Brentanos 1904 vollendete Theorie, nur Reales sei vorstellbar und könne existieren - die "Kopernikanische Wende&quo
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FRANZ BRENTANO
DIE ABKEHR VOM NICHTREALEN
Briefe und Abhandlungen aus dem Nachlaß, mit einer Einleitung herausgegeben von FRANZISKA MAYER-HILLEBRAND
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Vorwort
Die meisten Lehren Franz Brentanos sind von seinen Schülern mit Begeisterung aufgenommen worden und haben sich rasch durchgesetzt. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildete aber die im vorliegenden Bande behandelte Theorie, daß nur Reales vorstellbar sei und existieren könne. Aus ihr folgt mit Notwendigkeit, daß wir es beim sog. Nichtrealen nicht mit echten Begriffen, sondern mit Fiktionen der Sprache zu tun haben. Gegen diese neue Lehre wurde jedoch - auch von Brentanos Schülern - eingewendet, daß die Objektivität der Wahrheit ohne die Heranziehung irrealer Urteilsinhalte (Sachverhalte) nicht zu sichern sei. Auch vertrat A. Marty, der bis dahin treueste Anhänger Brentanos, die Ansicht, daß die Bewußtseinsbeziehung - wie es jeder Relation wesentlich ist - der Existenz zweier Glieder bedürfe. Das zweite Glied, das Vorstellungsobjekt bzw. der Urteilsinhalt, könne aber nur als Nichtreales festgehalten werden. In jahrzehntelangem Ringen hatten sich Brentanos Auffassungen in der Richtung einer Abkehr vom Nichtrealen entwickelt. Durch Reform der aristotelischen Urteilslehre und Revision der Lehre von der Bewußtseinsbeziehung, vor allem aber durch Einführung von V orstellungsmodis, war es Brentano in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende gelungen, die sich ihm selbst aufdrängenden und die ihm entgegengehaltenen Schwierigkeiten zu überwinden. Im Sommer 1904 war die neue Lehre vollendet und auch bereits nach allen Seiten hin ausgebaut. Sie bedeutet nichts Geringeres als eine teilweise Erneuerung der Grundlagen der Ontologie. 0. Kraus bezeichnete sie, als er endlich zu ihrem vollen Verständnis gelangt war, als die "kopernikanische Wende" in Brentanos Philosophie. Doch setzte, als die neue Lehre abgeschlossen vorlag, der
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Vo,rwort
Kampf der Schüler und Freunde erst recht ein. Marty vermochte den Gedankengängen seines verehrten Lehrers, wie aus dem Briefwechsel hervorgeht, nicht mehr zu folgen. Die ebenfalls in Briefen niedergelegte Opposition von Kraus dauerte jahrelang, bis in den Sommer 1916. Dann wurde allerdings aus dem hartnäckigen Angreifer der begeistertste Verteidiger der Lehre. Als ich 1917 - bald nach Franz Brentanos Tod - daranging, meine Dissertation zu beginnen, wurde mir von meinem Lehrer Prof. A. Kastil, einem Schüler Martys, vorgeschlagen, die eben skizzierte Theorie Brentanos, daß nur Reales vorstellbar s,ei, und daß es sich beim sog. Nichtrealen um metaphorische Ausdrücke, Fiktionen der Sprache handle, als Thema zu wählen. Meine Arbeit sollte den Titel tragen: Das Nicht r e a 1 e a 1 s F i kt i o n (Franz Brentanos ursprüngliche Lehre vom Nichtrealen, ihr Ausbau durch andere und ihr Abbau durch ihn selbst). Als ich meine Dissertation schrieb, war darüber noch wenig veröffentlicht worden. Nur in einigen Abhandlungen (besonders IX) des Anhangs zur „Klassifikation der psychischen Phänomene"1 hatte Brentano selbst seine neuen Auffassungen ganz kurz dargelegt. Da mir durch die Güte der Professoren A. Kastil und 0. Kraus, denen der wissenschaftliche Nachlaß Franz Brentanos anvertraut worden war, die auf das Problem des Nichtrealen bezüglichen, noch unpublizierten Abhandlungen, sowie der Briefwechsel Brentanos mit A. Marty und 0. Kraus zugänglich gemacht wurden, konnte ich versuchen, eine eingehendere Darstellung dieser höchst bedeutsamen Lehre zu geben. Inzwischen ist allerdings die „Lehre vom Reismus" 2 - wir wollen diesen jetzt vielfach gebrauchten Namen wegen seiner Brentano „Von der Klas,s,ifikation der psychischen Phänomene". Duncker u. Humblot, Leipzig 1911. 2 Der Name „Reismus" wurde zwar nicht von F. Brentano eingeführt, sondern zuerst von Kotarbins,ki für die Lehre, daß nur Reales vorgestellt werden und existieren könne, verwendet. Daneben gebrauchte dieser für seine, Brentanos Lehre sehr ähnliche Theorie d~e Bezeichnung „Pansomatismus". ßine Abha~dlung Kotarbinskis erschien, von A. Tarski ins Englische übersetzt, 1955 in der Zeitschrift „Mind". 1
Vorwort
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Kürze und Prägnanz ebenfalls verwenden in mehreren von 0. Kraus und A. Kastil in der Phil. Bibliothek von F. Meiner, in einigen von mir im Francke Verlag (Bern) herausgebrachten Bänden, in Kastils Buch über die Philosophie Franz Brentanos und in Abhandlungen von Kraus, Kastil und mir mehr oder weniger ausführlich behandelt worden.3 Es kann hier nur kurz darauf hingewiesen werden, daß diese Neuerung Brentanos die sorgfältige Untersuchung unserer Sprache (Wort- und Satzanalyse) anstrebt, d. h. feststellen will, was beim Sprechen wirklich gedacht wird und was überhaupt gedacht werden kann. Unsere Begriffe werden mit anderen Worten einer genauen Prüfung unterzogen, und es zeigt sich, daß der großen Menge von Namen, durch die Irreales (immanente oder mentale Objekte, Urteils- und lnteresseinhalte, Relationen, Universalia u. a.) bezeichnet werden soll, bloß fiktiver Charakter zukommt. Hervorgehoben s>eien: 0. Kraus, "Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre" (mit Beiträgen von 0. Stumpf und E. Husserl), Beck, München 1919. Einleitung von 0. Kraus zu Bd. I in „Psychologie vom emp. Standpunkt" (Bd. 192 der Phil. fühl. 1924), Abhandlungen Brentanos im Anhang zu Bd. II (Bd. 193 der Phil. Bibi. 1925), herausgegeben von 0. Kraus. Bd. III. „Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsdn" (Bd. 207 der Phil. Bibi. 1930), herausgegeben von 0. Kraus. „Wahrheit und Evidenz" (Bd. 201 der Phil. Bibi. 1930), heraus,gegeben von 0. Kraus. „Kategorienlehre" (Bd. 203 der Phil. Bibi. 1933), herausgegeben von A. Kastil. Von demselben „Die Philosophie Franz Brentainos" (Francke Verlag, Bern 1951). „Grundlegung und Aufbau der Ethik", 1952. „Die Lehre vom richtigen Urteil" 1956. „Grundzüge der .Asthet1ik" 1959. Alle herausgegeben von F. Mayer-Hillebrand (Francke Verlag, Bern). Vgl. auch: 0. Keraus „Die ,kopernikanische Wendung' in Brentanos Erkernl!tnis- und Wertlehre" (Phil. Hefte, Heft 3), Berlin 1929. A. Kastil „Wahrheit und Sein" (Zeitschr. f. PhiI. Forsdmng I/4), 1943; „Zeitanschauung und Zeitbegriffe". (Na,turwissenschaft und Metaphysik 1948.) F. Mayer-Hillebrand „Franz Brentanos Lehre von den Fiktionen der Sprache" (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwis1smschaft, Innsbruck 1955); „Franz Brentanos ursprüngliche und spätere Seinslehre und ihre Beziehungen zu Husserls Phänomenologie" (Zeitschr. f. Phil. Forschung XIII/2 1955). 3
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Vorwort
Nie kann, das ist Brentanos stärkstes Argument, die einheitliche Funktion des Vorstellens oder Denkens auf gattungsverschiedene Objekte, wie es Reales und Nichtreales wären, gerichtet sein. Immer ergibt sich bei schärferer Analyse, daß tatsächlich Dinge (physische oder psychische) vorgestellt werden. Nichtreales ist unvorstellbar und seine Annahme würde widersprechende und absurde Konsequenzen nach sich ziehen. Allerdings war es notwendig, verschiedene Modi des Vorstellens einzuführen, um die Unterschiede des Vorstellens zu erklären, es genügt nicht, sich mit Unterschieden der Objekte zu begnügen. Viele sprachliche Ausdrücke sind auch bloße Synsemantika, d. h., sie entbehren einer selbständigen Bedeutung und können nur im Zusammenhang mit autosemantischen (selbstbedeutenden) Namen einen Beitrag zum Zustandekommen sinnvoller Sätze leisten. Man bemühte sich Jahrhunderte hindurch um die Definition von Wörtern, die sich nicht definieren lassen, weil sie keine Begriffe ausdrücken, wie Sein, Nichtsein, Notwendigkeit, Unmöglichkeit, aber auch Wahrheit, Güte, Größe usw. Tatsächlich werden immer assertorisch oder apodiktisch Anerkennende, Verwerfende, Liebende, Hassende usw. vorgestellt. Man darf sich zwar ohne weiteres derartiger sprachlicher Ausdrücke bedienen, nur muß man sich bewußt bleiben, daß es sich um stellvertretende, vereinfachende Ausdrücke, um bloße entia elocutionis handelt. Wegen der zahlreichen Mißverständnisse, denen aber gerade diese so ungemein wichtige und fruchtbringende Lehre Brentanos ausgesetzt war und ist, scheint es mir wünschenswert, daß sie nochmals in einem ihr allein gewidmeten Band mit möglichster Klarheit dargelegt werde. Dabei sollen einige bisher noch unpublizierte Abhandlungen Brentanos - im II. Hauptteil - sowie vor allem der Briefwechsel Brentanos mit A. Marty und 0. Kraus, soweit er sich auf dieses Problem bezieht - im 1. Hauptteil -, zur Publikation gelangen. Von Herrn Dr. Felix Meiner, dem inzwischen leider verstorbenen Herausgeber der Phil. Bibliothek, der diese von relativ bescheidenen Anfängen zu einer Sammlung wissenschaftlicher Werke von internationaler Bedeutung ausgebaut hat, wurde mir
Vorwort
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in seinem Brief vom 24. Februar 1964 in höchst entgegenkommender Weise gestattet, einige der schon im Band • Wahrheit und Evidenz" publizierten Briefe nochmals im Zusammenhang des Briefwechsels zu bringen (auf diese Briefe wird in den Anmerkungen noch jeweils hingewiesen). Meine Dissertation möge mit kleineren Ergänzungen als zusammenfassende .Einleitung" dienen, damit der Entwicklungsgang Brentanos in Hinsicht auf den Begriff .Reales" (Ding, Etwas) als höchster Gattungsbegriff und seine Ablehnung alles sog. Nichtrealen unmißverständlich zum Ausdruck kommt. Der Anhang, in welchem Husserls Phänomenologie und Meinongs Gegenstandstheorie behandelt wurden, ist ausgelassen worden. Beiden Systemen liegen Brentanos ehemalige, von seinen Vorgängern übernommene Lehren vom immanenten Objekt und von nichtrealen Urteils- bzw. Interesseinhalten zugrunde. Nach Meinong umfaßt der Umfang des Seienden im weitesten Sinne (das Außerseiende) Seiendes und Nichtseiendes. Husserl baute das Nichtreale (die idealen Gegenstände) ebenfalls in mannigfacher Weise aus. Die idealen Gegenstände können nach ihm durch • Wesensschau" erfaßt werden. Besonders Husserl hat durch diese Erweiterung des Nichtrealen viel Anklang und eine große Anhängerschaft gefunden. Mir kam es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, Phänomenologie und Gegenstandstheorie sowie die aus ihnen hervorgegangenen Lehren im einzelnen zu besprechen. Wenn Brentanos Beweise zu Recht bestehen, daß Nichtreales nicht existieren, ja nicht einmal vorgestellt werden kann, und daß die Annahme von Nichtrealem zu Absurditäten und unendlichen Komplikationen führt, so ist auch diesen Systemen ihre Grundlage entzogen. Eine Auseinandersetzung mit neueren gegen Brentanos .reistische Lehre" vorgebrachten Einwänden (von V. Kraft, M. Windischer, D. B. Terrell) soll im vorliegenden Band ebenfalls nicht durchgeführt werden, weil R. Kamitz sich in seiner Arbeit "Franz Brentanos Lehre vom wahren Urteil" II. Teil)4 eingehend mit R. Kamitz .Franz Brentanos Lehre vom wahren Urteil. Eine kurze Darstel1ung d[·eser Theorie sowie einiger gegen sie erhobener Einwände", Dis&ertation 1961. 4
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Vorwort
diesen Einwänden beschäftigt hat. Nur in den Anmerkungen zur "Einleitung" werden die Gegenargumente Terrells kurz berührt. Eine ausführliche Inhaltsübersicht, Anmerkungen sowie ein Namen- und Sachregister wurden von mir hinzugefügt. Möge der vorliegende Band zum Verständnis von Franz Brentanos "Reismus" beitragen und seiner die Grundfragen der Metaphysik klärenden Auffassung zum Durchbruch verhelfen. Franziska Mayer-Hillebrand Innsbruck, im November 1965
INHALTSÜBERSICHT Einleitung der Herausgeberin Seite
I. Aristoteles' Lehre von den mannigfachen Bedeutungen des Seienden als Ausgangspunkt für Brentanos Unterscheidung von Realem und Nichtrealem II. Die Lehre vom Nichtrealen, wie sie auf Grund ursprünglicher Gedanken Brentanos insbesondere von Marty ausgebaut worden ist Die einzelnen Klassen des Nichtrealen: 1. Das Immanente 2. Die Inhalte der Urteile und Interessephänomene 3. Die Relationen 4. Kollektiva und Teile eines Kontinuums Versuche, den Inhalt des allgemeinen Begriffs des Realen bzw. des Nichtrealen zu bestimmen Ausbau der Lehre vom Nichtrealen durch Marty: Reduktion der Tafel des Nichtrealen durch Ausscheidung des Immanenten . Erweiterung durch Raum und Zeit III. Brentanos spätere Lehre, daß nur Reales vorstellbar sei . Nichtreales ist jedenfalls nicht vorstellbar, ohne die Vorstellung von Realem einzuschließen . Es ist aber überhaupt nicht vorstellbar. Argument aus der Einheit des Begriffes „Denken" Widersprüche und unendliche Komplikationen bei den Urteils- und Interesseinhalten . Die Relationen sind zwar vorstellbar, aber real, und das gleiche gilt für die Kollektiva sowie Räumliches und Zeitliches Aus Martys Lehre, daß dem Nichtrealen ein bloßes „Mitwerden" zukomme, ergibt sich die absurde Konsequenz, daß für Gott alles nichtreal sein müßte .
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IV. Revision der Interpretation von Aristoteles' Lehre über das Seiende im Sinne des Wahren (ov wq a?.ri!H>) •
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V. über Brentanos Lehre von den Vorstellungsmodis und der auf ihr beruhenden Änderung seiner Urteilstheorie .
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VI. Martys Opposition gegen die Eliminierung des Nichtrealen Die Inhalte sind unentbehrlich, um die Objektivität der Wahrheit aufrechtzuerhalten; gibt man sie auf, so führt das notwendigerweise zum Psychologismus, d. h. Relativismus Auch der nichtreale Charakter der Relationen ist unverkennbar. Brentanos Lehre von den Vorstellungsmodis vermag die Objektivität der Relationen nicht zu erklären und ist auch aus anderen Gründen unhaltbar. Aber auch etwas Reales oder bloß Phänomenales können sie nicht sein Brentanos Argument gegen das Nichtreale überhaupt ist nicht stichhältig, denn man braucht den Begriff „Vorstellungsgegenstand" nicht als einen durch Imperzeption gewonnenen Gattungsbegriff aufzufassen, er ist vielmehr gewonnen in Reflexion auf das Vorstellen
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VII. B r e n t an o s A b w e h r v o n M a r t y s V o r w ü r fen: Widerlegung von Martys Argumenten für die Unentbehrlichkeit der Inhalte. Revision des Wahrheitsbegriffes und Abwehr von Martys Vorwurf des Psychologismus Martys Beweisführung für den nichtrealen Charakter der Relationen ist unhaltbar. Seine Argumentation gegen Brentanos Lehre von den Vorstellungsmodis beruht auf Verkennung dieser Lehre . Der Begriff „Vorstellungsgegenstand" kann nicht in Reflexion auf das Vorstellen gewonnen sein
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VIII. übersieht über die entia rationis und Tafel des Realen .
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Erster Hauptteil (Aus dem Briefwechsel F. Brentanos mit A. Marty und 0. Kraus) 1. Brentano an Marty (Mai 1902). Abstrakte Auisdrücke und viele andere Namen sind nur Synsemantika, die erst in Sätzen Bedeutung gewinnen .
