatregelung hängt aber davon ab, inwieweit diese Duplikate von Wissenschaft, Medien etc. verwendet werden dürfen. Hierfür gilt: Die Unterlagen über Mitarbeiter hiesiger Nachrichtendienste sind vom BStU gesondert zu verwahren („Giftschrank"; § 37 I Nr. 3 lit. c StUG). Die Regelung umfaßt dem Wortsinn nach auch die Duplikate nach § 11 V 2 StUG. Die Verwendung dieser Unterlagen ist nur mit Einwilligung des BMI zulässig (§ 32 II StUG). Man kann sich leicht ausrechnen, daß bei der 113 Α. A. ist offenbar der BMI. „Das Problem der Beschäftigung ehemals hauptamtlicher Mitarbeiter stelle sich nur in dem Bereich, wo im weitesten Sinne Sicherheitsaufgaben wahrzunehmen seien, wie BMI, BMF, BMVg. Er (Anm. des Verf.: der BMI) halte es für ausgeschlossen, daß dort ehemalige offizielle Mitarbeiter des MfS beschäftigt würden. Eine andere Frage sei, ob dort IM arbeiteten."; Stellungnahme des BMI zum einzigen TOP der 10. Sitzung des BT-InnnenA-UA; Prot. (10. Sitzung), S. 6. Im übrigen hat sich die Bundesregierung stets bemüht, den Eindruck, die Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland übernähmen oder hätten ehemalige Stasi-Mitarbeiter übernommen, zurückzuweisen; vgl. ζ. B. die Vorbemerkung zur Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage in BT-Drucks. 12/2436.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

gegebenen Interessenlage der Sicherheitsbehörden die Einwilligung des BMI im Einzelfall nicht erhältlich ist. Mit anderen Worten sind auch die Duplikate nach § 11 V 2 StUG praktisch von jeder Verwendung ausgeschlossen. Genaugenommen handelt es sich um ein Kompensationsgeschäft. Der Ex-Mitarbeiter bringt seine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten bei einem hiesigen Nachrichtendienst ein und erhält dafür die nur dem öffentlichen Dienst innewohnende Fürsorge des Staates. Gemeint sind der Schutz vor Entdeckung, eine loyale Behandlung, Förderung usw. 114 § 11 V StUG ist also Ausdruck des Gedankens, die Kontinuität des öffentlichen Dienstes auch auf die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS zu übertragen, wobei das Gesetz die Fürsorgepflicht des Staates für diese Personen flankiert. Die Bedenken gegen eine solche Regelung liegen auf der Hand. Mag man die bereits dargestellte Kontinuität des öffentlichen Dienstes noch prinzipiell bejahen können, so hätte in diesem empfindlichen Bereich eine Kontinuität nicht stattfinden dürfen. Die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter waren die am besten geschulten Kräfte eines Systems, dessen Hauptstütze eine ideologisch ausgerichtete Kaderverwaltung war. Anders als im hiesigen System, wo Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen maßgeblich für die Rekrutierung öffentlich Bediensteter sind, kam es in der ehem. DDR vorrangig auf das Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus an. 115 Erst danach rückte die fachliche Qualifikation ins Blickfeld. Mögen die Kenntnisse der hauptamtlichen Mitarbeiter für eine Verwendung im hiesigen öffentlichen Dienst noch so hervorragend sein, so ist nicht einzusehen, wie diese Personen ein glaubhaftes Bekenntnis zur Allgemeinwohlverpflichtung, Unparteilichkeit, Verfassungstreue und polit. Zurückhaltung ablegen wollen, so wie es das GG zum Beispiel schlüssig in Art. 33 V fordert. 116 Die Denkweisen der Systeme waren insoweit zu verschieden. Man kann darüber streiten, ob es überhaupt sinnvoll war, für den Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern vorwiegend auf „Altpersonal" zurückzugreifen, statt sich neuer, unbelasteter Leute zu bedienen. Die MfS-Mitarbeiter waren jedenfalls ein besonders staatsverbundener Typus der öffentlich Bediensteten volksdemokratischer Prägung und damit besonders belastet.117 Auf diese darf prinzipiell nicht zurückgegriffen werden. Wer nun einwendet, dem Staat 114 Nollau hat darauf hingewiesen, daß es beim Aufbau der bundesdeutschen Nachrichtendienste Anfang der 50'er Jahre ein analoges Problem mit der Verwendung ehemaliger SSund Gestapoangehöriger gegeben habe; Nollau (Das Amt), S. 212 bzw. 214. Bereits damals wurde von der überwiegenden Zahl der Mitarbeiter Nollaus die Beschäftigung solcher Personen als „schwerer politischer Fehler" angesehen; so Nollau, (Das Amt), S. 215. us Vgl. König, VerwArch 1992, 229 (234f).

1 16 Vgl. wegen dieser Aspekte auch die Rundschreiben des BMI an die obersten Bundesbehörden vom 11. 09. 1990, 26. 02. 1991 und 03. 06. 1993, gemeinsames Aktenzeichen: - D I 3-216 100/40; VG Greifswald, LKV 1993, 99 (100); BAG, NZA 1994, 25 (26). 117 Krit. (und teilw. polemisch) insoweit: Mechtel, Zwiegespräch Nr. 5, 18, der fragt, wo denn die ehemaligen MfS-Mitarbeiter überhaupt noch arbeiten sollten, wenn man der Devise zuneige: Einmal Stasi, immer Stasi. Für den Bereich des öffentlichen Dienstes gilt jedenfalls, daß kein öffentlicher Dienstherr bzw. Arbeitgeber bei Zweifeln an der charakterlichen Eignung verpflichtet ist, die notwendige rechtsstaatliche Einstellung eines Bewerbers in jedem Fall zunächst zu erproben; vgl. BAG, NZA 1994, 120 (121).

2. Kap.: Die Rechte der Tter

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gingen dadurch wichtige Informationen verloren, die sein Verhalten gegenüber dritten Personen oder anderen Staaten beeinflussen könnten, dem sei gesagt, daß der Staat diese Informationen nur unter dem Eindruck der historischen Ereignisse erlangen würde. Hätte die D D R fortbestanden, so hätte die Bundesrepublik auch ohne diese Personen und ihre Kenntnisse existieren müssen und auch können. Niemand hat je behauptet, daß dies ohne den Beitritt der D D R anders gewesen wäre. Entscheidend ist aber folgendes: Der von § 11 V StUG verfolgte Zweck widerspricht der Grundtendenz des EV. In der Erkenntnis, daß es schwierig ist, die Regelung des Art. 33 I I GG i m Bereich des Beitrittsgebietes zu befolgen, sieht der E V nach Art. 8 i. V. m. Art. 20 E V nach Maßgabe der Ani. I Kap. X I X , Sachgebiet A , Abschnitt I I I Übergangsregelungen vor. Nach Nr. 1 Abs. 5 ebendort wird es für einen öffentlichen Arbeitgeber bzw. Dienstherrn als unzumutbar angesehen, Personen zu beschäftigen, denen Verstöße gegen Menschenrechte oder den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nachzuweisen sind, oder die für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen D D R tätig waren. Hier besteht dann die Möglichkeit zu einer außerordentlichen Kündigung. Gerade bei einer so sensiblen Problematik wie der Weiterbeschäftigung früherer MfS-Mitarbeiter sollte dem Staat erkennbar die Möglichkeit eingeräumt werden, auch den durch die Vergangenheit begründeten Ressentiments vieler Bürger Rechnung zu tragen. Daraus ersieht man, daß MfSMitarbeiter gerade nicht weiterbeschäftigt bzw. neu eingestellt werden sollen. 1 1 8

118 Die Frage, ob eine Unzumutbarkeit per se bei MfS-Mitarbeitern gegeben ist, ist streitig gewesen, vgl. zum Meinungsstand: Lansnicker-Schwirtzek, MDR 1992, 529 (530f.). Für eine pauschale Betrachtung hat sich z. B. der Senator für Inneres in Berlin ausgesprochen. Denn jeder „einzelne Mitarbeiter, gleichgültig ob Handwerker, Schreibkraft, Krankenschwester oder Vernehmer, war in der Lage, konspirative Tätigkeiten für das MfS durchzuführen und an Einsätzen teilzunehmen. ... Es wäre nicht sachgerecht, ehem. offizielle MfS-Mitarbeiter nach ihrer damaligen Dienststellung und ihrer Funktion differenziert betrachten zu wollen. Jeder war Teil eines Ganzen und hat bewußt an seinem Platz für das Funktionieren der Gesamtorganisation gesorgt. Das gilt auch für Ärzte, Krankenschwestern und Reinigungskräfte."; Bericht des Senators für Inneres über die Behandlung ehem. MfS-Angehöriger im öffentlichen Dienst, Ziff. 5, Anlage 1 zum Prot, der 10. Sitzung des BT-InnenA-UA, ebenda. Auch die instanzgerichtliche Rechtsprechung war schwankend. Allein im Jahr 1991 sind über 60 Gerichtsentscheidungen ergangen, die sich mit Kündigungen von ehem. MfS-Mitarbeitern bzw. I M beschäftigten. Aus ihnen ergaben sich drei Trendrichtungen, die sich später fortgesetzt haben. In der überwiegenden Anzahl der Fälle sind die Klagen der früheren StasiMitarbeiter abgewiesen worden, da der Einigungsvertrag einen selbständigen Kündigungstatbestand enthalte, die Kündigungsvorschriften des § 626 I und II BGB nicht anwendbar seien und eine längere Tätigkeit für das MfS die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis pauschal indiziere, so z. B. LAG Berlin, Urt. vom 20. 09. 1991 - 6 SA 40/91; dass., LKV 1991, 414 (415); KreisG Schwerin-Stadt, DtZ 1991, 448; ArbG Berlin, NJ 1991, 230, dass., Urt. v. 11. 03. 1991 - 61 Ca 8311/90; dass., Urt. v. 11. 03. 1991 - 6 1 Ca 8312/90; dass., Urt. v. 28. 03. 1991 - 77 Ca 3164/91; dass., Urt. v. 22. 04. 1991 - 89 Ca 13363/90; dass., Urt. v. 17. 06. 1991 - 82 Ca 8553/90; dass., Urt. v. 29. 08. 1991 - 3b Ca 689/91. Diese Auffassung konnte sich nicht durchsetzen; vgl. Lansnicker/Schwirtzek, DtZ 1993, 106 (108). Einige Gerichte haben den Klagen insoweit stattgegeben, als wegen UnVerhältnismäßigkeit des Mittels und Anwendbarkeit der Vorschriften des § 626 BGB die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter verneint worden ist. Die vorsorglich ausge-

16 Engel

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

A n dieser Unzumutbarkeit der Beschäftigung i m öffentlichen Dienst ändert sich auch dann nichts, wenn der Dienstherr den Ex-Mitarbeiter trotzdem oder gerade deshalb weiterbeschäftigen bzw. neueinstellen will. Die objektive Situation bleibt dieselbe. Ferner: Der Fürsorgeaspekt ist so, wie er bei der Weiterbeschäftigung von MfS-Mitarbeitern zum Tragen gekommen ist, überdehnt worden. Es läßt sich zwar nur i m Einzelfall konkretisieren, was der jeweilige neue Dienstherr dem Bediensteten an Fürsorge schuldet. 1 1 9 Das gilt insbesondere für das Maß, in dem der Dienstherr bei seinen Entscheidungen die Interessen des Bediensteten zu berücksichtigen hat. Der Dienstherr ist aber nur verpflichtet, den Bediensteten u. a. gegen unberechtigte Anwürfe in Schutz zu nehmen. 1 2 0 Berechtigte Vorwürfe gegen den Mitarbeiter, die aufgrund von Stasi-Unterlagen erhoben werden, verpflichten den Dienstherrn nicht, sich schützend vor den Bediensteten zu stellen. Hier ist für den Fürsorgeaspekt kein Raum mehr.

sprochenen ordentlichen Kündigungen sind hingegen als rechtmäßig anerkannt worden, so z. B. LAG Brandenburg, Urt. v. 25. 07. 1991 - 1 Sa 21/91. In einigen Urteilen ist der Klage stattgegeben worden, da die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung der Stasi-Mitarbeiter nicht hinreichend dargelegt worden sei, vgl. hierzu AG Berlin, Urt. v. 01. 08. 1991 - 95 Ca 3044/91; dass., DtZ 1991, 158; KreisG Neubrandenburg, Urt. v. 27. 07. 1991 - 2 Ca 285/91; LAG Berlin, Urt. v. 29. 08. 1991 - 11 Sa 30/91. Inzwischen hat das BAG sich auf den Standpunkt gestellt, es bedürfe stets einer sorgsamen Einzelfallprüfung, wobei das Maß der Zumutbarkeit der Beschäftigung bestimmt werden soll durch das Maß der Verstrickung der fraglichen Person; vgl. BAG, DtZ 1993, 125ff.; dass., NZA 1994, 120 (121); vgl. auch die Darstellung bei Mayer, PersR 1993, 112 (113). Zu weit geht allerdings BAG, NZA 1994, 25 (26f.), wenn es u. a. als entscheidend annimmt, ob die fragliche Person genügend Bedenkzeit von der Stasi zugebilligt bekam, um die Verpflichtungserklärung zu unterzeichnen oder ob sie in einer Art Kurzschlußreaktion unterzeichnet habe. Gegen eine generalisierende Betrachtungsweise auch: OLG Rostock, DtZ 1994, 47 (48); LAG Köln, ArBuR 1994, 39 (40). Ähnlich: Scholz, BB 1991, 2515 (2521f.); Lansnicker/Schwirtzek, MDR 1991, 202 (203); dies. DtZ 1993, 106ff.; G/K, § 11 Rdnr. 8. Für seinen Geschäftsbereich hatte der BMI ein eigenes Raster erstellt, um die Frage nach der Weiterbeschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger zu beurteilen. Danach war „- vorbehaltlich der gebotenen Einzelfallprüfung - eine Weiterbeschäftigung in folgenden Ausnahmefällen denkbar: - Unwesentlicher Beitrag zum Repressionsapparat MfS, ζ. B. als Pförtner, Bote, Schreibkraft, Putzfrau etc.; - ausschließliche Tätigkeit in einem untypischen Bereich des MfS, der keine repressive und/oder operative Aufgabenstellung hatte; - keine freiwillige Mitarbeit...; - Beendigung der Mitarbeit vor 1980; Weiterbeschäftigung in einer untergeordneten Funktion ζ. B. als Pförtner, Bote, Schreibkraft, Putzfrau etc.."; Stellungnahme des BMI zum einzigen TOP der 10. Sitzung des BT-InnenAUA, Prot. (10. Sitzung), S. 5f. Vgl. auch das verfeinerte - inhaltlich aber unveränderte Raster, Anlage zum Prot, der 16. Sitzung des BT-InnenA-UA. Im April 1993 waren noch rd. 2600 ehemalige MfS-Mitarbeiter in der Bundesverwaltung - einschließlich Bahn und Post tätig. Davon waren jeweils etwa die Hälfte ehem. hauptamtliche bzw. inoffizielle Mitarbeiter. Diese Personen arbeiteten zu etwa 98% in nachgeordneten Bereichen, und zwar in untergeordneten Funktionen; vgl. den Bericht des BMI vom 24. 08. 1993 - D I 3-216 100/40. Für den Bereich der Privatwirtschaft vgl. die ausführliche Darstellung von Scholz, BB 1992, 2424ff. 119 Vgl. BVerfGE 43, 154 (166). Für die Privatwirtschaft: Scholz, BB 1992, 2424 (2427). 120 Vgl. BVerfGE 43, 154(165).

