Die Kirche bei Theodosius Harnack: Ekklesiologie und Praktische Theologie 9783666571046, 9783525571040

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Die Kirche bei Theodosius Harnack: Ekklesiologie und Praktische Theologie
 9783666571046, 9783525571040

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Heinrich Wittram Die Kirche bei Theodosius Harnack

Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick

BAND 2

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Kirche bei Theodosius Harnack Ekklesiologie und Praktische Theologie

Von H E I N R I C H WITTRAM

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

M E I N E N ELTERN

Gedruckt mit Unterstützung der Theologischen Fakultät

der

Universität

Göttingen. — © Vandenhoeck & Ruprecht» Göttingen 1963. — Printed in Germany. — Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen 8129

Vorwort In unsere heutigen Bemühungen um ein reformatorisch bestimmtes Verständnis von Kirche und Amt, Gottesdienst und Kirchenrecht wirken die Positionen jener Väter hinein, die im vorigen Jahrhundert leidenschaftliche Auseinandersetzungen über die Ekklesiologie geführt haben. Bei unserer Frage nach dem bleibend Gültigen der damaligen Erörterungen hat man in den letzten Jahrzehnten, seit den ersten Zeiten des Kirchenkampfes, Theodosius Harnack, dem Vater Adolf von Harnadks, dank seiner evangelisch-reformatorisdien Bestimmtheit erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden begonnen. Die vorliegende Untersuchung will denen, die sich heute in Überlegungen und Gestaltungsvorsdilägen um die Kirdie mühen, Harnacks gesamte Arbeit an der „Oikodome" der Kirche zur Kenntnis und zur Prüfung übergeben. Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer InauguralDissertation, die der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen im Sommer 1960 vorgelegen hat. Dem Landeskirchen^ amt Hannover und Herrn Studiendirektor Henry Holze bin ich zu Dank dafür verpflichtet, daß sie mir während meiner Zeit als Studieninspektor des Predigerseminars Imbshausen die Fertigstellung dieser Untersuchung ermöglicht haben. Den Herren Herausgebern dieser Reihe sowie dem Verlage danke ich für die Aufnahme in die „Arbeiten zur Pastoraltheologie", der Universität Göttingen für die großzügige Unterstützung der Drucklegung. Herrn Professor D. Martin Fischer, D. D. schulde idi Dank für manchen guten Rat, der der Endgestalt dieser Arbeit zugute gekommen ist. Ein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor D. Dr. Martin Doerne, der seinerzeit als erster Theodosius Harnacks Bedeutung für die ecclesia pressa in Erinnerung gerufen und der das Entstehen und den Abschluß dieser Untersuchung mit mannigfacher Beratung und helfender Kritik begleitet hat. Clausthal-Zellerfeld, im Dezember 1962 Heinrich Wittram

Inhalt Einleitung

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Die Neubesinnung auf die Kirche im 19. Jahrhundert — Einflüsse der Romantik und der Erweckungsbewegung — Luthertum und Union — Diskussion über Kirche, Amt und Regiment — Korrelation von Kirche und kirchlichem Handeln bei Harnack — Die bisherige Literatur über Harnack — Die Methode der Arbeit im Grenzgebiet von Kirdiengesdiidite, Dogmatik und praktischer Theologie I.Hauptteil: Harnacks

Verständnis

im Rahmen seines theologischen

der Kirche und ihres

Handelns

Entwicklungsganges

1. Harnacks Jugend im Zeichen der Erweckung Einfluß der Brüdergemeine in St. Petersburg — Lutherische theologische Fakultät in Dorpat — Harnacks Lehrer — Reise nach Deutschland und Einflüsse der dortigen Theologie auf Harnacks erste Publikation 2. Die konfessionell-lutherische Konsolidierung der Theologie Harnacks , . . · . . . , Rüdekehr nach Dorpat — Einfluß von Fr. A. Philippi — Lehr- und Predigttätigkeit — Auseinandersetzungen um die Konfessionsfrage auf der livländischen Synode 3. Harnack und das livländische Herrnhutertum Herrnhut und Landeskirche in Livland — Harnacks Auseinandersetzung mit H. Plitt 4. Die Erlanger Wirksamkeit und die kirchlich-theologische Lage Deutschlands Die Erlanger theologische Fakultät — Harnacks theologische Publikationen — Stellung zu Löhe, zur nationalen Frage, zu Hofmann, zum Protestantenverein, zur Union in Preußen, zu den Altlutheranern, zu den Einheitsbestrebungen des Luthertums 5. Harnacks zweite Dorpater Wirksamkeit . Die neue Fakultät — Stellung zu A.v.Oettingen, zu M.V.Engelhardt, zu Ritsehl, zu Adolf Harnack — Die Rekonversionsfrage — Liturgisdie Arbeiten im Dienste der livländischen Synode — Die letzten Publikationen 7