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2. Brentano an Kram (17. Oktober 1902). Hinweis auf die Fiktionen der Mathematiker wie negative Größen, unendliche Vielheiten. Sie können weder existieren, noch sind sie von;.tellbar. Das gleiche gilt für Universalbegriffe 3. Brentano an Marty (7. Januar 1903). Wenn sich Brentano auch noch nicht ganz vom Nichtrealen losgelöst hat, so komme diesem, meint er, doch höchstens in Dependenz von einem Realen Tatsächlichkeit zu . . 4. Brentano an Marty (10. September 1903). Brentanos "neuer Versuch", a l l e lrrealia als sprach1iche Fiktionen aufzufassen. Immer lassen sich Dinge aufzeigen, die vorgestellt und beurteilt werden, so daß die Annahme von "Undingen" überflüssig wird . 5. Marty an Brentano (18. September 1904). Marty bringt eine Reihe von Einwänden, um zu zeigen, daß man ohne Annahme von Nichtrealem und nichtrealen Bestimmungen nicht auskommen könne . 6. Brentano an Marty. Ohne Anrede und Datum. (Antwort auf Martys Brief vom 18. September 1904.) Brentano geht im einzelnen auf Mairtys Einwände ein. Es bleibe bestehen, daß man nur Reales .denken könne. Doch solle dies nichts anderes heißen, als daß man nur solches denken könne, was, wenn es wäre, Reales wäre 7. Marty an Brentano (4. Oktober 1904). Marty weist darauf hin, daß den Relationen kein selbständiges Werden und Vergehen zukomme, was doch vom Realen zu gelten hat 8. Brentano an Marty. Ohne Anrede und Datum. (Antwort auf Martys nrief vom 4. Oktober 1904.) Echte Rdationen sind, führt Brentano aus, real und kommen einer Vieiheit von Substanzen zu, die kollektivistisch zusammengefaßt wel'den. An Stelle sog. nichtrealer Bestimmungen wel'den immer gewi11se Realia gedacht 9. Kra1.11S an Brentano (6. Oktober 1904). Kraus gibt zu, daß es 11ich bei der intentionalen Beziehung um eine einseitig reale Relation handle. Man könne sie nur durch den Hinweis auf .die Anschaiuung verdeutlichen . 10. Brentaino an Kraus (20. Oktober 1904). Brentano weist auf die Schwierigkeiten hin, die sich an Komposi.t.ionen von Dingen und "Undingen" knüpfen müßten. 11. Brentano an Marty (17.März 1905). Brentano betont, .daß er niemals das immanente Objekt als „vorgestelltes Ding" aufgdaßt habe. Immer we!'de das Ding selbst zum Objekt gemacht, auch wenn es nicht existiert . . 12. Brentaino an Marty (22. Mai 1905). Zum ersten Male wird die Lehre von den Modis des Vorstellens dargelegt . . . . . . 13. Breniano an Marty (25. Januar 1906). In einer längeren, wahrscheinlich nicht abgesandten Abhand-
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Jung beschäftigt sich Brentano mit der Frage, oh es wie ein positives auch ein negatives Vorstellen gebe. Sechs Theorien darüber wePden besprochen und bi,s auf eine abgelehnt. Es handJ.e s,ich immer um ein VorsteJ.len bzw. Urtei,1en, das s•ich indi•rekt auf das Objekt (des.sen Begriff dem negativen Begriff kontra:diktonisch entgegengesetzt is,t) bezieht. Direkt wi,nd ein Urteilender, der das Objekt negiert, vorgestellt . 14. Brentano an Marty (1. März 1906). Der Name „ens ra!Jionis" ist jedenfalls unpa;rnend, weil auch solches darunter gerechnet wird, das unabhängig von einem V erstand existieren soll {Relationen, Abstrakta,, Urteils- und Interesseinhalte). Aber auch, wenn man statt ·dessen von "entia rum realia" spricht, lehnt Brentano diese ganze Klasse ab. Immer lasse sich aufzeigen, daß tatsächlich Dinge gedad:tt wepden 15. Marty an Brentano {2. März 1906). Marty erklärt sich mit ·der Bezeichnung "ens non reale" (Nichtreales) e,inverstanden, um so mehr als auch er mental Exis,tierendes und Abstraiktes nunmehr für Fiktionen halte. Doch scheine ihm nach wie vor eine nichtrelte
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hin zu dem, was ich Ihnen schon wiederholt und auch zuletzt noch über den Verstoß gegen das allgemeine Gesetz sagte, daß, wenn etwas vorgestellt wird, alles vorgestellt wird, was zu seinem Inhalt gehört. Wer das Nichtsein eines Körpers vorstellt, müßte darum auch das Nichtsein eines lebenden Körpers, einer Pflanze, eines Tieres, eines Menschen, eines Negers, eines Frosches usw. vorstellen. Daß man aber das Nichtsein eines Frosches nicht vorstellen könne, ohne nicht auch einen Frosch vorzustellen, dürfte jeder zugeben. Und so sieht man denn, was für eine ungeheuerliche Vorbedingung jene angebliche Vorstellung des Nichtseins eines Körpers hätte. Was wir eigentlich tun, wenn wir jenen Denkakt vollziehen, in welchem das Vorstellen des Nichtseins eines Körpers gegeben sein soll, das habe ich auch schon früher dargelegt. Es ist also nicht richtig, daß ich die neue Lehre Ihnen gar nicht anschaulich unterbreitet hätte. Ich habe Ihnen aber auch schon gesagt, daß es gar nichts verschlägt, wenn man fortfährt, Wendungen zu gebrauchen wie: ein gedachter Mensch ist, Röte ist, ein Nichtrotes ist, eine Möglichkeit ist, eine Unmöglichkeit ist, usw. usw„ obwohl hier überall von einem Sein im uneigentlichen Sinn gesprochen wird. Und so mag man denn auch von der Vorstellung eines Nichtseins und von dem ewigen Bestand eines Nichtseins und dem von unendlich vielen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten reden, wenn man nur am entsprechenden Ort Sorge trägt, alle diese Ausdrücke durch Rückführung auf Sätze, die das "Sein" eigentlich gebrauchen, zu erklären - oder wenigstens sich hütet zu behaupten, daß eine solche Rückführung nicht gefordert sei, da vielmehr auch in dem Fall, wo ich sage: „Es gibt ein Nichtsein", das „es gibt" im eigentlichen Sinn keine Anwendung finde. Unter den merkwürdigen Aporien Theophrasts zur Metaphysik, mit deren Studium ich mich gerade beschäftige, fand ich auch eine, worin er von solchen spricht, welche meinen, daß auch manches, was nicht sei, nicht gewesen sei und nicht sein werde zum Universum gehöre, daß er sich aber auf diese Frage nicht einlassen wolle, die die Grenzen überschreite. In der Tat, gehört es zu Gott, daß er allmächtig ist und wie die bestmögliche Welt auch d.ie Gesamtheit der minderwertigen
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Hinweise auf Wandlungen
(Welten) vorstellt, die weder sind noch je waren oder sein werden. So gehören sie gewissermaßen doch auch zum Universum und seinem Verständnis aus dem letzten Grund. Im Unterschied von der Meinung, die Theophrast andeutet, würden Marty und Sie sagen, es gehöre auch hier nur Bestehendes zum Universum, ja sogar ewig Bestehendes, denn man habe es hier mit ewigem Nichtsein von Welten zu tun, die als minderwertig hinter der einen bestmöglichen durch den Ratschluß Gottes hintangesetzt worden seien. Ehe ich schließe, will ich noch ausdrücklich auf die Frage antworten, die Sie, wie es scheint, ganz unlösbar glauben: „Welchen Sinn hat nach Ihnen der Satz: ,Nichtreales ist nicht"'? Ich antworte, sein Sinn ist: „Es irrt, wer etwas anerkennt und es als real leugnet." Sie werden das hoffentlich leicht verstehen, wenn Sie an das denken, was wir ja, glaube ich, gemeinsam über die zusammengesetzten Urteile und insbesondere über das Absprechen eines Attributes bei Anerkennung des Subjektes des Satzes lehren. - Freundschaftlich Ihr F. Brentano
Kraus an Brentano45
10. September 1909 Hochverehrter Herr Professor! - - - - In meinen Aufzeichnungen ist die Wendung der neuen Lehre historisch treu niedergelegt. Ihre Lehre ist mir anschaulich genug; aber e'S scheint mir, daß sie nicht in gleichem Maße, wie das sonst Ihre Art ist, allen wirklichen und möglichen Einwendungen Rechnung trägt, nicht so weit in ihren Konsequenzen entwickelt ist, um auf jene Punkte zu stoßen, die sie mir so schwer annehmbar erscheinen lassen. Nichtsdestoweniger werde ich es als meine Pflicht erachten, sie als I h r e Lehre vorzutragen und dem ernstesten Studium zu empfehlen, schon weil es Ihre Lehre ist und ich Sie nicht nur als u n s e r e n Lehrer und Meister, sondern als einen Denker verehre, wie es seinesgleichen
in früheren Lehren Brentanos
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nur wenige, allzuwenige gegeben hat und gibt. Hiefür legt mein Verhalten während bald 17 Jahren Zeugnis ab; nicht nur mein praktisches, sondern auch mein theoretisches. Habe ich nicht, teils durch die Macht Ihrer Gründe, teils durch die Macht Ihrer Beweiskunst, teils durch die Macht Ihrer Autorität bewogen, all die zahlreichen Wendungen mitgemacht, deren Ihre Philosophie in diesen Jahren nicht wenige aufzuweisen hat? - - Als Sie 1908 negative Vorstellungen einführten, schwankte meine Überzeugung dem überragenden Geiste nach, um endlich - innerlich erfreut - bei der alten Lehre zu landen. Mag sein, daß ich meiner Urteilskraft ein schlechtes Zeugnis ausstelle, aber ich wäre noch urteilsloser, wenn ich sie überschätzte. Mit den Inhalten ging es mir ähnlich; ich verließ sie bereits öfters, von der Richtigkeit Ihrer Lehre überzeugt. Wenn das jetzt nicht der Fall ist, so nur darum, weil ich den alten Standpunkt noch nicht für widerlegt, den neuen nicht für vollkommen begründet halte und Autorität ausfülle. Von dem Goethe'schen Satz Doch ich weiß, er kann nicht lügen, den Rest, der hier fehlt, nicht durch den Glauben an Ihre will mich gern mit ihm betrügen, lasse ich nur den 1. Teil gelten; und ,sollte ich irren, so teile ich nur einen Irrtum, dem selbst ein Denker von Ihrem Range verfiel. Damals hat Prof. Marty Ihren jetzigen Standpunkt eingenommen. Sie schrieben ihm (ich besitze eine Abschrift auch dieses Briefes): ,nehmen wir "nichtseiender Mensch" (mangelnder Mensch) im Sinne von Mangel von etwas, was Mensch ist, so ist dies keine Fiktion, für den Fall, daß es keinen Menschen gibt.' Sie beweisen diesen Satz im Folgenden ausführlich auf (weiteren) 18 Seiten. Wochenschriften aus diesem Jahre bringen weitere Begründungen. Unter anderem sagen Sie: 1. "D i e V e r nun f t kann d e n s e 1 b e n T a t bestand in mehrfach verschiedenen Gedank e n f a s s e n , w e n n s i e z. B. e i n K o 11 e k t i v b i 1 det, wenn sie eine Division macht." Ich finde diese Bemerkung ausgezeichnet, 'sie erledigt Ihren Einwand gegen die angebliche Absurdität unendlicher Vielheiten bei der Annahme von Inhalten. Ein gewisser Tatbestand,
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Aporien, die durch die neue Lehre
das ,Nichtsein von A B' kann i n s U n e n d 1 i c h e vollständig erfaßt werden, in allen Konsequenzen gesondert zum Bewußtsein gebracht werden, ohne daß eine definitive U n e n d l i c h k e i t wirklich besteht (distractio rationis cum fundamento in re). Ferner: 2. Was das Gesetz anlangt, daß, wenn etwas vorgestellt wird, alles vorgestellt wird, was zum Inhalt gehört, so muß ich gestehen, daß ich es entweder mißverstehe, oder wenn ich es richtig verstehe, nicht für wahr halte; vorausgesetzt, daß vom b e g r i f f l i c h e n Vorstellen gesprochen wird. Denn wenn ich z. B. Kugel vorstelle (begrifflich), so ist dies ein psychischer Akt, in welchem ich, solange ich nichts anderes als „ Kugel" denke, nichts anderes als impliziert zugeben kann. Die Teile denke ich begrifflich nur dann, wenn ich sie als solche erfasse; dann ist aber ein neuer Akt oder eine neue psychische Beziehung da, ich habe ,eine Division gemacht', wobei dieselben Tatbestände in anderer Weise erfaßt werden. Das Ganze begründet hier die Teile, und ich bin imstande, in dem Ganzen die Teile zu erfassen; aber wenn ich das Ganze als G a n z e s vorstelle, habe ich die T e i l e in keiner Weise wirklich vorgestellt. Ein unbewußtes VorsteUen gibt es nicht. Oder soll dieses implicite Vorstellen ein unbemerktes Vorstellen sein? Dann gäbe es eine aktuelle Unendlichkeit von unbemerkten Akten! Denke ich ,Nichtsein eines Körpers', so denke ich dies und nichts anderes. Das Nichtsein eines Flohes liegt allerdings im Nichtsein eines Körpers begründet, aber ich denke es nicht aktuell und somit überhaupt nicht. Ich kann eine Absurdität in der alten Lehre nicht entdecken. 3. Dagegen bleibt unbeantwortet die Frage: W a s h e i ß t richtig? In einer Karte an Urbach aus dem Jahre 1908 allerdings schreiben Sie: Daß die Wahrheit in einer Art Übereinstimmung des Urteils mit den Dingen besteht und darum nicht dieselbe bleiben kann, sei wahr wie zur Zeit des Aristoteles, und so einleuchtend, daß Urbach sich nicht dauernd dieser Einsicht werde verschließen können. - 4. Ferner bleibt unbeantwortet die Frage: wie soll man in Ihrer Sprache den Satz ,Erkenntnis ist gut' ausdrücken und den
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unbeantwortet bleiben
Wertbegriff klären, wenn Wert keine Bestimmung (wenn auch nur eine relative) ist, die den Dingen in Wirklichkeit zukommt. Eine Erörterung dieser 4 Punkte wäre vielleicht imstande, mich zu belehren und zu bekehren. Daß ich nichts als die Wahrheit suche, wenn ich Ihnen widerspreche, das werden Sie mir glauben. So gut, als Sie heute sagen, was Sie lehrten, gehe spurlos an mir vorüber, so gut hätten Sie das anno 1903 sagen können, wenn ich Ihre Lehre über die ,wahrhafte Existenz' der Inhalte nicht angenommen hätte. Was Sie damals lehrten, scheint mir aber noch heute fester begründet als das, was Sie heute lehren. Ich sehe nicht, wie man die A b s u r d i t ä t der sogenannten Inhalte einsehen soll. Daß Röte nicht existieren kann, haben Sie evident bewiesen, existiert ein gleicher Beweis dafür, daß der Begriff einer Sachlage, die man als ,Nichtsein eines Körpers' bezeichnet, absurd ist? Anno 1903 lehrten Sie wörtlich: "Wir dürfen nicht glauben, daß, wenn wir etwas als Seiendes statuieren, im geringsten ein Wesen statuieren. Wenn wir darum die Frage aufwerfen, ob z. B. eine Unmöglichkeit eines runden Vierecks ein Wesen sei, so müssen wir nicht glauben, daß es sich darum handelt, ob die Unmöglichkeit ,rundes Viereck' ein Wesen sei, sondern nur darum, ob s1ie jetzt ex istiert; dies ist aber kein Zwei f e l, daß die Unmöglichkeit jetzt existiert." So noch 1903; und weiter lehrten Sie: „Die entia rationis sind in >ihrem Sein und Nichtsein abhängig vom Realen in der Weise, daß ein Reales sein oder nicht sein muß in irgendeiner Weise der Tatsächlichkeit, damit das Nichtrealesei", usw. usw. Dieser Standpunkt scheint mir noch heute der richtige. Ich bitte sehr, folgende Gedanken erwägen zu wollen: Wenn eine Kugel existiert und ich denke, daß diese Kugel 2 Halbkugeln enthält, also zwei Teile, so hat sich an der realen ganzen Kugel nichts geändert, aber mein Denken hat eine Teilung in die Kugel hineingetragen und der Satz: es lassen sich 2 Teile in ihr unterscheiden, ist richtig. In der Sprache von 1903: „Ich habe einen Tatbestand in anderer Weise erfaßt" oder: „es bestehen drei Kugeln und ich fasse diese drei in Gedanken zu einer Einheit, einer Kollektion zusammen". Da ist wieder umgekehrt das Ganze 1
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Überprüfung der neuen Lehre wäre erwünsdit
als solches ein ens rationis. Es besteht also ein Mittelding zwischen ens reale und fictio: das ens rationis. Eine Unterscheidung, die der Verstand macht, und die, indem der V erstand sie macht, auch richtig ist, weil in der Sachlage ein Anlaß zu ihr gegeben ist. - Das Reale wird nicht vermehrt, weder wenn ich eine Mehrheit als Einheit betrachte, noch eine Einheit als Mehrheit, und ebensowenig mache ich eine Fiktion, wenn ich die Tatsache, daß ein Reales nicht ist, begrifflich erfasse und das ,Nichtsein eines Realen' statuiere. Ihr gütiger Brief spricht betrübt von Verirrungen in Ihrer Schule, sogar von ,seltsamen Verirrungen'. Die Lehre von den Inhalten und Werten werden Sie vielleicht nicht dazu rechnen; schon darum glaube ich das nicht, weil Sie Prof. Martys unermüdliche, von keinerlei Eitelkeit getrübte Forscherarbeit nicht mit den Absurditäten anderer - - so nennen werden. Ich kann freilich nicht leugnen, daß die Divergenz in dieser eminent wichtigen Frage mir selbst betrüblich ist. Wenn ich die Richtigkeit Ihres gegenwärtigen Standpunktes einsehen könnte, warum sollte ich ihn nicht mit Freuden einsehen? Warum sollte es Prof. Marty nicht? - Vielleicht gibt der Umstand, daß jene, die stets bereitwilligst der Stimme der Wahrheit Gehör gegeben, welche in Ihnen ihren teuersten Meister und Freund verehren, diesmal sich weigern, eine Lehre anzunehmen, Ihnen Anlaß, das Ganze der mit dieser Frage zusammenhängenden Theoreme nochmals zu erwägen und die Haltbarkeit der alten Lehre zu prüfen; zu überlegen, ob die jetzige nicht einesteils einem Ultra-Nominalismus, andererseits einem Ultra-Realismus (bei den Relationen) verfällt. - Indem ich für die Geduld danke, die Sie mit diesem Brief zu Ende kommen ließ und weitere Geduld für mich erbitte, bin ·ich mit dem Ausdruck des Dankes und der Verehrung Ihr treuer Kraus.
