Bewusstseinsstellung und Geschichte: ein Fragment aus dem philosophischen Nachlass 9783111649528, 9783111266114

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Bewusstseinsstellung und Geschichte: ein Fragment aus dem philosophischen Nachlass
 9783111649528, 9783111266114

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Leben und geistige Umwelt des Grafen Paul Yorck v. Wartenburg
II. Die Grundgedanken seiner Philosophie
a) Der kritische Ausgangspunkt
b) Transzendenz gegen Metaphysik
c) Geschichtsphilosophie als Psychologie der Geschichte
d) Graf Yorck und Wilhelm Dilthey, Übereinstimmung und Widerspruch
Zitierte Werke und Abkürzungen
Zur Datierung des Nachlasses
Zustand des Manuskriptes
Fragment aus dem philosophischen Nachlaß
Anhang, von Yorck ausgeschiedene Manuskriptteile
Inhaltsübersicht (Aufbau des Yorck’schen Fragmentes)
Anmerkungen des Herausgebers

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GRAF PAUL Y O R C K VON W A R T E N B U R G B E W U S S T S E I N S S T E L L U N G UND G E S C H I C H T E

GRAF PAUL YORCK VON WARTENBURG

BEWUSSTSEINSSTELLUNG UND GESCHICHTE EIN FRAGMENT AUS DEM PHILOSOPHISCHEN NACHLASS *

E I N G E L E I T E T UND H E R A U S G E G E B E N VON

IRING F E T S C H E R

M A X N I E M E Y E R V E R L A G / T Ü B I N G E N 1956

Alle Rechte, auch das der Übersetzung in fremde Sprachen vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1966 Printed in Germany Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Druck: Ferd. Oechelhfiusenche Bachdruckerei, Kempten/Allgäu

INHALT Vorwort

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Einleitung I. Leben und geistige Umwelt des Grafen Paul Yorck v. Wartenburg II. Die Grundgedanken seiner Philosophie a) Der kritische Ausgangspunkt b) Transzendenz gegen Metaphysik c) Geschichtsphilosophie als Psychologie der Geschichte d) Graf Yorck und Wilhelm Dilthey, Übereinstimmung und Widerspruch

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Zitierte Werke und Abkürzungen

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Zur Datierung des Nachlasses

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Zustand des Manuskriptes

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Fragment aus dem philosophischen Nachlaß

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Anhang, von Yorck ausgeschiedene Manuskriptteile . . 1 8 2 Inhaltsübersicht (Aufbau des Yorck'schen Fragmentes) . 187 Anmerkungen des Herausgebers

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VORWORT Als 1923 der Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg (1835-1897) erschien, war der Name dieses eigentümlichen und tiefen Denkers der Welt so gut wie unbekannt. Außer seiner I860 erschienenen Jugendarbeit „Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophokles" war von dem Grafen nichts veröffentlicht worden; da enthüllte sich der Freund Diltheys auf einmal als ein durchaus ebenbürtiger, ja in der Exaktheit des Denkens und der Kompromißlosigkeit des Fragens vielleicht sogar überlegener Geist. Dieser Eindruck wurde bestätigt d|urch sein 1927 veröffentlichtes „Italienisches Tagebuch", das eine große Kraft der Vergegenwärtigung geschichtlicher Potenzen und des Nacherlebens geschichtlicher Motive offenbart. Nur ai|if diese beiden Veröffentlichungen sich stützend, hat Fritz Kaufmann 1928 den Versuch unternommen, die Philosophie de& Grafen Paul Yorck von Wartenburg systematisch zu rekonstruieren. Diese Arbeit mußte zwar in einigen Punkten zu Ergebnissen kommen, die von dem abweichen, was wir auf Grund des Kaufmann unzugänglichen Nachlasses heute wissen, dennoch bleibt Kaufmanns Versuch eine imponierende Leistung und eine interessante Deutung von Yorcks weltanschaulichen Grundüberzeugungen, die in den Briefen und im Tagebuch naturgemäß rückhaltloser und unmittelbarer zum Ausdruck kommen als in den - wohl als Vorarbeiten zu größeren Veröffentlichungen gedachten - Manuskripten. Die Vertrautheit mit den briefüch entwickelten Anschauungen kann deshalb auch dem Verständnis der nicht immer leicht zu lesenden philosophischen Fragmente dienen, und Kaufmanns Studie bedarf nur geringfügiger Korrekturen, um als Einleitung in Yorcks Denken bestehen bleiben zu können. VII

Außer den beiden Nachlaßveröffentlichungen, die von der Gräfin Sigrid von der Schulenburg, einer langjährigen Freundin der Familie Yorck, betreut worden sind, lagen drei unveröffentlichte Manuskripte des Grafen vor. Zwei davon sind aus den gelegentlichen Bemerkungen im Briefwechsel bekannt. Es handelt sich um eine geschichtlich-psychologische Rekonstruktion des Heraklitischen Denkens (vgl. Briefwechsel, S. 230 usw.) und um eine Arbeit zur Schulreform, in der sich Yorck auch grundsätzlich zu Bildungsfragen geäußert hat (vgl. Briefwechsel, S.99f.). Während der Aufsatz zur Schulreform auf der Yorckschen Besitzung in Klein-Oels verlorengegangen ist, blieb die Heraklit-Arbeit in einer für Wilhelm Dilthey gefertigten Abschrift von Schreiber-Hand erhalten. Außerdem aber fand sich - gleichfalls in einer Abschrift für Dilthey - ein umfangreiches Fragment, das die Grundgedanken der Yorckschen Philosophie der Geschichte enthält. Dieses Hauptfragment wird hiermit erstmals der Öffentlichkeit übergeben. Da die bisherige Nachlaßverwalterin, Gräfin von der Schulenburg, während des letzten Krieges in Klein-Oels gestorben war, wandte sich der Enkel des Grafen Yorck im Herbst 1951 mit der Frage, ob eine Veröffentlichung der Manuskripte von wissenschaftlichem Interesse sei, an Professor Eduard Spranger. So bekam auch ich im Januar 1952 die vorliegenden Blätter zum ersten Male zu Gesicht. Bei der ersten und zweiten Lektüre blieben freilich noch manche Zusammenhänge unklar, aber das Gefühl war doch schon deutlich, daß es sich hier um außerordentlich tiefe und auch für die gegenwärtige Philosophie wertvolle Gedankengänge handelt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewährte dann ein Assistentenstipendium, das mir die notwendige Muße zur Beschäftigung mit den Manuskripten ließ und mir gestattete, mich durch ausgedehnte Lektüre in die Gedankenwelt des Grafen einzuarbeiten. Der Enkel des Philosophen hatte die Güte, mir durch Erzählungen das Bild des Lebens in Klein-Oels zu verlebendigen und mir eine aufschlußreiche, als Manuskript für die Familie gedruckte, Briefsammlung ,,Klein-Oels 1816-1871" leihweise zu überlassen. Aus den Briefen des Philosophen, die in diesem VIII

Bande wiedergegeben sind, habe ich die wichtigsten Stellen in meiner Einleitung und in den Anmerkungen zitiert. Es war geplant, den gesamten philosophischen Nachlaß des Grafen zugleich herauszugeben, aber die Anerkennung der Tatsache, daß in dem Hauptfragment in äußerster Konzentration die Grundgedanken Yorcks zusammengefaßt sind, und daß daneben die oft weitschweifigen und durch die Entwicklung der Altphilologie überholten Polemiken in der Heraklitarbeit nur den Eindruck der Geschlossenheit der Konzeption stören könnten, hat dazu geführt, daß zunächst lediglich das Hauptfragment erscheint. Sollte dieses - wie zu erwarten - auf ein entsprechend großes Interesse stoßen, wird auch der Heraklit in Bälde veröffentlicht werden können. Eine Anzahl von Stellen prinzipiellen Inhalts aus diesem Manuskript habe ich bereits in der Einleitung sowie in den Anmerkungen verwendet. Die Aufgabe des Herausgebers bestand in erster Linie in der Herstellung eines einigermaßen lesbaren Textes. Der Stil der Arbeit zeigt deutlich die Spuren einer sehr raschen Konzeption, eines Hervorsprudeins von oft nur notdürftig gegliederten Gedankenmassen, die dem Verständnis des unvorbereiteten Lesers erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Die Bearbeitung des Textes wurde mit dem Ziele vorgenommen, mit einem Minimum von Eingriffen ein Optimum an Lesbarkeit zu erzielen. Außerdem aber wurden alle vom Herausgeber angebrachten Veränderungen so gekennzeichnet, daß der ursprüngliche Text ohne weiteres rekonstruiert werden kann. Zusätze, die sich wegen der zuweilen lakonischen Kürze des Stiles als nötig erwiesen, sind kursiv gesetzt, einzelne Satzteile oder Nebensätze, die infolge einer Konstruktionsänderung wegfallen müssen, stehen in eckiger Klammer, während lange Perioden, die im Interesse der raschen Erfassung des Hauptgedankens zunächst überschlagen werden sollten, in runde Parenthesen gestellt sind. Daß es sich bei der mir vorliegenden Niederschrift um eine Kopie - nicht um ein Diktat - handelt, ging eindeutig aus den zahlreichen, nachträglich verbesserten typischen Abschreibefehlern hervor. Da jedoch nicht sicher IX

war, ob sämtliche Korrekturen nur Richtigstellungen der Abschrift sind, oder ob sie etwa zum Teil auf Hinweise Yorcks selbst zurückgehen, wurden in allen Fällen, wo es sich nicht um ganz belanglose Schreibfehler handelte, Durchstreichungen, Hinzufügungen usw. in Fußnoten ausdrücklich vermerkt. Die Orthographie wurde, nach dem Vorbild der beiden vorangehenden Veröffentlichungen, weitgehend der heutigen angepaßt. Yorck hat einmal von sich selbst gesagt: „Die Innehaltung der thematischen Grenze (sei) das Schwierigste" (B, S. 112). Die vorliegende Arbeit illustriert diese Aussage nur allzu deutlich. Es war deshalb auch nicht daran zu denken, den ungegliederten Text in Kapitel und Paragraphen aufzuteilen. Das hätte höchstens durch eine völlige Umgruppierung geschehen können, die aber das Prinzip der Manuskripttreue zu sehr verletzt hätte. Als Ersatz für diese nicht erfolgte Auflockerung des Textes wurde dem Ganzen eine detaillierte Inhaltsangabe vorangestellt, die die Orientierung erleichtern soll. Außerdem wurde der Versuch unternommen, in einer Einleitung einige Grundgedanken der Yorckschen Philosophie systematisch zu entwickeln. In dem kurzen biographischen Abriß wurde vor allem Wert auf eine Beleuchtung der geistigen Tradition gelegt, in deren Rahmen sich Yorcks Denken entfaltet. Die Anmerkungen des Herausgebers, die aus satztechnischen Gründen in den Anhang verwiesen wurden, enthalten Parallelstellen bei Yorck selbst oder auch im Werke Diltheys und in den Arbeiten anderer Zeitgenossen sowie Hinweise auf die von Yorck erwähnten Autoren. Zum Schluß bleibt mir noch die angenehme Pflicht, all denen, die beim Zustandekommen dieser Arbeit geholfen haben, meinen ergebensten Dank zu sagen. An erster Stelle dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, Konsul der Bundesrepublik Deutschland in Lyon, für das mir erwiesene Vertrauen und die Erlaubnis zur Veröffentlichung, sodann Herrn Professor Dr. Eduard Spranger für seinen gütigen Rat und Beistand und schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren großzügigem Entgegenkommen der vorliegende Band zwiefach seine Entstehung verdankt. X

Die hier erstmals vorgelegten Arbeiten Yorcks werden zweifellos dazu beitragen, die geistesgeschichtliche Stellung der Diltheyschen Lebensphilosophie näher zu bestimmen, darüberhinaus zeigen sie aber einen eigenwilligen protestantischen Denker, der - seiner Zeit weit voraus - uns in vielen Punkten heute näher stehen mag als sein so viel berühmterer Freund. So ist es denn - ganz im Sinne Yorcks - nicht bloß antiquarisches Interesse, das zur Beschäftigung mit der Philosophie des Grafen führt, und wir dürfen hoffen, daß sich in fruchtbarer Auseinandersetzung und schöpferischer Aneignung die Lebendigkeit seines Denkens in der Gegenwart bewährt. Tübingen, Sommer 1955

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EINLEITUNG I. Leben und geistige Umwelt des Grafen Paul Yorck v. Wartenburg

(1835-1897) Graf Paul Yorck v. Wartenburg wurde am 1. März 1835 in Berlin als Enkel des Feldmarschalls Hans David Ludwig Yorck von Wartenburg geboren. Sein Vater, Hans Ludwig David Yorck, Dr. phil., Majoratsherr auf Klein-Oels in Schlesien, stand seit den zwanziger Jahren mit den geistig regen Kreisen der Berliner Spät-Romantiker in engem Kontakt und hatte sich besonders mit Ludwig Tieck befreundet, dessen wertvolle Bibliothek er nachmals für die Schloßbücherei von Klein-Oels erwarb. Die Mutter des Grafen, Bertha Johanna Auguste, geb. von Brause, die Tochter des hochkultivierten preußischen Generals von Brause, war schon durch ihr Elternhaus früh mit allen literarischen, philosophischen und theologischen Größen des damaligen Berlin bekannt geworden. Mit welcher Leichtigkeit sie sich in der Welt des Geistes bewegte, geht aus ihren Briefen hervor, in denen sie u.a. die Lektüre von Solger, Schleiermacher, Piaton und Hegels Religionsphilosophie erwähnt (Kleinöls, S. 159f.). Gesellschaftliche Beziehungen des elterlichen Paares zu Raumer, Steffens, Tieck, Savigny, Varnhagen von Ense, Schinkel, Bettina v. Arnim, Alexander v. Humboldt, Beyme, Grolmann usw. sind bezeugt. Mit Varnhagen von Ense stand Bertha von Klein-Oels aus in regem Briefwechsel und ließ sich durch ihn über die Berliner Ereignisse auf dem laufenden halten. Schon 1845, als Zehnjähriger, verlor Graf Paul seine Mutter, aber vier Jahre ι

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später heiratete sein Vater wieder, und in der Familie dieser zweiten Frau, Nina, geb. von Olfers, sollte der Sohn später eine Art geistiger Heimat in Berlin finden. Nachdem das begabte Kind anfangs durch Hauslehrer erzogen worden war, wurde es 1851 auf das Magdalenen-Gymnasium in Breslau geschickt. Aus dem nächsten Jahre ist ein Brief des Knaben über Luthers Katechismuserklärungen erhalten: sie seien, sagt er, „gewiß für ihre Zeit vortrefflich gewesen, sind noch vortrefflich für ein gewisses Alter, oder eine gewisse Stufe der Bildung, aber für den, der selbst über das, was sie erklären sollen, nachdenkt, . . . haben sie keine Bedeutung, und wir lernen sie nur aus einer gewissen Pietät. . . Wohl jeder muß sich seinen Glauben selbst bilden, gelehrt kann er nicht werden, denn gerade das, worüber man unklar ist und eine Erklärung haben möchte, vermag niemand zu erklären." Der Vater antwortete hierauf zwar ermahnend, aber doch mit einer Ausführlichkeit, der man die Freude über die Aufgewecktheit des Jungen anmerkt: „Luthers christliche Überzeugungen sind . . . das Endresultat einer 1500jährigen Ent- und Verwicklung. Gewiß sind seit den verflossenen 300 Jahren neue Resultate gewonnen worden, Du wirst aber auch mit ihnen nicht überall übereinstimmen. Glaube Du daher, mein Paul, Luthers Lehren und Deines Lehrers Erklärungen, nimm sie indessen immerhin auf Autorität an, zweifle an Deinem Zweifel und Deiner Erkenntnis" (Klein-Oels, S.364f.). Ein Brief der hochbegabten Hedwig v. Olfers, der Mutter von Nina, die den Mittelpunkt der Berliner Olfersschen Wohnung bildete, schildert 1853 den Gymnasiasten: „Paul ist so recht für uns geschaffen, sein weiches, frommes Gemüt lernt man nur kennen, wenn man ihn oft und nahe sieht, denn er ist eigentlich etwas scheu und macht deswegen nicht leicht Freundschaft, hat er aber diese kleine jugendliche Zurückhaltung überwunden, so ist er zutraulich und hat ein glückliches abandon, was zur wahren Liebenswürdigkeit gehört, er philosophiert und diskutiert über Kunst und Religion und enthusiasmiert sich recht wie ein Sechzehnjähriger" (Klein-Oels, S.384). Im Frühjahr 1854 bestand Graf Paul sein Abitur und 2

erhielt als Belohnung eine Reise nach Frankreich geschenkt, die er durch seine Sparsamkeit bis nach Algier ausdehnen konnte. Im Sommersemester 1855 nahm er in Bonn das Studium der Rechtswissenschaft auf, wechselte aber schon im folgenden Semester die Universität, weil er - mit Rücksicht auf seine Gesundheit - an dem obligaten Bonner Corps-Studenten-Leben nicht teilnehmen wollte. In Breslau, wo er sein Studium fortsetzte, hörte er neben den Fachvorlesungen vor allem den Philosophen Braniß, der auch regelmäßig in KleinOels verkehrte, und trieb eifrig Sprachstudien. (Christlieb, Julius Braniß (1792-1874) gehört in den weiteren Zusammenhang des deutschen Idealismus. Seine teilweise originelle Geschichtsphilosophie ist der Hegeischen entfernt verwandt. Außer Hegel hat vor allem ScheUing und Steffens auf Braniß' Denken eingewirkt. Schleiermachers Glaubenslehre hat er 1824 in einer kritischen Schrift behandelt.) Im Jahre 1857 unternahm Graf Paul zusammen mit seinem Vater seine erste Italien-Reise, an die er sich 34 Jahre später, als er seinerseits mit seinem ältesten Sohne Heinrich eine ähnliche Fahrt unternahm, noch genau erinnerte (vgl. das Italienische Tagebuch). Im Herbst 1858 legt Yorck das Auskultator-Examen ab und tritt als Freiwilliger in das 2. Garderegiment zu Fuß ein, um sein Militärjahr abzudienen. In dieser Zeit lernte er auch seine künftige Frau, Louise Rahel von Wildenbruch, die Tochter des preußischen Gesandten an der Hohen Pforte, kennen und verlobte sich bereits im März 1859. Durch seine Frau war Yorck sein ganzes Leben hindurch mit dem Schaffen des Dichters Ernst von Wildenbruch, seinem Schwager, verbunden, ohne es jedoch, wie die Äußerungen im Briefwechsel mit Dilthey erkennen lassen, aus verwandtschaftlichen Gefühlen heraus zu überschätzen. Nach der Hochzeit im Herbst 1860 läßt sich Yorck als Referendar in Breslau nieder, 1862 übersiedelt die Familie - inzwischen ist der älteste Sohn, Graf Heinrich (1861-1923), geboren - nach Potsdam, wo sich Paul auf das Assessor-Examen vorbereitet. Aus dieser Zeit stammt eine Reihe von Briefen an den Vater, in denen sich deutliche Keime von Yorcks späteren philosophischen 1*

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Überzeugungen zeigen und aus denen die Einheit seiner philosophischen, ästhetischen und politischen Ansichten hervorgeht. Dabei ist es vielleicht nur fruchtbar gewesen, daß die Ansichten von Vater und Sohn gerade im Prinzipiellen oft auseinandergingen. Der Bogen der Themen, die in diesen Briefen zur Sprache kommen, spannt sich weit: von der Religion bis zur Tagespolitik, aber immer wieder geht die Analyse von religiösen oder theologischen Fragen aus. Die willensmächtige Person Luthers wird gewürdigt und von der ganz andersartigen Persönlichkeit Goethes abgehoben. Die Lektüre von D. F. Strauß' Leben Jesu regt zu kritischen Bemerkungen an: ,,Die Widersinnigkeit. . . liegt der ganzen Arbeit zugrunde, daß der Verfasser an etwas, was sich selbst als übernatürlich ausgibt, den natürlichen Maßstab anlegt, so daß er, was er beweisen will, ständig voraussetzt." Dagegen hält Yorck daran fest, daß der „richtige Standpunkt, der tatsächlich gegebene, lautet: „Christus ist. Seine Natur zu ergründen, ist Aufgabe der Theologie... Vielleicht ist diese Wissenschaft wie eine Blume, welche auf dem Boden des wirklich gewordenen Mysteriums erblühend dasselbe entfaltet, aber doch immer als den dunklen Fruchtboden zugleich voraussetzt" (Brief vom 5. 7. 1862, Klein-Oels S. 525). Am bemerkenswertesten aber sind Yorcks frühe Ausführungen über die christliche Kategorie „Person": „Ich bin Person! Nicht ich weiß mich als Person, denn ich weiß nicht, was Person ist, ja Person gar kein was, sonst würde ich darum wissen. Ist es nicht schon merkwürdig, das Wort Person? Welcher Sprache gehört es an ? . . . Ich möchte sagen, es ist ein christliches Wort. . . . Es ist nebenbei wohl zu beachten, daß der Gedanke Gott bestimmt als das Absolute, also als ein Neutrum, während Gott im Glauben lebt als der Gott, die Person. Nicht im Denken ist das Existieren; sobald ich das Existieren denke, so ist es nicht existieren; sondern wie alles Gedachte ein mögliches . . . Also daß wirklich gedacht wird, liegt nicht mehr im Denken, wie daß wirklich ein Pferd ist, nicht im Begriffe des Pferdes liegt. Das „wirklich", also das „daß" im Gegensatz zum „was" ist wie (der) Charakter außerhalb des Denkens . . . ein reines „daß", von dem ich nichts aussagen 4

kann, das ich nicht denken kann, dessen Äußerungen ich nur im Leben erfahre, das ich selbst b i n . . ( B r i e f vom 11.11.1862, Klein-Oels, S. 524). Ich habe diese Briefstellen nur angeführt, um zu zeigen, wie früh schon Yorck - offensichtlich unter dem Einfluß der Schellingschen Spätphilosophie - eigentümliche philosophische Anschauungen zu entwickeln begann und wie stark dabei immer schon religiöse Probleme im Vordergrund standen. Auch die in diesen Jahren veröffentlichte Katharsis-Studie (Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophokles, Berlin 1866), ursprünglich eine Zulassungsarbeit zur VerwaltungsAssessor-Prüfung (!), gibt eine vorwiegend religiöse Deutung des Sinnes der griechischen Tragödie, wobei die griechische Welt als die „noch nicht christliche", unerlöste verstanden wird. Im Sommer 1865 starb unerwartet plötzlich Yorcks Vater, und Graf Paul, der mit dreizehn Jahren seinen älteren Bruder Heinrich verloren hatte, mußte nun als Ältester die Leitung des Familienbesitzes Klein-Oels übernehmen. Als Nachfolger seines Vaters wird er zugleich erbliches Mitglied des preußischen Herrenhauses, in dem er sich - allerdings nur in den ersten Jahren - wiederholt als Berichterstatter in juristischen Fragen und als Diskussionsredner betätigt hat. Während des dänischen Feldzuges und im preußisch-österreichischen Kriege diente Yorck als Offizier und zeichnete sich wiederholt aus. Bei der Bewirtschaftung der ausgedehnten Yorckschen Güter bewies er Talent und Weitblick, so daß es ihm - trotz aller zeitbedingten Schwierigkeiten - gelang, den Familienbesitz zu erhalten und zu mehren. Von dem regen geistigen Leben, das dabei in Klein-Oels herrschte, geben die Berichte verschiedener Korrespondenten in dem Sammelband KleinOels, ebenso wie die Erinnerungen von Hedwig v. Olfers eine anschauliche Vorstellung. Oft wird am Abend vorgelesen meist aus klassischer und romantischer deutscher Literatur -, gelegentlich finden kleine Liebhaberaufführungen statt, an denen sich Familienmitglieder als Akteure beteiligen. Bei einer Lesung mit verteilten Rollen übernahm der alte Hausfreund Braniß die Rolle des Nathan, zu der er in seiner Doppeleigen5

schaft als (konvertierter) Israelit und Philosoph geradezu vorbestimmt erschien. Als Braniß 1869 emeritiert wurde, bot ihm Yorck das ihm gehörige Herrenhaus des Gutes Höckricht zum Wohnsitz an; aber dem eingefleischten Großstädter war der Landaufenthalt bald doch zu still und so kehrte Braniß nach Breslau zurück, wo er 1874 starb. Auch am preußisch-französischen Krieg nahm Yorck auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin in einem Feldregiment teil. Obgleich er sich auch hier wieder auszeichnete, finden wir in seinen Briefen weit mehr Hinweise auf Lektüre und Reflexionen als Schilderungen von Kämpfen. Vor Paris liest Yorck Pascal, den er in einem Brief an seine Frau mit Hamann vergleicht. Daneben vertieft er sich in Goethes Maximen und Reflexionen und beobachtet mit teilnahmsvollem Interesse seine Umgebung. Durch die Vermittlung seines Schwagers Geheimrat Abeken ist er auch Zeuge der Kaiserproklamation zu Versailles. Bis hierher führt die Briefsammlung Klein-Oels, über das weitere Leben unterrichtet der Briefwechsel mit Dilthey, aus dem freilich die privaten Mitteilungen gestrichen wurden, und das Italienische Tagebuch. Wir können uns vorstellen, daß Yorcks Leben nun im regelmäßigen Gleichmaß der täglichen Pflichten des Gutsherrn und der mannigfaltigen historischen und philosophischen Interessen verlief, von denen der Briefwechsel zeugt. Reger Verkehr herrschte zwischen der Universität Breslau und Klein-Oels, immer mehr wuchsen die Schätze der Schloßbibliothek an, häufige Reisen nach Berlin brachten die notwendige Verbindung mit der Welt des Geistes und der Gesellschaft der Hauptstadt. Im Jahre 1871 war Wilhelm Dilthey auf den Lehrstuhl von Braniß nach Breslau berufen worden, und in den folgenden Jahren kam es dann zu jener Begegnung mit Yorck, die für beide Denker so außerordentlich fruchtbar und wesentlich werden sollte. Es ist schwer zu sagen, welcher der beiden Freunde den anderen „mehr beeinflußt" hat, sicher ist nur, daß beide damals schon in ihren philosophischen Grundüberzeugungen gefestigt waren und sich in verwandtem Geiste begegneten. 6

Von den Verhandlungen des Herrenhauses, dessen politische Bedeutungslosigkeit Yorck immer deutlicher wird (vgl. B, S. 136), hielt er sich im Laufe der Zeit immer mehr zurück, seit 1879 ist er in der Rednerliste nicht mehr vermerkt. Von größeren Reiseplänen ist nur 1891 die Italien reise verwirklicht worden, Besuche der Pyrenäenhalbinsel und Englands blieben bloßes Projekt. Seine von Anfang an gefährdete Gesundheit fesselte Yorck mit zunehmendem Alter immer mehr an KleinOels. In seinen letzten Lebensjahren hat Yorck offenbar an zwei Werken gearbeitet: an einer historisch-psychologischen Rekonstruktion des Heraklitischen Denkens und an einer Darstellung seiner eigenen Auffassung vom Wesen der geschichtlichen Entwicklung und ihrer Erkenntnis. Beide Arbeiten sind unvollendet gebheben und wurden von Yorck kurz vor seinem Tode als nicht druckreif bezeichnet. Am 12. September 1897 ist Graf Paul Yorck von Wartenburg auf Klein-Oels gestorben. Wilhelm Dilthey hat in einem Brief an den Sohn des Freundes in schönen und bewegten Worten dem Schmerz über den Verlust dieses großen Geistes Ausdruck gegeben: „Was soll ich von mir sagen ? Seit nun fast einem Vierteljahrhundert habe ich mit ihrem teuren Vater in der innigsten Gemeinschaft aller Ideen gelebt. Er war die genialste größte Natur, die mir außer Helmholtz begegnet ist, aber mehr wog die Herrlichkeit seines Charakters. Allem was er berührte verlieh er Adel, Schönheit, Glanz, wenn er erschien, war es als gehe die Sonne auf. Ich kann mich noch nicht finden, mich dünkt, nichts Philosophisches wird künftig mich wieder mit dem alten Interesse erregen, da ich es mit ihm nicht mehr teilen kann. Welchen Wert soll, was ich noch schreiben könnte, für mich haben, da ich seine Beistimmung, seine Einwendungen, sein Urteil von jetzt ab niemals wieder vernehmen werde. Recht leidend wie ich bin, empfinde ich es als ob über dem Rest nun tiefe Schatten sich senken" (B, S. VI).

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II. Die Grundgedanken seiner Philosophie a) Der kritische Ausgangspunkt Yorck hatte in starkem Maße das Gefühl, am Ende einer Geschichtsperiode zu stehen. „Unsere Zeit, schreibt er 1892 an Dilthey, hat etwas von dem Ende einer Epoche. Ein Zeichen dafür ist das Schwinden der elementaren Freude an der historischen Gegebenheit." Aber bei dieser Feststellung bleibt er nicht stehen, sein ganzes denkerisches Bemühen geht vielmehr darauf aus, diese Krise zu verstehen und sie durch „Selbstbesinnung" überwinden zu helfen. Wie für jeden großen Denker ist auch für Yorck die Philosophie kein Selbstzweck, vielmehr erscheint ihm „das Praktisch-werden-Können . . . (als) der eigentliche Rechtsgrund aller Wissenschaft" (B, S.42), und weiter schreibt er dem Freunde: „Die praktische Abzweckung unseres Standpunkts ist die pädagogische, im weitesten und tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie und die Wahrheit des Piaton und Aristoteles." Umgekehrt erblickt Yorck in der herrschenden pädagogischen und vor allem auch politischen Praxis die notwendigen Folgen einer „Bewußtseinsstellung", die rein und reflektiert in der zeitgenössischen Philosophie zum Ausdruck kommt (vgl. S. 107, 127, B, 98f.). Wie Dilthey sucht auch Yorck nach einer lebendigeren geisteswissenschaftlichen Psychologie, die zur Grundlage des Erfassens der historischen Wirklichkeit werden kann. Aber energischer als sein Freund drängt er über das bloße Verstehen hinaus zum Neubau, einem Neubau freilich, der wesentlich in und durch historisches Verstehen sich vollziehen soll. Denn mit dem Schwinden eines Verständnisses für geschichtliche Dimensionen hat die Gegenwart auch das innere Verhältnis zum Staat und seinem Leben verloren. Die Wiedergewinnung eines (bewußteren und reiferen) Verhältnisses zur Geschichte impliziert damit auch die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses der Menschen zum Staat und damit eine Gesundung der Politik., 8

Yorcks Gedankengang kann man in zwei Seiten zerlegen; einmal wird der Nachweis geführt, daß die in seiner Gegenwart herrschende „Bewußtseinsstellung" an ihr Ende gekommen ist, zum anderen sucht Yorck zu zeigen, daß allein eine bewußte Wiederaneignung des reformatorisch gereinigten Christentums eine lebendige Auffassung der lebendigen Geschichte ermöglichen kann. Bei seiner Beurteilung der Gegenwart geht Yorck davon aus, „daß das Zeitalter des Mechanismus: Galilei, Descartes, Hobbes virtuell Gegenwart ist" (B, S.68). Der Mechanismus ist für das moderne konstruierende Bewußtsein noch immer kennzeichnend und, was als „Gegenbewegung" sich ausgibt, stellt in Wahrheit nur eine „Nebenströmung" dar. Das gilt z.B. für die „sogenannte historische Schule", die Yorck „eine bloße Nebenströmung innerhalb desselben Flußbettes" nennt und die er richtiger als „ästhetisch-antiquarische" bezeichnen möchte. Ja die Romantik insgesamt erscheint als eine solche Nebenströmung, oder auch als bloß äußerliches „Komplement des Mechanismus". Es hat sich aber gezeigt, „daß das ästhetische Komplement der Mechanik bankrott gemacht hat" (B, S. 128). Während Dilthey sich immer als einen Nachfahren der deutschen Bewegung zu begreifen bestrebt ist, will Yorck auch mit der „deutsch-nationalen Nebenströmung" radikal brechen. Die Neufundierung der Geisteswissenschaften und vor allem die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses zur geschichtlichen Wirklichkeit erfordert - nach Yorck - eine viel tiefgreifendere Wendung. „Es muß eben von Neuem wieder einmal hinabgestiegen werden zum tiefen Quell des Bewußtseins um neues Lebenswasser zu schöpfen" (B, S.244). Diese Wendung, die sich in dem „tiefen Vergänglichkeitsgefühl" andeutet, das unsere Zeit erfaßt hat, soll durch „Selbstbesinnung" ins Bewußtsein gehoben und befördert werden. Durch Aufweis der Unfähigkeit der bislang herrschenden „Bewußtseinsstellung" zum Erfassen des lebendigen geschichtlichen Geistes und zur Herstellung des dauerhaften politischen Verbandes will Yorck die notwendige „Wendung" herbeiführen. Darin besteht sein pädagogisches Ziel. „Daß (aber) 9

. . . radikal nur Pädagogik helfen kann, das wird immer mehr zum Allgemeingefühl'' (B, S. 138). Der Mechanismus ist außerstande, Geschichtlichkeit (lebendigen Geist) zu erfassen. Konstruktion ist sein universales Bedürfnis und daher wird „Handlichkeit" als Ergebnis der Analyse erstrebt, die Gegebenheit in „Atome" zerlegt und nur „willentlich", durch „souveräne Aktivität" (S. 155) wieder zusammengefügt. Jede Ganzheit, jedes Konkretum wird als ein Kompositum verstanden, aller Syndesmos, alle Bindung geht verloren und an seine Stelle tritt künstliche, äußerliche Synthese. Parallel mit der Entwicklung des konstruktiven Denkens entfaltet sich der neuzeitliche Nominalismus, der die objektive, anschauliche Gestaltlichkeit der Ideen und des νοϋς selbst zum formellen Schema verblassen läßt. Allein das Einzelne, Individuelle erscheint als Realität. Gegenüber diesem nominalistischen und individualistischen Denken begrüßt Yorck den Realismus von Schmoller und Gierke, der „die Realität der (juristischen) Gesamtperson gegen jede Fiktionslehre zu verfechten suchte" (K, S.81). Doch darf dieser von Yorck begrüßte Realismus keineswegs mit dem mittelalterlichen Ideenrealismus verwechselt werden (K, S. 80), den Yorck gerade als eine Form der zur Erfassung des sich wandelnden Lebens unfähigen Gestaltsmetaphysik ablehnen mußte. Auch offenbart sich ja geschichtlichem Verstehen die Auflösung des mittelalterlichen Realismus zum Nominalismus als eine notwendige Zersetzung der überkommenen antiken Bewußtseinsstellung durch die mit ihr amalgamierte christliche. Wenn der Gedanke der Schöpfung ernstgenommen wurde, fiel der νους als ein Inbegriff ewiger Wesenheiten fort. Im Gegensatz zu diesem alten Realismus basiert der Yorcksche nicht auf der Schau einer Ideenhierarchie, sondern auf dem Innewerden des lebendigen konkreten Zusammenhangs, auf der gefühlten, unmittelbaren Erfahrung der „Zugehörigkeit" des Einzelnen zu Geschichte und geschichtlicher Gemeinschaft. „Historische Wirklichkeit (ist) Empfindungsrealität" (B, S. 113) und daher auch nur vom Empfinden her, durch das Empfinden aufzunehmen. Das heißt nicht, daß der Intellekt ausgeschaltet 10

werden soll, sondern nur, daß ihm eine bloß vorbereitende, sichtende und klärende Aufgabe zufällt, während die eigentliche und entscheidende „Aneignung" im Empfinden geschieht, für das allein „Person, Gemeinschaft, Charakter" wirklich sind. Die mechanistische Einstellung hat aber auch auf ihrem begrenzten Gebiete durchaus ihre Berechtigung: „Wo es sich um Willensdaten, um Wirklichkeit im engeren Sinne, populär gesprochen: um äußere Natur und Welt handelt, da ist die Konstruktion - der Provenienz (vom Willen) wegen - dem Objekte adäquat, aber schon wo es sich um die Erfassung des Somatischen handelt, das mit dem Psychischen eng verbunden ist, wird der ,Befund nicht nur reduziert, sondern alteriert" (B, S. 179). Als durchgehende Lebenshaltung aber befriedigt der Metdianismus selbst zeitgenössische Denker, die von den Naturwissenschaften ausgehen, nicht mehr. So fügen „Fechner und Lotze, die letzten bedeutenden Systematiker, dem festgehaltenen Mechanismus . . . als ein äußeres K o m p l e m e n t aus Gemütsbedürfnis den R a h m e n des ä s t h e t i s c h e n I d e a l i s m u s hinzu" (S. 127, vgl. B, S.70f.). Diese klare kritische Position Yorcks gegenüber seiner Zeit und sein hohes geschichtliches Einfühlungsvermögen wurden durch seine eigentümliche lutherische Christlichkeit ermöglicht. Nur weil Yorck überzeugt war, in dem reformatorisch gereinigten Christentum eine „Bewußtseinsstellung" zu haben, die «ine volle Erfassung des geschichtlichen Lebens ermöglicht, konnte er zugleich den historischen Wandel begreifen und dennoch gegenüber relativistischen Anfechtungen eine feste Stellung beziehen. Für Yorck ist das Christentum nicht allein ein historischer Gegenstand unter anderen, sondern zugleich auch „Leben", ja „des Lebens Leben" und als solches das Subjekt der Erfassung lebendiger Wirklichkeit par excellence. Auf diese reine und radikale Bewußtseinsstellung des Christentums drängt aber die gesamte Entwicklung hin, denn alle metaphysischen Versuche der „Äternisierung", der Flucht aus der Vergänglichkeit sind fehlgeschlagen und haben sich als illusorisch erwiesen. Gegenüber aller selbstherrlicher Metaphysik erkennt Yorck die befreiende Haltung christlicher Transzen11

denz, die ein lebendiges Erfassen der sich wandelnden Empirie ermöglicht, weil sie keinen festen Halt mehr suchen muß, sondern einen jenseitigen immer schon besitzt.

b) Transzendenz gegen Metaphysik Eine ablehnende Haltung gegenüber der Metaphysik ist im 19. Jahrhundert keine Seltenheit, aber Yorcks Ablehnung ist mit einem tiefen historisch-psychologischen Verstehen verbunden, das die verschiedenen Gestalten antiker und moderner Metaphysik als Ausprägungen des jeweiligen Lebensgefühls also aus ihren lebendigen Motiven heraus in ihrer Notwendigkeit - begreift. Am deutlichsten spricht Yorck das Motiv allen metaphysischen Verhaltens in seiner Heraklitarbeit aus: „Inmitten des Vergänglichkeitsgefühls sucht der Mensch einen unvergänglichen Halt behufs Selbsterhaltung" ( H e r a k l i t , 13b). In dem vorliegenden Fragment kennzeichnet Yorck die Haltung des Metaphysikers sogar als „Selbstbehauptung", der die religiöse „Selbsthingabe" diametral entgegengesetzt ist (S.44). Die Metaphysik erscheint als eine „Setzung der Willensenergie", Religion als ein „Resultat der Willensohnmacht, (als) Gefühlsbedürfnis". E r m ö g l i c h t wird aber die metaphysische Position durch die Struktur der „psychischen Lebendigkeit selbst", näher durch den eigentümlichen Charakter des Prozesses der Vorstellung (Ver-räumlichung). „Jeder Akt des Denkens, welches, so abstrakt es angenommen werden möge, als Vorstellung bildend in der Anschauung wurzelt, hebt aus der bewegten Lebendigkeit ein Bild oder einen Begriff absondernd heraus als ein Festes und relativ Bleibendes, und diese allgemeine Natur des Denkvorgangs ist der Ursprung, die p s y c h i s c h e Möglichkeit aller Metaphysik. Die Konkurrenz (d.h. Beihilfe I.F.) des wertenden Wollens äternisiert den der Zeitlichkeit in dem Vorstellungsvorgange zeitweilig enthobenen Vorstellungsinhalt. Es ist aber jene Willenskonkurrenz, jene Wer12

tung kein Akt der Willkür, vielmehr ein Postulat der Lebendigkeit selbst" (Heraklit, 13b). An anderer Stelle wird der gleiche Gedanke noch klarer formuliert: „Das vorstellende Verhalten als solches ist ein Festhalten, eine Fixation, ein Herausheben und Absondern aus der zeitlich ablaufenden Zuständlichkeit. Hier liegt die psychische Wurzel aller Metaphysik, welche nur die w i l l e n t l i c h e S t a b i l i s i e r u n g , Ä t e r n i s i e r u n g der r e l a t i v e n Z e i t l o s i g k e i t jeder Vors t e l l u n g - έπιστήμη - i s t " (Heraklit, 30a, Sperrungen von mir). Dieser Zusammenhang von Vorstellen, Verräumlichen und Metaphysik wird auch im vorliegenden Fragment immer wieder hervorgehoben (SS. 44, 64f., 129f., 174,177 usf.), die Analyse der Raumvorstellungen und ihrer Geschichte steht hiermit in engstem Zusammenhang (SS. 76-82, 100-105, 128-131, 149, 176f. usw.). Metaphysisch ist für Yorck soviel wie „metapsychisch", d.h. absehend von dem lebendigen psychischen Motivationszusammenhang (vgl. B, S. 196). Hierzu bemerkt Kaufmann ,,an dieser Doppelwortbildung . . . wird sehr deutlich, was Yorck methodologisch unter Metaphysik versteht: das Verlassen psychischen Bodens; den Versuch, den Zusammenhang der Lebenswirklichkeit nicht aus den Grenzen des Lebens, sondern aus der Abstraktion, in Beschränkung auf eine Lebenskomponente und in einseitiger Auswirkung von deren Tendenz zu erfassen. Das ergibt, wo der Intellekt als Funktion des Willens auftritt thetische Konstruktion statt ursprünglichen Zusammenhangs" (K, S.212). Der Inbegriff der Metaphysik ist für Yorck der Platonismus (B, S. 256), das moderne, nachchristliche Denken hat im Grunde alle metaphysische Gestaltlichkeit zerstört, jedenfalls nachdem die Reformation das „antik-christliche Amalgam" des Mittelalters zersetzt hatte. Die Tendenz der Neuzeit geht auf souveräne Konstruktion, nicht auf gestalthafte Anschauung. Solange der Konstruktionsgedanke mit der konkreten Praxis verbunden blieb, konnte er die Menschen auch „befriedigen", aber mit der Erhebung zur reinen Theorie und deren Isolierung ging das Wirklichkeitsgefühl (allein für Wille 13

und Empfindung i s t Wirklichkeit als Widerstand oder Empfindungsrealität) verloren. Im deutschen Idealismus, vor allem bei Hegel findet Yorck den Versuch, die verlorengegangene Realität durch eine Aufnahme der gestalthaften Anschaulichkeit des Denkens zurückzugewinnen, wozu freilich die spezifisch-modernen (dynamischen) Momente dieses Denkens in unüberbrückbarem Gegensatz stehen. Dieser Gegensatz wird durch die beiden Hauptbegriffe der Hegeischen Philosophie Begriff und Idee gekennzeichnet. Der begreifende Begriff (als Tun) entstammt der modernen Denkentwicklung, während die (gestalthafte und geschaute) Idee dem antiken Philosophieren entspringt. Die von Hegel behauptete Deckung bzw. Identifizierung beider muß - nach Yorck - wegen der grundsätzlich verschiedenen „Ver-haltung", der sie entspringen, scheitern. In der Tat gehe Hegel zumeist von der geschauten Gestalt aus, um erst nachträglich die dialektische Bewegung zu konstruieren, die diese Gestalten erzeugt hat (S. 125). Die christliche Bewußtseinsstellung (radikaler Transzendenz) hat ursprünglich durch ihre Weltfreiheit das moderne mechanistische konstruktivistische Bewußtsein ermöglicht. Dieses aber vermag, von seiner historischen (und psychischen) Wurzel losgelöst, die Menschen nicht zu befriedigen. „Ergänzungen" durch andere (ästhetische) Einstellungen, wie sie die Romantik und Hegel versucht haben, sind notwendig zum Scheitern verurteilt. Es bleibt bei einem bloß äußerlichen „Komplement". Metaphysik ist streng genommen nicht mehr möglich, weil sie der modernen Bewußtseinshaltung widerspricht. Für dieses souverän konstruierende Verhalten kann es keine gestalthaften Einheiten (von Staaten, Familien usw.) geben, sondern nur „handliche" Atome, deren Auffindung ein Postulat seines Vorgehens ist. Damit wird jeder geschichtlichstaatliche Verband in Frage gestellt und als Gegenkraft gegen die Atomisierung (Sandkörner) die diktatorische Gewalt (die „Faust") auf den Plan gerufen. Jetzt, nachdem sich das Daseinsgefühl nicht mehr im gestalthaften Schauen unmittelbar bejaht und wiederfindet, kann und muß das Leben selbst unmittelbar fühlend erfaßt 14

werden. Das aber ist allein von einem „transzendenten Standpunkt" aus möglich, wie ihn das Christentum gewährt. Während „die Verräumlichung als eine radikale funktionelle Abstraktion von der Empfindung . . . die Manifestation des Anderen als eines das Selbst konstituierenden Momentes" darstellt (S. 177), ist die Erfassung der lebendigen geschichtlichen Wirklichkeit umgekehrt eine Manifestation des Selbst als eines das Andere konstituierenden Momentes. Es zeigt sich nicht mehr das Andere als Moment des Selbst, sondern das Selbst als Moment des Anderen, das Andere wird als ein Selbst, als lebendig strukturierte Kraft (d.h. Gott wird als Person) unmittelbar erfahren. Der „Geist der Geschichte . . . ist. . . brüderlich und verwandt" (B, S. 133).

c) Geschichtsphilosophie als Psychologie der Geschichte Wie Dilthey, nur mit größerer Bewußtheit und Radikalität, sucht Yorck nach einer „neuen Erkenntnistheorie" geschichtlichen Erkennens (B, S. 180). Diese weist nach, „daß der Intellekt aus seinen Voraussetzungen und seiner Verhaltung . . . nicht ausreichend . . . zur Erklärung der gewiß somatisch bedingten, aber nicht somatisch gearteten Geschichtlichkeit, . . . nicht ausreichend zum Ergreifen der Persönlichkeit . . . in ihrer Lebendigkeit. . ." ist (a.a.O.). Allein das „Leben (ist) das Organon für die Auffassung der geschichtlichen Lebendigkeit" (B, S. 167). Oder konkreter formuliert: „Das Erkenntnisorgan ist und bleibt der Mensch und die Erkenntnismittel sind in dem psychischen Capitale strukturierter Lebendigkeit beschlossen" (S.223). „Trenne ich den lebendigen Vorgang" geschichtlichen Erkennens, „so kommen auf die eine Seite die psychischen Kategorien zu stehen, von denen man sagen könnte, daß sie an den Stoff herangebracht werden, wenn nicht der S t o f f eigen Fleisch und Blut wäre" (a.a.O.). Die psychische Lebendigkeit des ganzen Menschen und das geschichtliche Leben erscheinen Yorck als „zugehörig" 15

und „verwandt", allein diese Zugehörigkeit ermöglicht und garantiert echte und volle Erkenntnis. Der Ausgangspunkt ist daher immer die Analyse des „Selbstbefundes". Zugleich aber hat diese innere Verwandtschaft zur Folge, daß die hingebende Beschäftigung mit der Geschichte für den Forscher eine innere Bereicherung bedeutet. Wird das Selbst (scheinbar) „ausgelöscht und die Sache zum Reden gebracht", so ist „zugleich . . . das Selbst in höchstem Grade lebendig gewesen, indem es die Sache erlebte" (B, S.2). „Die Aneignung (geschichtlichen Lebens) ist zugleich eine erweiternde Entäußerung " (a.a.O., S. 223). In der Selbstbesinnung erfasse ich mich als h i s t o r i s c h bestimmt. „Gerade so wie Natur bin ich G e s c h i c h t e . ." Daraus aber folgt für Yorck, „daß Geschichte als Wissenschaft nur P s y c h o l o g i e der G e s c h i c h t e sein kann" (B, S.71f.). Was als Vergangenes gewußt wird, aber in der Gegenwart nicht mehr lebt, ist nicht eigentlich geschichtlich, sondern von bloß „antiquarischem Interesse". „Ich möchte von meinem Stand- und Gesichtspunkte aus bemerken, daß die wissenschaftlich adäquate Darstellungsweise regressiv sein würde. Die Geschichtserkenntnis, welche v o n der e i g e n e n Lebend i g k e i t aus sich rückwärts wendet zu dem der Erscheinung nach Vergangenen, der K r a f t nach Aufbehaltenen würde in der Darstellung eine Analysis der Gegenwart der Vergangenheit vorausschicken und damit zugleich eine Kontrolle bieten für das Geschichtliche gegenüber dem Antiquarischen" (B, S. 167). Alle Erkenntnis, soweit sie in Urteilsform auftritt, ist für Yorck eine Beziehung von zwei Gliedern verschiedener psychischer Provenienz. Das wird in dem Heraklitmanuskript an dem Satz: „Die Linie ist die kürzeste Verbindimg zwischen zwei Punkten" erläutert. „Kürze und Länge sind Zeitbestimmungen. Die Strecke ist kurz, welche mit Blick oder Fuß zu durchmessen geringe Zeit erfordert." Die Zeitlichkeit aber entstammt nach Yorck dem Gefühl der Vergänglichkeit. „Die Linie aber ist eine okulare Bildlichkeit," (Heraklit. 58b) entstammt also der Vorstellung. „Diese Beziehung aber zweier Positionen von verschiedener psychischer Provenienz ist ein 16

