Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels: Aus dem Nachlass 9783110310474, 9783110310382

In 1920, Erwin Panofsky, one of the most influential art historians of the 20th century, submitted his habilitation thes

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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels: Aus dem Nachlass
 9783110310474, 9783110310382

Table of contents :
Inhaltsübersicht
Einführung der Herausgeberin
Vorwort
Dispositionen
Einleitung
Erster Teil: Sachgeschichtliche Voraussetzungen
1. Kapitel: Raffael und die Werke Michelangelos
2. Kapitel: Michelangelo und die Werke anderer Meister
Zweiter Teil: Stilkritische Folgerungen
Erster Abschnitt: Die künstlerische Darstellung der Einzelgestalt
1. Kapitel: Die Körpergestaltung in der klassischen Kunst, insbesondere bei Raffael (Das Princip der centrischen Entfaltung)
2. Kapitel: Die Körpergestaltung bei Michelangelo (Das Princip der centrischen Entfaltung im Kampf mit dem Princip der kubischen Bindung)
3. Kapitel: Die Organisation der Form in der Ebene Gegenprobe. Die „Einansichtigkeit“ der michelangelesken Skulpturwerke
4. Kapitel: Die Auffassung des Menschen hinsichtlich seiner psychischen Struktur
Bibliographie, rekonstruiert von Gerda Panofsky
Anhang: Notizen zu den Fassadenentwürfen für S. Lorenzo, Florenz
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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels

Erwin Panofsky um 1920 (Foto: Becker & Maaß Berlin W)

Erwin Panofsky

Die Gestaltungsprincipien

Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels Aus dem Nachlass herausgegeben von Gerda Panofsky

De Gruyter

ISBN 978-3-11-031038-2 e-ISBN 978-3-11-031047-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagbild: Erwin Panofsky, zwei Rekonstruktionen von Michelangelos „Pietà Rondanini“. 1920er Jahre (Terracotta, H. 26 cm), Privatbesitz Gerda Panofsky (Photo: Jeffrey Evans, Princeton University Art Museum, 2014) Umbruch: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsübersicht

Einführung der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels Vorwort

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Dispositionen Einleitung

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Erster Teil: Sachgeschichtliche Voraussetzungen _ 1. Kapitel: Raffael und die Werke Michelangelos . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Michelangelo und die Werke anderer Meister . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil: Stilkritische Folgerungen Erster Abschnitt: Die künstlerische Darstellung der Einzelgestalt 1. Kapitel: Die Körpergestaltung in der klassischen Kunst, insbesondere bei Raffael (Das Princip der centrischen Entfaltung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Die Körpergestaltung bei Michelangelo (Das Princip der centrischen Entfaltung im Kampf mit dem Princip der kubischen Bindung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitel: Die Organisation der Form in der Ebene Gegenprobe. Die „Einansichtigkeit“ der michelangelesken Skulpturwerke 4. Kapitel: Die Auffassung des Menschen hinsichtlich seiner psychischen Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie, rekonstruiert von Gerda Panofsky

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Anhang: Notizen zu den Fassadenentwürfen für S. Lorenzo, Florenz

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Einführung der Herausgeberin

In der nachfolgenden Geschichte verflechten sich mehrere story-lines: das Schicksal eines jüdischen Gelehrten, der mysteriöse Fall einer scheinbaren Veruntreuung und die spektakuläre Trouvaille einer verschollenen Handschrift im Verlies einer süddeutschen Bibliothek. Die vergilbten Blätter der letzteren bilden das corpus delicti. Um den Tatbestand aus dem Zwielicht der Vergangenheit in den Fokus einer objektiven Untersuchung zu rücken, soll der Versuch unternommen werden, die noch vorhandenen Indizien zusammenzutragen und das schon sagenumwobene Manuskript zum Druck zu befördern. „Felix, qui potuit rerum cognoscere causas“ (Vergil, Georgica, II, 490)! Nachdem der Erste Weltkrieg durch den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 beendet war, sah der junge Dr. phil. Erwin Panofsky (1892–1968) voller Ungeduld seiner Rückkehr zur Wissenschaft entgegen. Noch vor seiner Entlassung aus dem Heeresdienst, die erst am 15. Januar 1919 erfolgte, richtete er am 19. Dezember 1918 an die Hohe Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg einen „Antrag auf Zulassung als Privatdozent der Kunstgeschichte“.1 Als Habilitationsschrift bot er eine wegen der Kriegsschwierigkeiten noch nicht erschienene „Abhandlung über den Westbau des Doms zu Minden und sein Verhältnis zu Hildesheim, Corvey usw.“ an.2 Mit Schreiben vom 30. März 1919 (seinem 27. Geburtstag) zog er den Antrag „infolge besonderer Umstände“ jedoch wieder zurück.3 Seit seiner Demobilisierung im Januar 1919 hatte sich Panofsky „vorwiegend mit der Ausarbeitung einer Schrift über d e n S t i l M i c h e l a n g e l o s beschäftigt“. Er plante, seine nun-

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Universitätsarchiv Heidelberg /H-IV-102/144 fol. 254–263. Ich danke Uta Nitschke-Joseph, mir ihre Forschungsergebnisse mitgeteilt zu haben. Im September 1916 hatte Panofsky mit seinem Studienkollegen Eberhard Schenk zu Schweinsberg „Kletterpartien“ in den Gewölben des Westbaus des Mindener Doms unternommen, laut Karte an seine Frau Dora vom 14. 9.1916 (Erwin Panofsky Collection, AR 25440, Leo Baeck Institute [LBI], New York). Am darauffolgenden 20. 9. schrieb er nach Hause, dass er unbedingt noch nach Corvey müsse, „da der Mindener Dreiecksgiebel die ganze Baugeschichte des XI. saec. umzudrehen scheint“ (ebd.). Welche besonderen Umstände den Sinneswandel verursacht hatten, ist ungeklärt. Ein Jahr später, am 11. 3. 1920, benannte Panofsky ebenfalls nicht näher definierte „persönliche Gründe“ dafür, siehe Erwin Panofsky Korrespondenz 1910 bis 1968, hrsg. von Dieter Wuttke (im Weiteren zitiert als Korrespondenz), I, Wiesbaden 2001, p. 69 f. Nr. 60.

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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos

mehrige „präsumptive Habilitationsschrift“ bis Anfang des Winters abzuschließen und dann auf einer Reise nach Süddeutschland der Universität Tübingen zu unterbreiten.4 Diesen Entschluss hat er anscheinend nicht ausgeführt, da weder im Posteingangsbuch der Tübinger Philosophischen Fakultät noch im Nachlass ihres zuständigen Fachvertreters Konrad von Lange eine Korrespondenz nachzuweisen ist.5 Sicher ist jedoch, dass Panofsky am 11. März 1920 stattdessen von Berlin aus die Habilitation an der Universität Hamburg beantragte, indem er den „in sich abgeschlossenen ersten Teil“ obiger Schrift über den Stil Michelangelos mit der Versicherung einreichte, „den zweiten Teil noch im Laufe dieses Jahres zum Abschluß bringen zu können“.6 Außerdem übersandte er der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg Exemplare seiner neun bisherigen Veröffentlichungen (darunter die inzwischen gedruckte Arbeit über den Mindener Dom).7 Auf der Fakultätssitzung vom 13. März 1920 wurde Panofsky die Zulassung zur Habilitation erteilt und eine Habilitationskommission ernannt, welche sich aus dem bis zum 31. Mai amtierenden Dekan Max Lenz (Historiker), dem ab 1. Juni designierten Dekan Otto Lauffer (Folklorist), dem Direktor der Hamburger Kunsthalle Gustav Pauli und dem Philosophen Ernst Cassirer formierte.8

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Korrespondenz, I, 2001, p. 62/64 Nr. 51, Brief vom 3. 8. 1919 an den Freund Franz Schoenberner; die Sache schwebte anscheinend noch im Februar 1920, vgl. ebd., p. 68 Nr. 57. Ich danke Herrn Dr. Michael Wischnath, Direktor des Universitätsarchivs Tübingen, für seine Durchsicht beider Bestände, deren negatives Ergebnis er so freundlich war, mir mit E-Mail vom 4. 7. 2013 mitzuteilen. Die Akte, von der ich mir Fotokopien habe anfertigen lassen, befindet sich im Staatsarchiv Hamburg, Bestand 361–6 „Hochschulwesen – Dozenten- und Personalakten“, unter der Signatur IV 2542. Die Fakultätsakte Erwin Panofskys hatte, ehe sie dem Staatsarchiv übergeben wurde, eine „ungewöhnlich lange Odyssee. […] Sie tauchte […] im Frühjahr 1990 im Nachlaß Wolfgang Schönes auf. Dieser hatte sie offenbar – wohl am Ende seines Dekanats – ,sequestriert‘, also geklaut“ (E-Mail von Eckart Krause an G.P. vom 6. 6. 2012). Wolfgang Schöne (1910–1989) war seit 1933 Mitglied der SA, seit 1937 Mitglied der NSDAP und hatte seit 1947 das kunsthistorische Ordinariat in Hamburg innegehabt (Jutta Held – Martin Papenbrock, Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, p. 207). „Der Westbau des Doms zu Minden“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, XLII, 1920, pp. 51–77; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, hrsg. von Karen Michels und Martin Warnke, Berlin 1998, I, pp. 5–30. Zum Hamburger Habilitationsvorgang bin ich Herrn Eckart Krause, langjährigem Leiter der Hamburger Bibliothek für Universitätsgeschichte, für seine ausführlichen Auskünfte (E-Mail vom 6. 6. 2012) zu großem Dank verpflichtet; ebenfalls Karen Michels für ihre Briefe, datiert Hamburg, 13. 8. und 4.11. 1991. Zu den Titeln der neun eingereichten Publikationen siehe Gustav Paulis Habilitationsgutachten, abgedruckt bei Horst Bredekamp, „Ex nihilo: Panofskys Habilitation“, in: Erwin Panofsky, Beiträge des Symposiums Hamburg 1992, hrsg. von Bruno Reudenbach, Berlin 1994, pp. 31–51, insbes. p. 48. Vgl. ferner Wuttkes Kommentar in: Korrespondenz, I, 2001, p. 73 Nr. 64. E-Mail von Eckart Krause an G.P. vom 6. 6. 2012.

Einführung der Herausgeberin

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Laut Gutachten Paulis vom 10. Mai 1920 hatte der Bewerber „als Habilitationsschrift […] die ersten beiden Abschnitte einer im ganzen auf drei Abschnitte bemessenen Arbeit über Michelangelo eingereicht. Für die erforderliche Beurteilung der Eignung des Verfassers für eine Lehrtätigkeit an der Universität ist das Vorgelegte als hinreichend anzusehen; denn hieraus ergibt es sich zur Genüge, daß man es mit einer wertvollen selbständigen wissenschaftlichen Leistung zu tun hat.“ 9 Außer Pauli quittierten ihr Einverständnis die Herren Lauffer am 25. 5., Cassirer am 27. 5. und Lenz am 3. 6.1920.10 Danach entglitt die Habilitationsschrift dem Blickfeld der Zeitgenossen. Im Wintersemester 1920/21 begann Panofsky seine Dozentenlaufbahn mit einer dreistündigen Hauptvorlesung („Mo. So. 11–12, Mi. 10–11 priv.“) über „Michelangelo im Rahmen seiner Zeit“ sowie privatissime zweistündigen „Kunstgeschichtlichen Übungen (Dürer Fragen)“ 11 – zwei Künstler, mit deren Werken er gründlich vertraut war (bekanntlich hatte er über „Dürers Ästhetik“ promoviert). Im Sommersemester 1921 hielt er neben Kollegs über „Altniederländische Malerei“ und „Rembrandt“ außerdem Übungen „zur Baugeschichte der italienischen Renaissance“ 12 ab. Während der nächsten drei Semester (WS 1921/22–WS 1922/23) setzte er zunächst die „Altniederländische Malerei“ fort und widmete sich dann der „Deutschen Kunst des Mittelalters“ (I und II). Jedoch im Sommer 1923 und Winter 1923/24 kehrte er mit seiner Hauptvorlesung „Einführung in die bildende Kunst der italienischen Renaissance: Das XV. Jahrhundert (I und II)“ zum Umfeld der Habilitationsschrift zurück, auf welche im Sommer 1924 noch „Malerei des italienischen Quattrocento, Fortsetzung“ folgte, um im Winter 1924/25 in „Raffael, Michelangelo, Correggio“ zu kulminieren.13 Für die Teilnahme an den Übungen war die Kenntnis des Lateinischen und Italienischen, später auch des Griechischen „erforderlich“ bzw. „unerläßlich“. Die Teilnehmerzahl war auf 20, dann 15, schließlich nur auf zwölf beschränkt, und „Kunstgeschichtliche Übungen für Fortgeschrittene“ bedingten „mindestens 5. Semester. Vorlage einer schriftlichen Arbeit“.14 Daneben hielt Panofsky Vorlesungen über Geschichte

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Durchschlag im Archiv der Hamburger Kunsthalle, siehe Bredekamp, a. a. O., Appendix pp. 48–51. E-Mail von Eckart Krause an G.P. vom 6. 6. 2012. Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, WS 1920/21, p. 24 Nr. 239, 240. – Erstaunlich, dass bei dem großen Interesse an Panofskys Vita, Korrespondenz und wissenschaftlichen Arbeiten m.W. bisher noch niemand, zumal aus der Hamburger Schule, darauf verfallen ist, seine Hamburger Vorlesungen zusammenzustellen. Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1921, p. 24 Nr. 241. Ebd., SS 1923, p. 30 Nr. 261; WS 1923/24, p. 25 Nr. 272; SS 1924, p. 24 Nr. 273; WS 1924/25, p. 26 Nr. 285. Es trifft nicht ganz zu, wenn Heinrich Dilly und Ulrike Wendland annehmen, dass zur Zulassung zu den Übungen die Rücksprache mit den Dozenten genügte und ein Zweitsemester sich ohne Weiteres unter die Doktoranden mischen konnte („,Hitler ist mein bester Freund …‘.

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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos

der Landschaftsdarstellung, Sepulkralplastik, Französische Gotik, die Anfänge der neuzeitlichen Kunst um 1400, Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts, Deutsche Plastik der Spätgotik, Buchillustration, Methodologie, „Künstler und Denker“ und „Madonnen“. Aus dieser Vielfalt interessiert in unserem Zusammenhang wiederum die Hauptvorlesung vom Sommer 1926 über „Italienische Cinquecentisten“,15 deren Malereien Panofsky in den vorangegangenen Semesterferien in Italien hauptsächlich seine Beachtung geschenkt hatte (siehe unten, p. 30). Sodann wird man in der Annahme nicht fehlgehen, dass in der allwöchentlichen öffentlichen Abendveranstaltung „Spätwerke großer Meister und Spätphasen großer Stile“16 des Winters 1927/28 Michelangelos „Pietà Rondanini“ eine wesentliche Rolle spielte. Die „Kunstgeschichtlichen Übungen“ des folgenden Winters 1928/29 hatten Raffael zum Gegenstand.17 Immer wieder zog es Panofsky aber zurück zur „Kunst des Mittelalters“ (WS 1928/29–SS 1929), vor allem zu seiner ersten Liebe „Albrecht Dürer und seine Zeit“ (WS 1929/30, SS 1930 und WS 1930/31 einschließlich der Behandlung von „Holbein und Grünewald“). Der italienische Zyklus klang im Sommer 1931 in der dreistündigen Hauptvorlesung über „Künstlerische Strömungen im italienischen Barock“ aus.18 Im Winter 1931/32 war Panofsky aufgrund seiner Gastprofessur an der New York University beurlaubt. An den italienischen Barock wieder anknüpfend, kündigte er für das Sommersemester 1932 „Französische Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts“ an. Dazu leitete er (wie schon im Sommersemester 1931) zusammen mit Fritz Saxl (1890–1948) abends von 20–22 Uhr in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg privatissime und unentgeltlich „Übungen zur Quellenkunde der Kunstgeschichte (Renaissance und Barock)“.19 Für das Sommersemester 1933 waren drei Lehrveranstaltungen von

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Das Kunsthistorische Seminar der Hamburger Universität“, in: Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, hrsg. von Eckart Krause et al., Berlin 1991, Teil II, pp. 607–624, insbes. p. 611). Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1926, p. 28 Nr. 312. Hiervon ist nicht nur Panofskys eigenes Manuskript erhalten (LBI, vgl. unten, p. 6), sondern auch die Mitschrift des Studenten Willi Meyne in einem eng beschriebenen Schulheft von 49 Seiten (Nr. 78, Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg. Dank an Charlotte Schoell-Glass für die Information). Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, WS 1927/28, p. 32 Nr. 346. Ebd., WS 1928/29, p. 33 Nr. 394. Das Thema ist durch die Mitschrift des Studenten Willi Meyne überliefert (Nr. 1 und 7, Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg. Dank an Charlotte Schoell-Glass für die Information). Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1931, p. 35 Nr. 389. Von diesen „Übungen zur Quellenkunde“ I und II (Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1931, p. 35 Nr. 392; SS 1932, p. 35 Nr. 394) haben sich Protokolle, Dispositionen und Referate von William S. (Wilhelm Sebastian) Heckscher (1904–1999) erhalten (William S. Heckscher-Archiv, Kasten 9, Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg). Siehe Charlotte Schoell-Glass und Elizabeth Sears, Verzetteln als Methode. Der humanistische Ikonologe William S. Heckscher, Berlin 2008, pp. 34–38; insbes. Charlotte

Einführung der Herausgeberin

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Prof. Panofsky angezeigt: „Kunst des italienischen Barock II (der ,Hochbarock‘ in Malerei, Architektur und Plastik) […] MoMiFr 16–17“; „Kunstgeschichtliche Übungen für Anfänger […] Di 12–14 pss“; und „Kunstgeschichtliche Übungen für Vorgeschrittene (zum enzyklopädischen Bilderkreis) […] in Gemeinschaft mit Prof. Saxl, Do 20–22 pss [12] Bibliothek Warburg“.20 Im „Verzeichnis der Dozenten“ wurde Panofsky nach wie vor als „Direktor des Kunsthistorischen Seminars“ geführt.21 Offensichtlich war der Vorlesungskatalog gedruckt gewesen, bevor am 7. April 1933 das Gesetz „Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft getreten war, woraufhin die Hamburger Hochschulbehörde sich beeilt hatte, den Professoren Berendsohn, Panofsky (der zu dieser Zeit in New York lehrte), Salomon und Stern nahezulegen, während des Sommersemesters keine Vorlesungen mehr zu halten, da sonst die Ruhe in der Universität nicht garantiert werden könne.22 Panofsky, am 28. Juni 1933 „unter Gewährung des zuständigen Ruhegeldes aus dem Staatsdienst entlassen“ 23 (mit einem Monatsgehalt von RM 405,22 brutto), hatte bereits verzichtet, weiterhin in Hamburg zu lesen und auch nur einen Fuß in die Universität zu setzen. So war keine Rede mehr von italienischem Hochbarock und enzyklopädischem Bilderkreis. Obwohl Panofsky der damnatio memoriae anheimfallen sollte, spukte er den Sommer 1933 über wie das Gespenst eines Banquo im Vorlesungsverzeichnis. Die Skripten von ca. 20 Hamburger Vorlesungen und Übungen, einschließlich bibliografischer Notizen und Diapositiv-Listen, erreichten 1934 den sicheren Hafen der Neuen Welt und sind von mir aus unserem Princetoner Haus im März 2011 dem Leo Baeck Institute in New York zur Archivierung übergeben worden.24 Auch die

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Schoell-Glass, „Cesare Ripa in Hamburg (1932)“, in: Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit, hrsg. von Cornelia Logemann und Michael Thimann, Zürich 2011, pp. 301– 310. Die Hamburger Übungen befassten sich vornehmlich mit Cesare Ripas Iconologia (1593), deren erweiterte Ausgabe Siena (Florimi) 1613 sich noch in Panofskys Privatbibliothek befindet; dazu die später erworbene schweinsledern gebundene Ausgabe Padua (Pietro Paolo Tozzi) 1611 mit dem „Ex Libris Ernst H. Kantorowicz“. Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1933, p. 37 Nr. 407, 410 und 411. Ebd., p. 84. Peter Borowski, „Die Philosophische Fakultät 1933 bis 1945“, in: Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945 (siehe oben, p. 4 Anm. 14), Teil II, pp. 441–458, insbes. p. 442. Siehe Korrespondenz, I, 2001, p. 593 Nr. 363 und Anm. 3; ebd., p. 621 Nr. 382. Erwin Panofsky Collection, Section I, Box 3 und 4. – Das Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg besitzt (außer wie oben, p. 4 Anm. 15 und p. 4 Anm. 17 genannt) ferner Meyne’sche Mitschriften von Panofskys „Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts“ SS 1924 (Nr. 77), „Altniederländische Malerei“ und „Übungen über Methodenfragen der Kunstwissenschaft“ SS 1928 (Nr. 120, 120a) sowie „Kunst des Mittelalters I/II“ WS 1928/29–SS 1929 (Nr. 119). Wiederum Dank an Charlotte Schoell-Glass für die Mitteilung.