Wechsel der Hypothesen, nicht der Oberzerugungen
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Brentano an Kraus46
Schönbühel, den 14. September 1909 Lieber Freund! - - - - Was Ihren Brief anlangt, so freut es mich, aus ihm genauer zu erkennen, warum Sie sich zu gewissen Ansichten, zu denen ich mich in jahrelangem Nachdenken durchgerungen, nicht gleichfalls bekennen wollen. Daß meine Autorität Sie nicht bestimmt, kann ich nur billigen. An diese sich haltend, würden Sie gerade das Gegenteil von dem tun, wozu ich allzeit meine Schüler mahnte. Weder bin ich vor Irrtum geschützt, noch war es, auf dem philosophischen Gebiet wenigstens, ein anderer Sterblicher. Es hätte also des Hinweises auf Wandlungen, die ich vollzogen, nicht bedurft, um mir begreiflich zu machen, warum Ihr mir in so ehrender Weise geschenktes Vertrauen doch nicht so weit gehen könne, mir Unfehlbarkeit zuzuschreiben. Indes kann ich denn doch nicht verschweigen, daß Sie die Entwicklung meines Denkens, in die ich nach meiner Art den Freunden unverschleiert Einblick gestattete, nicht ganz richtig darstellen, wenn Sie mich der Reihe nach die mannigfachst sich widersprechenden Lehren verkünden lassen. Das habe ich keineswegs getan, im Gegenteil kein Hehl daraus gemacht, daß die Untersuchung noch nicht abgeschlossen sei. Nicht ein Wechsel von Überzeugungen hat stattgefunden, sondern nur ein Wechsel von V ersuchen, indem ich es bald mit der. einen, bald mit der anderen Hypothese probierte und dann natürlich die für den jeweilig hypothetisch eingenommenen Standpunkt sprechenden Momente hervorhob und diejenigen, welche mit ihm unverträglich schienen, zu entkräften bemüht war. Nur eine Ausnahme besteht gegenüber dem, was ich hier sage: es ist richtig, daß ich einst, so wie Marty es tut, Inhalte von Urteilen behandelte, ais wenn sie wie Dinge Gegenstände von Vorstellungen, Urteilen und Gemütsbewegungen werden könnten. Damals wurde mir auch ein gewesener Mensch, ein zukünftiger Mensch zu einem Gegenstand der Anerkennung, und Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten ließ ich, wie Marty es
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An den Inhalten hat Brentano
noch tut, in unendlicher Vielheit von Ewigkeit bestehen. Das also war einmal wirklich meine Überzeugung, wirklich meine Lehre. In meiner Psychologie vom empirischen Standpunkt tritt sie aufs deutlichste hervor. Das negative Prädikat wird ganz so wie ein positives Merkmal behandelt, die hypothetischen und disjunktiven Sätze werden in der Art auf kategorische Formeln gebracht, daß statt: „Wenn A B ist, ist C D", gesagt wird, „daß A B ist, ohne daß C D ist, ist nicht" und statt: „Entweder ist A B oder C ist D"; „eines der beiden, daß A B ist und daß C D ist, ist". Ich kann also nicht widersprechen, wenn Marty sagt, daß er in seiner Lehre von den Inhalten eine früher von mir vertretene Lehre verteidige, und kann Meinong nicht zugestehen, daß er in der Aufstellung von seinen „Objektiven" irgendwie originell sei, man müßte denn in der Substitution eines neuen und gar wenig passenden Namens für das, was ich ähnlich wie Marty Inhalt genannt hatte, etwas erblicken, was ihn als einen originellen Geist erkennen ließe. Fragt man, wie ich zu dieser Lehre gekommen, so dürfte zum Teil darauf hingewiesen werden, daß ich wesentlich aus der Schule des Aristoteles hervorgegangen bin. Dieser aber spricht nicht selten in der Art, als ob, wenn einer auf die Frage, ob es wahr sei, daß kein Dreieck mehr als 2 Rechte zur Winkelsumme habe, mit einem „ sau" (so ist es) zustimmt, dieses denselben Sinn habe, wie wenn einer von einem Ding sagt, es sei. Sie brauchen dafür nur den Anfang der 2. Analytiken zu vergleichen. Aristoteles hat hier also wirklich auf mich Einfluß geübt, während ich von Bolzano nie auch nur das Geringste angenommen habe. Nur Anregung zur Behand1ung gewisser Fragen, die ich aber dann in ganz anderer Weise und mit Verwerfung seiner Lösung beantwortete, habe ich von diesem mir trotzdem wahrhaft achtbaren Forscher empfangen. Damals habe ich auch die drei Grundklassen der psychischen Beziehungen aufgestellt und war, wie noch heute Marty, der Meinung, daß nur die zwei letzteren andere Unterschiede als die der Gegenstände, also auch Unterschiede in der Beziehungsweise selbst aufweisen, und solange ich an diesen Lehren festhielt, konnte ich meine Meinung über das, was Gegenstand
allerd[ngs lange festgehalten
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werden könne, nicht reformieren. Indes konnte ich mir, was Bedenkliches, ja Absurdes in jener meiner einstigen Lehre lag, auf die Dauer nicht verbergen, und selbst die Autorität des Aristoteles spricht nicht in konsequenter Weise für sie; wie wir ihn denn z. B. wieder und wieder behaupten hören, daß das ov w; a?.rrßfr (Sein im Sinne der Wahrheit) nicht außerhalb des Verstandes besteht. Auch hat keiner energischer als er die Annahme unendlicher Vielheiten als absurd verpönt. Ich selbst erkannte diese Absurdität, und diese Erkenntnis sowohl, als eine Mannigfaltigkeit von anderen Überlegungen, duldeten kein ruhiges Verweilen bei dem einst gehegten Irrtum, der, je energischer man ihn in die Konsequenzen verfolgt, um so mehr zu einer Fülle von Ungereimtheiten führt. Es würde zu weit führen, sie alle hier zusammenzustellen. Außer der Absurdität unendlicher Vielheiten habe ich in meinem vorigen Brief darauf hingewiesen, daß, wenn ein Nichtsein von A, implicite ein Nichtsein von A + B vorgestellt werden müßte, ganz so, wie wenn einer 20 Kugeln s1ieht, er implicite jede einzelne dieser Kugeln sehen muß und jedes Paar in diesen Kugeln und jedes Dutzend in ihnen, wenn er sie auch nicht unterscheidet. Aristoteles schon erklärt sich darum gegen diejenigen, welche behaupten, daß Teile von einer gewissen Kleinheit nicht gesehen werden, wenn das Ganze gesehen wird. Die Konsequenz, die sich hieraus für unseren Fall ergibt, ist unleugbar. Das Nichtsein von A enthält ja implicite das Nichts.ein von A und B, so wahr das negative Urteil dem ganzen Umfang nach beurteilt, und so hätten wir denn mit dem angeblichen Vorstellen des Nichtseins von A ein implizites Vorstellen des Nichtseins von A und B, wais doch keiner zugeben kann, der noch an der Wahrheit festhält, daß jedenfalls negativ A und B nicht gedacht werden können, ohne daß sie in nicht negativem Denken vorgestellt werden. So würde denn, wenn wir das Nichtsein des A vorsteHen, nicht bloß die Vorstellung von A, sondern auch die von B, C us.w. gefordert werden. Sie haben in Ihrem letzten Brief dieses Argument zu widerlegen gesucht. Meine jetzige erneuerte Vorführung wird Sie
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Absurditäten foigen aus Annahme von Inhalten
vielleicht erkennen lassen, daß Sie dabei das Punctum saliens des Argumentes nicht getroffen haben. Und Ähnliches gilt denn auch von dem, was Sie zur Abwehr der Konsequenz unendlicher Vielheiten vorbringen. Mit Unrecht berufen Sie sich auf den Fall, wo wir, wie ich einst (und ich glaube noch heute nicht ohne Grund) sagte, wir könnten ein und dasselbe Reale nach Belieben als Einheit, Zweiheit, ja manchmal als eine beliebig große endliche Vielheit von Realem fassen, wobei ich übrigens nicht unterließ, ausdrücklich zu bemerken, „nicht aber als eine unendliche Vielheit". Unser Fall ist ein ganz anderer; es handelt sich nicht um etwas, was beliebig als eines oder mehreres in beliebig großer endlicher Zahl fortbestehend gefaßt werden kann, sondern um etwas, was in seiner vollendet unendlichen Vielheit und von Ewigkeit bestehen würde. Die Unmöglichkeiten würden nicht in endlicher, sondern indefinit unendlicher Menge vorhanden sein, und dasselbe würde von den Möglichkeiten, dasselbe von den Nichtseienden, dasselbe von den zukünftigen Dingen und Geschehnissen gelten. So halte ich denn die beiden Argumente unentwegt aufrecht und mit ihnen noch andere, die ich, wie ich glaube, mit nicht minder vernichtender Wirkung gegen die einstige Lehre geltend machte. Es ist im höchsten Grade paradox zu sagen, daß einer ein ens rationis zu heiraten verspräche und sein Wort erfülle, indem er ein wirkliches Wesen heiratet, und es ist ebenso paradox, wenn man sagt, daß, wenn alles Reale vernichtet würde, ins Unendliche noch ein Prozeß fortbestehen würde, indem aus dem gestern Gewesenen ein vorgestern Gewesenes und ein vor 2 Tagen Gewesenes werde usw. usw. Auch nehme ich nicht Anstand zu behaupten, daß dieser sich ins U nenidliche fortziehende Wechsel ein substantieller Wechsel sein würde, so wahr kein anderes vorhanden wäre, das diesem Wechsel als Subjekt unterläge, und wiederum halte ich dafür, daß es Gott den Charakter des alleinigen Prinzips alles Seienden rauben wü11de, wenn unabhängig von ihm irgend etwas, und wäre es auch nur eine Unmöglichkeit, bestände. Doch die Konsequenz nach jeder Seite zu verfolgen, ist hier nicht so
Die Lehre von den
Vo~tellungsmodiß
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wichtig, als sich in nüchterner Beobachtung der Tatsachen zu überzeugen, daß wir niemals etwas anderes als Dinge zu Gegenständen unseres Denkens machen. Auch Marty kann nicht leugnen, daß wir beim angeblichen Vorstellen eines „ Nichtseins von A", A selbst zu einem Gegenstand psychischer Tätigkeit machen und daß, wenn diese auf A gerichtete Tätigkeit entfiele, jene angebliche andere mitentfallen würde. Er wird vielleicht zugeben, daß, wer solches annähme, eine Absurdität behaupte, und daß wir darum nicht nur erfahrungsgemäß für uns Menschen, sondern a priori für alle denkenden Wesen dasselbe mit vollendeter Zuversicht behaupten dürfen. Warum nun aber dies? - Je mehr man die Sache studiert, um so mehr wird man als Grund erkennen, daß es eben A und nicht das Nichtsein von A ist, worauf wir uns denkend beziehen. Natürlich führt nun aber die Behauptung, daß all unser Denken nur Reales zum Gegenstand hat, dazu, eine viel größere Mannigfaltigkeit der psychischen Beziehungen anzunehmen, als wir es einst getan hatten. Und in der Tat, wenn ich sage, ich stelle mir etwas Größeres als A vor, so bezieht sich mein Vorstellen des Größeren als A in einer gewissen Weise auf etwas anderes als A, in gewisser Weise aber doch auch auf A. Wenn ich „ größer als A" von etwas prädiziere, so prädiziere ich davon zwar nicht A, beziehe es aber doch auf A. Indem ich dies nun erkannte, vervielfältigte ich die Weisen der psychischen Beziehung und führte z. B. temporale Modi des Urteils, ja dann auch des Vorstellens und der Gemütstätigkeit ein und machte den Versuch, auch ein negatives Vorstellen einzuführen, was in der Weise, wie ich es tat, nicht vollkommen zur Wahrheit stimmte, und doch war die Bewegung meines Denkens auch hier in der Richtung des Fortschrittes, der dann immer weiter ging, zu Versuchen führte, auch ein apodiktisches Vorstellen und ein Vorstellen mit Modis, die an die Gemütsmodi erinnern, anzunehmen. Ich will nicht bei jedem Stadium der Evolution, in der mein Denken begriffen war, im Einzelnen verweilen, vielmehr nur sagen, daß sie schließlich zu einem Gedanken führte, den ich vor geraumer Zeit schon (jedenfalls mehr als ein Jahr) Professor
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Die Lehre von den Vorstellungsmodis
Marty mündlich ausgesprochen habe, indem ich zugleich bemerkte, ich glaube, in diesem Gedanken könnten und würden wir einmal miteinander Frieden schließen. Es hat sich derselbe seither in mir nur befestigt und es würde dies wahrscheinlich noch mehr der Fall sein, und ich würde ihn heute als meine volle Überzeugung aussprechen können, wenn ich nicht durch zufällige andersartige Forschungen von der Frage abgezogen worden wäre. Nach dieser neuesten Auffassung, aus welcher ich so wenig als aus den früheren Stadien der Evolution den Freunden gegenüber ein Hehl machte, gäbe es, eigentlich gesprochen, ungleich mehr Weisen der psychischen Beziehung als die drei Grundklassen, wie wir sie einst faßten, in sich zu begreifen fähig sind. Und nur ein Doppeltes sicherte ihnen nach wie vor ihre eminente Bedeutung. Erstens, daß es keine psychische Beziehung zu einem Gegenstande gibt, zu welchem nicht auch in einer oder mehrerer dieser drei Weisen eine psychische Beziehung besteht. Zweitens und hauptsächlich, daß es möglich ist, durch Fiktionen, ähnlich wie die der Mathematiker, wenn sie statt von Substraktion von Addition einer negativen Größe und statt von Radikation von einer Potenzierung mit einem Bruch sprechen, und überhaupt statt ganzen positiven Zahlen auch Brüche, irrationale Zahlen, negative Größen, ja imaginäre Größen als Zahlen behandeln, alle unsere psychischen Tätigkeiten als zu den drei Klassen: Vorstellen, Urteilen und Gemütstätigkeit gehörig darzustellen, was mancherlei methodische Vorteile mit sich bringt. Es würde zu weit führen, wollte ich über diese allgemeinen Andeutungen hinausgehen, vielleicht reichen sie aber hin, um Sie erkennen zu lassen, warum ich, obwohl ich gut und schlecht nicht eigentlich für Objekte halte, mich bei unserer letzten Begegnung und in meinem letzten Brief so tolerant zeigen konnte in bezug auf Beibehaltung von Redewendungen, deren wir uns auf unserem alten Standpunkt bedienten. Im übrigen will ich nun noch die Verwunderung darüber aussprechen, warum das "richtig" Ihnen so ganz unverständlich erscheint, wenn man nicht bei jedem und insbesondere auch dem
Sinn von .richHg" bei Urteilen
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negativen Urteil an den Bestand eines Gegenstandes glaubt, mit welchem der negativ Urteilende in einer Adäquation sich befindet. Gewiß ist nur eine Weise der Beurteilung, die bejahende oder verneinende, im einzelnen Falle dem Gegenstand adäquat, das heißt für ihn passend, für ihn richtig. Es kann nicht für mich die eine, für einen anderea die andere Weise richtig sein und dagegen fehlte, wenn ich mich recht erinnere, Urbach in seiner Zeitlehre, indem er für Gott etwas anderes wahr sein ließ als für uns. Aber damit erscheint der Sinn des .richtig" noch nicht genügend geklärt, und es gibt keinen anderen Weg, der hier zur vollen Klarheit führte als den, auf den man jenen weisen muß, der sich den Sinn des Wortes „rot" klarmachen will. Man muß ihn in die Lage versetzen, um was es sich handelt, anschaulich zu erfassen. Diese Lage besteht für uns, wenn wir etwas erkennen und finden, daß von denen, die es nicht erkennen, manche uns widersprechen, während andere, und wäre es auch nur blindlings, ebenso urteilen wie wir. Wir nennen sie dann nicht .erkennend", aber doch wegen ihrer Übereinstimmung mit uns .richtig urteilend", und so könnten wir denn den Sinn des Wortes .richtig" hier in einer der Klarheit dienlichen Weise so umschreiben, daß wir sagten, richtig urteile derjenige, der hinsichtlich des Inhalts seines Urteils, hinsichtlich des ja oder nein bei gleichem Gegenstand, Temporalmodus und eventuellem Notwendigkeitscharakter so urteile wie er, wenn er als Erkennender urteilte, urteilen würde. Ganz analog hat man dann auch in bezug auf das .richtig" auf dem Gebiete der Gemütstätigkeit sich zu erklären; ich habe nie anderes gelehrt, als daß man durch Hinweis auf Erfahrungen einer als richtig charakterisierten Liebe und Bevorzugung den Sinn des Wortes .richtig" auf dem Gemütsgebiete klarmachen könne. Was Sie hier mit Ihrem Glauben an das Bestehen des Guten, mit dem das Gemüt in einer adäquatio gefunden werde, gewinnen wollen, ist mir unerfindlich. Glauben Sie denn wirklich, es läge Ihnen zur Wahrnehmung vor wie die psychische Gemütsbetätigung, und Sie erkennten dann durch den Vergleich des außer uns Wahrgenommenen und in uns Wahrgenommenen die Ober-
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Sinn von „richtig" bei Gemüts,tätigkeikn
einstimmung des einen mit dem anderen und so die Richtigkeit Ihrer Gemütstätigkeit? - Ich sollte meinen, das bloße Aufwerfen einer solchen Frage genüge, um jedem die Unmöglichkeit ihrer Bejahung in die Augen springen zu lassen. Ich würde Ihnen unrecht tun, wenn ich zweifelte, daß auch Sie davon überzeugt sind, daß nicht zwei solche Wahrnehmungen, sondern nur die eine, die wir in unserem Inneren machen, vorliegt. Wenn nun aber dies, was bedarf es eines anderen Beweis'es dafür, daß die ganze Theorie von der Existenz eines „Gutseins" nicht das mindeste zur Klärung des Sinnes von „gut" beitragen kann? Sie sehen, lieber Freund, zu einem wie ausführlichen Brief mich auch heute wieder einmal die aufrichtige Teilnahme an Ihrem ernsten, edlen Streben geführt hat. Ich habe natürlich auch nichts dagegen, wenn Sie ihn Professor Marty zeigen, der sich dann vielleicht auch jenes Gespräches, auf das ich Bezug nehme, erinnern wird. Im übrigen wissen Sie und er, daß ich Ihnen wegen keiner Abweichung aus einer Auflehnung gegen meine Autorität zürne; im Gegenteril, wenn mich in Ihrem Briefe etwas weniger angenehm berühren konnte, so waren es gewisse lobpreisende Worte, wenn ich sie auch nicht für eine unredliche Weise deuten kann, da ich ja Ihrer treu freundschaftlichen Gesinnung sicher bin. Gewiß ist es eine unerfreuliche Wahrheit, daß die Geschichte der Philosophie in ihrem langen Verlauf nicht mehr Forscher aufweist, die sich in wahrhaft genialer Weise betätigt hätten. Doch unter diesen wenigen finden sich solche, von denen ich doch wohl in aller Aufrichtigkeit sagen könnte, daß ich kaum ihnen die Schuhriemen aufzulösen würdig sei. Freundschaftlich Ihr F. Brentano.