Urteil" (a.a.O.). „Nicht im Subjekt ist das Prädikat, ebensowenig in dem Prädikate das Subjekt. Vielmehr Effekte der strukturierten Lebendigkeit sind beide und keines vor dem anderen. Die Bildung des okularen Bildes ist b e g l e i t e t von einem Gefühls- oder Empfindungswerte und die k o n k r e t e Genesis in einen d i s k r e t e n Bezug setzen, heißt Urteilen. Keine Aussage, welche der lebendigen Differenz ihrer Glieder ermangelt, ist ein Urteil" (Heraklit., 59a). Damit bleibt aber die urteilsmäßige Erkenntnis notwendig immer partikular, weil sie an die abstrakte Vereinzelung der psychischen Funktionen gebunden ist und eine einzelne Funktion nie adäquat (sondern höchstens symbolisch) die „Fülle der konkreten Lebendigkeit" wiederzugeben vermag. Die Lebendigkeit kann sich so nie „voll und ganz zum Ausdruck bringen" (S. 84). Eine Befriedigung aber gewährt derartiges partikulares Erkennen solange, als das „Einheitsgefühl" in der psychischen Besonderung sich findet. Wenn im Erkenntnis Vorgang eine „Rücknahme der diskreten Äußerlichkeit in die Einheit des Gefühls" (Heraklit., 30b) stattfindet, so wandelt sich die Erkenntnis mit dem Wandel des je bestimmenden historischen Verhaltens. Für die Griechen war z.B. das G e s t a l t g e f ü h l die Art, wie sie ihre eigene Lebendigkeit erfaßten. Ihr „lebendiges Selbstbewußtsein" war plastischer Natur. Deshalb befriedigte sie auch eine Erkenntnis, in der ein Projektum auf ein innerlich empfundenes Gestaltverhältnis zurückgeführt wird. Faßt sich nun das lebendige Selbstbewußtsein nicht als Gestaltsgefühl, sondern als Z w e c k e m p f i n d u n g , so werden naturgemäß ganz andere Erkenntnisse als befriedigend erfahren. Drei Grundtypen historischer Lebendigkeit, geschichtlichen Selbstbewußtseins unterscheidet Yorck. Bei den Griechen (und etwas abweichend bei den Indern) ist das anschauendvorstellende Verhalten dasjenige, was als Betätigung des eigensten Wesens erfahren wird, worin sich die Menschen frei und befriedigt fühlen. Das Selbstgefühl ist anschauend-vorstellend. Bei den Römern (und wiederum abweichend bei den Juden) ist das historische Selbstgefühl willentlich bestimmt. Willens2

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Setzungen und Zwecksbestimmungen werden als wesensverwandt erfaßt. Erkenntnis kommt zur Ruhe, wenn sie bei einem Zweckverbande angelangt ist. Während das zentrale Gefühl bei den Griechen gewissermaßen an die Schau der Gestaltlichkeit fixiert ist und bei den Römern an der Willensbestimmung und Zwecksetzung hängt, ist es endlich im Christentum „gegen sich (selbst) gewandt und damit frei von aller Gegebenheit" (S. 44). Damit ist die Sonderstellung des Christentums als Bewußtseinshaltung erklärt. Eine Haltung, die freilich rein erst durch die Luthersche Reformation herausgearbeitet wurde und in ihrer prinzipiellen Bedeutung von Yorck erstmalig erfaßt worden ist. Das (zentrale) Gefühl ist nicht mehr wie bei der griechischen oder römischen Bewußtseinsstellung wesenhaft (es zum Wesen machend, denn der Wesensbegriff entspringt ja erst bestimmtem Fühlen) auf ein anderes gerichtet (Vorstellen, Wollen), sondern auf sich selbst, es wird hinter die Ur-teilung des Selbstbewußtseins zurückgegangen. Die gesamte Lebendigkeit wird hiermit erstmalig erfaßbar, und zwar gerade dadurch, daß ,,in der Projektion der Empfindung eine radikale Selbstentäußerung stattfindet" (S. 134). Das heißt aber, daß allein von dieser durchs Christentum herrührenden „Bewußtseinsstellung" aus ein lebendiges Erfassen der Geschichte, d. h. eine „philosophische Geschichte der Philosophie" (S. 33) möglich ist. Denn die Geschichte ist die lebendige Bewegung der menschlichen Gesamtpsyche in der Zeit. „Übergreifend, weil das Zentrum der Lebendigkeit (das zentrale Gefühl) essential bestimmend ist das Christentum. Es ist, soweit menschliches Bewußtsein in seiner gegebenen strukturellen Verfassung in Frage kommt, die t i e f s t e und äußerste Möglichkeit historischer Bewußtseinsstellung. Hier findet in der Projektion der Empfindung eine radikale Selbstentäußerung statt, so daß die lebendige Verhaltung . . . rein transzendenter Artist" (S. 134). Hier wird „hinter das Zentrum aller Gegebenheit, hinter das Gefühl zurückgegangen . . . auch dieses sofern es gegeben, damit aber das Leben selbst dem Anderen zuweisend" (S. 138). Die christliche Bewußtseinstellung ist die letzte psychisch mögliche und die 18

historisch zuletzt auftretende - zugleich aber auch die einzige, welche „volle Erkenntnis" geschichtlicher Lebendigkeit ermöglicht (S. 43). Diese geschichtliche Erkenntnis verfährt aber nicht mehr in der Form des Urteils, sondern erfaßt die historische Lebendigkeit unmittelbar als „zugehörig". „Das rein Ontische wird erkannt mittelst einer Übertragung des (innerseelischen) Zusammenhangs (auf den äußeren). Das Menschliche oder Historische bedarf einer solchen Übertragung nicht. Hier ist das Verhältnis ein unmittelbares. Ein Mensch wird dem anderen nie zur Sache" (B, S.203). Aus unseren eigenen Motivationsmöglichkeiten heraus verstehen wir, unvermittelt die historische Person und ihre Taten, die vergleichende Methode kann dabei nur eine untergeordnete Rolle spielen (gegen Dilthey B, S. 193, 202 usw.). Yorck versteht alle geschichtlichen Gestaltungen aus ihren „Motiven" heraus, aus dem innerpsychischen Motivationszusammenhang, den man durch „Transposition" nach- und mitvollziehen kann. Will man das mit den etwas simplifizierenden Begriffen Basis und Überbau ausdrücken, so müßte man sagen: Basis ist das psychische Reich der Motive in seiner Entwicklung und Wandlung, Überbau alles, was als kulturelle Gestaltung und Organisationsform sich manifestiert. Die Äußerungen einer Zeit bilden so eine aus den Motiven heraus zu verstehende Einheit. „Alles Denken und Handeln (sind) Manifestationen einheitlichen Lebens. Es klingt paradox und ist doch wahr, daß z.B. die Strategie des 17. Jahrhunderts dependiert von dem Geiste, der in Galilei typisch Fleisch geworden" (B, S.48). „Der locus des geschichtlichen Problems ist die E i n h e i t der Motive, die in gleicher Weise die Handlung und den Gedanken bestimmen, so daß der Gedanke aus der Handlung klar wird und umgekehrt" (B, S.131). Ganz entsprechend heißt es auch in dem vorhegenden Fragment: „Erst dann wird z.B. die griechische Religion und Mythologie, Staatlichkeit und Staatswissenschaft, Kunst und Kunstlehre, Mechanik und Mathematik und insbesondere die griechische Philosophie begriffen sein, wenn ihrer aller Zusammenhang auf Grund der ihn bewirkenden besonderen Bewußtseins2*

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Stellung eingesehen, und damit in die komplexe Einheitlichkeit der Motive dieser Gestaltungen Einsicht gewonnen ist" (S. 56 bis 57). Wie alle anderen kulturellen Äußerungen ist daher auch die Philosophie ein „Ausdruck der Lebendigkeit" ( H e r a k l i t . , 31a), sie ist genauer gesagt „die gedankliche Fassung der jeweiligen Lebendigkeit" (Heraklit., 6b), „die feinste, weil abstrakteste Marke der jeweiligen Bewußtseinsgestalt (S. 40), ein Wetterglas der psychischen Atmosphäre" (S. 57). Eine „philosophische Geschichte der Philosophie", wie sie Yorck zu geben versucht, erfaßt daher zugleich den Nerv des geschichtlichen Lebens (d.h. des Motivationszusammenhanges, aus dem die geschichtlichen Gestaltungen hervorgehen). „Eine philosophische Geschichte der Philosophie (ist) eine Herausstellung der lebendigen D e n k a n l ä s s e , damit aber, weil Mot i v e nur mittels der Lebendigkeit zu erfassen sind, eine Verlebendigung des früher Erlebten . . wonach eine Geschichte der Philosophie selbst Philosophie ist, im Gegensatz zu einer literargeschichtlichen Darstellung philosophischer Systeme als selbständiger Entitäten" (Heraklit, 5b). „philosophieren aber ist leben" (S. 70) und eine philosophische Aneignung vergangener Denksysteme durch Rückgang auf ihre Denkanlässe ist damit echte Ver-lebendigung. Nur durch Ver-lebendigung aber kann Geschichte in ihrer eigentümlichen Wirklichkeit als Leben - erkannt werden. Dieses lebendige Erfassen geschichtlichen Lebens und geschichtsmächtiger Kraft ist das eigentliche und zentrale Anliegen der Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg.

d) Graf Yorck und Wilhelm Dilthey, Übereinstimmung und Widerspruch Übereinstimmungen und Unterschiede der Positionen von Dilthey und Yorck werden am deutlichsten, wenn man beider Behandlung der neuzeitlichen Geistesgeschichte miteinander 20

vergleicht. Dabei treten die Standpunkte vor allem bei der Bewertung der Reformatoren und bei der Beurteilung des deutschen Idealismus und der Romantik auseinander. Das Thema der neuzeitlichen Geistesgeschichte in ihrer Bezogenheit auf die jeweils herrschenden „Bewußtseinsstellungen" ist sowohl von Yorck wie von Dilthey behandelt worden. Bei Dilthey handelt es sich um eine Reihe von größeren Abhandlungen, unter anderem über „Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert" (1891/92), über „Das natürliche System der Geisteswissenschaft im 17. Jahrhundert" (1892/93) sowie weitere Arbeiten zur Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Von diesen Aufsätzen ist zweifellos die Anregung zu Yorcks eigenen und in wesentlichen Punkten abweichenden Formulierungen ausgegangen. In den Briefen vom 26. 10. 1891 und vom 8. 6. 1892 setzt sich Yorck mit den beiden Teilen der ersten Arbeit auseinander, und der große Brief vom 15. 12. 1892 enthält die zugespitzteste polemische Formulierung seiner abweichenden Wertung vor allem in bezug auf Luther und die übrigen Reformatoren. Die Frage der P r i o r i t ä t jedoch in denjenigen Punkten, die beide gemeinsam vertreten, wird wohl kaum je exakt beantwortet werden können, da die beiden Freunde seit dem Jahre 1877 in engem, meist mündlichem Gedankenaustausch standen. Nach den Formulierungen der Briefe zu schließen, handelt es sich jedoch wohl um eine ursprüngliche Verwandtschaft, die sich dann auch naturgemäß in einer wechselseitigen Übernahme der Terminologie zeigen konnte, ohne daß der eine oder der andere hierbei für sich die Priorität beansprucht haben würde. Daß Yorck selbst bereits an eigener Arbeit sich versucht hatte, scheint aus einem Satz im Brief vom 8. 6. 1892 hervorzugehen, in dem es heißt: „ . . . wer einmal den Versuch unternommen hat, eine große historische Bewußtseinsstellung zu analysieren, der vermag die Schwierigkeit und die Kunst ihrer Überwindung zu ermessen . . (B, S. 143). Daß er aber andererseits gerade durch Diltheys große Darstellung zu eigener Arbeit angeregt wurde, bestätigt er nicht nur im Brief vom 22. 7. 1891, sondern auch ausdrücklich in dem großen Schrei21

ben zum „natürlichen System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert". Dort heißt es: „Eine Darstellung der Verschiedenheit (von Yorcks eigener Auffassung gegenüber derjenigen Diltheys) würde der umfangreichen Arbeit schrittweise folgen müssen, selbst eine erhebliche Arbeit sein" (B, S. 152). Ohne sich streng an den Aufbau der Diltheyschen Studien zu halten, hat Yorck im vorliegenden Fragment diese hier als zu erheblich zurückgestellte Arbeit teilweise durchgeführt. Sehen wir uns Übereinstimmung und Widerspruch kurz an. Seine Abhandlung über „Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert", eröffnet Dilthey mit einer Skizzierung der drei Motive, die in der mittelalterlichen Metaphysik-Theologie verbunden waren: das (jüdisch-christliche) religiöse, das ästhetisch-wissenschaftliche der Griechen und die „Stellung des Willens", wie sie im Römertum entwickelt worden war. Diltheys Formulierungen stimmen hier weithin mit denjenigen Yorcks überein. „Der Kern des religiösen Motivs ist das im Gemüt erfaßte Verhältnis zwischen der Menschenseele und dem lebendigen Gott" (GS II, 1). Ganz ähnlich faßt auch Yorck das Wesen der Religiosität als ein gefühltes Verhältnis zwischen der Person, die ich bin, und der göttlichen Person auf, allerdings betont Yorck dabei stets, daß es sich um ein „Abhängigkeitsverhältnis" handelt und um „Selbsthingabe" von seiten des Menschen, die dem ethischphilosophischen Willen zur Selbstbehauptung entgegengesetzt ist (vgl. T, S. 47, S.222, 44f. usw.). Vom „wissenschaftlichen Verhalten" der Griechen sagt Dilthey, daß es „den Zusatz des Ästhetischen habe, der gleichsam jeden Satz griechischer Denker tingiere (GS II, S.7, vgl. damit Yorck, S. 60f.). In Hinblick auf Rom endlich heißt es: „Vom Rechte aus werden für den römischen Geist Willensherrschaft, Zweckmäßigkeit, Utilität und Regel zu Organen für das Gewahren und Begreifen schlechthin" (GS II, S. 10). Auch diese Charakterisierung des (ewigen) Römertums finden wir bei Yorck namentlich in seinem Italienischen Tagebuch (T, S.43, 50, 125 usw.; S. 43, 60, 180). 22

Diese drei einander vielfach widersprechenden Motive bildeten zusammen die mittelalterliche (christliche) Metaphysik und traten zu Beginn des Zeitalters der Renaissance und der Reformation auseinander. Das reformierte Christentum ging „auf die religiöse Stellung des Bewußtseins in ihrer natürlichen freien Lebendigkeit zurück; Machiavelli erneute den römischen Herrschaftsgedanken; Grotius, Descartes, Spinoza auf der Grundlage der Stoa die Autonomie der sittlichen und wissenschaftlichen Vernunft" (GS II, S. 16). Ganz entsprechend charakterisiert Yorck das mittelalterliche Denken als ein „christlich-antikes Amalgam", und zwar sowohl in der metaphysischen katholischen Dogmatik, die griechische Elemente aufgenommen hat, wie in der „Willensgestalt" der Kirche, die nicht ohne die römische Tradition zu denken ist (S. 35 und 139). So erscheint das Christentum für den mittelalterlichen Katholizismus nur als „Zutat" zu der natürlichen Gegebenheit, die dadurch nicht negiert, sondern lediglich „komplettiert" wird (S. 135,166 Anm., T, S. 226f. usw.). Die Renaissance ist auch bei Yorck durch die Befreiung der Bestandteile dieses „Amalgams" gekennzeichnet, nur, daß es ihm in erster Linie auf die Herauslösung des spezifisch christlichen Momentes ankommt, nicht wie Dilthey auf das eines „allgemein religiösen". Im Gegensatz zu Dilthey setzt Yorck den Beginn der Renaissance etwa um das Jahr 1300 an (B, S. 83). Deutsche und romanische Mystik, Franziskaner und Dominikaner ebenso wie die nominalistischen Lehren von Occam und Duns Scotus sind ihm „Elemente derselben Bewegung", die für die neue Zeit bestimmend ist (B, S. 83, B, S. 131; S. 35). Noch deutlicher werden die verschiedenen Standpunkte, wenn man die Wertungen in Betracht zieht, die bei Dilthey immer wieder zum Ausdruck kommen. So sieht Dilthey etwa ein „bleibendes unschätzbares Gut der Menschheit" in der Feststellung der großen Wahrheit von einem moralischen Grundgesetz des Willens, nach welchem dieser aus eigenen inneren Kräften zur Herrschaft über die Passionen zu gelangen vermag (GS II, S. 18). Ein Urteil, dem sich Yorck keinesfalls angeschlossen haben würde. Überhaupt ist bei Dilthey die Hochschätzung 23

von Renaissance und Humanismus ausgeprägter als seine wie wir sehen werden sehr eingeschränkte - Würdigung namentlich der Lutherschen Reformation. „Der Mensch ist nicht zum Brüten über Ursprung, Individualität, Schuld und Zukunft geboren (GS II, S.23)", heißt es polemisch gegen die Weltschmerzstimmung - aber doch wohl auch gegen gewisse Züge der reformatorischen Frömmigkeit. Die prinzipiellen Gegensätze treten jedoch erst im zweiten Teil der erwähnten Abhandlung zu Tage. Dilthey behandelt hier die Reformation „als ein hochwichtiges Glied in der Verkettung der geistigen Vorgänge des 16. Jahrhunderts . . um zu erkennen, „wie die Menschheit aus der theologischen Metaphysik des Mittelalters so dem Werk des 17. Jahrhunderts, der Begründung der Herrschaft des Menschen über die Natur, der Autonomie des erkennenden und handelnden Menschen, der Ausbildung eines natürlichen Systems auf dem Gebiete von Recht und Staat, Kunst, Moral und Theologie entgegengeschritten ist" (GS II, S.41). Die Reformation ist ihm also wesentlich eine Etappe, eine Übergangsphase, deren Wert in der Vorbereitung des natürlichen Systems der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert - nicht in ihr selbst liegt. Für Yorck liegen die Verhältnisse von vornherein anders. Zwar untersucht auch er den Zusammenhang von Reformation und neuzeitlicher Geistesgeschichte, aber diese Entwicklung erscheint ihm keineswegs als eindeutiger „Fortschritt", weil über das in seiner Reinheit von Luther herausgearbeitete christliche Motiv grundsätzlich nicht hinausgegangen werden kann. Hier zeigt sich übrigens deutlich der oft schon festgestellte Zusammenhang zwischen historischer Erkenntnis und Bewertung der eigenen Gegenwart. In der Gegenwartsbewertung liegen denn auch letztlich die Wurzeln der Divergenzen zwischen den beiden Denkern. Dilthey bekämpft zwar wie Yorck den „Mechanismus" und „Materialismus" seiner Zeitgenossen, ihre Unfähigkeit, geistig-historische Gebilde lebendig aufzufassen, aber er meint, durch eine Fortsetzung der „deutschen Bewegung", durch ein Anknüpfen an Lessing, Kant, Schleiermacher usf. diejenige Geisteshaltung entwickeln 24

zu können, die der Gegenwart nottut. Dilthey begreift seine Begründung der Geisteswissenschaften im geschichtlichen Zusammenhang des „objektiven Idealismus" und seiner eigentümlichen panentheistischen Frömmigkeit. „Nur auf dem Standpunkt des Pantheismus ist (für Dilthey) eine Interpretation der Welt möglich, welche ihren Sinn vollständig erschöpft" (GS IV, S.260). Yorcks religiös fundierte Weltanschauung ist dagegen „personalistisch" und führt zu der Überzeugung, daß allein vom Standpunkt christlichen Transzendenzbewußtseins aus (Luther) die geschichtliche Realität in ihrer konkreten Fülle erfahren werden kann. Die unterschiedliche Bewertung der großen Reformatoren bei Dilthey und Yorck ist eine unmittelbare Folge dieser entgegengesetzten Ausgangspunkte. Für Dilthey ist ein Wertkriterium die Nähe oder Ferne zur Bewegung des „religiös-universalistischen Theismus" der Renaissance. Diesem „universalistischen Theismus" warf sich Luther entgegen, während ihn „Zwingli in gewissen Grenzen aufnahm" (GS II, S.42). Dementsprechend bringt Dilthey Zwingli die größte Wertschätzung entgegen. Bei Yorck heißt es andererseits, in Zwingli zeige sich lediglich die Reaktion einer nationalen Willensgestalt gegen die andere, während Luther als die „tiefste Gestalt" der Reformation bezeichnet wird (B, S. 144, 153, T, S.100; S. 36). Düthey trennt „Altes und Neues" bei Luther und erblickt in Luthers Paulinismus und Augustinismus ausdrücklich etwas Zeitbedingtes und Vergängliches. Gegen Diltheys Ablehnung der Lutherschen Rechtfertigungslehre richtet sich denn auch Yorck in seinem Brief vom 8. 6. 1892 und betont, daß „Luthers Grundstellungnahme einer Transzendenz gegenüber aller, auch stoischer Metaphysik . . . als Aufgabe weit aktueller (sei) als der moralische Rationalismus" (B, S. 144). Dilthey sucht seinerseits an Luther auf, „was ihn rückwärts mit der deutschen Mystik, vorwärts mit unserem transzendentalen Idealismus verbindet" (GS II, S.55). Hier aber treffen auf einmal die Formulierungen Diltheys wieder mit denen Yorcks zusammen, wenn es heißt: „Er (Luther) erst hat den religiösen Prozeß ganz losgelöst von der Bildlichkeit des dogmatischen Denkens und der regimentalen 25

Äußerlichkeit der Kirche" (GS II, S.58). Doch verstand Dilthey wohl unter dieser Loslösung von der griechischen Bildlichkeit einen Schritt zur Befreiung vom christlichen Dogma überhaupt, in Richtung auf einen „dogmenfreien" universellen Theismus, während Yorck die fundamentalen Dogmen als Ausdruck der lebendigen Ich-Du-Beziehung von personalem Gott und menschlichem Gemüt verstanden wissen wollte und ihnen dementsprechend bleibende Bedeutung zumaß (vgl. B, S. 153 f.). Diese in den jeweiligen religiösen Überzeugungen gegründeten Gegensätze interessieren uns hier vor allem wegen ihrer Bedeutung für das philosophische (und historische) Problem einer Fundierung der Geschichtswissenschaft. Beide Denker rechtfertigen ihre Position durch ihre Fruchtbarkeit für geschichtliches Erkennen. Wenn Dilthey (zustimmend) von einem „religiös universalen Panentheismus" spricht, „der nun auch Luthers positivistischem Tiefsinn gegenüber - sagen wir es heraus! - siegreich vorwärts dringt" (GS II, S.77), so meint er damit in erster Linie einen Fortschritt zu größerem Geschichtsverständnis. „In der Geschichtlichkeit der einzelnen Religionen, insbesondere des Christentums", wird von diesem Standpunkt aus die Manifestation „eines Bewußtseinszusammenhanges" gesehen,,,welcher ewig in der Natur der Menschen und der Dinge gegründet ist" (a.a.O.). „Der religiös-universalistische Theismus oder Pantheismus, von den Alten besonders von der in der römischen Stoa vorliegenden letzten und menschlich höchsten Form ihres Denkens getragen, war damals (zur Zeit Sebastian Francks) das höchste und freieste Element der europäischen Bildung (GS II, S.81). An dieser Wertung übt Yorck im Brief vom 8. 6. 1892 Kritik. „Ich kann wohl nachempfinden", schreibt er. „eine nationale Vorliebe für das Frohgefühl persönlicher Selbstherrlichkeit, wie es Zwingiis Lebensodem ist. Aber anders steht es m.E. bei historischer Wertung - und Wertung für Historie (B, S. 144)." Die „Wertung für Historie", das heißt die Beurteilung und Bewertung dieser „Bewußtseinsstellung" in bezug auf ihre Fähigkeit, lebendige Geschichtlichkeit zu erfassen. „Sie vindizieren jenem 26

Standpunkt bei Ihrer Besprechung Francks die Bedeutung eines Organs für Geschichtsauffassung. Ich kann auch den Begriff der Geschichte nicht finden bei einem ethischen Nominalismus, dem alles Geschehen nur ein Paradigma" (a.a.O.). Yorck, der übrigens offenbar die von Dilthey herausgestellte Seite der religiösen Bewegung nicht recht zu Gesicht bekommt, faßt Zwingli unter der Kategorie des „ethischen Nominalismus" (von Nomos, den Yorck mit „nomen" etymologisch zusammenbringt; vgl. B, S. 153, K, S.85 usw.). Aller ethischen Willenstellung aber kommt die geschichtliche Wirklichkeit schon deshalb nicht zur Erfahrung, weil sie alle Energie an die Behauptung und Isolierung des Selbst setzt, während Person und Geschichte nur in der zentralen Bezogenheit auf das sich öffnende Gemüt (Gefühl) zum Wirken zu kommen vermag. Die Haltung, die sich so als fähig erweist, zum Organ für Geschichtsauffassung zu werden, ist zugleich die, welche geschichtsbildend wirkt. Luther muß als „geschichtlichesMotiv", als „historische Kraft" verstanden werden und soll und muß „der Gegenwart präsenter sein als Kant", „wenn sie eine historische Zukunft in sich tragen" will (B, S. 145). Yorcks Einwand wurzelt also letztlich darin, daß er e i n a n d e r e s „ O r g a n o n " für die E r f a s s u n g der G e s c h i c h t l i c h k e i t annimmt als Dilthey, was letzterem offenbar nicht ganz klar geworden ist. In seiner Antwort schreibt Dilthey: „Das aber bleibt ja letzte Differenz: die Positivität des Christentums, dann der lutherischen Glaubensform ist mir für sich kein letztes Datum; auch die Transposition des Gemüts hat mir die Begründung des Rechtes nicht in dem bloßen religiösen Erlebnis der einzelnen Person; dessen Zeugniskraft reicht nicht über das Individuum hinaus', dasselbe kann sich geltend machen; aber gerade darin liegt die Schwierigkeit einer solchen Kraftprobe, weil die Mitmenschen, für welche man doch einmal schreiben muß, dem religiösen Erlebnis wenig Neigung und Anerkennung entgegenbringen" (B, S. 146). Darauf könnte man antworten Yorck versuche in seinem vorliegenden Fragment gerade den Nachweis zu bringen, daß das reformatorische Christentum nicht nur „positiv" gültige Wahrheit ist, sondern 27

auch die Voraussetzung der geschichtlichen Erkenntnis durch seine rein transzendente, alle Metaphysik überflüssig machende „Bewußtseinsstellung" liefert. Der gleiche Gegensatz entzündet sich an den der Reformationszeit gewidmeten Abschnitten des „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert". Auch hier heißt es wieder bei Dilthey: „Ich leugne durchaus, daß der Kern der reformatorischen Religiosität in der Erneuerung der paulinischen Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben enthalten ist" (GS II, S.211), „die reformatorische Religiosität (ist) über das auf allen früheren Stufen des Christentums Gegebene hinausgegangen". Wesentlich und sympathisch an Luther erscheint ihm dessen „germanische Aktivität" (a.a.O., S.215), seine Berufsethik und die durch die Ablehnung der frommen Werke bewirkte Heiligung des gesamtenAlltagslebens. Wiederum wird Zwingli besonders herausgestrichen, denn „männlicher, gesunder, einfacher hat kein Mensch des Reformationszeitalters das Christentum aufgefaßt" (a.a.O., S.226). Fassen wir zum Schluß noch einmal die Punkte der Divergenz zusammen: 1. Dilthey begreift Luther als Verbindungsglied zwischen deutscher Mystik und transzendentalem Idealismus. Dementsprechend schätzt er an ihm weniger die Erneuerung der Dogmatik und der paulinischen Rechtfertigungslehre als vielmehr den Befreier von religiöser Abhängigkeit, der dem selbständigen religiösen Fühlen den Weg bereitet hat und den „modernen Idealismus" inaugurierte. 2. Höher als Luther steht ihm - in vieler Hinsicht Zwingli, dessen Nähe zum „religiös universalistischen Theismus oder Panentheismus" er lobt und dessen,, volleres, allseitigeres, religiös-sittliches Lebensideal" er gegenüber Luther rühmend hervorhebt (GS II, S. 69). 3. Nicht ganz klar dagegen wird, worin Dilthey damals das spezifische Organon der Geschichtserfassung erblickt, abgesehen von der Dilthey und Yorck gemeinsamen These, daß „nur Leben Leben zu erfassen vermag". Gegenüber dem Christentum wird bei Dilthey auf einen „universalistischen 28

Theismus" rekurriert, d.h. auf eine mit dem Wesen der Menschennatur gegebene Religiosität, die erst die verschiedenen religiösen Gestaltungen ,,in ihrer Geschichtlichkeit" erkennen lasse. Hier trennen sich die Wege Yorcks am radikalsten von Dilthey; denn, was diesem als die Voraussetzung der Erkenntnis von Geschichtlichkeit erschien, ist ja gerade ein übergeschichtlicher Standpunkt, „ein religiös Universelles" (B,S. 146), eine allgemeine Anthropologie. Zwar hat nun auch Yorck eine solche Anthropologie (oder Psychologie) im Ansatz entwickelt, aber das Entscheidende ist ihm doch, daß sich der Mensch, der sich in seinem zentralen Fühlen zur Geschichte verhält, damit selbst in und n i c h t über der Geschichte steht, daß das die Geschichte bewegende Motiv zugleich in und durch das Gemüt (das Gefühl) der Person wirkt. Nur der christliche Mensch, der in vollkommenem Vertrauen auf Gott lebt, vermag so radikal auf alle selbstherrlichen Konstruktionen der metaphysischen Selbstsicherung zu verzichten, daß er sich dem Walten der geschichtlichen Kräfte öffnen kann, ohne Gefahr ihnen zu erliegen. Im religiösen Gemüt aber ist zugleich selbst die schlechthinnige, geschichtliche Kraft'' lebendig. Kräfte sind für Yorck nicht Wesenheiten, die in und durch die Menschen hindurchwirken, sondern die Person (z.B. Luthers) selbst i s t in ihrem Wesen eine solche Kraft, und in dieser Kraft Hegt ihr Wesen. Gegen Diltheys „objektiven Idealismus" stellt Yorck nicht etwa einen subjektiven, sondern einen „religiösen Personalismus" (und „christlichen Empirismus"), der in das von Dilthey entworfene Schema der Weltanschauungen nicht paßt.

ZITIERTE WERKE 1. B r i e f w e c h s e l zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, herausgegeben von Sigrid von der Schulenburg, Halle 1923 (abgekürzt: B). 2. I t a l i e n i s c h e s T a g e b u c h , herausgegeben von Sigrid von der Schulenburg, Darmstadt 1927, 2. Aufl. Leipzig 1939 (abgekürzt: T). 29

3. K l e i n - O e l s , 1816-1871, ohne Ort und Jahreszahl als Manuskript gedruckt, herausgegeben von Lulu v. Katte, geb. Yorck von Wartenburg (abgekürzt: Klein-Oels). 4. Fritz K a u f m a n n , die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg, in: Jahrbuch f. Philosophie und phänomenologische Forschung, 9.Bd., Halle 1928, S. 1-253 (abgekürzt: K). 5. Graf Paul Yorck von Wartenburg, H e r a k l i t , unveröffentlichtes Fragment aus dem Nachlaß (abgekürzt: H). 6. W i l h e l m D i l t h e y , Gesammelte Schriften, Leipzig 1913f. (abgekürzt: GS).

ZEICHEN 1. Kursiv: Zusätze des Herausgebers zum Text des Ms. 2. Runde Klammern: Nebensätze, die zur leichteren Lesbarkeit zunächst überschlagen werden können. 3. Eckige Klammern: Worte und Satzteile, die infolge der vom Bearbeiter vorgenommenen Veränderungen in Wegfall kommen müssen. a 4. verweist auf Textvarianten und Korrekturen bzw. auf bereits im Ms. vorhandene Anmerkungen Yorcks. 4 5. verweist auf Anmerkungen des Herausgebers im Anhang.

ZUR DATIERUNG DES NACHLASSFRAGMENTES Anhaltspunkte zur Datierung der beiden abschriftlich erhaltenen Fragmente ergeben sich aus dem Briefwechsel Yorcks mit Dilthey. Immer wieder hat Dilthey den Freund gemahnt, doch endlich seine Gedanken zu Papier zu bringen „und sie den Freunden und der Welt zu genießen zu geben" (B, S.52). Deutliche Hinweise auf eigene Arbeiten Yorcks finden sich nur in den Briefen vom 17. 12. 1890, wo es sich jedoch um die 30

Arbeit zur Schulreform handelt, vom 9. 2. 1892, vom 30. 11. 1896, vom 8. 3. 1897 und vom 1. 7. des gleichen Jahres. Bei dem Brief vom 9. 2. 1892 möchte ich annehmen, daß auf die Arbeiten am vorliegenden Fragment angespielt wird, in dem die Raumfrage eine sehr große Rolle spielt. Der Satz „die Raumfrage führte mich zu Stumpf. . ." (B, S. 138) deutet darauf hin, daß sich Yorck damals schon mit dem Problem beschäftigte. Erst über vier Jahre später wird wieder ausdrücklich eigene Arbeit erwähnt. Aber die dazwischenliegenden Briefe zeigen inhaltlich mit Themen des vorliegenden Fragmentes so viel Übereinstimmungen, daß angenommen werden kann, es sei zumindest an dem begonnenen Manuskript weitergedacht worden (vgl. besonders die Briefe vom 15. 12. 1894 und vom 21. 10. 1895). Bei der Ende 1896 erwähnten Arbeit handelt es sich - wie aus der Antwort Diltheys zu entnehmen ist - um den „Heraklit". Daß Yorck sich mit diesem Thema beschäftigt, wird auch aus dem Brief vom 8. 3. 1897 deutlich, in dem es heißt: „Warum war Heraklit für die Stoa verwertbar? Wie konnte z.B. Sextus Heraklits Fragmente mit stoischem Referate umfüllen? stoisch alterieren ?" Das sind aber genau die Fragen, die Yorck in seiner Heraklit-Arbeit zu beantworten sucht. Wenn Yorck jedoch am 1. Juli des gleichen Jahres dem Freunde schreibt: „Ich wollte Ihnen eine, wenn noch nicht beendete, so doch dem Ende sich nahende Arbeit vorlesen, die doch den Umfang eines Büchleins erreicht hat. Gerade an dem Punkte wesentlicher Ausführung brach ich zusammen" (B, S. 243f.), dann ist nicht so sicher zu sagen, daß es sich hier um den „Heraklit" handelt, wie die Herausgeberin (S.270) meint. Im gleichen Brief heißt es nämlich: „Immer mehr wird mir klar, daß mit der Kritik des Raumproblems Ernst zu machen ist. . . Kant hierfür ganz bedeutungslos . . . " (B, S.244). Daraus muß geschlossen werden, daß sich Yorck entweder in der erwähnten Arbeit (die dann unser Manuskript wäre) bereits mit dem Problem des Raums (das ihn ja mindestens seit 1892 schon beschäftigte) befaßt hat, oder jedenfalls in den folgenden letzten beiden Monaten seines Lebens sich diesem Thema vorwiegend gewidmet hat. Andererseits träfe 31

der Hinweis auf das Abbrechen am entscheidenden Punkt viel besser auf das vorliegende Manuskript zu als auf die HeraklitArbeit, die zwar ebenfalls nicht ganz vollendet, aber doch weit gerundeter und geschlossener ist. Da Yorck schon diesen letzten Brief vom 1. Juli mit Rücksicht auf seine Herzkrankheit abbrechen mußte, und da in der Familie überliefert ist, wie schwer er in den letzten Wochen seines Lebens gelitten hat, ist es denkbar, daß die Arbeit an beiden Manuskripten schon im Juli eingestellt werden mußte, dann aber könnte sich Yorcks Hinweis nur auf unser Fragment beziehen. Als Ergebnis stellen wir fest: Beide Nachlaßfragmente sind in den letzten Monaten von Yorcks Leben - namentlich im Jahre 1897 - entstanden. Der Problemkreis des vorliegenden Manuskriptes hat Yorck aber schon seit Jahren beschäftigt, wie aus den thematischen Übereinstimmungen zwischen diesem Fragment und den Briefen seit 1892 hervorgeht. Die Arbeit am Heraklitfragment wurde später aufgenommen und von Ende 1896 an in raschem Wurf fast zu Ende gebracht. Bei der von vornherein begrenzten Fragestellung dieser Studie war das auch viel leichter möglich als bei der umfassenderen und prinzipielleren Arbeit an dem vorliegenden Manuskript. Die Hinweise auf das Raumproblem in den letzten Briefen machen es jedoch wahrscheinlich, daß auch die Arbeit an unserem Fragment noch in den letzten Monaten fortgeführt wurde.

ZUSTAND DES MANUSKRIPTES Das von Schreiberhand mit Feder angefertige Manuskript ist auf 109 doppelt beschriebenen Bogen (Wasserzeichen: Papierfabrik Sagrau Normal 3 a) und einem zusätzlichen Bogen (Anhang) niedergelegt. Links ist ein 7 bis 8 cm breiter Rand gelassen, auf dem verschiedentlich sachliche Randbemerkungen von gleicher Hand hinzugesetzt sind. Diese Randbemerkungen sind im Druck am unteren Zeilenrand mit entsprechenden Verweisen angeführt. 32

Fragment aus dem philosophischen Nachlaß

l a Selbstbesinnung eröffnet Epochen der Philosophie [inaugurierend], so Sokrates, so Descartes. Sie bedeutet die Reaktion der Lebendigkeit gegen eine Denkweise, welche den Erkenntnisanforderungen nicht genügt. Im Rückgang auf die Fülle der Lebendigkeit vollzieht sich philosophischer Fortschritt. Insofern ist Philosophie in eminentem Verstände empirischer Art, indem [zur Geltung gebracht wird] eine neue Seite des Selbstbefundes1 durch sie zur Geltung gebracht wird. Die Haltung ist hiernach eine verschiedene und die allgemeine Aufgabe, das allgemeine Motiv der Philosophie, welches in dem totalen und radikalen Erkennenwollen besteht, bleibt zwar immer das nämliche, wird aber verschieden artikuliert. Anders ist die Stellung und, als a davon abhängig, die Methode eines Demokrit und eines Piaton, eines Locke und eines Schelling. Diese augenfällige Verschiedenheit des Ausgangspunktes und des Verfahrens in einen erkennbaren Konnex zu bringen, ist das Problem einer philosophischen Geschichte der Philosophie. Dieses Problem, welches selbst seine Geschichte hat, (denn von dem griechischen Denken ist es nicht gestellt worden, wie es denn einer besonderen Bewußtseinsstellung, welche nicht mehr die griechische war, seinen Ursprung verdankt,) ist auf verschiedene Weise je nach der Verschiedenheit der Denkrichtung in Angriff genommen l b worden1·. Dem von der kirchlichen Idee bestimmten Denken erschien der geschichtliche Zusammenhang der Erkenntnisversuche als

3

a

Statt „ala" durchgestrichen: „was."

b

Hinter „worden" durchgestrichen: „ist."

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ein Wertsverhältnis der größeren oder geringeren Annäherung an die offenbarte Wahrheit, so daß sich ein historisches Wahrheitsbild ergab, dessen geschichtlicher Stoff der inneren Geschichtlichkeit ermangelte. Dieser hierarchische Wahrheitsverband der Erkenntnis stellt sich dar als Applikation der zum Schema verblaßten antiken kosmischen Idee auf die Geschichtlichkeit. Wie die Historie im allgemeinen mittelst der (wie natürlich primären so insbesondere) dem antiken Denken entnommenen Vorstellungsweise unter dem Bilde eines der zufälligen Wandelbarkeit übergeordneten, sie normierenden ordo aufgefaßt wird, (eine Anschauungsweise, welche die griechische Gestalt mit dem römischen Rechtsbegriff zu dem Gedanken des Reichs2 verbindet,) so wurde die auf das Erkennen gerichtete Seite des geschichtlichen Verhaltens in den entsprechenden Verband der Wertslokalisation gestellt, ein historisches Analogon der intellektuellen und ontischen Lokalisation Aristotelischer Systematik3. Ein historischer Kosmos wird als allumfassende Entelechie hingestellt und die geschichtliche Bewegung wie die psychische innerhalb der griechischen Weltgestalt fluktuiert innerhalb 2 a der äternen Ordnung, so daß die Geschichtlichkeit allgemein gefaßt ihre Endschaft mit dem Eintritte derselben erreicht. Von diesem Standpunkte aus gab es eigentlich nur Vorgeschichte4, welche rückwärts konstruiert als eine fortschreitende Annäherung an den Idealzustand gefaßt wurde. Sie ist das Machwerk des historischen Demiurgen, dessen πρόνοια die Stufen der Wahrheitsoffenbarung abmißt. Nach der Wahrheitsvollendung, welche, eine Synkrasis der Gräzität und Latinität, in eins als Institution und als Erkenntnis gefaßt wird, gibt es nur noch eine Geschichte für den Einzelnen, deren Inhalt die Verhältnisbestimmung zu der geschichtlichen ουσία, zu der wahrgewordenen Geschichtlichkeit bildet. Es ist ersichtlich, daß die Geschichte hiermit Natur geworden ist5, jedoch nicht ohne daß die Unvereinbarkeit der Elemente dieser historischen Gestalt als lebendiger Pulsschlag der Zeit sich fühlbar gemacht hätte. Denn wesenhaft geschichtlich ist der christliche Standpunkt, weil absolute Lebendigkeit und daher jeglicher Gestaltung optischer oder 34

juridischer Natur inadaequat6. Diese Unvergleichbarkeita, psychisch gegründet und darum unüberwindbar, ist das mittelalterliche Lebensferment. Ikonoklastisch7 sind die tiefen oppositionellen Regungen nicht minder der Ordensstifter 2 b und der Mystiker wie der Nominalisten. Diese Synthesis des vorchristlichen und des christlichen Bewußtseins aber ist andererseits die charakteristische Physiognomie des Mittelalters und darin originiert der Zauber seines Wesens. Der Versuch der Gestaltung des Formlosen, der Rationalisierung des Gemüts wie umgekehrt der Flüssigmachung, Beseelung des Ontischen, Mystifikation der ratio, sowie die Tatsache daß der Verstand, dem mit der natürlichen Welt Grundlage und Kontrollinstanz (ein konstitutiver Faktor), genommen wurde, sich selbst zum Rätsel, zum Mysterium wird, dies magische Verhalten kann als der Geist mittelalterlicher Zeit ausgesprochen werden. Die Diskrepanz der Glieder dieser Synthesis, nie nichtb vorhanden, sprengte nun gleich dem erstarkten Kerne einer Pflanze die Bande der Bewußtseinsgestalt, ein lebendiger Akt, dessen Eintritt aus den Motiven verstanden, nicht aber deduziert werden kann. Diese neue Bewußtseinsphase heißt der Eintritt der modernen Geschichte. Den darin befaßten verschiedenen Strebungen gemeinsam ist die Ikonoklasie. Eine tiefe Tragik enthält die Wendung des Bewußtseins, welches von der physischen Gegebenheit historischer Weltgestalt abzulassen, den Glauben zu wechseln genötigt ist. Das gebundene Bewußtsein löst sich, vollzieht ein weiteres Urteil, wie denn die 3 a kritischen Epochen der Geschichte nichts anderes als Stellungsänderungen des Bewußtseins sind, deren formale Seite sich als ein analytischer Akt, als reale Urteilung darstellt8. Den um jene Zeitwende Lebenden muß zumute gewesen sein, als ob der Boden unter ihren Füßen wiche, und die Erwartung des nahen Endes, welche die europäische Menschheit durchzitterte, war die naturgemäße Projektion der totalen 8 b



Vielleicht statt: „Unvereinbarkeit". Statt „nicht" durchgestrichen: „recht".

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Entwertung der allein hergebrachten Bewußtseinsgestalt. Die Menschheit, insofern sie historisch geartet ist, fühlte sich an den Anfang gestellt, außer Verband und vereinzelt. Alle göttliche Gestalt des Imperiums, der Hierarchie, der Dogmatik, der Systematik war mit dem sie tragenden Bewußtsein versunken, eine historische Götterdämmerung eingetreten. Diese allgemeine Negativität gegenüber der geschichtlichen Glaubensgestalt umspannt die Differenzen der Renaissance und der Reformation und bestimmt, unbeschadet der aus jener Differenz resultierenden Verschiedenheit, die geschichtliche Stellung und damit die Auffassung der Geschichte, insbesondere der Geschichte der Erkenntnis. Wie denn die Auffassung dieser Seite des geschichtlichen Lebens aus der Ansicht von der Geschichte überhaupt abfolgt, welche ihrerseits durch die besondere jeweilige Bewußt- 3 b seinsstellung bedingt ist. Es ist daher erforderlich, die Bewußtseinszuständlichkeit zu skizzieren, um Einsicht in die Stellung zur Geschichte , um Wertung des Geschichtlichen zu gewinnen. Denn Geschichte ist nicht von der Selbständigkeit des Natürlichen, sondern gerade insofern sie geschichtlich ist, gerade ihre Historizität als Ferment der Lebendigkeit, ist hineinbezogen in die historische Bewußtseinsaktualität historischer Contraposto8·9. Der Grundzug nun des modernen Bewußtseins ist nach der theoretischen Seite als Voraussetzungslosigkeit zu bestimmen, eine Folge der Zersetzung jeder Glaubensgestalt. Hier ist die Geburtsstätte der Kritik, welche in eminentem Sinne eine moderne Erscheinung, nicht eine optisch kontemplative Tätigkeit, da die Bildlichkeit der Opsis hinweggefallen, sondern ein schöpferisches Verhalten ist. Diese Stellung, auf die Zentralität des Menschen bezogen, ist das Wesen der Reformation, insbesondere der tiefsten Gestalt derselben, das Wesen Luthers. Wäre nicht nach der Gegebenheit des Bewußtseins (, welche nur die Phantasie überfliegen zu können meint, indem sie Provenienzen dieses empirischen Befundes, sie isolierend und verabsolutierend, heraushebt,) die christliche Bewußtseinsa

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Die letzten beiden Worte am unteren Rande ergänzt.

Stellung die extreme oder die intimste, eine neue Religion hätte entstehen können, während nunmehr die tiefste mögliche Abstraktion von der Gegebenheit erreichbar war und erreicht wurde, indem das bisher gestaltlich 4 a gebundene Element in seiner reinen Natur als radikale Kraft heraustrat. Als hinter allem Wissen (, welches in den ontischen Formen antiker Hinterlassenschaft hinfällig geworden war, gerade infolge der immanenten Kritik des wesentlich unirdischen christlichen Standpunktes,) hegend ergab sich die Glaubensstellung, aber eines kritischen und virtuellen Glaubens als eines Verhältnisses nicht mehr zu irgend einer Vorstellungsgegebenheit, sondern als eines lebendigen Absehens von aller Gegebenheit, ein tatsächliches hinter sich Zurück, ein von sich Absehen, ein Mystizismus der Kraft. [aNur ein aktives Verhalten vermag hinter das Leben zu kommen, während die substanziale Abstraktion des Buddhismus wie auch der Stoa den Umkreis der Gegebenheit ebensowenig verlassen wie die Punktualität des Zentrums die Peripherie. Es zeugt von einer totalen Verkennung der christlichen Bewußtseinsstellung, wenn die Gleichheit einzelner Vorschriften, insbesondere ethischer Verhaltensmaßregeln zu der Annahme wesentlicher Ähnlichkeit buddhistischen und christlichen religiösen Verhaltens veranlaßt, ein Irrtum, der durch die mangelnde psychologische Analysis der Lehr- und Gemeingestalt des Christentums wie andererseits durch Außerachtlassung der Erkenntnisregel, daß historische Mächte nicht optisch, 4 b sondern6 durch den Rückgang von der Wirkung auf die Ursache, mittels psychischen Experiments, erreichbar sind, befördert wird10. Wir haben es hier nicht mit dem Christentum als Religion zu tun, sondern mit ihm als Bewußtseinsverfassung, welche Betrachtungsweise nur deshalb scharf zu betonen ist, weil bisher neben der religiösen Bedeutung nur die kulturelle Seite nicht ohne Unsicherheit und Unbestimmtheit des Ergebnisses hervorgehoben worden ist. Nur Schelling 8 b

Am Rande durchgestrichen: „Anmerkung." Am Rande durchgestrichen: „Fortsetzung der Anmerkung."

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hat in großartiger Weise den zu wenig gekannten Versuch gemacht, die christliche Bewußtseinsstellung zu bestimmen, allerdings - und dies erklärt die wissenschaftliche Fruchtlosigkeit seines tiefsinnigen Bemühens - von metaphysischen Daten aus in Form einer Konstruktion.] 11 a Eine kritische Philosophie aber gelangt mit der Einsicht in die Provenienz des an sich Ersten zu dem Verzicht auf ein gedankliches Zurückgehen hinter die empirische Gegebenheit des Selbstbewußtseins und eine[r] b Konstruktion der primären Einheitlichkeit aus (durch Abstraktion gewonnenen) Teilinhalten. Empirisch in ihrem Ausgangspunkte, ist sie experimentell in ihrer Methode und neben einer größeren menschlichen Aufgabe ist ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften das des Gewissens. Es wird daher der Umkreis der Gegebenheit auch bei der philosophischen Betrachtung der Christlichkeit nicht zu überschreiten sein, 5 a aber bei der zentralen Tiefe dieser Bewußtseinsstellung die ganze Wesentlichkeit des Bewußtseins in Betracht zu ziehen sein, auch wenn (wie an dieser einleitenden Stelle und bei dem besonderen Zwecke der Betrachtung) nur umrißweise verfahren werden kann. Die primäre und ausschließliche Gegebenheit ist Selbstbewußtsein und zwar, wenngleich dirimiert in Selbst und Anderes, Seele und Leib, Ich und Welt, Inneres und Äußeres, doch als Gegensätzlichkeit und Gegliedertheit in eins. Es erfährt sich aber das Selbstbewußtsein in dem Spiel und Widerspiel dieser seiner konstitutiven Faktoren, d.h. als ein Lebendiges. Die Lebendigkeit ist die Grund Verfassung, welcher die Momente des Seins (Sein ist ein Lebensergebnis) 012 und der Kraft zu Grunde liegen. Dies lebendige Verhalten ist der Typus allen Experiments, welches eine kunstvolle und unter den Gesichtspunkt einer bestimmten Absichtlichkeit gestellte Projektion des primären eigenen Verhaltens ist, wie auch die Duplizität der experimentellen Faktoren der Zwiespältigkeit des Bewußta

Am Rande durchgestrichen: „Fortsetzung des Textes". „r" dazugeflickt. c Klammern bei Yorck am Rande neben der Zeile: „die Monate des Seins . . . " 6

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seins entspringt. Spontaneität und Dependenz sind die Grundcharaktere des Bewußtseins, konstitutiv in dem Bereiche der somatischen wie der psychischen Artikulation, wie denn weder [ein] Sehen und körperliches Empfinden noch [ein] Vorstellen, Wollen oder Fühlen ohne Gegenständlichkeit vorhanden wäre. Nun aber bewegt sich unser Denken in Bewußtseinsresultaten. Die vollzogene Diremption ist [jener] die Voraussetzung derselben. Es bedarf daher 5 b des Zurücktuns des Schritts der Abstraktion, um Einsicht zu gewinnen in das reale Verhältnis, welches die tiefste und lebendigste der logischen Kategorien, die der Wechselwirkung, widerspiegelt. Wir müssen das Experiment des Lebens, wenn auch kontemplativ in umgekehrter Richtung wiederholen, um die Bedingungsverhältnisse der Lebensresultate zu erkennen, wie denn dies die Richtung ist, welche sich uns als die der Wissenschaft überhaupt darstellen wird, auch da, wo sie Metaphysik (, d.h. nicht nur die Haltung des Erkenntnissuchenden, sondern die analytischen Bestände ethisch formulierend) wara. So muß das Denken hinter sich selbst zu kommen suchen, mittelst der Analysis seiner Bestandteile, durch Zerlegung in die konkurrierenden Faktoren, ohne deren Kooperanz ich das zu untersuchende Verhalten nicht erfahre, nicht so, daß ihre Konkordanz aus der Übereinstimmung bei allen beobachteten Fällen als erforderlich erschlossen würde, sondern daß das Selbstexperiment die psychische Unvermeidlichkeit, den Sitz aller Notwendigkeit aufweist. Die Analysis auf Grund der Selbstbeobachtung, das aktive Verhalten, welches seiner Richtung nach Einkehr ist, seiner Artung nach Trennung, ist das philosophische und ist es trotz der Verschiedenheit der Stellungnahme des Erkennenwollenden stets gewesen, wenn auch die Verhaltung selbst nicht zur Erkenntnis gebracht worden ist. Diesem rückblickenden (, Rückhalt und Kontrolle an der psychischen Ausführbarkeit findenden,) Verfahren stellt sich, wenn es zu Ende geführt wird, die ganze Tiefe und Verzweigta

Von „auch da" an am Rande in Klammern ergänzt.