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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos

Aktendeckel mit den „Italienischen Cinquecentisten“ vom SS 1926 und den „Künstlerischen Strömungen im italienischen Barock“ vom SS 1931 befinden sich darunter. In Panofskys Nachlass fehlen aber alle seine übrigen Vorlesungen und Seminare zur italienischen Renaissance: weder sind irgendwelche Konzepte zu „Michelangelo im Rahmen seiner Zeit“, zur „Baugeschichte der italienischen Renaissance“, zur „Bildenden Kunst der italienischen Renaissance“ (I und II), zur „Malerei des italienischen Quattrocento“, zu „Raffael, Michelangelo, Correggio“, zur Quellenkunde der Renaissance und des Barock noch zum italienischen Hochbarock in Malerei, Architektur und Plastik vorhanden. Die Sonderung hat System: in Hamburg ist offenbar jedwedes Material zurückgeblieben, das zum Stoff der „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ einen Bezug hatte. Anscheinend lag es im Amtszimmer der Kunsthalle, in Reichweite des ebenfalls dort vermuteten Ordners mit der Habilitationsschrift, und wurde nach Panofskys Verfemung zu herrenlosem Gut – wenn man will, zu „Entarteter Kunst“. Gefragt habe ich mich z. B. auch, ob nicht die Rime e Lettere von 1903, nach denen Panofsky aus der Vita Michelangelos von Condivi (1553) zitiert, damals aus seinem Amtszimmer verschwanden. Es ist ein Bändchen im Sedezformat, von nur 10,4 cm Rückenhöhe – eine Liebhaberausgabe, der man wohl nur den Vorzug vor den kritischen Editionen gibt, wenn man sie selber besitzt.25 Was war bei der intensiven Lehrtätigkeit und den administrativen Aufgaben, das Hamburger Kunstgeschichtliche Seminar aus dem Nichts aufzubauen, aber bis dahin aus der Fertigstellung der Habilitationsschrift geworden? Noch im Juni 1920 hatte Panofsky an Pauli berichtet, dass er das letzte Kapitel seiner Arbeit „durchgreifend verändert habe: die lange methodologische Einleitung über die Begriffe ,Form‘ und ,Inhalt‘ ist in Fortfall gekommen, ebenso ist die Auseinandersetzung über die psychologische Auffassung des Mittelalters u.s.w. erheblich gekürzt und das ganze übersichtlicher angeordnet worden.“26 Am 22. Februar 1922 schrieb er an Kurt Badt, dass neben Kollegvorbereitungen, verschiedenen Publikationen und Vorträgen „hoffentlich der (gänzlich umzubauende) ,Michelangelo‘ an die Reihe“ komme.27 Am 24. Juli 1922 klagte er demselben, „da ich ein großes Kolleg über frühes deutsches Mittelalter bis etwa 1000 lese,28 und namentlich auch wegen der dauernden Aufregungen und 25

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Frau Maria Kesting teilte mir freundlicherweise mit E-Mail vom 4. und 30. 7. 2013 mit, dass das Exemplar der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky 1934 von dem Ober-Steuersekretär Ernst Bollmeier, wohnhaft in Hamburg, Hirtenstraße 62, geschenkt worden sei und den Schriftzug von Adele Baumann-Seyd trage (sollte Bollmeier das Panofsky’sche Exemplar auf dem Flohmarkt gefunden haben?). Die ebendort befindliche Ausgabe von 1860 sei bereits mit dem Nachlass des Hamburger Kapellmeisters Georg Dietrich Otten (gest. 1890) an die Bibliothek gekommen. Korrespondenz, I, 2001, p. 72 Nr. 63. LBI (abgedruckt in: Korrespondenz, I, 2001, p. 112 Nr. 89). „Deutsche Kunst des Mittelalters“, MoMiFr 7–8 abends, siehe Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1922, p. 28 Nr. 250.

Einführung der Herausgeberin

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Mißstimmungen über die äußeren Dinge“ – nebst der Redaktion der „Melancholie“29 – „Leider wird der ,Michelangelo‘ bis auf Weiteres liegen bleiben. Denn ich traue mich nicht, ihn wirklich auszuarbeiten, bis ich die Handzeichnungen in England kenne (ungefähr 3/4 des Gesamtbestandes!), und wann wird man da wieder hinkommen?“ 30 Eine Englandreise war, wie Panofsky im gleichen Brief darlegte, ein finanzielles Problem, da ihm – als Familienvater mit zwei kleinen Kindern – erst zum 1. August jenes Jahres eine feste Besoldung in Aussicht gestellt worden war, nämlich als „Hilfsarbeiter (bei mir selber als Chef!)“. Es half kaum, dass im nächsten Jahr, 1923, das gesamte, in deutschen Aktien angelegte Privatvermögen in der Hyperinflation verloren ging. Erst 1924 konnte sich Panofsky eine kurze Englandreise leisten (siehe unten, p. 29 f.). Ende November des gleichen Jahres 1924 sollte „– endlich – das seit Jahren gesammelte Material über Michelangelo geordnet werden“.31 Jedoch fast genau ein Jahr später, am 24. Oktober 1925, entschuldigt sich Panofsky bei dem Michelangelo-Spezialisten Ernst Steinmann (1866–1934), dem ersten Direktor der Bibliotheca Hertziana in Rom: „Ich komme mir nachgerade etwas beschämt vor, daß ich mich noch immer nicht durch eine Michelangelo-Arbeit bei Ihnen revanchieren kann, ich bin in letzter Zeit zu sehr vom Wege abgekommen. Hoffentlich finde ich diesen Winter die Möglichkeit, einen lange gehegten Plan in dieser Richtung zu verwirklichen“.32 Wahrscheinlich bezieht sich auch die am 20. Oktober 1927 (also nochmals zwei Jahre später) ausgesprochene Bitte an Aby Warburg, im nächsten Semester ein Kolleg zu „w i e d e r h o l e n, um endlich zum Abschluß einer lange ,vorhabenden‘ Arbeit zu kommen“, auf das noch immer brachliegende Michelangelo-Manuskript.33 Noch vager ist die Anspielung in einem Brief an Wilhelm Vöge vom 28. Januar 1928: „Jetzt kommt noch eine zweite Auflage der ,Melencolia I‘ dazwischen, und erst dann werde ich zu ein paar Sachen kommen, die ich noch ganz gerne fertig machen möchte.“34 Die Neubearbeitung von Dürers „Melencolia I“ (1923) mit Fritz Saxl (die nach zahllosen Widrigkeiten erst 1964 ihren Abschluss finden sollte!) und Panofskys Vorbereitungen seines Hercules am Scheidewege (1930) hemmten, wie der Briefwechsel belegt, bis zum Beginn des dritten Jahrzehnts die Konzentration auf die „Gestaltungsprincipien Michelangelos“. Vollends gerieten diese ins Hintertreffen mit den im Herbst 1931 einsetzenden Gastprofessuren in New York, bis dann 1933 die zwangsweise Entlassung den Autor ein Jahr später für immer in die USA vertrieb. 29

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Erwin Panofsky – Fritz Saxl, Dürers „Melencolia I“. Eine Quellen- und Typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig – Berlin, 1923. LBI (abgedruckt in: Korrespondenz, I, 2001, p. 117 f. Nr. 94). Korrespondenz, I, 2001, p. 151 Nr. 116. Ebd., p. 180 Nr. 136. Ebd., p. 244 Nr. 180. Gemeint ist die Vorlesung über „Altniederländische Malerei“, die Panofsky im SS 1921 und im WS 1924/25 gehalten hatte und dann im SS 1928 wiederholte. Korrespondenz, I, 2001, p. 252 Nr. 184.

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Die Gestaltungsprincipien Michelangelos

Bei der Ausreise im Juli 1934 befand sich mit Bestimmtheit die ungedruckte Habilitationsschrift nicht unter dem Umzugsgut an Möbeln und anderen Erbstücken wie Bildern, Porzellan, Tafelsilber, Schallplatten und Büchern nebst Stapeln von wissenschaftlichen Manuskripten, kurz des Inventars der Hamburger Privatwohnung in der Alten Rabenstraße Nr. 34. Sie war, wie schon angedeutet, höchstwahrscheinlich in Panofskys verwaistem, nur 3,5 m2 messenden Amtszimmer in der Hamburger Kunsthalle am Glockengießerwall liegengeblieben,35 das er als Geächteter nicht mehr betrat. Vielleicht hatte Panofsky wenigstens ein paar Notizen zu Michelangelo nach Übersee verschiffen können. So könnte man sich Anklänge an die Habilitationsschrift in seinem im Herbst 1937, also nur gut drei Jahre nach der Emigration, am Bryn Mawr College, Pennsylvania, in der Reihe der Mary Flexner Lectures gehaltenen VI. Vortrag „The Neoplatonic Movement and Michelangelo“ erklären.36 Es haben sich jedoch keine diesbezüglichen Aufzeichnungen erhalten (er selber sprach ja nur von der Verwertung seiner „Ideen“ und diese konnte er im Gedächtnis behalten haben). Was die Urschrift der „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ anbelangte, so war Panofsky bis an sein Lebensende überzeugt, dass sie verloren sei. Noch am 28. Januar 1964 erklärte er Egon Verheyen: „My ,Habilitationsschrift‘ was concerned with the stylistic principles of Michelangelo, seen against the background of the development of art from Egypt to Bernini. It was a much too ambitious attempt, and I never published it while incorporating some of my ideas in my later publications, including even the Michelangelo chapter in Studies in Iconology. T h e o r i g i n a l m a n u s c r i p t i s l o s t . “37 Niemals äußerte er sich dahin, dass er sein Manuskript „entsorgt“ habe. Die Wieder-Entdeckung der Habilitationsschrift im Frühjahr 2012 im tiefen Schacht eines fernen Institutsgebäudes 38 evoziert die wundersame Auffindung des in einem Stollen der Kupfermine von Falun (Schweden) jahrzehntelang verschüttet gewesenen 35

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Ulrich Luckhardt, „Kunsthalle und Kunsthistorisches Seminar der Universität – eine alte Beziehung und eine Korrektur der Geschichte – Der ,Seminarflur‘“, in: Idea: Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, 2005, pp. 165–171, insbes. p. 169. Nach Heinrich Dilly und Ulrike Wendland (siehe oben, p. 3 f. Anm. 14), p. 621, musste das Seminar 1936 vom Erdgeschoss des Museums in dessen Keller umziehen. Spätestens im Zuge dieser Aktion wird man Panofskys Office „entrümpelt“ haben. Publiziert in: Studies in Iconology, New York 1939, pp. 171–230, insbes. pp. 173–178. Korrespondenz, V, 2011, p. 440 Nr. 3013a. Meine Hervorhebung. Siehe Julia Voss, „Michelangelo im Tresor“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 31. 8. 2012, Nr. 203/35 D 2, pp. 29, 31; „Panofsky im Panzerschrank“, Stephan Klingen im Gespräch mit Britta Bürger, Deutschlandradio Kultur, 31. 8. 2012; „A Story of Betrayal. Panofsky’s long lost manuscript discovered“, An Interview by Caroline Fetscher with Horst Bredekamp, in: Jewish Voice from Germany, Autumn 2012; Uta Nitschke-Joseph, „A Fortuitous Discovery“, in: IAS, The Institute Letter, Spring 2013, p. 18f. Das Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, hat im August 2012 aus konservatorischen Gründen vier meterlange, leinengebundene Kästen anfertigen lassen, in denen jedes einzelne Blatt der Habilitationsschrift in einem säurefreien Pappdeckel liegt.

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Bergmanns Mats Israelsson im Jahre 1719. Die Begebenheit, 1808 zuerst von Gotthilf Heinrich von Schubert bekannt gemacht, ist durch Johann Peter Hebels rührende Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen (1811) in die Literatur eingegangen: wie die überlebende, inzwischen gealterte Braut den Leichnam mit den noch „unverwesten und unveränderten“ Gesichtszügen „in ihr Stübchen tragen ließ, als die einzige, die […] ein Recht an ihn habe“. Auch von E.T.A. Hoffmann, Achim von Arnim, Friedrich Rückert und anderen bis zu Hugo von Hofmannsthal ist die Episode zum dichterischen Vorwurf genommen worden. Wenn wir die Habilitationsschrift nunmehr ans Licht bringen, wollen wir sie als ein biografisches Dokument und ein wissenschaftsgeschichtliches Zeugnis betrachtet wissen. Die Michelangelo-Forschung ist inzwischen über den Stand von 1920 weit hinausgeschritten. Es wäre unsinnig, die seither vielhundertfach erschienene Literatur nachzutragen – Panofsky konnte sie seinerzeit nicht kennen. Sein Text ist frozen in time, ein historisches Monument unserer Disziplin. Nichtsdestoweniger mögen manche seiner Erkenntnisse nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. In den 1990er Jahren war Karen Michels im Hamburger Staatsarchiv auf zwei Versionen des nicht genau überlieferten Titels gestoßen: „Die künstlerischen Darstellungsprinzipien Michelangelos“ oder „Michelangelo und Raphael und Michelangelo und Leonardo“. Sie befürchtete, dass das unauffindbare Opus im Zweiten Weltkrieg bei den Bombenangriffen auf Hamburg vernichtet wurde.39 Auch Jürgen Neubacher von der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg gab zu bedenken, dass leider auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden müsse, dass die Arbeit unter die Kriegsverluste zu zählen sei, wo immer sie sich um 1943/44 im stark zerstörten Hamburg befunden habe.40 Eckart Krause hat dagegen die Hypothese aufgestellt, Pauli könnte das Manuskript nach erfolgter Habilitierung „seinem Autor zurückgegeben haben. Es hatte seine Funktion erfüllt, überdies sollte es ja, um (mindestens) ein weiteres Kapitel ergänzt […] werden.“41 Dies würde plausibel machen, warum es sich im Hamburger Staatsarchiv nicht auffinden ließ, ohne dass man in dieser Sache die alliierten Luftangriffe verantwortlich machen muss. Bei dem von Karen Michels eruierten zweiten Thema handelte es sich um eine Verschmelzung von Habilitationsschrift und Antrittsvorlesung, und es war demnach „Michelangelo und Raphael“ herauszukristallisieren. Dieses Sujet erinnerte auch der einstige Berliner Studienfreund Hans Kauffmann (1896–1983): „Michelangelostudien – nach heutiger Terminologie eine Art Strukturforschung in Wölfflinscher Konfrontation mit Raphael.“42 Auch Paulis obgenanntes Gutachten durchzog wie ein roter Faden der Vergleich von Raffael und Michelangelo. Horst Bredekamp, der vor gut 20 Jahren 39 40 41 42

Briefe an G. P. vom 13. 8. und 4. 11.1991. E-Mail an G.P. vom 5. 6. 2012. E-Mail an G.P. vom 6. 6. 2012. Zitiert von Bredekamp (siehe oben, p. 2 Anm. 7), p. 39.

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die vermeintlichen „Habilitationssplitter“ im „Gedankenreservoir“ Panofskys aufgesammelt und sie „zersplittert, aber funkelnd“ wieder zum Leuchten gebracht hat, bedauerte, „daß Panofsky das Thema Michelangelo zwar immer wieder behandelt, als Hauptstoff aber an Tolnay abgetreten hat und daß die Studies in Iconology [1939] auch eine Art Abschied an die in der Habilitation entwickelten Gedanken waren“.43 In der Tat reklamierte Karl von Tolnai (1899–1981) Michelangelo bereits zu Panofskys Hamburger Zeiten. Nicht nur hatte er sich 1929 in Hamburg mit einer Abhandlung über Michelangelos späte Architektur habilitiert, auch las er „Michelangelo II“ (SS 1930) und „Michelangelo III (Der Architekt und Dichter)“ (WS 1930/31).44 Nach den diversen vergeblichen Suchaktionen in den Hamburger Archiven ereignete sich ein echter coup de théâtre, als die Urfassung der „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ Anfang Juni 2012 an völlig unvermuteter Stelle zum Vorschein kam: sie fand sich im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München unter der Alt-Repositur (1947–1970) des ersten Direktors Ludwig Heinrich Heydenreich.45 Sein Nachfolger Willibald Sauerländer, der von 1970–1989 als Direktor des ZI amtierte und damit in den Ruf des „Hehlers“ geraten konnte, untertrieb geflissentlich die Tragweite des Fundes: „Als er [Panofsky] 1934 ins amerikanische Paradies flüchtete [!], ließ er diese innerlich [!] abgelegte Schrift in dem braun gewordenen Deutschland zurück. Er hat offensichtlich [!] nichts mehr von ihr wissen wollen.“46 Als wenn Panofsky vor der Überfahrt über den Atlantik sein an die 350 Seiten langes Manuskript als nutzlosen Ballast über Bord geworfen hätte, das Sauerländer als „opus juvenile“ (eines am „mezzo del cammin di nostra vita“-Stehenden!), als „Kladde“ (welche Bezeichnung ihm so gut gefiel, dass er sie gleich zweimal anbrachte) verharmloste bzw. als „Brouille“ entwertete – nota bene: ohne das Konvolut je gesehen zu haben! Nebenbei: „une brouille“ ist ein Streit und macht keinen Sinn hier. Sauerländer meinte wohl „un brouillon“, ein Sudelheft,47 nach Larousse auch jemand bezeichnend, „qui manque de clarté dans les idées“, d. h. einen Wirrkopf, was einer Beleidigung Panofskys nahekäme. Dank des Scharfblicks von Stephan Klingen wurde der inzwischen verschimmelte Soennecken-Ordner in seiner Bedeutung erkannt und vor der Altpapiertonne bewahrt. „Adding insult to injury“, wie es im Englischen heißt, war die unveröffentlichte 43 44

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Ebd., p. 45. Verzeichnis der Vorlesungen, Universität Hamburg, SS 1930, p. 34 Nr. 377; WS 1930/31, p. 35 Nr. 387. Siehe oben, p. 8 Anm. 38. Willibald Sauerländer, „,Es war ein viel zu ehrgeiziger Versuch‘. In München ist Erwin Panofskys Habilitationsschrift über Michelangelo von 1920 aufgetaucht. Der Autor hat sie nie als eigenes Buch publiziert – nicht weil sie verloren war, sondern weil er von dem Text und der kennerschaftlichen Methode nichts mehr wissen wollte“ (in: Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, 6. 9. 2012, Nr. 206). Dank an Fabien Capeillères für die Klärung.