Kraus an Brentano
19. September 1909 Hochverehrter Herr Professor! Die Geduld, die Sie mir gegenüber zeigen und die Ausführlichkeit, mit der Sie einige meiner Fragen beantworten, ver-
Einwände gegen Brenbanos Analyse von "richtig"
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mehrt meine Dankbarkeit und rührt mich tief. Ich werde die Lösung, die Sie geben, nochmals durchdenken. Eines möchte ich gleich bemerken: die Lehre vom expliziten und impliziten begrifflichen Vorstellen, aus der sich die Absurdität eines Begriffes, wie "Nichtsein eines Körpers" ergeben soll, kann ich nicht begreifen. Der Begriff der Richtigkeit kann durch den Hinweis auf die Anschauung (ähnlich wie bei ,rot') nicht geklärt werden, weil sich hier, wo es sich um r e f 1 e x e Begriffe handelt, der Begriff nicht durch Imperzeption (Abstraktion im gewöhnlichen Sinne) gewonnen ist. Ferner: Jeder Mensch wird sagen, der Begriff des Richtigen setzt eine Relation oder relative Bestimmung voraus; er sagt etwas aus über die Angemessenheit meines Verhaltens zu etwas anderem. Wenn ich auf Wandlungen hinwies, so eben aus dem Grunde, um anzudeuten, daß es sich auch jetzt um eine Hypothese handeln kann, die, wenn sie weiter verfolgt wird, als unlösbar erkannt werden könnte. Daß Sie solche Hypothesen aufstellen, sie gegen Objektionen verteidigen und - - bis zu dem Punkte fortführen, wo sich ihre T1aiuglichkeit oder Untauglichkeit ergibt, ist mir nicht unbekannt. - - Ich werde mir erlauben zu replizieren, sofern ·ich nicht überzeugt werde. Ihr getreuer Kraus
Brentano an Kraus47
Schönbühel, den 24. September 1909 Lieber Freund! - - - - Die Worte, worin Sie unsere wissenschaftlichen Differenzen berühren, sind kurz, aber darum nicht minder deutlich. Sie verstehen nicht, was ich meine, wenn ich behaupte, daß, wenn irgendein Objekt vorgestellt wird, jeder Teil des Objektes impiicite vorgestellt werde. Ich erinnere Sie hier an die Lehre unserer Logik, daß das positive Urteil dem ganzen Inhalt nach beurteilt. Erkenne ich z. B. einen Spatzen an, so auch einen Vogel, weil Vogel logischer Teil des Spatzen ist und einen
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Zurückweisung der Einwände von Kraus
Schnabel, weil er physischer Teil des Spatzen ist. Diese Teile werden nur implicite beurteilt, weil sie implicite vorgestellt sind. Nehmen wir nun den Fall, es gäbe wirklich im eigentlichen Sinn ein Vorstellen und Anerkennen des Nichtseins eines Spatzen, so würde dies nicht das Vorstellen und Anerkennen des Nichtseins eines Vogels oder Spatzenschnabels implicite einschließen, wohl aber das Vorstellen und Anerkennen des Nichtseins eines alten Spatzen, eines jungen Spatzen, eines gesunden Spatzen, eines kranken Spatzen, eines zahmen Spatzen, eines wilden Spatzen, eines männlichen Spatzen, eines weiblichen Spatzen, eines nistenden Spatzen, eines hungernden Spatzen, eines Spatzen, der ein Weibchen hat, usf. usf. einschließen. Dies aber ist sichtlich nicht der Fall. Setzt doch vielmehr der psychische Prozeß, den man fälschlich als Vorstellen des Nichtseins von A deutet, nach dem Zugeständnis der Vertreter dieser irrigen Ansicht selbst das Vorstellen von A voraus; und so würde der, welcher alle jene Nichtsein in seiner Vorstellung des Nichtseins des Spatzens implicit mitvorstellte, auch die Vorstellung eines alten Spatzen, jungen Spatzen usf. usf. ebenso sicher haben müssen als derjenige, welcher einen Spatzen vorstellt, die eines Vogels und Schnabels und anderer zum Spatzen gehöriger Teile; was falsch ist und in seiner Konsequenz Absurditäten involviert. Und nun auch noch ein Wort zu dem, was Sie über das "richtig" bemerken. Sie behaupten, jeder Mensch wird sagen: der Begriff des "Richtigen" setzt eine Relation oder relative Bestimmung voraus; er sei da anwendbar, wo jemand sich angemessen zu etwas anderem verhalte, es könne dieser Begriff darum nicht durch die Anschauung ähnlich wie der Begriff "rot" geklärt werden, da er (und dasselbe gelte von allen reflexen Begriffen) nicht durch Abstraktion gewonnen sei. Ist das vielleicht Marty'sche Psychologie? - Wenn dies, so hat sie sich in wesentlichen Stücken von der meinigen wie von der des Aristoteles entfernt; ja sie zeigt eine bedenkliche Annäherung an Lehren von Husserl, der ebenfalls Beg1iffe kennt, die aus keinen Anschauungen entstammen. Dies, was die zwei letz-
Die Annahme nichtrealer Inhalte ist zwecklos
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ten Bemerkungen betrifft. Ich halte dafür, daß es wie eine äußere auch eine innere Anschauung gibt, welche die Quelle für alle jene Begriffe, die man als reflexe Ideen bezeichnet, genannt werden muß. Nur eines gebe ich zu, daß wir, wenn wir ein sekundäres Objekt, immer auch ein primäres anschauen. Ich verstehe aber keineswegs, wie hieraus folgen soll, daß ich, wenn ich mich als richtig Urteilenden oder als richtig Liebenden erfasse, zugleich die Erkenntnis haben müsse, daß etwas anderes als ich bestehe. Ja ich finde diese Behauptung im höchsten Grade befremdlich, wenn sie auf den Fall, wo ich richtig negativ urteile und wo ich richtig liebe oder hasse, ohne zu glauben, das, was ich liebe oder hasse, sei, angewandt wird. Diejenigen, welche bei den richtigen negativen Urteilen und (sofern ich gut unterrichtet bin) auch bei dem richtigen Lieben und Hassen ein solches Etwas und eine Relation zu ihm bestehen lassen, behaupten selbst nicht, daß dieses Etwas das Objekt des Urteilenden beziehungsweise des Liebenden oder Hassenden sei. Das Objekt des richtig negativ Urteilenden kann ja unmöglich sein, ohne daß das dem negativen Urteil kontradiktorische Urteil richtig ist. So behauptet man denn in einer mir im höchsten Grade anstößigen Weise, daß der Begriff "richtig" die Übereinstimmung des Urteils mit etwas bedeute, was kein Gegenstand des Urteils ist. Wenn ich nun gar höre, daß alle Welt in einer solchen Lehre einig sein soll, so glaube ich mich berechtigt, nicht bloß in meinem, sondern schier in aller Welt Namen feierlichst zu protestieren. Und so möchte ich denn meine jungen Freunde in Prag nochmals dringend warnen, sich doch nicht in eitlen Fiktionen zu verlieren, vielmehr wieder zur altbewährten Psychologie zurückzukehren. Ich erinnere auch noch daran, daß die zwei Argumente, auf die ich mich berief, nicht die einzigen sind. Das Argument des Versprechens, ein ens rationis 2JU heiraten, war ein drittes, aber auch dies nicht das letzte in einer langen Reihe. Und wenn Sie also sagen, auch meine jetzigen Ansichten könnten sich noch in manchen Punkten reformieren, so gebe ich dies nur mit einer
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Kraus üiber Begriffe, die durch Reflexion
Unterscheidung zu; was die positiven Aufstellungen anlangt, mag noch manche Ergänzung und Modifikation möglich sein, was aber die Verwerfung der in Frage stehenden Theorie anlangt, so trage ich kein Bedenken, sie durch das Kriterium der Evidenz selbst für immer gesichert zu nennen. Und nun nur noch freundliche Grüße Ihr ganz ergebener F. Brentano
Kraus an Brentano 48
26. September 1909 Hochverehrter Herr Professor! - - - - Meine Bemerkung über ,Abstraktion' hat zu einem Mißverständnis Anlaß gegeben; es ist nicht gemeint, daß es Vorstellungen gibt, die ohne Anschauungen gewonnen werden. Es handelt sich vielmehr nur darum, ob der Terminus ,Abstraktion' nicht für die Entstehung gewisser Begriffe vorbehalten bleiben soll. Erinnere ich mich doch, daß auch Sie lehrten, daß es Begriffe gebe, die nicht eigentlich abstrahiert sind. - So nun wäre für die durch Reflexion auf Urteile etc. entstandenen Begriffe wohl ein anderer Name empfehlenswert, als für die in den Anschauungen imperzipierten. Also hier ist keine Divergenz außer eben derjenigen, die sich auf die Frage, ob es solche durch ,Reflexion gewonnene Begriffe' gibt, bezieht. Marty sagt S. 488: "Entweder sind die Urteilsinhalte nichts als eine Fiktion der inneren Sprachform, oder wir haben auch Vorstellungen von ihnen, die Hand in Hand mit der Reflexion auf das Urteilen gewonnen sind. "49 Die Lehre vom impliciten VorsteUen bitte ich einmal losgelöst von dem Problemkomplex der Inhalte zu untersuchen. Ich habe als den Wortlaut Ihrer mir vorgetragenen Lehre notiert (1903): "Affirmiere ich einen zusammengesetzten Gegenstand, so kann ich zwar sagen, implicite seien die Teile affirich implicite leugne, daß ein weißes Pferd ist. Es ist in gar miert; wahr ist nur, daß ich sie daraus folgern kann. In diesem Sinne kann ich, wenn ich leugne, daß ein Pferd ist, sagen, daß
gewonnen werden sollen
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keiner Weise a k t u e 11 geleugnet; implicite apperzipieren heißt gar nichts apperzipieren." Wenn ich also hieran festhalte, so erfülle ich die Forderung Ihres Briefes, zur ,altbewährten Psychologie' .zurückzukehren. Ich halte also diese Ihre Lehre auch heute für richtig und verstehe nicht, wie ein implicites Vorstellen anders zu deuten ist, als etwa ein implicites Anerkermen oder Leugnen. Leugne ich einen Spatzen, so leugne ich im p 1 i c i t e einen alten, jungen, gesunden, kranken Spatzen, d. h. aus jenem Leugnen ist dieses zu folgern. Genauso, wenn ich das Nichtsein eines S p atz e n anerkenne, anerkenne ich implicite das Nichtsein eines alten, jungen, gesunden, kranken Spatzen, d. h. a u s j e n e m k a n n d i e s e s g e f o 1 g e r t w e r d e n. Einen anderen Sinn kann ich, wie Sie selbst seinerzeit, dem impliciten Denken nicht zuerkennen. Ich bitte sehr, mir zu sagen, worin der Unterschied bestehen soll zwischen dem "implicite" beim Leugnen eines alten, jungen usw. Spatzen und dem "implicite" des Nichtseins eines alten, jungen usw. Spatzen? Etwas implicite denken heißt - so meine ich - es gar nicht denken. - Nun bitte ich nochmals, den Konservatismus, den ich gegenüber der Leugnung der Inhalte zeige, mir nicht verübeln xu wollen. Scheint es mir auch evident, daß das ,sich als richtig kundgeben' ohne etwas wie eine Adäquation nicht zu verstehen ist, so habe ich doch von Ihnen gelernt, daß man sich nicht über das, was evident ist, wohl aber über das, was einem evident scheint, täuschen kann, und sowie ich meine Täuschung erkannt haben werde, werde ich meinen Irrtum um so freudiger e1ingestehen, als ich die adäquatio zwischen meinem Denken und dem Ihren sehnlichst hergestellt haben möchte. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr treuergebener Kraus
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Ober Inhalt und
Brentano an Kraus5o
29. September 1909 Lieber Freund! Es will Ihnen nicht deutlich werden, was ich will, wenn ich bestreite, daß es ein Vorstellen vom Nichtsein einer Kuh gäbe, weil es sonst das Nichtsein von Kühen in allen Größen und Farben, Altern und Gesundheitszuständen, ja auch von Kuh und Ochse und Hirte und W eitle usf. einschließlich darbieten würde. Die Erklärung ist höchst einfach. Alle diese Nichtsein würden nicht zum Umfang, sondern zum Inhalt der Vorstellung „Nichtsein einer Kuh" gehören müsisen. Sie wären Teile von ihm, und es brauchte darum der Begriff „Nichtsein einer Kuh" nur mit a 11 e r D e u t 1 i c h k e i t gedacht zu werden, so würde auch das Nichtsein von einer weißen Kuh, einer zweijährigen Kuh, einer Kuh und eines Hirten und einer W eitle in aller Klarheit und Deutlichkeit gedacht sein. Es wäre dies ebenso notwendig, wie es notwendig ist, daß beim d e u t 1 i c h e n Vorstellen eines Schimmels seine weiße Farbe, sein Kopf, seine Augen, seine Art als Pferd, seine Gattung als Einhufer und die höheren Klassen wie Säugetier, Wirbeltier, Tier, lebendiger Organismus, körperliche Substanz und dgl. deutlich hervortreten würden, denn dies ist darum der Fall, weil sie zum Inhalt der Vorstellung „Schimmel" gehören. Was dagegen zum Umfang des Begriffs Schimmel gehört, also z. B. der individuelle Schimmel, auf welchem Napoleon geritten, muß keineswegs also solches gedacht werden, damit die Vorstellung des Schimmels volkommen deutlich sei. Vielleicht genügen diese kurzen Worte, Ihnen meine früheren Bemerkungen verständlich zu machen, und Sie werden daraufhin erkennen, warum Ihre Erwiderung darauf nicht zutreffend ist. Auch eine andere Bemerkung Ihres Briefes zeigt mir, wie manchmal ein Wort von mir mißdeutet wird. Ich hatte die Frage untersucht, ob die allgemeinen Vorstellungen alle aus individuellen durch Abstraktion gewonnen seien oder ob die Anschauungen selbst alle oder zum Teil eine gewisse Unbestimmtheit zeigten, und hatte mich für das letztere entschieden. Dies war