2. Kap.: Die Rechte der Täter

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e) Resultat Eine rechtliche Handhabe der Täter, zu verhindern, daß personenbezogene Informationen über sie vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Akten nicht an andere im StUG genannte Personen übermittelt werden, gibt es nicht. Die Regelungen des § 13 StUG verletzen insbesondere nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, soweit es für die Täter von Relevanz ist. Dieses Resultat liegt genau in der Absicht des Gesetzes.121 Soweit hauptamtliche Mitarbeiter des MfS für den Staat jedoch so interessant sind, daß ihre Übernahme bzw. Wiedereinstellung in den Staatsdienst geboten erscheint, ist die überdehnte Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber dem Bediensteten ein zuverlässiger Schutz vor der Übermittlung personenbezogener Daten. Auch dieses bedenkliche Resultat ist vom Gesetz beabsichtigt.

3. Der Sinn eines Täterzugriffs auf die Unterlagen Aus dem zuvor Gesagten ergibt sich, daß die „Täter" bzw. ihre Interessen den notwendigen Aufarbeitungsprozeß grundsätzlich nicht behindern sollen. Soweit das StUG den Tätern also Rechte einräumt (§§ 16f. StUG), kann dies nur so verstanden werden, daß dadurch der Aufarbeitungsprozeß gefördert oder zumindest ergänzt werden soll. In den Fällen nämlich, wo der Täter durch Akteneinsicht in seine Unterlagen in die Lage versetzt wird, durch Vorlage derselben seine eigene Rolle innerhalb der Tätigkeit des MfS aufzuklären. Diese Hintergrundinformation über den Täter wird sich regelmäßig nicht aus den Opferakten ergeben. Wenn das StUG die Täter auch nicht schützt, so eröffnet es ihnen doch zumindest die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß kein schiefes, allein aus den Opferakten gewonnenes Bild ihrer Person gezeichnet wird. Ob die Täter von dieser Möglichkeit dann Gebrauch machen, bleibt ihnen überlassen, jedenfalls ist das Mindestmaß an staatlicher Fürsorge für ehemalige MfS-Bedienstete damit gewährleistet.

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Vgl. Gauck, in: Hassemer/Starzacher-Gauck, S. 17 (22). Vgl. hierzu auch die Entscheidung des OVG Berlin, NVwZ 1993, 202 (Ls.) = LKV 1992, 417, wo es heißt: „Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, daß das Stasi-Unterlagen-Gesetz einer Person, die in einer Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes als ... Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit bezeichnet wird, Rechtssschutz gegen die Weitergabe möglicherweise unrichtiger, sie benachteiligender Informationen verwehrt." 16*

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

II. Der Täterbegriff 1. Eine (neue) Tätertypenlehre Auch im Bereich der Täter meinte das Gesetz nicht auf eine Kategorisierung verzichten zu können (vgl. § 6 IV, V I StUG). Die dort getroffene Aufteilung lag auch nahe. Das Riesenheer der inoffiziellen Mitarbeiter mußte anders behandelt werden als die hauptamtlich tätigen Mitarbeiter (ca. 100.000). Allein es fragt sich, ob diese Differenzierung wirklich gelungen ist oder ob die bloße Zweiteilung nicht noch weiter untergliedert werden muß. Am ganzen § 6 StUG fällt auf, daß der Gesetzgeber sich von dem Gedanken der Typisierung hat leiten lassen, was im Falle der Abs. IV und V I auf die Bildung von Tätertypen hinausläuft. Die Parallele zu § 211 II StGB ist unverkennbar. Gewiß, an § 6 IV und V I StUG knüpft das StUG keine Sanktionsfolgen, aber die Stigmatisierung, die in der Fassung des Täterbegriffs liegt, hat eine ähnliche Dimension wie bei § 211 StGB. Ohne in die unselige strafrechtliche Diskussion über Sinn und Unsinn einer tätertypischen Tatbestandsumschreibung eintreten zu wollen, ist doch festzuhalten, daß in § 6 IV, V I StUG eine derartige Umschreibung des Mitarbeitertatbestandes vorliegt. Ohne weiteren Kommentar hat der Gesetzgeber das Institut der Tätertypik aus dem Strafrecht entnommen und ihm im öffentlichen Recht gleichsam ein Exerzierfeld der brisanten Art eröffnet. Solange es darum geht, Gegenstände zu beschreiben oder bestimmten Personen „Gutes" zu tun (Opfer), ist eine solche Vorgehensweise unbedenklich. Auf der Täterseite führt dieses Tun jedoch zu allzu flexiblen Tatbeständen, die vom Rechtsanwender beliebig gehandhabt werden können. Das ist denn auch der Sinn der methodischen Figur vom normativen Tätertyp. Die ungeheuere Zahl der Täter soll so erfaßt werden, daß wenn schon nicht objektive Kriterien die Verwerflichkeit der Mitarbeitereigenschaft begründen können, jedenfalls diejenigen aus dem Täterbegriff ausgeschieden sein sollten, die aufgrund ihrer Gesinnung oder ihrer Tätigkeit würdig wären, verschont zu bleiben. Köche, Putzfrauen, Hausmeister und andere, nicht-stasitypische Funktionsträger ähnlicher Qualität des MfS sollten ζ. B. rein begrifflich aus dem Täterbegriff des Gesetzes ausgeschieden sein. 122 Eine solche negative Typenkorrektur zugunsten der Mitarbeiter des zu weit geratenen Mitarbeiterbegriffes wäre die logische Folge der gesetzlich angeordneten Typisierung. Sie findet sich jedoch nicht in einem Gesetz, das es sich zum Ziel gemacht hat, Täter, gleich welcher Qualität, nicht zu schützen. Im ganzen vermag die Tätertypisierung in § 6 StUG nicht zu befriedigen. Wenn der Gesetzgeber sich schon entschließt, Anleihen im Strafrecht zu machen, hätte er besser den Mitarbeitertatbestand in die Form von Regelbeispielen gekleidet. Durch die Verwendung dieser unverfänglichen Technik, die häufigsten Fälle darzustellen und den im übrigen nicht abschließenden Katalog der Mitarbeitereigenschaften durch 122 Vgl. Lansnicker/Schwirtzek, MDR 1991, 202 (203). Α. A. ist Scholz, BB 1991, 2515 (2520, 2524). „Die Art der Tätigkeit ist irrelevant." Ebenfalls a. Α. ist Heitmann, Sächsische Zeitung v. 28. 08. 1991, S. 3; vgl. auch LAG Berlin, LKV 1991,414 (415f.).

2. Kap.: Die Rechte der Tter

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Praxis und Wissenschaft erweitern zu lassen, wäre der Sache besser gedient gewesen. 123 Mit fortschreitender Erkenntnis über Strukturen und Methoden des MfS hätten dann auch die Begrifflichkeiten schneller angepaßt werden können.

2. Die Mitarbeiter des MfS a) Hauptamtliche Mitarbeiter Hauptamtliche Mitarbeiter sind Personen, die in einem offiziellen Arbeits- oder Dienstverhältnis des Staatssicherheitsdienstes gestanden haben, und Offiziere des Staatssicherheitsdienstes im besonderen Einsatz, OibE (vgl. § 6 IV Nr. 1 StUG). Maßgebend für die Einstufung als hauptamtlicher Mitarbeiter ist also grob gesagt das Vorliegen eines Arbeitsvertrages einer Person mit dem MfS. Auf den Inhalt des Vereinbarung kommt es nicht an. Noch weiter abstrahiert: Es bedarf auch keines Auffindens der Vereinbarung zwischen dem MfS und der fraglichen Person. Es genügt, wenn es über die betreffende Person eine Mitarbeiterakte gibt, die ihn als hauptamtlichen Mitarbeiter ausweist. In letzter Konsequenz, das heißt wenn man die Stasi-Logik konsequent verwirklicht, kann sogar die Mitarbeiterakte verschwunden sein, solange es nur eine Karteikarte oder ein sonstiges Fundhilfsmittel, ζ. B. eine Gehaltsliste, gibt, das auf ein Mitarbeiterverhältnis hindeutet. 124 Und genau an diesem Punkt setzen die Bedenken an. Die Einstufung einer Person als hauptamtlicher Mitarbeiter erfolgt dann, wenn sich hinreichende tatsächliche Feststellungen für eine Mitarbeit ergeben haben. Die Art der Mitarbeit bleibt unberücksichtigt. Um das Problem, das sich dahinter verbirgt, richtig zu verstehen, muß man ein wenig ausholen. Der Bedarf des MfS und seiner Diensteinheiten war zu allen Zeiten sehr groß. Schon kurz nach Gründung des MfS wurde klar, daß die „bewährten Kader" allein nicht ausreichen würden; vielmehr ergab sich die Notwendigkeit, junge, gut geschulte Kräfte in die Sicherheitsarbeit einzuführen. 125 123

Gegen die Notwendigkeit der Anwendung der Strafrechtsdogmatik im Bereich des SED-Unrechts hat sich Schroeder, ZRP 1993, 244 (246) ausgesprochen: „Ohnehin zeigt der moderne Gesetzgeber die Tendenz, sich unnötig auf das Glatteis der Strafrechtsdogmatik zu begeben." 124

Einen problematischen Fall verdeckter hauptamtlicher Mitarbeit gab es allerdings. Unter den sog. Offizieren im besonderen Einsatz gab es eine Gruppe, die als „Unbekannte Mitarbeiter" bezeichnet wurde. Diese Mitarbeiter wurden mit einer völlig neuen Identität ausgestattet und auch gegenüber anderen Mitarbeitern des MfS getarnt. Sie waren die Geheimen unter den Geheimen, die Überwachung der Überwacher. Vgl. Gauck, S. 68; Kloepfer, S. 64. Diese Personen tauchten nicht einmal auf den Gehaltslisten des MfS auf. Ihre genaue Anzahl liegt auch heute noch im dunkeln. Die Tätigkeit dieser unbekannten Mitarbeiter war durch die Ordnung Nr. 10/86 über den Einsatz von U-Mitarbeitern im Ministerium für Staatssicherheit geregelt (GVS 0008, MfS-Nr. 232/86 vom 22. April 1986). 125 Das war übrigens der Grund, die „Juristische Hochschule Potsdam" zu gründen (Kaderschmiede!). Mit jeder Fortentwicklung des MfS wurde auch die Bedeutung der Schule wichtiger, und ihr Umfang wuchs dementsprechend auch; vgl. zur Entwicklung dieser Einrichtung: Fischer, DA 1990, 189Iff.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Nachdem die Bezirke gegründet und die kleineren Kreise durch die Verwaltungsreform von 1952 geschaffen worden waren, stieg der Kaderbedarf quantitativ noch weiter an. Neben den üblichen Ursachen wie die Notwendigkeit, die aus Altersoder Invaliditätsgründen ausscheidenden Mitarbeiter zu ersetzen, war ferner insbesondere der Einfluß des VIII. Parteitags der SED 1971 für die Entwicklung des Personalbestands an hauptamtlichen Mitarbeitern von Bedeutung. Ein erheblicher Aufgabenzuwachs führte nicht nur zu einer starken quantitativen Steigerung, sondern vor allem zu einer qualitativen Veränderung des Mitarbeiterbestandes. Je vielfältiger der Aufgabenkreis wurde, desto spezialisierter wurde auch der Mitarbeiterbestand. So erforderte zum Beispiel der flächendeckende EDV-Einsatz im Laufe der Zeit die Anwerbung von EDV-Spezialisten und damit den Einsatz von Menschen, die nicht als „klassisches" Nachrichtendienstpersonal bezeichnet werden können. Die hauptamtlichen Täter waren also nicht alle gleich „böse", werden aber alle gleich „schlecht" behandelt.126 Das ist die unbefriedigende Folge der zuvor geschilderten Typenbildung.

b) Inoffizielle

Mitarbeiter

Fraglos haben die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS die Hauptarbeit bei der Beschaffung von Informationen geleistet. Daran konnte das StUG auch nicht vorbeigehen. Fraglich ist aber, ob das Gesetz diese Personen richtig erfaßt hat. Ebenso wie bei den „Opfern" liegt dem Gesetz ein unterlagenbezogener Unterscheidungsmaßstab zugrunde (vgl. § 6 VIII StUG). Was aber eben noch unschädlich war, ist nun problematisch. Die Unterlagen stammen ja vom MfS, also sind sie auch von einer stasi-bezogenen Sichtweise beeinflußt. Denkt man die gesetzliche Regelung (§6 VIII 2 StUG) konsequent zu Ende, kommt es nicht darauf an, ob jemand inoffizieller Mitarbeiter war oder nicht. Es kommt vielmehr für die Zuordnung in die IM-Kategorie darauf an, ob der Betreffende bezüglich bestimmter Informationen von der Stasi als ein solcher behandelt wurde. Was geschieht nun, wenn im Einzelfall die nachträgliche Beurteilung des Akteninhalts nicht den gesamten Sachverhalt einer IM-Tätigkeit zutreffend wiedergibt? Gerade hier spielen die bereits angesprochenen unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit mit dem MfS eine Rolle; von Überzeugung bis hin zu Zwang ist alles vertreten, und gegenwärtig wird eine Tätigkeit für das MfS ebenso häufig eingeräumt wie auch verleugnet. Neben 126 Dies hat ζ. B. das BAG veranlaßt, bei der Auflösung von Arbeitsverhältnissen, die mit hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS nach deren Entlassung aus dem MfS abgeschlossen wurden, eine genaue Einzelfallprüfung zu fordern, um festzustellen, ob die Weiterbeschäftigung des Ex-Mitarbeiters unzumutbar ist oder nicht. Vgl. BAG, DtZ 1993, 125ff. Die Bewertungskriterien hierfür legt das BAG auch gleich fest: „Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die ... Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Dieser Grad der Belastung wird bei einem hauptamtlichen Mitarbeiter .... durch seine Stellung sowie die Dauer seiner Tätigkeit bestimmt. Berücksichtigungsfähig sind weiterhin Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung dieser Tätigkeit...". BAG, a. a. Ο (127).