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Habilitationsschrift des jüdischen Emigranten allem Anschein nach nicht nur ein halbes Jahrhundert lang in dem ehemaligen Verwaltungsbau der NSDAP versteckt, sondern war sie seit vielen Jahren in einem der Panzerschränke verstaut gewesen, in welchen vordem die Nationalsozialisten die gesamtdeutschen Karteien der Parteimitglieder sicherstellten. Ludwig Heinrich („Heinz“) Heydenreich (1903–1978) hatte 1928 mit einer Dissertation über „Die Sakralbau-Studien Leonardo da Vincis“ bei Panofsky in Hamburg promoviert und kümmerte sich, inzwischen habilitiert, nach dessen Weggang 1934 um die Geschäftsführung und die Bibliothek des Kunsthistorischen Seminars.48 Jedoch hat es eine formelle Beauftragung dieser Art nicht gegeben, welche unter den Zeitumständen für einen alten Panofskyaner auch „extrem unwahrscheinlich“ gewesen wäre.49 Im WS 1933/34 und noch im SS 1934 hieß es im Hamburger Vorlesungsverzeichnis für das Kunsthistorische Seminar am Glockengießerwall: „Direktor: N.N.“, dann ab WS 1934/35: „Mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Direktors beauftragt: Privatdozent Dr. Werner Burmeister“. Burmeister (1895–1945) war seit 1933 Mitglied der SA und trat 1937 in die NSDAP ein. Wie überall in Deutschland hatten auch in Hamburg am 15. und 30. Mai 1933 die notorischen Bücherverbrennungen stattgefunden. Allenthalben räumte der NS-Studentenbund mit dem „überspitzten jüdischen Intellektualismus“ (Joseph Goebbels) auf. Wer weiß, ob bei dem Tohuwabohu Heydenreich nicht Panofskys Habilitationsschrift auf die Seite schaffte, um sie nicht in Nazi-Hände fallen zu lassen.50 Als Privatdozent lehrte Heydenreich u. a. „Italienische Baukunst der Renaissance II“ (WS 1934/35), „Deutsche Graphik bis Dürer“ (SS 1935), „Rembrandt“ und „Der Bilderzyklus der Apokalypse“ (WS 1935/36 f.), „Frühchristliche Kunst“ (SS 1936), „Italienische Plastik des 15. Jahrhunderts“ (WS 1936/37) und „Italienische Plastik des 16. Jahrhunderts“ (SS 1937).51 Ab Winter 1937 dozierte er an der Berliner Universität, 1943 wurde er Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz und 1947 Direktor des neugegründeten Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München (in dessen Katakomben Panofskys Habilitationsschrift jetzt zutage trat). Auch nachdem 1933 das NS-Regime Panofsky aus dem Amt gejagt hatte, hielt Heydenreich seinem jüdischen Lehrer weiter die Treue. Aus dem Ausland schickte er ihm nach Hamburg ein Separatum dediziert „Herrn Prof. E. Panofsky herzlichst H. /

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So Heinrich Dilly und Ulrike Wendland (oben, p. 3 f. Anm. 14), pp. 614 f., 618. Hier danke ich erneut Eckart Krause, der mir in seiner ausführlichen E-Mail vom 11. 7. 2013 die amtliche Situation im Dritten Reich erläutert hat. So bereits Sauerländer, siehe oben, p. 10 Anm. 46. Da die Hamburger Vorlesungsverzeichnisse bisher nur bis einschließlich WS 1934/35 digitalisiert sind, waren Herr Eckart Krause und sein Nachfolger Prof. Rainer Nicolaysen so liebenswürdig, mir die entsprechenden Seiten der nachfolgenden Jahre zu scannen, wofür ich ihnen äußerst dankbar bin.

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Rom, 14. XI. 33“.52 Als die Panofsky-Familie an Bord ging, um für immer elbabwärts zu segeln,53 brachte er noch ein Abschiedsgeschenk: eine zweibändige, in Lederrücken mit Golddruck gebundene Ausgabe der Storia d’Italia von Francesco Guicciardini (1483–1540), 1835 in Florenz (David Passigli e Soci) erschienen, die noch im Princetoner Haus im Regal steht. Mit Tinte hatte er auf dem ersten Blatt das historische Datum festgehalten: „Von Heydenreich 17. Juli 1934 Hamburg“. Offenbar war es sein kostbarster Besitz; denn er hatte das Exemplar erst vier Jahre zuvor antiquarisch in Florenz erworben, wie auf dem zweiten Vorsatzblatt in Bleistift sein Namenszug mit dem Zusatz „Florenz 1930“ bezeugt. Die Bände stammten aus dem Nachlass des 1929 in Florenz verstorbenen Gelehrten Fritz Gebhard, dessen 1911 in Florenz entworfenes Exlibris sie zieren. Selbst in die USA scheint es anfangs noch Mittel und Wege gegeben zu haben, ein Lebenszeichen zu senden: unter den Fotos im Panofsky’schen Haus in Princeton befindet sich ein Schnappschuss, der den jüdischen Adolph Goldschmidt (1863–1944), Elisabeth Brauer-Heydenreich und Ludwig H. Heydenreich miteinander im Gespräch zeigt. Das Foto ist (wohl von Heydenreichs Frau „Lis“) rückseitig beschriftet „Kösterberg, Mai 1936 v[on] m[einem] Bruder aufgen[ommen]“ – der Kösterberg war das Warburg-Anwesen in Hamburg-Blankenese und der Fotograf offenbar Elisabeths Bruder, der Kunsthistoriker Heinrich Brauer. Durch Ort und Personen drückte das Foto somit für den Eingeweihten ein Bekenntnis der Sympathie aus. Buchstäblich bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ließ Heydenreich, wiederum aus dem Ausland, nochmals einen Sonderdruck an Panofsky gelangen, den er mit der vorsichtig formulierten Widmung versah: „Herzlichst unverändert Ihr H. / Paris 1. IX. 39“.54 Dann wurde es unmöglich, vom faschistischen Europa aus mit Amerika zu kommunizieren. Nach dem Krieg knüpfte Heydenreich die Verbindung zu Panofsky wieder an mit einem handschriftlichen Brief vom 1. Dezember 1948 aus St. Louis, MO,55 wo er derzeit eine Gastprofessur an der Washington University bekleidete. Es fiel ihm nicht leicht, den rechten Ton zu treffen. Seit seiner Ankunft habe er täglich schreiben wollen und ungezählte Male den Versuch gemacht, doch sei es nie zu etwas Rechtem

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Ludwig H. Heydenreich, „La Sainte Anne de Léonard de Vinci“, in: Gazette des Beaux-Arts, X, 1933, pp. 205–219. Exemplar in der Historical Studies Library, Institute for Advanced Study (IAS), Princeton. Cf. Korrespondenz, V, 2011, p. 63 Nr. KN 469a. Ludwig H. Heydenreich, „Der Apokalypsen-Zyklus im Athosgebiet und seine Beziehungen zur deutschen Bibel-Illustration der Reformation“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, VIII, 1939, pp. 1–40. Exemplar in der Historical Studies Library, IAS, Princeton. Ebd. auch ein Sonderdruck von Heydenreichs Beitrag „Architekturmodell“ im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, I, Stuttgart 1937, cols. 918–940, mit der Widmung „Herzlichst! H.“ Panofsky Papers, Archives of American Art (AAA), Washington, D.C. Ich danke Liza Kirwin für die prompte Übersendung eines Scans.

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gekommen.56 „Aber es wird immer unsinniger, daß ich nun schon zwei Monate [!] in diesem Lande bin, ohne Ihnen einen Gruß geschickt zu haben; und dies umsomehr, als meine Gedanken ständig bei Ihnen sind. Nicht nur jetzt, sondern auch in den ganzen zwischen uns liegenden Jahren“. Er warte auf den Augenblick, an dem er ihn, Panofsky, wiedersehen dürfe. Nach den einleitenden Sätzen, in denen es ihm endlich gelungen war, das Eis zu brechen, trug Heydenreich emphatisch sein Hauptanliegen für ein Treffen vor: „vor allem aber, um Sie zu bitten – i n s t ä n d i g zu bitten – einen Michelangelo – I h r e n Michelangelo – zu schreiben, dessen wir heute mehr bedürfen denn je. Ich bin jetzt 45, ein merkwürdiges Alter, in dem man beginnt, in einer besonderen Weise um die Werte zu bangen, um die es wirklich geht. Und so viel Zeit und Geschehen auch zwischen uns liegen mag, so viel meine ich doch Ihnen sagen zu dürfen, daß nur Sie diese Aufgabe bewältigen können und darum eigentlich auch m ü ß t e n . Mit Kriegbaum, der Sie uneingeschränkt bewunderte und verehrte, sprach ich immer wieder über diese Notwendigkeit und wir wollten nach dem Kriege unsere Anstrengungen vereinen, Sie davon zu überzeugen. Nun bin ich allein übrig geblieben57 und fühle mich gedrängt, Ihnen dies Alles zu sagen, auch ohne (oder: gerade ohne!) Sie gesehen zu haben. B i t t e , verstehen Sie mich recht: es ist dies für mich ein sehr bedeutender Augenblick.“ Auf diese glühende Suada reagierte Panofsky am 6. Dezember 1948 abwehrend: „Ihre Idee, daß ich auf meine alten Tage einen ,Michelangelo‘ schreiben sollte oder könnte, rührt mich tief, ist aber leider ganz undurchführbar. Meine Interessen […] haben sich in ganz anderer Richtung bewegt. Ich habe seit 1938, d. h. seit dem Erscheinen von Tolnay und Wind in den Vereinigten Staaten, diesen das ganze Michelangelobereich gern und vollständig abgetreten und nicht einmal mehr die Literatur verfolgt.“58 Heydenreich ist dann Anfang 1949 zweimal in Princeton gewesen und hat sogar im Panofsky-Hause übernachtet. Sein „Amerikanisches Tagebuch Wintersemester 1948/49“59 notiert emotionslos und in telegrafischer Kürze: „12/II P r i n c e t o n , 11° Abfahrt nach Princeton. 12° dort Dorette 60 + Pan an der Bahn. Gespräche – zu

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Im Heydenreich-Nachlass der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB), Ana 427, liegt ein mit vielen Retuschen versehener Entwurf dieses Briefes. Friedrich Kriegbaum (1901–1943), Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, war bei dem britischen Bombenangriff auf Florenz am 25. September 1943 getötet worden. Am 19. Oktober 1943 wurde Heydenreich zu seinem Nachfolger ernannt. Korrespondenz, II, 2003, p. 1000f. Nr. 1262. Zu Karl von Tolnay siehe oben, p. 10; Edgar Wind (1900–1971) ging ebenfalls aus der Hamburger Schule hervor. BSB, Ana 427, VII „Lebensdokumente“ (meine Satzzeichen). Ich danke Florentine Mütherich für die Genehmigung, die Tagebucheintragung zu veröffentlichen. Am 7. 2. 1949 hatte Panofsky Heydenreich handschriftlich wissen lassen: „Wir erwarten Sie am Sonnabend, den 12. Februar, mit dem Zug, der punkt 11 Uhr morgens von Pennsylvania Station abgeht, und hoffen, Sie bis Sonntag abend bei uns zu haben“ (BSB, Ana 427). Panofskys erste Frau Dorothea („Dora“, 1885–1965), geb. Mosse.

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Haus – unbeschwert durch kleinen Spaziergang zum Institute for Advanced Studies. Prof. [sic!] (Physiker, früher Dir[ektor] d[er] K[aiser] W[ilhelm] Gesellschaft).61 13/II P r i n c e t o n , vorm[ittags] Spaziergang i[m] Park v[om] Institute for Advanced Studies, nach d[em] Lunch zum Campus, Nassau Hall (1786) 62, Art Institute63. Abendgespräch besonders schön, Lebenslauf 1934–45. 11° Rückfahrt n[ach] New York (Heidi Heimann64 Barbizon Hotel).“ Der 12./13. Februar 1949 fiel auf ein Wochenende. Für die Spaziergänge dürfte es kalt gewesen sein. Noch am späten Sonntagabend, um 23 Uhr, fuhr Heydenreich nach New York zurück, wie sein eingelegter Zettel bestätigt: „Sonntag 13. A b e n d s New York, Hotel Winslow [E 55th Madison]“. Bald darauf wurde Heydenreich vom Institute for Advanced Study und Princeton University aufgefordert, am Freitag, den 18. März 1949, einen Vortrag über das Thema „The development of scientific illustration with special reference to Leonardo da Vinci“ zu halten. Panofsky grüßte: „Looking forward to seeing you once more“.65 Leider bricht Heydenreichs „Amerikanisches Tagebuch“ mit dem 22. Februar 1949 ab, enthält daher keinen Eintrag mehr über seinen zweiten Besuch in Princeton in jenem Frühjahr. Obwohl wir nicht wissen, ob bei der einen oder anderen Gelegenheit das Michelangelo-Thema nochmals zur Sprache kam, assoziierte Heydenreich wie besessen Panofsky mit Michelangelo. Nach Deutschland zurückgekehrt, schickte er nur wenige Monate später seinem ehemaligen Lehrer das noch im Princetoner Haus erhaltene Buch von Friedrich Kriegbaum, Michelangelo Buonarroti. Die Bildwerke (Berlin, Rembrandt-Verlag, 1940), in das er mit Tinte die Widmung schrieb: „Ne revient-on pas t o u j o u r s à ses premiers amours?!66 Revenez donc, revenez! S[einem]/l[ieben] Pan zur Überlegung und Erwägung übereignet von seinem erwartungsvollen Schüler und Freund L. H. Heydenreich. München, August 1949“. Da der Briefwechsel mit keinem Wort auf die Habilitationsschrift anspielt, scheint Heydenreich ihr Vorhandensein verschwiegen zu haben. Vielleicht hatte er die Aufdeckung seines Geheimnisses provozieren wollen, aber Panofsky verstand den Fingerzeig nicht. Schon auf 61

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Bei diesem Herrn, der vielleicht zum Tee eingeladen war oder nur vorbeischaute, handelte es sich wahrscheinlich um den jüdischen Atomphysiker Rudolf Ladenburg (1882–1952). Er war seit 1924 wissenschaftliches Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem gewesen (jedoch nie dessen Direktor, was offensichtlich ein Missverständnis von Heydenreich war). Ladenburg emigrierte bereits 1932 nach Princeton, wo er auch gestorben ist. Die Ladenburgs und Panofskys verkehrten häufig miteinander, und nach Erwin Panofskys Tod übertrugen Ladenburgs Witwe und Töchter die Freundschaft noch auf mich. Heydenreich irrt, Nassau Hall wurde bereits 1756 erbaut. Die Marquand Library of Art and Archaeology, McCormick Hall, Princeton University. Adelheid Heimann (1903–1993), eine Kommilitonin aus Hamburger Studienzeiten, die 1930 von Panofsky promoviert worden war. Panofskys Briefe an Heydenreich vom 28. 2. und 1. 3. 1949 (BSB, Ana 427). Geflügeltes Wort, hier frei zitiert nach der Romanze aus der 1814 uraufgeführten Komischen Oper „Joconde“ von Nicolas Isouard, Libretto von Charles-Guillaume Étienne.

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die Vorankündigung des Kriegbaum-Buches erwiderte er Heydenreich am 1. August 1949: „Michelangelo liegt mir […] weltenfern und wird mir wohl in diesem Leben nicht mehr näher rücken,“67 und nach Empfang desselben wiederholte er am 9. Oktober 1949, dass er „dem Thema völlig entfremdet“ sei.68 Könnte es sein, dass Panofsky seine Michelangelo-Studien den glücklichen Jahren in Berlin und Hamburg gleichsetzte und unter die schmerzende Erinnerung an diese unwiederbringlichen Kapitel seines Lebens einen Strich ziehen wollte? Dennoch verfolgte er bis in sein hohes Alter neue Michelangelo-Ergebnisse und äußerte sich noch am 16. April 1963 zu der von Margrit Lisner in Florenz neu entdeckten Holzskulptur: „Was das Michelangelo-Kruzifix in Santo Spirito betrifft, so bin ich, soweit man ohne Autopsie urteilen kann, eigentlich geneigt, es anzunehmen. Das homosexuelle Gefühl ist doch schon sehr deutlich; der Christuskopf der Vatikanischen Pietà ist fast ebenso quattrocentistisch (Matteo Civitale!) 69; und die halbseitliche Ansicht (Kunstchronik, 1963, I, Fig. 2) nimmt […] in erstaunlicher Weise die des ‚Sterbenden Sklaven‘ voraus […]. Also ich bin, wie gesagt, dafür, aber ich bin […] kein conoscitore“.70 Inzwischen hatte Heydenreich den fall term 1961 als Visiting Member am Institute for Advanced Study in Princeton zugebracht. Als Panofsky im Mai 1963 mit seiner ersten Frau Dora nach Rom flog, um von der Sapienza den Ehrendoktor zu empfangen und in Neapel sowie Venedig die Tizian-Gemälde zu studieren, bot sich Heydenreich an, sie am Flughafen abzuholen und zu betreuen.71 Auch war er bei Carl Nordenfalks Autotour mit Panofsky vom 25.–30. August 1966 durch Schweden mit von der Partie.72 Ende April/Anfang Mai 1967 kam Heydenreich von New York aus zweimal zu Besuch in unser Haus.73 Seine letzte Widmung, als Panofsky schon auf den Tod erkrankt war, lautete: „Seinem verehrten Pan – (der Gedanke kam mir, als ich Gast in Princeton war!) / Heinz Heydenreich / Dez. 1967“.74

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Korrespondenz, II, 2003, p. 1088 Nr. 1321. Ebd., p. 1101 Nr. 1331. Quattrocento-Bildhauer, der 1436–1501 lebte und in Lucca tätig war. Handschriftlicher Brief Panofskys an Heydenreich (BSB, Ana 427). Korrespondenz, V, 2011, p. 335 f. Nr. 2949. Der Herausgeber der Korrespondenz (V, 2011, p. XXIV; p. 901 Nr. 3327 Anm. 1) Dieter Wuttke behauptet fälschlich, Panofsky wäre auf der Hinreise auf dem Hamburger Bahnhof incognito umgestiegen und Heydenreich dort in seinen Zug zugestiegen. Panofsky fuhr in der Nacht vom 24./25. 8.1966 in einem durchgehenden Schlafwagen von Köln nach Malmö – ein auch noch so kurzer Aufenthalt in Hamburg wäre ihm psychisch absolut unmöglich gewesen. Siehe Gerda Panofsky, „Addenda et Corrigenda […]“, in: Erwin Panofsky – die späten Jahre, hrsg. von Susanne Gramatzki und Angela Dreßen, www.kunsttexte.de, „Renaissance“ 4/2011, pp. 27, 39. Ludwig H. Heydenreich, „Federico da Montefeltro as a Building Patron“, in: Studies in Renaissance and Baroque Art presented to Anthony Blunt, London – New York 1967, pp. 1–6. Exemplar in der Historical Studies Library, IAS, Princeton.