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Umfon1g der Vorstelilungen
etwas ganz anderes als die Annahme, daß wir Vorstellungen hätten, die weder Anschauungen seien, noch durch Abstraktion aus Anschauungen gewonnen werden. Eine von Aristoteles überkommene Meinung über die Natur der Anschauung sollte nur dadurch berichtigt werden. Und in der Tat faßt selbst Aristoteles die sinnliche Anschauung schon wie eine Art Abstraktion, wenn er sagt, der Sinn erfasse die Form ohne Materie. Und wenn Sie bedenken, daß nach ihm den Akzidentien die Individualität durch die Substanz gegeben wird, und vergleichen, was er als gemeinsame sfo.nesobjekte (xot'/Ja alai}11u!.) anführt, so werden Sie finden, daß das lndividuationsprinzip in dem Empfindungsinhalt nicht enthalten erscheint. - 1
Kraus an Brentano
8. Oktober 1909 Hochverehrter Lehrer und Meister! - - - - Sie gehen mit wahrhaft väterlicher Nachsicht auch diesmals auf meine Aporien ein. Ich entnehme aus Ihren Ausführungen über Inhalt und Umfang, daß auch diese Lehren - wohl im Zusammenhang mit Ihrer gegenwärtigen Überzeugung eine durchgreifende Änderung erfahren haben. Ich sehe, daß ich das Ganze Ihrer Psychologie nach seinem j et z i gen Stande doch zu wenig kenne, um abschließend zu urteilen. Vielleicht ist es dieser Umstand viel mehr als die mangelnde Übung in sinnespsychologischen Untersuchungen, die mich vorläufig nicht klarwerden läßt. - -
Brentano an Kraus51
Schönbühel, den 11. Oktober 1909 Lieber Freund! - - - - Sie meinen, meine Lehre vom Inhalt der Vorstellung müsse sich in jüngster Zeit wesentlich geändert haben. Ich wüßte aber nicht, daß solches seit der Anerkennung der Temporalmodi 16 Brentano Abkehr
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Über Inhalt u1JJd Umfang der Vorstelilungen
geschehen sei, und diese hat mit unserer Frage nichts zu tun. Nie wurde bezweifelt, daß jede Vorstellung einen Inhalt und (von den absurden abgesehen) einen Umfang habe. Nie auch, daß das bejahende Urteil dem ganzen Inhalte nach, wie das verneinende dem ganzen Umfang nach das Vorgestellte beurteilt. Da wollte ich nun Ihre Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, was bei der angeblichen Vorstellung des Nichtseins eines Pferdes als Inhalt und als zum Inhalt gehörig zu bezeichnen sei. Sicher nicht das Nichtsein von solchem, was zum Inhalt des Begriffes "Pferd" gehörig ist, sonst würde ein solches Nichtsein (zum Beispiel das Nichtsein eines Tieres, einer Substanz) implicite anerkannt sein. Das Vorgestellte wird ja seinem ganzen Inhalt nach beurteilt. Was aber sonst? Offenbar doch wohl nichts anderes als ein Nichtsein. Welches also? Sollen wir sagen, das Nichtsein eines Hengstes? Das Nichtsein einer Stute? - Doch dagegen spricht, daß ich auch bei deutlicher Zergliederung des Inhalts nichts davon in dem Nichtsein eines Pferdes finde. Die angebliche Vorstellung des Nichtseins eines Pferdes verlangt zu ihrer vollsten Deutlichkeit nur die Deutlichkeit des Begriffes P f e r d u n d s e i n e r F a 1 s c h h e i t , die beide gegeben sein sollen, wenn ich das deutlich gedachte universale Pferd verwerfe. Und ebensowenig kann aus demselben Grund zugegeben werden, daß das Nichtsein eines weißen Pferdes oder eines Rappen zum Inhalt der Vorstellung des Nichtseins eines Pferdes gehört. Was aber, frage ich, gehört dann zu ihr? Wer darüber nachdenkt, wird finden, daß für derstand sei hervorgerufen
erklärt. Wie sehr widerspricht das dem, welcher ihn mit dem Begriff des Wirkungskräftigen identifizieren will, wo Aristoteles das ::rotEi:v (das Tun) als eine spezielle Kategorie unter den akzidentellen aufführt! Ich glaube sagen zu dürfen, daß diese ganz ungehörige Abweichung von der überlieferten Bedeutung bei Marty noch viele andere schlimme Folgen hatte. Vieles, was er in seiner Lehre von Raum und Zeit und Inhalten und, wie ich im besonderen bedauern muß, in der Gotteslehre selbst verschlimmbessert hat, wäre ohne die Verwirrung, welche durch solche willkürliche und mißverständliche Änderungen der Terminologie, womit dann Wortdistinktionen, denen keine in unserem Denken entsprechen, zusammenhängen, vermieden worden. überall bleibt freilich der rege Forschungstrieb und die Unermüdlichkeit des Fleißes bewundernswert, aber um so mehr ist es zu bedauern, daß der Weg, der zum Ziele führt, gänzlich verfehlt wird und daß man sich mit jedem weiteren Schritt nicht der Wahrheit nähert, sondern von ihr entfernt hat. - -
Brentano an Kraus76
Schönbühel, 15. November 1914 Lieber Freund! - - - - Nicht zu den Fehlern Martys, nein, zu seinen Vorzügen muß ich es rechnen, wenn er der Wahrheit oder dem, was er aus entscheidenden Gründen als solche zu erkennen glaubte, vor meinen Lehren den Vorzug gab. Genug der Rücksicht auf den Lehrer, wenn er es sich zum Grundsatz machte, unter keinen anderen Bedingungen von dem von mir überkommenen abzugehen. Er folgte darin dem Beispiel meines eigenen Verhaltens Aristoteles gegenüber, und der Vergleich mit dem, was die Geschichte jeder wahren wissenschaftlichen Entwicklung zeigt, bestätigt die Richtigkeit solcher Maximen. Es wäre nun aber sehr verfehlt, wenn Sie, mit diesem Grundsatz Martys bekannt, den Schluß zögen, daß, wo nun wirklich Marty von mir abwich, meine Lehre in Wahrheit als durch
durch Bestreben nach Sicherung der Wahrheit
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entscheidende Beweise widerlegt angesehen werden müsse. Was bei anderen, kann auch bei Marty vorgekommen sein, nämlich daß er einem Argument entscheidende Beweiskraft zutraute, während es dieselbe nicht besaß. Und so hat er denn tatsächlich z. B. aus dem der Scholastik entnommenen Satz: veritas est adaequatio rei et intellectus, den er mißdeutet hat, eine Reihe ganz irriger Folgen gezogen. Richtig verstanden sagt dieses, wie man meint, eine tiefsinnige Weisheit enthaltende Prinzip nichts anderes aus, als daß je nachdem ein Ding a ist oder nicht ist und ein Ding a mit einem Ding b verbunden ist oder nicht verbunden ist, derjenige, der sagt, daß ein Ding a sei oder derjenige, welcher leugnet, daß es sei und wiederum derjenige, welcher sagt, a sei mit b verbunden oder derjenige, welcher leugnet, daß es mit ihm verbunden sei, wahr, der andere aber falsch urteilt. M. a. W. wird gelehrt, es laufe auf dasselbe hinaus, wenn man sagt: a ist oder wenn man sagt, es sei wahr, daß a ist. Und wieder, wenn man sagt, a ist nicht und wenn man sagt, es sei wahr, daß a nicht sei usw. Wie seltsam, daß Marty dieser einfache Sinn sich so trüben konnte, daß er meinte, es wevde hier für den Fall, daß a nicht ist, die Existenz eines gewissen Etwas, nämlich des Nichtseins von a, gelehrt! Und ganz besonders befremdend muß es erscheinen, wenn er fortfuhr, dieses Nichtsein von a für existierend zu halten, als er sich von mir darüber hatte aufklären lassen, daß es nicht jene Formen gebe, welchen die Nomina abstrakta, wie Größe, Gestalt, etc. ,zium Ausdruck dienen sollten. Jenes "Nichtsein von a" ist doch sichtlich das Abstraktum von dem Konkretum "nichtseiendes a". Und so wäre es denn wohl selbst dann noch zu verwerfen, wenn man dieses Konkretum für existierend zu erklären sich einfallen ließe. Das Richtige ist aber, daß man bei der Behauptung, a ist nicht, stehen bleibt und ohne ihr eine positive Behauptung als Wechselbalg unterschoben zu haben, so wie ich es eben getan, sagt, daß die Leugnung von a und die Aussage, man urteile wahr und man leugne, auf dasselbe hinauslaufe. Wer mit der adaequatio rei et intellectus noch etwas mehr gesagt glaubt und die abenteuerlichsten metaphysischen Konsequenzen daran knüpft, der hat ganz den Pfad des ge-
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Allen Begriffen müssen Anschauungen zugrunde ljegen
sunden Philosophierens verloren. Und nun will man gar mich, weil ich nicht von ihm abgehe, als Psychologisten verschreien, während der Vorwurf des Psychologismus doch in nichts anderem besteht, als daß einer den wahren Charakter der Existenz verkennend, zwischen einem evidenten und also logisch gereditfertigten Urteil und einem nach natürlichen Gesetzen zustandegekommenen, aber vielleicht ganz blinden und darum vielleicht auch ganz irrigen Urteil nicht zu unterscheiden weiß. - Ich will auch nicht weiter auf das eingehen, was mich dazu bestimmt hat, die Methode, deren Marty in letzter Zeit sich bediente, als fehlerhaft zu bezeichnen. Im allgemeinen sei gesagt, daß er mir zu wenig darauf zu achten scheint, daß für die Begriffselemente die entsprechenden Anschauungen aufgewiesen werden müss·en, indem man sonst alsbald sich in der Täuschung verfängt, man habe Begri:ffe, wo nur Wörter für s•ie supplieren. Ist man einmal auf diesem Wege, so sichert nichts mehr vor der Fiktion der wundersamsten Chimären, wie sie z. B. nach Ihren Angaben in einem unendlich großen dreidimensionalen Geschöpf Gottes, das Raum genannt wird, und einem ähnlichen unend1ichen, von Gott unbedingten, vielmehr ihn selbst bedingenden, durdi sich selbst notwendigen Etwas, welches Zeit heißen soll, im Martyschen System vorliegen würden. Und wenn man fragt, wie wird auch nur ein Teil von diesem Ding wahrgenommen, da doch die äußeren Sinne, die dies leisten sollen, nichts, was nicht farbig oder tönend oder mit einem anderen proprium sensibile qualifiziert ist, zeigen, so ist von vornherein ersichtlich, daß nur durch die abenteuerlichsten Neuerungen in der Erkenntnistheorie eine Antwort darauf versucht werden kann. Zudem ist die äußere Wahrnehmung ohne Evidenz, wie also kann sie die Zeit als tatsächlich bestehend garantieren? Braucht man vielleicht eine solche Garantie nicht, weil ihre Existenz aus ihrer Anschauung selbst, wenn sie nur einem Teil nach gegeben ist, von vornherein und unmittelbar als notwendig einleuditet? Das wäre doch gar zu seltsam, zumal in dem uns in der Anschauung vorliegenden Zeitteil auch nidit ·ein einziges Moment erscheint, nadi dem sie
„Etwas" kann nicht Vorstellbares bed.euten
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jetzt notwendig, vielmehr nur solche, nach denen sie jetzt unmöglich sein soll. Und was wäre hier nicht noch alles weiter beizufügen, was zeigt, was wir, um nur die Einsicht in das, was wir von Notwendigkeit und Unmöglichkeit in bezug auf die hier gelehrte Zeit besitzen sollen 2lU erklären, von tiefgreifenden ad hoc ersonnenen Neuerungen in die Lehre von den Erkenntnisprinzipien ein.führen müßten. So hat auch die Lehre von der Evidenz der inneren Wahrnehmung einen Stoß bekommen, von dem ich aus dem Wenigen, was Sie mir darüber mitgeteilt, bereits ersehen konnte, daß er alles mit Descartes Errungene unrettbar verloren gehen läßt. Und da soll ich noch sagen, bei Marty sei das von mir überlieferte wesentlich gewahrt, wo ich selbst das von mir alther übernommene Erbe nicht mehr gewahrt sehe? Hätte er mir die Gelegenheit nicht entzogen, so würde ich bei seiner unzweifelhaft reinen Wahrheitsliebe vielleicht die Ordnung wieder hergestellt haben. - Freundschaftlich Ihr F. B.
Brentano an Kraus77
Schönbühel, 16. November 1914 Lieber Freund! - - - - In bezug auf mein auf die Einheit des Begriffes des Vorstellens gegründetes Argument nehme ich gerne zur Kenntnis, daß Marty, da er es lösen wollte, den Begriff des "Etwas" nicht als den des "Vorgestellten", sondern als den des "Vorstellbaren" zu fassen versucht hat. Aber ich bitte auch Sie, sich ruhig und vorurteilslos zu fragen, ob dieser Unterschied auch nur von dem geringsten Belang sein kann, oder ob nicht vielmehr nach angebrachter Korrektur meine Argumentation in alter Kraft sich erneuert. Wenn zugestanden werden mußte, daß wir nicht, so oft wir etwas vorstellen, es als Vorgestelltes zum Objekte machen, so mit gleicher Deutlichkeit, daß wir nicht in allen diesen Fällen etwas als Vorstellbares zum Objekte haben. Wer könnte in dem Merkmal „Vorstellbares" einen Gattungsbegriff für Stein, Pferd, Wald erblicken wollen?