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heit des Bedingungskomplexes dar und damit 6 ® der Einblick in das Verhältnis der Abhängigkeit der einzelnen Funktionen. Selbst ein lebendiges Verhalten und nur dadurch fähig, Leben zu erfassen, setzt es aber eine bestimmte Bewußtseinsstellung voraus 13 , wird innerhalb des generellen Rahmens psychischer Gegebenheit verschieden geartet sein bei Verschiedenheit der Bewußtseinsgestaltung und in seiner Differenzierung sich aus jener erklären lassen. Denn Philosophieren ist eine Äußerung der Lebendigkeit und zwar, wie ersichtlich sein wird, die feinste weil abstrakteste Marke der jeweiligen Bewußtseinsgestalt. Es kann hier nur angedeutet werden, wie hiernach neben die Philosophik, welche das von dem allgemeinen Erkenntniszwecke diktierte Verfahren darstellt, eine geschichtliche Betrachtung, eine philosophische Historik, sich stellt, welche, einesteils von negativer Art, den Umkreis der psychischen Möglichkeit der Bewußtseinsstellungen, (und damit der philosophischen Voraussetzungen und Standpunkte, eine Art von Philosophie der Geschichte, gleichsam eine natürliche Geschichte, eine Psychologie der Geschichte,) anderenteils eine Geschichte der Philosophie (, d.h. eine Darstellung der historisch gewordenen philosophischen Einzelmotive als Äußerung bestimmter Bewußtseinsstellungen) zum Inhalte hat, und die darstellt, wie diese Trennungen [zur Einigung gelangen] in der Erkenntnis der inneren β1» Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins zur Einigung gelangen14. Es kann dies hier nicht weiter verfolgt werden, wo das Wesen des Selbstbewußtseins kurz dargestellt werden soll, um die Stellung des Christentums und demzufolge der Reformation innerhalb desselben verständlich zu machen. Beobachtung und Selbstexperiment der durch die psychische Konnexität beschränkten Möglichkeit des Experimentierens, vorzüglich die Beobachtung des Experiments des Lebens selbst, bringt, wie gesagt, die Einheitlichkeit der artikulierten Bewußtheit wie andererseits die konstitutionelle Differenziertheit desselben zur Erkenntnis. Und der Erkenntnisvorgang erweist sich als in dem Verhältnis der Kontraerität stehend zu dem LebensVorgänge. Da aber jener selbst ein 40

lebendiges Verhalten ist, so ist damit das Leben gegen sich selbst gekehrt, das heißt der Vorgang ist der der Reflexion. Ziel und Absicht ist die Vereinheitlichung der Differenziertheit, Haltung und Mittel die Abstraktion, die Haltung hiernach im Ansätze eine ethische, woraus sich die ethische Seite des Rationalismus erklärt. Die primäre Lebendigkeit zeigt sich der Beobachtung als eine zwiefache Diremption in die Gegensätzlichkeit und in die Verschiedenheit, so daß jener Charakter der Gegensätzlichkeit die Glieder der Artikulation bestimmend durchzieht. Das letzte fundamentale Datum der Gegebenheit, von dem gedanklich nicht mehr anders als rein formal abgesehen werden kann, 7 a das Lebensgefühl, ist durch den Gegensatz von a Selbst und Anderem bestimmt. Nur mittelst des Anderen ist das Selbst, wie b nur mittelst des Selbst der Andere ist, ein fundamentales Verhältnis, welches nur ein dem Begriffe nach metaphysisch tingiertes Denken zerreißt, indem es Bedingungsverhältnisse als Konstruktionsmomente ansieht [ansehend] und eines der Glieder dem anderen überordnet [überordnend]. Mit diesem Charakter der Zwiespältigkeit c soll übrigens nicht das Wesen des Bewußtseins oder das der Gefühlsseite desselben angegeben, vielmehr nur eine Beschreibung der charakteristischen Züge desselben gegeben sein. Denn die Frage nach dem Wesen des Bewußtseins oder des Gefühls ist an sich eine unkritische Hypertrophie, da die Kategorie des Wesens, diese tiefste logische Bestimmung, selbst erst aus der Gefühlsseite des Bewußtseins deriviert ist15. Es ist aber diese Bewußtseinsseite nicht ohne die psychophysische Artikulation Erfahrnis. Vielmehr erfahre ich mich in eins einheitlich und gegensätzlich, so in eins fühlend, denkend, wollend oder nach der physischen Seite empfindend, sehend, begehrend4. Die Trennung von Selbst und Anderem, Ich und Welt, Seele und Leib ist eine so frühe, ja so sehr gleichsam der erste Akt der Lebendigkeit, daß 8 b c d

„Von" durchgestrichen und durch „des" ersetzt. Nach: „wie," durchgestrichen: „das Selbst." Statt: „Zwiespältigkeit," durchgestrichen: „Gleichgültigkeit." Vor „begehrend" durchgestrichen: „wollen."

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diese 7 b Provenienzen als absolute Selbständigkeiten erscheinen und ihre Verhältnisbestimmung von hier aus gesucht wird. Nur eine aitiologische Betrachtung vermag, auch den ersten Schritt lebendiger Urteilung noch zurücktuend, die Dependenz der relativ selbständigen konstitutiven Momente zu ergreifen. Die moderne Physiologie16 hat auf der Grundlage Kants zu der Selbstbesinnung wesentlich beigetragen, indem sie, in Erweiterung des antiken Subjektivismus, nach welchem nur Begehren und Empfinden als von subjektiver Provenienz angesehen wurden, die gesamte Prädikatur der äußeren Gegebenheit der Subjektivität zugewiesen hat, auf der anderen Seite nur ein Ding an sich als Veranlassung, Reiz stehen lassend, zu dieser letzten Duplizität genötigt durch ihren experimentellen Charakter. [Während] Die philosophische Betrachtung erkennt dagegen in diesemBeziehungspunkte ein konstitutives Element des Bewußtseins [erkennt], welches nur ein ethisch und a somit im Gegensatze verbleibendes Denken und Besinnen abstrakt verselbständlicht, aitiologische Betrachtung aber, welche hinter die Projektion (, welche Wesen des Vorstellens ist,) blickt, alsein Moment der Gegensätzlichkeit faßt, welche der letzte Charakter des Bewußtseins ist. Wir werden an späterer Stelle anzuführen haben, wie z.B. Helmholtz die Widerständlichkeit als Voraussetzung der Gestaltsmathematik nachgewiesen hat 8 a und als eine philosophische Aufgabe den Einzelwissenschaften gegenüber die Aufdeckung der Kooperation aller oder mehrerer Bewußtseinsfaktoren bei Bildung der abstrakten Voraussetzungen der besonderen Wissenschaften auf Grund psychologischer Analysis bezeichnete [nachweisen] b , wo sich dann wiederum das Verhältnis dieser zu jenen b als ein konträres erweisen wird. Denn Abstraktion in fortschreitendem Maße und damit Arbeitsteilung ist die Art der Einzelwissenschaften, während Philosophie von jeher kombinatorisch war, wenn sie aber kritisch geklärt und darum empirisch im höchsten Verstände regressiv vnrd, die Lebensklimax zurücklegt und die 8 b

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Endung,, es" von ethisches durchgestrichen, „und" darübergeschrieben. „nachweisen" und „dieser zu jenen" darübergeschrieben.

bedingende Einheit als Grund der Ramiiikation ergreift und aufzeigt. So geht sie zurück hinter die primäre Gegensätzlichkeit, und dies Streben ist immer das ihre gewesen, nur die Art ist - wie schon erwähnt - je nach der Bewußtseinsstellung eine verschiedene gewesen. So hat sie lebendig hinter das Leben kommen wollen, hat des Lebens Leben sein wollen, ohne doch vor der christlichen Bewußtseinsstellung den Grad der Lebendigkeit zu erreichen, welcher partikularer Bewußtseinsbindung, das. bedeutet aller dogmatischen Haltung, ein Ende bereitet und damit a die volle Erkenntnis ermöglicht. Während die Okularität das griechische Denken bestimmt, woraus sich als Zentralbegriff jenes Philosophierens der der Substanz17 ergibt, der sich in dieb Unterschiede von Form und Materie entfaltet, während die innere Opsis die Bindungsverhältnisse des Erkennens (, die der tiefsinnigste 8 b der Denker, Piaton, aufdeckt,) zu Ideen verschönt, eine Denkweise, welche bestimmend bleibt auch für Aristoteles, dem trotz der Blutlosigkeit der infolge der Abstraktion des Intellektuellen von dem ästhetischen Gefühle zu Schemen gewordenen Ideen (darum ist Aristoteles der erste Wissenschaftler und nicht mehr ganzer Philosoph) doch die ontologische Glaubensstellung bleibt. Während diese Großen den Kosmos finden, weil sie an ihn glauben, gleichsam durch Anschauung gebunden, während die ihnen folgenden griechischen Denker, und zwar nicht minder die Skeptiker wie die Dogmatiker (, was an seinem Orte nachzuweisen sein wird-) ontisch voreingenommen bleiben, obschon mit verändertem Lebensgefühl der kosmische Syndesmos ihnen unglaubwürdig geworden ist, während die römische Gedankenarbeit unter dem Banne eines gleichsam isolierten Wollens stand ( - hier wie dort eine reale Dogmatik - eine präjudizielle Bewußtseinsbestimmtheit, welche das Denken richtete) , ist mit dem Christentum eine wesentlich transzendente Bewußtseinsstellung gewonnen und zwar von dem Grundfaktor, dem Gefühle aus. Die Stellung ist anstelle der metaphysischen eine transzendente. Denn das Gefühl, die a b

„und" später darübergeschrieben, nach „damit" „ist" durchgestrichen. „die" darübergeschrieben, „dem" durchgestrichen.

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zentrale Seite der Lebendigkeit, ist hier in sich, ja gegen sich gewandt und damit frei von aller Gegebenheit. 9 a Alle Metaphysik ist eine Äternisierung eines Bewußtseinsmoments, eine willentlich fixierte Position innerhalb des Bewußtseins, um von hier aus Stellung zu nehmen zu der gesamten übrigen Gegebenheit, eine Ausscheidung eines Bewußtseinselements, welches, der Relativität enthoben, isoliert wird18. Der Akt der metaphysischen Position ist sonach eine Urteilung, insofern die psychische Konnexität sich expliziert, und darum ein lebendiges Verhalten, wie denn alle Lebendigkeit eine Urteilung ist , aber er ist weiterhin (, und hierin erweist sich der nicht nur wie bei jedem Erkenntnisakte motivierende, sondern normierende Einfluß des Willens,) eine Zerreißung des Urteilsverbandes, indem von der Bewußtseinsprovenienz abstrahiert, die Prädikatur verabsolutiert wird, endlich aber ist er eine Veräußerlichung, eine Verselbständlichung a der Prädikatur mittelst optischer Projektion, Vorstellung, επιστήμη, sodaß sich das Resultat substanzieller Bestimmtheit als Niederschlag der Kooperation des Vorstellens und Wollens ergibt. Gerade dies Moment der optischen Neutralisierung, der psychischen Ferne ist es, welches den Konflikt zwischen Philosophie und Religion motiviert hat und die sich wiederholenden Vorwürfe resp. Anklagen des Atheismus der Philosophen erklärlich macht. Denn es ist die metaphysische und die religiöse Position eine sowohl der psychischen Provenienz nach ver 9 b schiedene als auch gegensätzliche. Dort eine Setzung der Willensenergie hinaus in den durch Abstraktion gleichsam leeren Vorstellungsraum, (ein Typus der Dinglichkeit,) hier Resultat der Willensohnmacht, Gefühlsbedürfnis, raumlos nahe Persönlichkeit1·. Während nun aber die Gegensätzlichkeit der willentlichen Haltung hier Selbstbehauptung - Ethik - , dort Selbsthingabe - Religion - das Verhältnis der Philosophie als Metaphysik und der Religion zu einem gegensätzlichen macht und „Verselbständlichkeit" — verbessert in Verselbständlichung. Mit Bleistift am Rande „Schleiermaoher", vermutlich von Sigrid v. d. Schulenburg. a

b

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den immanenten Widerspruch jeder natürlichen Religion als rationalen Systems konstituiert, so greift andererseits die Inkommensurabilität des Gefühls und der Vorstellung, insbesondere der Anschauung, in das Gebiet der Religion selbst ein. Zwar ist Religiosität als solche Handlung, Kultus, tatsächlicher und direkter Ausdruck der Gemütsbewegung, aber das Gemüt, das allerpersönlichste, ist persönlich gerichtet, und so ist die Gottesvorstellung, d.h. die Vorstellung des persönlichen Gottes, ein primäres Datum aller Religiosität. Und es ist diese Vorstellung, weil und insofern sie Gemütsergebnis und - Forderung ist, ebenso wenig oder nicht anders anthropopathisch als die Dinglichkeit des Vorstellungsinhalts. Insofern nun aber und in dem Grade als der Gemütsrapport zum selbständigen, selbstwertigen Vorstellungsinhalt gemacht wird, ( - Niederschlag des kulturellen Lebens zur Lehre -) 10 a wozu die sinjiliche Natur des Menschen und insbesondere das Mitteilungsbedürfnis veranlaßt, tritt die Inkommensurabilität von Gefühl und Vorstellung ein und damit das kritische Moment. Hier ist der Sitz des Gedankens des Symbols, welches die Kluft zwischen Fühlen und Vorstellen überbrücken soll, eine Synthesis ernstester Art und tiefen psychischen Grundes, welche im allgemeinen durch die Analogie zwischen Denken und Fühlen ermöglicht und gerechtfertigt wird19. Soweit das religiöse Verhalten der vorchristlichen Menschheit bekannt ist, ist es ausschließlich das jüdische religiöse Verhalten, welches der Aesthetisierung und damit Intellektualisierung der religiösen Daten widerstrebt hat. In dieser inneren Bilderlosigkeit spricht sich der großartige abstrakte Ernst dieser Bewußtseinsgestalt aus, welche den primären Grund aller Religiosität, das willentliche Dependenzverhältnis20 in abstrakter Reinheit konserviert ohne Artikulation durch die Sinnlichkeit, aber auch ohne Erfüllung des Gemüts Willen steht hier [stehend] gegen Willen [Wollen,] und das Verhältnis ist sonach das des Vertrags, hiermit aber zugleich [die] auch von starrer psychischer Einseitigkeit. Wie denn das religiöse Moment gleichsam gegenständlich fest, nicht eingegangen ist in die Intellektualität und sich in prohibitiven 46

Normen erschöpft hat, woraus sich der Verbalismus jüdischer Wissenschaft erklärt. Während in dem griechischen Kultus die Synthesis wirksam ist, welche in der 10b Idee des Kosmos21 manifest wird, während hier in der empfundenen und geglaubten realen Gestaltung der Fruchtboden und Hintergrund der Wissenschaft (, die eine Wirklichkeit, wie voraussetzt so ist,) gegeben ist, findet dort ein abstrakter moralischer Prozeß statt, dessen Niederschlag der Dekalog, von rein negativer Kraft, die Duplizität voraussetzend, weltfremd, aber nicht weltfrei ist. Und wie der charakteristische Ausdruck der religiösen, d.h. der radikalsten psychischen Verfassung sich als ein Resultat langer Entwicklung einstellt, wie aus der Fülle der Wirkung Licht auf die Ursache fällt, (welche lebendigem Erkenntnisverhalten aus jener klar wird,) so zeigt sich die Wurzel jüdischer Bewußtseinsstellung in dem Wortsein Gottes, in der λόγος-hehie des Philo, welcher die Sichtbarkeit und Sichtlichkeit des kosmischen Verhältnisses allegorisierend in verbalem Magismus auflöst22. Es ist bemerkt worden, daß die langjährige Landlosigkeit der Exilierten die Bodenlosigkeit des jüdischen Gottesbewußtseins zur Folge gehabt habe. Doch wirken derartige Ereignisse in solcher Weise nur bei Vorhandensein der psychischen Voraussetzungen23. Die Sage, welche historischen Wert trotz mangelnder historischer Wirklichkeit oder Beglaubtheit hat, läßt die Israeliten von vornherein nicht als autochthon auftreten, sondern das Land ihrer Wohnsitze erobern, läßt sie zur Einheit gebunden werden durch einen Willen, nicht durch ein natürliches Band. Aus der Uniformität 11a der Wüste bringen sie [mit] die Gestaltlosigkeit ihres Gottes mit. Und gerade diese, nicht erst kausierte, sondern originale Stellung zu Gott und Natur, diese Naturlosigkeit des nicht sichtbar, nur laut werdenden Gottes gewährt dem Jehovah die Universalität der Applikabilität (daher der Erfolg der jüdischen Propaganda in dem imperialistischen Rom.)a und seine reine Moralität, welche Abstraktion von jeder natürlichen Bedingtheit ist, a

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Inhalt der Klammer als Fußnote angeführt.

macht ihn fähig, der Anknüpfungspunkt für das christliche Bewußtsein zu sein. Nicht wie angenommen zu werden pflegt, ist es das monotheistische Moment, welches die Universalität zur Folge hat; denn diese Bestimmung ist nur ein formales Ergebnis (ethischer Provenienz,) der von der Verschiedentlichkeit sinnlich vermittelter Machterfahrnis (, Willensbegrenztheit) abstrahierenden Konzentration des Selbstbewußtseins und daher negativer Natur. Sondern von dem Wesen, dem Inhalte der Gottheit hängt ihre Propagationskraft ab. Ist doch der israelitische Gott nicht einmal der μόνος ·&εός, vielmehr der allein würdige Gott, der allein wahre. Und zwar ist das Kriterium seiner Wahrheit, der Rechtsgrund seines Machtanspruchs die Moralität des Gesetzes, wenngleich, wie nicht anders möglich, das religiöse Verhalten das Gesetz nach Inhalt und Form sowie in seiner verbindlichen Kraft auf den Willen Gottes zurückführt und gründet. Das eben ist das auszeichnende dieser religiösen Stellung, daß eine Urteilung des natürlicher Weise ungebrochenen Willens, ein Reflex desselben statt hat. l l b Auch die substanziellen Momente der Lustration werden in Abhängigkeit gestellt von der gesetzlichen Willensbestimmtheit. Aber die Willensbestimmtheit ist eine der Form nach äußerliche und eine partiale. Wenn Religion Gottesempfindung ist, so hegt hier innerhalb der Religiosität die stärkste Veräußerlichung vor. Die Moralität steht als Bindeglied zwischen Gott und dem Menschen, welcher seine Selbständigkeit festhält, die tiefste Marke der Tenazität des jüdischen Wesens. Das Wort 24 steht zwischen Gott und dem Geschöpf, und weil es verselbständlicht ist, in sich selbst Wert und Sinn hat, (so daß in dem Worte über das Wort Machen die jüdische Theologie besteht,) beschränkt es die Lebendigkeit der Gotteserfahrung. Gerade der Charakter moralischer Rationalität, welcher dem Dekalog universale Gültigkeit verleiht, begründet das antinomische Verhältnis des Gesetzes zu reiner Religiosität. Und die VerselbständJichung der sittlichen Norm, der Umstand, daß als stärre Gegenständlichkeit das Wort dem Leben gegenüber47

steht, weder im ontologischen noch psychologischen Kontakte, sondern als abstrakte Willensposition, bringt die unterschiedslose Schätzung der psychisch verschieden wertigen Vorschriften zuwege, da die Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen dem lebendigen Fühlen entwächst. Die μεσάτης des Gesetzes war wegen seiner transzendentalen Natur ein psychisches καταπέτασμαa. Der Charakter des 12 a Verbotes nun, die abstrakte Rationalität der Moral konnte ebensowenig wie der logische Rationalismus gestaltbildend sein. Und so ergibt sich aus solcher Bewußtseinsstellung die Natur der jüdischen Geschichte als einer Leidensgeschichte. Tätig allein und allein historisch ist der jüdische Gott. Die Geschichtlichkeit, welche unter den vorchristlichen Religionen das jüdische Bewußtsein auszeichnet, ist in Gott konzentriert. Bei ihm ist Gegenwart, Aktualität; dem Religiösen bleibt allein Zukunft, Hoffnung, Erwartung. Damit ist der psychische Zusammenhang zwischen impulsiven Motiven und Handlungen unterbrochen. Der Religiöse hat nur sich moralisch und kulturell zu adaptieren, um damit die göttliche Aktion zu provozieren. Eine moralische Substanzialität, welche die Aktivität (nicht negiert wie das indische Bewußtsein, aber) außer sich läßt. Diese Stellung konstituiert den Widerspruch der religiösen Zuständlichkeit und des weltgerichteten Handelns einzelner großer Persönlichkeiten. Hierin originiert der Gegensatz zwischen Priestertum und Königtum, der sich vertieft zu dem Gegensatz der Priester und der Propheten, welche unter dem Einflüsse des Leidens auf eineb innere Aktivität dringen, wie sie Träger derselben sind. Diese psychische Wendung, ein Extrem innerhalb der jüdischen Bewußtseinsstellung, 12 b wenn schon als Gegensatz in ihr beschlossen, eröffnet den a l l b Aus der Bewußtseinstellung erklären sich und wären zu erklären wie Art und Verhältnis aller historischen Selbstbetätigung insofern 12 a sie nicht willkürlich ist, so auch die wesentlichen Charaktere des Kultus. D a s Experiment der Selbsttransposition des Nacherlebnisses grenzt das Gebiet konstituierender [konstitutioneller] Motive gegen d a s dos σνμβεβηκός ab. (Anm. Yorcks). b „ e i n e " darübergeschrieben.

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Blick in die ganze Tiefe dieses Standpunktes, im eminenten Sinne die Geschichtlichkeit desselben ausmachend. Das primäre Prädikat und konstitutive Moment der Gottheit ist Allmacht. Der natürliche Mensch empfindet die physische3, Beschränktheit seiner Energie und zwar nicht nur dem einzelnen Widerstehenden gegenüber, sondern total. (Herder bemerkt irgendwo25 mit Recht, daß das Dunkel der Götter Voraussetzung sei, und die mythologische Bezeichnung der Nacht als der Mutter der Götter ist der Reflex psychischen Erfahrnisses. Nicht durch eine optisch artikulierte Einzelheit, vielmehr durch eine allgemeine Willensbindung, wie der natürliche Mensch sie zunächst durch die die primäre Aktion, die Bewegung, lähmende Dunkelheit erfährt, so daß seine physische Macht in Ohnmacht verkehrt ist, wird das Bewußtsein affiziert, woraus sich die Verbindung des Gottheitsgefühls mit den astralen Erscheinungen erklärt. Die Sonne insbesondere bestimmt, durch Auf- und Niedergang erhöhend oder mindernd, das Lebensgefühl und wird so κατ' εξοχήν das Subjekt des religiösen Satzes, der Träger der religiösen Empfindung.) Wie schon bemerkt, ist das primäre Machtverhältnis von Gott und Mensch von dem jüdischen Bewußtsein in abstrakter Reinheit festgehalten, dem Willensgebiete die religiöse Synthesis entnommen worden, ein [welches] Moment, das den Eindruck der zeitlichen Anfänglichkeit dieses religiösen Verhältnisses erklärt. Damit aber war die 13 a Tragik des Verlaufs der jüdischen Geschichte begründet. Nicht ein Zusammenschluß des Gottesund Menschenwillens, sondern eine Gegenüberstellung, eine Diremption des Bewußtseins hatte statt. Die Mittlerschaft des Gesetzes war keine Vermittlung, sondern ein Rechtsanspruch, welcher, wenn er erfüllt war, Gott verpflichtete, wie andererseits von seiner Erfüllung der Anspruch an Gott abhängig war. Denn die bindende Kraft des Gesetzes war nicht eine absolute, sondern die Forderung an Gott war des Gesetzes Halt. Inhalt dieser Forderung aber war Macht. Und so wurzelt auch die tt

4

statt „physische"—durchgestrichen: „psychische".

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moralische Vorschrift des Dekalogs in der Bewußtseinsseite des radikalen Wollens. Die Abhängigmachung des Machtanspruchs von der Entsinnlichung des Wollens aber ist die psychische Tiefe der jüdischen Bewußtseinsstellung. Zwischen radikale Anforderung und radikalen Wunsch gestellt, verbleibt das Bewußtsein in dem Zustand beständiger Spannung. Die Art der Bedingtheit, die [wie sie] den Willen reinigend bricht, macht [sie] ihn unfähig, die Wirklichkeit zu überwinden. Ja alles Befassen mit der Wirklichkeit erscheint als Unrecht, als verunreinigend» Gegenstand des Wollens ist nur die eigene Sinnlichkeit, Ziel nur die eigene Legalität. Wie nun dieses Verhalten die historische Machtlosigkeit des jüdischen Gemeinwesens zur Folge hatte, so andererseits die innerliche Mächtigkeit der Personalität, welche die Kraft des Leidens vertiefte und stärkte 13b. Die Unsinnlichkeit des Gesetzes hatte seine Unerfüllbarkeit zur Folge. Da nun aber an seine Erfüllung die Machtverheißung geknüpft war, Macht aber als das höchste Gut erschien, so blieb das höchste Gut stetig an der Stelle der Verheißung und damit Vergangenheit wie Gegenwart nur durch die Zukunft legitimiert und geschätzt. Während der griechische, metaphysisch gerichtete Geist von der Zeit abstrahiert, ist hier die Zeitlichkeit das bestimmende Moment, wie denn der nicht-aesthetische Charakter der jüdischen Denkweise sich schon in der Überordnung der Zeit über den Raum in der Genesis ausspricht. Aber das Moment der Zeit ist hier gleichsam in eine metaphysische Ferne gerückt, als Zukunft projiziert, deren Vergegenwärtigung lediglich Gott anheimfällt. So ist die Haltung des Bewußtseins die der Hoffnung. Der Messias, der nicht Erfüller des Gesetzes, sondern der Machtbringer der Verheißung® ist, wird erhofft. In dieser gleichsam linearen Tendenz bewegt sich die nationale Lebendigkeit. Das unweltliche Verhalten aber hat die Konsequenz, daß diese Hoffnung ohne Erfüllung bleibt, und damit ist die Leidensgeschichte des jüdischen Bewußtseins als eine tt

„der Verheißung" mit spitzer Feder und anderer Tinte (später) darübergeschrieben.

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Unvermeidlichkeit gegeben. Gott der Allmächtige erweist sich als nicht mächtig, denn b6i ihm allein ist es, zu handeln, und der Macht geben sollte, er hält sich stille, und andere Götter treten an seine Stelle. D a ist es nun die religiöse Reflexion der Prophetie a , welche das Leiden 14 a fruchtbar macht, indem jene Antinomie durch Rückgang auf die V o r a u s s e t z u n g der Verheißung gelöst, das Gesetz als Rechtsgrund des Machtanspruchs in Erinnerung gebracht1», der tiefe Standpunkt, wonach Sünde die Ursache von Übel und Tod ist, eingenommen und Gott aus dem Schuldnexus ausgesondert wird. Hier tritt die letzte Innerlichkeit innerhalb der jüdischen Bewußtseinsstellung zu Tage. Wie die mannigfaltige Widerständlichkeit ein konstitutives Moment jeder Entwicklung ist, so innerhalb der Gefühlssphäre Leiden und Schmerz 0 . Der durch das erfahrene Leid der Ohnmacht reflektierte Wille erreicht eine v o n der Natürlichkeit unabhängige Stärke. Der Gegensatz zwischen dem Anspruch und der Gegebenheit wird dahin überwunden, daß letztere als nicht sein sollende aufgehoben wird. Daher die großartige Souveränität und Welt-Einsamkeit der erhabenen prophetischen Gestalten, die von abstrakter und darum gesteigerter Kraft in und auf sich beruhen. Nicht daß der natürliche Zusammenhang zwischen Moral und Glückseligkeit, d.h. hier Macht, (diese der natürlichen Lebendigkeit ähnlich einem Denkgesetze unvermeidliche Verbindung,) aufgehoben wäre, die Willens-Tendenz bleibt vielmehr [bleibt] unverändert. Aber die mangelnde Glückseligkeit, der Schmerz des Unglücks wird zum Merkmale der Schuld, die mangelnde Legalität wird empfunden und damit die Legalität zur Moralität, d.h. zur persönlichen Kraft. U n d diese Verinnerlichung bringt die Unterscheidung 14 b zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem2® der Gesetzlichkeit mit sich und so gestaltet sich die prophetische Tätigkeit zu einer kritischen auch dem Gesetze 4 b c



Statt „Prophetie" durchgestrichen: „Propheten". Hinter „gebracht" durchgestrichen: „wird". Am Rande ergänzt.

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gegenüber. Eine Urteilung des Willens liegt der Wertsdifferenzierung zu Grunde. Eine Vergleichung dieser jüdischen mit der griechischen a Weisheit läßt die weltweite, weil psychisch basierte, Unterschiedenheit beider Bewußtseinsstellungen und das charakteristische Wesen ersterer erkennen. Hier wie dort das Streben, einen Rechtsgrund der gegebenen Lebendigkeit zu finden, wie denn dies die Abzweckung aller über das Psychische erhabenen Lebensarbeit ist. Während aber die Substanzialität der Gestalt und des Verhältnisses, die Idee des Kosmos, Gott und Gehalt der höheren griechischen Lebendigkeit ist, so hier die akosmische Betonung abstrakter Willensenergie. Dort kontemplative aeterne Gegenwärtigkeit, hier gespannte Aussicht nach unsichtbarer Zukünftigkeit. Dort Wissen und Wissenschaft, hier mit der radikalen Entwertung des Erkenntnisobjektes Glauben als persönlich gewordenes Postulat, dort freudige Breite und Fülle der Existentialität, hier gestaltlose Energie vorweggenommener Wirklichkeit. Der historische griechische Geist unterstellt den Begriff der Sünde dem der Unvollkommenheit, hier ist der Irrtum Folge der Sünde27. Dort sind die Grundverhältnisse der Natur unwandelbar, in sich sinnvoll und heilig, hier ein nützliches oder schädliches Machwerk des 15a Allmächtigen von innerer Leiblichkeit, hinfällig und verweslich wie der eigene Leib, die natürliche Gegebenheit zusammengefaßt in den Begriff des Instruments. Wem träte nicht diese höchste Äußerung des jüdischen Geistes als in dem psychischen Verhältnisse einer Prophetie auf das Christentum entgegen, ein psychisches Verhältnis, welches die Stellung und Verwendbarkeit dieser Bewußtseinsstellung innerhalb der Christlichkeit rechtfertigt. Das Wort des Gesetzes war Fleisch geworden, woraus sich die oppositionelle Stellung der Prophetie gegen das jüdische Gesamtbewußtsein erklärt. Aber eine lebendige historische Entwicklung, eben weil sie eine solche ist, verläuft nicht an der Kette des logischen Bandes, nach einem Verhältnisse, welches selbst erst in einer Seite der b

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Statt „griechischen" durchgestrichen: „christlichen".

komplexen Lebendigkeit originiert28. Vielmehr ist die christliche Bewußtseinsstellung, wenngleich vorbereitet durch historisch-psychische Erfahrnis ( - wofür die Schrift den schönen Ausdruck hat: als die Zeit erfüllet war - ) eine ganz originale und spontane. Wir sahen nämlich, daß das Ziel des Wollens auch in dem prophetischen Bewußtsein Wollensbetonung, Macht bleibt. Die Wirklichkeit bleibt somit eine äußerliche. Die Willenssinnlichkeit ist festgehalten, wenn auch vertagt. Anders ausgedrückt, der Glaube hat einen irdischen Inhalt. In diesem Punkte koinzidieren die Gegensätze des Priestertums und Schriftwissens und der Prophetie. Und dieses Macht bedürfnis ist ein so 15b wurzelhaftes, daß es jeder durch die äußere Gegebenheit aufgezwungenen Skepsis Stand hält. Die Skepsis war zu jener Zeit eine Weltmacht geworden. Die griechische Glaubensstellung hatte ihre Macht verloren, die kosmische Fassung des Rechtsgrundes der Lebendigkeit war unhaltbar geworden. An der Willenstenazität des Judentums brach sie sich unbeschadet ihres Einflusses auf einzelne Richtungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Hierfür ist Hiob ein Dokument von größter historischer Bedeutung. Die Diskrepanz zwischen Moralität und Glückseligkeit bildet den Gegenstand des Rechtsstreits. Das Erfahrnis (tiefster Schmerzhaftigkeit trotz des Bewußtseins strenger Moralität), daß die natürliche Korrespondenz zwischen Würdigkeit und Seligkeit, Leistung und Lohn, gleichsam das Gesetz moralischer Weltordnung, keine Gültigkeit habe, ist Veranlassung und Inhalt der dialektischen Auseinandersetzung. Die Lage Hiobs liefert die Prämisse zu dem Schlüsse, daß Recht und Macht nicht beieinander seien, daß Treu und Glauben Gott gegenüber nicht angebracht seien. „Ich rufe und es ist kein Recht da." „Bin ich fromm, so macht er mich doch zu Unrecht29." Diese Bewußtseinszwiespältigkeit, welche in einer an den Chorgesang des Sophokleischen Oedipus Coloneus sogar wörtlich anklingenden Lebensklage laut wird30, findet nicht im Fortgange zu Höherem, sondern im Rückgange zu der gesteigerten Energie des national 16a jüdischen Standpunktes ihre Lösung. Es ist die Macht der primären Willensposition, 53

welche die Skepsis abweist, während das gleichzeitige a griechische Bewußtsein von ihr durchsetzt wird. Nicht die dahin versuchte Lösung jener Antinomie, wonach das Gleichgewicht zwischen Frömmigkeit und Seligkeit, für das Individuum gestört, in der Abfolge der Geschlechter sich wiederherstellt, (eine Ansicht, welcher die natürliche Einheit des Geschlechtsbewußtseins, des noch nicht zur reinen Personalität Gediehenseins des Individuums zu Grunde liegt,) befriedigt, sondern nur Abweisung der Skepsis durch die Betonung der absoluten göttlichen Allmacht. „Wer kann den Donner seiner Macht verstehen1?" Es wird niemand gestattet, daß er mit Gott rechte. Die Allmacht kann nicht beurteilt, daher auch nicht des Unrechts geziehen werden. Wer hat Gott b etwas zuvorgetan, daß er es ihm vergelte ? Die Haltung des Menschen ist daher ausschließlich die Hoffnung, die dann c am Schlüsse der Erzählung Gott nach seiner Machtd rechtfertigt durch Zuteilung irdischer Gabenfülle. Die jüdische Bewußtseinsstellung ist somit hier ebensowenig verlassen wie innerhalb der Prophetie, und als ein N e u e s tritt die christliche Bewußtseinsstellung ein. Es ist hier nicht der Ort, nachzuweisen, daß in dem Umkreise der psychischen Möglichkeit (, welche eine feste Gegebenheit ist, über welche hinausgehen zu wollen ein nur kritikloser Phantastik erreichbar erscheinendes Unterfangen sein würde, wie damit alle[r] auch jede 16b historische Erkenntnismöglichkeit hinwegfallen würde,) alle Bewußtseinsstellungen radikaler Art bis auf die letzte eingenommen worden waren, als das Christentum eintrat31. Es würde diese psychologische Erhellung des Worts von dem Erfülltsein der Zeit eine eigene Untersuchung bilden und erheblichen Raum beanspruchen. Hier ist nur eine kurze Orientierung am Orte. Wie auf Grund psycho-physischer Präformation die Lebendigkeit sich differenziert, und in der Diremption sich bea b 0 Λ

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„gleichzeitige" mit anderer Tinte darübergeschrieben. I m Ms: „ G o t t e " (sie!). „dann" korrigiert in „denn". Statt „Macht" durchgestrichen „Weise".

hauptet, so wiederholt das willentliche Verhalten, welches spontan, nicht aber frei ist, diese primären Akte der Lebendigkeit in den Verhaltungen der Abstraktion und Kombination, deren Voraussetzung die gegebene und auf Grund der Gegebenheit steigerbare relative Independenz der Artikulationen der Sinnlichkeit ist, welche hiermit als eine Prädestination zur Freiheit sich darstellt. Die Gelenkigkeit der Abstraktion» (Scharfsinn), verbunden mit der Elastizität der Kombination, ist das, was man Geist nennt, und wo die einheitliche Lebendigkeit in dem kombinatorischen Bezüge aufblitzt, spricht man von Geistesfülle oder Tiefsinn. Und während die Wissenschaft 0 sich verselbständlicht in der Richtung fortgesetzter Abstraktion, welche bei dem konkreten Charakter einiger der radikalen Funktionen über die primäre lebendige Ramifikation hinausgeht, so daß zu den gleichsam natürlichen Abstraktis Abstrakta zweiten Grades (als Ergebnisse einer künstlichen Analysis, welche nichtsdestoweniger in der Gegebenheit gegründet ist,) treten, ist es die 17 a Poesie und darin ihr verwandt die Philosophie, welche in dem Gesonderten - denn darin ist sie wie jede Expektoration des Selbstbewußtseins gebunden die Fülle der Lebendigkeit manifestiert und damit den Sinn und die Bedeutung allen geistigen Strebens ausspricht. Doch kann dies hier nicht weiter verfolgt werden. Der Umstand, daß [die] Urteilung und Kombination primäre lebendige Verhaltungen sind, welche in willentlicher, ja willkürlicher Wiederholung die intellektuelle Tätigkeit bestimmen, erklärt die zwingende Kraft der logischen Funktionen und erhellt so den Grund der logischen Notwendigkeit. Verständlich und begründet erscheint hiernach die von den Voraristotelikern behebte Zuweisung der Logik in weiterem Sinne zu der Physik. Die Verhaltungen des a

Nach

„Abstraktion" durchgestrichen: „Verbunden". Klammer

bei

Yorck. b

Neben den Zeilen von „die Wissenschaft" . . bis „Ramifikation hinaus-

g e h t " am Rande die Notiz: „ N . B . Einzelwissenschaften n i c h t im Altertume, wenn auch technische Trennungen. Jene nur, wo Wissenschaft praktisch."

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Denkens sind, nach antiker Anschauungsweise ausgedrückt, abbildlicher Art. Wie nun aber die Individuen verschiedentlich begabt sind, wenngleich innerhalb der nämlichen Grundbestimmtheit, so stellen sich im Laufe der Geschichte verschieden beanlagte Nationen dar, von denen aber nur diejenigen Geschichtlichkeit beanspruchen können, deren besondere Anlage Effekt einer radikalen Urteilung ist. Nur diese sind die Helden Völker32. Hiermit ist gewissermaßen ein geschichtlicher Naturboden gegeben. Die Möglichkeit der Stellungnahme, der Anlagen in diesem radikalen Sinne aber ist psychisch beschränkt. Vorstellen, Wollen, Empfinden erfüllen den 17 b Umkreis der historischen Möglichkeit33. Wird nun das Vorstellen sozusagen in die geschichtliche Potenz erhoben, ist es das prinzipale Organ der nationalen Lebendigkeit, so bestimmt es alle die physische Basis überragende Tätigkeit. Aus dieser zentralen Stellung allein können die verschiedenen Äußerungen des betreffenden, um dieser seiner Anlage willen typischen Volks verstanden werden. Um mit dem Tiefsten zu beginnen, mit der in und mit der Empfindung gegebenen Religiosität, so ist sie zwar, insofern und weil sie wurzelhaft bestimmt ist, überall die nämliche, hegt den Verschiedenheiten die Gemeinsamkeit als abstrakte Realität zu Grunde, ein Verhältnis, welches als Naturreligion bestimmt werden kann (, wenn im Auge behalten wird, daß dieser Terminus seitens eines rationalistischen Denkens eine differente Prägung erfahren hat); nichtsdestoweniger ist nicht nur der religiöse Vorstellungsinhalt, sondern auch das kulturelle Verhalten durch die Prädominanz jener psychischen a Funktion bestimmt. Desgleichen die soziale Gestaltung 34 , insoweit sie nicht physisch necessitiert ist, wobei aber auch die Einheitlichkeit der Physis und der Psyche, z.B. das Klima als physiologische Potenz, in Betracht zu ziehen ist. Und so in allen Gebieten historischen Verhaltens. a

I m Ms ursprünglich „physischen" (sie) am Rande korrigiert.

36

mit Bleistift

Erst dann wird z.B. die griechische Religion und Mythologie, Staatlichkeit und Staatswissenschaft, Kunst 18a und Kunstlehre, Mechanik und Mathematik und insbesondere die griechische Philosophie begriffen sein, wenn ihrer aller Zusammenhang auf Grund der ihn bewirkenden besonderena Bewußtseinsstellung eingesehen und in b die komplexe Einheitlichkeit der Motive dieser Gestaltungen Einsicht gewonnen ist. Es ist dies besonders bezüglich der Philosophie zu betonen, welche eine der Methode nach (unbeschadet aller Skepsis gegenüber den Lehrmeinungen) metaphysische (- innerlich unhistorische -) Betrachtungsweise als eine von der Lebendigkeit wesentlich abgelöste Sphäre auffaßt, während gerade die Philosophie der charakteristischste Ausdruck der besonderen Lebendigkeit, gleichsam das feinste Wetterglas der psychischen Atmosphäre ist35. Motive aber sind keine optischen Daten, vielmehr nur durch das Experiment der Transposition zu erfassen, welche ein Nacherlebnis ermöglicht36. Garant der Richtigkeit aber ist nicht die Evidenz, sondern die auch ihr noch zugrundeliegende psychische Gewißheit. Der selbsterlebte psychische Zusammenhang in seinen Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten bietet Prüfstein und Kontrolle und nur wo die komplexe Natur der Lebendigkeit verschiedene Derivationen ermöglicht, beginnt mit dem historischen σνμβεβηκός das Gebiet der Wahrscheinlichkeit. Nur Leben kann, wie Goethe sagt, das Leben erfassen37, und die Lebendigkeit ist durch den Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen bestimmt. 18b Hier nun muß von dem Nachweise der Richtigkeit der Auffassung von den typischen Bewußtseinsstellungen der repräsentativen vorchristlichen Völker abgesehen werden, (ein Nachweis, welcher vielmehr wesentlich c in Beschränkung auf Philosophie den Gegenstand nachfolgender Arbeit bilden wird,) vielmehr in Form einer Behauptung ausgesprochen werden, daß die prädominierende Funktion des indischen38 und des a b c

„besonderen" darübergeschrieben. Statt „in — durchgestrichen: „und". „wesentlich" - darübergeschrieben.

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griechischen Bewußtseins die des Vorstellens ist und zwar der beiden Seiten desselben, welche die arithmetische oder [zu] aktuell abstrakte und die geometrische oderb formale genannt werden [kann] können. Man vergegenwärtige sich, wie die indische Lebendigkeit, insofern sie die Gegebenheit zu ergründen versucht, in der wesentlich religiösen Spekulation wie in der ethisch-religiösen Verhaltung zu der punktuellen Identifikation des Eigenselbsts und des Gottselbsts gelangt zu dem alleinigen Subjekte, welches alles Übrige als prädikative Mannigfaltigkeit trägt, zu welchem Unausspreehliche[m]% der Weg einer nicht bloß intellektualistischen, sondern die ganze Geistigkeit bestimmenden Abstraktion führt, die darum tiefer ist als die ihr in der Erscheinung ähnelnde der Stoa, weil sie religiös gegründet und nicht wie jene das Resultat der Glaubenslosigkeit ist. Daß dieser Standpunkt der Abstraktion gewonnen werden konnte, diese ακμή der Bewußtseinsstellung weist zurück auf die besondere Stellungnahme 19 a des Bewußtseins, die auch in den weniger vermittelten Lebensäußerungen als Bestimmtheit der menschlichen Gleichförmigkeit erkennbar sein wird. Denn, wie gesagt, nicht willkürlich gewählt ist die Position, von der aus die elementare Gegebenheit, sei es werktätig oder kontemplativ, zu begründen unternommen wird, sondern die der Anlage nach proeminente Funktion liefert das Organ zu dem geschichtswerten Verhalten. Genaue Untersuchung wird den Zusammenhang zwischen den primären und den rein willentlichen Betätigungen höherer Lebendigkeit in Rücksicht auf die Art der Bewußtseinsstellung erkennbar machen, während die Verwandtschaft sowie der Grund derselben i n n e r h a l b dieses Gebiets in die Augen springt. So z.B. stellt sich gleichsam von selbst die im Grunde kohärente Natur und verwandte Struktur der indischen Philosophie und Grammatik dar. Der Laut ,,om", welcher das Brahman bedeutet, ist das Resultat desselben Abstraktionsverfahrens, welches die Sprache in Wurzeln als letzte atomid

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„oder" — am Rande ergänzt.

stische Sprachsubjekte auflöst. Hier wie dort und im praktischen wie im theoretischen Verhalten die reinste Onomastik. Während das indische Bewußtsein in dem kontemplativen Absehen von aller (somatischen)a Artikulation hinter sich zu kommen versucht, und in dem Streben, den festen Grund der problematisch empfundenen Lebendigkeit zu erreichen, zu der 19b reinen prädikatlosen Position (, welche, weil alle Bezeichnung Prädizierung ist, unaussprechlich ist, selbst dem bloßen Laute inadäquat bleibt,) [verschreitet] geführt wird, (womit aber das Resultat nicht aufhört, ein bestimmtes, nämlich ein als ontisch bestimmtes zu sein, weil die Verhaltung eine vorstellungsmäßige ist, eine kontemplative des völligen Absehens,) während hier die vollendete Verdinglichung das Ziel und Ergebnis der isolierten Aktion einer der psychischen Funktionen ist (, eine Isolation, welche auf das tiefste motiviert ist durch das Vergänglichkeitsgefühl der lebendigen Gegebenheit, wie denn die historische Abstraktion, ermöglicht durch die primäre Abstraktion der artikulierten primären Lebendigkeit, durch ein mächtiges Lebensmotiv veranlaßt ist, welches die einheitliche Wurzel des Ethischen und Intellektuellen ist) a , während dieser Ausgangspunkt, bestimmt durch den Weg zu ihm, (und um dieses Weges willen ein ethischer Selbstwert) zu keiner Wissenschaftlichkeit die Rückwendung gestattet, und demzufolge [zu Folge wovon] eine andere als eine rein synthetisch[e] formale Wissenschaft von dieser Bewußtseinsstellung nicht erreicht worden ist, (- jeder σύνδεσμος war durch die ethisch gerichtete Abstraktion von vorn herein geleugnet worden und alle Zusammenhänge mußten als willkürliche, um mit Heraklit zu reden, als ein Spiel der Gottheit, als Maja erscheinen, alles 20 a mußte zur Phänomenalität werden neben der nurb durch Schweigen ausdrückbaren, durch bloße Seinsdarstellung erreichbaren Seinsposition, neben dem dem Satze entrissenen und der Satzform nicht zuganglichen Subjekte, einem Träger, welcher nichts als sich selbst trägt und von nichts getragen a b

Klammer bei Yorck. „nur" darübergeschrieben.