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Als Panofsky am 26. Juli 1967 im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München der Orden Pour-le-mérite verliehen wurde, mit welchem Akt Heydenreich das 20-jährige Bestehen seines Instituts feierte und – wie auf den Fotos zu sehen – persönlich das Ordensband um Panofskys Hals legte, war Michelangelo „verdrängt“. Man darf stipulieren, dass damals der Ordner mit den „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ noch nicht in den Keller gewandert 75 und der ahnungslose Verfasser auf ein paar Stunden nicht nur unter einem Dach, sondern womöglich Wand an Wand mit seinem Frühwerk vereint war. Denn wäre das Manuskript erst in dem Jahrzehnt 1968–1978, zwischen dem Tode Panofskys und dem Ableben Heydenreichs, mittels Stiftung eines Nachlasses oder einer Autografenauktion, an das Zentralinstitut gelangt, wäre doch von dem Erwerb Aufhebens gemacht worden. Also sprechen die Anzeichen dafür, dass Heydenreich den Soennecken-Ordner noch in Hamburg an sich nahm, ihn nach Berlin und Florenz in seinem Gepäck mitschleppte (im Krieg gar mit seinen Koffern im Salzbergwerk auslagerte), um ihn schließlich in München zu deponieren. Angesichts der vielfachen und z. T. ausgedehnten Nachkriegszusammenkünfte bleibt es ein Rätsel, warum Heydenreich das letzten Endes von ihm g e r e t t e t e Manuskript weder in Amerika noch in Deutschland seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgab. Auch wenn Panofsky nicht mehr über Michelangelo arbeiten wollte – seine einstigen Forschungen besaßen zumindest sentimental value, schließlich ist die Habilitation ein bedeutender Meilenstein im curriculum vitae eines Gelehrten. Ende 1978, also bald nach dem Tode Heydenreichs, der am 14. September jenes Jahres verschied, stiftete Florentine Mütherich seinen übrigen Nachlass an die Bayerische Staatsbibliothek (BSB), wo er in der Abteilung für Handschriften und Alte Drucke unter der Signatur Ana 427 aufbewahrt wird. Außer Briefen, die größtenteils von Dieter Wuttke in die Erwin Panofsky Korrespondenz aufgenommen worden sind,76 findet sich dort der komplette Satz von 175 Fotos nach dem Codex Huygens (M. A. 1139, Pierpont Morgan Library, New York), welche auf der Rückseite in Panofskys Handschrift Folio- und Abbildungsnummern sowie Transkriptionen des Traktats des anonymen Leonardo-Schülers tragen.77 Eindeutig dienten sie als Vorlagen für Erwin Panofskys Publikation The Codex Huygens and Leonardo da Vinci’s

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Angeblich hat Heydenreich erst nach seiner Pensionierung 1970 seine brisantesten Papiere feuer- und diebessicher im Institutskeller eingeschlossen, wo sie nach seinem Tode verblieben. In BSB, Ana 427, Schachtel 6, Nr. 9 „Quellenstudien zu Leonardos Malereitraktat“ liegen noch zwei sehr schöne handschriftliche Briefe Panofskys an Heydenreich, datiert Princeton, 11. 2.1950 und 23. 11.1953, welche dem Herausgeber der Korrespondenz wahrscheinlich unbekannt blieben, weil sie nicht unter den übrigen Briefschaften aufgehoben sind. BSB, Ana 427, Schachtel 15, Nr. 3: ein großer brauner Briefumschlag des Gabinetto Fotografico Nazionale, Roma, Via in Miranda, 5, von Heydenreich beschriftet „Codex Huygens v[on] Pan“.

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Art Theory (London, The Warburg Institute, 1940). Vermutlich hatte Heydenreich sie sich einst ausgeliehen – wohl kaum während seiner kurzen Visiten von 1949, sondern eher 1961 während seiner dreimonatigen Residenz am Institute for Advanced Study –, und er hat dann unterlassen, sie zurückzugeben. Interessanter ist ein roter Aktendeckel mit Heydenreichs handschriftlicher Bezeichnung „San Lorenzo Fassade“.78 Er enthält ein 46 Seiten langes Bleistiftmanuskript von Heydenreich mit der Überschrift „Das Problem der Fassade“, d. h. von S. Lorenzo in Florenz, zu dem 15 kleinere Fotos der Entwürfe und Modelle sowohl von Giuliano da Sangallo wie von Michelangelo gehören. Vorausgeschickt wird die allgemeine Entwicklung italienischer Fassaden vom 12. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, vor allem mit Erörterung derjenigen Leone Battista Albertis von S. Francesco in Rimini und S. Maria Novella in Florenz. Offenbar stammt diese Studie aus Heydenreichs Hertziana-Zeit von 1931–33, seine eigentliche Diskussion der „San Lorenzo Fassade“ mag aber auf 1928/29 zurückgehen, als er nach bestandenem Doktorexamen (am Sonnabend, den 27. Oktober 1928, von 9–10 Uhr von Professor Panofsky im Hauptfach geprüft) das neunmonatige „Reichsstipendium“ des Ministers des Innern am Florentiner Institut gewonnen hatte.79 Auf Seite 45 seines Konzepts vermerkt Heydenreich nämlich in eckigen Klammern: „Der Referent freut sich, beide Umgruppierungen von Prof. Panofsky bestätigt zu sehen, der vor einigen Jahren in einem Mich[elangelo]-Kolleg dieselbe Einteilung der Pläne vorgeschlagen hatte.“ Bereits auf Seite 36 bezieht er sich auf Prof. Panofsky, der „seinerzeit (im Kolleg 19?) die u. a. richtige umgekehrte Beeinflussung [Michelangelos durch Giuliano da Sangallo] als viel wahrscheinlicher hingestellt“ hatte, und auch auf Seite 38 beruft er sich auf ihn: „Der letzte Entwurf wird von Prof. Panofsky wohl wieder mit Recht als für zu San Lorenzo gehörig angezweifelt, da er das Roverewappen (Julius’ II.) zeigt“.80 Insofern als Heydenreich nach fünf Berliner Semestern (WS 1922/23–WS 1924/25) nur vom SS 1925–WS 1928 in Hamburg studierte, müsste das „vor einigen Jahren“ gehaltene Panofsky’sche Michelangelo-Kolleg um 1925–1926 oder danach stattgefunden haben, aber ein solches lässt sich nicht identifizieren.81 Heydenreichs Manuskript liegen 10 Blatt zur S. Lorenzo-Fassade bei, ziemlich zerknüllt und bisher von zwei rostigen Büroklammern zusammengehalten, die ohne

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BSB, Ana 427, Schachtel 8, Nr. 1 „Ausgeführte Arbeiten (Florenz + Mailand)“. BSB, Ana 427, Schachtel 14, Nr. 2. Ich danke Florentine Mütherich für die Genehmigung diese Passus zu zitieren. In BSB, Ana 427, habe ich keine Studienbücher von Heydenreich gesehen. Indirekt lässt sich seine Teilnahme nur für 1927 nachweisen: den Sonderdruck seines Aufsatzes „Marc Aurel und Regisole“ (in: Festschrift für Erich Meyer zum sechzigsten Geburtstag, Hamburg 1959, pp. 146– 159) widmete er Panofsky mit den Worten: „Eine Reprise des ,kavalleristischen‘ Problems aus der Seminarübung von 1927! Ihr alter Heydenreich/20. 10. 59“. Exemplar in der Historical Studies Library, IAS, Princeton.

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jeden Zweifel ein Panofsky-Autograf sind.82 Nicht nur ist es Panofskys FüllfederHandschrift der zwanziger Jahre, auch trägt das erste Blatt den Briefkopf der „Bibliothek Warburg, Hamburg 20, 192 [sic!], 114 Heilwigstrasse, Telephon Merkur 3340“. Da die Bibliothek Warburg im Mai 1926 von der Heilwigstraße 114 in das neue Gebäude Heilwigstraße 116 umzog, lassen sich die Panofsky-Notizen also wirklich auf 1925/26 datieren (von wenigen, leicht späteren Zusätzen abgesehen). Möglicherweise dienten sie als Stichworte für eben jene von Heydenreich erinnerte Vorlesung oder Übung. Die Blätter 1 (unnummeriert) und 5 sind einseitig beschrieben, 2–4a und 6–9 benutzen die Rückseiten eines zerschnittenen und zusammengeklebten älteren Manuskriptes, dessen Fragmente mit rotem Filzstift durchgestrichen sind. Es handelte sich hierbei um Panofskys Abfassung seiner Rezension von Dagobert Freys Michelangelo-Studien.83 Wiederum ist unbekannt, wie seine Aufzeichnungen zur S. Lorenzo-Fassade in Heydenreichs Besitz gelangten bzw. verblieben. Da die „Neue Disposition“ der Habilitationsschrift im Hauptteil (B, III) „auch Architektur“ ankündigt, diese aber nicht realisiert wird, transkribieren wir den jüngsten Münchner Fund als Anhang zur Habilitationsschrift. Auch sind die Faksimiles der Seiten nahezu grafische Kunstwerke.

In seiner Auseinandersetzung mit der Kunstanschauung um 1900 polemisiert Panofsky vor allem gegen Adolf von Hildebrands (1847–1921) verallgemeinernde Postulate und Heinrich Wölfflins (1864–1945) einseitig formale Deutungen, welche nicht der Charakterisierung der einzelnen Künstler, sondern des Gesamtstils einer Epoche galten. Sofort wird manifest, dass Panofsky mit dem Titel seiner Habilitationsschrift gegen diese Art von „Kunstgeschichte ohne Namen“ zu Felde zog; denn er schrieb gleich zwei Namen, Michelangelo und Raffael, auf seine Fahne und kontrastierte ihre „Gestaltungsprincipien“, um ihren persönlichen Stil aus dem Gesamtstil der Renaissance, der sog. klassischen Kunst, zu destillieren. Wie er in seiner Einleitung konstatiert, ging es ihm darum, „in den Werken eines Künstlers gerade das Einzigartige, Individuell-Schöpferische“, „das Spezifische ihres ,Kunstwollens‘“ bzw. ihres „künstlerischen Wesensunterschiedes“ zu erfassen. Wölfflin hatte im Vorwort zur ersten Auflage (1898) seines Buches Die Klassische Kunst gerühmt, dass Hildebrands Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893) „wie ein erfrischender Regen auf dürres Erdreich gefallen“ sei. Panofsky, der die Hildebrand’sche Ausgabe von

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Die 15 kleinen Fotos scheinen auf der Rückseite z. T. ebenfalls von Panofsky beschriftet zu sein, jedoch bin ich mir da nicht vollkommen sicher. „Bemerkungen zu Dagobert Frey’s ,Michelangelostudien‘“, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, V, 1920/21, Archiv für Geschichte und Aesthetik der Architektur, pp. 35–45; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, pp. 492–505.

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1913 besaß, zitiert in seiner Habilitationsschrift dieselbe wie auch Wölfflins Bücher an die 40-mal. Während sich seine Wege mit dem hauptsächlich in Florenz lebenden Bildhauer niemals kreuzten, hatte Panofsky an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität insgesamt fünf Lehrveranstaltungen von Wölfflin besucht: im Wintersemester 1910/11 montags und donnerstags von 5–7 Uhr privatim die „Einführung in das Studium der neueren Kunstgeschichte (im Anschluß an die Sammlungen der Königlichen Museen)“ und sonntags von 12–1 Uhr die öffentliche Vorlesung „Typen deutscher Baukunst“; im Wintersemester 1911/12 dienstags und freitags von 5–7 Uhr privatim die „Geschichte der deutschen Kunst im 15. und 16. Jahrhundert“ mit zweistündigen Übungen im Anschluss an die Vorlesung sowie sonntags von 12–1 Uhr wieder die öffentliche Vorlesung über „Lionardo da Vinci“. Keine dieser Darbietungen war aber anscheinend mit Michelangelo oder Raffael befasst, und zum Sommersemester 1912 nahm Wölfflin den Ruf nach München an und kehrte Berlin den Rücken. Seinen Studienbüchern zufolge belegte Panofsky jedoch u. a. bei Edmund Hildebrandt „Michelangelos Werke II und italienische Malerschulen“ (Berlin, WS 1910/11) und „Michelangelo“ (Berlin, SS 1912); bei Karl Voll „Geschichte der italienischen Malerei im 15ten und 16ten Jahrhundert“ (München, SS 1911); bei Karl Frey „Die Kunst in der Renaissance (allgemeine italienische Kunst- und Kulturgeschichte, Teil II)“ (Berlin, WS 1911/12) und „Die Hauptmeister der Renaissance (Michelagniolo, Raffael, Leonardo, usw.)“ (Berlin, SS 1912); bei Werner Weisbach „Die Malerei der italienischen Frührenaissance“ und „Bernini und der italienische Barock“ (Berlin, WS 1912/13); bei August Grisebach „Architektur Italiens von der Gotik bis zum Barock“ (Berlin, WS 1913/14); sowie bei Adolph Goldschmidt „Die Bildhauer der italienischen Renaissance“ (Berlin, WS 1912/13), „Geschichte der italienischen Kunst von der altchristlichen Zeit bis zum Beginn der Gotik“ (Berlin, WS 1914/15), „Michelangelo“ (Berlin, WS 1915/16), „Italienische Barockkunst“ (Berlin, SS 1916) und „Die mittelalterliche Kunst Italiens von der altchristlichen Zeit bis Giotto“ (Berlin, WS 1916/17) – jeweils mit Übungen im Anschluss an die Vorlesungen. In die Berliner Vorweltkriegsjahre fällt außerdem die von der Grimm-Stiftung für 1911–1913 ausgeschriebene Preisaufgabe „Es soll das Verhältnis Dürers zu den italienischen Kunsttheoretikern, vornehmlich zu Lionardo, erörtert werden“, für die Panofsky im August 1913 prämiert wurde. Das Thema war noch von Wölfflin gestellt worden, nach dessen Weggang begutachtete Goldschmidt die eingereichte Arbeit. Sie erschien 1915 unter dem Titel Dürers Kunsttheorie vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunsttheorie der Italiener, ihr Schlusskapitel lautet „Dürer, Raffael, Leonardo“. Allein der „Zweite Hauptteil“ (pp. 122–180), bloße 58 der 209 Seiten langen Abhandlung, hatten zur Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau genügt. Sowohl die Inaugural-Dissertation (1914) wie das vollständige Buch (1915) wurden von Georg Reimer in Berlin verlegt, einem der Gründungsverlage von De Gruyter, welcher dank glücklicher Fügung nun auch Panofskys Habilitationsschrift herausgibt.

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In Berlin hatte Panofsky mehrere Semester auch Philosophie studiert, u. a. bei Georg Simmel: im WS 1911/12 hörte er bei diesem „Die Haupterscheinungen der Philosophie des letzten Jahrhunderts (von Fichte bis Nietzsche und Bergson)“, im SS 1912 „Ethik (mit Rücksicht auf die Grenzgebiete: Recht, Kunst, Religion)“ und im SS 1913 „Griechische Philosophie (mit Berücksichtigung der späteren Entwicklungen)“. Panofskys handschriftlich in seinem Nachlass gefundenes Vortragsmanuskript „Rembrandt und das Judentum“84 zitiert ausgiebig Simmels Rembrandtstudien.85 Das Autograf ist mit dem Schlussdatum 28. 12.1920 versehen, entstand also simultan mit der Redaktion der Habilitationsschrift. Man darf daher annehmen, dass Panofsky während letzterer nicht nur Simmels Buch Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (Leipzig 1916), das vielfach auf Michelangelo Bezug nimmt, zur Hand nahm, sondern auch dessen Aufsatz über „Michelangelo“ von 1911 (neu aufgelegt 1919).86 Dieser wird in Simmels Gesammelten Essais gefolgt von einem Aufsatz über „Rodin“ (der auch im Rembrandt-Buch figuriert, wie z. B. auf Seite 130 „die beiden Stiltypen: Michelangelo und Rodin“ in einem Atemzug genannt werden), was die verblüffende Erwähnung Rodins in den „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ (p. 157) erklären mag.87 Jedoch wendet sich – unausgesprochen – die Habilitationsschrift g e g e n Simmels Michelangelo-Interpretationen. Sie widerlegt Simmels Auffassung von der Aufhebung der christlichen Gegensätze von Körper und Seele, des Dualismus von Natur und Geist in Michelangelos Werken. Simmel schrieb z. B.: „Mit einem Schlage aber und den künstlerischen Ausdruck unseres Wesens ohne Rest in Einheit umfassend, bietet sich die Lösung all dieser allgemein seelischen und christlich historischen Entzweitheiten, sobald die sixtinische Decke, die Stücke des Julius-Denkmals, die Mediceergräber dastehen. Das Gleichgewicht und die Anschauungseinheit der ungeheuersten Lebensgegensätze ist gewonnen.“88 Schon 1914 hatte sich Panofsky skeptisch über Simmel geäußert: „Nur muß man sich vielleicht – und besonders der Name ,Nietzsche‘ kann da verwirren – davor hüten, dadurch dem Individualismus in einem

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Herausgegeben von Gerda Panofsky in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, XVIII, 1973, pp. 75–108; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, II, pp. 971–1006. Der Vortrag wurde am 3. 1.1921 in der Aula der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zu Berlin gehalten und am 2. 3. 1921 vor der „Vereinigung der Gießener Kunstfreunde“ in Gießen wiederholt. Das Manuskript ist von mir den Archives of American Art, Washington, D.C., übergeben worden. In: Logos, V, 1914/15, pp. 1–32, 221–238. In: G. Simmel, Philosophische Kultur, gesammelte Essais, Leipzig 1911, pp. 157–184; 2. Auflage, Leipzig 1919, pp. 142–167. Panofsky besaß auch von Auguste Rodin Die Kathedralen Frankreichs, mit Handzeichnungen Rodins auf 32 Tafeln, berechtigte Übertragung von Max Brod, Leipzig (K. Wolff) 1917. A. a. O., 1911, p. 160. Siehe hierzu auch das Kapitel „Georg Simmels Michelangelo – die Überwindung aller Dualismen“ in: Joseph Imorde, Michelangelo Deutsch!, Berlin 2009, pp. 130–132 (Dank an Sybille Ebert-Schifferer für den Hinweis auf Imorde).