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Ahsurde Kons,equenzen au:s der Auffassung
Und auch die Erläuterung, welche ich durch den Vergleich mit dem Leugnen von etwas gegeben, wird sich nach jener Korrektur noch immer als gleich dienlich erweisen. Sowenig der Gottes1eugner Gott als geleugnet, so wenig -stellt er ihn als etwas, was geleugnet werden kann, in Abrede, würde er doch sonst noch ebenso dem, was sein eigenes Bewußtsein ihm anschaulich zeigt, widersprechen. Wer glaubt, daß keiner Gott leugnen könne, glaubt ja inklusive auch nicht, daß einer ihn leugne. Würden Sie nicht hier durch eine, wie Sie mir so oft und nachdrücklich betont, eingewurzelte Überzeugung voreingenommen sein, so wäre es wohl unmöglich gewesen, daß Sie sich bei einer so wenig genügenden Entgegnung beruhigt hätten. Wenn aber der Umstand, daß Sie so lange schon in jener Überzeugung leben, in dieser Beziehung sich nachteilig erweisen mußte, so kann er in anderem Betracht nur von Vorteil sein; denn man darf erwarten, daß einer, der schon so lange eine Überzeugung hegt und sie auch, nachdem er weiß, daß sie von anderen, denen er ein gewisses Urteil zutraut, aufs entschiedenste verworfen wird, mit gleichem Vertrauen festhält, die Frage allseitig durchdacht hat und um so mehr über das Allernächstliegende werde Bescheid geben können. Und so werden Sie denn wohl nicht um eine Antwort verlegen sein, wenn ich über eines der einfachsten Beispiele Ihres vermeintlichen nichtrealen Etwas Aufschluß verlange. Es soll kein anderes sein als das Sein eines Einzeldinges, also z. B. das Sein dieses einzelnen Menschen. Wenn ich frage, ob es etwas von diesem einzelnen Menschen Verschiedenes sei, so müssen Sie natürlich die Frage bejahen und ähnlich auch des weiteren noch sagen, daß auch noch das Sein des Seins dieses Menschen als ein drittes von beiden und das Sein des Seins dieses Menschen als ein viertes von diesen dreien und so weiter in infinitum verschieden sei. Allein, da ich es mit jemand zu tun habe, der so gut weiß, was für ein Etwas unter dem Sein dieses Menschen zu denken ist, so darf ich wohl auch noch einige weitere Auskunft darüber erhoffen und fragen, ob, wie dieser Mensch sich aus Kopf und Rumpf und Gliedern und sein Kopf aus einer Nase, einem Mund, zwei Augen, zwei Ohren und anderem mehr und schließ-
des „Etwas" als Nimtreales
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lieh noch aus kleineren Partikeln und einer Kontinuität von Grenzen zusammensetzt, beim Sein dieses Menschen und weiter dann auch noch bei dem Sein des Seins und dem Sein des Seins des Seins desselben, eine entsprechende Zusammensetzung aus dem Sein und Sein des Seins von den diesem Menschen zugehörigen Teilen und Grenzen sich findet. Vorderhand sehe ich nicht, wie sich das leugnen ließe und knüpfe darum, eine bejahende Antwort voraussetzend, sogleich die weitere Frage daran, ob dann nicht, wie dieser Mensch, auch das Sein dieses Menschen und das Sein seines Seins usw. als ausgedehnte Etwas von gleicher Zahl und Größe der Dimensionen erscheinen müssen, wie der Mensch selbst, die dann auch in einem primären Kontinuum, das dreidimensional und in jeder Richtung unendlich sein würde, nicht aber in dem Raum, sondern die eine in dem Sein des Raums, die andere in dem Sein des Seins des Raums usw. usw. beschlossen gedacht werden müßten. Da schon der Raum etwas Nichtreales sein soll, so wäre in dieser Beziehung zwischen diesen unzähligen, neu anzunehmenden unendlichen primären Kontinuis und dem Raum selbst kein Unterschied. Nur kurz sei es angedeutet, daß dann in analoger Weise hinsichtlich der Zeit argumentiert werden kann und daß man darum außer der Zeit noch unendlich viele ihr analoge Chronuide annehmen müßte, in welchen man das Sein und das Sein des Seins der Dinge existieren ließe. In die Zeit selbst könnten Sie sie meines Erachtens konsequenterweise ebensowenig als in den Raum verlegen. Doch Sie werden ja das alles schon längst durchdacht und an der majestätischen Fülle des unermeßlichen Reichtums an Unendlichkeiten, mit welchen die Lehre von den nichtrealen Etwas die Welt ausstattet, Ihr Auge geweidet haben. Da taucht aber noch eine andere Reihe von Fragen auf. Wie außer diesem Menschen das Sein dieses Menschen, so soll außer dem im allgemeinen gedachten Menschen auch das Se1in eines Menschen im allgemeinen existieren. In der Tat hat ja, wie der Satz „dieser Mensch 'ist", auch der unbestimmte Satz „irgendein Mensch ist", einen Inhalt, und auch dieser soll existieren. Da fragt es sich nun aber, wie sich seine Existenz zu der jenes
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Absurde Konsequenzen a1us der Auffo,s,sung
anderen, der von diesem bestimmten Menschen spricht, verhält. Bezüglich des Universale Mensch stimmten Martys Ansichten mit den meinigen, soviel ich weiß, völlig überein. Das Universale als Universale existiert nicht. Nichts als E1inzeldinge sind es, in welchen ein allgemeiner Begriff sich verwirklicht findet. Was aber von jenen Inhalten unbestimmt bejahender Sätze zu denken sei, ob sie, nachdem sie existieren sollen, eine Existenz für sich oder in den Inhalten der Einzeldinge, oder sowohl die eine als die andere führen sollen, das möchte ich von Ihnen, welcher Sie dieses Gebiet so lang mit Marty in Betrachtung gezogen und sich dabei in Ihrer Überzeugung, es nicht mit Chimären, sondern mit wahrhaft Existierendem zu tun zu haben, nur immer aufs neue bestärkt fanden, wohl gerne hören. Ich selbst kann nicht wagen, Ihre Antworten auch nur hypothetisch zu antizipieren, da ich, wie immer ich hier denkend weiterzuschreiten suche, mich alsbald in einem Chaos absurder Annahmen· untergehen 1sehe. Hiemit sei es für heute genug. Ich bin auf die von Ihnen zu erwartenden Aufklärungen recht neugierig. Es würde die Aufmerksamkeit nur zu sehr verteilen, wenn ich auf Ihre Meinung, Sie kennten den Gang der Entwicklung meiner Lehre besser als ich selbst, zu sprechen kommen wollte. Meine Zweifel daran werden Sie vielleicht einigermaßen begreifen, wenn ich Sie frage, ob Sie auch nur eine Ahnung davon haben, wie es im letzten Grunde gekommen ist, daß ich selbst einst zu der nach meinem Dafürhalten so verwerflichen Lehre von der Existenz der Inhalte, die doch meinem großen Lehrer Aristoteles fremd war, geführt worden bin. Und wieder, wenn ich Sie frage (um von der ältesten Zeit zur neuesten überzuspringen), wie ich, nachdem ich eine Zeit lang es in selbstloser Wahrheitsliebe noch einmal veiisucht hatte, ohne die Vorstellung als dritter Grundklasse auszukommen, dazu gebracht wurde, jeden Zweifel daran aufzugeben. Sie reden so, als ob ein gewisser Widerstand meiner Schüler hier von Einfluß gewesen sei. Nichts aber liegt der Wahrheit ferner als dies, da ich vielmehr durch Fortschritte eigener psychologischer Untersuchungen die Mittel fand, gewisse Schwierigkeiten, die mit der Annahme jener
des „Etwas" als Nichtreales
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dritten Klasse mich nicht hatten zurecht kommen lassen, zu lösen. Und das waren gerade solche Fortschritte, bei welchen mich meine früher unzertrennlich scheinenden Genossen nicht mehr begleitet haben. Nehmen Sie alles, was ich Ihnen in diesem Brief s,agte und darlegte, so gut auf, wie es, das werden Sie nicht bezweifeln, von meiner Seite gemeint ist. Niemand könnte es willkommener heißen als ich, wenn es in der Prager Schule nicht zu jener Dekadenz, welche ich fürchte, gekommen wäre. Was Sie mir in dieser Beziehung Beruhigendes sagen wollen, enthält gewiß viele wahre und erfreuliche Tatsachen, ist aber doch weit entfernt, meinen Sorgen ein Ende zu machen. Sie selbst haben mir schon zuviel Einblick in die Verwüstung gegeben, die auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie angerichtet worden sein muß, denn die fundamentalsten Wahrheiten, die ich selbst als kostbarstes Erbe von früheren Denkern überkommen habe, sowohl die, welche sich auf die innere Wahrnehmung, als auch die, welche sich auf die Erkenntnis von Notwendigkeit und Unmöglichkeit beziehen, finde ich verleugnet. Auch dünkt es mich, als se~ Marty bei seinem steten Kampf mit den verkehrten Philosophemen von Meinong, Husserl usw., ähnlich wie einst Schopenhauer und Herbart in ihren Kämpfen mit Fichte und Schelling und Hegel, zu Schaden gekommen. Der schlechte Umgang auch mit Gegnern bringt leicht der eigenen guten Sitte Verderben. Doch ich halte gerne noch, soweit ich es nur immer vermag, mit meinem Urteil zurück, und wie sehr würde ich mich freuen, weillll ich bei vollem Einblick in das, was mir mit dichten Schleiern verhüllt worden ist, meine bangen Besorgnisse nicht bestätigt fände. Freundschaftlich Ihr F. Brentano
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Über die Einheitlichkeit
Brentano an Kraus7s
Schönbühel, 25. November 1914 Lieber Freund! Ich erhalte Ihren lieben Brief und billige ganz die Wahl, die Sie getroffen. Sprechen Sie nur immer jeden Gedanken offen aus. Weit entfernt, daß ich dies verübeln könnte, werde ich mich darüber immer nur freuen. Nicht in dem Vertrauen, daß ich gegen einen ehrlichen Widerspruch nicht empfindlich sein werde, sondern in der Furcht, daß Sie mich dadurch verletzen könnten, würde ich etwas für mich wenig Ehrendes finden müssen. So denn auch in der Meinung, daß ich ein mich widerlegendes Argument, wenn es von einem anderen erbracht werde, nicht zu würdigen fähig sei, daß ich vielmehr nur eine aus meinem eigenen Denken stammende Korrektur akzeptiere. Gott verhüte es, daß Marty eine solche Meinung von mir gehegt habe, die mich nicht zwar einen Anspruch auf Unfehlbarkeit, aber einen auf so unvergleichliche Überlegenheit gegenüber jedem anderen machen ließe, daß mir nie jemand in der Entdeckung eines Fehlers - und wenn ich mich auch selbst gar nicht mit dem Aufsuchen desselben beschäftigt hätte - zuvorkommen könnte. Natürlich ist es mir aber im Falle ich einen Einwand klar widerlegt zu haben glaube, willkommener, wenn ich bemerke, daß derjenige, welcher ihn gemacht hat, die Widerlegung versteht und ihrer Bedeutung Rechnung zu tragen weiß. Wenn ich in meinem letzten Brief hervorhob, daß es nicht der Widerspruch meiner Schüler gewesen sei, der mich von meinem Zweifel an der Vorstellung als besonderer Grundklasse zurückgebracht habe, so geschah dies nur darum, um Ihre Meinung von der Fortentwicklung meines Denkens in den letzten Jahren als eine ganz irrige erkennen zu las'sen. Insbesondere um Ihnen zu sagen, daß die aufgetauchten Schwierigkeiten einen Zweifel angeregt hatten, der nur durch die weiteren Untersuchungen über die Vorstellungsinhalte behoben werden konnte, deren Ergebni,sse von Marty niemals angenommen worden sind. Und nun wende ich mich zu Ihrem Versuch, mein Argument
des Vorstellens
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gegen die nichtrealen Objekte auf Grund der Einheitlichkeit des Begriffes des Vorstellens zu widerlegen. Sie sagen, daß er von Marty herrühre, der aber dann dadurch recht anschaulich gezeigt hat, wie verkehrt es war, seine Gedanken mir nicht offen auszusprechen; zeigt er doch, daß er den Sinn meines Argumentes gar nicht erfaßt hat. Ich will nun, obwohl ich mir schmeichle, auch schon früher mich verständlich genug ausgedrückt zu haben, noch ein übriges tun, um jede Mißdeutung unmöglich zu machen. Jedes Sehen ist das Sehen von etwas, und zwar näher gesagt von etwas Farbigem - in jenem weiten Sinn des Wortes, in welchem es auch Schwarz und Weiß und Grau einbegreift. Und wäre der Begriff des Farbigen kein einheitlicher Begriff, so würde auch der Begriff des Sehens kein einheitllicher Begriff sein können. Ähnlich wäre der Begriff des Hörens kein einheitlicher Begriff, wenn nicht alles das, was man hört, unter einen einheitlichen Begriff, nämlich den des Schallenden, fiele. Wir haben auch noch einen allgemeineren Begriff als den des Sehens und Hörens, unter den sie beide gemeinsam fallen, und das ist der des Empfindens. Und auch er könnte kein einheitlicher sein, wenn nicht alles, was empfunden wiro, unter einen einheitlichen Begriff, nämlich den des Sinnlich-Qualitativen, fiele. Dies vorausgeschickt, sage ich nun nochmals, daß es auch unmöglich wäre, daß das Vorstellen ein einheitlicher Begriff wäre, wenn nicht alles Vorstellen auf etwas ginge, was, insofern es vorgestellt wird, unter einen einheitlichen Begriff fiele, und daß dieser Begrriff es sei, welcher jenem Etwas entspricht, wenn wir sagen, daß wer vorstellt, etwas vorstelle. Es ist genau so, wie wenn wir sagen, daß wer sehe, Farbiges sehe, und wer empfindet, sinnlich Beschaffenes empfinde. Hier handelt es sich entsprechend der größeren Allgemeinheit des Begriffes des Vorstellens um einen noch allgemeineren, aber dennoch ebenso einheitlichen Begniff, und ohne diese seine Einheit wäre auch von einer Einheit des Begriffes des Vor:stellens nicht mehr zu reden. Nun vergleichen Sie selbst mit diesem, wie ich wohl hoffen darf, nicht mehr mißzuverstehenden Argument das, was Sie
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Reales ist der höchste Gattungsbegriff
nach Marty dagegen vorbringen zu können glauben. Vielleicht werden Sie dann erkennen, daß es gerade so wäre, wie wenn einer sagte, auch der Begriff des Sehens könne ein einheitlicher sein, wenn nicht alles, was wir sehen, unter den einheitlichen Gattungsbegriff des Farbigen fiele; genug, wenn es gemeinsam von dem, was man sieht, gesagt werden könne, es sei ein Gesehenes oder ein Sichtbares. In dem, was ich hier sagte, habe ich nur bei einem Teil meines Argumentes erläuternd verweilt. Alles übrige ergibt sich ja dann von selbst; denn daß das Re a 1 e, w e 1 c h es als solches selbst ein höchster Gattungsbegriff ist, jener nämlich, welcher sich so zum Vorstellen und Denken überhaupt wie das Sinnlich-Qualitative zum Empfinden und das Farbige zum Sehen ver h ä 1 t, jedenfalls mit dem ihm zur Seite gestellten Nichtrealen nicht unter einen Gattungsbegriff fällt, wird denn doch auch von dessen Anhängern zugestanden. Soll ich bei der Einfachheit des Arguments hoffen, daß es Sie nunmehr sofort überzeugen werde? - Wenn dies, dann freilich könnte ich es mir ersparen, auf alle die arona ("\i\i'idersinnigkeiten) hinzuweisen, welche auch sonst an die Lehre vom Nichtrealen sich knüpfen. Und wiederum Ihnen eine Beichte darüber abzulegen von den Denkfehlern, welche mich einst selbst auf diesen Abweg geführt hatten. Allein auch Aristoteles kannte die Natur des Menschen schon zu gut, um nicht zu glauben, daß es sehr dienlich sei, auch nach Darlegung eines schon für sich völlig zwingenden Beweises noch Weiteres zur Bestätigung beizufügen. Die betreffenden Ausführungen meines vorigen Briefes dürften bereits als ein Aufweis solcher Widersinnigkeiten gelten. Wer . bemerkte nicht die gänzliche Nichtigkeit jener aktuell unendlich vielen Kopien? Aber wie viel anderes wäre noch beizufügen, wenn man z. B. wie auf die unendlich vielen Sein, auf die unendlich vielen Nichtsein einginge und auch diese hinsichtlich der Teile, aus denen sie bestehen müßten und die, wenn sie wahrhaft vorgestellt würden, im Objekt der Vorstellung
Martys Lehre von sog. nichhealen Bestimmungen
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eingeschlossen erschienen, in Betrachtung zöge! Ich habe mich auch dieser Betrachtung, die ähnlich wie die nähere Prüfung des ontologischen Arguments, gar manches sehr Ergötzliche zu Tage fördert, nicht entschlagen. - -
Brentano an Kraus79
Schönbühel, 29. November 1914 Lieber Freund! _ _ _ - Ich freue mich, Sie hinsichtlich des Begriffes des Realen zu der älteren Ansicht zurückkiehren zu sehen, nicht bloß, weil die willkürliche Abweichung vom traditionellen Sprachgebrauch nie zu billigen ist und nur zu Mißverständnissen und Paralogismen den Anlaß gibt, sondern auch, weil ich hierin einen neuen Beweis für Ihre Objektivität und Ihr reines Verlangen nach der Wahrheit erblicke. So vertraue ich denn auch, daß Sie meine Entgegnung auf Ihren neuen Verteidigungsversuch unbefangen würidigen werden. Dersielbe ist, wie es scheint, ein ganz neues Produkt Ihres Nachdenkens, durch welches Sie gewissermaßen zugestehen, daß, was früher ersonnen worden, nicht ausreiche. Es ist eine Wendung, der man die Originalität nicht absprechen kann. Marty selbst würde darüber wahrscheinlich nicht wenig erstaunt gewesen s1ein. Doch er selbst hat ja in ·der letzten Zeit nicht minder erstaunliche neue Lehren aufgestellt, und so verleugnen Sie hier nicht die Schule. Indem ich antworten will, sehe ich mich dadurch in eine gewisse mißliche Lage versetzt, daß ich ·die durch Marty eingeführten Neuerungen nicht genügend kenne. So hatte ich zwar durch Sie gehört, daß er die Existenz eines in jeder Richtung unendlichen dreidimensionalen Raumes lehre, der geschaffen, aber völlig unbeweglich und ohne wirkende Kraft und ein Nichtreales sei. Daß er aber ·daraufhin jedes im Raum Befindliche als örtlich Bestimmtes, einen Ort Erfüllendes für einer nichtrealen Bestimmung teilhaft erklärt habe, ist mir neu und ich bin darüber höchlich überrascht. Das Urtliche als Urtliches 19 Brentano Abkehr
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Brentanos Argumente gegen
ändert sich bei jeder Bewegung, zeigt sich undurchdringlich, leidet nicht bloß, sondern wirkt auch im Zusammenstoß mit anderem örtlich Bestimmten nach den Gesetzen der Mechanik. Sollte Marty wirklich so weit von der Wahrheit abgeirrt sein? Weiter noch ist es mir befremdlich, überhaupt von nichtrealen Bestimmungen eines Realen zu hören. Ich hatte allerdings durch Sie erfahren, daß nach Marty der nichtreale Raum auf die realen Körper von außen her einen Einfluß übe, der kein Wirken sein sollte. Aber daß die Folge dieses Einflusses eine nichtreale Best'immung des Körpers sein solle, hatte ich nicht geahnt. Ich weiß allerdings, daß es gewisse relative Attribute und sogenannte denominationes mere extrinsecae gibt, welche entfallen können, ohne daß sich an dem Subjekt, dem sie beigelegt werden, etwas ändert, wie z. B. einer aufhört verheiratet zu sein, wenn seine Frau an einem entfernten Orte stirbt. Aber wenn es so mit der Bestimmung sich verhielte, die dem Körper infolge des unrealen Raumes zukommt, so könnten wir den Raum entfallend denken und der Körper könnte nicht bloß fortbestehen, sondern wüvde auch nicht die geringste Modifikation erfahren. Nehmen Sie mir es übel, wenn ich trotz alledem, was ich von Seltsamem über Martys ldztes Philosophieren gehört, Bedenken trage, ihm solch eine Meinung zuzutrauen? Doch lassen wir Marty, der von Ihrer neuen Verteidigungsweise nichts wußte, beiseite, und untersuchen wir auch nicht weiter, ob nicht schon durch das jetzt Gesagte Ihre Aufstellung genugsam widerlegt erscheine! Sehen wir vielmehr, ob sie irgendwie geeignet wäre, mein Argument zu entkräften. Von einer solchen Entkräftung könnte nur dann die Rede sein, wenn Sie gezeigt hätten, daß, wenn das Vorstellen sowohl auf Reales als auf Nichtreales als Objekt gerichtet wäre, von denen das eine als solches keine Bestimmung mit dem anderen gemein hat, doch der Forderung genügt würde, daß alles, was man vorstellt, von ein und demselben Begriff allgemein umfaßt sein muß. Das ist aber nach Ihnen nicht der Fall. Wenn Sie, so oft Sie das Farbige vorstellen, zugleich ein Nichtreales vorstellen und dieses mit jenem identifizieren, so denken Sie Reales und
nichtreale Bestimmungen der Dinge
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Nichtreales zugleich, aber Sie machen sozusagen eine hypostatische Vereinigung von zwei in sich ganz verschiedenen Naturen. Und es scheint zwar, als meinten Sie, Sie könnten die Natur des Realen gar nicht allein für sich denken, aber für die Natur des Nichtrealen .scheinen Sie recht wohl auch ein isolierendes Denken zuzugestehen; glauben Sie doch an einen Begriff des Raumes. Und daraufhin können Sie die Verflechtung von Realem und Nichtrealem nicht mehr wohl als das Charakteristische für alle Objekte des Vorstellens geltend machen. Auch kann der Raum entfallen, da auch Geistiges vorgeskllt wird, und wenn Sie darauf erwidern wollten, daß wenigstens die Zeit als Nichtreales übrig bleibe, das überall mit dem Realen verflochten erscheine, so glaube ich mich einer anderen von Ihnen mir gemachten Mitteilung zu erinnern, wonach wir nicht alles, was wir vorstellen und anerkennen, als in einer Zeit befindlichen vorstellen und anerkennen. Sollte mich hier mein Gedächtnis täuschen? - Dann würde mir dies recht augenfällig zeigen, wie ich bei der Art, wie ich Sie von Martys Autorität beeinflußt sehe, am besten tun werde, mit jedem weiteren Bekehrungsversuch zurückzuhalten, bis ich in verlässigerer und zugleich vollständigerer Weise mir die letzten Lehren von Marty zur Kenntnis gebracht sehe. Sollte ich sie dann nur um so energischer bekämpfen, so würde dies gewiß nicht gegen meine freundschaftliche Treue Zeugnis geben und sein edler wahrheitsliebender Geist könnte mir darob nicht zürnen. - -
Kraus an Brentanoso
2. Dezember 1914 Verehrter Lehrer! - - - - Die Festung, die ich verteidige, würde ich gerne übergeben, wenn ich dadurch eine günstigere Stellung der Wahrheit gegenüber einzunehmen hoffen dürfte. Ich glaube aber, meine Position noch halten zu können. Ihre von mir zugestandene These lautet: Vorstellen kann kein einheitlicher Begriff sein, wenn nicht alles, was vorgestellt wird, unter einen allgemeinen und höchsten Begriff fällt.