2. Kap.: Die Rechte der Tter

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den objektiven Anhaltspunkten für eine IM-Tätigkeit ist daher auf subjektiver Seite - als Korrektiv - noch ein wissentliches und willentliches Tätigwerden für das MfS erforderlich. 1 2 7 Z u m Wissenselement gehört die Kenntnis der Umstände, die eine Zusammenarbeit mit dem MfS ausmachten, also das Wissen, Personen auszuspähen, Berichte zu schreiben und Treffen durchzuführen bzw. abzuschirmen. Das Willenselement ist durch die Entscheidung der Person geprägt, für das MfS arbeiten zu w o l l e n . 1 2 8 Fehlt es an der erforderlichen Kenntnis, ist eine inoffizielle M i t arbeit zu verneinen. Mangelt es - trotz vorhandener Kenntnis - am Willen zur M i t arbeit, so wird man differenzieren müssen. Wird die fragliche Person in erkennbarer Weise für das MfS tätig, dann liegt eine inoffizielle Mitarbeit vor (genötigter Spitzel). Wird die Person in dieser Weise nicht tätig, so begründet das bloße Wissen um den Kontakt zum MfS noch keine M i t a r b e i t . 1 2 9 Untersuchenswert ist auch die Frage, was in den Fällen geschehen soll, in denen ein Kontakt zum MfS üblich oder gar unvermeidlich war? Inwieweit sollen die Selbsteinschätzungen der Betroffenen bei der Einstufung in die Mitarbeiterkategorie berücksichtigt werden? 1 3 0

127 Dies folgt bereits aus der Begründung zum StuG-E; vgl. BT-Drucks. 12/723, S. 20; vgl. auch BAG, DtZ 1993, 125 (126) welches von einer Tätigkeit für das MfS dann sprechen will, wenn diese bewußt und final war. Ähnlich: LAG Berlin, Urt. v. 13. 08. 1992 - 7 Sa 26/ 92 - S. 27; dass., Urt. v. 30. 10. 1992 - 6 Sa 44/92, BB 1993, 728; BAG, NZA 1994 25 (26); ebenso: Lansnicker-Schwirtzek, DtZ 1993, 106 (107). Dabei muß die Tätigkeit - an sich entgegen § 6 IV StUG - nicht zwingend mit der Lieferung von Informationen verbunden sein. Inoffizielle Mitarbeiter zur Wahrung der Konspiration von Wohnungen, Räumen und Objekten haben ebenso wesentliche Dienste für das MfS geleistet, ohne sich jedoch in jedem Fall bereit erklärt zu haben, Informationen zu liefern. Diese Personen waren jedoch regelmäßig in die Konspiration eingeweiht und haben das Sicherheitssystem des MfS aktiv unterstützt. Im Grunde muß § 6 IV StUG so ausgelegt, daß als I M die Personen angesprochen werden, die wissentlich die konspirative Arbeit des MfS gewährleistet haben; vgl. Gauck, Bericht an den InnenA des BT vom 25. 01. 1993, S. lOf. 128 Vgl. v. Lindheim, DtZ 1993, 358 (359). 129 Α. A. ist v. Lindheim, a. a. Ο (359), der bei Wissens- oder Willensmängeln die Regeln über den strafrechtlichen Verbotsirrtum anwenden will. V. Lindheims Argumentation ist auch im wesentlichen der gängigen Strafrechtsdogmatik entlehnt. Bedenklich daran ist, daß der Vorsatz, der für eine Stasi-Mitarbeit erforderlich ist, nicht identisch ist mit demjenigen, den das StGB meint. Außerdem sind die Zielrichtungen des StUG und des StGB unterschiedlich. In einem Strafprozeß wird die Schuld festgestellt und die Strafe zudiktiert. § 6 IV StUG ist aber nicht darauf gerichtet, Sanktionen zu ermöglichen. Im Gegenteil, es sollen „Personen, die sich aus politischen Gründen einen illegitimen Vorteil verschafft haben, zurück in die Mitte der Gesellschaft geholt werden. Sie sollen nicht ins Ghetto und sollen keiner Strafe unterliegen."; Gauck, in: Hassemer/Starzacher, S. 17 (28). Es ist daher nicht erforderlich, im Bereich des StUG nach Gründen zu suchen, die einem I M einen entschuldigenden Irrtum zubilligen würden. 130 Bedenklich ist insoweit die Ansicht des LAG Berlin: „Auf die Angaben ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit ist allein schon deshalb kein Verlaß, weil einerseits Auskünfte der Gauck-Behörde bei der Vielzahl der zu prüfenden Einzelfälle nur schleppend zu erlangen sind und zum andern auch keineswegs feststeht, daß die von dort erteilten Auskünfte vollständig sind."; LAG Berlin, LKV 1991, 414 (416). M. a. W., weil die

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Grundsätzlich gilt, daß der Begriff „inoffizielle Mitarbeit" mit dem Begriff „konspirativ" verknüpft ist. Maßgeblich ist also der geheime Charakter der Tätigkeit für das MfS. Dies schließt eine offizielle, offene Kontaktpflege mit dem MfS aber nicht aus. Personen, die mit dem MfS aus beruflichen Gründen in Kontakt treten mußten, waren für dritte Personen unverdächtig, wenn die Kontaktpflege zum MfS bekannt war. Auch dann ist eine inoffizielle Mitarbeit möglich, denn es war jedenfalls unbekannt, welches Ausmaß die Kontakte zum MfS hatten. 1 3 1 Es konnte sich um Kontakte handeln, die über das notwendige Maß hinausgingen und die insoweit konspirativ der Informationsübermittlung an das MfS dienten. 1 3 2 Zugegeben, eine Kategorienbildung ist schwierig, aber eine formale Einstufung allein nach dem Akteninhalt wird der Sache nicht gerecht. Das ist lediglich ein Grobraster, um überhaupt eine Ordnung für den Zugang zu den Unterlagen und ihre Verwendung zu finden. Hier zeigen sich Typisierungsprobleme i m Umgang mit der „inoffiziellen Wirklichkeit", die dem Gesetzgeber nicht klar vor Augen standen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Begriff des Denunzianten, den das StUG in § 13 V und sonst nirgendwo verwendet. Es könnte daher der Schluß naheliegen, es handele sich um eine eigenständige Personenkategorie, was aber dadurch in Frage gestellt wird, daß sie nicht in § 6 StUG bei den Definitionen auftauchen. 1 3 3 Erst Angaben der Mitarbeiter nicht zuverlässig überprüft werden können, sind sie per se unglaubhaft. Ehemalige Stasi-Mitarbeiter sind damit pauschal unglaubwürdig. 131 Heute ist bekannt, daß Inoffizielle Mitarbeiter beim Aufstieg in eine bestimmte Funktionärsebene aus der MfS-Tätigkeit entlassen wurden; dies gilt für Staats- und Parteifunktionäre gleichermaßen. Diese „Entlassung" erfolgte ζ. T. bereits auf Kreisebene. Das über den IM vorhandene Aktenmaterial wurde dann durch das MfS grds. vernichtet. Das eigentliche Problem liegt hier nicht im „konspirativen" Charakter der IM-Arbeit, sondern in der Unterlagenvernichtung. Diese wurde ja gerade deshalb praktiziert, weil sich ab jener Funktionärsebene das inoffizielle Verhältnis in eine offizielle Zusammenarbeit verwandelte. Ab dieser Funktionärsebene wäre das für die IM-Tätigkeit notwendige Maß an Vertraulichkeit zum Bespitzelungsobjekt ohnehin nicht mehr gegeben gewesen. MfS-Akten, die eine derart „offizielle Mitarbeit" (Informationsempfang und Auftragserteilung) dokumentieren, haben also besondere Qualität und Brisanz. Sie könnten vorrangiges Objekt der Vernichtung im Herbst 1989 gewesen sein. Darüber hinaus sind derartige Akten nicht nur im MfS-Bereich zu vermuten. Auch im Archiv der PDS bzw. der ehem. NVA muß nachgesehen werden. So waren ζ. B. die Bezirkseinsatzleitungen dem Nationalen Verteidigungsrat unterstellt. Quelle: Anlage zum Schreiben des Abg. Schwanitz an die Präsidentin des 12. Deutschen Bundestages vom 23. 12. 1990, S. 5. Vgl. auch (ähnlich): Gauck, BT-InnenA-Prot. (2. Sitzung), S. 85f. 132 Α. Α.: v. Lindheim, a. a. Ο (360), der bei offiziellen Kontakten zum MfS eine inoffizielle Zusammenarbeit ausschließen will. Das von ihm gegebene Beispiel des Nachbarn, der jahrelang mit einem MfS-Angehörigen Schach spielt und dabei Berichte abliefert, ist jedoch ungeeignet. Wenn der Schachkontakt zum MfS offen ist, kann trotzdem Konspiration vorliegen, da für Dritte nicht erkennbar ist, daß mehr geschieht, als nur Schach gespielt wird. Vgl. auch Lansnicker/Schwirtzek, DtZ 1993, 106 (107).

1 33 Vgl. StS Kroppenstedt, BT-InnenA-Prot. (16. Sitzung), S. 91. Trute, JZ 1992, 1043 (1048; dort Fn. 33) hat daraus (irrig) gefolgert, daß Gesetz sei so zu verstehen, daß Denunzianten als Dritte zu betrachten und deshalb formal der Opferseite zuzuschlagen seien; ebenso: Kloepfer, S. 82f.; a. A. aber ohne Einordnung in eine konkrete Personenkategorie: Staff, ZRP 1992, 462 (465, dort Fn. 18).

. Kap.: Die Rechte der

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die systematische Auslegung des Gesetzes ergibt, daß die Denunzianten eine Unterform der „Täter" sein müssen, genauer gesagt eine Umschreibung eines Sonderfalles der inoffiziellen Mitarbeiter. 134 Denn der Kerngehalt des Begriffes Denunzieren, also das Zur-Anzeige-Bringen eines anderen aus persönlichen, unmoralischen Beweggründen, umschreibt den wesentlichen Bestandteil des Wirkens der inoffiziellen Mitarbeiter. Es läßt sich nun einwenden, daß es an einer formalen Erklärung der Bereitschaft, für das MfS Informationen zu liefern, bei diesen Spontandenunzianten gefehlt haben könne. Dieser Einwand greift jedoch nicht. Die Bereiterklärung und die Denunziationshandlung gegenüber dem MfS können durchaus zeitlich zusammenfallen und das erstere im letzteren schlüssig mitenthalten

c) Sonderproblem: Mitarbeiter

des Arbeitsgebietes 1 der Kriminalpolizei

Nach § 6 V Nr. 2 StUG werden inoffizielle Mitarbeiter des Arbeitsgebietes 1 der Kriminalpolizei der Volkspolizei (IKM) in der Anwendung der Vorschriften des StUG den Mitarbeitern des MfS gleichgestellt. Hauptamtliche Mitarbeiter dieses Arbeitsgebietes nennt das Gesetz nicht; insofern ist das StUG auf diese Mitarbeiter nicht anwendbar. Das führt dazu, daß I K M vom BStU im Ergebnis einer Überprüfung beauskunftet werden, hauptamtliche Mitarbeiter jedoch nicht. Obwohl letztere den IKM weisungsbefugt vorstanden, kann für hauptamtliche Kl-Mitglieder keine Überprüfung veranlaßt werden. Letztlich wird der hauptamtliche Mitarbeiter im Polizeidienst weiterbeschäftigt, also verbeamtet, und der inoffizielle Mitarbeiter wird entlassen. Hier liegt ein Bruch in der Systematik des Gesetzes. So sind aus den Angaben hauptamtlicher Kl-Mitarbeiter in den Unterlagen von Betroffenen keine Konsequenzen abzuleiten, da eine weitere Überprüfung dieser Unterlagen nicht möglich ist. Problematisch ist auch die Aktenlage. Viele der hauptamtlichen Kl-Mitarbeiter sind von ostdeutschen Landespolizeien übernommen worden. Ihre Personalunterlagen finden sich bei den Polizeibehörden in Verwahrung, oftmals bereinigt oder vernichtet und somit einer Verwendung nach dem StUG entzogen. Es muß ermöglicht werden im Bedarfsfall und bei Bekanntwerden eines Sachverhalts im Zusammenhang mit der Akteneinsicht Betroffener in ihre Stasi-Unterlagen auch hier eine Überprüfung durch den BStU im Einzelfall zu ermöglichen. 136 Die hauptamtlichen Kl-Mitarbeiter sollten den hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern 134 Davon ging der Reg-Ε (BT-Drucks. 12/1093) in § 4 V Nr. 2 b ursprünglich auch aus. Wegen befürchteter Abgrenzungsprobleme in der Praxis wurde die Passage dann gestrichen, vgl. BT-Drucks. 12/1540, S. 58. Der Sache nach hat sich aber an der Einordnung nichts geändert. Das übersieht Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (66) wenn er annimmt, die Denunzianten seien nunmehr Dritte im Sinne des StUG. 135 Genaugenommen handelt es sich um eine Art „kleine berichtigende Auslegung" des Gesetzeswortlauts, wie sie zum Beispiel aus § 246 StGB bekannt ist. 13 6 Vgl. die Petition des LStU Thüringen vom 16. 05. 1994 - Ha/Se - an den Innenausschuß des Deutschen Bundestags; ferner: G/K, § 6 Rdnr. 23.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

gleichgestellt werden, 137 und zwar ungeachtet der Tatsache, daß erstere formal in den Geschäftsbereich des Ministeriums des Inneren der ehem. DDR gehörten.

3. Der Begünstigte, ein Täter niederer Ordnung Begünstigte sind Personen, die der Staatssicherheitsdienst wesentlich durch Verschaffung beruflicher oder sonst wirtschaftlicher Vorteile gefördert hat, und zwar bis hin zur Förderung bei der Begehung von Straftaten. Begünstigter im Sinne des Gesetzes ist aber auch, wer durch oder auf Veranlassung des MfS bei der Strafverfolgung geschont worden ist (vgl. § 6 V I StUG). Vereinfacht gesagt, Begünstigter ist derjenige, von dem das MfS annahm, daß er später für die Staatssicherheit noch von Wert sei und der deshalb besondere Fürsorge erfuhr. Mit dieser Regelung sollten u. a. die in der ehemaligen DDR untergetauchten Terroristen der bundesdeutschen RAF erfaßt werden. 138 Die Regelung erfaßt aber vor allem (§ 6 V I Nr. 1 StUG) die vom MfS geförderten Nachwuchskader des Systems, die rasch in die richtigen Positionen gebracht werden sollten. Der Hintergrund des Gesetzes ist dabei der, daß Personen, die nicht Mitarbeiter des MfS waren, aber über die doch Informationen in den Unterlagen vorhanden sind, nicht doppelt Vorteile ziehen sollten; einerseits aus der Begünstigung durch das MfS, andererseits aus dem Umstand, daß ihnen heute die direkte Tätereigenschaft fehlt und sie daher der Opferseite mit ihren besonderen Möglichkeiten zuzurechnen gewesen wären. Die Einführung dieser Kategorie war daher für den Gesetzgeber bei konsequenter Beachtung des gesetzlichen Opferbegriffes erforderlich (vgl. § 6 III Nr. 2 StUG). Wenn man die Begünstigten richtigerweise also nicht als Opfer ansieht, bleibt die Frage übrig, ob sie denn ohne weiteres der Täterseite zuzuschlagen sind. Rein formal trennt das Gesetz Mitarbeiter des MfS und Begünstigte (vgl. § 6 IV und V I StUG). Aus dieser formalen Trennung heraus ist jedoch nichts für die gestellte Frage gewonnen. Das Gesetz trennt auch die Betroffenen von den Dritten und behandelt später beide Gruppen praktisch gleich, womit es zu erkennen gibt, daß Betroffene und Dritte gleichermaßen Opfer des MfS sein sollen. Das gilt im Verhältnis zwischen den Begünstigten und den Mitarbeitern auch. Die Rechte der Begünstigten

137 Vgl. Gauck, Bericht an den InnenA des BT vom 25. 01. 1993, S. 11 ff. Α. A. sind die ehemaligen Κ 1 Angehörigen; vgl. die Gegendarstellungen bei: Landtag Thüringen, LTDrucks. 1/3325, S. 61 ff. (62) und 65ff. (66f.). 1 38 „Der Beginn der Kontakte zwischen MfS und RAF basiert auf einem Zusammentreffen ... im Mai 1978."; aus dem Bericht der Bundesregierung anläßlich der 6. Sitzung des BTInnenA, TOP 2, BT-InnenA-Prot. (6. Sitzung), S. 78. „Wir haben ... vom Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes alle die für unseren Zweck notwendigen Akten anstandslos bekommen."; ebenda, S. 82. Für eine Zusammenarbeit zwischen MfS und 'RAF' enthalten die Akten bis zum Jahr 1984 ausreichende Beweise. Sie belegen danach noch regelmäßige Kontakte und kommen deshalb als Beweismittel in Betracht. Vgl. BT-InnenA-Prot. (6. Sitzung), S. 79ff.; vgl. auch Hoffmann, S. 234f. Allgemein zum Begünstigtenbegriff: G/K, § 6 Rdnr. 24.