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hanebüchenen Sinne Vorschub zu leisten […], der dann auf den ,rélativisme de Mr. [Monsieur] Simmel‘ führen kann.“89 Und 1916, verzweifelt über die Sinnlosigkeit des Krieges, bezichtigte er Simmel, dass er wie viele andere Intellektuelle sein „Individuell-Sein“ nicht als Verpflichtung zum Eingreifen in die Politik, sondern als Vorwand zur Passivität verstand.90 Panofskys Antithese von Michelangelo und Raffael empfing vielleicht ihren allerersten Impuls von Wilhelm Heinse (1749–1803), dessen Ardinghello und die glückseligen Inseln. Eine italienische Geschichte aus dem 16. Jahrhundert (1787) er sich schon als Student in der geschmackvollen, nach der 2. Original-Ausgabe von 1794 von Wilhelm Borngräber (Berlin – Leipzig 1914) auf Büttenpapier gedruckten Ausgabe gekauft hatte. In dem Roman werden die Gegensätze zwischen den beiden Künstlern heftig diskutiert, wie: „Michel Angelo […] gehört gar nicht unter die Maler […]. Was hat er denn hervorgebracht? Seine Capella Sixtina und weiter nichts als seine Capella Sixtina. […] Raffael hingegen […] strebte in Unschuld das zu dem Seinigen noch zu gewinnen, was der weit ältere, der Mann in Rücksicht seiner, Vortreffliches besaß. […] Und endlich konnte Raffael wohl von Michel Angelo lernen, aber Michel Angelo nicht von ihm, denn was den Raffael zum ersten Maler macht, lehrt und lernt sich nicht“ (p. 179 f.). Oder: „Man kann nicht wohl umhin, unter den großen Meistern der neuern Zeit den Michel Angelo und Raffael oben an zu stellen; jenen wegen Richtigkeit im Nackenden und Erhabenheit seiner Denkungsart, doch hat er wenig Gefühl für schöne Form gehabt und ein elendes Auge für Farbe und war arm an Gestalt. Raffael ist lauter Herz und Empfindung und eine Quelle von Leben und Schönheit […]“ (p. 230). Mit Rotstift hat Panofsky am Rande folgende Stelle angestrichen: „Die höchste Vollkommenheit ist überall der letzte Endzweck der Kunst, sie mag Körper oder Seele oder beides zugleich darstellen und nicht die bloße getroffene Ähnlichkeit der Sache und das kalte Vergnügen darüber“ (p. 211) – die Spaltung zwischen Körper und Seele, welche in der Habilitationsschrift von der Antike durch das Mittelalter bis zu Michelangelo in Philosophie und Kunst aufgedeckt werden sollte. Zum 400. Todestag Raffaels am 6. April 1920 fand in Berlin im großen Saal des Kaiser-Friedrich-Museums eine Feier statt, bei der die Wände mit des Meisters Teppichen und den fünf Gemälden aus dem Besitz des Hauses geschmückt waren. Den

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Brief mit Poststempel vom 20. 8. 1914 an den Studienfreund Franz Schoenberner (Korrespondenz, I, 2001, p. 15 Nr. 20). Mit dem Datum „22. VIII. 14“ seines Briefes hat sich Panofsky anscheinend inmitten der Sorgen um seinen Vater (gestorben am 22. 8.) vertan. Die Abkürzung „Mr.“ ist vom Herausgeber in „Mes.“ verlesen, auch hat er das Zitat nicht erkannt, das auf die Publikation von Albert Mamelet, Le rélativisme philosophique chez Georg Simmel, Paris 1914, anspielt. Siehe hier besonders p. 208 f. Undatierter Brief an Kurt Badt, vermutlich zweite Hälfte 1916 (LBI, abgedruckt in: Korrespondenz, I, 2001, p. 42 Nr. 39).

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Festvortrag hielt Oskar Fischel,91 dessen 1913–1919 erschienenes Corpus von Raphaels Zeichnungen grundlegend für die Habilitationsschrift war und welches Panofsky selber besaß. Das Jubiläum wird den Habilitanden nicht unberührt gelassen haben. Als Panofsky 1919 über Michelangelo und Raffael zu arbeiten begann, hatte er weder deren Skulpturen und Fresken in Rom und Florenz noch auch die Hauptwerke des Jacopo della Quercia, Donatello oder Luca Signorelli im Original gesehen. Wie aus vielfachen Verweisen in den Anmerkungen hervorgeht, fußten seine Beobachtungen meist auf Abbildungen, d. h. damalig in der Regel Schwarz-Weiß-Reproduktionen (die farbigen Tafeln des 1905 erschienenen 2. Bandes von Steinmanns Die Sixtinische Kapelle waren noch nach aquarellierten Salzkopien des römischen Malers Carlo Tabanelli angefertigt worden). Die berühmtesten Statuen der Antike sowie der Renaissance hatte er jedoch in den Abgusssammlungen der Königlichen Museen zu Berlin betrachten können. Die Gipse der griechischen und römischen Plastik waren mit nicht weniger als 2271 Exponaten in zehn Sälen des Neuen Museums ausgestellt.92 Im Kaiser-Friedrich-(jetzt Bode-)Museum waren in den unteren Sälen Nr. 17, 19 und 26 am Kupfergraben von 1910–1917 dazu Abgüsse italienischer Bildwerke zu sehen, darunter Ghibertis goldene Florentiner Baptisteriumstür, die Kanzeln aus dem Dom zu Siena und S. Croce zu Florenz, Donatellos „Gattamelata“ und Verrocchios „Colleoni“, Donatellos „Hl. Georg“ sowie von Michelangelo die „Pietà“ der Peterskirche, die „Brutus“-Büste, der „Christus“ aus S. Maria sopra Minerva und die Madonna und Grabmäler der Medici-Kapelle (welch letztere Panofsky im unten, p. 25, zitierten Brief vom 20. September 1921 expressis verbis erwähnt).93 Gedanken über die in der

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Berichte aus den Preußischen Kunstsammlungen, XLI. Jahrgang Nr. 4, col. 176. Fischel hatte sich erst 1914 in Berlin habilitiert, sodass Panofsky nicht mehr bei ihm studiert hat. In der Panofsky’schen Privatbibliothek in Princeton befindet sich noch der Katalog der Königlichen Museen zu Berlin, Die Gipsabgüsse antiker Bildwerke, von Carl Friederichs, neu bearbeitet von Paul Wolters, Berlin (W. Spemann) 1885. Baedekers Berlin and its Environs (4. Auflage Leipzig 1910, p. 79 f.) empfahl den Reisenden „the very extensive and valuable Collection of Casts from the antique“ im ersten Geschoss des Neuen Museums und im Verbindungsgang zum Alten Museum und riet zum Kauf obgenannten wissenschaftlichen Katalogs von 1885 für zwölf Mark. Die Beschreibung fuhr fort: „Room III contains also Greek landscapes, and Room X mural paintings from the Greek heroic myths. – Rooms XI and XII contain the casts of the sculptures discovered during the excavations carried on by Ernst Curtius in 1876–81 at Olympia at the expense of the German Government.“ Seit 1921 befand sich die Abgusssammlung in zwölf Sälen des zweiten Stocks des Westflügels der Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden. Die Sammlung von Gipsabgüssen christlicher Bildwerke war (zusammen mit einer Formerei) 1841 gegründet und ab 1874 dank einer systematischen Kampagne in Italien bedeutend vermehrt worden. Die Abformungen waren anfangs von 1859–1910 im ersten Stock des Neuen Museums ausgestellt. Siehe Wilhelm von Bode, „Die Skulpturen und Gipsabgüsse der christlichen Zeit“, in: Zur Geschichte der Königlichen Museen in Berlin. Festschrift zur Feier ihres funfzigjährigen Bestehens, Berlin 1880, pp. 123, 127 f.; Ders., Mein Leben, Berlin 1930, I, pp. 150–153.

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Habilitationsschrift prominenten Skulpturen gingen also zurück bis auf die Berliner Schul- und Studentenzeit. Nicht berücksichtigt, weil noch in keiner Form selbst gesehen, wird in der Habilitationsschrift die Architektur Michelangelos. Dieser widmete sich Panofsky erstmals 1922,94 d. h. nach dem ersten Florenz- und Romaufenthalt (siehe unten, p. 24 ff.). Abgesehen von den in Privatbesitz befindlichen Büchern lassen sich sämtliche der in der vorliegenden Schrift zitierten Titel unfehlbar im Katalog der Preußischen Staatsbibliothek Berlin nachweisen. Viele derselben tragen jedoch heute den Vermerk „Kriegsverlust. Keine Benutzung möglich“ (was z. T. Beutegut in Russland verbrämt). Es war daher für die gegenwärtige Edition mit großen Schwierigkeiten verbunden, andernorts Exemplare der von Panofsky konsultierten Rara des 16. bis frühen 20. Jahrhunderts aufzutreiben, jedoch habe ich ausnahmslos jedes Titelblatt und jedes Zitat in den seinerzeit benutzten Ausgaben in Augenschein genommen. Alle „angezogenen“ (wie Panofsky es ausdrückt) Publikationen datieren – bis auf zwei von 1923 – vor 1920. Offenbar sah er sich verpflichtet, den Stand der Wissenschaft zum Zeitpunkt der stattgehabten Habilitation zu respektieren. Dass sich die bibliografischen Titel vollständig in der Preußischen Staatsbibliothek belegen lassen, ist nicht überraschend, da ja die Habilitationsschrift in den knapp 14 Monaten von Januar 1919 bis März 1920 in Berlin verfasst wurde. Die Analysen der „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ basierten (außer auf den Berliner Museumsbeständen) allein auf Bibliotheksrecherchen, da wegen der politischen Unruhen Auslandsreisen zwecks archivalischer Forschungen oder Autopsie der Originale sich verboten. Man darf daran erinnern, dass am 15. Januar 1919 in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet worden waren und dass bis August jenes Jahres, bis zur Gründung der Weimarer Republik, in Deutschland die Revolution mit Streiks und Straßenkämpfen tobte. Als die Heidelberger Universität (siehe oben, p. 1) Panofsky noch um ein Leumundszeugnis bat, teilte er der Philosophischen Fakultät am 8. Januar 1919 von seinem Wohnsitz in Charlottenburg mit, dass die Beibringung eines solchen insofern Schwierigkeiten begegne, „als das für mich zuständige Polizeirevier (bei dem ein derartiges Zeugnis zu beantragen ist) wegen der zur Zeit in der Gegend des Polizeipräsidiums (dem die eigentliche Ausfertigung obliegt) stattfindenden Straßenkämpfe mit der letztgenannten Behörde nicht in Verbindung steht“.95 Während seines Universitätsstudiums von 1910–1914 hatte Panofsky zwar die Denkmäler Westfalens, Frankens, Schwabens und Bayerns fleißig vor Ort erkundet

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„Die Treppe der Libreria di S. Lorenzo. Bemerkungen zu einer unveröffentlichten Skizze Michelangelos“, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft, XV, 1922, pp. 262–274; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, pp. 475–505. Universitätsarchiv Heidelberg /H-IV-102/144 fol. 261 verso. Die Kenntnis dieses Passus verdanke ich wiederum Uta Nitschke-Joseph. Das 1885/90 erbaute Berliner Polizeipräsidium befand sich am Alexanderplatz 3–6 und wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.

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(und außer Notizen und Skizzen sich eine Postkartensammlung angelegt), aber in Italien war er nicht gewesen – mit Ausnahme eines Erholungsurlaubs Ende Mai 1911 im feinen „Hotel des Bains“ am Lido von Venedig, der abrupt abgebrochen werden musste wegen des Ausbruchs der Choleraepidemie (wie durch Thomas Mann, der mit Frau und Bruder im gleichen Etablissement Ferien machte, in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ von 1912 unsterblich gemacht). An Mitteln hätte es dem Sohn aus wohlsituiertem Hause kaum gefehlt. Bildungsreisen in fremde Länder waren jedoch im sparsamen Preußen nicht üblich, das gehobene Bürgertum begnügte sich mit den großartigen Kunstsammlungen von Berlin und Dresden. Dann kam der Erste Weltkrieg, und Panofsky wurde von 1914–1919 eingezogen. Auch wenn er wegen eines Reitunfalls vom Frontdienst befreit war, war er als „arbeitsverwendungsfähig in der Heimat“ eingestuft und durfte seinen Posten in Berlin bzw. Kassel nicht verlassen. Erstmals in den Semesterferien des Herbstes 1921 erlebte er auf einer dreiwöchigen Reise Florenz und Rom. Am 8. September war er von Berlin (mit Unterbrechungen in Innsbruck und Bologna) in einem „rasend überfüllten“ Zug, sechs Stunden „all’italiana“ auf seinem Koffer sitzend und „auf allen Stationen abwechselnd einen Fiasco Chianti (1/2 Liter mit Korbflasche 2 Lire!) und eine Portion Gelato verspeisend“, gegen Mitternacht in Florenz angekommen und gleich am Bahnhof im Hotel „Scannavini“ an der Piazza S. Maria Novella abgestiegen, „einem sauberen und netten Hotel, wo hauptsächlich Abbati und Deputierte wohnen, und [ich] sehe von meinem Fenster aus über einen schönen und völlig baumlosen Platz hinweg, nichts anderes als die nicht unbekannte Fassade des seligen Alberti“. Weiter meldete er am nächsten Morgen nach Hause: „Jetzt will ich in die Stadt und sehen, was mir dort an Michelangelo u. s. w. bleibt.“96 Am 13. September 1921 traf er in der Ewigen Stadt ein: „Von Rom habe ich noch nichts gesehen als die Hauptstraßen, den Pincio und das – wunderbare, alte, gute – Pantheon, ich bin um 2 Uhr angekommen […]“.97 Er hatte mit Sicherheit nicht Burckhardts Cicerone in der Tasche, den comme il faut-Begleiter jedes Italienreisenden jener Zeit.98 Stattdessen waren es wohl das im Nachlass erhaltene „Kurze Reisehandbuch“ von Karl Baedeker, Italien von den Alpen bis Neapel (6. Auflage, Leipzig 1908) nebst den drei kleinen Bänden der Schriftenreihe Moderner Cicerone: Rom I. Antike Kunst. Die Ruinen Roms von Heinrich Holtzinger. Die Antiken-Sammlungen von Walther Amelung [1904]; Rom II. Neuere Kunst seit Beginn der Renaissance von Otto Harnack [1903]; und Rom III. Die Umgebung von Thassilo von Scheffer [1903]. Bis Ende September logierte Panofsky im Albergo S. Chiara, Via S. Chiara 20, „der Minerva gegenüber“ – um den 20. des Monats unterbrochen durch eine kurze Rück-

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LBI, Brief an Dora Panofsky nach Hamburg, Florenz, 8. 9.1921. Desgleichen, Rom, 13. 9. 1921. Gemäß Joseph Imorde, Michelangelo Deutsch!, Berlin 2009, p. 35 f.

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kehr nach Florenz, wo ihn am Anfang der Reise ein starker Husten gequält hatte. In Florenz erging es ihm „ganz merkwürdig, ich lebe dauernd in der Empfindung des sogenannten ,déjà vu‘, die man bei vielen Träumen hat: man hat das bestimmte Gefühl, das alles schon zu kennen, dennoch aber ein ebenso bestimmtes Gefühl absoluter Neuheit. […] alles [ist] überraschend anders: die Donatelloplastik[en] alle bunt, die Tageszeiten [in der Medici-Kapelle] von Michelangelo blank poliert, obgleich man sie sich – nach den Gipsen – natürlich rauh vorstellte, die Piazza Signoria kleiner als ich dachte, dafür die Loggia de’ Lanzi und die Paläste viel größer und wirklich imposant […]. Michelangelo wird natürlich gewissenhaft ,erledigt‘ und daneben auch etwas dal cuore genossen.“99 Die neuen, überraschenden Eindrücke resultierten aus der bis dato ungekannten Farbigkeit (wie besonders bei Domenico Venezianos „Madonna“ in den Uffizien hervorgehoben) und den ungeahnten „herrlichen“ Proportionen (wie in S. Croce bewundert). Dass Panofsky in Rom nie zuvor die Sixtinische Kapelle (wie auch nicht die Cappella Paolina und die Raffaelischen Stanzen) betreten hatte, geht unmissverständlich aus seinem Brief vom 17. September 1921 hervor, der erfüllt war von der „aufregenden […] Begegnung mit den Paolina-Fresken, die ganz enorm eindrucksvoll sind, (die Sixtinafresken habe ich noch nicht gesehen, da ich erst morgen den Permesso bekomme […]). Zunächst ist der Raum viel größer und schöner, als ich dachte: ich hatte mir eine Art Stube vorgestellt – es ist aber eine richtige Kirche, die von M[ichelangelo] bemalten Flächen mindestens 9 × 9 meter groß. Dazu von einer gedämpften, aber (im Gegensatz zu den scheußlichen Vasarifresken in der Sala Regia) keineswegs wässerigen Farbigkeit. Der Stil und die Erhaltung […] fabelhaft. Ich glaube, mir sind über den Spätstil doch einige Lichter aufgegangen: die Entwicklung vollzieht sich gerade i n n e r h a l b der Paolinafresken, von denen der Engelsbetrieb auf dem Paulusfresko noch ganz Jüngstes Gericht ist […]; das letzte ist dann die U n t e r p a r t i e des Petrusfreskos“.100 Diese Erkenntnisse schlugen sich sechs Jahre später in einem Aufsatz nieder101 sowie ausführlicher nochmals 1931/32 von New York aus: „daß das Petrus-Fresko erst nach Vollendung des Paulus-Freskos in Angriff genommen wurde und das erste Zeugnis der ,ultima maniera‘ bedeutet, während das Paulus-Fresko umgekehrt der 99 100

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LBI, Brief an Dora Panofsky nach Hamburg, Florenz, 20. 9. 1921. LBI, Brief an Dora Panofsky (abgedruckt in: Korrespondenz, I, 2001, p. 103 Nr. 83a). Bei den Tausenden von Touristen, die heutzutage durch die Sixtina geschleust werden, vergisst man, dass man seinerzeit nur mit besonderer Erlaubnis eingelassen wurde. „Die Pietà von Ubeda. Ein kleiner Beitrag zur Lösung der Sebastianofrage“, in: Festschrift für Julius Schlosser zum 60. Geburtstage, Zürich – Leipzig – Wien 1927, pp. 150–161, insbes. p. 160: „[der] wahrhafte Altersstil [Michelangelos,] der, genau genommen, erst zwischen dem ersten und zweiten Paolinafresko sich ausbildet, (der stilistische Abstand zwischen der ,Bekehrung Pauli‘ und der ,Kreuzigung Petri‘ ist größer, als der zwischen der ,Bekehrung Pauli‘ und dem ,Jüngsten Gericht‘)“. Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, pp. 635–649.