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wird -) war es die anschauliche Seite der Funktion des Vorstellens, welche, in der griechischen Bewußtseinsgegebenheit prävalierend, in dem Griechentum zum Organe des Lebensverständnisses gemacht wurde. Gestaltlichkeit ist der Charakter der primären griechischen Lebendigkeit. Bildlicher Natur ist der Kultus, die projizierte Spezifikation des allgemein menschlichen religiösen Verhältnisses, plastischer Natur sind die staatlichen Gemeinsamkeiten, ein Verhältnisgefühla diktiert hier die Normen, nicht ist wie bei den Römern der imperialistische Trieb das formende Prinzip39. Von reinster Okularität und klarster Dinglichkeitb ist die Sprache, deren Verbindungsreichtum im wesentlichen die mannigfaltigsten Schattierungen ästhetischer Zugehörigkeit zum c Ausdruck bringt, indem auch die Konditionalität als substanziale Beziehung gefaßt wird. Das Begehren und Wollen als sprachbildender Faktor kommen nicht direkt zum Ausdruck, sondern werden gleichsam niedergeschlagen zur Sichtbarkeit, in eine ontologische Gestalt gewandelt. Dahin gehört auch die konstruktive 20b Freiheit, die Fähigkeit, einen Satz zum Satzteile zu machen, das Zeitwort zu subjektivieren, die beinahe schrankenlose Verdinglichungskraft, ja auch scheinbar Einzelnes wie die Zuordnung eines prädikativen Singulars zu der subjektivischen neutralen Pluralität. Bestimmend ist überall die Anschauungskraft. Es ist, als sei das klarestsehende Auge zu Worte gekommen. Auf Grund dieser gegebenen Bewußtseinsverfassung wird die Funktion der Anschauung, die Okularität das Organ wie aller freien Geistesarbeit so insbesondere der Philosophie. Nur umrißweise kann dies hier erwähnt werden, da es der Gegenstand nachstehender Arbeit ist. Zwei typische Gestalten von eminenter innerer Historizität stehen am Eingang der griechischen Geschichte, Homer und Pythagoras, deren Synthesis und darum die ακμή des griechischen Geistes Piaton ist. Jener der Repräsentant des Ionismus, a b c

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Daher der Abscheu vor jeder, auch der guten. Tyrannis (Anm. Yorcks). Im Ms statt „Dinglichkeit" durchgestrichen noch einmal: „Okularität". Das „m" von „zum" durchgestrichen.

des gestaltsfrohen reinen Schauens, dieser , wenngleich der Überlieferung nach dem gleichen Stamme zugehörig, der Vertreter des Dorismus, des ästhetischen Verhältnisses, der Struktur der Gebilde, der Erfinder des Gedankens des Kosmos40. Homer, der universale Ausdruck griechischer Anschauungsweise, ist den Griechen das Dokument des eigenen wahren Verhaltens und darum ein Buch der Weisheit, eine Art von Bibel für die Jugend41. In seinen Geleisen bewegt sich das erste nationale philosophische Denken, welches, wie auch das 21 a höchste, der Piatonismus, um dieses inneren Zusammenhangs willen poetischer Natur ist. Von hier aus, von der anschaulichen Denkrichtung aus, ist Einblick zu gewinnen in das Verhältnis der griechischen Poesie und Philosophie, wie insbesondere die Stellung des Mythos bei Piaton daraus verständlich wird. Gestaltlichkeit ist der Charakter der άρχαί der ionischen Philosophen, welche nur a des nach außen gerichteten Auges wegen Physiker waren und deren Gedankenbahn gleichsam an dem Himmel verfolgt werden kann. Selbst der Eleaten abstrakte Position abstrahierte nicht wie der Ruhepunkt des indischen Denkens von der Bildlichkeit. Form und Inhalt, das ist die aesthetische Dichotomie, die alles griechische Denken beherrscht, das Resultat der Befreiung der Okularität von aller anderen Sensualität, eine ästhetische Befreiung, welche jeder nachempfindet, der die Schwelle des Griechentums überschritten hat; Schauung ist das wesentliche Verhalten und darum Gestalt oder Form ουσία oder Substanz42. Und wie die Gestaltung die Pädagogik, welche die Grundlage der antiken politischen Wissenschaft ist, von der Bildung des Körpers aufwärts bis zu dem Ziele der geistigen Verfassung, der Kontemplation, welche die höchste Wissensgestalt ist, beherrscht, so ist die Theorie der Zweck wie der Grund der Praxis, welche tugendhaft ist, insofern sie tauglich macht zu ungetrübtem Schauen, eine Stellung, 21 b welche das Wesen der griechischen B

Statt „nur" durchgestrichen „um" — wohl Konstruktion mit „um . . willen" geplant gewesen.

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Ethik erklärt. Diese Gestaltlichkeit des Denkens trug den Keim ästhetisch-wissenschaftlicher Explikation 8 in sich. Denn während die indische Position in ihrer radikalenb Abstraktheit jede Brücke der Relation abgebrochen hatte, ist die Gestalt als solche von einer inneren Proportionalität. Die eleatische Position bot die kosmische Möglichkeit. Es bedarf dies einer kurzen Erläuterung. Die Analysis des philosophischen Verhaltens als solchen zeigt die Kooperanz des Wollens und Vorstellens. Ziel des Wollens ist ein Vorstellungsgemäßes, eine Dinglichkeit, ein Seiendes. Es ist aber dieses willentliche Vorstellen kein willkürliches Verhalten, sondern in tiefem Lebensmotive gegründet. Gegensätzlichkeit zeigt sich der Betrachtung als die strukturelle Verfassung des Selbstbewußtseins, so daß die drei Grundverhaltungen, die drei konstitutiven Funktionen des Empfindens, Wollens, Vorstellens eine jede, wenn auch in verschiedenem Grade , dadurch bestimmt sind. Denn das Gefühl trägt die essentiellen Marken der Abhängigkeit und Eigenheit, das Vorstellen die entsprechenden Elemente der Sachlichkeit und Bildlichkeit, das Wollen die Charaktere der Motivation und Spontaneität. Diese totale Gegensätzlichkeit ist gleichsam die Unruhe der primären Lebendigkeit. Reiz und Empfinden fordern einander; nur einer von der eigenen Bedingtheit absehenden, einer dem Wesen nach metaphysischen 22 a Abstraktion ist aus dem Gesicht gekommen, daß Dinglichkeit das kontrastierende Komplement der Bildlichkeit - des Vorstellens - ist; nur eine verbale Verleugnung des Erfahrungsstandes glaubt, die Komponenten des Wollens als independente Größen isolieren zu können. Dieser Charakter der Gegensätzlichkeit durchädert gleichsam die differente Funktionalität des Selbstbewußtseins, durchsetzt eine jede (- es sei bezüglich des Vorstellens, der am meisten artikulierten Funktion, an den Gegensatz von Punkt und Ausdehnung, gerade und krumm, a b

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statt „Explikation", durchgestrichen: „Kombination". „radikalen" darübergeschrieben.

oben und unten, rechts und links, Gestalt und Gestaltlosigkeit erinnert), weil er die Totalität des Selbstbewußtseins bestimmt®. Es ist hier nicht der Ort, hierauf wie auch auf das Verhältnis der Glieder des Gegensatzes innerhalb jeder derb einzelnen psycho-physischen Funktionen zu den Daten der anderen primären Funktionen einzugehen c . Hier kommt es nur auf die Hervorhebung der Gegensätzlichkeit der Bewußtseinsgegebenheit im allgemeinen an, welche sich in dem Gesamtlebensgefühl als Einheit von Abhängigkeit (, deren Gefühlsausdruck die Vergänglichkeitsempfindung ist,) und Spontaneität manifestiert. Wie nun die Gegensätzlichkeit der Motor der primären Lebendigkeit ist, so ist sie auch das Motiv zum Überschreiten jener Sphäre, nämlich des Übergangs zu dem historischen Verhalten. Und zwar ist die willentliche Betonung des Abhängigkeitsmomentes der religiöse, 22 b die Hervorhebung der Spontaneität der ethische Vorgang43; beides sind reale Abstraktionen behufs Überwindung der Gegensätzlichkeit der psychischen Gegebenheit, ihre Verselbständlichung aber ist ein realer Akt historischer Urteilung, eine willentliche Fortsetzung des Lebens Vorganges selbst. Auf die Betrachtung der religiösen Stellungnahme kann hier nicht eingegangen werden; nur der Hinweis sei gestattet, daß die tiefste dogmatische Antinomie zwischen Gnade und Freiheit, welche zutage treten mußte, auf dem Standpunkte einer psychisch-absoluten und darum universalen Religiosität, in dem ursprünglichen religiösen Verhalten, der willentlichen Aufhebung der Spontaneität gegründet ist. Mehr am Orte ist die Bestimmung des Verhältnisses von Religiosität und Sittlichkeit. Vergeblich ist der Versuch gewesen, dies Verhältnis als ein kausales nachzuweisen. Die Tatsachen sprachen dagegen, weil sie dem psychischen Verhältnisse entsprechen mußten. Denn während Religiosität a

Von „weil er . ." an darübergeschrieben. „innerhalb der einzelnen . ." korrigiert in „innerhalb jeder der einzelnen", c „einzugehen" durchgestrichen. b

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Selbsthingabe ist, ist alles ethische Streben auf Selbsterhaltung gerichtet. Diese Tendenz der Aussonderung und Festigung des Selbsts, seine Heraushebung aus der wechselvollen Vergänglichkeit, ist der Nerv des ethischen Verhaltens, für das [dem] es sich darum handelt, das Subjekt des allgemeinen 23 a Satzes, den independenten Träger aller Dependenzen, mittelst tatsächlicher Abstraktion zu erreichen. Das Absolute ist ein ethisches Produkt. Die Methode ist die der Abstraktion von allem Abhängigen, sonach das Resultat negativer Natur, wie denn das Absolute ein negativer Begriff ist, wenngleich ihm das in dem Lebensgefühl begründete Element der Spontaneität einen positiven W e r t gibt. Daß aber die Begriffe der Abhängigkeit, Vergänglichkeit, Wandelbarkeit identifiziert werden - diese Synthesis ist eine in dem gegebenen psychischen Konnex gegründete. Wir stoßen hier auf die wurzelhafte Einheitlichkeit der psychischen Funktionen. Das andere Glied des Gegensatzes aber beschränkt die Abstraktion, welche durch seine Behauptung gerichtet wird. Die Unabhängigkeit ist das Ziel. Da nun die beiden Seiten des Gegensatzes die essentialen Charaktere der Lebendigkeit sind, so ist der ethische Prozeß in seiner Reinheit gegen die Lebendigkeit auf Abtötung gerichtet, wie die indische Stellungnahme und die der Stoa a illustriert. Daß nun die ethische Position vorstellungsgemäß bestimmt wird, ist der Charakter jeglicher Metaphysik. Diese Bestimmung aber ist durch die Entpersönlichung der rein ethischen 23 b Stellungnahme, welche sie der Verdinglichung allen Vorstellens zugänglich macht, ermöglicht. Die ethische Tendenz, der psychische Motor aller anfänglichen Philosophie, bricht sich gleichsam in dem Medium des Vorstellens, welches im Gebiete der Gräzität als ein bildliches, ästhetisches sich darstellt. Dieses Motiv erklärt, daß das Gesuchte als αρχή nicht in erster Linie als ahia bestimmt wird, wie jenes Medium der Anschauung die Fassung der αρχή als eines Geformten Λ Den Zusammenhang dieses stoischen Verhaltens mit dem erkenntnistheoretischen44, dem physikalischen und politischen Standpunkte nachzuweisen, bleibt anderem Orte vorbehalten. (Anm. Yorcks)

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bedingt45. Der ethische Prozeß aber, welcher in gegensätzlicher Abstraktion fortschreitet, diktiert dem Erkennen, welches keine Domäne für sich ist, sondern eine von der Gesamtstellungnahme bedingte Funktion, die dialektische Form. Nur die Phantasie konnte bei den ionischen Denkern die Brücke schlagen zwischen der metaphysischen Position 3 und der mannigfaltigen Gegebenheit in dem Gedanken der Metamorphose, des Gestaltenwechsels. Aber diese griechische Phantasie trug anders wie z. B. b die indische die Empfindung der Proportionalität in sich, deren Ausdruck schon die Gestaltlichkeit der αρχή war. Das Gefühl für die inneren Gestaltsverhältnisse enthielt im Keime an der Stelle der indischen Zufälligkeit des Wechsels den Gedanken eines notwendigen Zusammenhangs und damit den Gedanken der Wissenschaft. An dieser einleitenden Stelle kann nicht auf das Verhältnis des 24 a griechischen Eigentums zu dem bedeutendsten Überkommnis, der ägyptischen Weisheit, eingegangen werden. Nur eine kurze Bemerkung sei gestattet. Eine geschichtliche Auffassung, welche lebendig bestimmt ist, erkennt aus der Wirkung das Wirkende und kommt zu dem Resultate, daß, wo die Wirkung verschieden ist, oder eine besondere Wirkung fehlt, das Wirkende nicht oder als solches nicht vorhanden war [gewesen] a 4e. Wäre die griechische Arbeit eine Fortsetzung oder gar nur Wiederholung einer früheren, so hätten der griechischen gleiche oder ähnliche Erträgnisse nicht ausbleiben können gemäß nicht logischer, sondern psychologischer Notwendigkeit. Davon aber ist bezüglich der Ägypter nicht nur nichts überliefert, sondern das Überlieferte läßt sich auch in einen psychologischen Verband mit einer der griechischen gleichen oder ähnlichen Denkrichtung nicht bringen. Dies Experiment aber entscheidet. Es scheint vielmehr, daß in dem Gebiete der Astronomie, in dem insbesondere die Griechen in Ägypten Information suchten, die Ägypter nur im Besitze eines reichen Beobachtungsmaterials gewesen sind a b c

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Statt „Position" durchgestrichen: „Funktion". „z.B." darübergeschrieben. Hinter „gewesen" durchgestrichen: „ist".

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und die Gleichmäßigkeit astraler Vorkommnisse festgestellt haben. Wie sie die Feldmeßkunst getrieben haben, so haben sie es auch in der Astronomie zur bloßen Phoronomie gebracht. Nur Gestaltung aber führt mittelst Analysis 24 b der Gestaltsverhältnisse zu der Erkenntnis des notwendigen Zusammenhangs. Nur eine der griechischen gleiche Anschauungsweise ermöglichte die Analysis der Okularität. Der Explikation des Prinzips widersprach aber seine ethische Verabsolutierung. Die αρχή war gewonnen durch ethische Abstraktion von aller Wandelbarkeit. Aufhebung der Isolation war Wegfall der Gewißheit. Man kann sagen, daß die Arbeit des griechischen Denkens in der Vermittlung zwischen den Begriffen der αρχή und der ahia bestand, eine Arbeit, welche nicht abstrakt intellektualistischer Natur war, weil die Selbstgewißheit - als ουσία projiziert, in Vorstellungsform gefaßt, - also [weil] die Lebenshaltung auf dem Spiele stand. Das Organon der Okularität, der Umstand, daß die ethische Position als Sein, näher als gestaltetes Seiendes gefaßt wurde, die Bestimmung der Wahrheit als einer Existenzialität, verlegte die Antinomie zwischen Wollen und Vorstellen in das Gebiet der Intellektualität. Es ist die weltgeschichtliche Bedeutung Heraklits, jene Antinomie erkannt, die Relativität des Wissens mit den Mitteln und in den Formen des griechischen Denkens herausgestellt zu haben. Sein gesamtes Denken ist eine Antithese gegen die Dogmen des Xenophanes und des Pythagoras, eine Auffassung, welche, wie an seinem Orte nachzuweisen sein wird, [wie sie] geeignet ist, das über dem Denken jenes Mannes noch immer lagernde Dunkel 25 a zu lichten47, und die in den erhaltenen Fragmenten ihre volle Begründung findet. Die lebendige Synthesis zwischen Ethik und Ästhetik wird gelöst eine fortschreitende Urteilung - die Selbstgewißheit nicht in der Existenzialität, sondern in der psychischen Haltung gefunden, woraus sich der Rückgriff der Stoa auf den Standpunkt Heraklits und die advokatorische Benutzung seiner Polemik seitens der frühen christlichen Schriftsteller (, wodurch andererseits das Gedankengebilde Heraklits als durch 66

ein trübes Medium alteriert erscheint®,) erklärt. Auch hier wird der kritische Grundsatz 6 einer lebendigen Historik zur Verwendung zu bringen sein, aus der Wirkung das Wesen zu erkennen. Aus Piaton wird das fragmentarisch Überlieferte zu erhellen sein. Im Gegensatze zu jener Lösung des antinomischen Verbandes hält das eleatische Denken an der Dinglichkeit der Wahrheit und somit an der theoretischen Greifbarkeit derselben fest. Die Wahrheit aber ist ethisch verabsolutiert, gegensätzlich bestimmt und damit außer Konnex mit der differenzierten Gegebenheit gesetzt. Gewonnen auf dem Wege ethisch motivierter Abstraktion konnte sie nicht die Kraft eines Erklärungsprinzips haben, vielmehr als Gegensatz bestimmt, war sie von ausschließender, negativer Natur, dementsprechend, wie dialektisch gewonnen, so nur dialektisch zu behaupten. Es ist die ethische Stellungnahme innerhalb der Intellektualität, welche die 25 b dialektische Methode hervortreibt. Nicht aber, wie schon erwähnt, ist hier die ethische Position von der kahlen Bestimmungslosigkeit des indischen Abstraktionsresultats, welches nur noch in dem Charakter der Dinglichkeit die ihm zugrunde liegende Stellungnahme repräsentiert. Von der Okularität vielmehr sieht das griechische Denken, eben weil es ein anschauliches ist, nicht ab. Bei dein Bilde verbleibt es und die Idee ist die maßgebende Auffassungsform alles (sowohl des dogmatischen als des skeptischen) griechischen Denkens, welches Vorstellen ist, wie denn die Wissenschaft als Vorstellung, επιστήμη, definiert wird. Und gerade darin liegt die Allgemeingültigkeit der griechischen Wissenschaftlichkeit, daß sie die Bedingungen allen Vorstellens, die Verhältnisse der reinen Okularität entfaltet hat. Analysieren wir das Vorstellungsprodukt als solches 0 , so a

„erscheint" darübergeschrieben. Statt „Grundsatz" ursprünglich durchgestrichen: „Gegensatz". c Differenz zwischen Bild und Größe. Einheit und Mannigfaltigkeit. Im Wesentlichen das praktische Bedürfnis ließ den technischen Gesichtspunkt hervortreten, medius terminus, μη όν. (Randbemerkung in Höhe der Sätze „Und gerade darin l i e g t . . . " bis als solches") b



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treffen wir auf Bestimmungen von verschiedener psychischer Provenienz, denen gemeinsame Bewußtseinscharaktere zugrunde liegen, welche alle Differenzierung durchziehen. So ist die Einheit des Vorgestellten die Folge der lebendigen Einheitlichkeit des vorstellenden Bewußtseins, ein konstitutiver Faktor, welcher radikaler ist als die Einheit, welche den Gegensatz zur Vielheit bildet, ein unterschiedliches Verhältnis, welches die Pythagoreer schon tiefsinnig erkannt haben. Dagegen ist Größe ζ. B. eine dem Gefühle entwachsene Bestimmung 26 a und, wenngleich von konstitutiver Bedeutung, doch der Partikularität der Provenienz wegen im Gebiete des reinen Vorstellens abstraktionsmöglich - Abstraktion zweiten Grades - während von der Einheit auch begrifflich zu abstrahieren nicht möglich ist. Auf die Kooperanz der anderen Funktion zur Bildung einer Vorstellung als solcher kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es genügt, erklärt zu haben, warum die Einheitlichkeit die unvermeidliche Bestimmung jeder Vorstellung ist. Daher sehen wir, daß auch die radikale Abstraktion der indischen Philosophie das im übrigen bestimmungslose Abstraktionsresultat einheitlich faßt, auch wenn von der Formulierung der Einheit als besonderer Prädikatur abgesehen wird. Der kontemplative Abstraktionsprozeß bedingt eben dieses Resultat. Denn das primäre Datum ist die differenzierte Einheitlichkeit, als welche das Leben sich darstellt. Die Urteilung des Selbsts ist die Form des Lebens. Diese Artikulation wird nun per abstractionem aufgehoben. Der ethische Prozeß und der intellektuelle Vorgang (, welcher, mehr oder weniger ethisch a gebunden, nicht ohne ethische Stellungnahme sein kann,) ist die Inversion des primären Lebensvorgangs, nämlich Reflexion mittelst der Abstraktion von der Artikulation der Lebendigkeit bis zurück zu dem Träger aller Differenzen, zum Selbst. Selbständigkeit ist das ethische Postulat. Die Artikulation aber ist die Organisation der Bestimmtheit, welche, weil gegeben, als Abhängiga

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„ethisch" eingeflickt.

,keit empfunden wird, woher sich die Aquation von Mannigfaltigkeit, 26 b Vergänglichkeit und Schlechtem erklärt. Erst eine vertiefte Reflexion, ein radikaler empirischer Rückgang, erkennt in dem Selbst den Sitz der Abhängigkeit, eine Erkenntnis, welche gleichsam die Seele aller Skepsis ist. Der ethische Prozeß innerhalb des kontemplativen Verhaltens führt nun, wie schon bemerkt, zu der Verdinglichung des Endresultates, weil alles Vorstellen ein Verdinglichen ist. Ist das tätige Medium wie bei der griechischen Denkrichtung ein näher, nämlich als Anschauung bestimmtes Vorstellen, so ist das Resultat nicht nur ein Seiendes, sondern ein gestaltetes Seiendes und der Schatten gleichsam der lebendigen Einheitlichkeit, nicht schlechthin Einheit, sondern ästhetische Einheit, Bild, Ganzes. Diese Fassung des Prinzips ist griechisches Gemeingut; der Niederschlag abstrakten, rein anschaulichen Verhaltens, der reinen, nicht anders als ethisch bestimmten Okularität. Nun aber ist der Vorgang der Abstraktion innerhalb der historischen Lebendigkeit die willentliche Wiederholung primärer Lebensverhaltung. Nicht nur ermöglicht die strukturelle Artikulation des Bewußtseins die Isolation eines Elements der komplexen Lebendigkeit, sondern die Aktion des Lebens manifestiert sich als und mittelst besonderer Funktionalität, als Urteil (ein Verhältnis, welches der psychische Grund der Kategorie der Wechselwirkung4 der reziproken Bedingungsverhältnisse ist, welche Kategorie aber nur der formale neutralisierte, des psychischen Werts 27 a beraubte Umriß des realen Vorgangs ist,) b so zwar, daß die Einheitlichkeit in der Besonderung sich durchsetzt. Aber die organisierte Funktionalität (- und das ist von der gesamten lebendigen, die Physis und Psyche umfassenden Zuständlichkeit zu verstehen -) ist um dieser ihrer Struktur willen in ihrer Manifestation, ohne welche sie nicht ist, besondert. So ist wie jede Lebensaktion auch die historische lebendige Verhaltung eine gesonderte. a

Nach „Wechselwirkung" durchgestrichen: „ist". b Klammern bei Yorck.

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Wir haben darin eine Urteilung48, den realen Vorgang, dessen Wiederschein gleichsam diese intellektuelle Form ist, gefunden. Die griechische Bewußtseinsstellung, die wir als die ästhetische bezeichnet haben, ist somit selbst das Resultat einer psychischen Urteilung. Andererseits ist die philosophische Absicht, das lebendige Motiv des philosophischen Verhaltens, den Grund aller Gegebenheit zu erfassen, wo denn das Mittel das Organon des Vorstellens als eine besonderte psychische Punktion um der Besonderheit willen die Fülle der Lebendigkeit (, welche die Gegebenheit ist,) zu erreichen unvermögend ist. Die radikale Vorstellung, das Resultat des philosophischen Abstraktionsprozesses, ist hiernach nicht der Ausdruck, vielmehr nur das Symbol der Wahrheit. Und der Sinn, die Seele des letzten Wortes, ist gleichsam außer ihm, in der Empfindung, welche es nicht ausdrückt, sondern repräsentiert. Wie die Sprache, so ist die philosophische Vorstellung nur verständlich, wenn die in ihr verborgene Lebensfülle erfaßt wird [ist]. 27 b Wie die einsilbige Lautlichkeit des ,,om" der indischen Denker Licht empfängt von dem ihr beigelegten Gefühlswerte, so ist das ώιειρον der Ionier ein caput mortuum, wenn es nicht als Symbol der Empfindung unbehinderter ästhetischer Lebensäußerung verstanden wird. Nur Leben vermag Leben zu erfassen, philosophieren aber ist leben, und die philosophische Vorstellung» ist nur das b um der Einheitlichkeit der psychischen Differenziertheit willen genügende Vehikel zum Zieleb 49. Dieser Gefühlswert ist das positive Komplement der ethischen Negation, der Independenz. - Aber das άπειρον, gleichsam dies reine Gesichtsbild, auf welches ein weiteres Anschauen die harmonische Verhältnismäßigkeit projizieren sollte, war von vornherein als gestaltlich gefaßt. Das Denken war eben an die Opsis gebunden. Es ist dies aus der Struktur a b 0

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Statt „Vorstellung" — durchgestrichen: „Differenziertheit". „das" eingeflickt. Von hier an neue Feder.

des Auges erklärlich und erklärbar, wie denn alle Intellektualität, welche nur ein metaphysisch geartetes Denken als bodenlose Selbständigkeit 50 faßt und damit unerklärt und unerklärbar hinstellt, in ihrem und aus ihrem Zusammenhange mit der Sensualität, aus dem lebendigen Konnexe, zu begreifen ist. Alles Sehen ist flächenhaft, und der Struktur des Auges entsprechend ist das Gesichtsbild kugelförmig. Hierin ist begründet, daß die Kugel als die vollkommenste, weil der okularen Lebendigkeit adäquateste Gestaltung angesehen und als Form der αρχή betrachtet wurde. Wie schon erwähnt, hat selbst [auch] die Eleaten ihre abstrakte Passimg des Prinzips 28 a an dieser Bildlichkeit nicht gehindert. Die Einheit, welche wir als Reflex der lebendigen Einheitlichkeit erkannt haben, erschien sonach als Ganzes. Denn das Ganze hat eine okulare Provenienz, weil das Auge bildlich und gestaltlich sieht, und diese Originalität des „Ganzen" begründet seine Unauflösbarkeit in Teile, seine Kompositionsunfähigkeit. Und der die griechische Philosophie durchziehende Kampf zwischen Idealität und Technik kann als Streit zwischen Auge und Hand versinnbildlicht werden. Nicht aber direkt diese Antinomie war es, welche gleichsam als Unruhe das eleatische Denken sollizitierte, wenngleich ein psychischer Zusammenhang zwischen jenem Probleme und der eleatischen Aporie besteht. Wir haben schon mehrfach betont, daß, weil alles wissenschaftliche ein lebendiges Verhalten ist, der Grundcharakter der Lebendigkeit: die Einheitlichkeit, aller Wissenschaft Bedingung ist, welche (, sei sie auch noch so abgelöst von der empirischen Fülle,) in dem und sei es auch nur technisch fixen Beziehungspunkte die Marke ihrer Provenienz trägt. Diese radikale Wissensbedingung erkannt und herausgekehrt zu haben, ist das erkenntnistheoretische Verdienst der eleatischen Denkrichtung 51 . Folge der ästhetischen Denkweise war es, daß die Einheit als Okularität vorgestellt, projiziert wurde. Die Einheitlichkeit wird mittelst des Vorstellens als Eines objektiviert 28 b und dieses wiederum optisch als Ganzes bildlich - gefaßt und angeschaut. 71

Die Natur des Anschauungsresultats, sein der Teilung allogenes Wesen, die reine Bildlichkeit widerstrebt der Differenzierung, wie die ethische Position, deren Inhalt sie ist, jeder Kombination widersteht. Wie der ethische Impuls das Abstraktionsresultat isoliert, so widerstrebt die intellektuelle Anschauung jeder Kombination. Die ethische Wurzel aller Intellektualität, nämlich die willentliche Position eines festen Beziehungspunktes, haben die eleatischen Denker bloßgelegt. Denn es ist das unterscheidende Merkmal zwischen dem intellektuellen und dem primären vorstellungsmäßigen Verhalten a , daß der hier mit der Lebendigkeit gegebene Relationspunkt willentlich gesetzt, damit aus dem Sollizitationskonnex der Sinnlichkeit herausgehoben ist, ein Verhalten, welches den Anspruch der Wissenschaft auf Freiheit, Autonomie b , begründet, welche hiernach als ihre psychische Voraussetzung sich darstellt. Nicht als ein abstraktes Merkmal aber, nicht als Begriff 0 wurde die Einheit als Wissensbedingung erfaßt, sondern als überpsychische Realität d , Substanz, und als okulares Projektum, Bild, Idee. Es ist darauf hingewiesen worden, daß das primäre philosophische Motiv das der gedanklichen Selbstbehauptung ist e . Das zentrale Abhängigkeitsgefühl, das Unbeständigkeitserfahrnis, der Charakter der 29 a Zeitlichkeit gibt den Impuls zu der Willensposition eines Unabhängigen, Wechsellosen, Unvergänglichen; Prädikaturen, welche dem Wollen, Vorstellen, Fühlen entwachsen 152 sind, deren Identifikation in dem originalen synthetischen Verbände des Selbstbewußtseins gegründet ist, welchen erst eine radikalere Stellungnahme a

Einheitlichkeit — Dieselbigkeit. Antinomie zwischen Idee und Begriff. Eins als aetern, als vollkommen unbedingt. (Randnotiz in Höhe der Zeilen: „Denn es i s t . . ." bis ,,. . . Verhalten".) b „Autonomie" — eingeflickt. 0 N. b. Dies Verhältnis — Wissenschaft und Autonomie näher bei Descartes auseinanderzusetzen. (Randbemerkung in Höhe der Zeilen „den Anspruch der Wissenschaft auf Freiheit" bis: „Begriff".) d Nach dem Komma durchgestrichen: „als". e Daher Philosophie immer zentral und universal (Anm. Yorcks). 1 Statt „ e n t . . ." durchgestrichen: „erwachsen".

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des Bewußtseins als einen konkreten zu erkennen und mittelst Abstraktion in seine analytischen Bestandteile als Abstrakta zweiten Grades aufzulösen vermag. Das griechische philosophische Denken dagegen ist ein konkretes, in eins willentlich und anschaulich bestimmt, und dies Verhalten erklärt die Trinität des Guten, Wahren und Schönen, ein Dogma, dessen Verband als solcher innerhalb der Gräzität auch von der Skepsis nicht angefochten worden ist. Insofern nun das Prinzip willentlicher Provenienz ist, erweist es sich als Ergebnis eines negativen Verhaltens, und demzufolge ist die Prädikatur eine negative wie ζ. B. Substanzialität, d. h. ein nicht durch Anderes bestimmtes Unveränderliches, Unvergängliches. Das Resultat ist hiernach durch στέρησις, mittelst Absehens von der komplexen und bedingenden Lebendigkeit gewonnen, weil die Negation keine totale ist, sondern vielmehr an die Gegensätzlichkeit des Bewußtseins gebunden bleibt, welche durch die einseitige Betonung einer 2911 Seite des Gegensatzes auseinandergerissen wird [, gebunden ist]. Neben a jenen Willensbestimmungen ist aber die αρχή, wie schon gesagt, durch die Vorstellung und näher b durch die Anschauung bestimmt, nämlich als Ding, und zwar als Gestalt. Und gerade die letztere Bestimmung enthielt den Keim der Vermittlung zwischen der ethischen und der intellektuellen Seite der Position. Bei den Eleaten nun prävalierte der willentliche Faktor, dessen abstrakte Natur ein kausales Verhältnis ausschloß. Aber die ästhetische Fassung dieses Abstraktums, die Verdinglichung zu einem fest Gestalteten bewirkte, daß das Gewollte als Gewußtes sich darstellte, womit das Wissensproblem in die Geschichte trat. An sich nun entspricht die Wissensform der Anschauung Jenen Willensbestimmungen. Denn das Anschauungsbild, die okulare Projektion des 0 Gesichtsfeldes, ist unveränderlich, imbestimmt und unvergänglich, wenn der Schauende nicht auf sich als den Produzenten, a b c

Statt „neben" — durchgestrichen: „über". Statt „näher" — durchgestrichen: „mehr". Statt „des" ursprünglich, durchgestrichen: „dieses".

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sondern auf das Produkt rücksichtigt. Wo und wann er sich befinde, es umgibt ihn (περιέχον) einheitlich, d. h. nicht zusammengesetzt, nicht wegdenkbar für den Schauenden, also unvordenklich53. Die Äquation von Unvordenklichkeit und Unvergänglichkeit ist aber das Charakteristikon jeder Metaphysik. Während nun aber 3 0 a die s. g. Physiologen die gestaltliche Verschiedenheit und Abwechslung in eine rein optische Verbindung mit dem Allgemeinbilde mittelst des Gedankens der Metamorphose gesetzt hatten (, welcher Tropus nur insofern logischen Inhalt erhielt, als die beobachtete Wiederkehr der Naturvorgänge, insbesondere der astralen Erscheinungen, begonnen wurde, in Rapport gestellt zu werden mit dem Bilde der Sphäre), war der durch die Heraklitische Kritik geschärften eleatischen Reflexion der Zugang zu der gegebenen Mannigfaltigkeit verschlossen. Die Antinomie zwischen Wollen und Erkennen, Spontaneität und Relativität, war in den Gesichtskreis getreten, und zwar als ein Wissensproblem. Die innere Gegensätzlichkeit, welche der Charakter der Lebendigkeit ist und demzufolge dem Erkenntnisverhalten essentialiter inhäriert, war zur Explikation gelangt in der abstrakten Entgegensetzung der willentlich isolierten Momente, der σύνδεσμος der Lebendigkeit, die die Gegensätze tragende copula war zerrissen. Das Moment der Einheitlichkeit aber war als Wissensmerkmal erkannt und dem ästhetischen Verhalten gemäß als festes geformtes Daseinsdatum gefaßt worden. Hiermit war die Stellung zu der Mannigfaltigkeit als Gegebenheit gegeben. Da Einheitlichkeit als Erkenntnisbedingung erkannt war, 30 b konnte Verschiedentlichkeit nicht erkennbar sein. Dies ist der Inhalt des parmenideischen Gesetzes. Zu der Bestimmung des nicht Erkennbaren trat aber entsprechend dem ethischen Motor jenes Denkens die Wertung der Mannigfaltigkeit als eines Nicht-sein-sollenden : μη ov. Denn die Negation μή verneint nicht die Existenzialität, sondern die Berechtigung. Gottfried Hermann 54 schon hat erkannt, daß die in dem μή zum Ausdruck gelangende Ver74

neinung in einer Willensposition originiere und damit das μή richtig lokalisiert, wenn auch nicht ausreichend charakterisiert, wie an anderer Stelle nachgewiesen werden wird. So ist die Mannigfaltigkeit als ein μή öv, d. h. als ein nicht Erkennbares und nicht Seinsberechtigtes bestimmt. Die ihm zugrunde liegende Äquation von Wert und Objekt, näher Bild, ist ein in der Struktur des griechischen Denkens gegründete« [,ein] Dogma, und wird auch von der griechischen Skepsis nicht aufgelöst. Was dem Lebensgefühle entspricht, ist gut. Darum ist die Kontemplation das gute Verhalten; darum [ist] die projizierte Gestalt und zwar die der Okularität gemäße, die Kugelgestalt, gut. Darum wird das Vollkommene, eine ästhetische Kategorie, als gut, das Gute als das Vollkommene bestimmt. Und andererseits ist die Wertung dinglich bestimmt als das Gute, als a eine feste neutrale Existenzialität. Diese Konkretion, wie gesagt, konnte nur von einer anderen Bewußtseinsstellung aus gelöst werden; 31 a für diese Kritik bedurfte es einer zentralen Krisis55. Daher ist sie auch nicht Gegenstand des rechtfertigenden Nachweises innerhalb der Gräzität gewesen, woraus sich die Aufnahmeunfähigkeit für die Heraklitische Denkweise, welche ganz isoliert und an den Grenzen griechischer Denkmöglichkeit befindlich ist, erklärt. Von hier aus also drohte dem eleatischen Verdikte keine Gefahr. Vielmehr war es der technische Gesichtspunkt, das Interesse der Brauchbarkeitb, welches die Opposition gegen die Einheitslehre hervorbringt. Sehen wir zunächst auf die Vertretung dieser Lehre, so beschränkt sich nach den überkommenen Dokumenten die Forschung darauf, nachzuweisen, daß alles Wissen ein Objekt verlange, ein öv, und daß dieses Objekt ein unveränderliches sein müsse, indem sie hiermit die Voraussetzung alles (anschaulichen)0 Vorstellens aussprach. Denn das vorstellungsgemäße Wissen bedarf eines Gegenstandes d, indem das ästhetische Verhalten selbst ein objektives α b 0 d

„Als" eingeflickt. Am Rande: „Auftreten des Beweises". Klaramern bei Yorck. Am Rande: „Zeitliche Breite des Sehens."

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ist. Nicht so weil das Objekt das logische Komplement des vorstellenden Subjekts ist; vielmehr ist dies logische Dependenzverhältnis nur die Explikation der strukturellen Komplexität der lebendigen Funktionalität. Sondern dies Verhalten selbst ist ein zuständliches und, weil in dem Verhältnisse relativer Selbständigkeit von dem Empfinden, somit ein primäres Abstraktum, ein veräußerlichendes und darum a neutrales b .

33 a Das konstitutive Bewußtseinsmoment des „anderen" ist im Gebiete des Vorstellens Objekt, und ein vorstellendes Wissen hat die Objektivität zu seiner Voraussetzung als ein wesentliches Merkmal seines 0 Selbst, von welchem sonach auch die abstrakteste Reflexion abzusehen unvermögend ist, eben weil sie nicht aufhört, Vorstellen zu sein. Denn möge die Objektivität auch zu einem bloßen Beziehungspunkte, dem inneren Blickpunkte, verdünnt werden, die Momente des einheitlich Festen und für die Verhaltung Unveränderlichen bleiben doch bestehen als ein Reflex der Einheitlichkeit und Abhängigkeit des vorstellend sich manifestierenden Selbstbewußtseins. Nicht minder ist der Charakter der Veräußerlichung der Vorstellung, sei sie auch reflexiv, inhärierend. Nur mit wenigen Worten kann hier auf das Raumproblem eingegangen werden. Die einseitigste und der Allgemeinheit wegen ungenügendste Behandlung hat es durch Kant 5 6 erfahren, der a

Statt „darum" ursprünglich, durchgestrichen „ein". Nach „neutrales" ursprünglich, durchgestrichen: „Datum". Am Rande in Höhe der letzten Zeile und darunter: „Als Faktor gefaßt, als Produkt gefaßt. Sitz der Substanzialität". Siehe Anhang. I. 31b—32b. Im Ms Anmerkung: Diese Seite fällt hier fort und ist an anderer Stelle, wo wird nicht gesagt, zu benutzen. c Korrigiert aus „seiner". b

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ohne analytische Auflösung desselben in seine Bestandteile es in formalistischer Weise als Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, als eine Form der Anschauung von der Funktion des Denkens abtrennt3·, womit er, so charakteristisch auch seine Betrachtungsweise für eine gewisse Denkrichtung ist, aus der Geschichtlichkeit der Bewegung des modernen Denkens 33 b heraustritt, welche auf die Genesis des Raumes, auf die Konstruktion des Raumbildes gerichtet war. Wie denn die rein okulare Analysis, die bloße Distinktion, welche das Formprinzip des Kantischen Philosophierens ist, in einem tieferen Verhältnisse zu dem modernen Scholastizismus Wolffs, dem philosophischen Niederschlag der Schriftlichkeit des deutschen Denkens im 17. und 18. Jahrhunderte, steht, als gemeiniglich angenommen wird. Gerade im Gegensatze zu dem Konstruktionsstandpunkte der modernen Denkrichtung haftet Kant an dem festen Fächerwerk, welches er von der formalen Distributionsmethode, die sich schon in der Aufstellung der loci theologici dokumentiert hatte, [überkommen hatte] übernahm und wie andere neben ihm unter dem Einflüsse der Zeitmacht des ästhetischen Formsinns57 zu dem Gedanken einer intellektuellen Architektonik steigerte. Auch ist es nicht der Formalismus der Kantischen Ästhetik und Logik, mit dem eine (, insofern sie innerlich geschichtlich,) mechanistische Denkrichtung nichts anfangen könnte, welcher den Einfluß des Kantianismus erklärt, sondern das Moment der großartigen rationalen Freiheit, welche, aller Philosophie seit Galilei und Descartes gemeinsam, auch die Kantische Betrachtungsweise ermöglichte und bestimmte. Die verbreitete Zuerkennung einer epochemachenden Bedeutung 34 a Kants aber möchte dem umfassenden und lehrhaften Charakter seiner Darstellung, welcher sie für das Katheder geeignet machte, und dem Umstände zuzuschreiben sein, daß Deutschland auch literarisch keinen Welthorizont beherrschte. Denn es dürfte unschwer sein, gerade die am a

Korrigiert aus: „abgetrennt hat".

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meisten populär gewordenen Aufstellungen Kants als keine ersten Erwerbnisse nachzuweisen. Wie z.B. an seiner Stelle die Ansicht von der Transzendentalität der Zeit als bei Locke, die Kritik des ontologischen Gottesbeweises als bei Descartes, ja schon bei Thomas von Aquino vorhanden aufgezeigt werden sollen58. Vielmehr ist die lehrhafte Konsequenz des Independentismus der psychischen Stellungnahme, welche die Analysis beschränkt und richtet, [ist] der den Kantianismus auszeichnende Charakter. Weil die Analysis von vornherein gleichsam unter das Vorzeichen des Kompetenzgedankens, eines Willensbestimmten, einer Rechts-Kategorie gestellt wird, ist der aitiologische Gesichtspunkt ausgeschlossen. Auf Grund äußerer Beobachtung, eines rein spekulativen Verhaltens, wird die Tragweite der strukturellen psychischen Charaktere abgeschätzt und festgestellt, so daß die Kritik die A n w e n d b a r k e i t , somit, der originalen Stellungnahme entsprechend, die Praxis der 34 b Intellektualität betrifft. Die Kodifikation der Grenzberichtigungsresultate, welche an die Stelle des formalen Konnexes einer nur logischen Lokalisation trat, ist das Charakteristikon der Kantschen Lehre. Damit ist das Band der Systematik durch die Einheit abstrakter Willensposition ersetzt, sachlich zu einer bloßen Schematik veräußerlicht, worüber Ausdrücke wie „Deduktion", deren Inhalt nichts anderes als Korrespondenz ist, nicht täuschen dürfen. Und als eine Täuschung über die Konsequenzen und Möglichkeiten seiner prinzipiellen Stellung erscheint es, wenn Kant eine Systematik als erreichbares Ziel hinstellt. Die Einheitlichkeit der Lebendigkeit, welche eine primäre Bewußtseinsbestimmtheit ist und darum eine unmittelbare Erfahrungstatsache, manifestiert sich in der ethischen Verhaltung der s. g. kritischen Philosophie wie (, wenn auch weniger abstrakt,) in der antiken Stoa , gleichsam indem die Lebendigkeit partikularisiert wird, und, sich zurückziehend in die Formulierung des einen ethischen Postulats, den adäquaten Ausdruck findet. Die Stellungnahme der Existenzialität gegenüber ist damit eine richterliche, das Urteil ein Verdikt. 78

Wir haben in dieser Verhaltung den Grund der dialektischen Scheidung gesehen und bezeichnet, welche zu einer Logik nicht zu gelangen vermag, 35 a weil der Ausgangspunkt, das Verfahren selbst, von dem σύνδεσμος abstrahiert. Von dem psychischen, vielmehr universalen psychophysischen Zusammenhange, welcher die Seele der Logik ist, ohne welchen diese eine reine bedeutungslose Formenlehre von nackter Tatsächlichkeit der Gültigkeit wird, ist auf Grund der ausgangspunktlichen Stellungnahme abstrahiert 59 , und so verbleibt ein ungebundenes Nebeneinander der psychischen resp. ontischen Trennstücke, deren Verknüpfungsweise nur eine willentliche, d. h. synthetische sein kann. So erweist sich das synthetische Problem als das zentrale für die ganze moderne Philosophie, womit die mechanische Stellung zu allen Gebieten historischer Äußerung bezeichnet ist. Es wird an anderem Orte hierauf zurückzukommen sein. Hier ist nur hervorzuheben, daß Kant, wie schon seine primäre Fragstellung deutlich macht, auf dem vorgefundenen historischen Boden einer ethischen Abstraktion, des willentlichen Independentismus, sonach einer metaphysischen Denkweise steht. Man kann sein Unternehmen als denVersuch einer Kritik der Metaphysik auf Grund metaphysischer Stellungnahme bezeichnen 60 . So ist seine dialektisch gewonnene theoretische Voraussetzung die wesentliche Getrenntheit von Sinnlichkeit und Intellektualität, welche 35 b Trennstücke als psychisch betrachtet, metaphysische a β1, sind [und?]to, weil metaphysische Entitäten nur praktisch verbunden werden, indem sie nur in ihrer praktischen Vereinigung als gebrauchsfähig erachtet werden. Die praktische Unanwendbarkeit ist schließlich die Rechtsnorm der Kompetenzbestimmung Denn wie gesagt, eine andere als diese normierende Absicht Hegt nicht vor, wie denn die gedankliche Richtung auf Grund der ft

Korrigiert aus „metapsychisch". t> Klammer bei Yorck. c Am Rande mit anderer Tinte in Höhe des Satzes „Die praktische Unanwendbarkeit . . .": „Übergang der ethischen in die utilitarische Position auch bei den Stoikern nachzuweisen."

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historischen Stellungnahme des Bewußtseins jede aitiologische Forschung, also das eigentliche Erkenntnisproblem ausschloß. Es wird dies bei Betrachtung der Kantschen Dogmatik im einzelnen nachzuweisen sein. Hier, wo nur diese allgemeinen Bemerkungen aus Anlaß seiner Behandlung des Raumproblems statthaft waren, ist nicht näher darauf einzugehen. Kant beschränkt sich, wie altbekannt, darauf, den Raum ungeteilt, als sinnliche Anschauungsform zu bestimmen, wodurch er die Frage nach der Apriorität, d. h. der Allgemeingültigkeit der Mathematik gelöst zu haben meint a . Damit ist nun dogmatisch, weil auf Grund einer willentlichen Satzung, eine neue metaphysische Selbständigkeit geschaffen, und das nämliche Motiv ruft die Zeit als Anschauungsform des inneren Sinnes hervor. Zwar wird jene Annahme als Hypothese bezeichnet, jedoch zu Unrecht, 36 a da sie über das partikulare Erklärungsbedürfnis hinaus für die Auffassung des davon gesonderten Intellekts maßgebend angewendet wird. Inwiefern nun jene Ansicht über die alte Annahme der Angeborenheit hinaus von Tragweite sei, ist nicht ersichtlich. Die charakteristische Fassung des Raums als Form, d. h. Schema, der b Schatten der der Abstraktion unsichtbar gewordenen Gestalt aber trat in Widerspruch mit der Tendenz des historischen Denkens der Arithmetisierung der Geometrie, welche im Grunde die Auflösung, die Reduktion der Okularität0 mittelst und auf die Empfindung, die Verzeitlichung der Räumlichkeit, ist. Die in der Bestimmung der Form festgehaltene Okularität, nicht die Transzendentalität des Raumes, ist das Kant von Locke unterscheidende Merkmal, und diese Auffassungsweise würde einem Leibniz als ein unphilosophischer Rückfall erschienen sein. Die Idealität Kants, wenn auch nur in der Form der Schematik, geht aber noch weiter dazu fort, die Zeit als Form des inneren Sinnes zu bestimmen, und zwar aus dem nämlichen Motive. Wenn nun in dieser Okularisierung der a b c

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Statt „meint" — durchgestrichen— „glaubt". Statt „der" Ms „den". „der Okularität" am Rande dazugeschrieben.

Zeit, deren psychischer Sitz die Empfindung ist62, die stärkste Veräußerlichung der Innerlichkeit sich dokumentiert a , woran die Subjektivierung der Zeit nichts ändert, so ist auch mit dieser nichts anderes erreicht wie 36 b beabsichtigt, als daß die Frage nach der zwingenden Natur der mathematischen Synthesis durch diese Vervollständigung der ontischen Lokalisation des Raumes weniger gelöst als zurückgewiesen wird. Ähnlich wie Aristoteles63 durch seine Lehre von der δύναμις hat Kant durch seine (die in methodischer Beziehung metaphysische Trennung von Subjekt und Objekt als absolute Selbständigkeiten voraussetzende) Phänomenalitätslehre einen Schlagbaum auf dem Weg der Erkenntnis errichtet. Die Nötigung der mathematischen Synthesis wird in dem Umstände des Nicht-anders-könnens gefunden, womit denn einem aitiologischen Versuche auch nicht einmal nahe getreten wird, vielmehr ein solcher abgewiesen erscheint. Und während die historische Tendenz darauf gerichtet war, die Okularität in das Unsichtbare der Kraft zu resorbieren - auf mathematischem von dem mechanischen Gedanken bestimmten, Gebiete den Charakter der Okularität: das Kontinuum mittelst des Unbestimmten, aber Diskreten als ein Kompositum zu fassen, Gestalt auf Größe zu reduzieren, bestimmt der Philosoph Kant die Größe als Gestalt, die Zeit als Form. Daher hat denn auch die moderne spekulative Mathematik als solche frei von dem mechanischen Halte und über dem Boden der Ausführbarkeit schwebend, Kant 37 a nur gleichsam den luftleeren Raum, in dem nichts ihren Flug hindert, zu danken, weswegen sie auf ihn rekurriert, während ihre konstruktive Tendenz [hin] auf Leibniz Ämweist. Daher auch, weil weder Kant noch einer seiner Nachfolger hinter den idealen Gesichtspunkt zurückgegangen sind, hat sie des moderamens einer erkenntnistheoretisch begründeten philosophischen Kritik entbehrt und strukturell fundierte Konkordanzen für Dependenzen gehalten. a

Am Rande: „stärkste Veräußerlichung. Damit das Gregenteil. (Reine Mathematik.) Religion. (Mit spitzerer Feder u. anderer Tinte.)