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II. Hauptteil: Die

Kirdx

Kapitel 1 : Grundzüge des Kirdienverständnisses

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1. Die diristologisch begründete Objektivität der Kirche . . . . Das Entstehen des diristologisdien Ansatzes—Ansatz beim erhöhten Christus — Bedeutung der Inkarnation

47

2. Die Kirdie im Rahmen der heilsgeschichtlichen Entwicklung . Alttestamentliche und neutestamentlidie Epoche—Gesetz und Evangelium als Größen der Heilsgeschichte—Die Zeit der Kirdie zwischen Pfingsten und Parusie — Heilsgeschichtliche Entwicklung der Kirche — Kirche und Welt—Die Normen für eine Betrachtung derKirdiengeschidite — Die Epochen der Kirdiengesdiichte

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3. Die Wesensbestimmungen der Kirche Die Kirche als geistlicher Organismus — Communio sanctorum — Rechtfertigung und Kirche — Die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens und der Gnadenmittel — Unterscheidung von Kirche und Kirchentum — Wesen und Beruf der Kirdie — Der Begriff der „Anstalt"

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4. Das Problem der Siditbarkeit der Kirche Ecclesia visibilis und invisibilis — Wesentliche und „empirische" Kirdie — Kneditsgestalt der Kirche — Zugehörigkeit zur Kirdie: coetus credentium und coetus vocatorum

62

5. Die Kirche des Bekenntnisses Einzelglaube und kirchlicher Glaube — Die Substanz des Bekenntnisses als Bestandteil der Kirche—Bekenntnissubstanz und Bekenntnisform — Konfessionelle Ausrichtung der Harnacksdien Theologie 6. Konfessionalität und Kircheneinheit Einheit der Kirdie — Katholizität der Kirche — Das Problem der Konfessionen

67

Kapitel 2: Die notae ecclesiae . .

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1. Die Bedeutung des Wortes Gottes für die Kirche Die Gnadenmittel — Das Wort Gottes — Wort und Predigt — Das Verhältnis des Wortes zur Kirdie im Unterschied vom Verhältnis der Sakramente zur Kirche — Die Gefahr einer Reduktion der Bedeutung des Verbum Dei

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2. Die Bedeutung der Sakramente für die Kirche . . . . . . . a) Taufe und Kirche Die Taufe als sacramentum initiationis — Ablehnung einer Definition der Kirdie als „Gemeinde der Getauften" — Die Taufe als sacramentum fidei — Kindertaufe — Die Taufe als Sakrament der ecclesia late sic dicta b) Abendmahl und Kirdie Das Abendmahl als sacramentum confirmationis — Abendmahl und Glaube — Das Abendmahl als nota professions — Das Abendmahl als Sakrament der ecclesia stricte sic dicta — Das Abendmahl als vinculum unitatis und die Frage der Abendmahlsgemeinsdiaft

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Kapitel 3 : Das Amt der Kirche

92

Apostolizität des Amtes — Sdieidung von Amt und Person — Das Amt kein Stand, sondern ein funktionales Amt Christi — Amt als Dienst — Amt und allgemeines Priestertum (die Ablehnung der Ubertragungstheorie Höflings) — Amt und Kirdie — Unterscheidung von Amt und Amtstum — Problematik der Unterstheidung von ministerium und ordo im Blick auf Vokation bzw. Ordination — Amt und Ämter der Kirche III. Hauptteil: Die Lebensfunktionen

der Kirche

Kapitel 1 : Der Ansatz der Praktischen Theologie aus den ekklesiologisdien Voratissetzungen

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Die Kirchlichkeit der Theologie — Ausriditung der ganzen Theologie auf die Praxis — Die „Praktische Theologie" — Grundsätze kirchlidier Selbsterbauung — Der praktisch-theologische Ansatz Harnacks im Zusammenhang der Geschichte dieser Disziplin (Schleiermacher, Marheineke, Nitzsch, Harless, v. Zezschwitz) Kapitel 2: Die unmittelbaren Ausprägungen kirchlidien Handelns .