. Kap.: Die Rechte der

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(§ 17 I StUG) sind per Verweis denen der Mitarbeiter sehr ähnlich (16 I, III und V StUG). Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sind nur strukturell bedingt. Sie knüpfen an den Umstand an, daß die Begünstigten nicht beim MfS mitgearbeitet haben müssen. Sogar die Pflicht, Angaben zu machen, die das Auffinden der Informationen ermöglichen (§ 17 II StUG), ist entsprechend dem Verhältnis der Dritten zu den Betroffenen konstruiert. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, daß das Gesetz die Begünstigten praktisch wie die Mitarbeiter des MfS behandelt. Aus der Sicht des Gesetzes gehören die Begünstigten also auf die Täterseite. Diese Sichtweise des Gesetzes begegnet jedoch erheblichen Bedenken. Nach der Formulierung des § 6 V I StUG kommt es lediglich darauf an, ob tatsächlich eine Begünstigung durch das MfS stattgefunden hat. Maßgeblich für die Einstufung ist also der seinerzeitige realisierte Wille des Staatsicherheitsdienstes gewesen, eine Person zu begünstigen. Ob diese Person, die in den Genuß von Vorteilen kommen sollte, überhaupt davon wußte oder dies wollte, ist für das StUG unmaßgeblich. Vergleicht man diesen Tatbestand mit der Ausgestaltung der Mitarbeiterdefinition, so ergibt sich, daß hauptamtliche Mitarbeiter bewußt und gewollt dem Apparat gedient haben müssen. Inoffizielle Mitarbeiter werden zumindest bewußt für das MfS tätig geworden sein. Mögen sie dies auch nicht immer gewollt haben, so haben sie doch im Regelfall eine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Für die Einstufung als Mitarbeiter des MfS sind also gewisse subjektive Mindestvoraussetzungen in der betreffenden Person erforderlich. Auf diese verzichtet der Begünstigtenbegriff völlig. Trotzdem behandelt das Gesetz beide Gruppen gleich. Diese Offenheit des inneren Tatbestandes sucht das Gesetz dadurch auszugleichen, daß es den Begünstigtenbegriff näher qualifiziert und auf bestimmte Lebensbereiche beschränkt (Beruf, Strafverfolgung, Begehung von Straftaten etc.). Trotzdem wird man nicht umhin können, den Begünstigtenbegriff als mißglückt zu bezeichnen. Wer zum Beispiel mit Hilfe des MfS, aber ohne sein Wissen einen Studienplatz bekam, weil das MfS sich die Person „für später aufheben" wollte, hat aus seiner subjektiven Sicht Glück gehabt. Zwar wird man nun einwenden können, daß derjenige, der vom MfS begünstigt werden sollte, in der Regel dem herrschenden System nicht ablehnend gegenüberstand. Aber das ist kein Grund, die Begünstigten als Täter zu behandeln. Theoretisch konnte das MfS über jeden Bürger Informationen sammeln, um eine eventuelle Begünstigung zu prüfen. Es gab viele Menschen in der ehemaligen DDR, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen arrangierten und sich Nischen suchten, ohne dem Staat offen ablehnend gegenüberzutreten oder für ihn Bütteldienste zu verrichten. 139 Täter wird man, weil man irgendwann einmal einen Kontakt zum MfS hergestellt hat, der sich in einer bestimmten Weise entwickelte. Zum Begünstigten wird man durch das StUG gemacht. Diesen Widerspruch - Gleichbehandlung einerseits und Fehlen subjektiver Voraussetzungen andererseits - kann man nur dadurch auflösen, daß man entweder 139 Vgl. (krit.) Hoffmann, S. 302. „Wo es vermeintliche Freiräume im SED-System gegeben haben soll, handelte es sich um von der Partei bzw. der Staatssicherheit zugestandene, weil weitgehend überwachte Nischen."; Hoffmann, a. a. O.

2 5 2 5 . Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

von der Gleichbehandlung mit den Mitarbeitern abgeht, oder den Begünstigtenbegriff mindestens um die Kontaktaufnahme und die Bereitschaft zu Wohlverhalten gegenüber der Stasi durch den zu Begünstigenden ergänzt. 140 Letzteres wäre nach dem Konzept des Gesetzes konsequenter. Festzuhalten bleibt, daß der Begriff des Begünstigten zu weit geraten ist. Selbst eine Klassifizierung als „Täter niederer Ordnung" ist in der gegenwärtigen Form nicht zu halten.

I I I . Die Möglichkeiten der Täter nach dem StUG 1. Auskunft, Einsicht, Herausgabe Vor Inkrafttreten des StUG besaßen Personen, denen eine Mitarbeit beim ehemaligen MfS vorgeworfen wurde, keine Möglichkeit, die über sie gefühlten Unterlagen einzusehen. Die Vorläufige Benutzerordnung und der EV verhinderten dies. 141 Die absolute Einsichtssperre sollte sogar dann greifen, wenn die Akteneinsicht zur Rechts Verfolgung notwendig war. 142 Dieser Zustand hat sich zugunsten der betroffenen Personen verändert. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes erhalten auf Antrag Auskünfte über ihre personenbezogenen Informationen aus ihren Personalakten 143 (§ 16 I StUG). Unter der gleichen Voraussetzung erhalten sie auch Einsicht in ihre Personalakten (§16 III 1 StUG), und zwar prinzipiell in die Originalunterlagen, wie sich aus § 16 III 2 StUG ergibt. Bei inoffiziellen Mitarbeitern erstreckt sich das Auskunfts- und Einsichtsrecht auch auf Anwerbungsunterlagen (IM-Vorlauf), damit sie ggfs. darlegen können, zur Mitarbeit erpreßt worden zu sein bzw. um einem Verdrängungsprozeß entgegenzuwirken. Der Mitarbeiter kann darüberhinaus Duplikate seiner Personalunterlagen verlangen (§ 16 V 1 StUG). 144 Auskunft und Einsicht in Sachakten, also Vorgänge, an deren Bearbeitung die Mitarbeiter beteiligt waren, sind ihnen grundsätzlich verwehrt. Der Sinn 140 Im Ergebnis ebenso: Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (66); Trute, JZ 1992, 1043 (1048, dort Fn. 33) allerdings geht Stoltenberg etwas zu weit, wenn er (für die subjektive Seite) aus den Unterlagen den Nachweis der Zusammenarbeit mit dem MfS verlangt. Dann hätte man streng genommen bereits einen Inoffiziellen Mitarbeiter vor sich. Α. A. ist der Deutsche Beamtenbund in seiner Stellungnahme vom 31. 07. 1991 - II/l-Lü/Schm. - an den InnenA des Deutschen Bundestages. Auf S. 5 heißt es dort: „Eine ... Begünstigung ist ohne Wissen des Einzelnen schwerlich denkbar und wird nach der Intention des § 4 Abs. 6 (jetzt: § 6 VI; Anm. des Verf.) vorausgesetzt." 141 Vgl. Lansnicker-Schwirtzek, DtZ 1993, 106 (107). 142 Vgl. VG Berlin, Beschl. v. 23. 10. 1991 - 1 A 319/91 - . 143 Bei hauptamtlichen Mitarbeitern handelt es sich um die Kaderakten. Bei inoffiziellen Mitarbeitern paßt der Begriff der Personalakten eigentlich nicht. Die Unterlagen dort bestehen aus zwei Teilen. Teil I enthält Informationen, die bei der Auswahl und Anwerbung des Mitarbeiters angefallen sind (inkl. der eigenhändig geschriebenen Verpflichtungserklärung). Teil II enthält alle Spitzelberichte, die der IM im Laufe seiner Tätigkeit erstellt hat. Damit sollte die Tätigkeit des IM dokumentiert und auch kontrolliert werden. Der Einfachheit halber wird für die IM-Akten auch von „Personalakten" gesprochen.

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dieser Regelung liegt darin, daß Mitarbeiter sich aus den Unterlagen keine Informationen beschaffen sollen, die andere Personen als sie selbst betreffen. So wie ein prinzipielles Recht auf Auskunft und Einsicht in die eigenen Personalunterlagen anzuerkennen ist, muß umgekehrt verhindert werden, daß dem Mitarbeiter durch den Zugriff andere personenbezogene Informationen bekannt oder gar verkehrsfähig gemacht werden. Das gilt insbesondere für Informationen über Betroffene und Dritte (vgl. § 16 V 2 StUG). An dieser Ausgestaltung des Zugriffs auf Personalakten des Mitarbeiters ist kritisiert worden, daß die Regelung nicht genügend die Natur der Unterlagen berücksichtige. In den Personalakten der Mitarbeiter befänden sich auch Informationen, die im Zusammenhang mit der Anwerbung des Mitarbeiters angefallen seien. So wären zum Beispiel Spitzelberichte in die Personalakten genommen worden, die ein I M während seiner „Probezeit" beim MfS abgeliefert hätte. 145 Richtig daran ist, daß ein Mitarbeiter bei der Einsicht in seine Personalunterlagen durchaus sein Wissen darüber auffrischen kann, wen er in seiner Anfangszeit einmal bespitzelt hat. Das ist aber auch schon alles. Soweit die Herausgabe von Duplikaten in Rede steht, werden die personenbezogenen Informationen über Betroffene und Dritte anonymisiert (§ 16 V 2 StUG). Selbst wenn also Duplikate von Spitzelberichten herausgegeben werden, so sind diese wertlos. Das bloße Wissen allein wird mit fortschreitendem Zeitablauf sowieso immer weiter relativiert bis hin zur Bedeutungslosigkeit.146 Ergänzend stellt es das Gesetz in das Ermessen des Bundesbeauftragten, ob er dem Mitarbeiter auch Auskunft über den Inhalt seiner Tätigkeit oder gar Zugang zu den Berichtsakten, also den Arbeitsvorgängen, gestatten will, vgl. § 16 II, IV 1 StUG. Damit trägt das Gesetz dem Umstand Rechnung, daß auch die Täter ein Interesse daran haben können, ihre Rolle im Zusammenhang mit bestimmten Geschehnissen der Vergangenheit aufzuklären. Allerdings wird dieses Ermessen umso restriktiver zu handhaben sein, als Informationen über Betroffene und Dritte sich in den Berichtsakten befinden und je intensiver sich das Verlangen des Mitarbeiters darstellt. Folgende Abstufungen sieht das Gesetz vor: - Die Auskunft aus den Berichtsakten. Als Auskunft allgemeiner Art ist sie wenig intensiv, da dem Mitarbeiter keine personenbezogenen Informationen mitgeteilt 144 Alle Rechte der Mitarbeiter beziehen sich ebenfalls wie bei den Betroffenen natürlich nur auf das bereits erschlossene Material. § 16 StUG sagt dies zwar nicht, es handelt sich jedoch um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers; vgl. S/D, § 16 Rdnr. 3. Es ist nicht daran gedacht, die Mitarbeiter insoweit besser zu stellen als die Betroffenen. 145

Vgl. Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (68f.); vgl. auch die Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz vom 06. 08. 1991 an den InnenA des Deutschen Bundestages, S. 4f. 146 Α. A. Stoltenberg, a. a. O. (69), der annimmt, selbst mit diesem Wissen könnte ein Mitarbeiter noch viel Unheil anrichten; ders. § 16 Rdnr. 7, wo er aber zumindest einräumt, der Bundesbeauftragte werde im Zweifel mehr anonymisieren als eigentlich erforderlich, um dieser Gefahr zu entgehen.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

werden. Daher sieht das Gesetz auch nur eine einfache Ermessensausübung vor. 1 4 7 - Die Einsicht in die Berichtsakten; sie ist ein recht intensiver Zugriff des Mitarbeiters; ihm können dadurch personenbezogene Informationen auch über Betroffene und Dritte bekannt werden. Hier muß demnach bereits ein rechtliches Interesse glaubhaft gemacht werden, und soweit der Opferschutz in Rede steht, muß eine Interessenabwägung durch den Bundesbeauftragten durchgeführt werden, wobei die Interessen des Mitarbeiters überwiegen müssen. Das wird selten der Fall sein, denn der Begriff des rechtlichen Interesses ist eng auszulegen und wird regelmäßig nur dann zu bejahen sein, wenn der Mitarbeiter auf diese Art der Erkenntnisgewinnung angewiesen ist. Man darf nicht vergessen, daß hier Informationen über Opfer an Personen gegeben werden sollen, die ursprünglich gegen sie gearbeitet haben. 148 - Die Herausgabe von Duplikaten der Berichtsakten; sie ist die intensivste Form eines denkbaren Mitarbeiterzugriffs; sie würde dazu führen, daß personenbezogene Informationen verkehrsfähig würden. U. U. könnte der Mitarbeiter andere Personen mit diesen Informationen aus den Duplikaten sogar erpressen. Daher findet eine Herausgabe von Duplikaten der Berichtsakten überhaupt nicht statt (arg. e contrario aus § 16 V 1, 2 StUG). 149 § 16 StUG stellt den Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes eine recht großzügige Regelung zur Verfügung. Über den Mindeststandard, der die eigenen Personalunterlagen betrifft und der zu garantieren ist, ist in bestimmten Grenzen sogar ein indirekter Zugriff der Mitarbeiter auf die Berichtsvorgänge möglich. Dabei sind die aufgestellten Zugangsschranken nicht zu beanstanden.

2. Auch für Begünstigte Nach dem ursprünglichen Entwurf (§14 Reg-Ε) sollten sich die Rechte der Begünstigten an den Rechten der Opfer orientieren. In der Entwurfsbegründung hieß 147 Dabei wird das Ermessen i. d. R. zugunsten der Auskunftserteilung gebunden sein. Die Auskunft stellt nämlich jenes Minimum dar, welches durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohnehin geboten ist; vgl. Kloepfer, S. 32. Vgl. auch BVerfGE 65, 1 (70). Vgl. auch G/K, § 16 Rdnr. 6.

i 4 « Vgl. die Arbeitsmaterialien des BMI zum StUG vom 11..03.1991 - Ο I 5-191 08/0 - , S. 12. Stoltenberg, § 16 Rdnr. 10 will zudem noch ein Stufenverhältnis in der Art herstellen, daß die Einsicht subsidiär (und nicht wie bei Betroffenen/Dritten parallel) zur Auskunft steht. Eine derartige Auslegung gibt das Gesetz jedoch nicht her und ist auch nicht geboten, da der Bundesbeauftragte in jedem Einzelfall vor Einsichtnahme durch den Mitarbeiter selbst das Material gesichtet und auf eventuelle Gefahren für das Persönlichkeitsrecht der Opfer „abgeklopft" haben wird. 1 49 Vgl. Gauck, Bericht an den InnenA des BT vom 25. 01. 1993, S. 14f. (krit.). Anders: G/K, § 16 Rdnr. 7.