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Kraus verteidigt die Lehre Martys
In meinem letzten Briefe versuchte ich nun zu antworten, das sei der Fall, da doch alles Qualitativ-Quantitative zugleich örtlich bestimmt sei, so daß ihm eine nichtreale Relation notwendig zukommt, und Gleiches gilt, wie Sie selbst bemerken, nach der von mir vertretenen Auffassung von allem, was ich in der sinnlichen Auffassung als zeitlich bestimmt erfasse. Immerhin erheben Sie aus der Zeitlehre Martys Schwierigkeiten, indem Sie sich darauf zu berufen scheinen, daß nach Marty die Zeitanschauung in der inneren Erfahrung nicht gegeben sei und wir daher hier die Zeitanschauung nicht gewinnen, sondern in der äußeren. Sonach, wenn ich recht verstehe, meinen Sie, gebe es nach Marty und mir doch ein Gebiet, wo wir vorstellen, ohne daß dort ein Nichtreales mit der Vorsitrellung verflochten sei. Mit dem Vorbehalt weiterer Überlegung antworte ich: es eröffnet sich mir ein Weg zur Beseitigung dieser Schwierigkeit. Ich behaupte, daß wir nie und nirgends ein Reales vorstdlen können, ohne etwas vorzustellen, was zu einem anderen entweder in einer (irrealen) Relation wirklich steht oder doch stehen kann. So erfassen wir beim Subsistierenden etwas einer relativen Bestimmung nach. Analog beim Inhärierenden. Sage ich, dieses ist Eines, so sietze ich es in mögliche Relation zu vielem. Alles ist von jedem anderen verschieden, etwas anderem ähnlich u. dgl. Kurz: diese innige Verflechtung von Realem und Irrealem ist in der Vorstellung in viel weiterem Umfange enthalten, als ich, Ihren Beispielen folgend, zuerist angenommen habe. Ich hoffe, Sie mißverstehen mich nicht dahin, daß ich das Absolute leugnete, sondern ich will nur sagen, daß wir das Subsistierende als solches eben nur als etwas Relatives oder Relativliches erfass.en. Diese Relationen sind daher nach Martys und meiner Ansicht Beispiele von Irrealem. Es gibt sehr viele solcher in der Anschauung gegebenen und mit ihr perzipierten Relationen. Möge ich mich verständlich ausgedrückt haben. Und ob ich mich dem körperlichen oder dem geistigen Gebiete zuwende, es ist überall das Gleiche. Das Bewußtsein selbst ist ja nach uns eine wirkliche oder mögliche hypothetische Adäquation. Ich bitte auch diesen Versuch so freundlich aufzunehmen wie
von den nic:htrealen Beziehungen
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meinen letzten, dem Sie Originalität nimt abgespromen haben. Freilich meinten Sie, würde ihn Marty erstaunlich finden. Im glaube das nimt. Denn er liegt in seiner Lehre eingeschlossen. Ich hoffe auch, daß Ihre ausgesprochene Erwartung, ich würde Ihre Entgegnung unbefangen würdigen, nicht ganz enttäuscht wurde. Im sage "nimt ganz": denn Sie haben eine Unbefangenheit meinerseits nimt ganz erwartet. Smreiben Sie doch smließlich wieder, im sei von Martys Autorität beeinflußt. Obwohl ich mich bemühe, Martys Argumente ebenso wie Ihre zu würdigen und Ihre Autorität ebensowenig als die Martys maßgebend werden zu lassen. Und rechthaberisch bin ich nimt, außer ich glaube, remt Zl\J haben und sehe mich g;enötigt, es zu verteidigen. Und nach wie vor scheint es mir unmöglich, ohne Irreales auszukommen. Dennoch bitte ich, nur noch diesmal mir den Fehler meiner Argumentation zu zeigen. Im übrigen bin ich ganz Ihrer Meinung, daß es das Beste ist, das Ganzie der Martyschen Lehre sich vorlegen zu lassen. Sie bilden sich über diese ganz irrige Ansmauungen. - Ich danke Ihnen nochmals für die Mühe, die Sie zu meiner Belehrung und Bekehrung aufgewandt haben. Ganz fruchtlos war sie nicht, wenn ich dadurch hinsichtlich des Begriffes des Gegenstandes und des Realen gefördert worden bin. Und wenn mein heutiges Auskunftsmittel ganz versagen sollte, so werde ich vor einer neuen Aporie stehen. Freilich bin ich imstande, Ihrer Ansicht Aporien in Hülle und Fülle entgegenzusetzen. Wie wäre im denn sonst rum Zweifel an ihr gekommen und zur Preisgabe? Also nochmals vielen Dank und die besten Wünsche für Ihre bevorstehende Reise. - P. S. Der hömste Begriff wäre sonach nicht etwas Reales, dem relative (irreale) Bestimmungen zukommen, sondern: „in (irrealen) Beziehungen Stehendes". „Und in Beziehung stehen kann sowohl Reales, als Irreales." Sonach Absolutes, von dem Irreales prädiziert werden kann. Die Entgegnung auf Ihren gegen das Irreale gerimteten Einwand ist, wie Sie bemerken, nimt von Marty ausgesprom~.
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Brentano hält die Lehre von nichtrealen
Aber sie liegt in der Konsequenz seines Denkens, das ich in dem fraglichen Punkte für richtig halte, und so bin ich zu ihr gelangt, ohne fürchten zu müssen, daß etwa Marty darüber, wie Sie meinen, „nicht wenig erstaunt gewesen wäre". Vielmehr würde er mir gewiß zugestimmt haben. Das mögen Sie aus Folgendem ersehen: was wir nach Marty anschauen, ist ein raumerfüllendes Gebilde. Das Qualitativ-Quantitative ist ein Kontinuum durch Teilnahme am Raum, den es erfüllt. Das Verhältnis des lnnewohnens der Körper ist aber nicht ein lnhärenzverhältnis - wenn auch in manchen Punkten diesem verwandt, sondern ein Verhältnis sui generis. Die nichtreale Natur des Raumes schließt es aus, daß der Körper, der ein Reales ist, ihm inhäriere. Und nicht das den Raum Erfüllende können wir diesem inhärierend nennen, wohl aber das aktuelle Verhältnis des Erfülltwerdens - durch einen gewissen Körper. Diese Relation inhäriert dem Raume, wie ein Akzidens dem Körper. Analoges gilt von der Zeit: wo das Erfüllende nicht ein durch sich Notwendiges und Unaufhebbares ist, kommt der Zeit zwar nicht das Erfüllende selbst, wohl aber die Relation des Erfülltwerdens als im weiteren Sinne akzidentelle Inhärenz zu.
Brentano an Krauss1
Schönbühel, 5. Dezember 1914 Lieber Freund! Von Wien heimkehrend finde ich Ihren lieben Brief. über den philosophischen Teil desselben will ich schweigen. Sie selbst sagen, daß Sie jetzt zu wenig gesammelt seien und werden hoffentlich bei mehr Muße die Bemerkungen meines letzten Briefes nochmals in Erwägung ziehen. Angenommen, Ihre neu ersonnene Theorie läge wirklich virtuell in den Lehren Martys inbegriffen, so will ich mir das Andenken an den mir einst so nahestehenden Schüler doch nicht in der Art trüben, daß ich glaube, er hätte je solche Konsequenz wirklich zu ziehen vermocht, statt vor ihnen als etwas ganz Unzulässigem Halt zu machen. Soll ich, der ich sonst so sehr zu Hegel im Gegensatz
Beziehungen der Dinge für ahwrd
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stehe, ihm schließlich darin ähnlich werden, daß ich s1age: von meinen Schülern hat mich nur einer verstanden und dieser hat mich mißverstanden? Ja soll ich mich am Ende gezwungen sehen, öffentlich davor zu warnen, die metaphysischen und psychologischen von Marty vertretenen Ansichten für die von mir vertretenen zu halten, da sie bis zu den ersten Prinzipien hinab ganz und gar miteinander in Widerstreit seien? Jedes neue Wort, das ich darüber höre, führt mich nur mehr zu dieser schmerzlichen Überzeugung. Meine f:rieundschaftlichen Gefühle sträuben sich dagegen. - Um noch mit einem Wort auf die Philosophie zurückzukommen, so dürfte es das Geratenste sein, wenn Sie, die Sie von einer Menge von Aporien sprechen, welche Sie meinen Ansichten gegenüber vorzubringen hätten, einmal daran gingen, mir diese darzulegen. Daß ich sie übel aufnehmen werde, ist ausgeschlossen, dagegen hoffe ich, daß sich auch Ihnen die aporia in euporia verwandeln werde. Bisher hörte ich nur immer von dem scheinbaren Verstoß gegen die scholastische These: veritas est adaequatio rei et intellectus, bei deren Interpretation man aber sichtlich den wahren Sinn verfehlt. Seltsam genug erlaubt man sich unter der "res" ganz ebenso das Irreale wie das Reale zu begreifen. Gott weiß, wie sehr ich Ihrem Forschen allen Segen wünsche, den Ihr edles und gewiß ganz reines Streben nach der Wahrheit verdient. Sollte mein Wunsch sich nicht in jeder Hinsicht erfüllen, so wird Ihnen doch der eine Gewinn bleiben, den jeder hat, welcher sich mit den erhabensten Fragen beschäftigt. - -
Brentano an KrausB2
Florenz, 9. Januar 1915 Lieber Freund! - - - - Was Sie von Ihrem Verlangen sagen, unsere Freundschaft möge in aller Innigkeit fortbestehen, entspricht ganz dem Bedürfnis meines eigenen Herzens. Fürchten Sie in dieser Beziehung nichts, zweifeln Sie aber auch nicht daran, daß ich je
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Brentanos Wünsche hins•ichtliich der
Veröffentl~chung
so töricht sein werde, Ihrer geistigen Freiheit zu nahe treten zu wollen. Alle sklavische Gefolgschaft habe ich stets perhoresziert, auch Marty war dies wohlbekannt, und darum kann ich seine Furcht, mir offen von seiner abweichenden Meinung und den Gründen derselben zu sprechen, nur als etwas Krankhaftes betrachten. Eine Mitschuld mag mich treffen, indem ich meine Kritik in scherzhafte Ausdrücke kleidete, die ihn verletzten. Aber gerade das war früher nicht der Fall gewesen, und so hatte ich davon keine Ahnung. Daß meine freundschaftlichen Gefühle für ihn auch nach seinem Tode fortbestehen, habe ich schon deutlich zu erkennen gegeben, und wie könnte es anders sein? Das Bild, das an die schönsten Zeiten unseres Freundesverkehrs erinnert, 8 3 schmückt nun das Zimmer, das er so oft bewohnt hat, und unter ihm möchte ich noch eine Photographie von ihm aus jenen Tagen anbringen. Verweilen Sie dann S'elbst bei mir als Lieber Gast, so werden Sie sich an diesem ihm errichteten Ehrendenkmal, das nur unter Ihrer gütigen Mitwirkung möglich geworden ist, freuen. Was Sie hinsichtlich meiner Briefe an Marty fragen, läßt sich nicht kurzweg beantworten. Viel Persönliches fließt ein, dessen Veröffentlichung eine große Indiskretion wäre, ja manchmal Ärgernis herbeiführen könnte. Was aber die Bedeutung der darein eingeflochtenen wissenschaftlichen Erörterungen anlangt, so kann ich sie aus dem Gedächtnis nicht beurteilen. Die sich fortentwickelnde Wissenschaft berichtigt fort und fort sich selbst. Meine eigene wissenschaftliche Fortentwicklung zeigt auch eine Reihe von wahren oder vermeinten Selbstberichtigungen auf. Grundsätzlich habe ich mich dabei ähnlich wie Marty an das von meinem vorzüglichen Lehrer Ererbte gehalten bis es klar widerlegt schien. So streifte ich nach und nach gar vieles ab, was ich von Aristoteles, den ich zudem nicht überall verstanden hatte, autoritativ übernommen hatte. Es mag vielleicht instruktiv sein, dem Entwicklungsgang zu folgen, doch ob in dem Maße, daß es eine Veröffentlichung verdient, muß ich, wenn ich nicht unbescheiden sein will, in Zweifel ziehen. Selbst bei einem Kepler würde es sich für die wenigsten der Mühe
seiner Korrespondenz mit Marly
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lohnen, sich mit all den falschen Hypothesen, die er vor der glücklichen Entdeckung seiner 3 berühmten Gesetze versucht und in die mühseligen Berechnungen, in die er dabei einging, bekanntzumachen. So denke ich, man könne nicht mehr tun, als etwa Fürsorge treffen, daß die Briefe erhalten und der Einsicht Einzelner zugänglich gemacht würden; einzelnes darin wäre natürlich aus den vorbemerkten Gründen zu vernichten. über alles das am besten einmal mündlich. Jetzt noch zu Ihren wissenschaftlichen Fragen. Die Gewißheit, daß sie Ihnen gegenwärtig sind, ermöglicht mir, sie in größerer Kürze zu beantworten. ad 1. So gewiß es ist, daß rotsehend und rot, blausehend und blau nicht dasselbe sind, so gewiß ist es doch, daß wie rot von blau, auch rotsehend von blausehend spezifisch verschieden ist. Sowohl, daß kein Unterschied zwischen ihnen bestehe, als auch, daß dieser Unterschied ein bloß numerischer sei, ist sicherlich falsch. ad 2. Gewiß erkenne ich die spezifischen und generischen Übereinstimmungen und Verschiedenheiten im Hinblick auf das Psychische. Hier finde ich, daß alles Denkende ein etwas Denkendes ist, so zwar, daß es unmöglich ist, ein Denkendes in hOdister Allgemeinheit in recto ohne etwas in höchster Allgemeinheit in obliquo vorzustellen. Würde die Vorstellung in bezug auf das, was sie in obliquo vorstellt, verändert, so würde sie audi in bezug auf das, was sie in recto vorstellt, verändert sein. Man muß daraufhin freilich sidi hüten zu glauben, daß, weil die Vorstellung eines Universale von höherer Allgemeinheit, z. B. die eines Farbigen im allgemeinen spezifisch verschieden sei von der Vorstellung eines Roten, das Farbige mit dem Roten verglichen, als koordinierte Spezies zu betrachten sei . .A!ber eines ist sicher, daß der Begriff eines das Farbige im allgemeinen Vorstellenden nicht derselbe ist wie der Begriff eines das Rote im Speziellen Vorstellenden. Deswegen können sie aber doch gemeinsam dem Begriff eines Vorstellenden sich unterordnen; wenn aber dies, so muß ihnen auch gemeinsam sein, was allem Vorstellendem als solchem gemeinsam ist, und das ist, daß e s e t w a s v o r s t e 11 t. Damit man es aber mit
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Nochmailtische und and·ere Kasustheorien" S. 95 (s. Anmerk. 32). 79 ) Brentano „Vom ens raHonis" (Psychologie II. S. 273 f.). 80) Brentano „Psychologie" II. S. 134. 81 ) Brentano an Kraus 3. IV. 1915 (s. S. 284). Vgl. auch „Psycholo.gie II. S. 133 ff. 82) Brentano „Vom Kontinuierlichen" (unpubiiziert. ManuskriptenLis-te: Megethologie 24. 22. XI. 1914). Vgl. Metaph. Z. 13 p. 1039 a 3. 83 ) Brentano an Kra•l'S 30. I. 1915; (s. S. 275); 8. II. 1915 (s. S. 278); 5. VII. 1916 (s .. S. 310); Vgl. auch „Vom ens mtioruis" (Psychologie II. S. 238 ff.) und Brentano an Kraus 8. XI. 1914 (•s. S. 250). 84) Das Folg·ende na•ch Aufzeichnungen Kastils über ein Gespräch mit Brentano 1916. 85 ) Als "psychische Präsenzzeit" von W. Stern neuerlich eingeführt.