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1. Der Vollzug der kirchlichen Gemeinschaft im Gottesdienst . . Der Gottesdienst zwischen Gnade und Glaube — Gottesdienst und Kirche: der Gottesdienst zwischen Rechtfertigung und Heiligung innerhalb der „wesentlichen" Kirche — Gottesdienst und „empirische" Kirche — Mißverständnisse des Gottesdienstes — Die Entwicklung innerhalb des Gottesdienstes im Blick auf seine entscheidenden Bestandteile — Subjekt des Gottesdienstes: Amt, Gemeinde und Gesamtkirche — Versiditbarung der kirchlichen Einheit in der Liturgie: das Kirchenjahr als Abbild kirchlicher Einheit über Zeiten und Räume hinweg

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2. Die seelsorgerliche Pflege und Leitung der Gemeinde . . . . Die diakonisdie Seelsorge in der Auseinandersetzung mit J. H. Wichern — Seelsorge und „Soziales"—Seelsorge und „empirische" Gemeinde — Seelsorge und Gottesdienst: das „intensive" Anliegen — Kirchenzudit als seelsorgerlidie Funktion

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3. Einladung und Hinführung zur Gemeinde Der Beginn der missionstheologischen Erörterungen im 19. Jahrhundert — Mission als Pflicht der Kirdie — Gründe für das Fehlen einer Missionstheologie bei Harnack — Fehlende Beziehung von Mission und Amt der Kirche — Mission und Katechese — Folgen für Harnacks ekklesiologische Begrifflichkeit

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Kapitel 3: Ordnung und Verfassung der Kirche I: das grundsätzliche Verständnis < . . 1. D a s theologische Verständnis der kirchlichen Ordnung . . . . a) Die Aussagen Harnacks von 1862 ff.: Die Kirchenordnung in der Spannung von Schöpfung und Glaube 9

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Abwehr einer rein pragmatischen und einer diristologisch-erlösungstheologisdien Begründung — Kirchenordnung zwischen Gesetz und Evangelium — jus divinum und jus humanum — Schöpfungstheologische Vermittlung? — Die Gefahren der Gesetzlichkeit und der Willkür — Die adiaphoristische Bewertung — Zurücktreten des Ansatzes bei den Gnadenmitteln zugunsten des Bekenntnisses b) Die Beurteilung des Verständnisses der Kirdienordnung unter Berücksichtigung der späteren Neuansätze Harnacks . . Die Problematik eines Ansatzes bei der „Schöpfungsordnung" — Harnades Betonung des Eigenrechts derKirdie—Berechtigung einer Beachtung des jus humanum als menschlicher Setzung 2. Kirdbenverfassung und Kirchenregiment a) Verfassung und Regiment nach Harnacks Lehre von 1862 ff. Strukturen der Kirchenverfassung—Verhältnis von Einzelgemeinde und Kirchenverband — Die Gefahr des „Independentísimas" — Das Kirchenregiment als ordnendes Organ — Scheidung von Amt und Regiment bei Harnack — Begründung aus den lutherischen Bekenntnisschriften b) Die Beurteilung des Verständnisses von Verfassung und Regiment unter Berücksichtigung der Aussagen Harnacks von 1889 Münters Kritik an Harnacks Interpretation der Bekenntnisschriften — Harnacks Intention: die Abwehr der altlutherisdien Position und die Warnung vor „geistlicher" Gesetzlichkeit — Gefahren der Harnackschen Scheidung von Amt und Regiment — Harnades Ansätze zu einer eigenständigen Kirchengewalt Kapitel 4: Ordnung und Verfassung der Kirche I I : die entscheidenden Einzelfragen 1. Der Neubau der Einzelgemeinde

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Die Forderung einer Unterscheidung von Abendmahls- und Taufgemeinde — Historische Vorläufer dieser Unterscheidung — Normen für die Aufnahme in die Abendmahlsgemeinde — Zweiteilung der Konfirmation — Kritik an Harnades Neubauplan — Spätere Eingrenzungen des Neubauprogramms durch Harnade 1889 2. Das Verhältnis von Kirche und Staat und das Programm der freien lutherischen Volkskirche Harnacks Kampf gegen Staatskirchentum — Die Beurteilung dieses Kampfes durch die Zeitgenossen — Das Programm der freien lutherischen Volkskirche — Positive Bedeutung der Harnadeschen Konzeption — Kritik an Harnade — Spätere Einschränkungen Harnacks 1889 Schluß ι Die Bedeutung des Verständnisses der Kirche und ihres Handelns bei Th. Harnack Bibliographie Th. Harnacks 10