«

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Während sonach das Raumproblem von Kant und den ihm folgenden Philosophen nicht gefördert worden ist, seit dem Zerfalle der scholastischen, intellektuellen Gestalt ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Hervorbringung, der Konstruktion gestellt erscheint, ist die Existenzialität dem antiken Denken nicht problematisch, weil der Charakter eben dieses Denkens [, welches] anschaulich ist. Wir haben hier den Sitz der Gegensätzlichkeit der Bewußtseinsstellung vor uns. In dem modernen Bewußtsein haben wir die Konsequenz der absoluten christlichen Innerlichkeit vor uns, welcher alle Existenzialität ein anderes ist, so daß die kritische Stellung, das in Frage stellen, ermöglicht wird, woher der problematische und hypothetische Charakter der modernen intellektuellen Lebendigkeit rührt, wie denn diese Wandlung sich auch in dem Wechsel der Bedeutung der Terminologie ζ. B . bezüglich des Terminus Hypothese64 ausdrückt; das Hintersich-Kommen 37 b -wollen ist die Tendenz des modernen Denkens, welche auf dem Boden des Ganz-von-sich-lassens und damit der Weltverlassenheit erwächst, während das antike Bewußtsein an und in sich kosmisch ist, den Kosmos als Faktor in sich trägt. Dort die Unräumlichkeit der inneren Stellungnahme, hier gleichsam eine Vergestaltung. Man wird alles griechische Denken - (und die ganze griechische Lebendigkeit, deren ausdrücklichste, weil feinste Äußerung nur die Philosophie ist, die darum voll nur aus der Kenntnis der gesamten Gräzität verstanden werden kann - ) eine Geometrie, eine Gestaltslehre des Denkens nennen können. Wie denn der tiefsinnige Ausspruch Piatons von dem Geometrietreiben Gottes hieraus erleuchtet wird und demnächst das Licht der Erkenntnis zurückstrahlt. Wir erfahren, daß den Pythagoreern alle Größe Gestalt war, daß die Ionier das Unbegrenzte als Augenbild, als allgemeines Sehfeld faßten 65 . Die Abstraktion blieb innerhalb der ästhetischen Grenze, als eine r e a l e Abstraktion. Es ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß die strukturell gegründete relative Independenz der psychischen Funktionen alles Abstrahieren ermöglicht. Wie die primäre 82

Lebendigkeit sich manifestiert in der funktionellen Vereinzelung und in Aufhebung derselben - 38a Analysis und Synthesis - so ist die historische Lebendigkeit, das willentliche Verhalten, eine Wiederholung des nämlichen Vorgangs, dessen abstrakter Reflex wiederum die logischen Prozesse sind, ein Verhältnis, welches einer unkritischen, der Methode nach metaphysischen Denkweise die Umkehrung ermöglichte [,]. Nach dieser Hegeischen Denkweise bildeten [wonach] die logischen Formen oder Vorgänge die Fundamente aller Gegebenheit [bildeten, welche Hegeische]. Diese Dogmatik hat sich aus der Kantischen Ansicht [entwickelt] von der normativen und präjudiziellen Tragweite der ästhetischen und intellektuellen Formen entwickelt, ein Unternehmen, das darin bestand der, Logik, deren ontische Grundlage abhanden gekommen [war] und deren psychische Provenienz nicht erkannt war, den Rechtsgrund an Stelle des Seinsgrundes zu konservieren, was auf die zentrale Stellung des modernen Bewußtseins als eines naturrechtlich[en] konstruktiven hinweist - womit denn ein großer Teil des Wirklichkeitsgebietes, ja ganz eigentlich die Wirklichkeit im Gegensatze zur Existenzialität von der Erfahrungsmöglichkeit ausgeschlossen wurde ( - , ein Vorgang, der an die eleatische Konsequenz erinnert und eine der sophistischen ähnliche Opposition der Lebendigkeit hervorgerufen hat). Denn auch die historische Lebendigkeit, wie die psychische in Abstraktionen prozedierend, restituiert 38b ihre Einheitlichkeit, ohne doch dem Fatum der Vereinzelung entgehen zu können, und [um]1 deshalb sich in einander komplettierenden Einzelheiten bewegend. Denn als Grundmotor, als zentrale Unruhe der Lebendigkeit, kann ausgesprochen werden das primär gegebene Verhältnis, wonach die Manifestation der einheitlichen Lebensfülle nicht anders denn als Vereinzelung möglich ist, während die volle Lebendigkeit gleichsam zu Worte kommen will. So lange nun das Einheitsgefühl in der Besonderung sich findet, ist der Ausdruck der Lebendigkeit ein dogmatisch fester, von a

β·

Statt „ u m " — durchgestrichen: „nur".

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einer symbolischen, über die provenienzielle Bedeutung hinausreichenden Inhaltlichkeit. Erst die weitere, wohl okkasionierte, nicht aber innerlich kausierte, sondern sich aus sich selbst explizierende Lebendigkeit verschreitet zur Lösung der dogmatischen Synthesis, woraus sich ergibt, daß jede Stellungnahme, welche eine wirklich kritische ist, eine Modifikation des Bewußtseins voraussetzt, sowie daß es eine absolute, auf sich selbst beruhende historische Kritik nicht anders denn als metaphysisches Formgebilde gibt. Es kann als die Fatalität aller Geschichtlichkeit ausgesprochen werden, daß die Lebendigkeit in der Unmöglichkeit ist, sich voll und ganz zum Ausdruck zu bringen, weil das Medium stets eine psychische Einzelheit ist a . Hierin ist die Grenze auch aller Erkenntnis, der Umfang der Erkenntnismöglichkeit begründet. Denn das vorstellige Verhalten ist an sich 39 a schon ein abstraktes, ein Einzelverhalten, welches um der relativen Independenz der Funktionalität willen (, welche die Radizierung einer Funktion oder mehrerer auf eine andere, die Simplifikation mittelst einer Funktion ausschließt, worüber das Experiment belehrt,) die inadäquate Form für die ganze Fülle der Lebendigkeit ist. Ist nun wie alle Lebendigkeit so auch das Erkennen-Wollen eine Selbstmanifestation, dieses insbesondere eine Restitution der Einheitlichkeit, (- aus welchem Lebenszusammenhange die prinzipale Erkenntnismethode einer Reduktion des Mannigfaltigen auf das Eins abfolgt und woher sich die Einheit des Erkenntnisgrundes als in der Einheitlichkeit des Realgrundes gegründet, als Reflex dieses ergibt ,) so ist die Unmöglichkeit voller Erkenntnis erkannt66. Das Wort vermag nicht das Leben zu fassen ebensowenig wie die Tat. Andererseits aber ist die strukturelle Kohärenz, die psychophysische Tatsächlichkeit und primäre Vorfindlichkeit internen Zusammenhanges, in welcher alle Logik wurzelt, der Grund der Manifestationsa

Am Rande neben. „Es kann also . . . " : „N.b. Prädestination ist die religiöse Komplettierung der religiösen Freiheit. Tatsache, d.h. Gefühl, nicht Ansicht, solche erst bei Übertragung auf andere als ontische Bestimmung."

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möglichkeit der lebendigen Totalität mittelst partikularer Verhaltung, oder vielmehr die Partikularität trägt in sich die Totalität, so daß Wort und Tat über sich hinausreichend von symbolischer Kraft sind und Fülle der Lebendigkeit erkenn39 b bar machen, ein Verhältnis, welches die zurechnende Beurteilung, das juristische Urteil ebenso wie das logische und ästhetische ermöglicht. Wo nun die Fülle der Lebendigkeit in das partikulare Darstellungsmittel gefaßt ist, wird es damit zum Träger gleichsam eines Geheimnisvollen, Unausgesprochenen und Unausdrückbaren. Und wenn eine der radikalen psychischen Funktionen67 das Organon der gesamten Lebendigkeit wird, gleichsam das bestimmende Medium der Totalität a , ist damit eine besondere Bewußtseinsstellung gegeben, welche die Geschichtlichkeit und die typische Bedeutsamkeit konstituiertb. Daß die Fülle der Lebendigkeit die Okularität zu ihrem Organon machte, daß sie durch dieses Mittel bestimmt wird, wie es ihrerseits bestimmend ist, haben wir als die geschichtliche Bedeutung des griechischen Geistes bezeichnet0. Die Versichtlichung, die Evidentmachung der Gesamtgegebenheit ist Art und Motiv der griechischen Denkweise, deren Historizität in dieser Urteilung des Selbstbewußtseins besteht, welche die Okularität frei macht, verselbständlicht, um daran ein Organ zur Bewältigung der Gegebenheit zu gewinnen. Ein Verhalten, welches zu metaphysischen Resultaten führt, weil es selbst den empirischen psychophysischen Verband [in der] durch die Isolation der Anschauung auflöst, woraus sich denn erklärt, warum die Stufen des historischen Prozesses, welche die verschiedenen radikalen 40 a Bewußtseinsstellungen repräsentieren, dogmatischen, damit der Methode nach metaphysischen Charakter tragen. Das Moment aber, welches den geschichtlichen Wert dieser Lebendigkeit konstituiert, die ft

Am Bande: „Verschiedene Abstraktion/Relativität". Am Bande: „a) Geschichtlichkeit, weil Urteilung radikaler Natur, b) Typus, weil der Natürlichkeit des Einzelverhaltens entsprechend." c Am Bande: „Dogmatisch auf Grund der Belativitätseinsicht, Kritik, welche weiter abstrahiert". b

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Tatsache, daß die Fülle der Lebendigkeit gleichsam unter ein Okular zur Spiegelung gebracht, verbildlicht wird, verleiht ihm auch seine typische Kraft. Denn das Organon, die Funktion, ist eine feste psychische Gegebenheit, welche durch ihre Isolation zur Explikation gebracht wird. Daher kann die griechische Philosophie als eine Analysis der komplexen Okularität bezeichnet und ihr äterner Gewinn dahin bestimmt werden, daß die unabänderlichen, weil strukturell gegebenen Verhältnisse der Okularität herausgestellt wprden sind68. Denn nicht an dieses Erwerbnis hat Kritik und Skepsis zu rühren, vielmehr ihre Stärke nur darin zu dokumentieren vermocht, daß die totale Applikabilität der Okularität in Frage gestellt, das Verhältnis dieser Funktionalität zu den anderen psychischen Funktionen untersucht, somit die dogmatische Position, welche der Effekt einer lebendigen Stellungnahme war, verlassen wurde, wie denn Skepsis und die ihr immanente Kritik stets eines Änderung der Bewußtseins-, der Glaubensstellung voraussetzen und dadurch bedingt sind, nicht minder wie jede 40 b Dogmatik. Und hier wie dort ist es das Eingehen der ganzen Lebendigkeit in die vereinzelte Richtung, welches produktiv bereichernd wirkt, worauf wir an anderer Stelle zurückzukommen haben werden. Aus dem Gesagten erhellt, warum das Raumproblem die zentrale Frage des griechischen Denkens ist und warum es hier zur vollen Explikation gelangt, warum es gleichsam das Lebensinteresse gewesen ist. Der Formgedanke, ein Gedanke okularer Provenienz, beherrschte schon das ionische Erkenntnisstreben, aber in der abstraktesten Bestimmung als objektiviertes Sehfeld, bis zu welchem die okulare Abstraktion als zu dem letzten nicht mehr aufzuhebenden Datum fortgeschritten war. Mittelst Abstraktion war hiermit die letzte und radikale Realität eines [sich] schauend ßicÄverhaltens erreicht, welche entsprechend der Gewinnungsweise als unbestimmt, allgemein, oder, mit dem Ausdrucke welcher diesen Prädikaturen innerhalb des ästhetischen Vermögens entspricht, als άπειρον bestimmt wurde. Dieses Prinzip entsinnlicht zu haben, ist die eleatische 86

Zutat und ihr entsprach notwendigerweise die Aufhebung allen Zusammenhangs innerhalb der Phänomenalität. Wir haben schon hervorgehoben, daß zwischen dem öv und dem μη öv kein aitiologisches Verhältnis anerkannt wurde. Ebenso wichtig, aber 41 a weniger erkannt ist, daß, wie das öv in seiner radikalen Isolation ein Willensprodukt war, so das μη öv eine Willensnegation, nicht der Wahnsinn einer Leugnung empirischen Seins ist69. Und dieser Zusammenhanglosigkeit entsprechend wird in dem Parmenideischen Gedichte die Physik der Metaphysik einfach äußerlich angefügt, ähnlich wie Kant seiner Erkenntnislehre die rationale Naturlehre verbindungslos hinzutut, nachdem er von der Mittlerschaft des Descartesschen Gottes als des Wirklichkeitsgaranten abstrahiert hatte. Die frühere rein optische Verbindung der Metamorphose war an der Sprödigkeit der Einheitsforderung zu Schanden geworden, und die abstrakte dialektische Stellung hatte jeden Versuch einer Begründung von vornherein abgewiesen und damit jeden logischen Keim unterdrückt, άρχή und αιτία waren geschieden und als unvereinbar erkannt a , ein Ergebnis der strukturellen Differenz der radikalen Originalität von Erkennen und Wollen71. Die Relativität von Einheitlichkeit und Mannigfaltigkeit, welche in dem bildlichen Gedanken der Gestaltswandelung von den Ioniern festgehalten worden war, wurde durch das Verdikt einer Willensentscheidung zerrissen, womit allerdings die Reinheit der metaphysischen Position erreicht war. Der Fortschritt lag in der 41 b Analysis des konkreten Prinzips, welches jene beiden Momente des Äternen und des Grundes in sich trug. Innerhalb des ästhetischen Verhaltens und auf primärer philosophischer Stufe spielt sich hier derselbe Vorgang ab, welcher als Erkenntnisaporie das gesamte metaphysische Denken durchzieht und dessen tiefste Fassung in dem Probleme der Vereinbar[ung]&eii von Spontaneität und Dependenz, Freiheit und Determination (Prädestination) 15 sich darstellt. a

Am Rande: „Wissensproblem daher Zeno70." bis „daher" mit spitzerer Feder offenbar später hinzugeschrieben. „Zeno" wie Haupttext. b Klammer bei Yorck.

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Versuchen wir, unter Hinweis auf früher Gesagtes, diese Aporie aus der Motivation des Erkennenwollens, aus dem lebendigen Verhalten zu verstehen. Die Frage, woher es komme, daß alles Erkennen sich darin vollzieht, daß ein Mannigfaltiges auf eine Einheit abgeleitet wird, diese Frage nach der Methode allen Erkennens findet ihre Antwort von der Betrachtung des Erkenntnisvorgangs aus als eines lebendigen Verhaltens. Unmittelbare Selbstbeobachtung ( - daß diese aber gleichsam wie ein farbiges Okular alterierend wirkte, ist eine nicht nur willkürliche, sondern unkritische, weil auf einer Verselbständlichung, Metaphysizierung des Vorstellens beruhende Annahme, welcher die Selbstgewißheit, das letzte Testimonium, das letzte umfassendste Experiment der lebendigen 42 a Verhaltung selbst, widerspricht -) erweist, daß alle Lebendigkeit eine Manifestation des Selbstes am anderen ist oder (, wenn in Betracht gezogen wird, daß die Entgegensetzung von Selbst und Anderem, diese zentrale prädestinierte Duplizität, die radikale Diremption der Lebendigkeit ist, wonach anderes wie Selbst Faktoren der psychophysischen Gegebenheit sind') eine Auseinandersetzung der Grundelemente des Selbstbewußtseins behufs Erhaltung desselben. Wir berühren hier den tiefsten widerspruchsvollen Charakter der Lebendigkeit, welche in dem „von sich gehen" bei sich bleibt. Wer sein Leben findet, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert, der wird es findena. Dieses Herrenwort bezeichnet das Gesetz des Lebens selbst, die GrundVerfassung aller Lebendigkeit. Der Tod ist ein Merkmal des Lebens72, und die radikale Transzendenz des tiefsten, des christlichen Bewußtseinsstandpunktes postuliert das Leben als ein Merkmal des Todes. Diese lebendige Selbstmanifestation vollzieht sich aber in struktureller Vermittlung wie auf dem somatischen so auf dem psychischen Gebiete. Die Lebendigkeit ist eine artikulierte. Explikation und Simplifikation des Entfalteten sind » Evangel. Matthäi 10.39 (Anm. bei Yorck).

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die lebendigen Vorgänge, in denen auch die logischen Vorhaltungen wurzeln, wie denn das Urteil den Schluß in sich trägt, als lebendiger Akt Analysis und Synthesis vereinend. 42 & So ist die Lebendigkeit, als eine Reproduktion ihres eigenen Bestandes, eine Restitution der durch Abstraktion aufgehobenen konkreten Einheitlichkeit. Wir haben mehrfach ausgesprochen, daß der Vorgang der Abstraktion nicht ausschließlich der künstliche und willkürliche ist, als welcher er gemeiniglich gefaßt wird, letzterer vielmehr nur eine willentliche Wiederholung der lebendigen Unmittelbarkeit ist. So ist das lebendige Verhalten nach einer seiner Seiten Vereinzelung11, insoweit die Aktivation eines Sinnes oder einer psychophysischen Funktion die gleichzeitige Aktivität eines der anderen Organe hindert oder beschränkt, wobei ein gradweiser Unterschied der Absorptionskraft erfahren wird, je nach der Zentralität der Bedeutung der Funktion, ein Verhältnis, welches (im allgemeinen der psychophysische Sitz der Kategorie der στέρησις ist und) b in seiner Verschiedentlichkeit die Essentialitätsstufe, d. h. den Lebenswert der einzelnen Funktionen angibt. Die Artikulation der Gegebenheit, und somit die Unterscheidungsmöglichkeit, aber ist eine gegebene, und zwar, wenn von dem rein Somatischen (dessen Grenzbestimmung dem Physischen gegenüber darin möchte gefunden werden können, daß es keine oder eine geringe konstruktive Bedeutung, keine Kombinationsfähigkeit hat, weswegen die Geschichtlichkeit mit dem Akte der Trennung 43 a von Leib und Seele beginnt, ) b abgesehen wird, sind es ausschließlich Fühlen, Anschauen und Wollen, welche als funktionale Charaktere erfahren werden, als distinkte Partikularitäten von relativer Independenz voneinander. Nicht so, daß eine dieser Verhaltungen ohne virtuelle Konkurrenz der anderen erfahren würde, vielmehr ergibt die Analysis die gegenseitige Kooperanz der a b

Am Bande: „Gesetz der Partikularisierung". Klammern bei Yorck.

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psychischen Funktionen 3 und damit ein ähnliches Verhältnis wie auf somatischem Gebiete die funktionelle Arbeitsteilung, die in wechselwirkender Dependenz steht. Aber dort wie hier liegt die Abhängigkeit originaler Differenzen vor, welche als solche relativ selbständig 0 und, wenn auch nicht ohne die wirksame Kooperanz der anderen Funktionen, doch von eigentümlichem Charakter und spezifischer Natur sind, und zwar so, daß die Explikation einer psychischen Funktionalität die Latenz der übrigen verlangt. Womit nichts anderes als die Fatalität bezeichnet ist, welche schon oben hervorgehoben 43 b wurde, daß die Lebendigkeit sich nur artikuliert, nur in der Besonderung zu manifestieren vermag. Andererseits ist es die Fülle der Lebendigkeit, welche mittelst des einzelnen Organs zum Ausdrucke, einem notwendig immer insuffizienten Ausdruck zu gelangen strebt. Mittelst der Vereinzelung manifestiert sich die Einheitlichkeit. Wir sehen, wie auf somatischem Gebiete die Einheitlichkeit als solche zu Worte kommt infolge der virtuellen Beschränktheit der einzelnen Funktionen, hiernach Vergänglichkeit der Funktionalität als die innere Ökonomie der Lebendigkeit sieh erweist 0 . Der Wandel der Funktionen ergibt sich aus ihrer virtuellen Bedingtheit. In gleicher Weise und in gleichem Verhältnisse vollzieht sich die Lebensmanifestation [in] auf psychischem Gebiete. Neben der virtuellen Kooperanz der Funktionen besteht das Verhältnis der Ausschließlichkeit, der Undurchdringlichkeit einer jeden der anderen gegenüber. Wollen wird als Faktor des Denkens und nichtsdestoweniger a

Die Bestimmung des Verhältnisses der Dependenzen auf somatischem Gebiete ist Aufgabe der Physiologie, von psychischer Tragweite •wegen des paychophysischen Konnexes. Die Grenze der Bestimmbarkeit zu markieren ist Sache der Erkenntnistheorie. (Anmerkung Yorcks) b Dahinter, durchgestrichen: „sind. Daher die wirksame". c Neben und tiefer als dies Vergänglichkeitsbewußtsein ist das Sterblichkeitsgefühl, welches nur ein abstraktes oberflächliches Denken mißkennt, indem es die Sterblichkeit der Menschen zu dem Resultate eines Wahrscheinlichkeitsschlusses macht. Anmerkung bei Yorck. Statt „Vergänglichkeitsbewußtsein" ursprünglich: „Vergänglichkeitsgefühl".

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als ein spezifisches und in seiner Aktivation die denkliche Zuständlichkeit negierendes Verhalten erfahren und vice versa, wie gleicher Weise bezüglich des Fühlens. Die Tendenz der Lebendigkeit, sich zum Ausdrucke zu bringen, steht unter dem Fatum der Artikulation und [geht] wenn sie in e i n 44 a Organon eingeht, so bedingt dies die Inaktivität der anderen Organe. Anders ausgedrückt: Der der Urteilung immanente Schluß ist, wenngleich eine Marke, so doch selbst wiederum nur ein partikularer Ausdruck der restituierten lebendigen Einheitlichkeit. An anderer Stelle werden wir zurückzukommen haben auf die Natur des Schlusses als des ästhetisch-logischen, des Erkenntnisschlusses73, als der Form der Willenseinigung, als der Gefühlsvereinheitlichung, welche zentral 4 und gleichsam punktuell sich als Religiosität darstellt. Hier genügt es, auf die unvermeidliche Partikularität aller Vereinheitlichung hingewiesen zu haben. Während nun in den Einzelwissenschaften die Tendenz der Vereinheitlichung als eines lebendigen Verhaltens das Gebiet der durch Abstraktion gewonnenen Partikularität nicht überschreitet, innerhalb der einzelnen psychischen Funktion und damit in einem Bereich der Möglichkeit der Reduktion der Mannigfaltigkeit auf die Einheit verbleibt, ist das totale Erkennenwollen, der philosophische Trieb, darauf gerichtet, hinter die Fülle der Lebendigkeit von einem Verhalten aus und mittelst desselben zu kommen, welches an sich partikular ist. Die psychische Unmöglichkeit der Identifikation des Mannigfaltigen und des Einen konstituiert die Unruhe des philosophischen Denkens, welches die Tendenz [hat] auf eine [r] Restitution 44 b der primären Lebenseinheit, auf eine [r] Simplifikation des mittelst des Lebensprozesses (, als dessen willentliche Wiederholung partikular und formell alles Denken, total das philosphische Denken sich darstellt,) Getrennten hat. Die Einsicht nicht in die Gebrauchsfähigkeit und Tragweite psychischer Provenienzen, sondern in ihr Wesen und 8

Am Bande: „Humanität historischer Schluß" (spitzere Feder).

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ihre daraus resultierende Unvertauschbarkeit (,eine Einsicht, welche Ergebnis der Selbstbesinnung und des Selbstverhaltens, eines Experiments, ist,) gewährt den kritischen Standpunkt jeglicher Metaphysik, auch der Metaphysik gegenüber und läßt, was sich als kritische Philosophie bezeichnet hat, nur als eine neue Gestalt der Metaphysik erkennen74. Andererseits ist der Trieb gedanklicher Selbsterfassung kein willkürlicher und, insofern in der historischen Urteilung die einheitliche Fülle zum Ausdrucke gelangt», weder bedeutungslos noch irrtümlich. Denn ist gleich die Besonderheit der drei radikalen psychischen Verhaltungen eine tatsächlich so bestimmte, daß eine gegenseitige Überführung der einen in die andere nicht vollziehbar ist, so ist doch die Selbständigkeit jener Verhaltungen eine nur relative. Wie die virtuelle Kooperanz der Funktionen durch Experiment sich ergibt, ( - die Feststellung des Grades ist Aufgabe der Physiologie und physiologischen Psychologie -) so repräsentiert in gewissem Sinne eine der psychischen Funktionen die anderen 6 , wie denn ζ. B. der in intellektueller Beziehimg rein negative 45 a Gedanke des Unendlichen positiven Gefühlswert birgt. Am mannigfaltigsten und sinnvollsten erweist sich diese der einheitlichen Lebendigkeit entwachsene Harmonie in der Sprache, welche von lichten Gedanken, hellem Tone, scharfen Linien etc. spricht. Und die Gewichtsverteilung der einzelnen Funktionen als sprachbildender Faktoren konstituiert den Charakter der einzelnen Sprachen, da auch der grammatische Nexus in dieser Weise bestimmt ist. Wir wissen, daß das griechische Bewußtsein als ein historisches, d. h. insofern es von der animalischen Nezessität nicht bestimmt war, im wesentlichen ein ästhetisches war und in der reinen Ausbildung eines solchen typisch, d. h. von innerer Geschichtlichkeit, gewesen ist. Die Erhebung über die bloße Gegebenheit vollzog sich mittelst der Anschauung. Anders ausgedrückt: die psychische Urteilung vollzog sich a b

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Nach dem Komma, durchgestrichen: „nicht". Dae „n" von „anderen" nachträglich eingeflickt.

dahin, daß das spekulative Vermögen prädominierte. Dieser historische Lebensvorgang mag in virtueller Beziehung gestanden haben zu dem natürlichen περιέχον, und es befriedigt die Phantasie, auszumalen, wie die Transparenz der Luft, die reinen Linien von Gebirge und Landschaft, die Unbegrenztheit des ungehindertes Sehen verstattenden Meeres, die Klarheit der astralen Erscheinungen und 45 b Vorgänge das Auge gebildet und mit dem Sehen die innere Blickkraft, das anschauliche Vorstellen - επιστήμη - gestaltet und genährt haben 76 . Eine Rückführung der Bewußtseinsstellung auf die natürlichen Umstände als auf ihre Faktoren würde jedoch ein unkritisches Unterfangen, ein Rückgang hinter primäre Gegebenheiten, eine naturalistische Metaphysik, darum aber nicht weniger Metaphysik sein als die Annahme einer radikalen Independenz der Bewußtseinsstellung von dem Charakter des milieu. Denn für die Erkenntnis eines historischen Vorgangs ist die eigene psychophysische Gregebenheit, welche ein Wiedererleben ermöglicht, maßgebend. Dieser aber erweist sich der konkrete wechselwirkungsreiche Lebensvorgang als primäres, wohl zerlegbares, nicht aber rückführbares Datum. Diese griechische Bewußtseinsstellung - wir wiederholen schon Gesagtes - bestimmte die ganze Breite und Tiefe jener Lebendigkeit, insofern jene als eine charakteristisch besonderte erscheint. Sie formt und bestimmt nicht nur das wissenschaftliche Verhalten, die Weltansicht im allgemeinen wie die wissenschaftliche Praxis (, wie denn griechische Arzneiwissenschaft, Mechanik nicht minder wie die griechische Philosophie ihr entwachsen ist,) auch das praktische Verhalten folgt aus ihr ab, eine Behauptung, 46 a welche weniger gewagt erscheinen wird, wenn die Pädagogik der Griechen und ihre Stellung zur Politik ins Auge gefaßt wird76, so daß nur das historische συμβεβηκός als diesem Kreise außerhalb verbleibt. Ist nun gleich die ganze Artung der Lebendigkeit in Betracht zu ziehen, wenn ein Verständnis des griechischen Geistes erreicht werden soll, so konnte doch nach der Absicht dieser Arbeit nur von der Philosophie die Rede sein, welcher 93

überdem als feinstem Ausdrucke historischer Lebendigkeit eine repräsentative Bedeutung beiwohnt. Wir haben erwähnt, daß in dem Streben, hinter die Gegebenheit zurückzugehen, der griechische Geist an die Anschauung gebunden blieb, und zwar sowohl in dem Modus des Regresses als auch in dem Endresultate. Ist das wissenschaftliche Verfahren im allgemeinen ein doppelter Vorgang, nämlich zunächst ein Regreß mittelst Abstraktion und ein Progreß von dem der Abstraktion nicht mehr zugänglichen Datum aus - αρχή und αιτία - so qualifiziert sich das erstere Verfahren in der griechischen Philosophie als reines Absehen, optisches Verhalten, welches fortgesetzt wird bis zur Erreichung des essentialen Datums, von welchem ohne Selbstaufgabe nicht mehr abgesehen werden kann. So ergab sich dem griechischen Geiste das reine Sehen - die intellektuale3, Anschauung als das 46 b primäre Verhalten, indem bei dem Absehen von dem Sehen nicht mehr abstrahiert werden konnte. Von der ästhetischen Haltung aus konnte hinter sie nicht zurückgegangen werden. Betrachten wir an [der] Hand der eigenen Erfahrung den psychischen Vorgang nach den wirkenden Faktoren und nach dem Motive, so sehen wir in ersterer Beziehung die reine spekulative Verhaltung durch eine Willensaktion und Gefühlsverfassung bedingt und bestimmt, wobei wir hier von den psychischen Voraussetzungen [Absicht nehmen] absehen, wo es sich allein um die historische Lebendigkeit handelt. Während aber die Gefühlslage nur insofern wirksam ist, als (, wie wir als Selbsterfahrungsresultat schon hervorhoben,) die Aktivation einer der psychischen Funktionen die Quieszierung der anderen erheischt, (ein Verhältnis, welches das Verständnis eröffnet für den Zusammenhang der Erkenntnistheorie und der Gefühlsnegation - der Ataraxie - in der Stoa wie überhaupt der theoretischen und praktischen Behandlung der Leidenschaften in der griechischen Philosophie), so ist das Willensmoment gleichsam interner an dem spekulativen Ver4

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„intellektuale" korrigiert aus: „intellektuelle".

halten beteiligt. Denn die Willensaktion verschreitet zu der Simplifikation reineT Anschauung mittelst Abstraktion. Nicht nur daß der Wille von Begehrungszwecken absieht, von ihnen sich freihält, woraus sich das Bedingungsverhältnis 47 a der Moralität und der Philosophie (, wie es besonders prägnant in der Rationalität der großen modernen philosophischen Richtung sich ausspricht,) 77 erklärt, sondern Willensentschließungen sind die Etappen auf dem Wege zu der αρχή, und wollentlich ist der Fortgang des Absehens, welches ein okulares Abtrennen ist. Alle primäre Gegebenheit ist eine konkrete und alles historische Verhalten ist die Auflösung dieser Zuständlichkeit mittelst Abstraktion 8 ·. Wir haben schon angedeutet, daß der Prozeß auch der psychischen Lebendigkeit der der Abstraktion ist, ein gegebenes Verhalten, dessen willentliche - nicht willkürliche - Wiederholung die Methode aller geistigen Tätigkeit konstituiert. Wie nun die primäre Lebendigkeit sich manifestiert in der funktionellen Vereinzelung, wie die Aktivität einer Sinnesenergie die Negation der übrigen einschließt, so daß jede Lebensregung als eine Abstraktion sich darstellt, b so erweist sich der Erkenntnisvorgang als Reflexion, als Rückgang mittelst der Abstraktion zu dem primären Datum, von dem nicht mehr abgesehen werden kann der Art der historischen Lebendigkeit wegen, welche sich erkennend verhält. Daß aber dies primäre Datum ein einheitliches ist, auch da, wo es aus konstruktionellem Bedürfnis als numerisch vielfach aufgefaßt wird, ist in der gegebenen Einheitlichkeit des lebendigen Selbstbewußtseins gegründet, deren theoretische Restitution 47 b das Wesen des Erkennens ist 78 . Vollzieht sich nun dieses Rückschreiten mittelst der Okularität, auf Grund einer psychischen Verfassung, welche sich als das Resultat einer derartigen Urteilüng darstellt, wonach die Opsis das prädominierende Vermögen ist, so ergibt sich die Art des Regresses als ein rein okulares Absehen und der a b

Mit spitzerer Feder am Rande: „Motiv Selbstbehauptung". Von „daß" an eingeflickt.

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Endpunkt als ein bildlicher», als die reine okulare Bestimmtheit, das Sehen, als das Sehen als solches in gegenständlicher Projektion (unter der Form der Gegenständlichkeit)b. Es ist aber dieses Merkmal der Okularität für das letzte Datum der Spekulation 0 nicht erschöpfend. Denn den Rechtsgrund dieser letzten Abstraktion gewährt das Motiv des ganzen Prozesses, welches das der Selbstbehauptung ist. Aus der Flucht der Empfindungen, Erscheinungen und Strebungen, aus dem Sich-im-Leben-verlieren, wird suchend nach dem festen, unabhängigen, selbstgenügsamen Grunde, nach dem Subjekte des Lebenssatzes zurückgestrebt, als der Wahrheit, dem Rechtsgrunde, der Würdigkeit der eigenen Existenzialität. Die Zeitempfindung, das Vergänglichkeitsgefühl, die Abhängigkeit als Willensmoment, die mannigfaltige Verschiedenheit der Erscheinungen, diese Bestimmtheiten der drei psychischen Grundfunktionen sind die Exzitamente des philosophischen Triebes, welcher, hinter das Leben kommen wollend, die Selbstgewißheit sucht. 48 a In Anbetracht der zentralen Stellung und Bedeutung des Empfindungsfaktors ist zu sagen, daß Äternität das vorzügliche Merkmal aller metaphysischen Position als solcher, Negation der Zeitlichkeit der entscheidende metaphysische Schritt79 ist d . Die Abstraktion von jenen bewußtseinsbildenden Elementen, welche somit über das Bewußtsein hinausführt, indem die Seite des dem Subjekt Angehörigen [Eigen] oder des Selbsts isoliert wird, ist ein Akt des Wollens, motiviert durch die zentrale Bewußtseinsduplizität, ja Gegensätzlichkeit, nicht aber nezessiert und insofern (d. h. negativ) frei. Man hat zu sagen, daß alle historische Lebendigkeit mit dem negativen Verhalten beginnt, und insofern Freiheit voraussetzt. Auch diese Stellungnahme ist nun e durch die Gea

Ms: „bildliches". Klammer bei Yorck. 0 Korrigiert aus: „Okularität". d „Daher sind auch die der Zeit enthobenen Denkformen bei Kant metaphysischer Natur." (Anmerkung Yorcks). 8 Korrigiert aus: „nur". b

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gebenheit ermöglicht, auch die Negation ist gleichsam präformiert, und zwar nicht nur in der totalen Bewußtseinsgegensätzlichkeit, sondern auch innerhalb der einzelnen psycho-physischen Funktionsbereiche, wie die trotz des Wechsels der Lebensempfindung und Einzelwertung festen Marken des süß-sauer, wohltönend-mißtönend, schön-häßlich, gut-schlecht usw. erweisen, eine gegebene Verfassung, in welcher die für das griechische Denken besonders bedeutungsvolle Form 48 b der Negation, die στέρησις, wurzelt. Aber die Aktivation und Applikation der Negation auf die eine Gesamtheit des Bewußtseins ist über die Gegebenheit hinausgehend, und zwar in dem Umfange, daß von dem Momente des Anderen abgesehen wird, woraus sich auch ergibt, wie diese Negation in dem Gefüge der griechischen Logik, welche ontologisch basiert ist, keine Bedeutung (und nur insoweit die Aristotelische Logik rhetorischer Provenienz ist80, in dieser eine rein äußerliche Stelle) haben konnte a . Als Voraussetzung der Spekulation ist dies negative - freiheitliche - Verhalten wie gesagt ein die gesamte Bewußtseinsgegebenheit bestimmendes. Und zwar nicht nur dahin, daß von dem Wollen und Empfinden als selbstwertigen Funktionen abstrahiert wird, sie in den Dienst des anschaulichen Verhaltens gestellt werden, sondern auch insofern, als von den Momenten des Anderen in der Willens- und Empfindungssphäre abstrahiert, die Seite des dem Subjekt Zugehörigen [Eigen] und des Selbst isoliert wird. Bezüglich des ersteren Punktes ist schon hervorgehoben worden, daß das relativ selbständige Verhältnis der psychischen Funktionen 6 49 a die psycho-physische Struktur dieses a

Die Negation ist einer der Punkte, bei welchen kenntlich iat die zwiefache Provenienz der Aristotelischen Logik, welche teils in der platonischen Ontologie, teils in der rhetorischen Grammatik wurzelt. (Anmerkung Yorcks). c b Am Rande in Höhe des letzten Satzes: „Tatsächlich, nicht bloß theoretisch. Weitere christliche Negation. Reflex (. ?) Sündenfall. Negativität der alten Ethik. Bestimmung der άρχή von den drei Gebieten aus". 0 Am Rande neben der Anmerkung: „Der ganze Standpunkt wird angegriffen von Heraklit. Über ihn . . . "

Τ

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Verhaltens ermöglicht, daß die Prädominanz einer, hier der anschaulichen Funktion gleichsam als eine zweite, eine historische Naturseite gegeben ist, als eine typische Anlage, und daß das hiermit lebendig motivierte willentliche Verhalten eine Inswerksetzung, eine Aktivation dieser Veranlagung ist, ein Vorgang, welcher typisch ist, weil ein konstitutives psychisches Element zur radikalen Explikation gelangt81, wie man denn sagen kann, daß die Anschauung sich gleichsam ausgelebt habe in der Gräzität. Die Haltung des Wollens und des Empfindens ist aber hiernach die, daß das Wollen nicht wolle, die Empfindung stille sei, und wo eine Störung des lebendigen Gleichgewichts, welches jene Negation mühelos ermöglicht, eintritt (, - und die Lebendigkeit selbst prozediert in solchen Störungen -) die Willensenergie jene Abstraktionen aufrecht erhalte. Wir sehen, daß die stoische Lehre der Willensnegation, der Ataraxie, die psychischen Momente nur hervorkehrt und durch Verselbständlichung verschärft, welche die allgemeinen Voraussetzungen des griechischen absolut[en] spekulativen Verhaltens sind, wie andererseits der Wissenszweck auch den Stoikern der Rechtsgrund ihrer Stellungnahme verbleibt, wie denn gerade die Eigentümlichkeit der Stoa darin besteht, die psychischen Voraussetzungen des Intellektualismus untersucht und herausgestellt zu 49 b haben. Positiv ist das Wollen nur insofern, als es die Anschauung will, und daraus erklärt sich, daß die griechische Ethik, sobald die Normen des anschaulichen Verbandes ihre dogmatische Gültigkeit verlieren, von rein negativem Charakter ist. In der Anschauung als philosophischer aber sucht sich die Fülle der Lebendigkeit zu ergründen, denn nicht ein willkürliches Unternehmen, sondern das Bedürfnis der Selbstbehauptung auf theoretischem Wege treibt zur Philosophie. Und diese Abzweckung begrenzt, im Gegensatze zu der Abstraktion des Verhaltens und der Gewinnung, die Abstrakt[ion]heit der Gültigkeit und des Wertes der gewonnenen Position. (Sie ist eben der Versuch, mittelst einer der psychischen Funktionen in adäquater Weise das in den Gegensatz 98

zu dem Anderen gestellte Ganze derselben zum Ausdruck zu bringen, mit anderen Worten auf eine Funktion die anderen zu radizieren.) 8 · Jenes Erkenntnismotiv bekleidet daher das letzte unvordenkliche 82 Abstraktionsresultat, die αρχή, mit den letzten Empfindungs- und Willensposivitäten. Das anschauliche Verhalten geht mittelst einer seiner Natur gemäßen rein okularen Abstraktion (, welche bestimmt ist, durch das Interesse das Sichere und Gewisse aus der Gregebenheit herauszuschälen, Selbstgewißheit durch 50 a Projektion zu erreichen,) bis zu dem aller Okularität unüberwindlichen Datum des reinen Sehens, welches entsprechend der Art der Gewinnung rein negativ bestimmt ist als άπειρον, ohne doch, um der Struktur des Auges willen, innerlich gefaßt werden zu können: um der ästhetischen Art des griechischen Vorstellens willen bleibt es vielmehr absolut formlos [zu sein]. Reine und allgemeine Form als Resultat der Abstraktion von Begehren und Empfinden wie der weiteren Abstraktion innerhalb der Okularität von der Mannigfaltigkeit der Gestaltung ist die Projektion der Eigenheit des griechischen Geistes. Aber eben als solche ist sie nicht von abstrakter Gültigkeit und bloß partiellem Werte; vielmehr ist sie als willentlicher Provenienz höchste und absolute Realität, independente Wirklichkeit, und seitens der Empfindung als wesentlich bestimmt. Die treibenden Motive schlagen sich zu Charakteren des Resultates nieder. Wo das Vorstellen höchste Lebensäußerung ist, da kann die Vorstellung nicht anders als ein Seiendes sein. Und wo die Negation des Wechsels der Empfindung sich mittelst einer Projektion vollzieht, muß das Wesentliche resultieren. Das Wesentliche aber ist das Empfindbare, von dem ein empfindendes Verhalten nicht mehr absehen kann. Daß aber dies Ontische, welches als schön aus der Empfindung 50 b der Opsis, als wahr aus der Unvermeidlichkeit des anschaulichen Vorstellens bestimmt wird, den Charakter des höchsten Gutes erhält und damit zu einer höheren Natur a



Klammer bei Yorck.

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erhoben wird, folgt ab aus der originalen, aller Nezessität enthobenen Willensstellung, welche den philosophischen Prozeß grundlegend eingeleitet hat. Es erleiden aber die der Empfindungs- und Willenssphäre entnommenen Charaktere Modifikationen, welche die Natur der Intellektualität verlangt. Als Abstraktion begehrlichen oder empfindlichen Verhaltens ist alles Vorstellen unpersönlich und darum alles Vorstellungsresultat sachlich (Naturalisierung) a . Man wird nicht fehlgehen, wenn man in den verschiedenen Sprachen die generischen Bestimmungen auf den Empfindungsfaktor, der je nach Intensität des Eindrucks sich verschieden äußert, zurückführt, der als Sinn dem mythologischen Sprachbilden zugrunde hegt, während alle sprachliche Neutralität, welche z.B. im Bereiche des Verbums sich als Infinitiv ausspricht, reines Anschauungsresultat ist83. Es b ist erforderlich, hier, wenn auch nur im allgemeinen, das anschauliche oder vorstellende Verhalten ins Auge zu fassen, um die griechische Denkweise verstehen zu können. Dies aber bedingt eine psychologische Analysis, welche bisher nicht versucht worden ist. Denn die beliebte logisch-literarische 51 a Behandlung einer typischen Geschichtlichkeit führt das Verständnis über die Phänomenalität nicht hinaus, wie andererseits die physiologische Untersuchung der Bedingungen des Vorstellens das Wesen dieses Verhaltens nicht zu bestimmen vermag. Der Selbstbesinnung ergibt sich das Vorstellen als ein Akt der Veräußerlichung, als eine Projektion, somit von primärer Gegensätzlichkeit gegen das Empfinden 84 . Es ist das Moment der Projektion, das innere Entfernen das erste charakteristische Moment alles Vorstellens 0 , welches an sich Verräumlichen ist. Die Explikation der primären strukturellen Dichotomie des Selbsts und des Anderen mittelst und innerhalb der Funktion des Vorstellens ergibt den Gegensatz von innen und außen, ein Gegensatz, der bei aller Grenza

Klammer mit spitzer Feder später hinzugefügt. (Am Rande vermerkt): „Hier beginnt die Raum analysis." 0 Am Rande: „Kants Abtrennung des Raums unmöglich, aber modern. Besondere Form des Wissens, επιστήμη". b

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verrückung unaufhebbar bleibt, weil das Wesen des Innen Empfindung ist. Dem naiven Bewußtsein erscheint alles Unsichtbare als Inneres, ähnlich wie allds nicht Greifbare ihm unreal ist. Die fortschreitende Abstraktion, das Denken in engerem Verstände, erweitert das Gebiet der Objektivation, ohne doch den Unterschied zwischen Innerem und Äußerem aufheben zu können. Denn das Empfinden ist nicht auf das Vorstellen reduzierbar. Wir berühren hier unter Vorbehalt späteren näheren Eingehens die unkritische Stellung der gesamten modernen, 51b von dem mechanischen oder ästhetischen Konstruktionsgedanken beherrschten Philosophie, deren derartige Tendenz psychologischer Erkenntnis entbehrt und [wie sie] sie verhindertea. Jene beiden Richtungen der Konstruktionstendenz gehen von dem Dogma der Projektibilität, der inneren Verräumlichungsfähigkeit des gesamten Erfahrungsbefundes aus. Abgesehen davon - ein Punkt, der hier beiseitebleiben muß daß der Versuch der Reproduktion der Gesamtgegebenheit ein metaphysisches Unterfangen ist,widerspricht auch jenes Dogma, aus welchem die Tendenz der Quantiiikation des Qualitativen abfolgt, der psychischen Vollziehbarkeit und stellt sich als eine durch die historische Bewußtseinslage diktierte, durch Selbstbesinnung nicht kontrollierte Willenssatzungb dar. Betrachte ich das Verhältnis des Empfindens zum Vorstellen, und zwar zu dem primären und allgemeinsten Charakter des letzteren, dem reinen Projektionsakte, so ergibt sich, daß Empfindung nie unmittelbar gegenständlich wird, sondern nur in Anheftung an ein Objekt. So ist ζ. B. Schmerz oder Freude niemals an und für sich Vorstellungsinhalt, vielmehr in Verbindung mit einer Objektivität, ein Zeichen dafür, daß Empfindung als zentrale Bestimmtheit der Personalität85 nicht von ihr abgetrennt zu werden vermag0. 52 a Wenn ich empfinde, bleibe ich immer bei mir. Andererseits aber hat „ e " hinzugefügt. Korrigiert aus „Willenssetzung". c A m Rande: „Empfindungsäußerung. Wissen. Konnex nicht durch Vorstellung". a

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Empfindung den konstitutiven Bezug auf ein Anderes. Aber dies Andere wird kein Selbständiges, verbleibt vielmehr Element des Selbstes, und ist daher im Gebiete der Sinnlichkeit gegenüber der Körperlichkeit als Leiblichkeit bestimmt. Und wenn das Objekt der Empfindung ein Selbständiges ist, so ist doch der Empfindungsrapport ein diesem Charakter konträrer und der Gegenstand, insofern er empfunden wird oder Empfindung erregt, von geminderter Selbständigkeit oder Äußerlichkeit. (Es kann hier nicht näher darauf eingegangen werden, wie die Mißkennung des Empfindungsverhältnisses, das Dogma von der allgemeinen Projektibilität die moderne Psychologie und Pädagogik bestimmt bis in die Einzelfragen des Gedächtnisses hinein. Die Theorie der Vorstellungsmonaden.) a So ist der Zusammenhang mit der eigenen Personalität niemals ein vorstellungsgemäß vermittelter, eine Erkenntnis, welche die unkritische und bezüglich des Resultats hoffnungslose Position derjenigen Versuche erhellt, welche vorstellungsmäßig die natürlichen und die historischen Gemeinschaften zu erfassen versuchen. Ich sehe den Einwand voraus, daß ich doch körperlicheb oder seelische Empfindungen zur Vorstellung zu bringen vermöge, daß vergangene nur 52 b auf diese Weise zurückgerufen, vergegenwärtigt würden. Dieser Einwand jedoch ist als solcher nicht zutreffend. Zunächst erweist prüfende Reflexion, daß eine gegenwärtige oder eine gedächtnismäßig zurückgerufene Affektion, d. h. der Gedanke an jene eine, bestimmte Modifikation meiner Zuständlichkeit, nicht eine von mir abgetrennte Objektivität zum Inhalte hat. Wird auf den Träger dieser Affektion auch nicht gerücksichtigt, so wird doch der intelligible Charakter derselben, [nicht geändert, welche vielmehr] der in der Relation zu dem Träger besteht, dadurch nicht geändert [verbleibt]. Die Natur der Affektion verbleibt die prädikative, wie denn für spätere Ausführung hier bemerkt a

Am Rande: „Daher Sittlichkeit und Humanität, z.B. das: Handle so [etc.], daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (Kr. d. pr. V. § 7 WW Bd. II. S. 39). b Klammer bei Yorck,

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wird, daß jedes logische Prädikat in dem Empfindungsfaktor wurzelt, so daß jedes Urteil (, welches nur rhetorischer Formalismus resp. eine daher bestimmte Logik mit dem Satze als solchem identifiziert,) eine Beziehung der verschiedenen psychischen Funktionen resp. ihrer Resultate oder Provenienzen darstellt86. Die Zulässigkeit der Abstraktion des Zustandes von dem Zuständigen aber, ein Absehen, welches wir zur Unterscheidung von der strukturell präformierten Abstraktion als Abstraktion zweiten Grades bezeichnen wollen, ist ohne erkenntnismäßige Tragweite oder Begründung und nur durch die Rücksicht sprachlicher Verständigung motiviert, ähnlich wie die sprachliche Subjektifikation des Prädikativen87, 53a ein Punkt, an welchem die weitgehende Unterschiedenheit von Sprache und Logik zu Tage tritt. Überdem entnimmt jene Einwendung, ihre widerlegende Kraft der Unbestimmtheit des Terminus Vorstellen. Wenige Worte werden zur Klarstellung genügen. Daß die Lebendigkeit - die primäre und fundamentale zuständlichea Gegegebenheit - Explikation ist, ist wiederholt hervorgehoben worden. Als solche ist sie Manifestationsweise jeder der psychophysischen Funktionen, also auch der Empfindung. Selbst das AUgemeingefühl, die volle Lebensempfindung, ist gleichsam eine Ausstrahlung, wenngleich nicht besonders gerichtet oder bestimmt, vielmehr, ähnlich wie die Helligkeit von der Flamme ausgeht, doch bei ihr verbleibend. (Die Diastole ist nicht minder wie die Systole die eine Seite der Lebendigkeit, welche in keinem Momente als nur eine der beiden erfahren wird. Anders ausgedrückt, das lebendige Urteil und demzufolge der intellektuelle Urteilsvorgang88, welcher eine willentliche Wiederholung des Lebensprozesses innerhalb einer psychischen Sphäre ist, ist in eins analytisch und synthetisch.)b Dieser primäre Vorgang der Manifestation des konkreten Bewußtseins,0 wo das Selbst an dem Anderen, das Andere an dem Selbst sich behauptet a

„zuständliche Gegebenheit" korrigiert aus: „Zuständlichkeit".

b

Klammer bei Yorck.

c

A m Bande: „Diastole vermittelt durch Gegensatz von Denken und

Empfinden."

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in der Form des lebendigen Urteils ( - ein Verhältnis, welches Fichte richtig erkannt hat, nur daß seine Tendenz 53 b zu konstruktioneller Deduktion den reinen analytischen Befund alterierte - ) enthält in sich das Projektionsmoment, wie denn das Vorstellen - Denken - einer der konstitutiven Faktoren des Bewußtseins ist. Aber in dieser Gesamthaltung ist das Bewußtsein nicht zu der Explikation vorgeschritten, daß jenes Moment zur isolierten Aktion gelangt wäre. Es ist gleichsam damit der Zeitpunkt [ins Auge gefaßt] der Möglichkeit allen Urteilens ins Auge gefaßt, welche mit dem Verhältnisse der Selbstbehauptung mittelst Äußerung gegeben ist. Auf dem weiteren Schritte 4 der Explikation des Gegensatzes von Empfinden und Vorstellen, der relativen Verselbständlichung dieser Faktoren, beruht der reine projektive Charakter des Vorstellens, dessen Resultat eine empfindungslose, darum neutrale Selbständigkeit ist. Von einer anderen Seite angesehen stellt sich der Vorgang so dar, daß das Widerständliche als konstitutiver Bewußtseinsfaktor die Reaktion des Wollens und Empfindens hervorruft. Es ist die Entgegensetzung des Selbstes gegen die Bestimmtheit, welche 54 a zu der Veräußerlichung des bestimmenden Faktors führt, und [zeigt sich] hierin zeigt sich die willentliche - ethische - Wurzel auch der primären Intellektualität. Nicht daß das Wollen ein willkürliches wäre, ebenso wenig als es ein nezessitiertes ist, vielmehr ist es ein durch die Lebendigkeit motiviertes. Alle Existenzialisierung ist sonach eine Befreiung, indem die Gegenständlichkeit in die psychische Ferne der Dinglichkeit gerückt, der Anteilnahme entzogen wird, woraus sich die Neutralität des Seienden ergibt 89 . Diese primäre Auseinandersetzung zwischen Vorstellen15 und Empfinden produziert die beiden Elemente jeglichen a

Es iat wohl kaum erforderlich, darauf aufmerksam zu machen, daß hierunter nicht verschiedene zeitlich getrennte Entwicklungsstufen zu verstehen sind, sondern daß von verschiedenen Seiten der nämlichen Zuständlichkeit die Rede ist. (Anmerkung Yorcks) b Am Rande: „Psychische Präformation, aber auf Grund derselben Progreß."