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es dazu: „Da Begünstigte Nutznießer des Staatssicherheitsdienstes waren, wird ihr Recht auf Auskunft und Einsicht im Vergleich zu den Opfern des Systems beschränkt." 150 Auskunft aus und Einsicht in Unterlagen sollten nur bei Vorliegen eines rechtlichen Interesses gewährt werden. Auch war eine Einsichtnahme darüber hinaus nur zulässig, wenn überwiegende schutzwürdige Interessen anderer Personen nicht beeinträchtigt würden. Aber bald merkte man, wer alles in diesen Personenkreis hineingehörte, und so veränderte sich der Ausgangspunkt der Überlegungen von einem Opferansatz zu einem Täteransatz. 151 Denn die Einräumung beschränkter Opferrechte hätte dazu geführt, daß der betroffene Personenkreis erneut mittelbar zu den Nutznießern der Stasitätigkeit gehören würde. Durch diesen Wechsel des Blickwinkels ist der Begünstigtenbegriff zwar nicht klarer, aber in seiner Anwendung wenigstens konsequenter geworden. Die Begünstigten des MfS werden, soweit der Sache nach möglich, ebenso behandelt wie die Mitarbeiter des MfS (vgl. § 17 I StUG). Die Begünstigten haben bezüglich der Unterlagen, die zu ihrer Person geführt worden sind, das Recht auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe. Da sie nicht aktiv für das MfS tätig waren, sonst wären sie als Mitarbeiter einzustufen, haben sie nicht an der Entstehung von OP-Vorgängen etc. mitgewirkt. Mithin konnte das Gesetz darauf verzichten, die Verweisung in § 17 I StUG auch auf den § 16 II bzw. IV StUG zu erstrecken. Ähnlich wie die Dritten (§13 VII 1 StUG) müssen auch die Begünstigten Angaben machen, die das Auffinden der Informationen ermöglichen (§ 17 II StUG). Ebenso wie bei den Dritten ist diese Anforderung aber unproblematisch. Wenn es nämlich Unterlagen zur Person des Begünstigten gibt, und davon geht das StUG ja aus, dann genügt es für den Begünstigten, seinen Namen anzugeben. Zumindest werden nicht mehr Informationen erforderlich sein als für Betroffene und Dritte. Das Gesetz hat also die großzügige Regelung des § 16 übernommen und auf einen Personenkreis ausgeweitet, der anders als die Mitarbeiter noch gar nicht zahlenmäßig erfaßt ist. Weitaus bedenklicher ist jedoch, daß der Personenkreis der Begünstigten qualitativ kaum erfaßt ist. Er reicht vom unbedarften, unwissenden Bürger über den „linientreuen" Genossen bis hin zu kleinen Straftätern oder gar Terroristen. Sie alle werden gleichbehandelt. Da nutzt es wenig, wenn § 17 III StUG eine Beschränkung der Begünstigtenrechte quasi zugunsten laufender behördlicher oder gerichtlicher Verfahren ausspricht. Denn die Regelung, die als Korrektiv für den zu weit geratenen § 17 I StUG gedacht war, begegnet selbst Bedenken. Da wäre zunächst das „überwiegende öffentliche Interesse", welches bestehen muß. Praktische Bedeutsamkeit gewinnt hier das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung des Begünstigten.152 Eine derartige Beschränkung für Mitarbeiter kennt das StUG 150 Vgl. BT-Drucks. 12/1093, S. 24. 151 „Begünstigten des Staatssicherheitsdienstes werden dieselben Rechte eingeräumt wie dessen Mitarbeitern."; so kurz und bündig vollzieht sich der gesetzgeberische Wechsel des Denkansatzes; BT-Drucks. 12/1540, S. 59. 1 52 Davon geht zum Beispiel der Reg-Ε aus: „Die Beschränkung ... kommt beispielsweise bei Strafverfahren in Betracht."; BT-Drucks. 12/1093, S. 24.

2 5 6 5 . Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

aber nicht. Begünstigte, gegen die ein Strafverfahren läuft, werden also schlechter behandelt als Mitarbeiter, gegen die ermittelt wird. Entweder sind die Mitarbeiter des MfS schutzwürdiger als die Begünstigten (horribile dictu), oder hier liegt ein Bruch mit der Systematik des Gesetzes vor, die beiden Gruppen gleich zu behandeln. Ferner: Die Interessenabwägung wird nicht vom BStU vorgenommen, sondern von einer anderen Bundes- oder Landesbehörde, die gerade zuständig ist. Die bloße Erklärung im Sinne des § 17 III StUG sperrt dabei für den Begünstigten jeden Zugriff auf die Unterlagen, das heißt dem Bundesbeauftragten ist es dann untersagt, Auskunft zu erteilen. Das läuft faktisch darauf hinaus, daß Unterlagen nach Belieben dem Zugriff des Begünstigten entzogen werden können; man braucht nur ein Verfahren in der Zeit zwischen dem Antrag des Begünstigten und der Entscheidung des BStU einzuleiten. Da der BStU die Wertungen der anderen Behörde mangels Einsichtsmöglichkeit in deren Abwägungsmaterial nicht nachvollziehen kann, kann er auch kaum dem Begünstigten plausibel machen, warum er keine Auskunft, Einsicht etc. bekommt. Und: Wenn man das Gesetz wörtlich nimmt, müßte der BStU bei jedem Antrag eines Begünstigten bei allen obersten Bundes- und Landesbehörden nachfragen, ob dem Antragsbegehren ein überwiegendes öffentliches Interesse entgegensteht. Die fraglichen Behörden erfahren ja nicht, daß der Begünstigte einen entsprechenden Antrag gestellt hat, und der BStU erfährt nicht automatisch, daß gegen eine bestimmte Person beispielsweise ein Strafverfahren eröffnet wurde. So wie sich § 17 III StUG jetzt darstellt, ist die Norm deshalb mißglückt. Es wäre aber von vornherein besser gewesen, das Gesetz hätte besondere Vorschriften für Begünstigte vorgesehen statt der pauschalen Verweisung auf § 16 StUG. Die analoge Überlegung im Verhältnis von Betroffenen und Dritten, gemeint ist der Pauschal verweis in § 13 VII StUG, ist auf der Opferseite noch tragbar, auf der Täterseite der Struktur nach nicht.

IV. Folgerungen Es ist nur zu verständlich, daß nach Überwindung des „alten Systems" und der Angst davor ein erhebliches Interesse daran besteht, die Verantwortlichkeiten zu klären, um nicht zuletzt zu verhindern, daß belastete Personen erneut Karriere machen. Allein, der Täterbegriff ist derart diffus, daß ähnlich wie beim Opferbegriff klare Grenzziehungen unmöglich sind. Der bloße Verdacht der Mitarbeit für das MfS genügt heute bereits, um Existenzen zu vernichten. Auf dem „Richtblock der Öffentlichkeit" findet niemand Gnade. Nach der Schuld fragt man dort nicht. Diese unerfreuliche Perspektive ist aber nur die eine Seite des Problems. Die andere - ebenso unangenehme - ist die, daß am Ende alle pauschal „irgendwie" schuldig oder unschuldig sind, wenn die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern verloren geht. Es gäbe dann nur noch die Opfer eines anonymen Systems. Dann kann man aber gleich das Werk des MfS zu Ende bringen und die noch vorhandenen Akten vernichten. Das StUG begibt sich hier in der Erkenntnis, daß das System eben nicht anonym war, auf eine „Gratwanderung" und hat sich dafür ent-

3. Kap.: Die Rechte der Medien

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schieden, grundsätzlich die Täter nicht davor zu schützen, als solche bezeichnet zu werden. Ebenso schwierig war das Problem mit der Gruppe der Begünstigten. Zeitweise war unklar, ob die Begünstigten den Opfern oder den Tätern näherstünden. Letztere Sichtweise hat sich durchgesetzt und ist auch konsequent umgesetzt worden. Von § 17 III StUG sei hier einmal abgesehen. Inhaltliche Klarheit hat der Begünstigtenbegriff jedoch nicht erlangt. Wenn der Gesetzgeber sich schon die Mühe macht, eine eigene Personenkategorie aufzustellen, dann hätte er sich auch die Mühe machen sollen, besondere Regelungen für Begünstigte zu schaffen und nicht mit einer zu weit geratenen Pauschalverweisung zu arbeiten. So hätte ζ. B. nach Straftätern, Nachwuchskadern etc. differenziert werden können.

3. Kapitel

Die Rechte der Medien I. Die Rechtslage ohne das StUG 1. Zugangsanspruch der Presse wegen der Unterlagen a) aus dem Presserecht Für die Behandlung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes galt seit dem 3. Oktober 1990 gem. Anlage I, Kap. II, Sachgebiet B, Abschnitt II, Nr. 2 b) EV übergangsweise anstelle des BArchG eine besondere Regelung. Danach waren die Unterlagen grundsätzlich gesperrt und damit prinzipiell unverwendbar. Ausnahmen für die Presse gab es nicht. Allerdings, und das ist bemerkenswert, gab es in der Übergangsregelung auch keine Beschränkung hinsichtlich der Veröffentlichung von Informationen aus Stasi-Akten, in deren Besitz die Presse, gleich auf welchem Wege, gelangt war. Auch die spätere „vorläufige Benutzerordnung" des BStU sah einen Zugriffsanspruch der Presse nicht vor. Daher war lediglich ein Zugriffsanspruch nach dem Berliner Landespresserecht denkbar (§ 4 Berl.LPG). 153 Das Landespresserecht findet auch auf Bundesbehörden grds. Anwendung, d. h. auch diese sind auskunftspflichtig. 154 Der BStU wäre danach grds. verpflichtet gewesen, Auskünfte zu erteilen; Einsichts- oder Herausgabeansprüche ergeben sich aus dem Gesetz nicht. Allerdings unterlag die Aus153 Die Außenstellen der „Gauck-Behörde" können hier vernachlässigt werden, da diese keine eigenen Behörden darstellen. Auskunftsansprüche sind auch insoweit gegen die Zentrale in Berlin geltend zu machen.

154 Vgl. BVerwG, NJW 1975, 891. 17 Engel

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

kunftspflicht den Schranken aus § 4 II Berl.LPG und scheiterte letztlich an entgegenstehenden Geheimhaltungsvorschriften. Das ergab sich einerseits unmittelbar aus der Sonderregelung im EV ( § 2 1 1) und andererseits mittelbar aus der Verweisung in § 5 der Sonderregelung auf das BDSG (dort: § 20 VI). Es bestand daher keine Möglichkeit für die Presse, sich auf der Basis einfachen Rechts aus den Stasi-Akten zu informieren. 155

b) aus Art. 51 GG direkt Fraglich ist, ob der gesetzlich geregelte Zugang zu den Unterlagen und deren Verwendung vielleicht verfassungsrechtlich begründet werden kann. Das scheint bedenklich, weil die Grundrechte des Grundgesetzes nach allgemeiner Auffassung Abwehr- und Freiheitsrechte darstellen, die nur ausnahmsweise zu Ansprüchen an den Staat berechtigen. Eine solche Ausnahme könnte hier in Art. 5 1 1 2 . Alt. GG (Informationsfreiheit) gegeben sein. Daß es eine besondere Regelung im GG für die Presse gibt, ist unschädlich, da sich auf die Informationsfreiheit auch Presseangehörige berufen können. 156 Aus ihr ergibt sich für jedermann das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Dieses Grundrecht kann aber nur zum Zuge kommen, wenn die Stasi-Unterlagen zu denjenigen Informationsquellen zählen, die im Sinne dieser Vorschrift allgemein zugänglich sind. Diese Frage ist bislang noch keiner näheren Erörterung unterzogen worden. Ihre Beantwortung richtet sich nach den objektiv-tatsächlichen Gegebenheiten. D. h. die Allgemeinzugänglichkeit wird nach der Art der Abgabe der Informationen bestimmt, ohne daß dem Staat hierbei ein unmittelbarer Einfluß zukäme. 157 Man könnte sich nun auf den Standpunkt stellen, daß der BStU, weil er eine besondere Einrichtung der Verwaltung darstellt, grundsätzlich der allgemeinen Einsicht nicht unterliegende Behördenakten des MfS verwaltet. Der BStU wäre seiner Funktion nach dann kein Informationsorgan, sondern eine Verwaltungsstelle, eben eine behördeninterne Registratur, der das Merkmal der allgemeinen Zugänglichkeit fehlte. Eine derartige formale Sichtweise begegnet aber erheblichen Bedenken. Auf der Basis der historischen Ereignisse kann sich die Tätigkeit des Bundesbeauftragten nicht mehr darauf beschränken, den ehemaligen MfS-Apparat im Rückblick evident zu machen. Die Arbeit des Bundesbeauftragten wirkt vielmehr in das öffentliche politische Leben hinein. Auf diesem Hintergrund wächst dem Bundesbeauftragten eine neue Zweckbestimmung zu, die sich vor allem mit den Begriffen der Öffentlichkeitsarbeit und der Bildungsaufgabe beschreiben läßt (vgl. § 37 I Nrn. 5 iss Vgl. Bork, ZIP 1992, 90 (91). ι 5 6 Vgl. Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (39) m. w. N. Informations- und Pressefreiheit sind kumulativ anwendbar. 157 Vgl. BVerfGE 27, 71 (83f.).

3. Kap.: Die Rechte der Medien

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u. 6 StUG). Dieser Funktionswandel schließt das Verständnis des Bundesbeauftragten als eines bloßen Sachwalters der Verwaltung oder gar als Geheiminstitution des untergegangenen Stasi-Apparates aus. Der Bundesbeauftragte ist insoweit Informationsträger und Informationsvermittlungsstelle des auf eine öffentliche Kommunikation angewiesenen Gemeinwesens. Damit zeichnet sich eine Tendenz dahingehend ab, daß ein individuell nicht mehr ohne weiteres bestimmbarer Personenkreis prinzipiell in den Stand gesetzt werden muß, sich auch aus unveröffentlichten Stasi-Quellen zu informieren. Gegen diese Tendenz läßt sich nun einwenden, daß bereits der Inhalt der Unterlagen ihren Status als allgemein zugängliche Quelle ausschließt. Da der BStU die alleinige Verfügungsgewalt über die Unterlagen habe, beherrsche er damit die Informationsquelle. Folglich könnten die Unterlagen nur dann allgemein zugänglich sein, wenn sie von der Behörde zur uneingeschränkten Kenntnisnahme für die Öffentlichkeit freigegeben werden. Das sei aber nicht das Ziel des StUG. 158 Dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend. Einerseits gibt der persönlichkeitsrechtlich bedenkliche Unterlageninhalt nichts für die Einstufung als Quelle im vorher genannten Sinne her. Man bewegt sich vielmehr im Bereich der immanenten Schranken der Informationsfreiheit, also letztlich im Konkordanzbereich. Andererseits muß der enge Bezug der Informationsfreiheit mit der Meinungsfreiheit und dem Demokratiegebot mitbetrachtet werden. 159 Der BStU liefert der Sache nach eine Vielzahl von Materialien für eine ganze Reihe von Zwecken, die nicht nur für bestimmte Adressaten, sondern im Grundsatz für alle Bürger von Interesse sein können. So ist das vom Bundesbeauftragten behütete Material das soziokulturelle Erbe der deutschen Zweistaatlichkeit und damit nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein staatsbürgerlicher „Schatzfund". Die Bedeutung des Materials allein für die Zwecke der Meinungsbildung ist ungeheuer. Es ist allerdings zuzugeben, daß der vorher genannte Einwand auf der Ebene der praktischen Konkordanz durchaus relevant ist. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht derer, die sich zu ihrem Nachteil in den Unterlagen wiederfinden, hindert die Annahme eines allgemeinen staatsbürgerlichen Informationsrechts. Für die Frage, ob die Stasi-Unterlagen eine allgemein zugängliche Quelle im Sinne des Art. 5 11 GG sind, bedeutet dies eine prinzipiell bejahende Antwort, die aber im Hinblick auf die Erfordernisse des Persönlichkeitsschutzes in der Auslegung durch das BVerfG eingeschränkt werden muß. Man sollte einer gängigen Terminologie entsprechend von einer „bereichsspezifischen" Stasi-Unterlagen-Öffentlichkeit sprechen. Möglicherweise könnte sich aus Art. 5 12 GG ein verfassungsrechtlicher Zugangs- und Verwendungsanspruch ergeben. Eine in der Literatur vertretene, bejahende Auffassung begründet diesen Anspruch damit, daß die Presse eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen habe. Die Presse solle das Bundesvolk - ein Verfassungsorgan - in die Lage versetzen, seine Volkssouveränität effektiv zu verwirklichen. iss So: Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (39). 159 Vgl. BVerfGE, a. a. O. (81). 1*