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Einleitung In seiner „Geschichte der neuern evangelischen Theologie" hat E. Hirsch auf die eigentümliche Tatsache aufmerksam gemacht, daß im 19. Jahrhundert in einem über alle früheren Epochen der neuzeitlichen protestantischen Kirchengeschichte hinausgehenden Maße „die Kirche selber, ihr Wesen, ihre Aufgabe, ihre Gestalt und Ordnung, ihr Verhältnis zum Staat und zum allgemeinen Leben überhaupt" zum „Gegenstand, wo nicht gar Mittelpunkt theologischen und kirchlichen Urteilens und Handelns" geworden sei1. Einen äußeren Anlaß für diese Besinnung bildete die veränderte kirchliche Situation nach den Befreiungskriegen in Deutschland: die kirchliche Neuorganisation der deutschen Territorien zu Landeskirchen lutherischer oder konfessionell gemischter Prägung ließ die Fragen nach der Geltung des Bekenntnisses, dem Verständnis des Amtes und des Kirchenregiments in ihrer Beziehung zum Wesen der Kirche aufbrechen. Gleichzeitig ist die Besinnung auf die Kirche als Teil der allgemeinen Reaktion gegen die Aufklärung zu verstehen. An Stelle der staatlichen und kirchlichen Vertragstheorien der Aufklärungszeit, die ein individualistisches Menschenbild zur Grundlage hatten und mit ihrem Primat der naturrechtlichen Ideen von der Vernünftigkeit und Autonomie des Menschen die Tendenz zur Relativierung aller Maßstäbe in sich trugen, wurden nun die Gedanken der Romantik wirksam: das Streben nach Ganzheit, Geschlossenheit, Gemeinschaft mit der Tendenz zu innerer Verbindlichkeit. Diesem Streben entsprechend mußten die ekklesiologischen Begriffe der Aufklärungszeit durch andere ersetzt werden. Man spürte die Verpflichtung, Tendenzen entgegenzutreten, die das Wesen der Kirche in die völlige Unsichtbarkeit verweisen und die irdisch verfaßte Kirche auf die Ebene der „Gesellschaft" oder des „Vereins" stellen. Die stärksten Antriebe hat die kirchliche Neubesinnung aus dem Gedankengut der Erweckungsbewegung empfangen, die — theologisch repräsentiert vor allem durch Tholuck und Neander — eine entscheidende Verinnerlichung, eine Besinnung auf die zentrale Bedeutung von biblischer Offenbarung und persönlichem Glauben ermöglichte und in Abkehr von Rationalismus und Supranaturalismus zu einer neuen, leben1 E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie Bd. V, Gütersloh 1954, S. 145.

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digen Frömmigkeit führte 2 . Der Ansatz bei Offenbarung und Glaube ließ die Kirche von nun an als „Träger eines von Jesus Christus . . . ausgehenden und getragenen sich geschichtlich fortpflanzenden geistigen Gesamtlebens" verstehen. Zu dieser Sicht hat Schleiermacher entscheidend beigetragen 3 . Ernst Wolf hat nachgewiesen, daß dabei die ekklesiologisdien Begriffe corpus Christi und communio sanctorum unter Zuhilfenahme soziologischer Kategorien in starkem Maße romantisierend interpretiert wurden, wobei die eigentümliche Gemeinsamkeit von evangelischen und katholischen Theologen jener Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts beachtet sein will. Die Bedeutung der Romantik zeigt sich vor allem in der wichtigen Rolle, die die Organismusvorstellung für die neue Ekklesiologie besitzt 4 . H . Fagerberg hat daran erinnert, daß es sich bei dieser Vorstellung um eine Aufnahme biblischer, antiker und mittelalterlicher Gedanken handelt, die von Idealismus und Romantik unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit verschiedener Akzentsetzung neu interpretiert wurden. Der Organismusgedanke ermöglichte eine ebenso feste wie bewegliche Gestaltung der eigenen Systeme; man konnte in mehr idealistischer oder romantischer Weise 1. die Gemeinschaft dem Individuum gegenüber vorordnen; 2. den Gedanken des göttlich geordneten Miteinanders in Rechtskategorien ausprägen; 3. den Einheitsgedanken (Zusammenhang der Glieder untereinander) ausgestalten; 4. die Differenzierung der ungleichen Teile sehen; 5. den geschichtlichen Entwicklungsprozeß ins Auge fassen; 6. das Moment des Lebens, der lebendigen Aktivität aller Glieder als „Organe" des Ganzen hervorheben; 7. das Teleologische betonen5. Die geschichtliche Entwicklung jener Epoche der kirchlichen Neuorientierung zeigt, daß die romantischen Gedanken nicht in ihrer frühromantischen Ausprägung, wie sie in Schleiermachers auf einer spirituellen Geselligkeit ruhenden Kirchenbegriff der „Reden" 1799 ausgedrückt sind, sondern vorwiegend in der spätromantischen Form wirksam wurden, einer Form, die die Ganzheit und Geschlossenheit auf dem Wege organisatorischinstitutioneller Einheit zu verwirklichen suchte und dabei die Gedanken eines kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Konservativismus vertrat®. 2 Vgl·, dazu W. Eiert, Der K a m p f um das Christentum seit Schleiermacher und 3 E . H i r s d i , a.a.O. S. 151. Hegel, München 1921, S. 74 ff. 4 E . W o l f , Sanctorum communio, Erwägungen zum Problem der Romantisierung des Kirchenbegriffs, in: Peregrinado, München 1954, S. 279 ff. (bes. S.289). Vgl. W.Maurer, Der Organismusgedanke bei Schelling und in der Theologie der Katholischen Tübinger Schule, in: K u D 1962, S.202—216, und: D a s Prinzip des Organischen in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, ebd. S. 265—292. 5 Vgl. H . Fagerberg, Bekenntnis, Kirche und A m t in der konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts, Uppsala 1952, S. 18—21. ' F.Hedderich, Die Gedanken der Romantik über Kirche und Staat, Gütersloh 1941.