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Urteils, das-Subjekt und das Prädikat, deren Beziehung in der Einheitlichkeit jener differenten Funktionen gegründet ist, so daß mit Recht gesagt werden kann, daß [um] der Provenienz jener Beziehung wegen aus der primären einheitlichen Lebendigkeit jedes, auch das abstrakte Urteil ein Wirklichkeitsverhältnis ausdrückt, weil ein psychischer Realgrund der c o p u l a vorhanden ist90. Daß aber die Vorstellung Subjektsproduzent sei, erhellt aus einer kurzen Betrachtung. Der Charakter der Subjektivität ist der der Selbständigkeit. Gerade die projektivistische Abtrennung, die Verdinglichung, ist eine Unabhängigkeitserklärung des Momentes des Anderen, welches als Seiendes oder seiner Zu ständlichkeit nach als Sein ausgedrückt, aus dem Lebenszusammenhang herausgesetzt wird. Selbst die eigene Zuständlichkeit, wenn sie vor- 54 b gestellt wird, erhält diese Bestimmung, welche als primäres Verräumlichungsresultat einem Denken, welches das vorstellende Verhalten als das universale und radikale ansieht, als grundliegende, nicht mehr zu negierende, weil in jeder Negation enthaltene erscheint. Nur die Selbstbesinnung vermag die Wurzel dieser αρχή in der Lebendigkeit, sie selbst als Niederschlag funktionellen Verhaltens zu erkennen. Nun aber haben wir schon bemerkt, daß es das Wesen der Lebendigkeit ist, selbst sich zu manifestieren. Wollen und Empfinden sind nicht minder Äußerungen als Vorstellen. Ich erfahre mich nicht anders als mich äußernd, auf physischem wie auf psychischem Gebiete, und das Sicherfassen setzt eine psychische Verräumlichung, einen virtuellen Raum voraus. Gleichsam der engste Raum ist er für die Zuständlichkeit des Allgemeingefühls, prononzierter bei den Verhaltungen des Allgemeinvorstellens oder Strebens. Der Akt des Sicherfassens aber ist, was wir Wissen nennen, eine Allgemeinverhaltung, welche die relative Independenz der strukturell differenzierten Funktionen voraussetzt, wie denn nicht die immerhin fremde und ferne Tierwelt, sondern das eigene, durch Experiment besonderte Erfahrnis a als Bedingung des Wissens die relative a

Intellektuelle Bedeutung des Leidens, der Schmerzen. (Anmerkg. Yorcks)

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Unabhängigkeit insbesondere des Strebens, welches 55® damit Wollen wird, von der Empfindung dokumentiert. Die allgemeine Bewußtseinszuständlichkeit: das Wissen, ist sonach einmal keine unvermittelte, [dann] und weiter schließt sie auch den Faktor der Räumlichkeit, das Projektionsmoment, ein [schließend], welches letztere in der Differenzierung der psychischen Funktionen originiert. Bezüglich des erste[re]n Punktes [so] haben auch die philosophischen Romantiker das Wissen als ein vermitteltes dargestellt. Aus den Momenten des Objekts und des Subjekts konstruierten sie die Bewußtseinsgestalt, analytische Ergebnisse als konstruktive Momente verwertend. Nicht nur, daß so die Unmittelbarkeit des Lebensprozesses konstruktiv wiederholt werden soll, ein metaphysisches Unterfangen, da es auf einer Willensstellung radikaler Spontaneität beruht (, welche andererseits doch nicht umhin kann, in ihrer Äußerung sofort dem Zwange des Logismus zu verfallen, ein Verhältnis, welches besonders schreiend in den beiden ersten Fichteschen Thesen in ihrer unmittelbaren Aufeinanderfolge in dem Parmenideischen Gedichte das Mechanische und das zutage tritt); nicht nur, daß der Sache nach nicht anders als Ästhetische unvermittelt nebeneinander verbleiben, wenn schon die Idee, das Gestaltsmoment, vorbildlich für den Gang des Mechanismus ist (, wie denn die radikale Unvereinbarkeit in dem Hegeischen Systeme die von Begriff, i. e. Konstruktionskeim, 55b und Idee91 ist)®. Das vielmehr ist das Wesentliche, daß mit der Bezeichnung Objekt-Subjekt von vornherein die psycho-physische komplexe15 Gegebenheit ontologisiert wird. Das Andere, welches eines der konstitutiven Momente des Gesamtbewußtseins in seiner dreifachen Funktionalität ist, wird von vornherein verdinglicht, ausschließlich mittels des Vorstellens92 bestimmt. Wir werden an anderem Orte sehen, wieweit und wie tief historisch diese Stellungnahme zurückreicht. Hier kann nur a

Schölling kann als Winckelmannisierung Fichtes, Hegel als Kantianisierung Winckelmanns bezeichnet werden. (Anmerkung Yorcks) b „komplexe" eingeflickt.

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erwähnt werden, daß die radikale Ontologisierung, die metaphysische Independenzierung des Vorstellens die gesamte moderne Philosophie, welche in weiterem Sinne eine naturwissenschaftliche genannt werden muß, bestimmt. Am prägnantesten und fatalsten wird dies in der Psychologie zum Ausdruck gelangen, am folgenschwersten in der Politik. Es wird sich zeigen, daß Leibniz mit seiner Subsumtion der Empfindung unter die Vorstellung, mit dem von ihm aus Descartes übernommenen, aber schärfer formulierten Wahrheitskriterium der Evidenz, dieser Denkrichtung den schärfsten wissenschaftlichen Ausdruck gibt. Die mächtigsten wissenschaftlichen Träger jener Denkrichtung aber, welche ihrerseits eine historische Bewußtseins56 a stellung voraussetzt, (- denn in Modifizierung des Demokritschen Wortes ist zu sagen, daß Philosophie der Schatten der historischen Lebendigkeit 93 ist,) sind Descartes und Hobbes94. Als feste Größe von einheitlicher Natur, als Monas wird die Vorstellung von dieser Denkweise 9 bestimmt und als independente Existenzialität angesehen, hervorgerufen aus dem Bedürfnisse eines Konstruktionsmomentes. Als solches Konstruktionsmoment dient es in psychologischer Hinsicht (, wie denn die moderne Theorie des Gedächtnisses, die Assoziationshypothese, darauf beruht,) nicht minder aber für die Bestimmung der historischen Gemeinsamkeit, und zwar sowohl der Formierung der gegenwärtigen als der Eruierung der vergangenen1». All dies, nämlich die Darstellung, wie die Position der rationalen Mechanik für die Gestaltung der Einzelwissenschaften nicht minder wie für das Erkenntnisstreben im allgemeinen und für die handelnde Geschichtlichkeit maßgebend gewesen ist, ist für später zurückzustellen. Auch kann hier nicht darauf eingegangen werden, wie von jenen mit dogmatischer Kraft auftretenden Positionen aus neue Probleme erwuchsen und sich als unlösbar [sich] erwiesen, wie ζ. B. das Problem tt

Korrigiert aus „Denkrichtung". Am Rande, durchgestrichen: „Aber damit auch Probleme, die von da aus unlösbar". b

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der Realität der Außenwelt unlösbar wurde, nachdem einmal von einer isolierten und verselbständlichten Abstraktion ausgegangen war [, weiter]95. Das Auftreten der alten Antinomie zwischen άρχή und ahia in moderner Gestalt, die verwandte Frage nach der Einwirkungsmöglichkeit und Verständ-igram/smöglichkeit [lichkeit] 56 b der koexistierenden Menschen, die Frage nach der historischen Realität, zu deren Lösung es nur der Einsicht in den Ausgangspunkt der Fragstellung bedarf, ohne welche sie aber [sie] gleichfalls unlösbar sein muß, indem die atomistische Subjektsposition „Vorstellung" von vornherein von dem prädikativen Verbände, welcher der Empfindung angehört, absieht,( auch hier das nämliche Verhältnis wie bei den Eleaten, welche von der durch Abstraktion gewonnenen letzten Position nur zur Negation, nicht mehr zur Konjunktion gelangen konnten -) von allem diesem wird bei der Charakterisierung des modernen historisch-philosophischen Bewußtseins zu sprechen sein. Hier sei nur, da die Wissenstheorie der Romantiker einmal berührt worden ist, kurz noch erwähnt, daß der rationale Syndesmos nur der arithmetische sein konnte, so daß das Bestreben sich dokumentieren mußte, die Gestaltsverhältnisse in reine Größenverhältnisse zu verwandeln. - Der Charakter der modernen Mathematik, welche, von der Mechanik ausgehend (und nicht von der Kontemplation wie die antike) die okularen Formverhältnisse in punktuelle Beziehungen „auflöste'^,] und damit im Gegensatze zu der Okularität, welche von der Lokalisation absieht, diese gerade als primäres Datum festhält, wird von hier aus verständlich (, wie denn der Standpunkt der Handlichkeit von der Örtlichkeit nicht zu abstrahieren vermag, ein Moment, welches die Provenienz der modernen Mathematik, 57 a auch wenn sie als reine Phoronomie den mechanischen Kraftbegriff abgestreift hat und reine GrößenVerhältnisbestimmung geworden ist, markiert). Die Reaktion gegen diese Gestaltlosigkeit (Gedanke der Harmonie, der die Entwicklung der modernen Musik zur Seite geht) a a

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Klammer bei Yorck.

ist das der romantischen Philosophie Eigentümliche, ohne daß diese Eigentümlichkeit die gemeinsame Basis anders als modifizierte96. Wie schon gesagt, die ontologische Subjektivation wird hier nur in den Dienst einer persönlich verbleibenden ästhetischen Stimmung gestellt, welche das Band konstituiert, eine hinzugebrachte copula. Es kann hier nicht auf die allgemeine Denkrichtung, welche auf philosophischem Gebiete in dieser Weise sich äußerte, eingegangen werden. Dazu wird später Veranlassung sein, wo denn die Reaktion der Empfindung gegen die mechanistische Hypothese als die deutsch-nationale Kontrasterscheinung auf allen Wissensgebieten nachzuweisen sein wird. Nur das sei hier schon hervorgehoben, daß auch der Empfindungsfaktor, wo er erkenntnisbestimmend verwendet worden ist, rein ontologisch gefaßt und gewertet ist, nämlich als ästhetische Anschauung, deren Inadäquatheit für die Erfassung des modernen Lebensproblems sich wie bei Schleiermacher so bei Hegel herausstellt. Dort wie hier eine Verdinglichung des Prinzips, denn auch die behauptete 57 b Innerlichkeit des reinen Begriffs entzieht ihm nicht den Charakter eines ontischen Momentes, nur daß dieses die bloße Fixation des ontischen Prozesses ist. Während Schleiermacher die Unvereinbarkeit der Gestaltsform, der Idee, mit ihrem Inhalte, welcher Vervollkommnungsprozeß ist, (wie denn die Idee des Guten bei ihm geradezu als Aktibilität erscheint,) bestehen läßt, so daß die Konturen der Anschauung von dem lebendigen Anspruch zwar gesprengt werden, trotzdem aber festgehalten werden sollen, ist es die zentrale Tendenz Hegels, Konstruktionsmoment und Gestalt, Begriff und Idee, Bewegung und Ruhe vermittelnd zu vereinen, eine an die modern mathematische erinnernde Identifikation von Kontinuum und Diskretum. Hier soll die lebendige Einheitlichkeit anschaulich erfaßt werden, und diese große Tendenz ist es, welche die Wirkung jenes Philosophen erklärt. Aber nicht nur, daß in metaphysischem Unterfangen von den abstraktesten Verselbständlichungen der Provenienzen einer der psychischen Funktionen aus und mittelst besonderer 109

psychischer Verhaltung die konkrete Gegebenheit konstruktiv erfaßbar und erfaßt behauptet wird, anders ausgedrückt: nicht nur daß das Sein, diese Provenienz lebendiger Funktionalität, zum Produzenten derselben gemacht wird, noch allgemeiner: daß das vorstellende Verhalten 58 a (, denn alles, auch das anschauungsloseste Denken, ist projektiv und darum Vorstellung - επιστήμη -) psychisch universalisiert wird, - eine aller Selbstbesinnung entbehrende Hypertrophie des Erkenntnistriebes von dogmatischer Natur, - auch bereits innerhalb des Philosophems bleibt die Idee dem Begriff unerreichbar, und die Diskrepanz zwischen Konstruktion (, die auch als Selbstbewegung gefaßt immerhin Konstruktion verbleibt,) und Intuition ist unüberwindlich, erklärlicherweise, weil psychische Differenzen der Artikulation nicht simplifizierbar sind, die konkrete lebendige Einheitlichkeit nicht auf Identität reduzierbar ist. Nicht zwar soll Identität weder nach Ansicht des einen noch nach der des anderen als leere Einerleiheit aufgefaßt werden. Vielmehr als Vereinheitlichung differenter Momente, welche jedoch nach Art ihres Vollzuges mittelst intellektueller Anschauung von ästhetischer und somit psychisch partikularer Natur ist. Der mittelst okularer Abstraktion bewerkstelligte Regreß ist durch dieses Verhalten bestimmt und gelangt daher zu der Unbestimmtheit der allgemeinen Lebendigkeit, welche als ontisch projiziert und als das Absolute hypostasiert wird. Bei Schleiermacher ist nun das Gefühl das primäre Organ für das Projektum des Absoluten und schon damit das Gefühl als ästhetisches bestimmt. Dementsprechend ist die poetische Kategorie des Symbols der zentrale Vermittlungsbegriff 58 b bei Schleiermacher, und beruht hierauf sein Postulat, daß Philosophieren ein künstlerisches Verhalten, philosophische Darstellung ein Kunstwerk sein solle. Dieses Unternehmen, Winckelmann und Kant platonisch zu synthetisieren, krankte an einem Anachronismus, wie denn das Moment der Geschichtlichkeit des Bewußtseins außerhalb jener Denkrichtung lag. Der christliche Gott treibt nicht mehr wie der platonische Geometrie, und der ästhetische Syndesmos der psychischen Faktoren führt konsequenterweise (, eine Konsequenz, der 110

Fr. Schlegel gerecht wurde,) zum Katholizismus. Das ov, welches Piaton dem μη ov vermittelte, trug, wie schon erwähnt, den Charakter der Gestaltlichkeit, verblieb ein ästhetisches Abstraktum, während die Residua des modernen Rationalismus psychisch betrachtet gleichsam in luftleerem Räume standen und Wirklichkeit und Kraft nur ihrer Willensprovenienz als moralische oder mechanische Nutzbarkeiten entnahmen. Gerade die Intellektualität als rein theoretische (, wie sie außerhalb des praktischen, von den englischen Denkern festgehaltenen Bezuges Kant als reine provenienzlose Form bestimmte,) ist in Wahrheit und im Widerspruch zu dem erhobenen Ansprüche reine Phänomenalität. Das σχήμα aber zur Ιδέα (welche übrigens nicht, wie Schleiermacher in der Dialektik ausspricht, identisch mit είδος und γένος ist und gebraucht worden ist,) a zu realisieren, diese Rückstellung des Zeigers der Geschichte, 59 a diese psychische Paganisierung wider[stand]sprach der Weltfreiheit des christlich historischen Bewußtseins. Wir haben schon eben erwähnt, wie die Bewußtseinsstellung die Gestaltsbande sprengte, eine15 tiefinnere Diskrepanz die logische Harmonisierung durchtönte. Hinzugesetzt sei, daß auch Methode und Form die innere Willkürlichkeit des ästhetischen Postulats manifestieren. Piatons Dialoge sind die adäquate Darstellungsform für eine poetische Überwindung dialektischer Gegensätze. Die abstrakten Isolationen werden poetisch gleichsam in Bewegung gesetzt und einander genähert. Das Dialektische wird zum Dialogischen erweicht0 und die logische Überwindung der Dialektik gipfelt in der freien monologischen Darstellungsform, für welche die Form der Unterredung nur noch ein äußerliches Darstellungsmittel ist d . a

Klammer bei Yorck. Statt „eine" durchgestrichen: „nun". c Korrigiert aus „gemacht". d Aus diesem inneren Verhältnisse läßt sich eine Norm für Bestimmung der allgemeinen Abfassungszeiten, der zeitlichen Reihenfolge der Dialoge, für eine Chronologie entnehmen, deren Bestimmung, nachdem Schleiermachers ästhetisch-intellektuelles Ordnungsprinzip wesentlich durch Hermann erschüttert worden, dem rein literarisch-antiquarischen Gesichtspunkte der Philologie und damit der Probabilität verfallen ist. (Anmerkung Yorcks)" b

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Einen Versuch der Wiederbelebung dieser Form haben die romantischen Philosophen gemacht, und zwar am erfolgreichsten, doch aber ohne Ungezwungenheit, Schelling, in welchem die meiste ästhetische Kraft und Empfindung, der am meisten Dichter war. Schleiermacher hat die Dialektik als wissenschaftliche Darstellungsform bezeichnet und angewandt. Die Gewinnungsweise der letzten Abstrakta hat die Darstellung bestimmt. Dialektik aber, die Kunst der Sonderung, Ausscheidung, ist ihrer Provenienz nach, d. h. als psychische Verhaltung, die Zerreißung des σύνδεσμος, die Auslösung des selbständigen Subjekts aus allem Bedingungsnexus, die willentliche Verabsolutierung 59 b der Glieder der präformierten Gegensätzlichkeit. So ist Dialektik den Eleaten, welchen die kunstgemäße Hervorhebung und Geltendmachung dieser lehrhaften Kampfweise verdankt wird, das ihrem Standpunkte naturgemäße Mittel gewesen, auf negative Weise ( - und diese Negativität ergab sich aus dem negativen Prozeß, mittelst Abstraktion, der Gewinnung ihrer αρχή -) die Sicherheit ihrer Position und gerade die Unmöglichkeit, von ihr aus weiter zu kommen, zu erweisen.. Gleichermaßen ist die von jenen überkommene Methode dem Sokrates das Mittel gewesen, an festen Gegebenheiten des gesunden Menschenverstandes bodenlose Behauptungen der Sophisten zuschanden zu machen, die Unreellität ihres Denkens dem gesunden Menschenverstände fühlbar zu machen. Wie bei den Eleaten die Überzeugungskraft dieser Methode von der unbestreitbaren Erkenntnis der Einheit als Wissensmerkmal abhing, so bei dem Philosophen der Selbstbesinnung3· von den unvermeidlichen Zugeständnissen tatsächlichen Verhaltens. In beiden Fällen aber war Charakter und Tragweite der Dialektik rein polemisch, die Positivitäten nicht ermittelnd, sondern die schon erworbenen oder vorgefundenen vorausetzend. 8

Am Rande: „N.b. daß das Kontinuum und Diskretum die spezielle Aporie daher, daß Einheit als Gestalt gefaßt wird."

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Es ist ersichtlich, daß eine solche Methode nur irrtümlich als Erklärungs- oder Entfaltungsmittel angesehen 60 a werden konnte, und warum Schleiermacher, den Nerv und mit der Provenienz die Gebrauchsweise derselben verkennend, bei ihrer Anwendung aller Aitiologie fern geblieben ist und nichts als ein äußerliches Fachwerk, eine intellektuelle Geographie statt der Platonischen Geometrie erreicht hat, um Ruhendes sich herumbewegend, und den Prozeß der Abstraktion stillschweigend zurücktuend, aus der Fülle der Gegebenheit hinzutuend, wovon zur Erreichung der αρχή abgesehen worden war. Anders Hegel, der die am ethischer Kontemplation erwachsene Substanzialität als vermittelt begreift a , worin wie die Wahrheit so die Kraft und der von aller bisherigen Kritik nicht getroffene, viel weniger erschütterte Rechtsgrund dieses Denkens besteht. Er unternimmt es, die Lebendigkeit selbst, welche in den funktionellen Verhaltungen sich manifestiert, zu ergreifen. Da aber sein Denken als ein historisch bedingtes ontisch geartet ist, anders ausgedrückt: da die Lebendigkeit als vorstellendes Verhalten gefaßt wird, woraus die Gleichsetzung von Denken und Wirklichkeit abfolgt, so ergibt sich als Charakter seiner Philosophie das tiefsinnige Paradoxon, den Vorgang der Lebendigkeit in eine reine Vorstellungsbewegung b aufzulösen. Ohne Rücksicht 60 b auf Provenienz und psychophysisches Bedingungsverhältnis, daher ohne Einsicht in Charakter und Tragweite der einzelnen Funktion, wird unternommen, den Lebensvorgang zu ontologisieren. Auf die a

Am Rande: „Hegel Einheit von Abstraktion und Kombination Gegen eatz als produktiv." b 60® Es ist hier das reine Denken mit Absicht ale Vorstellen bezeichnet. Denn der lebendigen Vorhaltung nach ist alles Denken, auch wenn es von aller Bildlichkeit abstrahiert, auch wenn 60b es von einem jeden besonderten Inhalte absieht, Vorstellen. Das reine Denken ist nichts als Reflexionsresultat. Das Vorstellen als Vorhaltung wird ins Auge gefaßt, ein Vorgang, welche«. die relative Independenz der psychischen Funktionen ermöglicht und das Wollen in Vollzug setzt. Ein Ergebnis rein okularer Analysis wird verabsolutiert — daher die Position wie die Vorhaltung eine metaphysische. (Anmerkung Yorcks) 8

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zugrunde liegende unkritische Stellungnahme, deren historische Bedeutsamkeit allein ihren Wert ausmacht, ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen. JNur darauf sei vorläufig hingewiesen, daß aus der Problemstellung sich die Forderung der Unifikation von Abstraktion und Kombination, von Dialektik und Logik ergab, welcher Hegels Methode durch die Produktivität der Gegensätzlichkeit gerecht werden wollte. Selbstbetrachtung ergibt die gegensätzliche Bestimmtheit der strukturellen Gegebenheit. Daß nun dieser Charakter des Bewußtseins, wie er sich in den konstitutiven Momenten des Selbst und des Anderen und innerhalb der psychophysischen Funktionalität, sie durchsetzend, ausspricht, zu abstrakter und ausschließlicher Geltung gebracht wird, resultiert aus der diese Metaphysik 61 a begründenden Willenstellung. Wir haben das primäre philosophische Motiv als das intellektueller Selbstbehauptung bezeichnet. Aus ihm erklärt sich, daß die Abstraktion Abweisung des Bedingten und Wandelbaren ist, (wie sich auch daraus die Grenze aller Abstraktionsmöglichkeit ergibt). a Das Vergänglichkeitsgefühl, die Zeit als universale Bewußtseinsaffektion, ist das radikale Exzitament des philosophischen Denkens, welches mit der Negation dieses Momentes anhebt, wie denn jeglicher Denkakt, schon vor allem besonderen Vorstellungsakte der Akt des einfachen Sicherfassens, welches Wissen heißt, als Fixation eine Negation der Zeitlichkeit98 involviert, (in welchem Negativitätsverhältnisse die Unvergleichbarkeit des Kontinuums und Diskretums psychisch gegründet ist, wie an anderer Stelle zu verdeutlichen sein wird). a Aus diesem Verhältnisse zu dem Vergänglichkeitsgefühle ergibt sich die Bestimmung des Abstraktionsresultates als αρχή, ein Wort, welches etymologisch verstanden Herrschaft, Unabhängigkeit bezeichnet. Doch dieser Niederschlag entnimmt seinen Charakter der Verhaltung, aus welcher er resultiert. Die Verhaltung aber ist, wie gesagt, zunächst eine willentliche. Unter dem Drucke der Abhängigkeitserfahrimg geht die Tendenz dahin, das Moment der Dependenz abzua

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Klammer bei Yorck.

streifen und hierdurch die gleichfalls in der Erfahrung gegebene Spontaneität zu erreichen. Eine radikale ethische Urteilung, welche die fundamentale Gegensätzlichkeit des Bewußtseins 61 b expliziert - Urteilung nach der analytischen Seite, während das synthetische Moment aufgehoben wird. Hieraus ergibt sich zweierlei. Einmal, daß alle reine Ethik negativ ist, wie denn die natürlichen ethischen Vorschriften des mosaischen Gesetzes die Form der Negation tragen. Zum anderen [zu zweit], daß alle Ethik, [wie und] da das willentliche Verhalten die Negation der Empfindung, sei es gegeben, sei es als erworben, voraussetzt, empfindungslos ist a . Wir blicken hier in ein später in Betracht zu ziehendes folgenreiches Verhältnis zwischen Sittlichkeit und Religion". Gemäß jener Verhaltung, welche die Inversion des sich dirimierenden lebendigen Vorgangs ist, indem mittelst Abstraktion radikale Simplifikation bezweckt wird, ist das letzte Abstraktionsresultat einmal der Methode der Gewinnung wegen ein negatives: das Absolute, dann der Abstraktion von der Empfindung wegen (welche als Ataraxie1» eine zentrale Bedeutung bei den Stoikern erhalten hat, deren Verhältnis zu den Eleaten hieraus erhellt [erhalten hat],) c ein neutrales. Denn, wie schon bemerkt, ist alles Persönliche Empfindungsergebnis. Daß Verabsolutierung und Neutralisierung Folgen jener der Lebendigkeit konträren Willensstellung sind, ergibt der Buddhismus, der auch über den ästhetischen Rest des Brahmanismus hinausgehend (oder davon absehend)c eine absolute und neutrale 62 a Verhaltung, als reine Substanzialisierung sogar die Substanz aufhebt, als strengste Verabsolutierung den Atheismus, als äußerste Neutralisierung volle Ungeschichtlichkeit involvierend. Gegenüber dem dunklen Ernst dieser das Bewußtsein überschreiten wollenden Willensstellung, welche alle Möglichkeit des Wissens aufhob, glänzt die griechische Gedankena

Am Bande: „Anders zu sagen, zu viel gesagt. Die Ethik im Dienste der Anschauung ist empfindungslos." b „auch negatives Wort" (Anmerkung Yorcks). c Klammer bei Yorck. 8*

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arbeit, welche von dem Erkenntnisverlangen erfüllt ist. Hier ist das Wissen der Zweck des Wollens und daher die Abstraktion von vornherein zweckvoll bestimmt. Nicht die Unseligkeit, die Unsicherheit der Bewußtseinsgegebenheit ist die Unruhe des griechischen Denkens, und daher gibt es zwar eine griechische, aber nur in uneigentlichem Sinne eine indische Philosophie. Nicht die Aufhebung, vielmehr die Erfassung des Selbsts ist die Tendenz der griechischen Spekulation. Aber das Selbst wird ästhetisch projiziert. Denn während das indische Denken in Selbstaufhebung auch von aller Okularität abstrahiert, ist der Charakter der Gräzität abstrakte Okularität. So tritt zu dem der Willensprovenienz entstammenden Charakter der Absolutheit und zu dem der Empfindungsferne entsprechenden Momente der Neutralität das Merkmal der Einheitlichkeit, als strukturelle Bestimmtheit des Bewußtseins, verbildlicht als Ganzheit. Das ist der allgemein gültige Erwerb des eleatischen Nachdenkens, daß die Einheitlichkeit als essentiales Merkmal a des Wissens 100 erkannt worden ist, wie wir einsahen, weil Wissen intellektuelle Selbstbehauptung und als solche [gebunden] an die Einheitlichkeit als Form der Lebendigkeit gebunden ist mit anderen Worten weil Wissen ein lebendiges Verhalten genannt werden muß. Weil nun aber Wollen nicht ohne Widerständlichkeit erfahren wird b , so um der konstitutiven Konkurrenz des Wollens willen das Wissen auch, nicht ohne Gegenständlichkeit. Auch wo von allem Inhalte des Wissens abstrahiert wird, involviert die Verhaltung selbst und somit jede auch die ungreiflichste Position [involviert] das Merkmal der Gegenständlichkeit. Wir haben das projektive Moment des Wissens schon bemerkt. Alles Vor-stellen aber bedarf einer Fixation, einer wenn auch rein logischen Verselbständlichung. Und zwar ist die fixe Position, weil, wie schon erwähnt, der Akt des Wissens eine Negation der Zeit, d. h. der Vergänglicha

Vor „Merkmal" durchgestrichen: „Moment".

b

Am Rande: „Das andere Moment der Lebendigkeit wird von Heraklit

geltend gemacht."

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keitsempfindung involviert, als Dieselbigkeit bestimmt. Selbst da, wo rein auf das Verhalten selbst reflektiert wird, wovon das griechische Denken weit entfernt war, ist das Betrachtungsobjekt durch jene Merkmale der Einheitlichkeit, Selbständlichkeit a und Dieselbigkeit bestimmt und erfährt [es] die neutrale Verdinglichung, welche sich als Zuständlichkeit äußert, grammatisch als die infinitivische Form die verbale Objektsform. Während nun das griechische Denken nicht nur an dem analytischen Ergebnisse des gegenständlichen Momentes als konstitutiven Charakters0 63 a des Wissens festhält, ein Ergebnis ernster Selbstbesinnung, sondern als ein anschauliches Vorstellen alle Wirklichkeit verdinglicht, das Selbst in das andere verlegt, versucht die philosophische Renaissance, am nachdrücklichsten die extremste und umfassendste Gestalt derselben, zugleich von dem historischen Konstruktionsgedanken, dem Ergebnisse einer ganz anderen Willens- und damit Weltstellung bestimmt, die feste Gegenständlichkeit in den Prozeß des Werdens, ja der Erzeugung zu stellen. Dafür ergab sich als Formel, als Postulat, die Identität des Subjekts und Objekts, wofür die Identität von Begriff und Idee nur ein abstrakterer Ausdruck ist. Während die griechische Tendenz war, zu dem Wissen, zu der Gewißheit, welche das okulare Verhalten als Evidenz erfaßte, zu gelangen, strebte das moderne, von dem Kraftbegriff beherrschte Denken, hinter das Wissen zu kommen. Hierbei [ver]bleibt das Problem auf den ontologischen Boden gestellt, wie es denn im wesentlichen und dem historischen Ursprünge nach ein mechanisches ist. Denn trotz der Abstraktion von der Dinglichkeit, zu der die Reflexion verschreitet, trotz der intellektualistischen Bestimmung®, welche a

Yorck schreibt stets statt „selbständig" selbständlich. Am Rande in Höhe des Satzes „Während nun das . . . " bis Seit enende: „Ausschließliche Bestimmung des Wissens als Vorstellen, und zwar A nsehauung und Konstruktion. Durchgehende Antinomie. Nominalismus Rea lismus. Syllogistik Induktion." c Am Rande: „Totale Umkehrung. Phänomenalität wird zur Wi rklichkeit und vice versa. Romantik Phantasie." b

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in steigendem Maße das Sein erfährt, bleibt die Verhaltung [ist] eine ontische, weil sie eine ausschließlich vorstellende ist. Denn das Absehen v o n der Widerständlichkeit hebt den Charakter der Verhaltung u n d ihres Resultats nicht auf. Seiendlicher 63 b N a t u r ist „die Vorstellung", welche in ihrer Einzelbestimmtheit (, welche selbst bei dem Absehen von der Zahl, auch als Einzigkeit gefaßt,) die willentliche Provenienz in ihrer ausschließenden und fixen N a t u r erkennen läßt, seiendlicher N a t u r auch das Vorstellen als solches 101 . Daher die Möglichkeit der Identifikation von Denken u n d Sein. D a s Subjekt selbst ist eine ontische Bestimmtheit, u n d zwar auf das K r a f t m o m e n t reduziert, die Fülle der Persönlichkeit ist dahin simplifiziert u n d veräußerlicht. E s ist des eigentümlichen Inhalts entleert u n d als Ich, als a b s t r a k t e r Beziehungspunkt, gefaßt. Die Empfindung, das PersönlichZentrale, wird der Vorstellung als eine A r t derselben subsumiert 102 , die deutlichste Marke radikaler Veräußerlichung. E s m u ß der B e t r a c h t u n g der modernen Bewußtseinsstellung a u f b e h a l t e n bleiben, den historischen Zusammenhang dieser philosophischen Stellungnahme darzustellen, wo denn der Einfiuß dieser Denkrichtung auf die einzelnen Disziplinen, wie ζ. B. Logik u n d Grammatik, in der charakteristischen Bewegung der Naturwissenschaften, in Auffassung u n d Behandlung der Geschichte, mit einem Worte auf das gesamte geschichtliche Verhalten, nachzuweisen sein wird. Hier sei n u r hervorgehoben, daß die psychische Veräußerlichung bei der mit der Weltfreiheit gegebenen Bewußtseinsstellung, sobald der S t a n d p u n k t des Mechanismus verlassen wird, konsequenterweise zu reiner Phänomenalität 64 a f ü h r e n m u ß t e . Wille u n d Empfindung sind die beiden Wirklichkeitsgaranten 8 '. Das mir Widerstehende oder das von mir E m p fundene nenne ich wirklich, während die reine Existenzialität Phänomenalität ist. Die Provenienz des Mechanismus aus der Willentlichkeit erklärt die Realität seiner Annahme, u n d hiera

Am Bande: „Identität ?" (dann mit anderer Tinte:) „Idealität schon involvierend die Vereinheitlichung der Gegensätze von Wollen und Denken".

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aus wird die theistische Stellung von Männern wie Galilei, Descartes, Leibniz verständlich. Darum ist ζ. B. bei Cartesius Gott der Garant der Wirklichkeit und seine Gottesannahme keine äußerliche Konzession, wie auch die Kraft seines Gottesbeweises keine logische ist3·. Die Raumempfindung aber machte [realisierte] das Pythagoreisch-Platonische Weltbild zur Wirklichkeit. Als Kosmos war diesem Bewußtsein die Existenzialität real. Wo nun das moderne Bewußtsein die Idealität im eigentlichen Wortverstande annimmt, resultiert bei der akosmischen Bewußtseinsstellung, bei der veränderten Glaubensstellung, die Unrealität der Idee, welche sonach Schema bleibt, wenn sie nicht die Wirklichkeit in der empfindungsreichen Natur des Dichters erlangt, weswegen Goethe der Typus und das Ideal dieser Richtung 103 war und ist. Dementsprechend ist es die Phantasie, welche als universales Vermögen 64 b angesehen und als wissenschaftliches Bindemittel von den romantischen Philosophen proklamiert wird. Nach dem Vorgange Schillers wird in ihr die Synthesis von Konstruktion und Kontemplation gefunden, womit denn die Wissenschaft ganz eigentlich phänomenal wird b . In Verfolg hiervon ist es, daß Hegel es unternimmt, die Phantasie zu logifizieren. Das mot d'ordre der Identität von Subjekt und Objekt, wo das Subjekt nicht nach seinem grama

64 a Diese mechanische Garantie Gottes aber wie bei Schleiermacher die ästhetische ist es gerade, welche als eine Vermittelung der religiösen Unmittelbarkeit widersteht. Der gleiche Grund motivierte die Anklagen wegen Atheismus, welche eine Anzahl der griechischen Philosophen traf. (Anmerkung Yorcks) b 64 b An anderer Stelle wird zu betrachten sein, inwiefern in den Einzelwissenschaften unter der Kontrolle des Objekts der Standpunkt der Idealität fruchtbar gewesen ist, von welcher Tragweite der mit ihm gegebene 65 a Gedanke der Morphologie (, der das allgemeine Schema schon der ionischen Philosophen, dieser gleichsam prähistorischen Wissenschaftler, war,) gewesen ist und ob er nicht durch Kombination mit und Kontrolle durch eine andersartige Methode erst zu wissenschaftlichen Resultaten geführt hat. (Darwin) Für reine Idealität Goethes Farbenlehre) (Anmerkung Yorcks, Klammern bei Yorck)

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matischen Sinne als ύποκείμενον, sondern als Spontaneitätsfaktor produktiv gefaßt war, enthielt das Postulat der Synthesis von Konstruktion und Kontemplation. Die in dem künstlerischen Verhalten, in dem Gedanken des Weltbildens (, - wo der Schöpfer und der Demiurg amalgamiert erscheinen, wie andererseits der Schöpfer und das Geschöpf - ) gegebene Lösung Heß aber die Wissenschaft außer sich. Hegel versuchte die Phantasie zu szientifizieren. Alle Wissenschaftlichkeit besteht in der Notwendigkeit des σύνδεσμος der Teile, in der Unaufhebbarkeit, daher Gewißheit der Verbindung. Wird nun Wissen als Können gefaßt - mechanistischer Standpunkt so ist die Verbindungsweise eine teleologische, den σύνδεσμος liefert dann der Zweck. Hier öffnet sich der Blick in die Zusammengehörigkeit des Mechanismus und Utilitarismus. Die so geartete Denkrichtung hatte die unausweichliche Aufgabe, 65 a die überkommene Logik, welche nach Wegfall ihres psychischen Gehalts zu einer reinen, des eigenen Sinns entbehrenden Schematik, zur sogenannten reinen Logik geworden war, von*sich aus zu bestimmen. Die Strebungen von Raymundtts Lullus bis Leibniz und die andauernde Tendenz einer Arithmetisierung der Logik [sind deß] geben davon Zeugnis a . Ohne Einsicht in die psychisch begründete Unausführbarkeit der Reduktion der Opsis auf die Mechanik, aber hierdurch garantiert, [ver]blieb jedoch die formale Logik (, gerade weil ohne spezifische Bedeutung und ihrer Inhaltslosigkeit wegen) der allgemeine wissenschaftliche Wertmesser, der Gesetzeskodex für alle Einzelwissenschaften. Hiermit ist das Wesen des modernen Rationalismus ausgesprochen, als des Regulators der historischen Lebendigkeit. Dahin war 65 b die Stellung der kontemplativen Philosophie veräußerlicht, daß dieser Disziplin (, welche in dem Gebiete der Wissenschaft4

Die in dem Hegeischen Systeme gipfelnde Logiiikation ist zwar in einer Beziehung, nämlich bezüglich der Stellung dea Denkens zur Wirklichkeit, die Ausführung des Leibnizschen Satzes vom zureichenden Grunde als Semsgesetz. Aber der zureichende Grund ist bei Leibniz technischer, konstruktiver Natur und Provenienz. (Anmerkung Yorcks)

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lichkeit, des σύνδεσμος, die inhaltsvolle lebendige c o p u l a repräsentiert,) als selbständige Aufgabe nur noch die bloße intellektuelle Lokalisation zufiel. Entsprechend der prinzipiellen Veräußerlichung des Denkens, dieser charakteristischen Richtung der modernen Intellektualität, erschöpft sich die systematische Bedeutung der Philosophie in der reinen Orts- und Umfangsbestimmung. Wir erinnern an die Schematik der Rechtswissenschaft, an die loci theologici. Auch Schleiermachers wissenschaftliches Bindemitteln bleibt, da die künstlerische Einheit Postulat verbleibt, die Lokalisation. Aber bestimmend für diese abstrakt formale Natur der intellektuellen Normen war die independente Willensstellung, in welchem maßgebenden Ansatzpunkt der gemeinsame Quellpunkt der modernen religiösen und wissenschaftlichen Bewegung zutage tritt. Die intellektuellen Formen wurden eben als Normen gefaßt, als natürlicher νόμος. Dies ist der Geist der Melanchthonischen Intellektualität und Pädagogik, der Zweck und die geschichtliche Kraft des Wolifschen Systems, dessen Rückgrat Kant durch die im Grunde unhistorische, darum aber auch rein doktrinäre Trennung von Intellektualität und Moralität brach. Seiner Logik verbheb daher nichts als eine rein schematische Bedeutung, wie andererseits als Revers der Aufhebung der naturrechtlichen Seite der Intellektualität 66 a die Bodenlosigkeit einer kontemplativ gefaßten, also gleichfalls schematischen Moralität sich ergab. Dieser aller Lebensbasis enthobene, psychisch isolierte, daher seinem Wesen nach metaphysische Rationalismus, der eine breite Zucht von (mit der Abtrennung von der Moralität) verantwortungsfreiem Raisonnement hervorgerufen hat, dieser optisch reflektierte Rationalismus war der [von] der romantischen Philosophie überkommene. Seiner Normen Vermittlung mit dem Produktionsfaktor unternahm Fichte, während Kant, von der ästhetischen Bewegung nur genetzt, nur bis zum Ideal einer intellektuellen Architektonik104 gekommen war. Diese abstrakte Rationalität war das Datum Hegels, dessen direkte Voraussetzungen Kant und Wolff sind. Auch bei ihm 121

ist die Rationalität nicht nur denaturalisiert, sondern auch demoralisiert. Die reine logische Okularität als Ergebnis zu fassen, die von den Identitätsphilosophen behauptete Synthesis zwischen Schauen und Bilden, Opsis und Produktion zu vollziehen, und zwar innerhalb der Okularität und mit ihren Mitteln, d. h. auf logische Weise, ist Nerv und Inhalt der Hegeischen Philosophie. Zugrunde lag dem Beginnen das historische Vorurteil, das Dogma von der zentralen und radikalen Erfaßbarkeit der konkreten Lebendigkeit mittelst des Vorstellens, diese moderne Tendenz der wurzelhaften Veräußerlichung der gesamten Gegebenheit. Die Lebendigkeit selbst sollte vorstellungsmäßig 66 b erfaßt werden. Geschichtlich gegebene Voraussetzung war die Willensstellung, welche, in Besonderung der Metaphysik, den Mechanismus universalisierend, d. h. über seine psychologische Kompetenz auf die gesamte Funktionalität erweiternd, den Konstruktionsgedanken bedingte und hervortrieb. Romantisches Gesamteigentum war die Verstärkung des Konstruktionsgedankens zum Produktionsgedanken. Eigentümlich für Hegel [dagegen], der darum mit Recht als Erfüllung jener ästhetischen Nebenströmung der historischen Gedankenbewegung gilt, ist dagegen der ernstliche Vollzug jener postulierten Gleichung zwischen optischem und konstruktivem Verhalten. Wir betonten schon die Verwandtschaft dieses Strebens mit dem Prinzip der modernen Mathematik, welches hier auf die Geisteswissenschaften ausgedehnt erscheint. Wie dort in dem Begriffe der unbestimmten Größe das Mittel der Vergleichung und Gieichsetzung von Ruhe (Gestalt) und Bewegung und damit die praktische Lösung der das antike Denken beschäftigenden Aporie gefunden wird, wobei der mechanistische Gedanke das Kompelle und die Voraussetzung ist, (ein Verhältnis, welches die Analysis jener Denkrichtung klarzustellen, damit aber auch die s. g. reine Mathematik als auf der Voraussetzung des Mechanismus basierend® nachzuweisen haben wird), so soll hier Kontemplation und Proa

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Korrigiert aus: „beruhend".

duktion theoretisch zur Gleichung gebracht werden. Aber während dort die Größe als Inhalt und Wesen des Konstruktionsfaktors der Begriff war, dem die Gestalt, das Anschauungsergebnis 67 a als Artbegriff, unterstellt wurde, ist der ästhetischen Anschauung das Moment der Idee gleichwertig, ja die höhere Form des Begriffs. Dort bleibt das Band der algebraischen Positionen den Gestaltsverhältnissen entnommen, so daß erkenntnistheoretisch betrachtet nicht eine Gestaltsproduktion, sondern eine Größenbestimmung, eine zutreffende arithmetische Formel für ästhetische Verhältnisse, von welchen als fertigen Produkten, nicht aber als Faktoren abstrahiert wird, erreicht ist a . Denn möge ζ. B. eine Linie nach ihrer Lage, d. h. nach der lokalen Mutation ihrer unbestimmten Teile bestimmt werden aus der Wirkung zweier, in einem bestimmten Kräfteverhältnis stehender Faktoren, an deren Stelle wiederum ohne inhaltliche Änderung abstrakte algebraische Bestimmungen gesetzt werden mögen, ( so daß das Moment der Kraft eliminiert erscheint, ohne doch damit etwas anderes als eine formellere Fassung zu gewinnen, denn kein anderer ist der Erfolg, wenn an Stelle von Wirkung eine mathematische Zugehörigkeit, oder statt Kraft ein algebraisches Zeichen gesetzt wird: b -) die anthropologische Provenienz wird hierdurch nur verdünnt und verschleiert, - das Bild der Linie ist neben und unabhängig von jener Operation gegeben, welche, wenn in der Tat von aller Anschauung abstrahiert wird, niemals graphisch werden könnte, woraus sich ergibt, daß die antike Aporie der Identifikation oder Vereinheitlichung von Bild und Bewegung nicht aufgehoben, sondern 67 b nur für die mechanische Praxis wirkungslos gemacht ist, wie sie denn strukturell begründet und daher unaufhebbar ist. Gerade aber die theoretische und allgemeine Vermittelung dieser strukturellen Differenzen ist die Tendenz der Hegeischen Metaphysik. Und zwar ist die Art der Vermittelung eine logische, der logische Prozeß aber dialektisch. a b

Vor „ist" durchgestrichen: „wird". Doppelpunkt später hinzugefügt.

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Schon oben ist die dialektische Methode ihrer Provenienz und Tragweite nach als antilogisch charakterisiert. Sie war das negative Beweisverfahren der Eleaten, welches entsprechend der Erwerbungsweise des Erkenntnisprinzipiums allen Syndesmos abwies. Resultierend aus der abstrakten Willensstellung, welche nur das Verhältnis der Gegensätzlichkeit kennt, handhabt sie ausschließlich jene Kategorie, woraus sich erklärt, daß sowohl die klassischen Dialektiker unter den griechischen Philosophen wie auch Hegel die Verschiedenheit zur Gegensätzlichkeit steigern. Bei diesem aber sollte die Dialektik, deren Provenienz gar nicht erkannt war, logisch wirken, die Gegensätzlichkeit den σύνδεσμος öewirken105. Dem lag nun allerdings das tiefe Gefühl zugrunde, daß die Lebendigkeit (, welche kontemplativ zu erfassen und vorstellungsmäßig zu ergreifen, zu begreifen das Problem war,) in konstitutiver Gegensätzlichkeit sich manifestiert, allerdings ohne daß dieser Charakter die strukturelle Gegebenheit, welche überdem eine artikulierte ist, ausschließlich bestimmte. 68 a Die theoretische Konstruktionstendenz, welche der Einheit des Zwecks entbehrte, insbesondere ihre Steigerung zu dem Produktionsgedanken, konnte sich bei der bloßen Aufnahme vorfincUicher Verschiedenheit nicht beruhigen, stellte sie vielmehr in das dem Wollen adäquate Verhältnis der Gegensätzlichkeit, welchem jedoch produktive Kraft zugesprochen werden mußte. Da aber der Gegensätzlichkeit wohl ein sollizitierender, nicht aber ein konstruktiver Charakter eignet, so konnte in Wahrheit nicht jenes Verhältnis den Nexus hergeben, vielmehr fiel er der Phantasie106 zu. Daher sind die Verknüpfungen nicht logischer, sondern analogischer Natur. Inwieweit nun die analogischen Übergänge sinnreich und psychologisch begründet sind, würde der Gegenstand einer der Hegeischen Philosophie besonders gewidmeten Untersuchung sein, welche von der Erforschung und Erkenntnis der inneren Beziehungen und Zugehörigkeitsverhältnisse der den verschiedenen psychophysischen Funktionen entstammenden Daten auszugehen hätte, von der Einsicht in das lebendige logische Geflecht. 124

Hier ist nur hervorzuheben, daß die Phantasie zum wissenschaftlichen Organe gemacht wurde, wonach die Hegelsche Philosophie sich als der Ernst der Romantik charakterisieren läßt. Damit ist die Vermittelung und Vereinheitlichung des Konstruktiven und Kontemplativen eine phantasmagorische, und die interne crux jenes Systems bleibt das 68 b disparate Verhältnis von Begriff und Idee. Betrachten wir die Art des gedanklichen Fortschritts, so ergibt sich als Wesen der als dialektisch ausgegebenen Vermittelung das morphologische Moment, ein Verhältnis, welches erklärt, daß der Sinn der Übergänge leichter verständlich ist, wenn von dem Späteren zu dem Früheren zurückgegangen wird, als bei dem Vorschreiten. Denn die volleren Gedankengestalten enthalten die Vergleichungspunkte, welche zu den einfacheren hinüberleiten. Ganz eigentlich diese morphologische Methode weist sein System der deutschen ästhetischen Richtung zu, welche mit Winckelmann anhebend und in Goethe a Mensch werdend, sich der mechanischen Auffassungsweise entgegensetzte. Die große mechanistische Bewegung hatte das Wissen als Können bestimmt b , eine konstruktive Tendenz, welche, die Gegebenheit auf eindeutige Konstruktionselemente reduzierend, den zentralen Bewußtseinsfaktor der Empfindung außer sich gelassen hatte. Dieser machte sich nun seinerseits in abstrakter Selbständigkeit geltend. In der [Die] Vertretung dieses Standpunkts [ist] liegt die historische 69 a Bedeutung Rousseaus 107 . Damit aber aus dem historisch-psychischen Relationsverbande herausgehoben, trat die Empfindung als Animalismus auf. Mechanismus und Animalismus 0 erweisen sich als die Zeita

Beachtenswert ist, daß in den Goetheachen Dichtungen, insofern sie nicht lyrischer Natur sind, insbesondere im Faust das innere Band der Dichtung, die Entwicklung rein morphologisch ist. Goethe ist derselbe als Dichter und als Naturforscher. Man kann sagen, daß, wer Goethes Farbenlehre in ihrer positiven wie in ihrer polemischen Tendenz nicht begreift, auch seine poetische Art nicht erkennt. (Anmerkung Yorcks) b Am Rande: „Analysis des dichterischen Vorgangs mit den Momenten der Konstruktion und Kontemplation." e „und Animalismus" darübergeschrieben.