2 6 0 5 . Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

Bei der Mitwirkung anläßlich der politischen Willensbildung sei die Presse einer der Eckpfeiler des demokratischen Staates. Damit die Presse in der Lage sei, diese Funktion im demokratischen Staatswesen auszufüllen, müßten die grundrechtlichen Verbürgungen der Pressefreiheit zeitgemäß und dem Wandel im Verständnis der Grundrechte entsprechend zugunsten eines verfassungsrechtlich geschützten Informationsanspruches der Presse ausgelegt werden. 160 Die Gegenansicht, die einen unmittelbaren Anspruch der Presse aus Art. 5 12 GG ablehnt, sieht in dieser Verfassungsnorm, neben dem subjektiven Abwehrrecht der Presse, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, nur noch eine objektiv-rechtliche Garantie des Instituts der freien Presse. Aus dieser institutionellen Garantie könne aber kein subjektiv öffentliches Recht der Presse gegenüber dem Staat auf Informationen hergeleitet werden. Vielmehr mache es die institutionelle Sicht nur möglich, von einem allgemeinen Gebot an den Staat auszugehen, das erforderliche Maß an Informationen sicherzustellen. Es werde nur eine staatliche Pflicht statuiert, ohne korrespondierendes verfassungsrangiges Recht der Presse. 161 Für die erstgenannte Ansicht spricht, daß die Presse tatsächlich eine öffentliche Aufgabe erfüllt, die von entscheidender Bedeutung für einen demokratischen Staat ist. Nur läßt sich dagegen einwenden, daß Art. 5 12 GG keinen Hinweis auf die öffentliche Aufgabe oder den öffentlichen Status der Presse beinhaltet. Davon ist nicht einmal im StUG die Rede. Lediglich in den jeweiligen Landespressegesetzen, also in einfachgesetzlichen Normen (vgl. zum Beispiel § 3 LPG NW), findet sich hierzu etwas. Auch bleibt letztlich unklar, wieso allein der pauschale „Wandel im Verständnis der Grundrechte" zwangsläufig zur Anerkennung eines subjektiven Leistungsanspruchs führen sollte. Eingedenk der historischen Ereignisse mag man von einem Wandel der Presseinteressen sprechen, aber der Inhalt der verbürgten Grundrechte macht „nicht jede Mode" mit. Das gilt für die Presse ebenso wie für jeden anderen Grundrechtsinhaber. 162 Im übrigen läßt sich aus der heute sehr offenen Ausübung publizistischer Macht vermuten, daß die Presse eines verfassungskräftigen Anspruches nicht bedarf. Das Affektionsinteresse der Inhaber öffentlicher Ämter zum Beispiel im Hinblick auf die öffentliche Meinung vermag mehr zu bewirken, als dies ein verfassungsrechtlicher Anspruch könnte. 163 160 So grundsätzlich (ohne direkten Stasi-Bezug): Mathy, S. 42; Groß, S. 172; vMv.Münch, Rdnr. 24 zu Art 5; jeweils m. w. N.; ferner: Löffler, § 4 Rdnr. 16ff. und im Hinblick auf das StUG so: Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (39f.). 161 Grundsätzlich, das heißt ohne Stasi-Bezug so: Starck, AfP 1978, 171 (173); Stober, DRiZ 1980, 3 (9); J/P-Jarass, Rdnr. 25 zu Art. 5. 162 Insoweit sei nur auf die Diskussion um das Abtreibungsrecht verwiesen, die nach dem Beitritt die Interessenlage vieler Frauen, insbesondere in der ehemaligen DDR, verändert haben wird. Dem wird auch ein anderes Verständnis des GG zugrundeliegen, und trotzdem hat sich deshalb die Gesamtkonzeption der Verfassung im Hinblick auf den Lebensschutz nicht verändert. 163 Vgl. Kriele, NJW 1994, 1897 (1905). Bestes Beispiel dafür ist der „Fall Stolpe" der von der Presse reichlich „ausgeweidet" worden ist. Dafür spricht auch der Umstand, daß der

3. Kap.: Die Rechte der Medien

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Als Argument für die eine oder andere Seite untauglich ist die Überlegung, daß der im StUG niedergelegte Zugangs- und Verwendungsanspruch der Presse (§ 34 I i. V. m. 32 StUG) ein Indiz dafür sein könnte, daß der Gesetzgeber auf diesem Wege dem Fehlen eines verfassungsrechtlichen Auskunftsanspruchs habe abhelfen wollen. Umgekehrt könnte man nämlich folgern, daß bei Annahme eines Anspruchs der Presse aus Art. 5 12 GG die gesetzliche Regelung lediglich die in Gesetzesform gegossene Wiederholung eines verfassungskräftigen Rechts wäre. Das BVerfG hat einen derartigen Informationsanspruch aus dem GG noch nie anerkannt. Zwar berufen sich die Anhänger der bejahenden Auffassung auf eine Passage des „SPIEGEL-Urteils" des BVerfG, 164 wo das Gericht von Informationspflichten als prinzipiellen Folgerungen aus der Verpflichtung des Staates spricht, in seiner Rechtsordnung überall dort, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berühre, ihrer Freiheit Rechnung zu tragen. Diesen Gedanken zur Konstruktion eines Informationsanspruches zu verwenden ist aber verfehlt. Erstens stellt das Gericht auf den Geltungsbereich einer Norm und somit auf eine Berücksichtigung der Informationspflichten bei der Gestaltung einfachen Gesetzesrechts ab. Zweitens kann eine „prinzipielle Folgerung" nicht mit einem zwingenden Satz des öffentlichen Rechts gleichgesetzt werden. Das wäre aber Voraussetzung für die Anerkennung eines subjektiven öffentlichen Rechts. 165 Entscheidend ist aber schließlich folgendes : Es ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, subjektiv öffentliche Rechte zu begründen. Nur in Ausnahmefällen, also bei einem dringenden Bedürfnis, darf und vermag das BVerfG durch Grundrechtsauslegung solche Rechte abzuleiten.166 Im Falle der Stasi-Unterlagen besteht für die Anerkennung einer derartigen Ausnahme kein Anlaß, da der im StUG verbriefte Anspruch bundeseinheitlich die informationelle Versorgung der Medien sicherstellen soll. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe für die ablehnende Ansicht. Folglich kann aus Art. 5 12 GG unmittelbar kein Zugangs- und Verwendungsanspruch der Presse hergeleitet werden.

BStU keine politische Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Vielmehr wird der BStU „von Journalisten stark bedrängt; 10-30 von ihnen seien ununterbrochen da. Es sei eine friedliche Belagerung. Das bedeute, daß jede Äußerung, jede Nichtäußerung zur Information gemacht werde."; Stellungnahme des BStU zu TOP 1 der 11. Sitzung des BT-InnenA-UA, ebenda Prot. (11. Sitzung), S. 11. 164 BVerfGE 20, 162 (175f.). Darauf rekurrieren im Falle des StUG auch: Gounolakis/ Vollmann, AfP 1992, 36 (40) dort: Fn. 30. 165 Vgl. Wente, S. 38 (dort: Fn. 100); BVerwG, AfP 1985, 72 (73). 166 Eine solche Ausnahmesituation bestand zum Beispiel, als es um die Ausgestaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ging.

2 6 2 5 . Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

2. Folgerungen Da es aus Art. 5 I GG keinen durchsetzbaren rechtlichen Anspruch auf Information aus bzw. Zugang zu den Stasi-Unterlagen im Einzelfall gibt und ein vollständiger Ausschluß der Presse von den Unterlagen im Hinblick auf die von ihr zu erfüllende öffentliche Aufgabe nicht verhältnismäßig wäre, kommt nur noch ein einfachgesetzlicher Zugangs- und Verwendungsanspruch in Betracht. Der Staat ist lediglich aus Art. 5 I GG verpflichtet, über ein bloßes Abwehrrecht hinaus, die dort genannten Freiheiten zu sichern. Das mag im Prinzip dazu führen, daß zum Beispiel Auskunftspflichten der Behörden gegenüber der Presse bestehen. Diese wird man allerdings nur im Sinne einer allgemeinen Unterrichtungspflicht zu verstehen haben, über deren Umfang und Modalitäten die staatlichen Stellen eigenverantwortlich, aber nach Maßgabe der einfachen Gesetze, bestimmen können. 167 Damit taucht die Frage auf, ob sich die gesetzliche Regelung wenigstens an diese Mindestanforderungen des Art. 5 I GG hält. Dazu muß zunächst der Norminhalt näher untersucht werden.

II. Die Lage, die durch das StUG geschaffen worden ist 1. Die gesetzliche Regelung Nach der verabschiedeten Fassung des StUG können Presse, Rundfunk und Film bzw. deren Hilfsunternehmen oder die für sie journalistisch-redaktionell tätigen Personen Stasi-Unterlagen entsprechend den für die Forschung geltenden Vorschriften verwenden (vgl. § 34 I i. V. m. § 32 StUG). Auf ein entsprechendes Ersuchen des Medienorgans hin (vgl. § 19 II 2, III StUG) oder einer berechtigten Person stellt der Bundesbeauftragte folgende Unterlagen zur Verfügung: - Unterlagen, die keine personenbezogenen Informationen enthalten (Sachakten, Pläne etc.); § 321 Nr. 1 StUG. - Duplikate von Unterlagen, in denen die personenbezogenen Informationen anonymisiert worden sind; § 32 I Nr. 2 StUG. - Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über - Personen der Zeitgeschichte; Inhaber politischer Funktionen oder Amsträger in Ausübung ihres Amtes, soweit sie nicht „Opfer' 4 sind; - Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, soweit es sich nicht um Tätigkeiten für das MfS vor Vollendung des 18. Lebensjahres gehandelt hat; - Begünstigte des Staatssicherheitsdienstes (§ 321 Nr. 3 StUG).

167 Vgl. die ähnlichen Überlegungen des BVerwG, DVB1. 1966, 576.

3. Kap.: Die Rechte der Medien

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- Unterlagen mit anderen personenbezogenen Informationen, wenn die betreffende Person eingewilligt hat, wobei das Vorhaben und die durchführenden Personen in der Einwilligung bezeichnet werden müssen. Die Einwilligung muß dann beim Bundesbeauftragten vorgelegt werden (§ 3 2 1 Nr. 4 StUG). Die Verwendung bzw. Veröffentlichung der Unterlagen ist dann grundsätzlich zulässig, wenn die Einwilligung der betroffenen Person vorliegt oder es sich um eine Person der Zeitgeschichte handelt oder über einen „Täter" i. w. S. berichtet werden soll (vgl. § 32 I I I StUG). Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen vor, ist der Bundesbeauftragte verpflichtet, den Zugang zu den Unterlagen zu gewähren. Ein Ermessen hierbei hat er nicht. Ein ursprünglich vorgesehener Abs. 2 dieser Norm, der vorsah, daß der Bundesbeauftragte i m Benehmen mit dem Beirat zu entscheiden hatte, ob die Unterlagen zur Verfügung gestellt werden, ist während der zweiten Lesung des Gesetzes ersatzlos gestrichen w o r d e n . 1 6 8 Allerdings ist § 32 I I I StUG in der Weise zu interpretieren, daß eine Veröffentlichung von Informationen durch die Presse nur erfolgen darf, wenn diese Informationen vom Bundesbeauftragten nach § 32 I StUG zur Verfügung gestellt worden s i n d . 1 6 9 § 32 I I I StUG gibt keine Befugnis zur Verwendung von Unterlagen, soweit diese aus anderen irregulären Quellen stammen. Das ergibt sich schon aus der Systematik der §§ 34, 33, 32 S t U G . 1 7 0

168 Vgl. Reg-Ε, BT-Drucks. 12/1093, S. 14. Die Streichung erfolgte zur Klarstellung. Die Norm hatte zu MißVerständnissen Anlaß gegeben, vgl. zum Beispiel DER SPIEGEL, Nr. 45/ 1991, S. 23, wo kritisiert wird, daß die Gauck-Behörde über Anträge der Presse nach Ermessen entscheiden könne. In der Folgezeit hat dann der Abg. Thierse (SPD, MdB) innerhalb seiner Parteigremien die Forderung erhoben, die Entscheidung über die Herausgabe von Akten nicht mehr allein dem BStU zu überlassen, sondern zu diesem Zweck ein „neutrales" Entscheidungsgremium einzusetzen. Dieser Gedanke überzeugt jedoch nicht. Das Gesetz räumt dem BStU bewußt kein Ermessen ein. Solange es bei der Lösung einer gebundenen Entscheidung bleibt, kann die Entscheidung über die Übertragungsbefugnis auf ein Gremium auf das Ergebnis des Herausgabeverhaltens des BStU keinen Einfluß haben. Installiert man jedoch ein Gremium und räumt man ihm Ermessen ein (sog. polnisches Modell), so besteht die Gefahr eines drastischen Rückgangs der Antragsbearbeitung beim BStU. Einerseits ist nämlich vorhersehbar, daß ein aus mehreren Personen bestehendes Gremium bei einer Ermessensausübung erhebliche Schwierigkeiten haben wird, sich zu einigen. Andererseits müßte dieses Gremium die Arbeitsergebnisse der mehreren Tausend Mitarbeiter des BStU für seine Entscheidung nachvollziehen, einschließlich des damit verbundenen Aktenstudiums. Dies dürfte quantitativ unmöglich sein. Dem BStU ist vielmehr eine Aufgabe gestellt, die nur von einer Behörde zu leisten ist, in der jeder Mitarbeiter innerhalb der Hierarchie für seine Entscheidung verantwortlich ist. Bei der Entscheidung durch ein Gremium trüge dieses die gesamte Verantwortung für die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Antragsbearbeitung. Damit wäre es auch qualitativ überfordert. 169 Darnstädt hat daraus die Folgerung gezogen, daß die Presse bei einer Behörde einen Antrag stellen müsse, um etwas veröffentlichen zu dürfen, habe es noch nicht gegeben; vgl. Darnstädt, bei Wenzel, NJW 1992, 3217 (3218). 170 Streitig; ebenso wie hier: Stoltenberg, § 34 Rdnr. 7; a. A. Bork, ZIP 1992, 90 (101). Vgl. auch S/D, § 34 Rdnr. 3.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

a) Zugriffsbeschränkungen Das erste, was beim Lesen des § 32 StUG auffällt, ist ein Hinweis auf das Vertrauen des Gesetzes in den besonders verantwortlichen Umgang des Journalisten mit den Informationen, denn die Verwendung bzw. Veröffentlichung von Informationen steht unter dem Vorbehalt der Nicht-Beeinträchtigung überwiegend schutzwürdiger Interessen, vgl. § 32 I, III jeweils letzter Halbsatz StUG. Die damit erforderliche Interessenabwägung wird mindestens bei der Veröffentlichung von dem Journalisten selbst durchzuführen sein. Eine derartige Interessenabwägung ist aber inzwischen zum Standard geworden, wann immer bestimmte Publikationen das Persönlichkeitsrecht Dritter berühren könnten. Die spezifische Eigenart der StasiUnterlagen nimmt lediglich einen besonderen Stellenwert bei der Abwägung ein. Das Gesetz wollte dies nur klarstellen. Eine echte Zugriffsbeschränkung ist damit nicht verbunden. Es kommt nach wie vor auf das Abwägungsresultat im Einzelfalle an. 1 7 1 Dabei kommt dem Zugang zu den Unterlagen bereits eine gewisse Indizwirkung zugunsten einer späteren Veröffentlichung zu, da die personenbezogenen Kriterien in § 32 I und § 32 III StUG ähnlich ausgestaltet sind, und der Bundesbeauftragte vor einer Einsicht durch die Presse das fragliche Material zunächst selbst durchsieht, um die Zugriffstauglichkeit zu beurteilen. Der Zweck der Veröffentlichung, den das Presseorgan verfolgt, muß bei der Bewertung berücksichtigt werden. Unberücksichtigt bleiben muß aber, welchen Berichtsstil das Auskunft verlangende Presseorgan pflegt. Sonst könnte der Bundesbeauftragte nämlich in einer Art Belohnungs- bzw. Bestrafungsprinzip der marktschreierischen Sensationspresse Informationen verweigern oder nur dann zusprechen, wenn diese künftig „seriös" berichtet. Damit würde die Möglichkeit gegeben, Pressevertreter für die Art ihrer Berufsausübung zu sanktionieren. Der BStU könnte dann Einfluß auf den Inhalt von Presse Veröffentlichungen nehmen. Dies wäre aber unvereinbar mit dem Institut einer freien Presse. Festzuhalten bleibt, daß § 32 StUG keine über die üblichen Beschränkungen hinaus gravierenden Schranken der Verwendung bzw. Veröffentlichung hinaus aufstellt. Beachtet werden müssen aber die besonderen Grenzen des Nachteilsverbots (§ 5 StUG) sowie die durch § 44 StUG gezogene Grenze strafbaren Handelns und das prinzipielle Recht desjenigen, über den berichtet wird, sich durch eine Gegendarstellung zur Wehr zu setzen. Der letztere Aspekt ist für die Rundfunkanstalten des Bundesrechts ausdrücklich in § 34 II StUG angesprochen.