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Aus dem unterschiedlichen Grade und der variierenden Form der Rezeption von Romantik, Idealismus und Erweckung sowie aus den verschiedenen territorialen Gegebenheiten kirchlicher und politischer Art erklären sich die Differenzierungen innerhalb dieser neuen Orientierung an der Kirche. In mehreren Territorien Deutschlands war es zum Vollzug kirchlicher Unionen gekommen, in landeskirchlicher Form zuerst 1817 in Nassau und Preußen. Ausgelöst durch die Vereinigung konfessionell verschiedener Gebiete und bekräftigt durch die innere Erschütterung der napoleonischen Notzeit und das Erleben der Befreiungskriege sah man an verschiedenen Stellen die Chance, die seit der Reformationszeit lebendige Sehnsucht nach Annäherung, Versöhnung und Vereinigung der evangelischen Konfessionen zu verwirklichen7. Ist in diesen Unionen eine Erkenntnis der gemeinsamen biblisdien Grundlagen aller evangelischen Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts als Impuls kirchlicher Neuordnung zu erkennen — ermöglicht nicht zuletzt durch das in der Erwedkungsbewegung virulente Erbe des Pietismus — so hatte doch dieser Unionsgedanke von vornherein keineswegs die gesamte Erweckungsbewegung ergriffen. In den fast ausschließlich lutherischen Gebieten Mecklenburg, Hannover, Sachsen sowie in Kurhessen und Bayern entstand ein neues Luthertum, das sich den lutherischen Bekenntnissen verpflichtet wußte und sich neu auf die Geltung dieser Bekenntnisse besann. Auch diese konfessionelle Theologie war entscheidend geprägt durch die Erweckung. Ein Anstoß zu dieser Besinnung auf das Bekenntnis ging von den Thesen Claus Harms' 1817 aus, in denen er das lutherische Bekenntnis gegen den Rationalismus und gegen die im Entstehen begriffene Union in Preußen verteidigte. Die Bindung an die in der Bibel vermittelte Offenbarung, die Betonung von Wiedergeburt und Glaubenserfahrung und das Festhalten am überkommenen Bekenntnis gehörten für das neue Luthertum untrennbar zusammen. So verschieden die Antworten der konfessionellen Theologen auch ausfielen in der Frage, wie die Bekenntnisbindung im einzelnen zu verstehen sei, so sehr bestand doch Einmütigkeit in dem Bestreben, eine Relativierung des Bekenntnisses zu verhindern, eine Relativierung, die man bei Schleier7 Zu Entstehung und Wesen der Unionen siehe bes. Julius Müller, Die evangelische Union, ihr Wesen und göttlidies Redit, Berlin 1854; E. Foerster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche, 2 Bde., Tübingen 1905/06; E. Miilhaupt, D a s Werden der Union, in: Monatshefte für ev. Kirdiengesdiichte des Rheinlandes, 1956, S . 9 7 f f . Vgl. den Artikel „Union" von E.Mülhaupt in: E K L III, Sp. 1549ÍÍ. und die dort angeführte Literatur. — D a Theodosius Harnacks Denken in der Dogmatik (im Unterschied zu seinen Arbeiten im Bereich der Praktischen Theologie) vom zeitgenössischen Luthertum geprägt ist, liegt eine kirchenhistorisdie Darstellung der Unionskirchen außerhalb des dieser Untersuchung gesetzten Rahmens.