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mächte, verschieden aber nicht mehr gegensätzlich®, nachdem die historische Voraussetzung der mechanistischen Bewegung, der moralische Rationalismus, seine psychische Wurzelhaftigkeit gerade durch die Opposition der Empfindung, welche die Skala von der Sentimentalität bis zur Brutalität durchläuft, immer aber pathologisch ist, eingebüßt hatte. Der rationalen Moralität war der Einzelne Mittel gewesen, innerhalb des Zwecks eines die Gesamtheit umfassenden Konstruktionsgebildes, welches den Inhalt des Leibnizischen Reichsgedankens, eines modernen Kosmos, der auch in Kant noch wiederklingt, bildet. Hier ist die ideale Wurzel der modernen Souveränität, welche geradezu als Produkt der großen modernen moralischen Rationalität zu bezeichnen ist. Der unhistorisch gewordenen Empfindung dagegen ist der Einzelne Selbstzweck, und Rousseauscher Provenienz und nicht in Übereinstimmung mit dem Festhalten an jenem mechanistischen Reichsgedanken ist der dahin lautende Ausspruch Kants. Wir werden an späterem Orte tiefer in die Analysis des Zeitbewußtseins einzugehen haben, welches ebenso bis b in die abstraktesten Wissensgebiete bestimmend reicht, wie es das politische Leben gestaltet. Hier genügt diese kurze Fixierung, um die Richtungen deutlich zu machen, welche zu verbinden, zu vereinen die romantische 69b Philosophie, welche als Philosophie ihrem Wesen nach zentral und universal Einheit sein muß, unternahm. Es war, wie gesagt, die ästhetische Anschauung, die künstlerische Verhaltung, in welcher die Einheit von Wollen und Empfinden gefunden wurde. So ergab sich dem lebendigen Träger dieser Einheit Goethe, der in ernster Lebensarbeit das Empfinden der Gestalt und die Gestaltung der Empfindung in sich zur Wahrheit gemacht hatte, sein ästhetisch-intellektuelles Ideal als ein Weltverfassungsgesetz, eine neue Formulierung des kosmischen Gedankens. Die Analysis nicht eigentlich des dichterischen a

Am Rande: „b. die Empfindung zeitlich bestimmt, daher gibt es für den Animalismus nur Gegenwart". b „bis" darübergeschrieben.

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Vorgangs in seiner psychischen Allgemeinheit, vielmehr der Goetheschen Dichternatur, lieferte nun das philosophische Schema. Dort aber war Natur, was hier Postulat war, deshalb der ästhetische Syndesmos, dort von psychischer Notwendigkeit, hier wesentlich willkürlich. Vor allem aber jenes Ideal Schloß den Mechanismus aus, wie Goethes naturwissenschaftliche Stellung, die Leidenschaftlichkeit seiner Polemik, insbesondere gegen Newton, ein Widerwillen, der sich bis auf den Begriff Konstruktion erstreckte, bezeugen, während jene Philosophie Mechanismus und Idealismus in eins zu bringen strebte, und, da sie an dem Erbteile jener Denkrichtung, daß Wissen Können sei , [festhielt,] und damit an der inneren Handlichkeit der Elemente festhielt, die Empfindung der Vorstellung subsumierte, die Idee zum Schema veräußerlichte. Als Resultat ergab sich eine gemachte Poesie und eine gemachte Philosophie. 70 a Auf eine Untersuchung, inwieweit jene Philosophie insbesondere in ihrer abschließenden Gestalt nichtsdestoweniger einen erheblichen Einfluß auf eine Anzahl historischer Wissenschaften gehabt hat a , muß hier selbstverständlich verzichtet werden. Nur das sei hervorgehoben, daß die Philosophie, nachdem das scharfe Licht der Wirklichkeit die Spiegelung der Hegeischen Systematik hat verblassen lassen, in der nämlichen Aporie stecken geblieben ist. Fechner und Lotze, die letzten bedeutenden Systematiker fügen dem festgehaltenen Mechanismus [fügen sie] als ein äußeres Komplement aus Gemütsbedürfnis den Rahmen des ästhetischen Idealismus 108 hinzu. Ja durch den Betrieb der gesamten Geisteswissenschaften ziehen sich ohne andere als persönliche Vermittelung jene beiden Charaktere. Wir werden später ihren methodischen Ausdruck kennenlernen, die durch sie bedingte Zwiespältigkeit der Enddisziplinen der Pädagogik und der Nationalökonomie als des wissenschaftlichen Teiles der " D e r Faktor des „Unendlichen" wirkte für die historischen Wissenschaften analog dem Begriffe der unbestimmten Größe in der Mathematik. Das freiheitliche Moment desselben gewährt den überschauenden Standpunkt, das optische Moment, die reine Objektivität. (Anmerkung Yorcks)

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Politik, wie denn die jenen Richtungen zugrunde liegende historische Bewußtseinsstellung an ihren theoretischen und praktischen Konsequenzen darzustellen und aus ihrer Gesamtwirksamkeit zur Erkenntnis zu bringen sein wird. Hier muß dieser schon über das zulässige Maß ausgedehnte Exkurs beendet und die Analysis des Raumes, welche zur Einsicht in die Eigentümlichkeit der griechischen Lebendigkeit für erforderlich bezeichnet wurde, wieder aufgenommen werden. 70 b Als das allgemeinste Merkmal des Raumes war das Moment der Projektion hervorgehoben worden, und [hatten wir] diese Vorstellungswurzel hatten wir als Faktor selbst der primären Wissenszuständlichkeit nachgewiesen. Effizient der Projektion, welche, wie gesagt, auch in der Selbsterfassung sich manifestiert, ist das wollentliche Verhalten, aber nicht ein freies Wollen, vielmehr die Lebendigkeit nach der Seite ihrer Aktivität. Wir erfahren, daß dieser psychische Raum das Resultat primären lebendigen Verhaltens ist und nicht minder im Traumzustande wie im Wachen sich ergibt, daß er aber durch die [von der] normale[n] oder wenigstens gewisse Grenzen nicht überschreitendefn] Verhältnisbestimmtheit der strukturellen psycho-physischen Gegebenheit bedingt ist. Schon früher ist darauf hingewiesen worden, daß jede der lebendigen Funktionen, und zwar sowohl die somatischen als auch die psychischen, für ihre Aktivation die relative Latenz der übrigen Funktionalität voraussetzt, ein Verhältnis, welches strukturell begründet ist und alle willentliche Abstraktion ermöglicht. Wie z.B. die eine gewisse Grenze verletzende Überreizung der sensorischen Nerven die motorischen lahm legt, so bindet eine maßlose Erregung des Empfindens a die Funktion des Vorstellens, und umgekehrt mindert die Energie der Projektion die Intensität des Empfindens. Die Breite der Independenz aber festzustellen ist im [in dem] ersteren Fall Sache der Physiologie, welche an der feststellbaren Reizstärke den erforderlichen Maßstab 71 a gewinnt, im anderen Falle Aufgabe a

Bleistiftvermerk am Rande, vielleicht v. Dilthey: „Bs gibt aber auch eine gleichmäßige Steigerung aller Funktionen."

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der Psychologie, welche im wesentlichen auf die Beobachtung beschränkt ist, während die Ermittlung des Abhängigkeitsverhältnisses des Psychischen vom Somatischen das Problem der Psychophysik ist, ein Problem, welches die Irrationalität des freien Wollens immer nur approximativ lösbar machen wird. Auf diese Einzelgebiete hat die philosophische Betrachtung nicht zu treten. Für sie genügt die Feststellung, daß bis zu einem gewissen Grade die psychischen Funktionen bezüglich ihrer Aktivation in einem einander ausschließenden Verhältnis stehen, ohne daß die essentiale gegenseitige Bedingtheit an Wirksamkeit verlöre. Denn Experiment und Selbstbeobachtung erweisen die virtuelle Dependenz der verschiedenen psychischen Faktoren voneinander, und zwar so, daß auch in diesem innerpsychischen strukturellen Verhältnisse der Charakter der Gegensätzlichkeit, den die Analysis des Bewußtseins als konstitutives Merkmal in den Momenten des Selbsts und des Anderen gefunden hat, zutage tritt. Vorstellen ist ein anderes als Empfinden usw. , nichtsdestoweniger aber nicht ohne Empfinden. Aber nicht ein reiner Parallelismus der Ausschließlichkeit findet statt. Vielmehr ist das Verhältnis des Selbstes zu dem Empfinden ein unmittelbareres als zu dem Vorstellen, welches in gleichem Rapporte zu dem Bewußtseinsmomente des Anderen steht. Und demnach ist 71 b das Verhältnis der Verhaltungen des Vorstellens und des Empfindens nicht nur ein differentes, sondern ein gegeneinander gegensätzliches. Hierauf wird zurückzukommen sein. Hier ist zunächst noch zu bemerken, daß das Projektionsmoment, diese Raumwurzel seiner zentralen psychischen Stellung wegen (- wir sahen, daß der einfache Akt der Selbsterfassung es enthält-) nur bei einer wesentlichen Alteration der Funktionalität, nur mit dem Bewußtsein selbst, hinfällig wird, während die demnächst zu erwähnenden Raumcharaktere schon bei geringerer Störung der strukturellen Gegebenheit gebunden sind. Hierfür ist das tatsächliche Verhalten beweisend, nicht daß diese Wertsstellung aus einer hinzugebrachten Applikation einer abstrakten logischen Kategorie, der der Essenzialität, sich ergäbe. Vielmehr erweist letztere ο

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sich als Vorstellungsreflex des unmittelbaren Lebensgefühls, welchem der Unterschied zwischen wesentlich und unwesentlich entstammt. So schwindet das Moment der Richtung oder das der Örtlichkeit oder das Gestaltsmoment bei gemindertem Bewußtsein, während die Projektion als solche erst bei einer weiteren Bewußtseinsalteration, erst mit dem Wegfall des Selbstbewußtseins zur Aufhebung gelangt, ein Wertsunterschieda, welcher sich auch in der Abstraktionsmöglichkeit kundtut. Denn von jenen Raumcharakteren kann tatsächlich abgesehen werden, während jenes Verhalten selbst als ein vorstellungsgemäßes projektivistisch 72 a ist. Und dieser Umstand der Unvordenklichkeit jener Raumwurzel qualifiziert den „Raum" zur metaphysischen Äternisierung109, wie er die Annahme seiner Transzendentalität begründet, eine Annahme, welche aus der Nativitätstheorie die Seite der Gültigkeit heraushebtb. Auch in der s. g. kritischen Philosophie ist das Raumproblem unter der Form der Anschauung behandelt, Raum als fertiges Gebilde betrachtet worden, unbeschadet der Qualifizierung des Raums als von subjektiver Provenienz. Denn für jene Betrachtungsweise ist es gleichgültig, ob die Natur des Raumes eine idealistische oder realistische ist. Beruht doch diese Unterscheidung im Grunde auf einer willentlich veranlaßten Diremption und ist eine Marke der metaphysischen Seele der kritischen Philosophie110. Wie die Vorstellung oder Idee nicht minder ontisch, dinglich ist wie der ihr entsprechende Gegenstand, so ist die Form der äußeren Anschauung nicht minder objektiv als der wirkliche Raum. Hier wie dort werden fertige Data angenommen und nur [verschiedentlich lokalisiert] im Interesse ihrer Gültigkeit verschiedentlich a

lokalisiert.

Am Rande: „Abstraktionegrenze, Prädikation/Versuch der Derivation/der Projektion aus Kraft, aus Sein. Berührungshypothese (Maß der Alten in der funktionellen Fassung)", (von dem Satze: „So schwindet. . ." an) b Hier folgte im ursprünglichen Ms Anhang II, von dem ein mit anderer Tinte in anderer Handschrift auf leichteres Papier geschriebener Bogen vorhanden ist.

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Gerade diese, die Kantsche Betrachtungsweise hat die Behandlung des Raumproblems in keiner Weise gefördert, es müßte denn dem Umstände Wert beigemessen werden, daß die Zuweisung des Raumes zur Sinnlichkeit der Physiologie den Weg gewiesen hat111, diese Frage zum Gegenstande der Forschung zu machen. Vielmehr war schon vor Kant, dessen Vorgänger in der Subjektivierung des Raumes übrigens Locke 72 b gewesen ist, eine tiefere Ansicht über den Raum von Leibniz ausgesprochen worden, welcher den Raum in seiner unbestimmten Bildlichkeit als das [ein] Ergebnis eines Kräftezusammenhangs auffaßte, in Übereinstimmung mit seiner mathematischen Auffassung, wonach alle Bildlichkeit ein Ergebnis von Größenwirkung ist. Hier sehen wir den großen historischen Gedankenzusammenhang, während Kant im Gegensatze zu der radikalen Ikonoklastik des modernen Zeitgeistes erkenntnistheoretisch und logisch in den scholastischen Schematismus zurückfällt. Dogmatisch freilich in dem hergebrachten Wortsinne verblieb jene Position, weil sie ihrem Wesen nach aktiv und praktisch war. Der großartige mechanistische Standpunkt hat in sich als ein wirksames Verhalten die Weltsicherheit wie, so lange er ethisch gerichtet war (, d. h. so lange er die eigene souveräne Verhaltung ungebrochen zur Geltung brachte), die Sicherheit Gottes als des Demiurgere. Denn eine Phänomenalität gibt es bloß für das theoretische Verhalten, und zwar im modernen Sinne einer Phänomenalität bezüglich der Wirklichkeit. Denn die Phänomenalität der antiken Philosophie war eine Wertsbestimmung, wie an seinem Orte zu zeigen sein wird. Nur die reine Opsis eines Berkeley und Kant konnte zu dem Gedanken einer reinen Phänomenalität der Wirklichkeit gelangen, und zwar auf Grund der anschaulichen Verhaltung selbst. Denn die dem Anschauen als Verhaltung 73 a zugrunde liegende Projektion, an sich eine Verräumlichung, abstrahiert von den Funktionen des Wollens und Empfindens (, wenngleich sie von beiden bedingt ist, welches letztere Verhältnis nur dem Experimente sich aufschließt), somit von den beiden Garanten der Wirklichkeit. 9*

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Daß aber Akt und Art der Anschauung selbst nicht dem Gebiete der Phänomenaütät verfiel, hatte seinen Grund in der Lebensempfindung des anschauenden Verhaltens, aus welcher gesteigerten Empfindung die romantische Philosophie gleichsam das Blut der Wirklichkeit trank. Denn an sich ist reine Anschauung phänomenal, und nur die kosmische Empfindung oder die die Mechanik begründende werktätige Verhaftung verwirklichen die Existenzialität. Während des ganzen Verlaufs des antiken Denkens bestimmen entweder nebeneinander oder im Kampfe miteinander Wollen und Empfinden die metaphysische Position. Opsis und Mechanik stehen unvermittelt nebeneinander, nur dem Werte nach unterschieden bei Parmenides und Piaton, während die mechanische Auffassung bei Demokrit prae-valiert und in erkenntnistheoretischer Verwertung durch Antisthenes und die von ihm abhängige Stoa den Piatonismus überwindet. Ahnliches wiederholt sich in der modernen Gedankenbewegung. Ihr charakteristisches Merkmal ist der Begriff der Kraft. Die Gestaltlichkeit ist als Resultat gefaßt, Konstruktion ihre Tendenz. Hinter die Dinge zu kommen, nicht bis zum letzten Dinge, 73 b ist das universale Streben, welches auf allen historischen Gebieten, dem wissenschaftlichen im allgemeinen, insbesondere dem astronomischen und dem physikalischen, aber auch dem künstlerischen und sozialpolitischen sich manifestiert, wie denn hieraus sich die innige Verbindung von Wissenschaft und Kunstübung, welche die Reanaissance charakterisiert112, erklärt. Neben diesem, die Wirklichkeit an sich voraussetzenden, aber als Kraft, nicht als Gestalt fassenden Verhalten sehen wir den bestimmenden Einfluß der Kontemplation. So ist bei Spinoza die anschauliche Betrachtung unvermittelt neben der mechanischen vorhanden, während bei Leibniz der Raum zur Kraft geworden ist, wie denn bei ihm Substanz nicht ein willentlich gefestigtes Projektum oder ein unbestimmtes Allgemeinbild (, welches ein solches auch in der abstrakten Form des reinen Seins verbleibt), sondern projizierter Wille ist. Ahnlich aber wie bei Spinoza verhält es sich bei Kant, auf den 132

darum etwas näher einzugehen ist, weil er, abgesehen von Lotze und den Bemühungen von seiten der Naturforscher, das Raumproblem in einer für weite Kreise des Denkens noch gegenwärtig maßgebenden Weise behandelt hat. Sehen wir von Locke ab, der dem von ihm ausgesprochenen Gedanken keine umfassende Folge gegeben hat, so ist Kant der Repräsentant der Ansicht von der Subjektivität des Raums. Ermöglicht, wie gesagt, ist diese Ansicht vom kontemplativen Verhalten aus. Denn jede vom Wollen her bestimmte 74 a Position ist damit real, und [ist] hierfür ist bedeutungslos, ob der Raum als primäres Datum oder als Resultat von Kraftwirkung gefaßt wird. Der Realitätswert des Raums ist bei Leibniz ein geminderter, seine Realität als solche aber wird nicht negiert. Daß nun aber Räumlichkeit als subjektiver Provenienz angesehen werden konnte, wurde durch die Gesamtstellung des historischen Bewußtseins ermöglicht, und recht sichtbar ist an diesem Punkte, daß Philosophie der Reflex des geschichtlichen Bewußtseinsvorgangs, die Folge eines lebendigen Verhaltens ist. Die Entweltlichung des Bewußtseins, welche das Christentum brachte, gewährte die psychisch-historische Möglichkeit, [damit] dadurch daß der psychische Wert der gesamten Existenzialität aufgehoben war. Bemerken wir wohl[.]: auch der Brahmaismus und seine buddhistische Form waren zur Negation der Räumlichkeit verschritten, aber sie gelangten damit zur Entwertung aller Wirklichkeit. Hier war der Raum in seiner Projektionswurzel negiert und damit die Lebendigkeit des Bewußtseins aufgehoben. Die Verhaltung ist hier eine abstrakt kontemplative, und damit eine willentlich und empfindlich negative. Mittelst der Kontemplation wird der Versuch gemacht, von allem Kontemplativen abzusehen, wodurch denn die reine kontemplative Negation, ein dumpfes Wollen und empfindungsloses Brüten, übrigbleibt. Das aitiologische Verhältnis zwischen Wollen und Vorstellen ist durch einen 74 b Gewaltakt gelöst und mit dem Projektionsfaktor, der Wurzel aller okularen Abstraktion, alle lebendige Okularität aufgehoben. 133

Übergreifend, weil das Zentrum der Lebendigkeit essential bestimmend, ist das Christentum. Es ist , soweit menschliches Bewußtsein in seiner gegebenen strukturellen Verfassung in Frage kommt, die tiefste und äußerste Möglichkeit historischer Bewußtseinsstellung. Hier findet in der Projektion der Empfindung eine radikale Selbstentäußerung statt, so daß die lebendige Verhaltung über die Substanzialität des indischen Bewußtseins wie über alle Faktoren des Selbstbewußtseins hinaus tendiert, also rein transzendenter Art ist. Wir werden an seinem Orte nachzuweisen haben, wie die einzelnen Bewußtseinsfaktoren dadurch in ihrer Wurzel konträr bestimmt werden: das Wollen als Nichtwollen ohne Einbuße der Kraft, frei, weil radikal bestimmt im Gegensatz zu der Autonomie (, denn Autonomie und Freiheit sind Kontraeritäten), das Empfinden als Energie unter Verzehrung des Pathologischen ohne Verlust der Reizbarkeit, das Vorstellen ohne Gegenständlichkeit und doch nicht leer, die gesamte Funktionalität in höchster Lebendigkeit, aber gleichsam gegen sich gerichtet und auf einen Bezugspunkt, welcher der Gegebenheit nicht zugehört, ja nicht zugehören kann, nämlich auf Gott, der vorgestellt wird, ohne Objekt zu sein, gewollt wird, ohne psycho-physisch motiviert zu sein, empfunden wird, ohne empfindbar zu sein. 75 a Ein Verhalten, welches unter der Kategorie der Substanzialität als Transsubstantiation, von dem Gefühle aus als neues Leben, nach seiner Provenienz unter dem Symbole der Wiedergeburt sich dogmatisch ausspricht. Wir müssen uns, wie erwähnt, hier versagen, auf die Psychologie des Christentums einzugehen, darauf, wie Leiden als Seligkeit, Widerstand als Willenserfüllung erfahren wird, wie die der Evidenz verschlossene Gläubigkeit in ungeminderter, ja erhöhter Kraft der Gewißheit an die Stelle des Wissens tritt. Es ist eben hier ein Standpunkt voller Selbstlosigkeit eingenommen und hinter die Urteilung, welche die Isolation und Projektion der einzelnen psychischen Funktionen ermöglichte, zurückgegangen worden. Das Andere, welches in seiner Bestimmung als Substanz oder Kraft oder νονς ein Element 134

des Selbstbewußtseins verblieb, ist an sich theoretisch gar nicht bestimmt, nur insofern als die Verhaltung in der zentralen Funktion des Bewußtseins, in der Empfindung originiert, die Empfindung aber aller Eigenheit entkleidet, Liebe ist: als Person. Nur wo Gott als Person aufgefaßt wird, ist Gott. Gott aber ist eine rein religiöse Größe 113 . Gott und Welt sind religiös betrachtet psychologische Gegensätze. Damit, daß das andere als Gott bestimmt ist, ist die Welt f ü r das Bewußtsein dem Werte nach phänomenal geworden. Die Selbständigkeit der Welt ist f ü r diesen Standpunkt aufgehoben, der demzufolge ihren Bestand in Ursprung u n d Verlauf von Gott abhängig 75 b macht. (Gott Schöpfer und Erhalter.)» Wir werden sehen, daß gerade diese Bestimmung in ihrer Abtrennung von der religiösen Empfindung als theoretische[s] Erkenntnis zu Antinomien f ü h r t , welche die Unruhe der dogmatischen Arbeit, unvermeidlich u n d doch unbegleichbar, ausgemacht haben. Hier k a m es darauf an, die negative Wertung der Dinglichkeit, welche die Ansicht von der Subjektivität des Raumes ermöglichte, als in der christlichen Bewußtseinsstellung begründet aufzuzeigen. Der dogmatische Bewußtseinswert des Räumlichen war in Wegfall gekommen, nicht so, daß die Christlichkeit jene erkenntnistheoretische Lokalisation erheischt hätte. Beruht diese doch auf einer anderweitig bedingten philosophischen Position, wie denn das katholische Christentum, allerdings in Konservierung des nur transformierten ontischen, weltlichen Momentes, die Objektivität des Raums in seiner erkenntnistheoretischen Arbeit festgehalten h a t . Denn das d ü r f t e der essentielle Charakter des Katholizismus sein, daß er dogmatisch und institutionell das Christentum als Erfüllung, als Z u t a t zu der (von Gott gewirkten) a natürlichen Gegebenheit, die damit nicht negiert, sondern komplettiert wird, auffaßt 114 . Aber e r m ö g l i c h t wurde eine erkenntnistheoretische Stellung durch die christliche Position. So ist es nicht zufällig, daß aus der Richtung einer christlichen Verinnerlichung, in den a Klammer bei Yorck.

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Kreisen protestantischen Denkens das Raumproblem aufgeworfen worden ist. Daß der Raum als Kraftwirkung gefaßt wurde, 76 a entsprach der Ikonoklastik der modernen universal auftretenden Denkrichtung. Gestalt, sei sie Schema oder Idee, materiell oder bloße Vorstellung, wurde aufgehoben, indem sie als Ergebnis gefaßt wurde. Während die Bildhaftigkeit auch von dem antiken Mechanismus nicht abgestreift worden war, trat mit dem Momente der Kraft hier eine Vertiefung des Gegensatzes zwischen Auge und Hand ein. Anders gewendet: Die weltfreiere Willensstellung ermöglichte einen dem antiken Bewußtsein [verschränkten] verschlossenen Rückgriff. Die Tendenz, h i n t e r die Dinge zu kommen, setzte eine wesentliche Dingfreiheit voraus. Das Evidente war in Frage gestellt und damit das Experiment an Stelle der Evidenz zur [die] Garantie der Wahrheit geworden. Diese Stellung der Welt gegenüber fand im Gebiete der Philosophie ihren typischen, ja prototypischen Ausdruck in dem Ausgangspunkt des Descartesschen Philosophierens. Von der festen Punktualität, der individuellen Selbstgewißheit aus wird hier der Hebel in Bewegung gesetzt; in der Selbstgewißheit war die Forderung des δός μοι πον αχώ erfüllt. Diese Stellungnahme involvierte von vornherein die Weltferne, indem sie Ich und Welt außer allen aitiologischen Konnex in das Verhältnis der Gegensätzlichkeit stellte. Man kann sagen, das Ich war das eleatische Eins geworden und hatte Hände erhalten, es selbst war als Kraft gefaßt a . Die Tendenz war 76 b eine bildnerische statt einer bildlichen115 und fand [den] ihren prägnantesten Ausdruck auf dem Gebiete der Mathematik. Aber gleichermaßen hatte sie sich manifestiert und manifestierte sie sich theoretisch und praktisch in Kunst und Politik. Wie z.B. nur von diesem Gesichtspunkte aus die Lehre Machiavells begriffen und gewertet werden kann. Das Ich aber war innerhalb des Erkenntnisstrebens dem Zwecke nach als a

Das Verhältnis der antiken Atomistik zu der eleatischen Lehre wird hieraus klar. (Anmerkung Yorcks)

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Denken gefaßt. So ergab sich die Teilung der Gegebenheit in Denken und Ausdehnung, welche wollentlich veranlaßt waren und [um] deshalb in substanzialer Selbständigkeit einander fern standen. Nicht die unfruchtbare formalistische Unifikation jener beiden Trennstücke durch Spinoza, welche eine spätere Zeit durch Erfüllung mit der Einheitlichkeit ihres ästhetischen Gefühls alterierend belebte118, sondern die Applikation des Mechanismus, die Wendung der universalen Tendenz nach dem Ich wirkte die Verbindung. Innerhalb der modernen Gedankenbewegung verläuft ein der griechischen philosophischen Arbeit analoger Vorgang. Hier war das eleatische Eins durch die Atomistik fruchtbar gemacht worden für eine Wissenschaft, welche an sich Technik war. Auch hier war von den Charakteren der Räumlichkeit das Richtungselement (, und zwar, weil es auf ein Produkt abgesehen war, als Duplizität,) als primär herausgehoben, und das Formelement als Ergebnis gefaßt worden. Aber die Einheitlichkeit, dies letzte Ergebnis wissenschaftlicher Abstraktion, war, gleichgültig ob in 77 a der Einzahl oder Mehrzahl genommen, als Projektum, substanzial und somit dinglich verblieben. Und die durch die Megarische Schule vermittelte applikation der Atomistik auf das psychische Gebiet, die Psychologie der Stoa, hatte an der Dinglichkeit der Prinzipien ebenso wie an dem Zwecke als alleinigem Bindemittel festgehalten, während die ausschließliche Wertung der Eigenheit seitens des Antisthenischen Standpunktes zwar insofern griechisch gebunden blieb, als er die Ontologie der Tugend postulierte, aber in Verinnerlichung und Sübjektivierung der eleatischen Position [aber] keinen Übergang von der Ethik zu der entwertenden Physik gefunden hatte. Die Abstraktion, welche dialektisch prozedierend und wollentlich bestimmt zu der Einheitlichkeit als zu dem letzten, nicht mehr aufhebbaren, weil die Selbstbehauptung reflektierenden Elemente des Wissens geführt hatte, bestimmte den ethischen Nominalismus der antisthenischen Richtung, in welcher das eleatische Eins, das Ergebnis wollentlichen Verhaltens, als Wille seine eigene Natur offenbarte. Vergegenwärtigen wir uns nun 137

die innergeschichtliche BewußtseinsdifFerenz, so werden wir bei Yergleichung die Analogie der modernen Entwicklung erkennen. Der Wille wurde infolge des Christentums als ein natürlich nicht gebundener empfunden. Die Selbsterfahrung dieses Bewußtseinszustandes, diese 77 b Herausstellung des christlichen Prinzips, welches vordem nicht etwa unwirksam gewesen war, aber in einem Zustande der Legierung nicht rein sichtbar wurde, (wie denn die auch der historischen Ontologie gegenüber transzendente Natur des Christentums im Laufe der Geschichte immer wieder der lebendigen Gegenwirkung des natürlichen Bewußtseins verfällt,) beginnt und begründet die Neuzeit. Die Natürlichkeit aber wurde im Gebiete der religiösen Bewegung nicht nur ontisch, sondern auch somatisch gefaßt. Die Definition zwischen dem Selbst und dem Anderen ist ein historisches Produkt. Während zu den Zeiten primitiver Kultur der Sphäre des Selbsts das Konkretum von Soma und Psyche zufällt, woraus sich die Körperlichkeit der Mythologie ergibt, wenngleich auf religiösem Boden schon anfänglich die Ansätze einer tieferen Urteilung der psychophysischen Gegebenheit erkennbar sind, so vollzieht sich allmählich der Prozeß einer Verengerung oder Verinnerlichung des Selbsts. Und man kann sagen, daß gerade dieser Vorgang die Seele der Geschichte, die i n n e r e Geschichtlichkeit ausmacht. Das Christentum war nun hinter das Zentrum aller Gegebenheit, hinter das Gefühl zurückgegangen, auch dieses, sofern es gegeben, damit aber das Leben selbst, dem Anderen zuweisend. Die Applikation und Reaktion dieses Bewußtseins gegenüber dem griechisch-römischen Amalgam ist der Nerv der reformatorischenBewegung, deren tiefster Vertreter Luther beiden Teilstücken der Säkularisation gegenüber, wenn auch nicht in gleichem Umfange und mit gleicher Energie, opponiert hat. Finden sich auch Belege in Luthers Schriften und Aussprüchen 78 a genug, welche die religiöse Inadäquatheit vorstellungsgemäßen Verhaltens betonen, so daß der, welchem die adogmatische Seite Luthers verborgen geblieben ist, eines intimen Verstehens seines Standpunktes ermangelt, und ist auch insbesondere Luthers ausgesprochener Widerwille gegen den Aristote138

lismus nicht aus der scholastischen Fassung jenes Philosophems zu erklären, vielmehr ein Beweis (ich möchte sagen) eines großen historisch-psychologischen Instinks117, so macht doch die Auseinandersetzung mit der religiösen Willensgestalt des Katholizismus den wesentlichen Teil seiner Lebensarbeit aus118. Mit der Aufhebung der Selbständigkeit des Selbst, der Entsubstanzialisierung dieses wie des gegensätzlichen Bewußtseinsfaktors, war die Eigenwilligkeit an sich und nach dem ganzen Komplexe der Motivation negiert, damit aber, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird, die Freiheit des Willens postuliert und erfahren. Denn nach der antinomischen Natur psychischer Verfassung ist das Wollen nur insofern frei, als es von aller Selbstbestimmung befreit ist, ein Verhältnis, welches um nichts weniger empirisch wahr ist, weil es dem Erkennen (, nur deshalb weil Erkenntnis Sein voraussetzt, hier aber über die seientliche Gegebenheit hinausgegangen wird,) undurchsichtig oder selbst widerspruchsvoll ist. Der religiösen Elimination des Wollens entsprach nun die Befreiung desselben auf den anderen Gebieten historischer Betätigung als die andere Seite derselben Stellungnahme. 78 b Und zwar als Kontrasterscheinung derselben Grundgestalt a , hierher gehört: die rationale Ethik, wie sie Erasmus und die Humanisten als Ausgangsund Gesichtspunkt für die historische Kritik, die große Philologenschule des folgenden Jahrhunderts, die Staatsmänner der weltlichen Souveränitäten^] und die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts repräsentieren. Betrachtend hinter die Überlieferung, technisch hinter die Dinge kommen, werktätig Dinge und Verhältnisse hervorbringen, das ist das universale historische Interesse. Erkennen ist Können und jeder Verband ein synthetischer. Beschränken wir den Blick auf philosophisches Gebiet. Philosophie tritt auf als Mechanik. Nicht aber wird das mechanische Mittel als Ausdehnungsminimum gefaßt, sondern als Krafteinheit. Der ästhetische Rest der antiken Atomistik a

Korrelat des servum arbitrium die Freiheit eines Christenmenschen. (Anmerkung Yorcks)

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wird als Anschauungsprodukt aufgehoben und durch ein unsichtliches Kraftfixum ersetzt. Das Moment der Ruhe wird hiermit im Ansätze aufgehoben und folgerichtig die reine Bewegung Voraussetzung und Problem, so daß in veränderter Stellung Statik als eine Modifikation der Dynamik erscheint [,]. Gleichgewicht, dies Grundverhältnis somatisch-psychischer Lebendigkeit, dieser [und] Typus der intellektuellen und ethischen antiken Verhaltung erscheint als ein Einzelfall, der wesentlich zufällig und nur utilitarisch gerechtfertigt ist. Die Gleichförmigkeit ist sinnlos geworden, an sich ein rein technisches Postulat. Denn die Einheitlichkeit, 79 a diese lebendige Wurzel des erkennenden Verhaltens, kann ohne Verzicht auf alle Erkenntnis nicht negiert werden. Nur ist sie nicht mehr Einheitlichkeit der Gestalt, sondern des Vorgsang und an sich ein bezugloses Vorkommnis, welches nur als Maß für den Eingriff in die Natur bedeutend erscheint. Das fixum oder die fixa sind keine Selbstwerte, sondern nur unvermeidliche Anknüpfungspunkte für Ermittelung des Geschehnisses, sie erhalten den Charakter der Hypothese. Der t e r m i n u s m i n o r ist an die Stelle des t e r m i n u s m a i o r getreten, Allgemeingültigkeit des Charakters der Notwendigkeit entkleidet worden. Das Lebensgefühl, welches dem wesentlichen Merkmale allen Erkennens, der Einheitlichkeit, substanzialen Charakter, selbständige Würde verlieh, ist per a b s t r a c t i o n e m negiert, und dem im Gebiete der K a u s a l i t ä t jenem Merkmale entsprechenden Gesetze nur die Bedeutung eines Postulats zuerkannt. Die universale Applikation dieses dem Fortschritte der Naturwissenschaft adäquaten Standpunkts aber konstituiert die Revolution, deren akuter Ausdruck allein die so bezeichnete politische Bewegung ist. Während aber der mittelalterliche Nominalismus dem Konstruktionsgedanken ferngeblieben war bis auf die folgenlose, auf das logische Gebiet beschränkte Ausnahme des Raymundus Lullus, a bestimmt 79 b dieser nuna

Nicht eigentlich Konstruktion sondern Kombination. Vorläufer dieser Bewegung sind die Scotisten, von denen, weil es sich um eine lebendige Entwicklung handelt, eine bestimmte zeitliche Anfangegrenze nicht angebbar ist. (Anmerkung Yorcks, Ms von „Vorläufer" an senkrecht durchgestrichen)

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mehr alle historische Betätigung, die demzufolge fortschreitend exzentrisch ist. Denn in dem Willen, dem psychischen Provenienzorte der gesamten Bewegung, manifestiert sich das „von sich Ausgehen", und der Aufgabe des geozentrischen Standpunkts liegt die eigene Exzentrizität zu Grunde. Die "willentlich veranlaßte Urteilung, welche das Wollen von dem Empfinden abstrahiert, setzt an die Stelle des Motivs den Effekt. Der Effekt ist der Rechtsgrund. Denn syndesmotisch wirkt nur das Gefühl, [nur synthetisch kann] während der von dem abstrakten Willen 4 geordnete Verband nur synthetisch sein kann. Daher denn auch die Humanität dieses Standpunkts keine gewachsene, die Verhaltung aitiologisch bestimmende, vielmehr eine Zutat pathologischen Charakters ist. Die Historizität ist eine nicht humane. Denn von dem Utilitarismus aus ist nicht zur Humanität zu gelangen, wie das Experiment keinen Homunkulus ergibt. Es ist die gleiche Form der historischen Lebendigkeit, welche die Spontaneität in der sozialen und politischen Sphäre abstrakt herausstellt als Independenz der Bewegung im Reden und Handeln (Preßfreiheit, Zugfreiheit etc.) b . Hiermit sei nur die Universalität der Verhaltung angedeutet, welche die Erkenntnisaufgabe formuliert und mit der Fragstellung die Antwort bestimmt. Es spielt sich, nur tiefer und umfassender, weil von einer radikalen Bewußtseinsverhaltung aus, der nämliche Vorgang ab, welcher nach der kritischen Auflösung des Piatonismus zu der Duplizität der Stoa und der Lehre Epikurs 80 a geführt hatte. Aller Syndesmos und damit die Erkenntnisaufgabe war synthetisch geworden. Die Kategorie der Realität war einseitig vom Wollen her bestimmt [,] und damit das Einzelne [das] zum allein Wirkliche«. [,] gestempelt, alles allgemeine als ein Summationsergebnis gefaßt. Diese Sätze des modernen Denkens sind alten Datums, aber alte Meinung in neuer Gestalt. Ihre psychische Provenienz unter Beiseitelassung der peripherischen Differenz der Lehrgestalten erkennen a

Am Rande: „Überragende Stellung des Glaubens über die Liebe (Syndesmos thetisch)." (Klammer bei Yorck) ·> Klammer bei Yorck.

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heißt die Geschichtlichkeit begreifen. Wie ein Mensch den anderen kennen lernt nicht auf Grund, sondern unter Absehen der mannigfaltigen Nebenzüge, dadurch daß er das charakteristische Gepräge seines Wesens erfaßt [hat]. Weltfreiheit war der Grundcharakter der neuen Zeit und damit war[,~\ das abstrakte Willensproblem in den Brennpunkt der geschichtlichen Aktion getreten. Die Welt, der Kosmos, dessen Schattenbild die scholastische Metaphysik und Logik noch festgehalten hatte, wurde nicht mehr empfunden und konnte darum problematisch werden. Gewißheit war nur bei der Eigenkraft und durch sie garantiert nur ein Substrat, welches das Mittel der demiurgischen Tätigkeit gewährte. Darin, in der Handlichkeit, liegt die psychologische Berechtigung des Atoms, welches das letzte fixum der Handhabung ist119. Wir können den Einblick in die Motivation der Atomistik verwerten zur Erkenntnis des nur äußerlich bezeugten Zusammenhangs der Eleatischen und Leukippschen 80 b Philosophie, deren entwickelte Synthese die Stoa war. Doch gehört das einem anderen Orte an. Das Eleatische Eins wurde [war] nach der und vorbereitet durch die rein doktrinelle Kritik des Nominalismus als Aktion aw/gefaßt und das μη öv als reines Material verstanden [gefaßt]. Nur vom Wollen her gesehen und bestimmt wurde der Zweck das universale Bindemittel. Die Grenzenlosigkeit der Tendenz sprach in Umkehrung aller Formanschauung dem Unendlichen positiven Wert zu. Der Raum mußte unbegrenzt sein, um einen ungehinderten Konstruktionsplatz zu gewähren. Es ist ein und dieselbe Stellungnahme, die nämliche historische Bewußtseinsphase (, welche als eine neue lebendige Urteilung dem analysierenden Bücke sich darstellt), die in allen Gebieten der historischen Betätigung bestimmend auftritt. Der Demiurg ist Gott, der gläubige Reflex dieser Verhaltung. Wir erinnern an die Theologie Zwingiis und Calvins, an den damit gegebenen Konflikt zwischen Theologie und Christologiea, an die Antinomie zwischen Allmacht und Era

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Von „an den" an eingeflickt.

löaung, an der Luther sich abmüht, an den der theologischen Entwicklung jener Epoche immanenten Konflikt zwischen Dialektik und Logik (, dort thetischer, hier syndesmotischer Charakter). Die Antinomie der Bestimmung Gottes vom Wollen und vom Empfinden her, anders ausgedrückt von dem ontischen und von dem soteriologischen Gesichtspunkte aus, erhob sich von neuem8· wie zur Zeit Marcions und 81 a fand wie damals keine Ausgleichung, sondern in der herrschenden Orthodoxie ein Begräbnis, während auf die eine Seite der Rationalismus, auf die andere der Pietismus trat. In dem politischen Leben manifestiert sich die nämliche Bewußtseinsstellung in dem Gedanken und der Realisation der Souveränität, sei sie die des Herrschers oder die des Volkes, eine Bewegung, welche ihre nachträgliche und klassische Theorie in Machiavells Buch findet. Von dem nämlichen Gesichtspunkte aus wird das soziale Problem bestimmt und behandelt, wo es sich nun nicht mehr um die Erreichung eines kosmischen Gebildes handelt, sondern um das größte Wohl aller Einzelnen. Die Sozietät wird gleichsam frei und vernichtet den Staat. Denn der unbeschränkte Wille braucht Einzelheiten, freie Verwendbarkeiten für die konstruktive Tätigkeit [bedarf der unbeschränkte Wille]. Gleichen Charakter trägt die historische Wissenschaft jener Zeit, insbesondere die Philologie. Nicht in, sondern über der Geschichte ist die Stellung des independenten Individuums, welches die Geschichte als eine Rüstkammer für die Darstellung der eigenen Überzeugung ansieht, als einen Schatz von Beispielen zu moralisch-rhetorischer Verwendung. Nicht zufällig sondern aus der Gesamtstellung abfolgend ist es daher, daß wie in der Jurisprudenz das naturlose römische Recht, so der Historie gegenüber die stoische Isolation zur Geltung gelangt. Die stoische Lehre steht unter veränderten Verhältnissen wieder auf und steht in einem allgemeinen Zusammena

Vorläufer dieser Bewegung sind die Scotisten, wie denn, weil es sich um eine lebendige Entwicklung handelt, eine bestimmte zeitliche Anfangsgrenze nicht angebbar ist. (Anmerkung Yorcks)

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hange mit der geschichtlichen Lebendigkeit, 81 b während die klassische Gräzität, insbesondere der Piatonismus, eine Nebenströmung bildet, ähnlich wie die ästhetische Richtung des ausgehenden 18. und anhebenden 19. Jahrhunderts in Deutschland. Eine konstruktive Independenz, die die Gegebenheit als Stoff behandelt, ist der Charakter der historischen Gesamtlebendigkeit. Eine Äquation von Wissen und Können, oder vielmehr Wissen wird als Können definiert. Ikonoklastisch ferner ist das Wesen der Malerei120. Die reine Bildlichkeit wird aufgelöst und hinter die Flächenhaftigkeit zurückgegangen. Die metaphysische Phänomenalität, welche, weil Gefühlsinhalt, Wahrheit war, wird zur Relativität. Hinter die reine Okularität, hinter die Idee, welche die Seele der byzantinischen Malerei ist, wird zurückgegangen. Von der Linie aus wird das Gebilde konstruiert. Disposition wird zur Komposition. Der äußere Zusammenhang zwischen der modernen Malerei und der handwerklichen Bearbeitung widerständlicher Stoffe, die Provenienz jener von dieser her, ist bezeugt. Wie Konstruktion eines Widerständlichen bedarf, so ist es von vornherein auf Körperlichkeit abgesehen. Eine innere Kooperation von Auge und Hand hat statt. Hierauf beruht die Auffindung der perspektivischen Verhältnisse. Die dialektische Marke aber ist der malerische Kontrapost. Die reine und primäre Räumlichkeit und darum Ortlosigkeit des Bildes wurde zur lokal und individuell bestimmten Bewegimg. Die Aktion der konstruktiven 82 a Tätigkeit fand ihren Ausdruck in dem Probleme der Bewegung und in der Darstellung des Bewegten121. Wir sehen, daß künstlerische wie wissenschaftliche Übung begleitet wird von optischen Untersuchungen. Das Sehen ist ein konkretes an sich und nicht nur wie die anderen Sinnesaktionen ein werkzeuglich kompliziertes. Die beiden wesentlichen Charaktere; die beiden primären Momente, sind die Linie als graphischer Ausdruck der Projektion, des willentlichen Elementes® im Sehakte und die Fläche, das Ergebnis a

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82a Nachträglich korrigiert aus: „Momentes".

der reinen Okularität, die reine Bildhaftigkeit, nur insofern projektiv, als auf Grund struktureller Differenzierung die Absonderung von der Empfindung stattgefunden hat. Beide sind, weil primär, nicht aufeinander reduzierbar. Denn die Euklidische genetische Verbindung setzt das Produkt der Bewegung voraus. Damit eine bewegte Linie eine Fläche ergebe, muß zu und während der Bewegung die Kohärenz hinzugetan werden, wie andererseits durch Absehen von der Flächenhaftigkeit die Linie nicht erreicht werden könnte, (durch dies rein negative Verhalten ein Positives,) wenn nicht die Linie als Symbol einer besonderen psychischen Funktion im voraus gegeben wärea. Während nun die Unauf- 82 b löslichkeit der Bildhaftigkeit der künstlerischen Auffassung der griechisch-byzantinischen Malerei zugrunde lag, ähnlich wie die platonischen Ideen als Formen und Schemata, als caput mortuum griechischer Anschauungskraft in Logik und Metaphysik fortexistierten, manifestiert sich das neue Leben in der Analyse der Okularität, in der Entwicklung und Schärfung der Tragkraft des Blicks, in der den Raum nicht disponierenden, sondern konstruierenden Komposition, in der linearen Manier. Die dem Auge gleichsam immanente Hand wird rege. Innerhalb dieser großen Bewegung, welche, die Fläche negierend mittelst der Lage von Linien direkt auf den Körper nach seinem Anscheine gerichtet ist, Realität anerkennend nicht in dem Gefühlswerte, sondern vom Wollen her als Widerständlichkeit und Eindrücklichkeit, erscheint Raffael und seine Schule als eine Nebenströmung122, eine geniale Reminiszenz, ähnlich wie die ästhetisch-romantische Bewegung des a

Der Punkt ist kein optisches Datum. Bezüglich seines Verhältnisses zur Linie gilt übrigens dasselbe, was oben über das Verhältnis der [von] Linie zur Fläche gesagt ist. Der Punkt ist der mathematische Ausdruck für den Beginn der linearen Aktion des Sehaktes oder 82 b für den Abschluß derselben, die Fixation des Übergangs von der ruhenden Bildlichkeit des Gesichtsfeldes zu der Bewegung des ins Auge Fassens. Der Punkt ist das mathematische Symbol der Kraft. Daher korrespondiert die Auflösung der Ebene, als der primären Raumgestalt, als der mathematischen Idee, in punktuelle Lageverhältnisse der Ikonoklaetik innerhalb der Logik und Erkenntnistheorie. (Anmerkung Yorcks) 10

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deutschen Denkens eine Besonderheit verbleibt in dem großen Gange des mechanistischen Denkens. Den prägnantesten 83 a Ausdruck gab sich aber die neue Denkweise in der angewandten Mathematik. Es ist immer eine andere Stellung zur Welt, welche ein neues Stadium der Bewußtseinsentwicklung zur Folge hat. Das Gleichgewicht der kosmischen Gestalt war durch Kopernikus aufgehoben, so kam die Welt in Bewegung. Diese aber wurde aufgefaßt als Ergebnis zweier gegensätzlicher Komponenten. Der Begriff der Kraft wurde zum Schlüssel der Welterkenntnis. Damit wurde [real] das Leere real, der absolute Raum als Feld der Kraftäußerung, real ebenfalls das Widerständliche, welches der unbeschränkten Kompositionsfähigkeit wegen als Atom bestimmt wurde, wie auch das Postulat der Eindeutigkeit der Vorstellungen in der modernen Logik den nämlichen Rechtsgrund hat. Wir haben schon früher bemerkt, daß dem willentlichen Verhalten die Realität des Widerständlichen unmittelbar gewiß ist. Erst der Kontemplation dieses Standpunkts konnte die Frage nach der Realität von Raum und Räumlichem entstehen. Betrachten wir die Philosophie dieser Denkrichtung, welche, wie öfters erwähnt, eine wesentlich mathematisch geartete war - wie denn, solange Philosophie Ontologie ist, das von Piaton tiefsinnig behauptete nahe Verhältnis von Philosophie und Mathematik wohl begründet ist so sehen wir, daß Raum und Gegenständlichkeit unmittelbar gewiß sind. Sie sind mit der Lebendigkeit des eigenen Denkens gegeben, während z.B. bei dem genialen Systematiker 83 b der ehedem vereinzelten und nicht zu voller Klarheit gediehenen Fermente der neuen Philosophie, bei Descartes123, die Stellung Gottes die eines Postulates ist, allerdings die eines technischen, mit der Weltauffassung gegebenen, Postulats und nicht wie bei Kant die eines freien, die Wissenschaft nicht tangierenden, das im Grund, wie schon Schleiermacher nachgewiesen hat, egoistisch, nämlich nach der Aquation von Verdienst und Belohnung (Würdigkeit Glückseligkeit)a motiviert[en] ist [Postulats] 123 b. a

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Klammer bei York.