171

Α. A. Gounolakis, DtZ 1993, 307, der annimmt, daß das Gesetz an dieser Stelle gar keine Einzelfallabwägung erlaube, sondern dem Persönlichkeitsrecht der Opfer Vorrang einräume. Diese Sichtweise läßt sich aus § 32 StUG i. V. m. § 34 StUG aber nicht herauslesen. Krit. aus dem umgekehrten Blickwinkel, Kriele, NJW 1994, 1897 (1903), der das Vertrauen in den journalistischen Berufsethos erschüttert sieht. Zugleich folgert er (a. a. O.), man habe den „Pranger" wieder eingeführt.

3. Kap.: Die Rechte der Medien

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b) Einsicht Der Zugang zu den MfS-Unterlagen wird dem Presseorgan in der Weise eröffnet, daß es in den Diensträumen des Bundesbeauftragten Einsicht nehmen kann. 172 Eine Zusendung der Unterlagen an die Antragsteller unterbleibt, damit die Kontrolle des Bundesbeauftragten über das Material gewahrt ist. Grundsätzlich findet die Einsicht in Originalunterlagen statt, es sei denn (§ 33 II StUG), das Material ist in einem so schlechten Zustand, daß nur die Einsicht in ein Duplikat möglich erscheint, um das Original zu erhalten. Die Einsichtsmöglichkeit ist beschränkt auf das bereits erschlossene Material, da es schon aus praktischen Gründen keine Suchpflicht des Bundesbeauftragten abseits der planmäßigen Erschließung geben kann.

c) Herausgabe Nach der anfänglichen Fassung des § 32 StUG stand die Herausgabe von Unterlagen im Ermessen des Bundesbeauftragten; diese Herausgabebefugnis wurde jedoch im Hinblick auf die Interessen der Medien in eine Herausgabepflicht umgewandelt. Jeder nach § 19 II StUG i. V. m. §§ 33, 34 StUG zulässige Antrag soll einen Anspruch auf Herausgabe der Unterlagen ergeben, die in § 32 I StUG angesprochen sind. 173 Rein formal ist der Herausgabeanspruch an das Bestehen des Einsichtsrechtes gebunden, und nach der Formulierung des Gesetzes („können", vgl. § 33 III StUG) scheint eine förmliche Ermessensausübung seitens des Bundesbeauftragten erforderlich zu sein. Jedoch ist die Norm insoweit mißverständlich formuliert; gemeint ist eigentlich nur, daß dann auf Verlangen Duplikate der Unterlagen her ausgegeben werden dürfen, wenn die Voraussetzungen der Einsichtnahme vorliegen. Die Befugnis, Einsicht nehmen zu dürfen, soll also mit der Befugnis, Duplikate dieser Unterlagen erhalten zu dürfen, korrespondieren.

172 Stoltenberg, § 33 Rdnr. 5 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Gesetz an dieser Stelle keine Auskünfte vorsehe, die aber verhältnismäßigerweise zulässig sein müßten. Im Hinblick auf die gesetzliche Zweckbindung für die Einsicht in und Herausgabe von Unterlagen hält er dies für ein Versehen des Gesetzgebers. Dazu ist zu sagen, daß ein Medienorgan sich nicht mit einer behördlichen Auskunft zufriedengeben wird, wenn es sich selbst aus erster Hand informieren oder gar Duplikate erhalten kann. Das Fehlen einer Auskunftsregelung ist daher ohne praktische Relevanz. 173

Vgl. Stoltenberg, § 32 Rdnr. 3 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung. Nicht ganz so deutlich: das StUG (vgl. § 33 III StUG). Der angenehme Nebeneffekt dieses Verständnisses ist, daß jede ernsthaft an der Aufarbeitung interessierte Person oder Stelle auf die Unterlagen zugreifen kann.

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

d) Sonderproblem: „ Vagabundierende " Unterlagen Es fragt sich, wie es mit der Verwertung derartigen Materials aussieht. Rein begrifflich unterliegen diese Unterlagen nicht dem StUG. 174 Daher können personenbezogene Informationen aus diesen Unterlagen grundsätzlich nach den allgemein geltenden rechtlichen Maßstäben für die journalistische Arbeit verwendet werden. Jedoch muß auf dem besonderen grundrechtlichen Hintergrund des Gesetzes eine verfassungskonforme Interpretation dieser Maßstäbe stattfinden, die sich zumindest an der Systematik und dem Telos des StUG zu orientieren haben wird. Mithin wird zu fragen sein, ob Teile des StUG auf dieses „vagabundierende" Material, an dessen abschließende Regelung der Gesetzgeber ersichtlich zunächst nicht gedacht hat, analog anzuwenden sind, denn das „vagabundierende" Duplikatmaterial ist seinem Inhalt nach ebenso persönlichkeitsrechtswidrig wie das Originalmaterial. Unter diesem Gesichtspunkt ist festzuhalten, daß inzwischen eine Herausgabepflicht gem. den §§ 8, 9 StUG für solche Duplikate seitens der Presse besteht. Die Anzeige- und Herausgabepflicht wurde, wenn auch unausgesprochen, mit Blick auf die Unterlagenduplikate in den Händen der Medien verabschiedet. Das ist nicht unproblematisch. Zwar sind solche Unterlagen teilweise von bestimmten Presseorganen aus zweifelhaften Quellen für viel Geld eingekauft worden. Aber das muß unberücksichtigt bleiben. Es wäre nämlich mit der Pressefreiheit unvereinbar, wenn journalistisches Recherchematerial ohne weiteres in staatliche Obhut übernommen werden dürfte, wo doch selbst die publizistische Verwendung rechtswidrig erlangter Informationen prinzipiell erlaubt ist. 1 7 5 Auch § 44 StUG setzt einer Verwendung keine Grenzen, da die analoge Anwendung materiellen Strafrechts, und um solches handelt es sich, unzulässig ist.

174 Vgl. 3. Teil, 1. Kapitel, I., 4. Die Einführung der Anzeige und Herausgabepflicht für das Material hat daran nichts geändert, denn die Definition der Stasi-Unterlagen in § 6 I StUG ist unverändert geblieben, vgl. diesen Umstand bedauernd: Stoltenberg, DtZ 1994, 386 (390). 175 Vgl. BVerfGE 66, 116 (137f.); allerdings bedarf es dann einer besonders sorgfältigen Interessenabwägung anhand strenger Kriterien; ebenso: Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (38); Kloepfer, S. 53. Α. A. ist der BMI, S. 3f. der Stellungnahme an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages vom 08. 10. 1991 - Ο I 5-191 081/3 - . Dort heißt es wörtlich: „Schließlich ist für die Fälle der Veröffentlichung unbefugt erlangter Stasi-Unterlagen folgender Gesichtspunkt zu beachten: Die durch den fortdauernden, unbefugten Besitz solcher Dokumente überhaupt erst ermöglichte Veröffentlichung von Informationen stellt - im Gegensatz zu dem von BVerfGE 66, 116ff. entschiedenen Fall 'Wallraff - nicht etwa nur die Ausnutzung einer in der Vergangenheit liegenden, abgeschlossenen widerrechtlichen Handlung (Beschaffung der Stasi-Unterlagen) dar; sie steht vielmehr als solche im Widerspruch zur Eigentums- und Besitzrechtslage und ist damit als Perpetuierung eines rechtswidrigen Zustandes anzusehen. Dies dürfte die Grenzen dessen, was den betroffenen Stasi-Opfern im Hinblick auf das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und die grundrechtlich geschützten Belange der veröffentlichenden Presseorgane zumutbar ist, noch weiter herabsetzen."

3. Kap.: Die Rechte der Medien

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Durchaus einer analogen Anwendung zugänglich sind aber die §§ 5 I und 32 III StUG. Unabhängig davon, wer das „vagabundierende" Material dem Medienunternehmen überläßt, ist seine Brisanz ebenso hoch wie die der Originale. Wenn aber schon Original-Material nicht zur unbeschränkten Veröffentlichung bereit steht, dann erst recht nicht vagabundierendes Material, das sogar nach der Stasi-Logik nicht existieren dürfte. Betroffene und Dritte sind zum Beispiel ebenso schutzwürdig im Hinblick auf diese Unterlagen wie auf das Original-Material. Das rechtfertigt die analoge Anwendung dieser Normen. Sie bilden die unüberschreitbare Grenze für die Verwendung solchen Materials. 176 Nichts anderes ergibt sich auch aus § 3 II StUG. Zwar ist in dem Fall, daß Personen, die das Material von dem Bundesbeauftragten berechtigterweise bekommen haben, dieses an die Presse geben, die bloße Weitergabe für sich noch nicht geeignet, schutzwürdige Belange Dritter zu beeinträchtigen. Aber ebenso, wie die Presse nicht verpflichtet ist, überlassenes Material zu veröffentlichen, kann sie sich umgekehrt nicht der Notwendigkeit zu einer eigenen Interessenabwägung unter Hinweis auf die Überlassung entziehen. Sowenig wie die Weitergabe die Veröffentlichung garantiert, garantiert die Berechtigung der Weitergabe auch die Berechtigung der Veröffentlichung. Die Schranken, die das Persönlichkeitsrecht setzt, tauchen effektiv erst bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Veröffentlichung auf. Und dann gilt: Wenn selbst die berechtigte Weitergabe von Stasi-Unterlagen im Sinne des Gesetzes nicht automatisch zur Veröffentlichung berechtigt, kann der rechtswidrig erlangte Besitz schon gar nicht privilegiert, das heißt nach allgemeinen Grundsätzen behandelt werden. Insoweit kann die illegale Erlangung des Materials durchaus berücksichtigt werden, um zu konstatieren, daß eine Besserstellung im Unrecht nicht stattfindet. Auch der Hinweis auf § 4 I StUG führt hier nicht weiter. Erstens betrifft die Norm einen anderen Fall. Opfer und Täter, die ihre Unterlagen der Presse von sich aus vorlegen, werden dies selten tun, um selbst daraus Nachteile zu haben. Zweitens steht man hier nicht allein vor dem Problem, das Gesetz im Lichte der Pressefreiheit auszulegen. § 4 I StUG ist der Sache nach auf die Auflösung eines Konkordanzproblems zugunsten der vorgesehenen Verwendung gerichtet. Jedenfalls dann, wenn die Person ihre Unterlagen freiwillig vorlegt, um sie verwenden zu lassen, soll der Persönlichkeitsschutz zum Beispiel hinter der Presse-/Rundfunkfreiheit zurücktreten. Das ist aber bei dem „vagabundierenden" Material gerade nicht der Fall, da Opfer und Täter meistens gar nicht wissen werden, wo und wieviele Unterlagen sich außerhalb der Behörde des Bundesbeauftragten befinden. 177

176 Ebenso im Ergebnis: Stoltenberg, DtZ 1992, 65 (68, 71); Α. A. wohl: Eberle, DtZ 1992, 263 (264f.); vgl. auch Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (38). Ein absolutes Verwendungsverbot für diese Unterlagen ist jedenfalls verfassungswidrig; vgl. Sedelmeier, bei Wenzel, NJW 1992, 3217 (3218). 177 Das übersieht Eberle, DtZ 1992, 263 (265).

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

2. Zwischenergebnis Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die Medienregelung gemessen an den allgemeinen Grundsätzen des Presserechts recht großzügig ausgefallen ist. Allerdings sind unter verschiedenen Aspekten verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelungen des § 34 i. V. m. § 32 StUG geltend gemacht worden. Diesen soll nun nachgegangen werden.

I I I . Die Verfassungsmäßigkeit der Medienregelung 1. Prüfungsmaßstab: Art. 5 12 GG Wenn man richtigerweise einen verfassungskräftigen Zugriffsanspruch der Presse ablehnt, fragt es sich, was dann noch im Zusammenhang mit Art. 5 12 GG geprüft werden soll. Es scheint ja bereits an einem Betroffensein des Schutzbereichs zu fehlen. Das ist aber ein Fehlschluß. Es steht zur Debatte, ob der Gesetzgeber den aus dem „SPIEGEL-Urteil" resultierenden Mindestunterrichtungspflichten genügt hat. Dabei ist das Betroffensein des Schutzbereichs bereits dadurch impliziert, daß der Gesetzgeber in § 34 I StUG ausdrücklich Regelungen für den Medienbereich treffen wollte, die auf diese Frage abzielen. Durch die Statuierung des einfachgesetzlichen Zugangs- und Verwendungsanspruchs hat der Gesetzgeber diese Pflichten ausgestalten wollen und damit in den Schutzbereich des Art. 5 12 GG eingegriffen. Dieser Eingriff würde das Grundrecht dann verletzen, wenn er nicht durch eine Grundrechtsschranke gedeckt wäre. Als Schranke der Pressefreiheit kommen hier allein die allgemeinen Gesetze in Betracht. Dann lautet die nächste Frage, ob das StUG die Anforderungen an ein allgemeines Gesetz erfüllt.