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mâcher und der von ihm abhängigen Vermittlungstheologie festzustellen sich genötigt sah8. Die Erkenntnis, daß eine Neuorientierung innerhalb der evangelischen Kirche eine Besinnung auf die Reformation des 16. Jahrhunderts verlangt, führte zu einer neuen Beschäftigung mit dem reformatorischen Erbe; einen wesentlichen Anstoß zu dieser Besinnung gab das Reformationsjubiläum von 1817. Wir finden vielerorts eine Neuentdeckung der Augsburgischen Konfession und — besonders in den folgenden Jahrzehnten — in theologischer und praktischer Richtung — von Luthers Schriften überhaupt. Seit 1852/53 begann man sich intensiv mit Luthers Kirchenbegriff zu beschäftigen, wie die fast gleichzeitigen Arbeiten von Höfling, Harless, Köstlin und Walther zeigen9. Obwohl die theologischen Gegensätze seit 1817 vielfach mit politischen und kirchenpolitischen Gegensätzen verflochten waren, ging es sowohl der konfessionellen als auch der vom Unionsanliegen durchdrungenen Theologie wesentlich um die Erneuerung des kirchlichen Lebens. Die neue Besinnung auf die Kirche bedeutete nicht nur eine theoretische Klärung, sondern vor allem eine Neubesinnung auf das Wesentliche des kirchlidien Auftrags und Handelns. Es entsprach daher der gemeinsamen Herkunft aus der Erweckungsbewegung, daß mit Schleiermacher und Claus Harms zugleich ein Neubeginn in der Geschichte der Praktischen Theologie einsetzte; die Praktische Theologie wurde durch Schleiermacher theologische Disziplin. Wie notwendig eine Klärung des Kirchenverständnisses war, zeigte sich — nach den bis ins Strukturelle reichenden Umwälzungen — besonders drängend an einer praktischen Frage, die grundsätzlicher Klärung bedurfte: an der Frage nach Verständnis und Praxis einer evangelischen Kirchenverfassung. In der preußischen Union hatte der Versuch einer verfassungsmäßigen Einheit auf agendarischem Wege die Bekenntnisfrage mit unerhörter Schärfe aufbrechen lassen. Der Kampf um das lutherische Bekenntnis, insbesondere die Abendmahlsfrage, führte zur altlutherischen Separation in Schlesien; die Auswirkung dieser Separation auf die konfessionell lutherischen Gebiete darf nicht zu gering bewertet werden. Aber die Verfassungsfrage und das darin enthaltene Problem des Kirchenregiments wurde nicht nur in Preußen, sondern ebenso in anderen Landeskirchen brennend. Die durch Stahls „Kirchenverfassung" von 1840 ausgelöste literarische Diskussion erhielt nach den Ereignissen von 1848 eine Intensität, die den geistigen, sozialen und politischen Erschütterungen des kirchlichen Rechtsgefüges entsprach. Es erschien eine Fülle von Beiträgen über das Wesen der Kirche und des Amtes, die 8 Vgl. H. Stephan, Gesdiichte der evangelischen Theologie seit dem deutschen Idealismus, Berlin 1938, S. 138ff.; E.Hirsch, a.a.O. S.231 ff., 491 ff. 8 Die Titel sind zusammengestellt bei H.Stephan, a.a.O. S. 151.