So lange nun die philosophische Gedankenbewegung von mathematisch erfinderischen Köpfen vollzogen wurde, konnte es keine Frage nach der Realität der Außenwelt, insbesondere des Raums geben. Vielmehr war alles räumlich gefaßt, indem die Projektionskraft, das Willensmoment, in dem Vorstellungsvorgange verabsolutiert wurde. Den schärfsten und damit klassischen Ausdruck gab dieser Denkrichtung Leibniz. Aus der Unteilbarkeit des Willens erwuchs die Monas, welche nichts als Energie war, nicht anders besondert von den anderen Monaden als wie eine Zahl von den anderen, und die Tatsache, daß die Weltrechnung s t i m m e , was ein hinzugebrachtes Gefühl als Harmonie bezeichnete, ergab sich au3 der Bestimmung der reinen Projektionszentren, der Monaden. Wie die s.g. analytische Geometrie, Gestalt unter den Begriff der Größe subsumierend, nur die punktuelle Differenz des Orts, das der Energie des Sehens entstammende Richtungsmoment 84 a bestehen lassend, die Gestaltlichkeit als Ergebnis eines Größenverhältnisses faßte (, gleichsam imperatorisch die Antinomie, welche die griechische philosophische Reflexion als unüberwindbar herausgestellt hatte: die Unvergleichbarkeit von Gestalt und Größe, von Ruhe und Bewegung beseitigend,) - in derselben Richtung und aus demselben Beweggrunde prozedierte das philosophische Denken, welches den Raum als Raumbild, nicht zwar als phänomenal in dem subjektiven Verstände des Wortes, wohl aber in dem antiken Wortverstande, als nicht primärer Realität, sondern als Ergebnis, als Produkt faßte. Nichtsdestoweniger aber war dieses Denken an sich, weil es exzentrisch war, räumlich. Zur Klarstellung dieses Verhältnisses bedarf es einer psychologischen Erörterung: wie in dem Sehen eine Abstraktion von der Empfindung präformiert ist, so besteht der Denkakt, den die beiden philosophischen Sprachen, das Griechische und das Deutsche, nach seinem inneren Charakter als Vorstellen tiefsinnig bezeichnen, in einem Hinausgehen über die Empfindung. Zu seinem Vollzuge bedarf es entweder eines neutralen Gleichgewichts des Empfindungszustandes oder einer gegen die Empfindlichkeit gerichteten, sie zu neutralisieren 10*

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suchenden Energie. Dieses Verlassen der Empfindlichkeit ist Wurzel und Wesen der Projektion a124 . 84 b Diese nun ist an und für sich nicht eine willkürliche oder beabsichtigte, sondern eine Äußerung der Lebendigkeit selbst. Gerade dieses die Empfindungssphäre transzendierende Verhalten ist das spezifisch menschliche und die strukturelle Veranlagung hierfür das den menschlichen Organismus Auszeichnende, die Anlage zur Freiheit. Denn die Unabhängigkeit von der physischen, insbesondere somatischen Nötigung ist eine empirische Tatsächlichkeit primärer Natur, welche eine Theorie, die auf einer unkritischen Hypertrophie des Erkenntnistriebes basiert, leugnet, indem sie von dem ihr widersprechenden eigenen praktischen Verhalten absieht, ja [sie] mißkennt, daß sie selbst und ihre Leugnung der Independenz diese letztere voraussetzt. Denn jeder Denkakt ist ein tatsächliches Absehen von der Empfindung. Daß nun auch dieses Verhalten der Projektion in dem Nexus der Lebendigkeit steht und durch die Zuständlichkeit der psychophysischen Gegebenheit bedingt ist, lehrt die Erfahrung, - nicht 85 a minder aber lehrt sie, daß das Vorstellen eine originale Bewußtseinsmanifestation ist, welche auf eine andere psychische Funktion nicht zurückgeführt werden kann. Es setzt die Gesamtfunktionalität voraus b , ohne doch aus ihr abgeleitet werden zu können, und die Versuche, aus einer der psychischen Funktionen eine andere zu erklären, also nicht minder der Sensualismus wie der abstrakte Intellektualismus, a 84 a Die optische Projektionstheorie ist zwar von dem Berührungsstandpunkte aus als unbegreiflich 84 b bestritten worden, von einem Standpunkte aus, der alle psychophysischen Vorgänge auf Empfindung radizieren wollte. Aber, abgesehen davon, daß diese Vereinheitlichung der strukturellen primären Differenziertheit wegen unvollziehbar ist, ist hiermit ein unkritischer Anspruch an Begreiflichkeit erhoben. Es hätte zuvor die Natur und der Umfang des Begreifens auf Grund der Beobachtung dieser Funktion zur Erkenntnis gebracht werden müssen. Auch würde ein weniger dogmatisches und konstruktionssüchtiges Verhalten haben erkennen lassen, daß auch der Berührungsvorgang Projektion voraussetzt. (Anmerkung Yorcks) b Am Rande: „Alles Denken räumlich, alles Erkennen Aufhebung der Räumlichkeit".

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mit anderen Worten das Unternehmen, die lebendige differenzierte Einheitlichkeit zu unifizieren, verläßt den Boden der Wissenschaftlichkeit. Gerade der Konstruktionstendenz der modernen Wissenschaft aber lag die Identifikation des „Nicht ohne" und des „Durch" oder „Mittelst" nahe. Wir erfahren aber, daß das vorstellende Verhalten nicht nezessitiert, ja an sich nicht einmal motiviert ist. Nicht daß sein Vollzug voraussetzungslos wäre [sei]. Die Abstraktion des Vorstellens von der Lebendigkeit, die Isolation dieser Funktion, ist gerade der Quellpunkt aller Metaphysik. Aber an sich ist es selbständig, eine eigene Funktionalität, nicht herleitbar, also auch nicht reduzierbar auf Empfinden, ebensowenig wie das Auge auf die Hand, der Gesichtssinn auf das Getast. Die strukturelle Differenziertheit des Lebens selbst ist eben unaufhebbar, und die Unifikation, welche als ein tätiger Vollzug der Vereinzelung bedarf und auch als eine lebendige Verhaltung von vornherein besondert ist, vermag die lebendige 85 b Einheitlichkeit nicht zu erreichen. Explikation ist eine Seite der Lebendigkeit selbst. Wo nun diese Funktion auf Grund somatischer Differenzierung der Empfindung entäußert, von ihr nicht vinkuliert ist, da ist menschliches Vorstellen vorhanden, von welchem nur deshalb Interesselosigkeit (Objektivität) a und Independenz prädiziert werden kann. In diesem Sinne (, und dies ist der radikale,) ist sonach alles Bewußtsein ein Verräumlichen und Räumlichkeit der Grundcharakter alles Denkens. Auf die Frage, inwieweit man seiner selbst bewußt sei, inwieweit Wissen Bewußtsein sei, anders ausgedrückt, ob und welche Grenzen der Projektibilität bezüglich der Empfindung vorhanden seien, wie ganz allgemein nach dem Verhältnisse von Denken und Empfinden, kann an diesem Orte nicht eingegangen werden. Wir werden sie ins Auge zu fassen haben bei Gelegenheit der Beschreibung des Vorgangs des Erkennens, welches sich als Systole der Diastole des Vorstellens ergeben wird, als Rücknahme der Projekta in den Nexus der Empfindung. Dort werden wir klarstellen, daß alles Erkennen ein Rückblick ist - Reflexion eine Verinnerlichung des Ver149

äußerten126. Dort [auch] wird sich auch herausstellen, daß alle Folgerichtigkeit - Kategorie von Grund und Folge - in dem Empfindungsnexus gegründet ist, woraus sich die Tragweite dieses Gesetzes ergeben wird, Gesichtspunkte, unter welche Logik und Grammatik, aber auch die Sprachwissenschaft zu stellen sein 86 a werden. Hier ist nur auf das Verhältnis des Wollens und Vorstellens etwas näher einzugehen. Da das Wesen des Vorstellens in der Projektion, in der Entäußerung, besteht, so impliziert es ein Freiwerden von der eigenen Gegebenheit. Daß das Vorstellen zwar keineswegs voraussetzungslos, doch aber als primärer Akt der Lebendigkeit an sich independent ist, haben wir hervorgehoben. Ist doch in gleicher Weise das Empfinden wenn auch exzitiert, doch nicht effektuiert, sondern eine selbständige, dem Reize entsprechende Verhaltung, so daß eben wegen der von dem erkennenden Denken nicht zu beseitigenden strukturellen Differenziertheit eine Herleitung der Empfindung aus dem Reizvorgang unmöglich ist. Reiz ist der Ausdruck für die Willenswiderständlichkeit in Anwendung auf das Empfinden und wegen der dem Denken zu Grunde hegenden Differenz zwischen Wollen und Empfinden nicht in eins zu bringen mit dem Empfinden. Die Unifikation des Materialismus ist eben auch eine Form unkritischer Konstruktionstendenz. Als primärer Akt der Lebendigkeit ist das Vorstellen überhaupt nicht durch Einzelimpulse okkasion[alis]iert, sondern, wenn auch in weitem Umfange, dadurch in seiner Richtung motiviert, doch auch ohne Einzelmotiv rege. Jene Theorie ist Resultat nicht der Selbstbeobachtung, sondern mechanistischer Hypothese, während die Reflexion auf den tatsächlichen Vorgang die Allgemeinheit im 86 b Ansätze jener Verhaltung ergibt. Doch ist hier auf ein anderes Moment die Aufmerksamkeit zu richten, auf das Verhältnis von Vorstellen und Wollen. Beide Funktionen sind wesentlich exzentrisch, über die Empfmdungszuständlichkeit hinausführend. Solange aber das Wollen unter Abstraktion von dem Vorstellen auftritt, ist es empfindlich bestimmt, manifestiert es sich als Trieb. Es ist eine 150

intellektualistische Annahme, welche der Erfahrung Zwang antut, anzunehmen, daß die Triebe zu ihrer Erregung der Vorstellung bedürften, eine Ansicht, die auf dem nicht ausreichenden Fundamente basiert ist, wonach bei Vorhandensein des Trieblebens die Vorstellung reizend wirkt. Denn gerade dieser Umstand setzt den Trieb als solchen voraus, welcher den Umkreis derjenigen Vorstellung bestimmt, deren Inhalt sensuell wirkt126. Die Klarheit des Vorstellens aber steht in u m g e k e h r t e m Verhältnisse zu der Energie des Triebes, ein Erfahrnis, welches die astrale Adoration verständlich macht, wie es erklärt, daß ein rein vorstellungsgemäßes Verhalten Klarheit und Evidenz zum Kriterium der Wahrheit macht. Wie denn an dem rein Sichtbaren, dem astralen Firmamente, das absolute Vorstellen geschichtlich den ersten, weil adäquaten Gegenstand gefunden hat. Dies projektive Verhalten nun, dies tatsächliche Absehen von der eigenen Zuständlichkeit, diese primäre Aktivität der Lebendigkeit, involviert 87 a das Gefühl der Unabhängigkeit, welches primär, theoretisch zwar durch Abstraktion eliminierbar, doch aber, weil diesem Absehen selbst zugrunde liegend, gedanklich unaufhebbar ist a . Nur eine tatsächliche konzentrische Abwendung der Lebendigkeit - ein religiöses Verhalten - vermag das Freiheitsgefühl zu negieren, in der Aufhebung seine Tatsächlichkeit voraussetzend13. Diese projektivistische Funktion setzt die psychophysische Differenziertheit in Aktion. Die Verschiedenheit der Empfindungen würde nicht unterschieden werden ohne das trennende Vermögen, welches den Innenraum des Bewußtseins schafft. Erst damit wird das „Ich empfinde" möglich, wie überhaupt jede Aussage. Wir haben schon erwähnt, daß das strukturelle a

Daher Mechanismus physikalisch als heuristisches Prinzip, nicht aber philosophisch berechtigt. (Anmerkung Yorcks) b Die Inkongruenz des weltlichen und des religiösen Bewußtseins zeigt sich in dem Streite de libero arbitrio, ja in der theologischen Erkenntnis überhaupt, so z.B. in der Lehre von dem Sündenfalle, von der Gnade, in der Wirkung der Sakramente, und auch in der christologischen Psychologie. (Anmerkung Yorcks)

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Verhältnis a , welches eine solche Entäußerung gestattet und welches wir als das einer relativen Independenz der 87 b Funktionen angegeben haben, den unterscheidenden Charakter der menschlichen Natur ausmacht. Es ist die Voraussetzung des Denkens, die Anlage zur Freiheit 127 . Diese wurzelhafte Seite des Vorstellens ist aber als ein von sich Absehen ( - und dieses Abstrahieren ist die Funktion, welche aller Wissenschaft zugrundeliegt, wie es der Prototyp aller wissenschaftlichen Methode ist -) ein Akt der Befreiung, und in diesem Punkte zeigt sich der innere Zusammenhang des zunächst bloß historisch vorfindlichen Zusammenseins von Rationalismus und Moralität 127l) . Indem ich vorstelle, sehe ich ab von aller pathologischen Gebundenheit, wie andererseits die Energie meines Vorstellens gradweise bis zum Fortfall gemindert wird durch Aifektivität, woraus sich die Willensposition der Stoa erklärt, welche die Affekte als natürliche Hindernisse zu beseitigen strebte, um der Energie des Vorstellens Raum zu verschaffen. Das Absehen aber ist an sich Negation und so kann die Funktion des Vorstellens von keinem anderen Gefühle als dem der Ungebundenheit, welches, wie die stoische Schule mit Recht erkannte, seinem Wesen nach negativ ist, begleitet sein. Nicht so, daß die Verhaltung b an sich eine negative wäre, vielmehr enthält die relative Independenz der primären Funktion des Vorstellens als eines Aktes der Lebendigkeit [enthält] das Moment der Spontaneität in sich. Und dieser Charakter der Spontaneität ist in seiner abstrakten 88 a Hervorhebung gerade das historische Merkzeichen der neueren Zeit, ermöglicht durch die Weltfreiheit der christlichen Bewußtseinsstellung. Denn das anschauliche Verhalten des griechischen Denkens enthielt das normierende Datum einer festen objektiven Gegebenheit. Ist doch die stoische Verhaltung, wie sie in äußerer Filiation steht zu Antisthenes, der seinerseits auf den Eleatismus zurückweist, einerseits nichts anderes als die psychologische a

Dieses Lebensverhältnis wurde, von Piaton als Weltgesetz unter dem Begriffe der Schönheit ontologisiert. (Anmerkung Yorcks) b Korrigiert aus: „Vorstellung".

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Explikation der eleatischen Position, andererseits die erkenntnistheoretische Applikation der Lehre Leukipps und Demokrits, welche ihrerseits den Hiatus des Parmenideischen Systems praktisch überbrückte, das Eins behufs Verwendbarkeit in die Mehrzahl versetzte und es handlich machend technisch in Bewegung setzte. Aber wenn auch die moderne Denkweise, den Konstruktionsgedanken zum Produktionsgedanken steigernd, das technisch erforderliche Datum zu einer Hilfsvorstellung, einer Hypothese verflüchtigt, vermag sie damit doch nur Wert und Schwergewicht des unabweislichen materialen Faktors zu modifizieren [modifizierend.], denn die abstrakt isolierte Aktivität (, diese Metamorphose des eleatischen Eins in reine exzentrische Aktivität) bringt es zu keinem Resultate, ist noch inhaltsloser als die Phantasie, welche Fichte und ihm Folgende (in folgerechter, aber einseitiger Betonung des historischen Entwicklungsmoments) als Weltprinzip formulierte», wo denn wie bei Fichte schon in dem zweiten Satze seiner Wissenschaftslehre die Notwendigkeit sogleich eintritt, 88 b einen normierenden Faktor hinzuzutun128. Trotz dieses Unterschieds, der zuletzt in der Lebensempfindung gegründet ist, bleibt die moralische Stellung [ist] in beiden Fällen doch die nämliche. Weil die Verhaltung insofern konform ist, als sie von allem Syndesmos abstrahiert, nur den äußeren Verbindungspunkt des Zwecks anerkennt, welcher an sich keinen moralischen Wert hat, [so] kann die moralische Aufgabe nur in der Abwehr der der Eigenkraft hinderlichen Momente, somit negativ bestimmt werden. Selbsterhaltung des Vorstellens oder bei [wie] einer Philosophie, welche diese Aktion in einzelne hypostasierte Atome aus unkritischem Konstruktionsbedürfnis zersplittert: Selbsterhaltung der Vorstellungen ist der moralische Zweck. Dementsprechend sind die moralischen Vorschriften Verbotsbestimmungen, und das Unternehmen z.B. Kants, der Moralität positiven Inhalt zu geben, muß ein trügliches sein. Behandle jeden Menschen als Selbstzweck, ist nur die verbale Position für die negative Vorschrift: behandle keinen Menschen als Mittel, ein Postulat, welches abgesehen davon, daß das Ge153

fühl der Humanität ein lediglich Hinzugebrachtes ist, nur dann moralisch wertvoll ist, wenn ein eigennütziger Zweck mit dem Mittel in Verbindung gebracht wird. Denn um von Tieferem abzusehen: die sittliche Gemeinschaft des Vaterlandes stellt den Einzelnen als Mittel in ihren Dienst. Die Maxime: handle so, daß die Art deines Handelns als allgemein-gültige 89 a tauglich sei, hat keinerlei sittlichen Wert, denn sie macht den Nutzen zum Kriterium. Wie denn der Stärkste sie ohne Nachteil bei ungeminderter Geltendmachung seines Egoismus akzeptieren könnte. Doch all dies hat schon Schleiermacher siegreich geltend gemacht129. Entscheidend ist, daß jeder Verband ein synthetisches Ergebnis sein soll. Wir berühren damit ein essentiales Merkmal der gesamten geschichtlichen Denkrichtung, welches in seiner ganzen Umfänglichkeit an anderer Stelle zu explizieren sein wird. Es spielt sich tiefer und umfassender ein Konflikt ab, analog demjenigen, den wir in Griechenland allzusehr von der rein intellektuellen Seite und rein literarisch zu betrachten uns gewöhnt haben." Die pythagoreisch-platonische Bewegung gegenüber der eleatisch-atomistischen fand zwar ihren feinsten Ausdruck in der Sphäre der Philosophie, aber wie die Philosophie [war, wie sie sein soll,] nicht eine der Wirklichkeit entfremdete gelehrte Beschäftigung von abstrakter Selbstgenügsamkeit war und sein soll, sondern eine gedankliche Auffassung und Gestaltung der geschichtlichen Lebendigkeit selbst, so erwuchs sie ihrerseits aus der innergeschichtlichen Gesamtlage130. So war es nicht nur wesentlich, daß jene beiden Denkweisen, wenn sie sich ganz aussprachen, zu pädagogisch-politischen Programmen von umfassender praktischer Abzweckung sich gestalteten, 89 b sondern sie gaben damit nur Wort und Rede den die Gesamtheit beherrschenden/von somatischen Bedürfnissen und individuellen Strebungen nur verdeckten historischen Kräften. Ist aller Verband, der logische wie der soziale, ein thetischer oder ein syndesmotischer ? Herrschafts- oder Ordnungsverband ? Nomos oder Logos ? Diese Frage ist immer eine Lebensfrage. Sie scheidet die, historisch gesehen, beiden einzigen 154

großen philosophischen Schulen des Altertums, welche das Aristotelische Kompromiß auf die Dauer, d. h. solange und sobald das Denken ein lebendiges ist, nicht zu einigen vermag. Sie durchklingt das dialektische Pathos des atheniensischen Dramas. Sie bestimmt die soziale Gestaltung und damit das politische Geschick des Hellenentums. Wie nun das eleatische Denken in der Frage nach dem Wissen, welche wie überhaupt so insbesondere für die griechische Veranlagung eine Seinsfrage ist, das Element der Einheitlichkeit als Merkmal aller denklichen Tätigkeit herausgehoben hatte, (- denn Denken ist nichts anderes als die Projektion der eigenen Lebendigkeit, welche den Charakter der Einheitlichkeit der Differenziertheit hat -) wie dieser einzahlige Nominalismus handlich gemacht wurde durch den Atomismus und me er durch den Mechanismus in Bewegung gesetzt wurde, so erhob die neue Zeit die nominalistische Aktivität zum Prinzip131. Die Energie in historischem Bedeutungswandel [Wortwandel], nicht mehr gleichbedeutend mit Entelechie 90 a als fertige, im Grunde vorfindliche Form, sondern als perfekt gewordene Dynamis, wurde von der historischen Lebendigkeit und daher auch von dem Nachdenken isoliert betont. Auch hier war die Philosophie ein Nachdenken. Die Bewußtseinslage ging dem klärenden Gedankenbilde vorher. Geht doch immer Wechsel der Überzeugung, des Glaubens der Wendung des Denkens vorher8. Diese souveräne Aktivität, an sich indifferent und verbandlos, konnte es ebensowenig wie der Eleatismus zu einem gedanklichen Zusammenhange bringen. Seinem Wesen nach praktisch, suchte er nur den Effekt. Abstrakt teleologisch kannte er nur die Zweckverbindung. So wurde die Wissenschaft zum Können, zur Kunst, zur Technik. Wir haben schon früher dies Moment betont. Nach der Brauchbarkeit wurde das Material, welches jedes Können bedarf, bestimmt, also als Atom. Denn Atom ist, der Anschaulichkeit entkleidet, nichts als Konstruktionsfixum, Projektum der Willenswiderständlichkeit, das Postulat unge4

Dieser Satz wurde nachträglich mit spitzer Feder eingeflickt.

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hemmten Konstruktionsverlangens. Der Satz: jedes Konkretum ist ein Kompositum, ist das Programm der modernen Wissenschaft. Als Charakter der allgemeinen Denkrichtung fand diese Anschauungsweise eine universale Applikation. Dieselbe Verhaltung, welche bei den Eleaten zu der Entgegensetzung von dem Eins und dem Mannigfaltigen geführt hatte, bewirkte hier die Trennung und Gegenüberstellung von s e n s a t i o n und reflexion 1 3 2 . Alles jenem Gebiete Zugehörige verfiel dem Atomismus, 90 b der reflexion verblieb nur die Aktion der logischen Synthesis, damit aber ein in sich zwiefaches, nämlich das logische Band, welches als eine leere Form stehen blieb nach der Abstraktion von allem ontischen oder psychischen Grunde, und die vereinheitlichende Aktion. Die Einheitlichkeit des Materials nun stellt die Hypothese Leibnizens her, wonach alle Sensation wesentlich Vorstellung ist, nur dem Grade nach, nach dem Kraftmaße, unterschieden. Damit wurde die reine Rationalität, die reine Rechnungsfähigkeit des Stoffes proklamiert. Die Elemente des Rationalismus, die willentliche Energie oder die reine Projektion, weiter der zusammenfassende Charakter dieser Energie und zuletzt die Norm dieser Aktion: die logische Kategorie zu simplifizieren war die Aufgabe, und die Behandlung, welche sie durch Leibniz erfuhr, macht ihn zu einer zentralen und typischen Erscheinung. Wie schon erwähnt, beseitigt er die Duplizität von Kraft und Stoff, indem er den Stoff als reine Kraft, als Energie faßt, welche Projektionsatom ist, und, weil sie eine solche ist, nicht beeinflußbar sein kann, womit eine Wirkung von Atom zu Atom ausgeschlossen ist. Das Moment der Vereinheitlichung kann daher nur Resultat, nicht wesentlicher Charakter der Projektionsenergie sein. Daher ist aller Verband, selbst die unifikatorische Tendenz, welche den Grundcharakter allen Denkens und Erkeimens ausmacht, weil 91 a [den] sie der Charakter der Lebendigkeit ist, ein Hinzugebrachtes, Äußerliches, prästabilierte Harmonie. Die Kraftatome sind lebendige Zahlen, welche, ohne sich an sich zu ändern, in ihrem Relationswerte voneinander abhängig sind. 156

Aller Syndesmos, welcher der Synthesis erst Verstand gibt, war sonach selbst projiziert als Verstand Gottes. Der Sinn der Welt war Gott, und hiermit ist die systematische Notwendigkeit Gottes bei Leibniz ausgesprochen. Aber Gott war in diesem Denken berechtigt nur als Demiurg, als Mechaniker, und der Inhalt des göttlichen schaffenden Denkens war aus dem System heraus nur die gegenseitige Anpassung der Kraftfixa. Damit war alle Logik im Grunde Theologik, wie von dem substanzialen Standpunkte aus alle Logik ontische Metaphysik gewesen war. Die Logik ihrem Inhalte nach aber war gleichsam auf das kleinste Maß reduziert. Quantität in dem philosophischen Wortverstande war mit aller Raumgestalt zu einem Produkte geworden, Qualität als Modifikation der Essentialität zum Ergebnis der prästabilierten Ordnung gemacht, Relation durch die Identifikation von Kraft und Substanz vereinfacht, die Kategorie der Kausalität aber verdünnt zu der raison suffissante, welche nichts anders als die technische Vorschrift der Anpassung besorgt, so daß Kausalität abstrakte Teleologie ist. Was endlich die Modalität betrifft, so ist die 91 b Möglichkeit in die Transzendenz gerückt, insofern sie ein Anderssein-Können zum Inhalte hat 133 , während die dem Können gleiche Möglichkeit in der vibrierenden Aktualität nur insofern eine Stätte findet, als die Kraft gradweise verschieden ist. Wie denn Leibniz dadurch über Descartes hinausgeht und von Spinoza, ihn übertreffend, sich unterscheidet, daß er alle Okularität aufhebt, die innere Raumgestalt in den Kraftpunkt der Projektion zurücknimmt und demzufolge auch das Wahrheitsmoment der Luzidität durch das der eindeutigen Bestimmtheit, der Deutlichkeit, ersetzt. Bei Spinoza verbleibt es ähnlich wie bei den Eleaten bei einer doppelten Verhaltung: der substanzialen Ruhe der Kontemplation einerseits und der mechanistischen Werktätigkeit andererseits134. Hier 135 ist in schärfster Konsequenz des geschichtlichen Denkens die Ruhe nur eine Modifikation der Bewegung. Der vibrierende Puls der Lebendigkeit ist unter dem Schema des Mechanismus, der seinen Zweck außer sich hat, dessen Logos Nomos ist, gefaßt 136 . Die intimste 157

Verräumlichung und radikalste Veräußerlichung. Im Grunde ist daher alles Zufälligkeit und die Notwendigkeit nur die göttliche Satzung. Denn die Notwendigkeit, welche von dem Empfindungsnexus abstrahiert und ausschließlich von dem Wollen deriviert ist, ist innerlich zufällige Unvermeidlichkeit. Die Frage der Wirklichkeit aber konnte von diesem Standpunkte aus nicht erhoben 92 a werden. Denn die Welt war nicht [so] Vorstellungsobjekt [als] sondern vielmehr die Vorstellungskraft Weltelement selbst. Die Kategorie der Realität ist ein Prädikat der Empfindung und des Wollens. Aktives Wollen ist Wirklichkeit an sich, vielmehr dem wollentlichen Verhalten und der empfundenen Widerständlichkeit ist das Prädikat der Realität selbst entnommen. Wo nun das Vorstellen als reine Projektions kr a f t , also Aktion, gefaßt ist, da besteht an sich Realität. Nur der Kontemplation, als welche von dem Empfinden und Wollen abstrahiert, entsteht die Frage nach der Realität, wie von d a h e r die Phänomenalität und der Illusionismus der indischen Philosophie wie auch der Skepsis kommt [erwächst]. Das Vorstellen als Zuständlichkeit, außer Verbindung gesetzt mit Empfinden und unter Absehen von der Energie des Vorstellens, die επιστήμη, hat, weil sie von der Realität» abstrahiert [hat], diese außer sich und ihr entsteht die Frage nach der Realität der Welt. Wo dagegen wie in der griechischen Denkweise das Moment der Empfindung in der Kontemplation pulsiert, die Anschauung eine in engerem Sinne ästhetische ist, da enthält die Kontemplation das Moment der Realität. Anders, wie gesagt, bei radikaler Abstraktion, bei einer durchgeführten Urteilung der psychischen Funktionen, welche eine andere Gesamthaltung des Bewußtseins, nämlich entweder 92 b eine Negation oder eine Transzendenz der Empfindung voraussetzt. Und dieser Hiatus der Abstraktion, welcher auf der Differenziertheit des Bewußtseins, auf der relativen Selbständigkeit oder der spezifischen Natur der psycho-physischen Funktionen beruht, ist durch keinen Beweis zu überbrücken. a

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Am Rande: „Berkeley".

Von diesem Standpunkte aus ist vielmehr ein Beweisenwollen der Realität der Welt ein unkritisches Unternehmen, welches die auf Analysis fußende kritische Besinnung als ein Unternehmen unifikatorischer Aufhebung fundamentaler Differenziertheit erkennt. Denn der Zwang des Beweises wurzelt in dem a Nexus der Empfindung, wie an anderem Orte aufzuzeigen sein wird137. Hieraus erhellt der Grund der Tragunfähigkeit des dahin abzielenden Beweises, ein Grund, welchen die Kantische Kritik unersichtlich läßt, wie sie denn aus diesem Erkenntnismangel auch die ihr vorliegenden Gottesbeweise einer schiefen Beurteilung unterwirft. Denn mangels historischen Denkens oder, was von anderem Gesichtspunkte aus dasselbe besagt: in Ermangelung psychologischer Analysis wird von dieser rein rationalen und darum äußerlichen Kritik das Schwergewicht jener Beweise, das schließende Moment in denselben verkannt, welches in der Seinsempfindung und bezüglich der modernen Philosophie in dem Willensmomente begründet 93 a war, wie denn die von Kant geübte Kritik schon nach Ausweis seines Briefwechsels Descartes bekannt war, ja von Thomas von Aquin berücksichtigt worden ist138. Das okulare Trennstück der formalen Logik steht an sich selbst, durch den Vorgang seiner Erwerbung, außer sinnvollem Zusammenhang mit den Daten des Empfindens und Wollens, mit dem daher entstammenden Prädikate der Wirklichkeit und kann nur durch Hinzutat mit den anderen gleichfalls isolierten Elementen des Denkvorgangs zwecks Herstellung eines Erkenntnisses in Verbindung gesetzt werden. Wie denn die Momente der Synthesis, der logischen Form, des Anschauungsbildes und endlich der Materie bei Kant nur durch den Gebrauch utilitarisch verbunden sind. Im Grunde nichts als eine Explikation der beiden Momente der reflexion und sensation, welche erkenntniswidrige Dichotomie Leibniz zu einem Gradunterschied behufs Erkennens, und zwar mathematisch gearteter Erkenntnis, zu nivellieren unternommen hatte. Und a

Am Rande: „Beweis unmöglich, wohl aber Erweis durch Analysis."

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zwar seitens Kant ohne nähere Behandlung des Momentes der reflexion, welches okular reflektiert oder scholastisch angesehen als Form bestimmt wird, nur daß die Kategorie der Form in das Gebiet der Sinnlichkeit hineingetragen ist, insofern die Anschauung formal gefaßt wird. Damit ist nicht nur, wie Kant intentionierte, die Erkenntnis vor 93b Kompetenzüberschreitung gesichert, sondern alle Erkenntnis überhaupt, welche ihrem Wesen nach die Einsicht in die Einheit notwendigen Zusammenhanges ist, beseitigt, und an ihre Stelle die Unvermeidlichkeit der Applikation, welche der einzelne Fall verifiziert, gesetzt. Das Einzelerfahrnis ist sonach der Garant der Applikabilität und damit wird das Schwergewicht der Lebendigkeit in die Einzelheit verlegt. Näherer Nachweis muß vorbehalten bleiben. Hier kommt es darauf an, die retardierende Differenz Kants von Leibniz zu betonen. Zwar ein unterscheidendes Moment erscheint dem theologisch interessierten Deutschen als ein wesentlicher Fortschritt Kants. Kant löst die Erkenntnisaufgabe von aller Theologie und von aller Ethik los. Wir haben gesehen, daß und weshalb Leibniz Gott nötig hat, nämlich um die radikale Konstruktionsfreiheit innerhalb der Welt zu gewinnen und doch Sinn und Verstand des konstruktiven Zusammenhangs, wenn auch als transzendent, zu konservieren. Jeder der Konstruktion vorausliegende Syndesmos ist damit beseitigt, das undurchsichtige, weil dem Vorstellen nicht zugehörige Verhältnis der Kausalität aufgehoben, in eine transzendente Vorbestimmtheit veräußerlicht, alle Data sind arithmetisiert. Syndesmos als Erkenntnisaufgabe ist zur Synthesis gemacht. Was aber das Verhältnis des Wissens zur Sittlichkeit betrifft, 94a so haben wir das allgemeine dieses Verhältnisses schon bezeichnet. Das von sich Absehen, welches Vorstellen ist, involviert ein Freiwerden von aller pathologischen Bestimmtheit und das konträre, Verhältnis, in welchem Vorstellungsenergie und Macht der sinnlichen Regungen stehen, konstituiert das Wesen des Sittlichen oder Moralischen, welches hiernach seinem Wesen nach negativ ist. Projektion ist be160

freiend und Freiheit oder richtiger Unabhängigkeit, Independenz ist die sittliche Aufgabe. Wir weisen daraufhin, wie dieser psychische Zusammenhang sich historisch manifestiert hat. Und zwar erklärt sich daraus, daß das höchste Anschauungsresultat bei den Eleaten wie bei Piaton als erstes und fürnehmstes das Prädikat des Guten [als erstes und fürnehmstes] erhielt, wie andererseits, daß allen griechischen Denkern die sittliche Tüchtigkeit, die Tugend, lehrbar war. Eine andere Wendung erhielt jenes prinzipielle Verhältnis im modernen Denken, als dessen Repräsentanten wir wiederum Leibniz wählen dürfen. Hier, wo die Projektionskraft als solche zum Prinzip erhoben war, konnte das Moralische nur in der Graderhöhung der Vorstellungsenergie gefunden werden: daß alle Latenz Valenz werde, war demnach Inhalt des moralischen Gebots, die Moral mithin eine rein nominalistische. Und wenn wir Moral und Sittlichkeit dahin unterscheiden, daß diese eine moralische Gemeinschaft bezeichnet, so fand eine solche 94 b keine immanente Stätte, sondern war im innersten Wesen veräußerlicht, als projiziert in die Transzendenz des göttlichen Willens. Sie deckte sich mit dem Gedanken des göttlichen Reichs, welches ein gewollter, ein thetischer Verband ist. Auch hier wird wiederum der sittliche Logos als Nomos, als Satzung, gefaßt. Kant löst das Erkennen vom Wollen und damit wie von der Wirklichkeit so von jeder Willensbestimmtheit, also auch von der Moral. Es liegt diesem Schritte ein Motiv zugrunde, welches den Menschen Kant stark beeinflussend doch in seinem System nicht genügenden gedanklichen Ausdruck gefunden hat. Wir berühren hier den Einfluß Rousseaus 139 . Descartes hatte die Betätigung der Projektionskraft als eine aller Skepsis entrückte Wirklichkeitsgarantie gefunden. Man kann sagen, daß die Analysis des Inhalts dieser Formel und die allseitige Applikation dieses Inhalts den Gang der philosophischen Denkarbeit der modernen Zeit ausmacht, welche durch jene Formel gleichsam programmatisch bestimmt ist. Denn die handwerkliche Verhaltung bestimmte das Material als ein atomistisches, formulierte die Aufgabe als Synthesis, das zu 11

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Vereinende als unbestimmte Mannigfaltigkeit. Daß diese Denkrichtung eine allgemeine wurde, ist schon angedeutet worden, wie sie die einzelnen Disziplinen bestimmte, so z.B. das Ziel der Logik veränderte, (indem die Frage nach der Gewißheit 95 a die logische Frage, Wahrheit als Wirklichkeit im eigentlichen Wortverstande gefaßt wurde,) muß späterer Darstellung vorbehalten bleiben. Das dem Gefühle Exzentrische dieses projektivistischen Standpunkts (, der alles, also auch das Gefühl machen wollte, wo er sich praktisch betätigte, theoretisch aber in dem von Leibniz gegebenen schärfsten Ausdrucke die essentiale Unterschiedlichkeit von Fühlen und Vorstellen dahin aufhob, daß jenes ein unvollkommener Grad des letzteren sei,) rief die Reaktion eigenlebiger Empfindung hervor. Im Gegensatze zu Descartes ist die Eigenempfindung das primäre und gewisse Datum Rousaeaus140. In ausgesprochenem Gegensatze zu der ihrem Wesen nach regimentalen Konstruktionstendenz verblieb die Funktion des isolierten Empfindens in dem pathologischen Gebiete dem historischen gegenüber elementar a . Dies Rousseausche Selbstgefühl nun bestimmte auch die ethische Stimmung Kants, ohne doch die wissenschaftliche Gestaltung zu beeinflussen. Vielmehr bleibt die sittliche Empfindung neben der formalen Rationalität als eine Zutat stehen. Erst die ästhetische Richtung mit ihrer Raumund Gestaltsempfindung vereinigt dies Nebeneinander, ohne ein anderes Band als das ästhetischer Empfindimg herstellen 95b zu können. Wir haben gesehen, daß die Phänomenalität des Erkennens mit der abstrakten Okularität des Verhaltens gegeben war. Die von dem mechanistischen Wirklichkeitsmomente absehende Betrachtung bezeichnete sich selbst in ihrem Resultate, wenn sie das Objekt mit Ausnahme des Restes der Unwillkürlichkeit als Erscheinung bestimmte. Insofern aber jene Kategorie eine Wertsbestimmung involvierte, griff das, was * Diese Richtung stellte das Postulat der Gleichheit auf, zu diesem [die] früheren Postulat tritt das der Freiheit hinzu und das revolutionäre Programm fugt diese unvereinbaren Abstraktionen als Zusammengehörigkeiten aneinander. (Yorck)

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wir das Rousseausche Element nennen können, ein, indem der dort geminderte Wert dem moralischen Faktor zuwuchs und eine moralische Stimmung,ein Gefühlston für sittliche Verhaftung erweckt wurde, man kann sagen eine Religiosität der Moral, welcher gegenseitlich eine Alteration der Religion zur Moralität entsprach. Aber die wissenschaftliche Formulierung dieses moralischen Empfindungsfaktors war ohne Rücksicht auf ihn gegeben, und so stellte sich der okularen Analysis des Selbstbefundes die moralische Gesinnung unter der Form des Gesetzes (Nomos) a dar. Wie aus der logischen Verhaltung als unveränderlicher Faktor die logische Form herausgehoben war, ein caput mortuum eines Vorgangs, von welchem nichts übriggebheben war als die Applikation dieser Form auf einen ihr äußerlichen Inhalt, (eine Anschauung, welche den Utilitarismus zur Grenze der Erkenntnis wie zum Wesen des Erkenntnisvorgangs machte und zur 96 a äußersten Leblosigkeit und Veräußerlichung der Logik, zu der s.g. formalen Logik, welche danach nichts als ein dem Verständnis unzugänglicher Nomos ist, geführt hat,) so ergab sich als unaufhebbares moralisches Wissenselement das moralische G e s e t z , welches seinen eigenen Wert hiermit außer sich ließ, von ihm aber, von der moralischen Gesinnung, doch seine Würde empfangend. Nicht aber von ihr seine Provenienz, welche ebenso wie die des logischen Gesetzes negiert wird, oder außer Betracht bleibt [ist]. Die unbedingte Gültigkeit wird sübstanzialisiert als Voraussetzungslosigkeit, während es doch an sich nicht das nämliche ist, daß Gültigkeit und daß Gegebenheit unbedingt sei, nicht notwendig, daß nur das Voraussetzungslose das Unbedingte sei. Vielmehr ist diese Gleichsetzung das Resultat eines metaphysischen Denkens. Der Prozeß der Gewinnung ist kein anderer als der, welcher zur Position des eleatischen Eins führte. Ein nicht mehr aufhebbarer Bestandteil des Wissens wird durch fortgesetzte Abstraktion als Grenze dieses Verfahrens gefunden und dieser Bestandteil der Lebendigkeit metaphysisch projiziert. So ergibt sich einem von seinem lebena

XI·

Klammer bei Yorek.

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digen Konnexe entfremdeten Denken, einem Denken, welches seine eigene Verhaltung nicht ins Auge gefaßt hat, einem von sich absehenden Denken, das Resultat als ein Selbständiges, Metaphysisches. 96 b Das kann als das Charakteristiken des metaphysischen Denkens ausgesprochen werden, daß es den Umkreis der Lebendigkeit zu überschreiten versucht. Der reinen Betrachtung aber, welche an sich phänomenal sein mußte, ergab sich das Resultat als reine Form und, insofern diese ein Postulat enthalten sollte, als formales Gesetz. Als isolierter Befund war jede Beziehung und somit auch die auf einen Gesetzgeber ausgeschlossen. Wir sehen, daß mit dem Verlassen des mechanischen Gesichtspunktes, mit der differenten Verhaltung, welche nicht mehr kausal, sondern rein ästhetisch im weiteren Wortverstande war, an die Stelle des Demiurgen, des Nomotheten, der selbständige Nomos getreten war, der Autonomos. Damit allerdings ein in sich haltloser Begriff. Denn ein Gesetz, eine Norm, ist als solche heteronoma, sei es daß Gott oder daß Natur das Gesetz gegeben habe. Zwar sagt man, daß der Mensch sich selbst ein Gesetz gebe, wie man denn auch von einem Vernunftgesetz gegenüber dem Naturgesetze spricht. Aber das Zwingende der Form entspricht nie dem abstrakten Wollen, sondern einer Gegebenheit. Es ist eben von dem abstrakten Wollen aus zu keinem Bande zu gelangen. Auch sind Ausdrücke wie Vernunftgesetz und Naturgesetz nicht kritisch bereinigt. Naturgesetz ist nichts anderes als eine natürliche Regelmäßigkeit der Abfolge, 97 a welche als zwingend erfahren [wird,] und, dem Willen gegenüber heteronom, übertragenermaßen als Gesetz bezeichnet wird. Vernunftgesetz aber ist in noch höherem Maße ein widerspruchsvoller Begriff. Unter Vernunft ist zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes verstanden worden, wie denn in dem Wechsel der terminologischen Bedeutung sich die Wandlung des Bewußtseins ausdrückt. Fassen wir den griechischen νοΰς ins Auge, welcher dem, was sprachlich Vernunft heißt, im allgemeinen entspricht, a

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cf. Paulus141. (Anmerkung Yorcks)

so stellt er sich dar als das Vermögen oder richtiger die Eigenschaft, das Unvergängliche aufzunehmen. Der Provenienz nach, wie oben auseinandergesetzt ist, war diese Eigenschaft (, welche, anschaulicher Natur, das Objekt selbst bestimmte, so daß die αρχή, das εν noetisch, als νους bestimmt wurde,) durch einen ethisch gerichteten intellektuellen Prozeß gewonnen. Das Prinzip ist nicht eindeutig, weil es der Gewinn einer vollen, arbeitenden Lebendigkeit ist, anders ausgedrückt, weil bei dem Denkakte die gesamte psychische Funktionalität, wenn auch verschiedentlich, kooperiert. Wir sagen verschiedentlich. Denn anders ist das Verhältnis des Wollens und Vorstellens, anders das des Vorstellens und des Empfindens, welche letztere beiden an sich erfahrungsgemäß in einem gegensätzlichen Verhältnis stehen. Ist doch das Vorstellen eine reale Abstraktion von dem Empfinden, welches als pathologischer Zustand zurückbleibt. Dieses Abstrahieren aber 97 b ist ein primärer Akt der Lebendigkeit selbst, Lebensenergie. Nichtsdestoweniger ist das BedingungsVerhältnis zwischen Vorstellen und Empfinden unlösbar, und hierauf beruht die Möglichkeit des Erweises - nicht des Beweises - der Realität der Welt, seine nähere Bestimmung aber ist nicht Sache der Philosophie, sondern der Physiologie. Wo nun jene Abstraktion eine gewollte ist, insbesondere in Zurückweisung der erregten Empfindung, da ist der Vollzug der Projektion ein sittlicher Akt, woraus zugleich der negative Charakter aller Moralität klar wird. Und so ergibt sich die Bestimmung des Prinzips aus der konkreten Natur der Verhaltung als einer sittlichen Größe, eines sittlichen Wertes. Aus diesem angedeuteten Verhältnisse von Vorstellen und Empfinden resultiert aber auch die negative Zeitbestimmung des Prinzips, der Charakter des Archaischen, Aeternen, Unwandelbaren. Denn die Zeit originiert in der Empfindung 142 . Doch kann an diesem Orte hierauf nicht weiter eingegangen werden. So entwachsen die dem Prinzip zustehenden Prädikate den verschiedenen, bei der Verhaltung kooperierenden Funktionen. Eins der Prädikate ist die Bestimmung, welche der Analysis des Erkenntnis Vorgangs entstammt, der 165

Charakter der Unwandelbarkeit oder Zeitlosigkeit ergibt sich aus dem Verhältnis des Vorstellens zum Empfinden, der ethische Wert als das höchste Gut erwächst ihm aus dem Lebensgefühle der Verhaltung, 98 a die noetische Natur aus dem Erklärungsbedürfnis der mannigfachen Gregebenheit. Denn auch in der Abstraktion ist der ganze Mensch rege. Wo nun wie in dem klassischen Griechentum wie alle jene Prädikaturen so auch die noetische Bestimmung gleichsam unter dem Vorzeichen der Anschauung steht, ist der noetische Zusammenhang ein ontischer, einerlei ob der νοϋς, wie in Fortbildung des Eleatismus seitens der Stoa geschehen, als konstruktives Vermögen, oder ob er als sinnvoller Zusammenhang, gleichsam als Nervengeflecht einer organischen Totalität gefaßt wird143. Die mit dem veränderten Weltgefühle gegebene Substitution des Demiurgs wie des Kosmos durch den schaffenden und von der Welt befreienden Gott, diese Umkehrung des Bewußtseins, gab dem νους, der Vernunft, eine andere Inhaltlichkeit. Und in der Abfolge dieses Standpunktes lag es, die Bedeutung des νοϋς (, welcher von dem Träger der ewigen Wesenheiten zu dem Begriff der ewigen Wahrheiten und als solcher in einer wenn auch niedrigeren, so doch relativ selbständigen Stellung neben der Offenbarung festgehalten wurde a ,) fortschreitend zu mindern und zu verdünnen. Diesen Prozeß repräsentierte 98 b der Kampf des Nominalismus gegen den Realismus, welch letzterer aus jenem Grunde immer mehr zum Formalismus entwirklicht wurde. Und so kann man sagen, daß die ikonoklastische Tendenz des modernen Denkens, die Tendenz der absoluten Konstruktion, welche alle Nativität zum Effekte macht, das Ruhende als Bewegungsresultat ansieht, die dem Offenbarungsgedanken entsprechende Weltlichkeit des

a

Diese Konservierung der Vernunft als Wahrheitsgestalt neben der Offenbarung charakterisiert den Katholizismus, dem Offenbarung Komplement, nicht Neukreation ist 144 . Und an dieser Katholizität hat der Jesuitismus nichts geändert, der überhaupt keine Dogmatik, sondern nur eine Ethik und Politik produziert hat.

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Bewußtseins, die Kehrseite des religiösen Kreationismus a ist. Wir haben schon betont, wie das Moment der Kraft auf allen Gebieten der historischen Betätigung zum Prinzip erhoben wird. Produktion aller Gestaltlichkeit manifestiert sich auf mathematischem, auf physischem, auf logischem und auf sozialem Gebiete. Vernunft - νους - konnte hiernach nicht mehr in einem Sein, sondern mußte in einem Sollen gefunden werden, 99 a mußte teleologisch sein. Der immanente Kausalzusammenhang ist projiziert, veräußerlicht als Zweckgedanke, der seinerseits (, sobald in fortschreitender Abstraktion die bei der lebendigen Verhaltung direkt kooperierenden Faktoren getrennt werden, insbesondere sobald das moralische Element von dem pro jektivistischen in Abzug gebracht wird,)b zu seinem Inhalte die Nützlichkeit erhält c . Die natürliche Dichotomie von Leib und Seele, welche das Resultat primärer Selbstbesinnung und das Anerkenntnis gegebener fundamentaler Differenziertheit ist, wurde VO?L einer independenten Willensstellung aus alteriert, womit das geschichtliche Bewußtsein von dem natürlichen abwich, eine Vergewaltigung der Natur. Das Ich, welches der erfahrene Konstruktionspunkt und Konstruktionsfaktor war, stellte alle weitere Gegebenheit, auch die eigene, auf die Seite des Materials. Wir sehen, wie Hobbes und ihm folgend Locke als universale Zweiteilung vom konstruktiven Gesichtspunkte aus die von Kraft und Material hinstellen, auch den Inhalt der Psyche materialisierend. Jener verfuhr dabei radikaler als dieser. Denn a

Die Reformierten lehren den Kreationismus, die Lutheraner im Interesse der Erbsünde einen modifizierten Traduzianismus, nicht ex traduce, sondern per traducem. Auch hier eine Diagonale zwischen Abhängigkeitsgefühl und Verantwortlichkeitsbewußtsein. (Anmerkungen Yorcks) b Für Recht und Staatswiesenschaft tat dies ausgesprochenermaßen Christian Thomasius. (Anmerkung Yorcks) 0 Aus demselben Grunde, aus der nämlichen Verhaltung tritt auf intellektuellem Gebiete die Wahrscheinlichkeit an die Stelle der Gewißheit, wie dort das Nützliche an die Stelle des Guten. (Anmerkung Yorcks)

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das moralische Element 99 b der diese Absicht tragenden Vorhaltungen war von Hobbes gänzlich in die Kraft der konstruktiven Aktion veräußerlicht, während bei Locke die moralische Stimmung als Selbständigkeit festgehalten wird. Wir sagen als Stimmung, als Gefühl der Selbständigkeit. Denn in einen aitiologischen Zusammenhang tritt das Moment der Empfindung nicht, woraus sich die kalte Klarheit dieses gesamten Denkens erklärt. [Vielmehr] Die dialektische, willentlich bestimmte, Art dieses Denkens hat vielmehr als Elemente, Faktoren des Erkenntnisvorgangs die Momente der sensation und reflexion heraus - und gegeneinander gestellt, deren Zusammentreffen, deren Synthesis, alles Wissen und Erkennen ergibt. Und die Untersuchung beschränkt sich darauf, die komplementäre Natur jener beiden Momente zu betonen, welche als autonome Entitäten angesehen werden. So, daß aller Wissensinhalt als Resultat beider Faktoren bestimmt ist, so, daß nichts im Intellekt vorhanden ist, was nicht sinnlich vermittelt wäre. Aber cfer Sinn des Verhältnisses bleibt unbeachtet, nur der Effekt ist ins Auge gefaßt und nur dieser wird in seine Faktoren zerlegt. Das Wissen wird vom Willen aus als Objekt und zwar als Einzelobjekt, als eine Summe von Gewußtheiten bestimmt. [Gemeinsam] Diesen Trennstücken, deren bindender Rechtsgrund ausschließlich [der] im Effekt liegt [ist], ist aus dem Motive der Konstruktionstauglichkeit heraus ihre atomistische Bestimmung gemeinsam; die sensation 100a ist eine generelle Bezeichnung für die allein existenten Einzelsensationen, reflexion (, welche Locke internal sense nennt, woher Kant seinen „inneren Sinn" entnommen haben dürfte,) ist der Begriff der Einzelakte, welche unter Mitwirkung der Sensationen die Vorstellungen (ideas) ergeben. Diese sind das Material aller Erkenntnis a, und Wahrnehmung ist gar nichts anderes a

„simple ideas either of sensation or reflexion — the whole materials of all our knowledge" (book II c X X V g (oder 9) „simple ideas the materials of all our knowledge" (p. 239 des Essay Concerning Human Understanding). (Anmerkung Yorcks)

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als das H a b e n von Vorstellungena. Klar und distinkt sind diese Materialien, wenn sie Kompositionselemente sind im Gegensatze zu den konfusen Vorstellungen, deren Ganzes ein Bild ist. Dieser psychische Atomismus formierte oder deformierte auch die Logik. Da diesem Standpunkt knowing dasselbe wie seeing1» ist, so wurden die als Einzelvorstellungen nicht vorfindlichen Gedanken der Substanz, der Kausalität, überhaupt der Relation, welche 100b andererseits doch Inventarstücke des Denkens bilden, als zusammengesetzte oder abgeleitete Vorstellungen