Anmerkungen
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Brentano "Aristoteles und seine Weltanschauung" S. 53 (s. Anmerk. 60). 87) Brentano .Universell Denkendes und indivi>duell Seiendes" (Psydiologie II. S. 199 ff.). 88) Stumpf „Tonpsychologie" I. (Verlag Hirzel, Leiprig 1883) s. 131 ff. . 89) Brentano .Zur Lehre von Raum und Zeit" (Manuskript vom 23. II. 1917. Manuskriptenliste: T. S. 7). 90) Vgl. S. 237. 91 ) V g1. S. 239. 92) Aristoteles .Metaph." E. 4. p. 1027, b. 18. 93) .Ein Von ist nidit, ein Aber ist nidit, hat so wenig Sinn wie ein Poturi-Nulongon ist nidit". Brentano "Psydiologie" II. S. 162. 94) Brentano an Kraus 14. IX. 1909 (s. S. 201). 95) Vgl. S. 217. 96) Vgl. Brentano .Psychologie" II. S. 142 ff. 97) Brentano an KraUJs 8. II. 1915 (s. S. 278). 98) Brentano an Kraius 11. VII. 1916 (s. S, 3·12). 9 9 ) Brentano .Psydiologie" II. S. 145. 100) A. a. o. 101) Brentano an Krau& 5. VII. 1916 (s. S. 310). 192) Marty "Über die logisdie, lokalisti1sdie und. andere Kaisustheo11ien" S. 70 (s„ Anmerk. 32). 103) A. a. 0. S. 75. 194) Brentano .Psydiologie" II. S. 145 ff. 195) Brentano „Psychologie" II. S. 207. 196) Brentano .Psychologie" II. S. 206. 197) Kant .Kritik der reinen Vernunft", Elementarlehre II. Teil. 1. .Nbt. 1. Bum. 1. Hauptteil. 2. A:bsmnitt. 108) In ·der zweiten Folge seiner Aufsatzreihe .über wbjektlose Sätze" (s. Anmerk. 15) hat Marty diese Lehre angenommen und verteidigt SJie gegen Angriffe. Vgl. audi HiHebrand .Die neuen Theorien der kia:tegoril~chen Sdilüs1s1e" (s. Anmerk. 20). · 1ou) Vgl. S. 3. 119) Brentrum .P•sychofogie" II. S. 148. 111) Brentano an Kraus 5. VII. 1916 (s. S. 310). 112) Kant .Binleitung zur tranS'zendentalen Logik" Kap. III. 113) Brentano .über den Begriff der Wahrheit" (,Wahrheit un1d Evidenz' S. 16 s. Anmerk. 12). 114) A. a. 0. S. 25. 86)
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Anmerkungen
115) Marty „Raum und Zeit" S. 156 ff. (s. Anmerk. 29). 116) Übrigens wäre auch die wirkliche Übereinstimmung nach Marty wohl ein nichtreales Prädikat; wenigstens in „Raum und Zeit" steht er auf dem Standpunkt, daß alle Relationen nichtrealen Charakter haben. 117) Marty „Raum und Zeit" S. 157 (s. Anmerk. 29). 118 ) Natürlich gilt, was von den Urteilsinhalten gesagt wurde, auch für die Inhalte der Interessephänomene. 119 ) Marty „Raum und Zeit" S. 152 ff. (s. Anmerk. 29). 120 ) A. a. 0. S. 153. 121 ) A. a. 0. S. 153. 122) A. a. 0. S. 16-0. 1 23) Marty „Sprachphilosophie" S. 332. 124 ) Vgl. S. 221. 125 ) Brentano an Kraus 14. IX. 1909 (s. S. 201); 29. IX. 1909 (s. S. 214); 13. IV. 1916 (s .. S. 298). 126) Brenrtano an Kraus 13. IV. 1916 (s. S. 298). 121) Marty „Raum und Zeit" S. 157 (s.. Anmerk. 29). 128 ) Brentano an KratL& 13. IV. 1916 (s. S. 298}. 129 ) Lei•bniz „Dialog über ·die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten" (Phil. Bibl. Bd. 107, S. 15 ff.). 130 ) Diktat Brentanos'. „Der Vorwurf des Psycho.Jogismus" vom 17. XI. 1914 (E L 34). 131 ) Brentano an Kraus 17. V. 19>16 (s. S. 306). 132) Brentano an Kmus 13. IV. 1916 (s. S. 298). 133) Brentano „Der Vorwurf des Psychologiismus" (Si. Anmerk. 130), 134) Brentano an .K;mus 5. VII. 19·16 (s. S. 310). 135 ) Vgl.. dia1s bei Besprechung des KoU.ektivums Gesagte (s. S. 48 ff.). 136) Brentano an Kraus 8. XI. 1914 (s. S. 250). Vgl. Brentano an Kraus 9. I. 1915 (s. S. 269) und 9. III. 1915 (s. S. 283). 137 ) Brentano an Kraus 8. XI. 1911 (s. S. 250). 13 8) Brentano an Kraius 16. XI. 1914 (s. S. 255). 13 ") Brentano an Kmus 25. XI. 1914 (s. S. 260). 140) Brentano an Kraus 8. XI. 1914 (s. S. 250). 141 ) Brentano „Vom ens rationis" (P.sychologi•e II. S. 275). 142 ) A. 3!. 0. S. 238 ff. 143 ) Brentano „Zur Lehre von den entia rationis" (&. S. 390); „Vom ens rationis" (Psychologie II. S. 238 ff.). Vgl. II. der Einleitung. 144 ) A. a. 0.
Anmerkungen
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Brentano "Über das Sein im uneigentlichen Sinne, abstrakte Namen und Verstandesdinge" (PsychQlogie II. S. 226 ff.). 1 4 s) Brentano "Von den wahren und fiktiven Objekten" (Psychologie II, S. 159). 147) Brentano „Psychologie" II. S. 230. 148) Brentano erwähnt einmal auch d,ie Einleitung von Suarez. Dieser unterschied drei Klassen von entia rationis: Negatoiva, Privativa und Komparativa. Zu der ersten würden gehören ein Nicht-Warmes, ein Nicht-Weißes und natürlich auch ein Nichtseiendes und ein Nichts. Zu den Privativis ein Blindes, ein Taubes etc. Zu den Komparativis gewisse RelatiQnen. Es würde keine Schwierigkeiten machen, die entia rationis des Suarez, soweit sie wirklich bloße entia rationis und nicht reale Bestimmungen sind, in den von Brentano aufgezählten Klassen unterzubringen, teils bei den Abstrakt•is, teih bei den Inhalten .• Zu:r Lehre von den entia rationis" (s. S. 390). Vgl. .Psychologie" II. s. 272 f. 149) Brentano .Psychologie" II. S. 163. 145)
Vorbemerkung der Herausgeberin zum 1. Hauptteil Vorstehend wurde eine Auswahl aUJS der Korrespondenz F. Brentanos mit seinem Schüler und Freund A. Marty (Profes•sor für Philosophie an der deutschen Universität in Prag) und mit dessen Schüler 0. Kraus in chronologi.scher Reihenfolge gebracht. Aus den Briefen &ind nur jene Stellen entnommen worden, die auf das „Reismusprobiem" Bezug haiben, d. h. auf Brentanos Lehre, ·daß nur Reales vorsteHbar se•i. In jahrelangen Überlegungen hatte Brentano nämlich erkannt, daß die sog. er.Ha rationis, unter welchem Namen man d.ie verschiedenen für notwendig gehaltenen Arten .des Nichtrealen zusammenzufassen pflegte, nichts anderes als sprachiiche Fiktionen sind; eine Kla,ss,e des Nichtrealen nach der anderen erwies s•ich als unnötig und zu absurden Konsequenzen führend und wurde ·daher von Brentano ohne Rücksicht auf die ihm fast geschlossen gegenüberstehenden Ans1ichten früherer und zeitgenös•sis·cher Philosophen und ohne Rücksicht auf &ein•e eigenen früheren Lehren aus,gescha,Het (s. Einleitung). Dies·er Entwicklungsgang mit allen scharfsinnigen Argumenten Brentanos, durch die er seine neue Lehre Marty und Kraus verständlich und annehmbar zu machen bestrebt war, und mit den ebenfalls
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Anmerkungen
scharfsinnigen Einiwäniden von M:arty und Krarus, sollte durch ,die ausgewählten Briefstellen zum Ausdruck gebracht werden. Marty vermochte siich der veränderten Auffassung seines verehrten Lehrers und Freundes nicht mehr anzu1schließen, Kraus aber wurde nach hdtigem, jahrelangem Widerstand überzeugt und nunmehr treuester Anhänger der neuen Lehre, die er als die „kopernikanische Wende" in Brentanos Philosophie zu bezeichnen pflegte (s. Vorwort). Es wu11den im ersten Hauptteil neben Briefstellen, die als vollendete Darlegungen zu bezeichnen s1ind, auch einige Stellen von mehr fragmenibarischem Charakter (teilweise nur in Schlein zum Inhalt der V ors,tellung gehören würde. Einen besonderen Hinweiis verlangt nodi Brentanos Lehre, daß keiner un&erer Ans,diauungen individuelle Bestimmtheit zukommt.
Anmerkungen
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Daidurch wird den "Universalbeviffen" ihre Ausnahmsstdlung entzogen. wiiiklich vorliegt, ist nach seiner Meinung, -daß wir mehr oder weniger bes·timmt denken. Dies•e Lehre ist in .Psychologie"" II, Anhang XIII und XIV und in .Psychologie" III (.Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein") ausgeführt (vgl. "Wahrheit und Evidenz" AnmeTk. 138). 61 ) Auch diesen Brief habe ich mit freundlicher Erlaubnis von Doktor F. Meiner dem Band "Wahrheit und EvidelllZ" {2. Aufl. S. 103 f.) entnommen. BTentano weist die Behauptung zurück, daß seine Lehre vom Inhalt und Umfang .der Vorstel1ungen sich wesentlüch geändert halbe. 52) Brmtano bea·bsichtigte damals., die Kapitel V-IX aus seiner .Psychologie vom empirischen Standpunkt" a.J.s Buch zu publizieren, wobei in elf ·in einem .Anhang" gesammelten Abhandlungen diie Änderungen, die er inzwisd1en an seinen Lehren vorgenommen hatte, dargelegt we!'den sollten. Da.s Buch erschien unter dem Titel .Klassifikatiion der psychischen Phänomene" 1911 ibei Duncker u. Humblot. In dem vorliiegenden .Entwurf", den Brentano im März 1910 an Marty mit d•er Bitte um Rückäußerung übersandte, s>ind diie Gedanken, 31Uf deren Klarste.JJung es ihm wesentlich ankam, kmz skizziert; sie sind in den Abhandlungen des erwähnten .Anhangs" näher ausgeführt. Von 0. Kr31US WU!'de in der in 2 Bände geteilten 2. Aufl, der .Psychologie vom empirischen Standpunkt" {Bd. 192 und 193 der PhH. ß.i.bl.) in welcher der zweite Band einen Neudruck der .KJ.allllifibtion ·der psychischen Phän>0mene" enthält, der .Anhang" durch sechs weitere Abhandlun1gezte Absatz (von „Nehmen Sie alles" bis zum Schluß) ist in „Wahrheit und Ev,idenz" nicht aufgenommen. 78) KraiuSJ hatte inzwischen den Entsch·luß gefaßt, dem verehrten Lehrer gegenüber nicht mehr, wie Marty in d•en let:liten Jahren es getan, mit Zweifeln und Einwänden zurückzuhalten, sondern in Zukunft jedes Bedenken offen aus·zusprech·en. Brentano billigt dies 'durchaus ('siehe Anmerkungen 144-145 von Kraus in „Wahrheit und Evidenz") und ve·rsuch't neruerlich, Kraus das, was er unter Einheitlichkeit des Vorstellens versteht, klarzumachen; und zwar wei:st er diarauf hin, daß jedes Sehen das Sehen von Farbigem (wobei na1lürlich Schwarz, Weiß und aUe Graunuancen inhegriffen sind), jedes Hören das Hören eines Schailenden .ist. Allgemein gesprochen, daß ,das Etwas, woriauf wir uns beim Empfinden bez·iehen, unter den einheitHchen Begriff des Sinnlich-Qualiitativen fallen muß. EbellJso wie Schallendes nicht gesehen, fo1rbriges nicht gehört werden kann, so kann Vorstellen, das für den höchsten Ga:ttungsbegriff „ReaLes" in Gebraruch steht, nicht aiuf den gattungsverschiedenen Begriff „Nichtreales" ausgedehnt werden. 79) Brentano spricht seine Freude darüber aus•, Kraus „hinis•ichfüch des Begriffes des Reailen zu der älteren Ansicht" ~urückgekehrt zu sehen. Die•sie Freude muß aber verfrüht erscheinen, we1m wir den folgenden, ausnahmsweise erhalten geblriebenen Brief von Kraus 'in Betracht zfohen. 80) Krnus berimtigt in diesem füief ·d•ie Annahme Brentanos, daß er von den „frreaien Rdationen" abgekommen sci; er hahe lllUT zugestanden, ·daß das Vors•tellen unter einen allgemeinen und •höch·sten Beg·riff faHen müsse. Dies'e Bedingung giaube er dadurch erfülJt, daß aHem Qualitativ-Quantitativen eine räumliche Wlld zeitliche Rela,tion zukomme. Nach wi·e vor vertrete er jedoch d•ie Ans•ichrt., diaß es sich bei diesen Relationen um Irreales handle. 81) Brentano for,dert Kraus auf, die „Menge von Aporien", ·die er gegen sdne Arns.icht vorzuhringen hätte, doch wirklich einmal vorzulegen. Bisher hahe er •immer nlllJr vom Verstoß gegen die „ada·equatio rei et inteUectus" gehört. Der vorH•egende Brief, obwohl er im einleitenden Teil keinen Beitm.g zur schwebenden Di&rui>s>ion enthäH, wurde doch - bis aruf 82)
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Anmerkungen
em1ge persönliche Bemerkungen - zur Gänze wiedergegeben, weil er viel Wertvolles über Brentanos Verhältnis zu Marty und über seine Wünsche bezüg1ich einer eventuellen Publikation des Briefwechsels mit jenem enthält. D.iese Wünsche sollten jedenfalls auch für den Briefwechsel mit Kraus gelten. - Im weiteren Verlauf versucht Brentano Kraus nochmals klarzumachen, was die spezifischen Differenzen des Vorstellens sind und was dem VoTstellen als solchen gemeinsam ist, was mit anderen Worten unteT dem höch·sten Begriff des „Etwas" zu verstehen ist. 83) Ein Kupforstich von Allldrau, den Brentano Marty einst geschernkt und den er nach Martys Tode a'Us dessen Nachlaß als Andenken zurückerhalten hatte. 84) In diesem Brief wird nochmal-s auf die fundamentale Bedeutung der Frage hingewiesen, ob nur Dinge Gegienstand unseres Denkens sein können. Ist dies' der Fall, ·So folgt, daß jede psychologische Analyse unvoHständig ist, weLche Illicht diese Dinge und diie W dse der Denkbeziehun,gen zu ihnen aufzeigt. Brentano wi!J weikT mit alJer Klarheit zum AU!Sdruck bringen, daß die Allinahme von Nichtrealem, wenn auch immer unrichtig, doch noch relativ harmlos sei, sol1ange diies1em Nichtrealen ein bloßes Moitwerden und Mitvergehen mit Realem zugesprochen werde, wie d•ies der Fall ist, welllll man z. B. ein Sein oder Nicht&ein von Dingen annimmt. Ungleich „anstößiger und verderhliche1r" wird der Irrtum, wenn Undinge gelehrt werden, denen entweder wie Martys Raum ein selbständiges Entstehen durch Schöpfulllg oder wie seiner Zeit ein unabhängiges Dasein von jedem Re1alen - selbst von Gott - zukommen solL 85) Brentano spricht hie·r neuerlich aus, ·daß ihm die letzten Gedankengänge Martys seltsam und unhaltbar erscheinen. Was Kraus' ei,gene Schwierigkeiten in Hinsiicht auf den Ausdruck „möglich" angehe, so sei .diairauf hinzuweisen, daß der Ausdruck „möglich" eine doppelte Negatfon enthahe. Es wi·rd weiter noch einig·e's über die spezifischen Differenzen hinzugefügt, die schon im Brief vom 9. I. 1915 erödert wurden (Vgl. Anme,rk. 82). 86 ) Im Zusammenhang mit Martys Zeitlehre, in der irreaie Objektdifferenzen angenommen werden, kommt Brentano auf seine eigene Lehre von den VorsteHioogsmodi,s zu sprechen. 87) Später ließ Brentano ·die Temporalmodi von Vergangienhe•it und Zukunft nur mehr als mod1i obliqui gelten (vgl. Brief an Kraus vom 11. VII. 1916).
Anmerkungen
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88) Nochmals geht Brentan im Folgenden a,uf die spezifischen Differenzen ein.. Er ha:be sich gezwungen gesehen, in mehrfacher Hinsidit von dex aristotelischen Lehre darüber abzuweidien. Jede numerisch andere Substanz sei a:uch spezifisch eine andere. Eine erschöpfende Erörterung würde aber das Eingehen auf die Lehre von Substanz und Akzidens erfordern. SO) Vgl. zu dieser AuSJeinandersetzung über die spezifischen Differenzen besonders F. Brentano .Kaitegorienlehre" (Bd. 203 d. Phil. Bibi., Ahsdmitt II). 90) Nochmals betont Brentano mit allem Na