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Bekenntnisfrage und das Verhältnis zum Staat. Die besonders zahlreichen Beiträge von konfessionellen Lutheranern lassen die Tatsadie hervortreten, daß die konfessionelle Theologie nur in ihrer bewußten Bindung an das Bekenntnis, nicht jedoch in ihrem Kirchenverständnis eine einheitliche Größe war 10 . Gedanken der siegreichen politischen Restauration, die jede Form der Demokratie nur als revolutionäre Massenherrschaft betrachten konnten, bestärkten zumeist die offizielle Kirche und viele dezidiert konfessionelle Theologen in der Abwehr eines synodalen Gemeindeprinzips. Die hierin bei Stahls Institutionalismus anknüpfenden Neulutheraner gingen in ihrer Betonung der eng miteinander verbundenen „objektiven" Größen Amt und Regiment ζ. T. bewußt über Luther hinaus. Aus ganz verschiedenen politischen Verhältnissen ergab sich eine Gemeinsamkeit hierarchisch-kirchlicher Anschauungen, die außer von Stahl und Vilmar auch von Mündimeyer und Petri, Kliefoth und Löhe geteilt und wirksam vertreten wurden. Die bedeutendsten Gegner dieser Richtung waren seit 1850 die Erlanger Höfling und Hofmann. Die besonderen Verhältnisse Bayerns brachten es mit sich, daß Harless schon früh eine Mittelstellung einnahm, die für die vorliegende Arbeit noch von besonderem Interesse sein wird11. Die folgenden Ausführungen sollen sich einem nodi nicht genügend beachteten Vertreter dieser konfessionellen Theologie zuwenden und sein Verständnis der Kirche und ihres Auftrags im umfassenden Sinne des eingangs erwähnten Zitats von E. Hirsch untersuchen: Theodosius Harnack. Daß bei Harnack nicht eine rein systematisch-theologische Untersuchung über den Begriff der Kirche genügt, sondern das Gebiet des kirchlichen Handelns hinzugenommen werden muß, ergibt sich nicht nur aus der Tatsadie, daß Harnack während seines Lebens ständig systematisch- und praktisch-theologische Themen in gegenseitiger Durchdringung behandelt hat, die der Kirche und ihrem Amt, dem Gottesdienst und der Kirchenverfassung zugewandt sind. Wichtiger ist, daß bei Harnack diese Ineinssetzung von Wesen und Handeln der Kirche theologisch begründet ist. In seiner bedeutsamen Schrift von 1862 „Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment" schreibt er: „Beides, Wesen und Beruf der Kirche, bedingt sich gegenseitig: die Kirche erbaut sich nach außen und innen, als Ganzes und in den Einzelnen, indem sie sich als das betätigt, was sie ist und hat; und wiederum muß ihr solche Ausübung ihres Berufs dazu dienen, immer mehr zu werden, was sie ist, und zu empfangen, was sie braucht, um endlich zu erreichen, was sie werden soll und wird. So hat ihr Beruf seine Quelle, Kraft und Aufgabe in ihrem Wesen, und ihr 1 0 Vgl. H. Fagerberg, a.a.O. S. 22 f. Die theologischen Versdiiedenartigkeiten hat besonders Hirsch, a.a.O. S. 414 fi., herausgearbeitet. 1 1 Zu den Diskussionen in ihrer chronologischen Folge vgl. H. Fagerberg, a.a.O. S. 35 ff.; E.Hirsdi, a.a.O. S. 178 ff.

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Wesen gelangt wiederum zu seiner Vollendung erst durch allseitige Verwirklichung ihres Berufs." 12 Eine ausführliche Untersuchung über Harnacks Kirchenverständnis ist notwendig, weil dieser Fragenkreis bei ihm im Unterschied zu Vilmar, Löhe, Stahl, Harless, Kliefoth, Höfling noch überhaupt nidit zusammenhängend dargelegt worden ist. Theodosius Harnack ist fast ausschließlich als Interpret der Theologie Luthers gewürdigt und kritisdi befragt worden13. Der hier zugrunde liegende Fragenkreis ist bisher unter geringer Verwertung der Quellen fast nur in übergreifenden historischen Abrissen und damit verbundener Beschränkung auf Einzelfragen behandelt worden.Eine kurze Darlegung finden wir 1885 bei Reinhold Seeberg. Die eigentliche Zuwendung der Aufmerksamkeit auf Harnacks Kirchenverständnis setzte jedoch erst um das Jahr 1935 ein. Das Fundament dieser Aufmerksamkeit ist der von W. Philipps besorgte Neudruck der Schrift aus dem Jahre 1862 „Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment" im Jahre 1934. In den Jahren 1935 und 1936 erweckte Martin Doerne Harnacks Gedanken einer Gemeindesammlung zu neuem Leben; Alfred Adam rief 1938 seine Gedanken über die Volkskirdie erneut ins Bewußtsein, Georg Wehrung 1945 seinen Kirchenbegriff; aus Anlaß von Harnacks fünfzigstem Todestag würdigte Georg Merz 1939 seine Bedeutung für die lutherische Kirche14. In den Jahren des Kirchenkampfes erfuhr Harnacks Verhältnisbestimmung von Amt und Kirchenregiment lebhafte Erörterung, wie die Arbeiten von Harald Diem und W. O. Münter zeigen. In neuester Zeit ist durch H. Wehrhahn und W. Maurer Harnacks Stellung zum Kirchenrecht erneut erörtert worden15. Kurze Darlegungen über 1 2 Kirche, Amt, Regiment, § 50, S. 30 (diese Schrift wird im folgenden stets nach der neuen Ausgabe von 1947 zitiert). 1 3 O. Wölfl:, Die Haupttypen der neueren Lutherdeutung, Stuttgart 1938, S. 63 ff.; H . Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Heidelberg 1955, S . 4 7 f f . ; F. Kattenbusdi, Die vier Formen des Rechtfertigungsgedankens, ZsystTh 10. J g . 1933, S . 2 0 9 f f . ; R.C.Schultz, Gesetz und Evangelium in der lutherischen Theologie dies 19. Jahrhunderts, Berlin 1958, S. 133 ff. Eine 1930 gestellte Preisarbeit der theologischen Fakultät Halle über „Theodosius Harnacks und Hofmanns Verständnis der Versöhinungslehre Luthers" ist offensichtlich nidit bearbeitet worden (vgl. dazu Agnes v. Zahn-Harnadk, Adolf von Harnack, Berlin 1936, S. 16 Anm.2). 14 R . Seeberg, Studien zur Geschichte des Begriffes der Kirche mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche, Erlangen 1885, S . 2 2 4 f . ; M. Doerne, Ein Weg zur wirklichen Gemeinde, Theodosius Harnack zur Frage der Gemeindesammlung, in: Pastoralblätter, 77. J g . 1935, S. 513—526; ders., Neubau dier Konfirmation, Gütersloh 1936, S . 6 5 f f . ; A . A d a m , Nationalkirche und Volkskirche, Göttingen 1938, S. 158 ff.; G. Wehrung, Kirche nach evangelischem Verständnis, Gütersloh 1945, S . 9 2 f f . ; G . M e r z in: M P T h 1939, S.338—344. 15 H . D i e m , Die Autorität der Kirdienleitung und das vierte Gebot, in: EvTheol 1937, S . 3 7 9 f f . ; W.O.Münter, Die Gestalt der Kirche nach „göttlichem Redit" (Beitr. z. EvTheol 5, Kirche und Amt II, München 1941); ders., Begriff und Wirklichkeit des geistlichen Amtes (Beitr. z. EvTheol 21, München 1955, posthum hrsg. v. E . W o l f ) ;