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letzte Ausdruck derjenigen Stilphase ist, deren Hauptdenkmal das Jüngste Gericht darstellt: im Paulus-Fresko noch dynamische Verkettung organischer Einzelbewegungen und Einzelkörper, im Petrus-Fresko schon strukturelle (den Vorgängen im magnetischen Felde vergleichbare) Reihung und Schichtung anorganischer Einzelrichtungen und Einzelmassen; daher im Paulus-Fresko noch die (vergleichsweise) realräumliche Tiefenlandschaft des Jüngsten Gerichts, im Petrus-Fresko eine fast aperspektivische Räumlichkeit, innerhalb derer die Richtungen vorn-hinten, rechts-links und oben-unten beinahe gleichwertig sind. […] Im Paulus-Fresko ,erinnert sich‘ Michelangelo der hellenistisch-pathetischen und dynamischen Antike (Rosse der Vatikanischen Biga bzw. der Dioskuren auf Monte Cavallo, Laokoon, Homerbüste […]). Im Petrus-Fresko dagegen ,erinnert‘ er sich der römisch-unemotionalen und statischen Antike, wie sie ihm in den Reliefs der Trajan-Säule vor Augen stand, und die der neuen Tendenz zur parallelen Reihung und aperspektivischen Höhenstaffelung kubisch-abstrakter Einzelformen entgegenkam“.102 Während Panofsky in seiner Habilitationsschrift (p. 178 ff.) die Figur des niedergestürzten Paulus von Raffaels Heliodor, d. h. nach Fotos ein Motiv abgeleitet hatte, hatten sich ihm vor den Fresken selbst nicht nur deren Ausmaße und Kolorit, sondern ihre Entwicklung innerhalb des Œuvre Michelangelos offenbart. Leider hat sich die Wirkung der Cappella Sistina nicht ebenso ausführlich niedergeschlagen wie die der Paolina – vielleicht weil die Decke damals noch von jahrhundertelangem Kerzenruß und Staub dunkel und verschmutzt war, vielleicht auch weil sie wiederum quasi ein déjà vu, dagegen die Paolina von jähem Effekt war. Zwei Tage nach ihrer vermutlichen Besichtigung heißt es nur: „Heute Stanzen – ein über alles Erwarten großer Eindruck – in seiner Art nicht minder bedeutend als der der Sixtina.“103 Sodann preist Panofsky die „über alles herrliche Pinacoteca Vaticana“.104 Hier konnte er endlich Raffaels „Madonna di Foligno“, seine Teppiche und die Predella mit „Spes, Fides, Caritas“ im Original sehen, auf die er in seiner Habilitationsschrift so oft zurückkommt (pp. 57, 59 ff., 115 f.). Natürlich wallfahrtete er auch zum „Moses“ in S. Pietro in Vincoli, zu Raffaels „Grablegung“ in der Galleria Borghese und seinem „Galatea“-Fresko in der Farnesina. Gegen Ende dieses Italienaufenthaltes resümierte er: „Ich habe in der letzten Zeit sehr viel Schönes gesehen […] (S. Lorenzo fuori [le mura], S. Pie[t]ro in Vincoli, noch einmal, mit größerem Genuß, Galleria Borghese, S. Ivo, S. Carlo [alle Quattro Fontane …], vor allem S. Prassede und S[S]. Cosma e Damiano. Heut früh gehts in die Farnesina und Pal[azzo] Corsini, nachmittags heraus

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Rezension von Valerio Mariani, „Gli affreschi di Michelangelo nella Cappella Paolina“, in: Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike, Bd. I, Die Erscheinungen des Jahres 1931, hrsg. von der Bibliothek Warburg, Leipzig – Berlin 1934, p. 210f. Nr. 858; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, p. 557 f. LBI, Postkarte („S. Pietro“) an Dora Panofsky, Rom, 19. 9.[1921]. Ebd., Postkarte („S. Giovanni in Laterano“) an Dora Panofsky, Rom, 21. 9. [1921].

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nach S. Agnese und S. Costanza. Ich glaube, daß ich doch einen ganz guten Überblick bekomme, denn […] durch die völlige Conzentration auf das Sehen und Sich-Einprägen des Gesehenen kann man die kaleido- oder besser tachystoskopartige105 Fülle der Eindrücke doch einigermaßen auseinanderhalten […]. Es ist aber doch ganz schön, einmal soviel Neues und z. T. auch Großes gesehen zu haben. In etwas – das merke ich doch – werde auch ich durch Italien gereift oder mindestens verändert werden.“106 Sätze wie der, dass sich Donatellos „Abraham“ einem „normal placierten, d. h. etwa in der Mittelachse des südlichen [Florentiner] Domplatzes sich aufstellenden und möglichst weit vom Langhaus der Kirche zurücktretenden Beschauer“ (Anm. 124) verkürzt darbiete, oder dass Raffaels Fresko in S. Maria della Pace in Rom „dem Betrachter zum Bewußtsein [bringt], wie wenig das michelangeleske Einzelmotiv für Raffael in dieser Zeit noch zu bedeuten hatte“ (p. 71), scheinen erst nach jener Italienreise vom Herbst 1921 in die Habilitationsschrift eingeflossen zu sein. Inaugenscheinnahme verrät sich auch in der Formulierung „so wie der Pasquino heutzutage [in Rom] aufgestellt ist“ (p. 85 f.). Nicht möglich war es dagegen gewesen, die Maße von Michelangelos „Sieger“ zu überprüfen, „da die Gruppe zur Zeit seiner Anwesenheit in Florenz gerade verpackt war.“107 Der oben zitierte Brief vom 23. September 1921 aus Rom erwähnte noch: „Entdeckungen habe ich weiter keine gemacht, nur das Eine war ganz nett, daß jener Dichter Molza, auf den ich die Idee der ,Bogenschützen‘ zurückführe, wirklich mit M[ichel] A[ngelo] bekannt gewesen ist. Ich habe in einer Ausgabe seiner Rime, die ich hier zufällig fand, ein Sonett gefunden, in dem er Michelangelo direkt andichtet: ,Angiol terreno, che Policleto e Apelle‘.“108 Die trovata wurde jedoch nicht der Habilitationsschrift einverleibt, sondern ausführlich im sog. Sammelbericht abgehandelt.109 Es geht um die Michelangelo-Zeichnung der „Saettatori“ (Fr. 298) in Windsor und ihre Anregung durch den Modenesischen Dichter Francesco Maria Molza (1489–1544). Der Sammelbericht, obwohl erst 1923 erschienen, ist datiert „1. Oktober 1921“. Da Panofsky erst unmittelbar vorher aus Italien zurückkehrte, muss er die Besprechung der neueren MichelangeloLiteratur schon während des ganzen seit der Habilitation verstrichenen Jahres vorbereitet haben. Möglicherweise, wie es sein Dank an Ludwig Schudt 110 für „Mitteilung 105

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Ein Tachistoskop ist laut Duden ein „Apparat zur Darbietung verschiedener optischer Reize bei psychologischen Tests zur Prüfung der Aufmerksamkeit“. LBI, Brief an Dora Panofsky, Rom, 23. 9. 1921. „Die Michelangelo-Literatur seit 1914“, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte, I (XV), 1921/22, cols. 1–63, insbes. Anm. 21; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, pp. 509–556. Es ist nicht eindeutig, ob Panofsky das Sonett in einer Bibliothek (die Vaticana besitzt z. B. Molzas Rime, erschienen Bologna 1713) oder bei einem Antiquar entdeckte. In seinem Nachlass befindet sich jedenfalls keine Molza-Ausgabe. „Die Michelangelo-Literatur seit 1914“ (siehe oben, Anm. 107), cols. 47–51. Ludwig Schudt (1893–1961) war der langjährige Bibliothekar der Bibliotheca Hertziana, Rom.

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und Beschaffung italienischer Veröffentlichungen“ nahelegen könnte, hatte er während seines Aufenthaltes in Rom auch in der Bibliotheca Hertziana gearbeitet. Jedoch war das Caveat angebracht: „Absolute Vollständigkeit dürfte in dem hier vorgelegten Sammelbericht (schon wegen der gerade für bibliographische Arbeiten besonders ungünstigen Bedingungen der Kriegs- und Nachkriegszeit) schwerlich erreicht sein“ – Umstände, die – wie oben ausgeführt – auch die Habilitationsschrift erschwert hatten. Außer dem Molza-Gedicht war in dem Sammelbericht die prima vista-Beurteilung des Kuppelmodells im Museum der Petersbasilika eine Frucht der Italienreise („der Unterzeichnete muß sich nach eingehender Prüfung des Objektes […] als nunmehr überzeugt bekennen“).111 Ferner nimmt der Sammelbericht etliche Argumente der Habilitationsschrift vorweg, wie die Deutungen der „Madonna an der Treppe“ und der Oxforder Zeichnung Fr. 76 als „Hercules und Cacus“; die Ausscheidung der Louvre„Nike“ als Vorbild des Bologneser Leuchterengels; die Rückgriffe im „Jüngsten Gericht“ auf den Schlachtkarton; die Einflüsse des „Laokoon“, des belvederischen „Torso“ sowie der frühchristlichen Wandgemälde in S. Paolo fuori le mura und manches mehr, wie die leidenschaftlich verfochtene Einansichtigkeit von Michelangelos Skulpturen und ihr Vergleich mit dem Stil des Barock. Auch die in der Habilitationsschrift benutzte Literatur wird bewertet, samt verschiedener Titel, die nicht für die „Gestaltungsprincipien“ relevant waren. Warum das Stichjahr „1914“ für die Buchbesprechung? Weil es das 350. Todesjahr Michelangelos war? Eher wohl, weil 1914 als eine Art Wasserscheide der Michelangelo-Forschung gelten konnte: im Jahr zuvor war Henry Thodes sechster und letzter Michelangelo-Band herausgekommen – mit ihm war die Vorweltkriegsepoche beendet. Als Nebenprodukte der Italien-Reise von 1921 fielen zwei Bändchen ab über Die Sixtinische Decke und Die Handzeichnungen Michelangelos „für Tietzes unglückliche kunstgeschichtl[iche] Bibliothek“.112 Im folgenden Jahr, 1922, veröffentlichte Panofsky seinen Aufsatz zu Michelangelos Treppe der Laurenziana in Florenz.113 Wiederum zwei Jahre später erschien seine Idea mit dem Schlusskapitel „Michelangelo und Dürer“,114 in welchem „die in den Dichtungen Michelangelos zum Ausdruck gelangende Weltanschauung im wesentlichen durch die neoplatonische Metaphysik bestimmt“ gedeutet wird, welche dann in der letzten der 1937 in Bryn Mawr gehaltenen Mary Flexner Lectures zur „metaphysical justification of his [Michelangelos] own self“ erhoben wurde.115

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„Die Michelangelo-Literatur seit 1914“ (siehe oben, Anm. 107), col. 19. Bibliothek der Kunstgeschichte, 8 (Leipzig 1921) und 34 (Leipzig 1922). Zu der Bemerkung über Hans Tietze (1880–1954) siehe den Brief an Kurt Badt vom 22. 2.1922 (LBI, abgedruckt in: Korrespondenz, I, 2001, p. 111 f. Nr. 89). Siehe oben, p. 23, Anm. 94. Idea (Studien der Bibliothek Warburg), Leipzig – Berlin 1924, pp. 64–72. Siehe oben, p. 8, Anm. 36 (p. 180).

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Im Frühjahr 1924 kam endlich die angestrebte, bereits oben erwähnte Englandreise zustande, d. h. zunächst verbrachte Panofsky vom 4. Februar bis 1. März auf Einladung des Komitees „voor intellectueel Centraaleuropa“ gut drei Wochen in Holland116 mit Standort in Amsterdam und Fahrten nach Haarlem, Leyden, Den Haag, Utrecht und Rotterdam. In Haarlem prüfte er die Echtheit der Michelangelo-Zeichnungen der Sammlung Teyler.117 Im Rijksmuseum in Amsterdam gab es „unendlich viel zu sehen, wenn auch natürlich für mich nicht eigentlich viel zu ,arbeiten‘ […]. Nur einer Sache, die mit Michelangelo zusammenhängt, möchte ich etwas nachgehen. M[ichel] A[ngelo] hat […] in seiner Jugend einen ,Schlafenden Amor‘ gemacht, den er als Antike verschob, und der verloren ist. 1632 ist er in die Sammlung des geköpften Karls I. von England gekommen, und nach dessen Tode wahrscheinlich in die Sammlung Rembrandts, der nach dem Auktionsinventar von 1656 ,een kindeken van Michelangelo‘ besaß. Nun gibt es hier im R[ijks]M[useum] […] ein Selbstporträt von [Ferdinand] B o l , das dem Alter des Dargestellten nach zu urteilen gerade um 1656/7 entstanden ist, und da stützt er sich auf einen kleinen m a r m o r n e n s c h l a f e n d e n A m o r von eigentümlicher, jedenfalls nicht antiker Composition. Da dieses Stück für ihn also eine besondere Bedeutung besaß, ist es garnicht ausgeschlossen, daß Bol, der stinkend reich war, sich Rembrandts ,kindeken‘ auf der Auktion gekauft und sich damit verewigt hat. Träfe das zu, so würden wir wenigstens wissen, wie das Ding aussah (natürlich müßte man dabei die auch bei der Wiedergabe einer Plastik unvermeidliche Umstilisierung abziehen), und vielleicht kann es daraufhin irgendwo in Holland wiederentdeckt werden […].“118 In England hielt sich Panofsky – wegen der unerschwinglichen Kosten – nur eine Woche auf, schon am 8./9. März 1924 segelte er zurück nach Hamburg. Aus Windsor hatte man ihm freundlichst nach Amsterdam mitgeteilt, „daß mir alles und jedes, was ich wolle, gern zur Verfügung stehe“.119 In Oxford erwartete er einen Gruß von seiner Frau.120 Dass er selbstverständlich auch im British Museum arbeitete, bestätigt ein Dankschreiben an Steinmann vom 24. Oktober 1925, wonach er „den Londoner Karton [von Michelangelo] […] im vorigen Jahr dank der Freundlichkeit der Herren vom British Museum [habe] gut sehen können“.121 Panofsky hatte „endlich die Zeichnun116 117

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Siehe Korrespondenz, I, 2001, pp. 135, 137 Anm. 6. „Bemerkungen zu der Neuherausgabe der Haarlemer Michelangelo-Zeichnungen durch Fr. Knapp“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, XLVIII, 1927, pp. 25–58, insbes. p. 43 f.; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, pp. 559–590, hier insbes. p. 577 f. LBI, Brief an Dora Panofsky nach Hamburg, Amsterdam, 9. 2.1924. Desgleichen, Amsterdam, 15. 2. 1924. Desgleichen, Rotterdam, 29. 2. 1924. Korrespondenz, I, 2001, p. 180 Nr. 136. Gemeint war Michelangelos Karton der sog. „L’Epifania“ im Print Room des B. M., den Steinmann in seinem Aufsatz „I Cartoni di Michelangelo“ (in: Bollettino d’Arte, Juli 1925, pp. 3–16, insbes. p. 6) als „messo molto in alto, sotto vetro, sopra

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gen Michelangelos, von denen sich ja ungefähr 3/4 in England befinden, so ziemlich a l l e im Original sehen können“.122 Was Wunder, dass sich bei diesem wahnsinnigen Pensum keine ausführlichen Stimmungsberichte erhalten haben! Zum 1. Januar 1926 wurde Panofsky zum planmäßigen ordentlichen Professor in der Philosophischen Fakultät der Hamburgischen Universität ernannt, was nach langem Darben ein anständiges Einkommen gewährleistete. Sobald die Semesterferien anbrachen, fuhr er ein drittes Mal nach Italien: vom 4.–25. März 1926 wohnte er wie vormals im Hotel „Scannavini“ in Florenz; ab 26. März für etwa eine Woche in der Via del Gesù 89 in Rom. In den ersten beiden Aprilwochen war er wieder in Florenz, von wo er am 14. April eine Exkursion nach Volterra unternahm;123 am nächsten Tag nach Pisa fuhr und am 17. April von Genua mit dem piroscafo nach Marseille und von dort weiter in die Provence, nach Arles und St.-Gilles, aufbrach. Auf dieser Reise galt sein Hauptinteresse den manieristischen Malern des Cinquecento (Pontormo, Rosso Fiorentino, Parmigianino, Bronzino, Daniele da Volterra) wie auch denjenigen des Frühbarock (Cigoli, Ligozzi, usw.) – ein Ausflug nach Caprarola wurde wegen der Zuccari-Fresken des Farnese-Palastes unternommen, der Abstecher nach Volterra fand Daniele und Rosso zuliebe statt. Dies belegen ein halbes Dutzend, leider undatierte kleine Blocks mit Notizen und Skizzen; jedoch mögen einige von ihnen schon von der 1921 unternommenen Reise stammen.124 In Rom schaute Panofsky „einen Augenblick, allerdings ohne ,lo Steinmann‘ zu sehen“ in die Bibliotheca Hertziana herein, wo er einen Aufsatz von selbigem zu Gesicht bekam, „über die Pietàdarstellungen Michelangelos! […] das unkritischste und sentimental-blödsinnigste Zeug, was ich seit langem gelesen habe“.125 Beunruhigend war dagegen die Konkurrenz des Ungarn Johannes Wilde, von der Panofsky kurz darauf in Florenz erfuhr: „Inzwischen höre ich, daß Wilde, das große Wiener Genie, auch über M[ichel] A[ngelo] Pietàs

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una porta, ed […] impossibile studiarlo da presso“ beschrieben hatte. Für Panofsky hatte man ihn anscheinend von der Wand abgenommen (oder ihm eine Leiter zur Verfügung gestellt). Steinmanns Abbildung von Michelangelos Neapler Karton hingegen stellte für Panofsky „geradezu eine ,Neuentdeckung‘“ dar. Dieser im Museo Capodimonte erhaltene Karton war die Vorlage für Pontormos Gemälde „Venus und Amor“, das Panofsky in seiner Habilitationsschrift (Anm. 343) zitiert. Korrespondenz, I, 2001, p. 141 Nr. 109. LBI, Brief an Dora Panofsky vom 14. 4. 1926 (abgedruckt in: Korrespondenz, I, 2001, p. 191f. Nr. 144a). LBI, Erwin Panofsky Collection, Box 5. LBI, Brief an Dora Panofsky, Rom, 26. 3. 1926. Steinmann (siehe oben, p. 7) verfehlte seinerseits Panofsky in seinem Hotel. Bei dem Steinmann’schen Aufsatz muss es sich um „An unknown Pietà by Michelangelo“ (in: Art Studies. Medieval, Renaissance and Modern III, Cambridge, Mass. 1925, pp. 63–69) gehandelt haben, der behauptet, eine von Giulio Sanuti gestochene „Pietà“ sei eine Komposition Michelangelos.

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arbeitet. Na, man wird doch da sehn!“126 Resignierter kurz darauf: „[…] im Ganzen sehe ich immer mehr, daß man eine solche Arbeit eigentlich n u r h i e r, d.h. in Florenz beim K[unst] H[istorischen] Institut oder in Rom in der Hertziana machen kann, und ich bin fast für Zedierung des Themas an Wilde, der andauernd hier lebt.“127 Mit „einer solchen Arbeit“ und dem „Thema“ waren zweifellos die „Gestaltungsprincipien Michelangelos“ gemeint. Irgendwann während des nächsten Jahres hatte Panofsky „im Verlauf eines einzigen Nachmittags“ Gelegenheit, mit Wilde verschiedene Zuschreibungen von Zeichnungen an Michelangelo zu diskutieren, was zu irreparablen Missverständnissen zwischen den beiden, fast gleichaltrigen Gelehrten führte.128 Noch ein letztes Mal vor Emigration und Zweitem Weltkrieg weilte Panofsky im März/April 1931 in Rom, Neapel und auf Ischia, aber dieser Aufenthalt scheint nicht mehr vordringlich die Kunst Raffaels und Michelangelos zum Ziel gehabt zu haben. Mindestens ein kleiner Block mit Notizen aus neapolitanischen Kirchen und Museen (vor allem zu Mattia Preti), Pompeji und aus den Doria- und Borghese-Galerien sowie den Kirchen S. Luigi dei Francesi und S. Carlo alle Quattro Fontane in Rom rührt von dieser vierten Italienreise.129 Panofskys gebundener Sonderdruck seines Aufsatzes über „Die Treppe der Libreria di S. Lorenzo“130 von 1922 weist eine einzige Bleistiftmarginalie auf mit der Angabe eines im Art Bulletin von 1934 erschienenen Artikels. Eine Randglosse im Sonderdruck des 1923 veröffentlichten Sammelberichts trägt eine 1925/26 erschienene Arbeit nach. In seinem Exemplar von Steinmanns Michelangelo Bibliographie (1927) hat Panofsky sodann am Rande in Bleistift die Addenda für die Jahre 1928–1934 verzeichnet. Nun ist auffällig, dass, während er zahlreiche noch 1934 erschienene Titel festhielt, er keinen einzigen n a c h 1934 publizierten mehr aufnahm. Das gleiche cutoff-Datum traf bereits auf den Zusatz zum „Libreria“-Aufsatz zu. Der Dialog mit Michelangelo lässt sich also bis an den Zeitpunkt der Emigration verfolgen und ebenso ist sein Abbruch nach dem Verlust des Habilitationsmanuskriptes (vermutlich einschließlich seines ganzen Materials) evident.