2. Das StUG als allgemeines Gesetz Bevor man sich darüber Gedanken macht, ob das StUG ein allgemeines Gesetz ist, muß man zunächst darstellen, was ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 II GG sein soll. Im einzelnen ist bei der Auslegung dieses Begriffes vieles noch nicht geklärt. Aus Art. 19 I S. 1 GG und aus einem Vergleich des Wortlauts des Art. 5 II GG mit anderen Grundrechtsartikeln, die einen thematisch nicht beschränkten Gesetzesvorbehalt enthalten, sowie den beiden anderen Schranken des Art. 5 II GG ist zu folgern, daß die Bedeutung des Wortes „allgemein" nicht bloß in der formellen Einschränkung bestehen kann, ein Eingriff setze ein generell-abstraktes Gesetz voraus. Vielmehr beinhaltet das Adjektiv „allgemein" eine materielle Einschränkung. Welcher Art diese Einschränkung ist, ist problematisch. Möglicherweise ist der Begriff der „allgemeinen Gesetze" so zu umschreiben, daß alle Gesetze, die nicht Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit enthalten, oder

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solche Gesetze, die dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen, oder schließlich alle Gesetze, in denen das geschützte gesellschaftliche Gut höherrangig ist als die Meinungsfreiheit, darunter fallen. 178 Diese vage und teils gewundene Formulierung macht schon deutlich, wie schwer es ist, zu einer positiven Definition dieses Begriffes zu gelangen. Negativ läßt sich der Begriff des allgemeinen Gesetzes jedenfalls dahingehend umschreiben, daß ein allgemeines Gesetz nicht vorliegt, wenn dieses Gesetz sich gegen eine bestimmte Meinung richtet oder sich, ohne eine bestimmte Meinung treffen zu wollen, nur im Schutzbereich von Art. 5 I GG auswirkt, also sich nur gegen die Presse und nicht gegen jedermann richtet.179 Diese NegativFormel ist nun auf das StUG anzuwenden. Es ergibt sich, daß das StUG (hier: § 34 I i. V. m. § 32 StUG) um einen Ausgleich zwischen verschiedenen Verfassungsschutzgütern bemüht ist. Das Gesetz richtet sich also nicht gegen eine bestimmte Meinung, sondern will jede Presseäußerung, die eine gewisse Grenze überschreitet, beschränken. Dabei ist die Regelung nicht nur auf den Bereich der Presse, Art. 5 I GG, beschränkt, sondern richtet sich ursprünglich an die Wissenschaftsfreiheit. Der Medienbereich ist nur über eine Verweisung (§ 34 I StUG) hinzugenommen worden. Der Sache nach muß man beide Grundrechte strikt trennen. 180 Es geht hier darum darzulegen, daß sich § 32 StUG nicht nur im Bereich der Presse auswirkt. Jedermann, der zu den gesetzlichen Zwecken Zugang zu den Unterlagen sucht, unterliegt denselben Beschränkungen. Mithin ist das StUG ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 II GG. 1 8 1 3. Die Wechselwirkungsprüfung Nach der Rspr. des BVerfG findet zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 12 GG und den „allgemeinen Gesetzen" eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die allgemeinen Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht be178 Vgl. zum Beispiel BVerfGE 50, 234 (240f.); 54, 108 (115ff.); BGHZ 76, 55 (67). 179 Vgl. BVerfGE 21, 271 (280). ι 8 0 Insbesondere darf nicht der Eindruck entstehen, im Hinblick auf die urspr. Zielrichtung des Gesetzes (Art. 5 III GG) sei ein Rückgriff auf die allgemeinen Gesetze i. S. d. Art. 5 II GG möglich. Schon die Reihenfolge der Absätze und die Bezugnahme der Schrankenregelung lediglich auf Art. 5 I GG („dieser Rechte") sprechen gegen die Übertragung des Art. 5 I I GG auf die Rechte aus Art. 5 III GG. Auch ist aus der Entstehungsgeschichte des Art. 5 III GG nicht zu erkennen, daß der Verfassungsgeber die Freiheitsrechte des Art. 5 III GG als Unterfall der Meinungs- bzw. Pressefreiheit ansehen wollte. Vielmehr betont das BVerfG, daß Art. 5 III GG gegenüber den Rechten aus Art. 5 I GG als lex specialis ausgewiesen sei; vgl. BVerfGE 30, 173 (191); E 47, 327 (396f.); vM-v.Münch, Art. 5 Rdnr. 63f. 181 Vgl. Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (40); dies gilt auch für die §§ 7 ΠΙ und 9 StUG, Vgl. dieselben, a. a. Ο. (39). Vgl. auch BMI, S. 2 der Stellungnahme gegenüber dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages vom 08. 10. 1991 - Ο I 5-191 081 / 3 - .

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5. Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

grenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.182 Insoweit ist also eine Güterabwägung zwischen dem Grundrecht der Pressefreiheit und anderen gleich- oder höherwertigen Interessen, die durch das einschränkende Gesetz geschützt werden sollen, erforderlich. Hier wird man nun nach dem Inhalt des Materials differenzieren müssen, auf das die Presse zugreifen oder das sie verwenden möchte. a) unter dem Opferaspekt Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über Betroffene und Dritte dürfen nur mit schriftlicher Einwilligung der fraglichen Person überhaupt zugänglich gemacht werden (§ 32 I Nr. 4 StUG). Dieses deutliche Abwägungsresultat, welches direkten Eingang in das Gesetz gefunden hat, folgt einer konsequenten Opferschutzperspektive. Die Pressefreiheit tritt dahinter vollständig zurück. In diesem Zusammenhang hat Schuppert eingewandt, eine Abwägung, die eines der beiden widerstreitenden Rechtsgüter vollständig zurücktreten lasse, sei keine „gute" Abwägung. 183 Erst wenn beide Rechtsgüter zu einem Ausgleich gebracht würden, der beide zur Geltung kommen ließe, sei wirklich konflikt- und bereichsspezifisch abgewogen worden. Demnach müsse das „Blockadeargument" des Persönlichkeitsschutzes durch eine verfassungskonforme Reduktion auf ernsthafte Verletzungen des Persönlichkeitsrechts beschränkt bleiben, damit „Licht ins Dunkel der Stasi-Vergangenheit" gebracht werde. 184 Vom theoretischen Ansatz her ist Schuppert recht zu geben. Allein in faktischer Hinsicht ist ein derartiger Ausgleich nicht zu realisieren. Die Presse, die dann ein „bißchen" Stasiopfermaterial veröffentlichen dürfte und ein „bißchen" verschweigen müßte, würde nur unvollständig berichten. Der ursprüngliche Kontext des Unterlagenmaterials ginge verloren, und die Berichterstattung wäre als Halbwahrheit einzustufen. Hier kann deshalb die Devise nur lauten: ganz oder gar nicht. Dabei kommt die Überlegung hinzu, daß es jedem einzelnen Opfer selbst überlassen bleibt, wie es seine Unterlagen aufarbeiten will. Gerade solche Personen, die unter dem MfS in welcher Form auch immer gelitten haben, sollen prinzipiell nicht vom Staat zum Gegenstand einer sensationshungrigen Presse gemacht werden. Daher ist es nur konsequent, wenn der Zugang zu personenbezogenen Opferinformationen Presse und Wissenschaft versperrt bleiben. Es sei denn, die betroffene Person hat hierin eingewilligt. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß das Opfer als Person der Zeitgeschichte eingestuft werden muß (vgl. § 32 I Nr. 3 StUG). 185 Zwar ist das Persönlichkeitsrecht solcher Men182 So: BVerfGE 7, 189 (208) - Lüth-Urteil-; BVerfGE 64, 108; BVerfGE 71, 206 (214); BVerfGE 82, 272 (280). 183 Schuppert, AfP 1992, 105 (107) aus Sicht der Pressefreiheit; ebenso - nur unter dem Blickwinkel des Ehrenschutzes: Kriele, NJW 1994, 1897 (1898). 184 Schuppert, a.a.O. (111).

185 Zur Klarstellung: Es handelt sich um Personen der Zeitgeschichte, die zur DDR-Zeit die Voraussetzungen einer derartigen Person erfüllten und nicht um solche Personen, die ge-

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sehen grundsätzlich geringer einzustufen, da sie sich freiwillig in die Öffentlichkeit begeben haben. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß dies auch im Hinblick auf das Stasi-Material gilt. Denn soweit ihre Person Gegenstand des Interesses des MfS geworden ist, hat sie sich nicht in die Öffentlichkeit begeben, um MfS-Opfer zu werden. Da die Tätigkeit des MfS im übrigen darauf ausgerichtet war, alles über eine Person zu erfahren, also auch den innersten Kreis der Persönlichkeit auszuloten, müßte überdies wieder differenziert werden nach dem Material, das veröffentlichungsfähig und nicht dazu fähig ist; 1 8 6 auch Personen der Zeitgeschichte sind kein „Freiwild der Medien". Sie bleiben Opfer und sind daher genauso schutzwürdig wie jeder andere Betroffene oder Dritte. Andernfalls wären einer unsachgemäßen Berichterstattung Tür und Tor geöffnet. 187 Die Eigenschaft, Person der Zeitgeschichte zu sein, vermag im Einzelfall die fehlende Einwilligung einer Person für die Veröffentlichung aus Stasi-Unterlagen zu ersetzen. Das Postulat der eigenverantwortlichen Aufarbeitung und die Notwendigkeit des Opferschutzes rechtfertigen aber die Ausnahme von Betroffenen und Dritten. Sicher hätte man sich auch über verwendungsfreundlichere Kriterien Gedanken machen können. Entscheidend ist aber, daß das Gesetz so nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden ist. Was bei Betroffenen und Dritten für den Zugang zu den Unterlagen gilt, gilt entsprechend auch für die Veröffentlichung (§ 32 III Nr. 1 StUG). Folgerichtig ist auch hier die Einwilligung des Opfers erforderlich.

genwärtig solche der Zeitgeschichte sind. Insoweit überzeugend: Stoltenberg, § 32 Rdnr. 8. Ebenso: S/D, § 32 Rdnr. 11. Allerdings ist diese Frage im Gesetzgebungsverfahren nie erörtert worden. Α. Α.: Bork, ZIP 1992, 90 (92), Kloepfer, S. 63, die sowohl die Personen in der ehem. DDR als auch die in der heutigen Bundesrepublik einbeziehen wollen. 186 Gemeint ist eine Differenzierung nach dem Teil der Persönlichkeit, die der Zeitgeschichte zuzurechnen ist und dem Teil der Persönlichkeit, der die Privatsphäre betrifft. Es fragt sich allerdings, ob eine derartige Differenzierung überhaupt möglich ist. Nach Ansicht von Schmidt, im Gespräch mit dem Verfasser, soll eine solche sachliche Zäsur möglich sein. So lasse sich ζ. B. problemlos abgrenzen, ob ein Abg. vom MfS bei einer politischen Rede beobachtet worden sei (Zeitgeschichte) oder bei einem außerehelichen Liebschaftsverhältnis (Privatsphäre). Die Verwendung und Verwertung des Materials soll dann - je nach Sphäre den entsprechenden StUG-Vorschriften unterliegen. Der Ansatz von Schmidt überzeugt aber nicht. Er übersieht, daß es Wechselwirkungen zwischen der Privatsphäre und der zeitgeschichtlichen Dimension gibt. So dürfte die „Bettgeschichte" nicht ohne Einfluß auf die „Zeitgeschichte" bleiben, da die fragliche Person hierdurch erpreßbar wurde. Auf die Nutzung solcher Wechselwirkungen - Nutzung persönlicher Gewohnheiten im Hinblick auf die Eigenschaft im öffentlichen Leben zu stehen - verstand sich das MfS meisterhaft. 187 Das übersehen Gounolakis/Vollmann, AfP 1992, 36 (40), wenn sie behaupten, es fände eine unzulässige Pauschalierung des Rechtsgüterausgleichs statt. Zutreffend dagegen: Kriele, NJW 1994, 1897(1898).

2 7 2 5 . Teil: Umgang mit den Unterlagen nach dem 3. Abschnitt des Gesetzes

b) unter dem Täteraspekt „Täterakten" mit personenbezogenen Informationen dürfen zugänglich gemacht werden, wenn nicht überwiegende schutzwürdige Interessen des Betreffenden beeinträchtigt werden (§ 32 III Nr. 2 a. E. StUG). Anders als bei den Opfern, wo die erforderliche Abwägung bereits vom Gesetzgeber durchgeführt wurde, weist das Gesetz hier auf die notwendige Abwägung lediglich hin. Was den Zugang angeht, so muß der Bundesbeauftragte abwägen; bei der Verwendung wägt das Presseorgan ab. Hier kommt der öffentlichen Aufgabe der Presse erhebliche Bedeutung zu. Die Frage nach der Verstrickung einzelner Personen, das heißt nach ihrer Tätereigenschaft, ist von erheblichem öffentlichen Interesse. Das gilt umso mehr, als in der Vergangenheit verschiedene Fälle bekannt wurden, in denen Personen des öffentlichen Lebens als Stasi-Zuträger entlarvt wurden. Der recherchierende Journalist muß hier ein gewichtiges Zugangs- und Verwendungsinteresse haben. Umgekehrt kann dann das Persönlichkeitsrecht des Täters nur bei sehr schwerwiegenden Beeinträchtigungen zum Tragen kommen. Das ist das Grundkonzept des Gesetzes. Schuppert 188 hat hierzu angemerkt, die gesetzliche Regelung sei für die „praktische Pressearbeit unbehelflich" und „realitätsfern". Die bisherige Berichterstattung über die Täter beruhe nicht auf den gesetzlich erlangten Informationen, sondern auf den vagabundierenden Unterlagen. Daher löse das Gesetz den Konflikt zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht an dieser Stelle nicht. Richtig daran ist, daß das Gesetz den Zugriff auf das Material nicht abschließend regelt. Die vagabundierenden Unterlagen sind nicht erfaßt. Deshalb muß die Regelung aber noch nicht ungeeignet sein, den Medieninteressen zu dienen. Auch beruht die Bedeutung des vagabundierenden Materials darauf, daß dieses zumeist in der StUG-losen Übergangszeit von den Medienorganen erworben wurde. Man kann den Gesetzgeber aber nicht dafür verantwortlich machen, daß es in der Übergangszeit eine fragwürdige Pressepraxis gab, die heute kaum noch gesetzlich faßbar ist. Die Kritik am Konzept des Gesetzes muß an einem anderen Punkt ansetzen, nämlich an dem „gebetsmühlenartigen Allgemeinplatz" von den überwiegend schutzwürdigen Interessen. In seiner Allgemeinheit taugt dieser Hinweis als Abwägungsformel wenig; er grenzt zum Beispiel die relevanten Interessen nicht aus. Soll beispielsweise jedes wirtschaftliche Interesse eines Täters, mag es auch noch bedeutsam sein, den Zugang der Presse ausschließen? Soll so die Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung und den demokratischen Neuaufbau in der ehemaligen DDR durch ein gewaltiges Affektionsinteresse der Täter behindert werden? Das Gesetz meint zwar das Persönlichkeitsrecht der Täter, drückt dieses aber nur sehr verschämt aus. Bei längerem Durchdenken der Problematik wird man sich auf eine Abwägungsformel zurückziehen müssen, die, der Gesetzesintention folgend, etwa wie folgt lautet: „Dient die Berichterstattung unter Veröffentlichung personenbezogener Informationen aus den Stasi-Unterlagen der Aufdeckung einer Mit188 Schuppert, a. a. O. (111).

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arbeit oder sonstiger Verstrickung mit dem MfS, oder sind die fraglichen Personen solche der Zeitgeschichte und besteht die Sorge, daß die aufgedeckte Zusammenarbeit mit der Stasi ohne diese Berichterstattung nicht oder nicht richtig aufgeklärt würde, so hat der Schutz des Persönlichkeitsrechts der betreffenden Person zurück