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Harnacks Kirchenbegriff finden sich 1949 bei W. Schneemelcher unter dem Gesiditspunkt der Rezeption von CA VII im konfessionellen Luthertum des 19. Jahrhunderts, 1952 bei H . Fagerberg, der sich jedoch fast ausschließlich Stahl, Höfling und Kliefoth zuwendet, neuerdings bei A. Kimme und B. Uhlmann unter der Frage nach einer ökumenischen Kirchengemeinschaft. In liturgiegeschichtlicher Sicht hat H . Kressel, unter praktisch-theologischem Gesichtspunkt besonders A. D. Müller auf Harnacks Arbeiten hingewiesen16. Die vorliegende Untersuchung will sich als Beitrag zur Geschichte des Kirchenbegriffs und der Praktischen Theologie verstehen. Daraus ergeben sich zwei methodische Folgerungen: 1. Auf Grund der Korrelation von Kirchenbegriff und kirchlichem Handeln in Harnades Theologie bewegt sich die Arbeit im Grenzgebiet von systematischer und praktischer Theologie. Die Beschränkung auf diese Korrelation hat zur Folge, daß die Einzelaussagen Harnacks in den verschiedenen Teilgebieten der Praktischen Theologie nicht umfassend dargestellt und gewürdigt werden können; die mehr oder weniger zeitgebundenen Forschungsergebnisse oder die Anweisungen für das kirchliche Handeln selbst müssen gegenüber den grundsätzlichen, für das Kirchenverständnis bedeutsamen Erwägungen weitgehend außer acht bleiben. 2. Da die Untersuchung von einem Theologen des neunzehnten Jahrhunderts handelt, unterliegt sie den Bedingungen historischer Arbeit. Aus diesem Grunde muß der Ansatz der ekklesiologischen Fragen aus dem Leben Harnacks und aus den Situationen, in die dieses Leben gestellt war, verstanden werden 17 . Diese historische Perspektive bedeutet nicht einen Verzicht auf kritische Interpretation. Da Harnack genau wie seine konfessionellen Zeitgenossen eine Ubereinstimmung mit dem Ursprung seiner Konfession nachweisen möchte, erweist sich an verschiedenen Stellen eine Prüfung seiner Aussagen an den lutherischen BekenntnisH.Wehrhahn, Kirchenredit und Kirchengewalt, Tübingen 1956, S.49ff.; W.Maurer, Pfarrerrecht und Bekenntnis, Berlin 1957, S. 23 ff. u. passim. 18 W. Sdineemekher, Confessio Augustana VII im Luthertum des 19. Jahrhunderts, in: EvTheol 1949/50, S.308