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LBI, undatierter Brief an Dora Panofsky aus Florenz, April 1926. Johannes Wilde (1891–1970) war damals Kustos der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums, Wien. Der SchlussSatz ist ein Zitat nach dem Titel der Magischen Operette in zwei Teilen von Karl Kraus (1874–1936), „Literatur oder Man wird doch da sehn“ (1921). LBI, Brief an Dora Panofsky, [Frankreich], 20. 4.1926. Korrespondenz, I, 2001, pp. 248–250 Nr. 183 „Erklärung“ Panofskys vom 16. 12.1927. LBI, Erwin Panofsky Collection, Box 5. Nicht klar ist mir bisher, von wann die Reisenotizen aus Mantua, Mailand, Modena und Bologna stammen. Zwei Bologna-Guide in Panofskys Privatbibliothek tragen die Erscheinungsdaten 1927 und 1930, dürften also erst auf der vierten Italienreise erworben worden sein. Siehe oben, p. 23 Anm. 94.

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Bis 1934 waren noch weitere Beiträge und Rezensionen Panofskys zu Michelangelo erschienen, dann – außer den erwähnten Mary Flexner Lectures und einem im gleichen Jahr 1937 publizierten Aufsatz zu den ersten Juliusgrab-Entwürfen,131 beide jetzt in Englisch – verlor sich das Thema aus seinem Œuvre. Nur im Zusammenhang mit den Grabmälern Julius’ II. und der Medici-Herzöge taucht es in den 60er Jahren als „a fleeting glance at Michelangelo“ noch einmal auf.132 Bis heute hängen jedoch in Panofskys Princetoner Study die Stiche des Nicolas Dorigny von 1693 nach Raffaels „Galatea“-Fresko in der Farnesina in Rom und des Agostino Veneziano von 1524133 nach Michelangelos badenden Soldaten aus dem verlorenen Karton der „Schlacht von Cascina“. Auf seinem Bücherregal stehen zwei kleine Tonmodelle von Michelangelos „Pietà Rondanini“ (Umschlagbild), so weit ich weiß von Panofskys Hand rekonstruiert. Zeitlebens blieben Raffael und Michelangelo seine Penaten. So wie an der Wand seiner Studierstube stehen sich Raffael und Michelangelo in der Habilitationsschrift gegenüber. Um die „Gestaltungsprincipien“ des einen, Michelangelos, aus dem generellen Stil der klassischen Kunst zu extrahieren, werden diejenigen Motive, welche Raffael bei seinen Entlehnungen von Michelangelo nicht adaptierte, als genuin michelangelesk erkannt, da ihre individuelle Eigenart sich als unnachahmlich erwies. Oder wie es Panofsky 1927/28 formulierte: „Es ist eine bekannte Tatsache, daß das spezifische Kunstwollen bedeutender Künstler sich gerade da, wo sie an irgendwelche ,Vorbilder‘ anknüpfen, d. h. wo ihr eigener Formwille sich gegenüber einem fremden behaupten muß, in deren Umformung besonders entschieden ausprägt. Das gilt nicht nur für Michelangelo, sondern auch für seinen großen Gegenspieler R a f f a e l […]. Wo also Raffael an Michelangeleske Motive anknüpft, da müßte sich eine Art von Gegenprobe erbringen lassen, indem die unter der Einwirkung solcher Vorbilder geschaffenen Werke sich von diesen durch Ausschaltung gerade d e r Stilmomente unterscheiden müßten, die wir als die für Michelangelo spezifischen ansprachen.“134 Mit dem solchermaßen geschärften Blick lassen sich diese Züge dann auch in Werken erkennen, in denen Michelangelo seinerseits Motive aus der antiken Kunst oder der des Quattrocento borgt, sie aber nach seiner Manier modifiziert.

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„The First Two Projects of Michelangelo’s Tomb of Julius II“, in: The Art Bulletin, XIX, 1937, pp. 561–579. Tomb Sculpture, New York 1964, pp. 88–93, insbes. p. 93; sowie „The Mouse that Michelangelo Failed to Carve“, in: Marsyas, Essays in Memory of Karl Lehmann, New York 1964, pp. 242–251. Ein Abdruck nach der Originalplatte, die sich im Keller der Hamburger Kunsthalle gefunden hatte (siehe Korrespondenz, V, 2011, p. 729 f. Nr. 3210). „Kopie oder Fälschung? Ein Beitrag zur Kritik einiger Zeichnungen aus der Werkstatt Michelangelos“, in: Zeitschrift für Bildende Kunst, LXI, 1927/28, pp. 221–244, insbes. Anm. 9; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, I, pp. 594–627.

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Obwohl oder gerade weil Panofsky in der Kunstwissenschaft um 1920 mit einer „unleugbaren Entfremdung gegenüber der Epoche, aus der Michelangelo doch letzten Endes nicht herauszulösen ist – der italienischen Hochrenaissance“135 konfrontiert war, war das Hauptanliegen seiner Habilitationsschrift die Wiedereinordnung Michelangelos in jene kurze Periode des ersten Viertels des 16. Jahrhunderts. Die Klassik unterscheide sich vom Quattrocento und dem Barock durch die bildkünstlerische Bedeutung einer ideellen Darstellungsebene sowie die zentrisch achsiale Stilisierung der Figur, welche die Elementarrichtungen der Senk- und Waagerechten zugunsten von Schrägen und sphärischen Wölbungen vermeide. Obwohl allgemeingültig, habe kein Künstler diese Prinzipien so konsequent angewandt wie Raffael. Panofsky überträgt die „durchsichtige“ Ebene, auf der sich die Dinge in der klassischen Malerei als Schnitt durch die Sehpyramide projizieren, auf die in der Hochrenaissance bevorzugte Aufstellung der Skulpturen in einer halbrunden Nische, welche einerseits die zentrische Achsialität der Figur zur Geltung brachte, andererseits sie auf eine einzige Ansicht fixierte – so als wäre eine unsichtbare Glasscheibe zwischen den Beschauer und die Öffnung der Nische eingeschoben. Emphatisch betont Panofsky immer wieder – und mit Recht –, dass Michelangelos reife Skulpturen auf eine „veduta principale“ hin komponiert waren,136 „daß die weitaus meisten Hervorbringungen des michelangelesken Meißels, und darunter gerade seine im höchsten Sinne exemplarischen Schöpfungen, tatsächlich nur für die Aufnahme von einer einzigen Seite her berechnet sind“ (p. 83). Erst in seinen Alterswerken, wie in der „Pietà Rondanini“, gibt Michelangelo die strenge Betonung der Frontansicht auf. Andererseits stehen Michelangelos Gestalten (mit wenigen Ausnahmen, die meist in seine frühe oder späte Zeit gehören) in äußerstem Gegensatz zum klassischen Stil, indem sie nicht zentrisch achsial, sondern kubisch gebunden konzipiert sind, d. h. von den Begrenzungsflächen des rektangulären Marmorblocks bestimmt werden und von Senk- und Waagerechten „wie von einem Netz geometrischer Linien durchzogen“ scheinen. Indem sich der Bewegungsdrang der organischen Körper gegen das stereometrische Schema auflehnt, entsteht ein permanenter Konflikt zwischen Hemmung und Energie, Passivität und Aktivität, der Michelangelos Stil als dualistisch kennzeichnet. Michelangelos Abkehr von dem klassischen Gestaltungsprinzip mündet jedoch nicht in den Barock, Michelangelo ist „letzten Endes nur aus sich heraus begreifbar“ und „bildet gleichsam eine Kunstepoche für sich“. Panofskys beliebteste Redefigur ist der Chiasmus, wie in den Sätzen: „so sicher jedes reliefmäßig oder malerisch gedachte Kunstwerk einansichtig ist, so wenig ist deshalb jedes einansichtige Kunstwerk reliefmäßig oder malerisch“ (p. 189), oder: 135 136

„Die Michelangelo-Literatur seit 1914“ (siehe oben, p. 27, Anm. 107), col. 1. Im Sinne der Kunsttheorie Adolf Hildebrands, insbes. Das Problem der Form, Straßburg1913, pp. 57–75, welches Kapitel in Panofskys Exemplar kräftig mit Bleistift angestrichen ist. Panofsky verwirft jedoch Hildebrands These, dass schlechthin jede Kunst einen Reliefeindruck anstrebe.

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„jetzt wird […] der Mensch vergöttlicht, nicht der Gott vermenschlicht“ (p. 209), oder: „eines Zusammenwirkens, durch das die sinnliche Vorstellung gewissermaßen vergeistigt und die geistige versinnlicht erscheinen konnte (p. 211)“. Oder noch: „dort zerstört die Materie die Freiheit der Seele, […] hier zerstört die Seele die Freiheit der Materie“ (p. 234). Viele weitere Beispiele ließen sich hinzufügen! Nach Joseph Imorde137 verabschiedete sich ab 1933 die qualitative MichelangeloForschung in Deutschland infolge des Exodus der ausgewiesenen Experten (darunter Panofsky) in die angelsächsischen Länder, wo sie eine Kunstgeschichte frei von nationalistischen Tendenzen begründeten. Wie der Autor an Hunderten von Exzerpten zeigt, hatte die wilhelminische Epoche mit ihrem Kulturimperialismus und bereits rassistischen Untertönen versucht, Michelangelo „einzunorden“. Als Jude lag Panofsky nichts ferner als in diesen chauvinistischen Chor einzustimmen. Es mutet daher als ein Protest gegen den Zeitgeist an, wenn er weitausholend die geistigen Voraussetzungen für die Kunst des Cinquecento und des Seicento im Allgemeinen und Michelangelos Kunst im Besonderen aus der Philosophie der Antike und des Mittelalters ableitet (statt von angeblich völkischen Merkmalen). So versteht auch Imorde Panofskys neoplatonische Deutungen von Michelangelos Werken als eine „Reaktion auf die in Deutschland […] vollzogene Germanisierung des größten Künstlers der Renaissance“.138 In der vorliegenden Habilitationsschrift werden Parallelen zwischen dem philosophischen System des Aristoteles und der griechischen Klassik, zwischen der Patristik und der frühmittelalterlichen Kunst, zwischen der Scholastik und der Hochgotik und schließlich zwischen der psychologischen Theorie eines Wilhelm von Occam (ca. 1287/88–1347) und der Kunst der beginnenden Neuzeit gezogen. In der Renaissance habe sich „nur für den Augenblick“ der Naturalismus der Antike mit dem Spiritualismus des Mittelalters scheinbar harmonisiert. Der Mensch war zwar losgelöst von den Gesetzen des Sinnlichen und Übersinnlichen, geriet jedoch in einen neuen Zwiespalt innerhalb seines Selbst. So war es bei Michelangelo ein der äußeren Motivierung entbehrender innerer Kampf zwischen natürlich und geistig, sterblichem Körper und unsterblicher Seele, vitalen und spiritualen Kräften. Die Zerrissenheit seiner Kunst und seiner Seele endete mit der Unterwerfung unter das spirituelle Prinzip, der Entmaterialisierung des Körperlichen und der Zuwendung zu Gott, wie es auch seine späten Gedichte widerspiegeln.

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Michelangelo Deutsch!, Berlin 2009, pp. 227–229. Ebd., p. 228.

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Zur Textkritik Der jetzt disintegrierende Soennecken-Ordner ist von der Hand Panofskys auf dem Rücken „Michelangelo I. Exemplar“ und auf dem Vorderdeckel „ M i c h e l a n g e l o und Proportionslehre“139 beschriftet. Der Michelangelo-Text umfasst theoretisch 334 Seiten, teils in Maschinenschrift und teils als Autograf. Die 334 Seiten sind jedoch einerseits mittels Pelikanol durch Anstückelungen um das Drei- bis Vierfache gelängt, andererseits de facto auf 308 reduziert, da an zwei Stellen (pp. 118, 207) die Paginierung ohne Textverlust eine Ziffer überspringt und 18 Seiten (pp. 261 bis einschließlich 278) vom Autor – wie ausdrücklich von ihm selbst vermerkt – entfernt oder vielmehr handschriftlich (mit ein paar Klebungen aus dem verworfenen Text) ersetzt wurden. An dieser Stelle war, wie ein Lesezeichen, ein nicht abgesandter Brief vom 29. Juni 1920 an seine Frau Dora eingelegt, die sich in Bad Steben im Fichtelgebirge einer Kur unterzog. Darin wollte er ihr mitteilen, „daß die Hamburger doch die P r o p o r t i o n s l e h r e gewählt haben“ (d. h. aus den drei vorzuschlagenden Themen für die Probevorlesung). Außerdem sind sechs Seiten (pp. 210 bis einschließlich 215) leider gänzlich verloren und mit ihnen die Fortsetzung von Anm. 340 zu Herakles im Kampf mit dem Nemäischen Löwen. Ungewisse Rückschlüsse auf den Inhalt der fehlenden Seiten lassen sich aus den nachfolgend mit „a. a. O.“ (Anm. 421, 520) referierten Publikationen ziehen, nämlich Müller-Walde, Leonardo da Vinci (1889) und Schmerber, Betrachtungen über die italienische Malerei im 17. Jahrhundert (1906). Panofsky ist absolut zuverlässig, wenn er „a. a. O.“ schreibt, sodass jene nicht vorher zitierten Verfasser wohl in dieser Textlücke vorkamen. In Anm. 177 hatte er auf den Vergleich mit „der so einflußreichen Leda“ von Lionardo verwiesen, welches Bild aber nicht mehr besprochen wird, sodass seine Erörterung möglicherweise ebenfalls durch diese Lakune ausgelöscht wurde. Unerfüllt bleibt dazu die Ankündigung: „Auf die Tatsache, daß auch Correggio keine Porträts geschaffen hat, werden wir am Schlusse unserer Darstellung zurückkommen“ (Anm. 524). Überhaupt hört der Text ziemlich unvermittelt auf. Auf den meisten Seiten überwiegen die Fußnoten den Text; jedoch statt auf jeder Seite von Neuem 1, 2, 3, 4 gezählt zu werden, sind sie nunmehr fortlaufend nummeriert, was die Querverweise erleichtert. In einigen Fällen hat Panofsky vergessen, die Anmerkungsnummer im Text einzufügen, sodass ich raten musste, auf welchen Satz sich die Fußnote bezog. Der Habilitationsschrift sind eine „Disposition“ sowie eine „Neue Disposition“ vorangestellt. Erstere (welche in der vorliegenden Publikation mit dem „Vorwort“ hinter das Titelblatt verschoben wurde) scheint zu der im März 1920 der Philosophischen Fakultät der Hamburger Universität eingereichten Fassung gehört zu haben, 139

Das zweite Thema betraf die am 3. Juli 1920 gehaltene Probevorlesung über „Die Proportionslehre als Abbild der allgemeinen Stilentwicklung“, deren Blätter zwecks Veröffentlichung in Monatshefte für Kunstwissenschaft, XIV, 1921, pp. 188–219, herausgenommen wurden.

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letztere – bedeutend erweiterte – das Exposé für die endgültige Fassung gewesen zu sein. Dem Gutachten von Gustav Pauli vom 10. Mai 1920 zufolge140 fehlte damals nicht nur der III. Abschnitt über „Die Organisation des Kunstwerks im Ganzen“ („Ein dritter – nicht vorgelegter – Abschnitt soll dem Plane nach die Organisation des Kunstwerkes im Ganzen, d. h. die Komposition bei Michelangelo und den ihm vergleichbaren Meistern behandeln“),141 sondern vermutlich auch das Schlußkapitel über „Raffael, Michelangelo, Correggio“. Im erhaltenen Typoskript entspricht dem „Ersten Abschnitt“ jedoch kein zweiter oder gar dritter, wie es die „Neue Disposition“ vorgesehen hatte. Die Kapitel der dortigen Teile B, C und Schluss sind hier dem „Ersten Abschnitt“ mehr oder weniger subsumiert. Das als Beispiel angekündigte Gemälde Raffaels „Lo Sposalizio“ kommt im Text nicht vor. Gelegentlich hat Panofsky die Rückseiten von Formularen, Rechnungen oder Briefen wiederverwertet, die in einigen Fällen zur Datierung der Addenda dienen können. Es handelt sich um folgende Exempel: p. 12a verso ist ein leeres Überweisungsformular an die M. M. Warburg & Co. Bank mit dem Vordruck „Hamburg, den 192 [sic!]“, also nach 1920 zu datieren. p. 42 verso ist eine zerschnittene Rechnung der G. Grote’schen Verlagsbuchhandlung, Berlin SW 11, Dessauer Straße 18, den 1. November 1920, für „Herrn Dr. Erwin Panofsky“ betreffend das „Honorar für Ihren Beitr[ag zum] Jahrbuch der Preußischen [Kunst]sammlungen 41 Heft [IV], ,Dürers Darstellungen [des] Apollo und ihr Verhäl[tnis] zu Barbari‘. 16 Textseiten je 7.50 M[ark]. Diesen Betrag über[weisen] wir Ihnen heute durch [eine?] Postanweisung.“ p. 42a verso ist das Fragment eines Aktienangebots, datiert „Hamburg, den 1. Dezemb[er] 1922“ und adressiert an „[Herrn Erw]in Panofsky, Hier [i. e. in Hamburg]“ betreffend „[Ei]ne Weberei zu Linden Aktien Gesellschaft […] 51.000.000.— neue Aktien, welche [wir? b]erechtigt sind, zu erhöhen. [Den bis]herigen Aktionären bis zum 20. Dez[em]b[e]r 1922 […] zum Bezuge angeboten, […] alte Aktien M. 1 2 0 0 . — j u n g e A k t i e n . [Wir bitten?] ds. um Mitteilung, ob Sie auf [das Angebot Wert legen?]“. Hierbei handelte es sich offensichtlich um Vermögen aus der Hannoveraner mütterlichen Familie. Zwischen pp. 149/150 ist ein handschriftliches Schreiben eingelegt mit Briefkopf „Staatliche Museen in Berlin. Kaiser-Friedrich-Museum, Berlin C. 2, den 14. I. [19]21“ und folgendem Wortlaut: „Sehr geehrter Herr Kollege! 1) Die nach vorn gewandte Roma mit entblößtem l[inken] Unterschenkel kommt auf Münzen mit der Aufschrift ,gloria romanorum‘ oder ,virtus romanorum‘ seit Julianus Apostata vor, und in den folgenden Regierungen bis auf Honorius; einmal 140 141

Siehe oben, p. 3. Gutachten Paulis, ebd., p. 51 Nr. 8.

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aber mit entblößtem r [ e c h t e m ] Unterschenkel schon unter Julians Vorgänger Constantius II. 2) eine kurze Geschichte der Numismatik in der Zeit von Ende 15. bis Anf[an]g 16. Jh. gibt [Ernest] Babelon, Traité des mon[naies] grecq[ues] et rom[aines, 1901] I 1 S. 89 ff. (das Buch ist sicher in der Kunsthalle bei Dr. [Hans] Börger vorhanden), dort finde ich aber die Namen unserer deutschen Humanisten nicht genannt; immerhin werden Sie in den dort zitierten Quellen gewiß Material zu weiteren Forschungen finden. I t a l i e n i s c h e & französ[ische] Werke über Numismatik oder Benutzung der antiken M[ün]z[e]n in solchen vor 1550 finden Sie bei Babelon mehrere; das erste d e u t s c h e , das sich e x p r o f e s s o , im Titel, mit antiken Münzen befaßt, ist wohl Agricola, de mensuris et ponderibus etc. Basel 1550, Babelon S. 99. Hat nicht [Julius von] Schlosser ein Buch oder einen Aufsatz über die ältesten Sammler von Antiquitäten geschrieben, in dem man auch über die an[tiken] Münzen etwas findet? Auch [Georg] Voigt, [Die] Wiederbelebung etc. [des classischen Altertums: oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 1859] müßte doch einiges haben. Mit bester Empfehlung Regling“142 p. 309 verso „recycled“ den Anfang eines maschinenschriftlichen Briefes von Schroeder, Stammann & Nolte, Rechtsanwälte, datiert „Hamburg 36, Gr. Bleichen 16, den 17. Dezemb[er] 1920“: „Euer Hochwohlgeboren habe ich im Anschluss an mein Schreiben vom 2. Dezember noch Folgendes mitzuteilen: Es hat sich herausgestellt, dass am 11. November noch 20 Zentner Koks à M[ark] 30,— durch Herrn Matzat eingenommen waren, […]“. p. 329 verso ist ein teils überkleistertes Stück Papier mit dem Aufdruck „Steinthal Loge LXXII No. 649“ nebst dem angerissenen Siegel der Loge sowie (auf dem Kopf stehend) dem Namenszug „Salomon“. Die Hamburger Loge, benannt nach dem Linguisten und Philosophen Chajim Heymann Steinthal (1823–1899), war 1909 gegründet worden, um bei aktiver Teilnahme am Kulturleben des Vaterlandes das Judentum zu bewahren und die soziale Lage der Juden zu verbessern. 1937 wurde sie von den Nazis aufgelöst. Panofsky steht noch, ohne Anschrift, im Verzeichnis der Mitglieder der Steinthal-Loge für 1934/35 (p. 44). Die Unterschrift „Salomon“ ist unverkennbar diejenige von Richard G. Salomon (1884–1966), des Hamburger Osteuropa-Historikers, der bis an sein Lebensende mit Panofsky eng befreundet war. Diese „Palimpseste“ beweisen, dass Panofsky mindestens noch bis Dezember 1922 am Text der Habilitationsschrift gearbeitet hat. Berufungen (Anm. 147, 328) auf seinen Sammelbericht „Die Michelangelo-Literatur seit 1914“, der 1923 im Wiener Jahrbuch

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Kurt Regling (1876–1935) war von 1921–1935 Direktor des Münzkabinetts.

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für Kunstgeschichte erschien, führen noch ein Jahr weiter. Die späteste im vorliegenden Manuskript zitierte Veröffentlichung datiert ebenfalls von 1923: nämlich der Hinweis auf die Seiten 274 f. von Clemens Baeumkers Beitrag zur mittelalterlichen Philosophie in der 2. Auflage von Die Kultur der Gegenwart I/V. Einwandfrei kann es sich nicht um die 1. Auflage von 1909 dieses Handbuchs handeln, da Baeumkers dort sehr viel kürzerer Überblick erst auf Seite 288 beginnt. Panofskys Fußnote findet sich auf p. 248 des Autografs, einer von anderthalb Dutzend handgeschriebenen Seiten. Daraus kann man schließen, dass das Vierte Kapitel über „Die Auffassung des Menschen hinsichtlich seiner psychischen Struktur“ 1923 neu konzipiert wurde – weshalb dann die früheren 18 Seiten (pp. 261–278) des Manuskripts überholt waren und vom Autor eliminiert wurden (siehe oben, p. 35). Meine Addenda et Corrigenda wie die Identifizierung bzw. Verifizierung von Zitaten oder Standorten von Kunstwerken und dergleichen sind durch eckige Klammern vom Original unterschieden, selbstverständlich ebenso meine eigenen Kommentare. Ein editorisches Dilemma bereitete die Gegenüberstellung mit einer angeblichen Antiken im Louvre, die Panofsky schon 1921 im Sammelbericht, col. 27, als modernes pasticcio verwarf, aber versäumte, im vorliegenden Manuskript zu tilgen (siehe p. 170, insbes. Anm. 328). Obwohl Panofsky die Namen von Kunstwerken nicht konsequent in Anführungsstriche setzt, habe ich dieses, seinen mehrfachen Beispielen folgend, durchweg unternommen. Seine altertümelnde Orthografie – wie „c“ statt „k“ oder „z“, „gleichgiltig“ statt „gleichgültig“, „läugnen“ statt „leugnen“ und grundsätzlich „Axe“ statt „Achse“ – ist beibehalten worden, um den eigenen Charme des Werkes nicht zu zerstören. Eindeutig verwendet Panofsky handschriftlich „ß“ und Umlaute, während die benutzten Schreibmaschinen dieses nicht tun, weil sie offenbar nicht über die entsprechenden Typen verfügten. Panofsky konnte nur mit zwei Fingern tippen und hat mit der Reinschrift seines Manuskriptes vielleicht seine erste Frau Dora betraut143 – wie es Schriftstellergattinnen des 19. Jahrhunderts als ihre eheliche Pflicht ansahen (Sophia Andrejevna Tolstoj soll sieben Versionen von Krieg und Frieden mit der Hand kopiert haben). Jedoch halte ich es für wahrscheinlicher, dass er eine professionelle Schreibkraft beauftragte. In den Berliner Adressbüchern der 20er Jahre annoncierten unter der Rubrik „Handel- und Gewerbetreibende“ zahllose sog. „Abschreibebüros“, die ihre Dienste speziell für wissenschaftliche Arbeiten anpriesen.144 Der Umstand, dass unterschiedliche Schreibmaschinen betätigt wurden, würde dafür sprechen, dass die Abschriften in solchen Berliner Büros ausgeführt wurden. Panofsky mag auch einer Steno143

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Ihre Mutter Lina Mosse schrieb an sie am 9. 9. 1925 aus Berlin nach Hamburg: „Du bist wirklich ein tüchtiges Frauenzimmer, daß Du neben dem vielem Andern, das auf Dir lastet, Zeit findest, täglich 5 Std. zu tippen ist aller Ehren wert, namentlich, da ich von allen Seiten höre, daß eine derartige Beschäftigung sehr nervös macht.“ (Korrespondenz, I, 2001, p. 179 Nr. 135). „Berliner Adressbücher“, Zentral- und Landesbibliothek Berlin (www.zlb.de).

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typistin diktiert haben (wie er es später in Hamburg145 und noch in Princeton tat), wodurch sich unsinnige Rechtschreibfehler erklären mögen (wie die falsche Buchstabierung seines eigenen Namens auf der Titelseite!) nebst solchen Lapsus wie die „Madonna mit dem Tisch“ statt „mit dem Fisch“ (Anm. 204) oder „Jonas“ statt „Joseph“ (Anm. 493). Entweder hatte sich die angemietete Dame, die natürlich keine kunsthistorische Vorbildung besaß, verhört oder hatte anschließend ihre Kürzel falsch aufgelöst. Solche und ähnliche Flüchtigkeitsfehler wie irrige bzw. verdrehte Seiten- und Jahreszahlen oder inkorrekte Orthografie von Eigennamen habe ich stillschweigend verbessert; denn es ginge zu weit mit der Pietät, wollte man puren slips of the pen Dauer verleihen. Desgleichen habe ich ausnahmslos alle in Anführungsstrichen stehenden Stellen mit ihren Quellen verglichen und, wenn nötig, Auslassungen gekennzeichnet oder Paraphrasen dem getreuen Wortlaut entsprechend retuschiert. Diesbezügliche geringe Abweichungen von Panofskys Text kann der Leser aus den Faksimiles ersehen. Insbesondere habe ich die nur fragmentarisch und oft ungenauen bibliografischen Titel, die lediglich als Gedächtnisstützen gemeint waren, ergänzt, wie es der Autor vor der Drucklegung selbstredend getan hätte. Ein von mir rekonstruiertes und vervollständigtes Literaturverzeichnis findet sich am Ende des Bandes. Bücher der Privatbibliothek Erwin Panofskys, welche die Umzüge von Berlin nach Hamburg und von dort in die USA überstanden haben und noch heute im Study seines Princetoner Hauses im Regal stehen, sind mit einem Asterisk versehen.146 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich ein Apparat mit weiteren eigenen Büchern im ehemaligen Dienstzimmer in der Hamburger Kunsthalle befunden hat, welche Bände – wie vermutlich der Soennecken-Ordner mit dem Michelangelo-Manuskript – beim erzwungenen Verlassen Deutschlands im Sommer 1934 nicht mitgenommen werden konnten (siehe oben, pp. 6, 8, 11). Zur Erleichterung für den Leser habe ich bei oft weit zurückreichenden „a. a. O.“Verweisen die betreffenden Titel angegeben, zumal oft nicht klar wäre, welche von mehreren Veröffentlichungen desselben Autors gemeint ist. Unterstreichungen des

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Zum Beispiel schreibt Panofsky aus Hamburg am 1. 7.1926 an seine erste Frau Dora, dass er „mit dem Diktieren des großen Aufsatzes warten“ werde, und kurz darauf am 5. 7. 1926: „Heute abend erschienen plötzlich Heydenreich und [Heinrich] Brauer […], leider mußte ich sie bald herauswerfen, da die Stenotypistin kam, um Jacopino diktiert zu kriegen“ (LBI). Die Rede geht über den Aufsatz „Ein Bildentwurf des Jacopino del Conte“, in: Belvedere, XI, 1927, pp. 43–50; Wiederabdruck in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Berlin 1998, II, pp. 805–819. An dieser Stelle sei noch einmal der Verleumdung Dieter Wuttkes entgegengetreten: „EP [hat testamentarisch] u.a. bestimmt, daß G[erda] P[anofsky] sämtliche Bücher und Manuskripte erben soll. Die Bibliothek blieb bis 1975 beisammen, danach blieb ein von GP ausgesuchter Teil in deren Besitz, ein Teil […] kam als Schenkung an das IAS, der Rest wurde verkauft“ (Korrespondenz, V, 2011, p. 1119 Anm. 7). Panofskys Privatbibliothek hat nie sein Princetoner Study verlassen, noch ist irgendwelcher „Rest“ verkauft worden.

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Autors sind im Druck durch Sperrung hervorgehoben. Die am Rande ausgeworfenen Seitenzahlen beziehen sich auf das Original bzw. Faksimile desselben. Auf Abbildungen der genannten Kunstwerke wurde verzichtet, da ihre Zahl ins Uferlose geführt hätte (die Habilitationsschrift war auch nicht illustriert). Die Leser, insbesondere die Kunsthistoriker unter ihnen, werden mit den meisten Werken Raffaels und Michelangelos vertraut sein bzw. Reproduktionen derselben zur Hand haben.

Danksagungen Ewiger Dank gebührt Stephan Klingen, ohne dessen sensationelle Entdeckung im Keller des Zentralinstituts für Kunstgeschichte Ende Mai 2012 Erwin Panofskys Habilitationsschrift ad Calendas graecas gefunden worden wäre. Er hat mir nicht nur elektronisch sofort einen Scan des Manuskriptes übermittelt, der mir die Transkription desselben im fernen Princeton ermöglichte, sondern ist unermüdlich in seinen kreativen Anregungen wie auch praktischen und bibliografischen Hilfeleistungen gewesen. Immer konnte ich auf seine loyale Unterstützung zählen. Sein Kollege Johannes Griebel war so freundlich, mir eine computergerechte Version der vierseitigen Tabellen (pp. 187–190) herzustellen. Wolfgang Augustyn nahm sich die Zeit, meine Buchstabierung der handschriftlich eingefügten griechischen Worte zu überprüfen. Außerhalb des Münchner ZI konnte ich mich jederzeit auf den Beistand von Liza Kirwin von den Archives of American Art in Washington, D.C., von Hermann Teifer vom Leo Baeck Institute, New York, sowie von Charlotte Schoell-Glass vom WarburgArchiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg verlassen, die mir umgehend jede Bitte um Einsicht in die in ihrer Obhut befindlichen PanofskyDokumente gewährten. Gleichfalls waren das Entgegenkommen und die Assistenz der Archivarinnen der Handschriftenabteilung an der Bayerischen Staatsbibliothek vorbildlich – Nino Nodia, die für mich die Genehmigungen der Rechteinhaberin des Heydenreich-Nachlasses erwirkte, und Rita Schäfer, die während meines Aufenthaltes in München im Mai 2013 stets die gewünschten Kästen und Mappen bereitstellte. Präzise briefliche Auskünfte erteilten mir die Bibliothekarinnen Elisabeth Kuper und Maria Kesting von der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky sowie der Direktor des Universitätsarchivs Tübingen Michael Wischnath, dank derer ich verschiedene Zusammenhänge aufklären konnte. Ganz besonders reichlich hat mich Eckart Krause, bisheriger Leiter der Hamburger Bibliothek für Universitätsgeschichte, mit Fakten und Daten aus den 1920er und 1930er Jahren versorgt. Ohne seine profunde Kenntnis der administrativen und akademischen Verhältnisse an der Hamburger Universität hätte ich die damaligen Geschehnisse nicht verstanden. Meine Princetoner Freundin Uta Nitschke-Joseph hat Panofskys Heidelberger Habilitationsantrag erhellt. Christian Habicht vom Institute for Advanced

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Study, Princeton, hat mir noch einige Aristoteles-Zitate nachgewiesen. Walter Hinderer vom German Department der Princeton University hat mir in kritischen Momenten den Rücken gestärkt. Schließlich wäre mir die Vervollständigung der über 200 bibliografischen Titel – und damit die Vergleichung ihrer Seitenzahlen und des Wortlauts ihrer Zitate – völlig unmöglich gewesen ohne die beständige treue Hilfe von Karen Downing, der Interlibrary Loan Librarian am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie hat mir – oft an Wunder grenzend – die zahllosen, heutzutage und besonders hierzulande schwer auffindbaren Ausgaben beschafft, welche Panofsky um 1920 an der Preußischen Staatsbibliothek Berlin konsultiert hat. Ohne den unbegrenzten Zugang zu perfekten Kopierer-, Printer-, Scanner- und Shredder-Geräten und die jederzeit geduldige Assistenz der Computer-Fachleute am Institute for Advanced Study hätte ich manche technische Schwierigkeiten nicht meistern können. Im Juni 2014 (zwei Jahre nach der Wiederauffindung und fast genau achtzig Jahre, nachdem es in Hamburg zurückgelassen werden mußte), ist das Original der Habilitationsschrift aus der de jure-Treuhänderschaft des Z. I. in München de facto an den Panofsky-Nachlass in Princeton zurückgegeben worden, wodurch eine letzte sorgfältige Abgleichung der Transkription vor der Drucklegung gewährleistet wurde. Die Drucklegung dieses historischen Werkes im Verlag De Gruyter lag in den Händen von Dr. Katja Richter in München, mit der zusammenzuarbeiten es eine Freude war. Ich schätze mich glücklich, so viele fähige und mir ergebene Freunde und Kollegen zu besitzen. Möge Erwin Panofsky unser posthumes Unterfangen billigen.

Gerda Panofsky, Princeton, New Jersey/USA, Sommer 2014

Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels Von Erwin Panofsky

„Das Allgemeine scheint uns in allen Anmerkungen anstößig zu sein. Kaum hören wir eine Verneinung oder Bejahung dieser Art, sogleich zieht unsere Einbildungskraft dagegen zu Felde; und selten oder nie wird es ihr mißlingen, einzelne Fälle und Dinge dagegen aufzutreiben. Aber nur der Einfältigere wird sich bereden, daß durch diese einzelnen Ausnahmen der allgemeine Satz wahr zu sein aufhöre. Der Verständigere untersucht die Ausnahmen, und wenn er findet, daß sie aus der Kollision mit einem andern allgemeinen Satze entspringen, so erkennt er sie für Bestätigungen beider.“ (Lessing, „Briefe antiquarischen Inhalts“)1

1

[Gotthold Ephraim Lessing, in: Lessings Werke, III, p. 264].

Vo r w o r t

Die vorliegende Arbeit will keine eigentlich h i s t o r i s c h e Untersuchung sein. Denn ihre Absicht ist nicht, der H e r k u n f t und der W i r k u n g des michelangelesken Stiles nachzuforschen, sondern zur Erkenntnis seines We s e n s beizutragen: die Erscheinung Michelangelo sollte nicht zu andern künstlerischen Phänomenen in eine Causalbeziehung gesetzt, sondern ihnen gegenüber charakterisiert werden. Die Einseitigkeit einer ihren Gegenstand in dieser Weise verabsolutierenden Betrachtungsweise ist freilich unbestreitbar. Wenn es überhaupt gewagt wird, zu einem so großen und so oft abgehandelten Thema noch das Wort zu nehmen, so geschieht das in der Erwägung, daß die Discussion über die großen Erscheinungen der Renaissancekunst von Zeit zu Zeit gerade deswegen eines gewissen Anstoßes bedarf, weil die allgemeine Vertrautheit mit den Werken dieser Meister und das Vorhandensein bedeutender Monographien über ihre Persönlichkeit an und für sich der Neigung zu weiteren Erörterungen entgegenwirken.

Disposition Einleitung aI.

Teil: Sachgeschichtlicheb Voraussetzungen. 1. Kapitel: Raffael und die Werke Michelangelos. 2. Kapitel: Michelangelo und die Werke anderer Meister. II. Teil: Stilkritische Folgerungen.a I. Abschnitt: Die künstlerische Darstellung der Einzelgestalt. 1. Kapitel: Die Körpergestaltung bei Raffael. (Das Princip der zentrischen Entfaltung.) 2. Kapitel: Die Körpergestaltung bei Michelangelo. (Das Prinzip d[er] zentrischen Entfaltung im Kampf mit dem Prinzip d[er] kubischen Bindung.) 3. Kapitel: Die Organisation der Form in der Ebene. Gegenprobe. Die Einansichtigkeit der michelangelesken Skulpturwerke. cdII. Abschnittd: Die Auffassung des Menschen hinsichtlich seiner psychischen Struktur. 1. Kapitel: Die Auffassung der Renaissance und des Barock 2. Kapitel: Die Auffassung Michelangelos.c III.eAbschnitt: Die Organisation des Kunstwerks im Ganzen. 1. Kapitel: Die p l a s t i s c h e f Komposition. (Das Verhältnis der körperlichen Gegenstände zueinander.) 2. Kapitel: gDie b i l d m ä s s i g e Komposition. (Das Verhältnis der körperlichen Gegenstände zum Freiraum.)g hIII. Abschnitt: Die Auffassung d e s M e n s c h e n hinsichtlich seiner psychischen Struktur.h Schluss: Raffael, Michelangelo, Correggio

[a-a nachträglich gestrichen; b korrigiert in: Materielle; c-c nachträglich gestrichen; d-d korrigiert in: 4. Kapitel; e korrigiert in: II.; f korrigiert in: tektonische; g-g nachträglich gestrichen und ersetzt mit: Körper und Freiraum; h-h nachträglich hinzugefügt. Im Manuskript finden sich auf der Rückseite des „Vorworts“ noch folgende Arbeitsnotizen: