Die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter unter besonderer Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin: Eine verfassungs- und sozialrechtliche Untersuchung [1 ed.] 9783428542741, 9783428142743

Was heißt Verantwortung? Was bedeutet »Eigen«-Verantwortung innerhalb unserer Rechtsordnung? Welchen Einfluss hat insofe

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Die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter unter besonderer Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin: Eine verfassungs- und sozialrechtliche Untersuchung [1 ed.]
 9783428542741, 9783428142743

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 31

Die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter unter besonderer Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin Eine verfassungs- und sozialrechtliche Untersuchung

Von

Alice Süß

Duncker & Humblot · Berlin

Alice Süß

Die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter unter besonderer Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 31 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.

Die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter unter besonderer Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin Eine verfassungs- und sozialrechtliche Untersuchung

Von

Alice Süß

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-14274-3 (Print) ISBN 978-3-428-54274-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84274-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Mit dieser Arbeit lege ich ein rechtswissenschaftlich fundiertes Verständnis der Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter sowie einen Gesetzgebungsvorschlag zur Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin in der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Die Arbeit wurde im Sommer 2013 von der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und befindet sich auf dem Stand ihrer Fertigstellung zu Beginn des Jahres 2012. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Sodan für die freundliche Aufnahme als Doktorandin und umgehende Bereitschaft zur Betreuung meiner Arbeit, die Erstellung des Erstgutachtens und Unterstützung bei der Veröffentlichung. Danken möchte ich auch Frau Prof. Dr. Krieger für die Erstellung des Zweitgutachtens. Für unzählige Ermutigungen danke ich meiner Familie und den lieben Menschen in meinem privaten und beruflichen Umfeld. Besonders hervorheben möchte ich meinen Mann, Stephan Süß, der dieses Projekt immer als eine gemeinsame Herausforderung angesehen und mitgetragen hat. Fest steht schließlich: Ohne Gottes Anstoß und seine treue Hilfe wäre diese Arbeit nicht entstanden. In Christus Jesus. Ihm zur Ehre. Berlin, im Dezember 2013

Alice Süß

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Erster Teil Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

19

Kapitel 1 Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung mit Blick auf die Eigenverantwortung der Versicherten

19

Kapitel 2 Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

28

A. Methodologische Einordnung des Sozialversicherungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B. Wesensbestimmende Merkmale der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I. Versicherungscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Solidarprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 III. Organisation durch selbstständige Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 V. Indizien: Arbeitnehmerversicherung für Notlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 VI. Indiz: Zwangsversicherungscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 VII. Indizien: Bundeszuschüsse, Arbeitgeberbeteiligung, Leistungsspektrum . . . . . 41 C. Systematische Auslegung der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Kapitel 3 Versicherungsprinzip

44

A. Begriff und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 I. Versicherungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

8

Inhaltsverzeichnis II. Funktion von Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 B. Versicherungsqualität der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 I. Historische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Privatversicherung . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Risikogerechte Prämie versus einkommensabhängiger Beitrag . . . . . . . . . . 57 2. Entsprechungsverhältnisse im Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Mischverhältnis von Versicherungskomponente und Solidarprinzip . . . . . . . . . 62 C. Vorgaben des Versicherungsprinzips im Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 64 I. Prinzipien und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II. Einordnung des Versicherungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 III. Versicherungsprinzip als Leitlinie des Sozialversicherungsrechts . . . . . . . . . . 68 IV. Verfassungsrechtliche Bindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Kapitel 4 Solidarprinzip

75

A. Begriff und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Solidarität als gesellschaftliches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Solidarität und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Zwangssolidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Solidarität und Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Solidarprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Reziprozität des Solidarprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 C. Vorgaben des Solidarprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 D. Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Inhaltsverzeichnis

9

Zweiter Teil Eigenverantwortung

100

Kapitel 1 Grundsatz der Eigenverantwortung

100

A. Begriff der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 B. Verantwortung innerhalb der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Rechtliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 C. Verantwortung innerhalb einer Solidargemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Private Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 II. Sozialversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Rückschlüsse aus den Vorschriften des Sozialversicherungsrechts . . . . . . . . 123 2. Rückschlüsse aus dem Versicherungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Rückschlüsse aus dem Solidarprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4. Rückschlüsse aus dem Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5. Rückschlüsse aus der Beitragslast der Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Kapitel 2 Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

144

A. Eigenverantwortung im Sinne des § 1 Satz 2 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 B. Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 C. Versicherungsschutz nach dem SGB V versus Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . 154 I. Versicherungsfall der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 II. Leistungen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 III. Naturalleistungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV. Kostenbeteiligung des Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Ausgestaltung im SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Pro und contra einer Ausweitung der eigenverantwortlich zu tragenden Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

10

Inhaltsverzeichnis 3. Verfassungsrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 V. Berücksichtigung der individuellen Lebensführung des Versicherten . . . . . . . 173 1. Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 1 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Reformdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Abgrenzung der Risiken im Sinne eines normativen Standards der Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Krankheiten und ihre Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Entscheidungsautonomie und Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Kausalzusammenhang zwischen Lebensführung und Erkrankung . . . . . . 186 e) Nachweis der gesundheitsschädlichen Lebensführung, des Verschuldens und des Kausalzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 f) Finalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 g) Verfassungsrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 h) Völkerrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 i) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Dritter Teil Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

200

Kapitel 1 Wunscherfüllende Medizin

200

A. Optionen, Risiken, Verbreitung wunscherfüllender Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Schönheitsoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Begriffsverständnis und -inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Gesundheitliche Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 II. Weitere Körpermodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 III. Neuro-Enhancement und Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 B. Abgrenzung zwischen wunscherfüllender und heilender Medizin . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Operationsmethode und -technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Medizinische Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 IV. Zielrichtung der Maßnahme aus ärztlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Inhaltsverzeichnis

11

C. Grenzen wunscherfüllender Medizin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 D. Rechtliche Dimensionen wunscherfüllender Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Kapitel 2 Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

247

A. Regelungsinhalt des § 52 Abs. 2 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 I. Versicherte, die sich eine Krankheit zugezogen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. Eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III. Ursächlicher Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 IV. Entscheidung der Krankenkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 B. Eigenverantwortung als Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Verstoß gegen das Solidarprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Eigenverantwortung im Sinne des § 1 Satz 2 SGB V ? . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3. Systemfremde Gesundheitsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 C. Umsetzung des § 52 Abs. 2 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 I. Anwendung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Ärztliche Mitteilungspflicht gemäß § 294a Abs. 2 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . 271 D. Verfassungsmäßigkeit des § 52 Abs. 2 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 I. Verstoß gegen Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 1. Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 2. Eigentumsschutz gemäß Art. 14 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Krankenversicherungsansprüche als dem Versicherten privatnützig zugeordnete Rechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Nicht unerhebliche Eigenleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 c) Existenzsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

12

Inhaltsverzeichnis 3. Allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 a) Wahrung des Sozialstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Wahrung des Vertrauensschutzprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 c) Verhältnismäßigkeit des § 52 Abs. 2 SGB V ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 d) Wahrung des Gebotes der Normenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 II. Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 1. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Vergleich zu nicht erkrankten Versicherten, die dasselbe Gesundheitsrisiko eingegangen sind . . . . . . . . . . 312 2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen verhaltensbedingt erkrankten Versicherten, deren krankenversicherungsrechtliche Leistungen nicht beschränkt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 3. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen verhaltensbedingt erkrankten Versicherten, deren krankenversicherungsrechtliche Leistungen gemäß § 52 Abs. 1 SGB V beschränkt werden . . . . . . . . . . . . . . 318 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Kapitel 3 Gesetzgebungsvorschlag zur Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin in der gesetzlichen Krankenversicherung 320 Vierter Teil Zusammenfassende Thesen

326

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. a. F. AktG Alt. Anm. Art. AöR Az. BB Bd. BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BKK BRD BR-Drs. BSG BSGE bspw. BT BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE bzgl. bzw. ca. CDU CSU DDR ders. DGMR d. h. dies. diesbzgl. DMW DÖV

andere Ansicht Absatz alte Fassung Aktiengesetz Alternative Anmerkung Artikel Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Aktenzeichen Betriebs-Berater (Zeitschrift) Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Die Betriebskrankenkasse (Zeitschrift) Bundesrepublik Deutschland Bundesratsdrucksache Bundessozialgericht Entscheidung des Bundessozialgerichts beispielsweise Bundestag Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union Deutsche Demokratische Republik derselbe Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht e. V. das heißt dieselbe diesbezüglich Deutsche Medizinische Wochenschrift Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)

14 DOK DRV DVBl. Einl. etc. EuGH e. V. evtl. f./ff. FDP Fn. FS gem. GesR GG ggf. GKV GKV-SolG GKV-WSG GMG GOÄ GRG GSG HGB h. M. Hrsg. IGeL insb. i. V. m. JA JöR Jura JuS JZ Kk KV/ KrV KVG MBO MedR Mio. m. w. N. NJOZ NJW Nr. NVwZ-RR NZA

Abkürzungsverzeichnis Die Ortskrankenkasse (Zeitschrift) Deutsche Rentenversicherung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Einleitung et cetera Europäischer Gerichtshof eingetragener Verein eventuell folgende/fortfolgende Freie Demokratische Partei Fußnote Festschrift gemäß Gesundheitsrecht (Zeitschrift für Arztrecht, Krankenhausrecht, Apothekenund Arzneimittelrecht) Grundgesetz gegebenenfalls Gesetzliche Krankenversicherung Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung Gebührenordnung für Ärzte Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheitsreformgesetz) Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) Handelsgesetzbuch herrschende Meinung Herausgeber individuelle Gesundheitsleistungen insbesondere in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jura – Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung Krankenkasse (im Rahmen von Zitaten verwandt) Krankenversicherung (im Rahmen von Zitaten der Rechtsprechung verwandt) Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte Medizinrecht (Zeitschrift) Million mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

Abkürzungsverzeichnis NZS OLG PflegeVG PflVG PKV RGBl. RGSt Rn. RsdE RVO S. SDSRV SGb SGB Slg. sog. SozR SozSich Soz.Vers. SPD SpuRt StGB StVG u. a. usw. u. v. a. v. VAG VersR VersTr vgl. Vorb. VSSR VVDStRL VVG VW WHO WiDi ZaeFQ/ZEFQ z. B. ZfmE ZfS ZFSH/SGB ZHR zit. ZRP

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Neue Zeitschrift für Sozialrecht Oberlandesgericht Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit Gesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeugführer Private Krankenversicherung Reichsgesetzblatt Entscheidung des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen (Zeitschrift) Reichsversicherungsordnung Seite/Satz Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes e. V. Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Sammlung von Entscheidungen sogenannte (im Rahmen von Zitaten verwandt) Sozialrecht Soziale Sicherheit (Zeitschrift) Sozialversicherung (im Rahmen von Zitaten verwandt) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sport und Recht (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Straßenverkehrsgesetz und ander unter anderem und so weiter und viele andere von Versicherungsaufsichtsgesetz Versicherungsrecht (Zeitschrift) Versicherungsträger (im Rahmen von Zitaten verwandt) vergleiche Vorbemerkung Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Versicherungsvertragsgesetz Versicherungswirtschaft (Zeitschrift) World Health Organization/Weltgesundheitsorganisation Wirtschaftsdienst (Zeitschrift) Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen/Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (Titel seit 2008) zum Beispiel Zeitschrift für medizinische Ethik Zeitschrift für Schadensrecht Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für Rechtspolitik

16 ZSR z. T. ZVersWiss

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Sozialreform zum Teil Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft

Einleitung In der gesundheitspolitischen Debatte werden mit dem Hinweis auf die Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter die unterschiedlichsten Assoziationen geweckt. Während einige die finanzielle Eigenleistung des Versicherten1 ansprechen, diskutieren andere, wie das gesundheitsrelevante Verhalten des Einzelnen aussehen sollte. Wird eine stärkere Eigenverantwortung gesetzlich Krankenversicherter gefordert, ergibt sich erst aus dem Kontext, ob damit Leistungsausschlüsse bei gesundheitsgefährdendem Verhalten, eine Stärkung der Prävention, Förderung der Patientenkompetenz, Ausweitung von Wahl- und Beteiligungsmöglichkeiten des Versicherten oder schlicht die Rücknahme des Leistungsumfangs durch beispielsweise höhere Zuzahlungen gemeint sind. Dieser weitgehend ungeklärte Bedeutungsgehalt des Phänomens der Eigenverantwortung ist wesentlicher Untersuchungsschwerpunkt dieser Arbeit. Was heißt Verantwortung? Was bedeutet Verantwortung innerhalb unserer Rechtsordnung? Was meint Eigen-Verantwortung? Welchen Einfluss hat insofern die Zugehörigkeit zu einer Solidargemeinschaft und konkreter: zu einer Sozialversicherung? Diese Fragen werden im zweiten Teil der Arbeit ausführlich untersucht. Fundierte Antworten können insoweit nur unter Zugrundelegung der wesentlichen sozialversicherungsrechtlichen Prinzipien und Besonderheiten gefunden werden, sodass sich die Arbeit in ihrem ersten Teil zunächst einer ausführlichen Betrachtung der relevanten sozialversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen widmet. Das entwickelte Verständnis der Eigenverantwortung eines Sozialversicherten hinsichtlich des sozialversicherten Lebensrisikos wird in einem weiteren Kapitel des zweiten Teils auf die Besonderheiten der gesetzlichen Krankenversicherung bezogen. Die im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gebildeten Kategorien von Eigenverantwortung werden auf dieser Grundlage näher untersucht und eingeordnet. Daran anschließend sind die derzeitige Ausgestaltung und mögliche Weiterentwicklung der mit diesen Kategorien angesprochenen Fragen der Kostenbeteiligung des Versicherten und der Berücksichtigung seiner persönlichen Lebensführung dargestellt und diskutiert. Gegenstand des dritten Teils dieser Arbeit ist der krankenversicherungsrechtliche Umgang mit den gesundheitlichen Folgen von Maßnahmen wunscherfüllender Medizin. Ästhetisch motivierte Eingriffe wie Brustvergrößerungen, Nasenkorrekturen, Gesichtsstraffungen, das Unterspritzen von Lippen und Stirnfalten, das Ab1 Zur besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit stellvertretend für die weibliche und männliche Personenbezeichnung ausschließlich die männliche Form verwandt.

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Einleitung

saugen von Fett, chirurgische Veränderungen an Genitalien etc. finden in den letzten Jahren zunehmende Verbreitung und erscheinen nicht zuletzt aufgrund medialer Aufbereitungen in Fernsehsendungen und Zeitschriften immer mehr gesellschaftlich akzeptiert. Der Wunsch, den eigenen Körper entsprechend eines persönlichen Idealbilds zu perfektionieren, bezieht sich dabei nicht unbedingt auf eine Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, beabsichtigt wird oftmals auch eine Steigerung der körperlichen oder geistigen Fähigkeiten. Dieses auch unter dem Begriff Enhancement diskutierte Phänomen wird zunächst ausführlich betrachtet. Ausgehend von den vorherrschenden Begriffsverständnissen werden mögliche Maßnahmen der Wunschmedizin und des Enhancements, deren Verbreitung und gesundheitliche Risiken aufgezeigt sowie die Fragen eventueller Grenzen wunscherfüllender Medizin und ihrer rechtlichen Dimensionen angerissen. Bei gesundheitlichen Folgen bestimmter Maßnahmen wunscherfüllender Medizin und des Enhancements greift die krankenversicherungsrechtliche Leistungsbeschränkung des § 52 Abs. 2 SGB V. Diese zum 1. April 2007 eingeführte Vorschrift wird ausgehend von dem hier gewonnenen Verständnis von Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten untersucht und an den verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen. In Abhilfe der insoweit festgestellten Defizite wird abschließend eine Regelungsmöglichkeit aufgezeigt, um den der Vorschrift zugrunde liegenden politischen Willen aufzugreifen bzw. dem mit ihr verfolgten Normzweck gerecht zu werden.

Erster Teil

Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung Kapitel 1

Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung mit Blick auf die Eigenverantwortung der Versicherten In der als Kaiserliche Botschaft bekannt gewordenen Thronrede1 kündigte Wilhelm I. am 17. November 1881 den Aufbau einer Arbeiterversicherung an. Zur sozialen Absicherung der Arbeiter sollten ihnen im Fall einer Krankheit, eines Unfalls, der Invalidität und des Alters Rechtsansprüche auf Leistungen gewährt werden. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Organisation der Arbeiter und ihres wachsenden Einflusses auf die Politik konzipierte der damalige Reichskanzler Bismarck (1815 – 1898) den Aufbau einer umfassenden Sozialversicherung und setzte sich für deren politische Durchsetzung im Reichstag ein.2 Als erstes Gesetz, das dem Aufbau einer Arbeiterversicherung diente, trat 1884 das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (KVG)3 in Kraft. In der Folge wurden noch im Jahr 1884 das Unfallversicherungsgesetz und 1889 das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung erlassen. Zur Durchführung der einzelnen Sozialversicherungsgesetze wurden juristische Personen des öffentlichen Rechts vorgesehen, denen das Recht zur Selbstverwaltung zukam.4 Hierbei wurde an bereits vorhandene Institutionen angeknüpft. Schon vor Erlass des KVG waren teilweise aufgrund privater Initiative der Arbeitgeber, der Arbeiter selbst oder aufgrund staatlicher Initiative Kassen gegründet worden, die eine Absicherung im Krankheitsfall bezweckten.5 Mit dem KVG wurden 1

Vollständiger Abdruck in: ZSR 1981, 711 ff. und 730 ff.; dazu ausführlich Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, S. 49 ff.; Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 17 ff.; Waltermann, Sozialrecht, § 3 Rn. 45 ff. 2 Kreßel/Wollenschläger, Leitfaden zum Sozialversicherungsrecht, S. 33 ff.; Kranz, Die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung, S. 49 ff. 3 KVG vom 15. 6. 1883, RGBl. S. 73. 4 Siehe ausführlich Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 44 ff. 5 Mit Beginn der industriellen Zeit, in der sich Wohnung und Arbeit trennten, sodass der Schutz der bäuerlichen Großfamilie wegfiel, war eine Steigerung der Krankheits- und Unfallhäufigkeit durch die Industriearbeit festzustellen. Handwerker und Zünfte – oder auch

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

aber erstmals für das gesamte Deutsche Reich eine Versicherungspflicht eingeführt und Rechtsansprüche der Versicherten auf Sachleistungen wie freie ärztliche Behandlung und Arzneimittel, Krankenhausversorgung und auf finanzielle Unterstützung wie Kranken-, Sterbe- und Wöchnerinnengeld festgeschrieben. Zur Finanzierung der Leistungen wurden Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer auf der Grundlage des jeweiligen Arbeitsentgelts im Verhältnis eins zu zwei erhoben; den Arbeitgebern wurde die Verantwortung für den Beitragseingang aufgetragen. Erste Regelungen zur Beziehung mit den Leistungserbringern wurden 1892 in das KVG eingefügt.6 Das KVG sah einen Leistungsausschluss bei Eigenverschulden des Versicherungsmitglieds vor. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum KVG wurde die Frage, ob einem Versicherten schon bei grobem Verschulden die Leistungen zu versagen seien, intensiv diskutiert und schließlich verneint.7 Die erforderlichen Ermittlungen zum Nachweis grober Schuld bürgen erhebliche Schwierigkeiten sowie die Gefahr der Verzögerung von Behandlung und Genesung. Eine Unterstützung des kranken Arbeiters müsse im öffentlichen Interesse gewährleistet werden; der Kranke dürfe nicht „den Ruin der wirtschaftlichen Existenz möglicherweise als Folge des Verschuldens“ befürchten müssen.8 Als Kompromiss einigte man sich auf die Vorschriften der §§ 6 Abs. 3 und 26 Abs. 4 Nr. 2 KVG,9 mit denen die Gemeinden und Ortskrankenkassen ermächtigt wurden, durch Beschluss oder Kassenstatut vorzusehen, dass Mitglieder, „welche sich die Krankheit vorsätzlich, oder durch schuldhafte Betheiligung bei Schlägereien oder Raufhändeln, durch Trunkfälligkeit oder geschlechtliche Ausschweifungen zugezogen haben, das statutenDorfgemeinschaften – bildeten Hilfs- und Unterstützungskassen für erkrankte Mitglieder. Zu viele Kassen mit zu wenigen Mitgliedern konnten eine ausreichende Absicherung jedoch kaum gewährleisten. Für die Arbeiterschaft wurde eine wirksame und soziale Absicherung notwendig und zwang den Staat zum Handeln. Mit dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten aus dem Jahr 1794 wurde erstmals eine staatliche Sicherung in Form von Fürsorgemaßnahmen bei Unfall und Krankheit geschaffen. Zur Entwicklung vor Erlass des KVG siehe Brunkhorst, Zur Problematik unterschiedlicher Risikostruktur und ihres Ausgleichs in der Sozialversicherung, S. 44 ff.; Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, S. 33 ff.; Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 10 ff.; Weyrauch, DOK 1968, 689 (689 f.). 6 Gesetz vom 10. 4. 1892, RGBl. S. 397. 7 Ausführlich zum damaligen Diskussionsprozess Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 182 ff.; siehe auch Mihm, NZS 1995, 7 (8); Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (600 f.); Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 137. 8 So der liberale Abgeordnete Gutfleisch, zitiert nach Brüggemeier, Eine Kränkung des Rechtsgefühls? Soziale Frage, Umweltprobleme und Verursacherprinzip im 19. Jahrhundert, in: Abelshauser (Hrsg.) Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive, Sonderheft 15 von Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 1994, 106 (123). 9 RGBl. (1883) S. 76, 83). Durch Gesetz vom 10. 4. 1892 [RGBl. S. 379 (384, 391)] wurden die bisherigen §§ 6 Abs. 3 und 26 Abs. 4 Nr. 2 KVG geändert in die §§ 6a Abs. 1 Nr. 2 und 26a Abs. 2 Nr. 2 KVG.

Kap. 1: Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung

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mäßige Krankengeld gar nicht, oder nur theilweise zu gewähren ist“.10 Nachdem dies jedoch dazu führte, dass eine Krankenbehandlung von geschlechtskranken Personen oftmals unterblieb, entfiel der Ausschlussgrund der geschlechtlichen Ausschweifungen im Rahmen einer Novellierung des KVG im Jahre 190311, nicht zuletzt um der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten entgegenzuwirken. Wenige Jahre später sah der Reichstag grundlegenden Reformbedarf bei der Arbeiterversicherung vor allem hinsichtlich des Krankenversicherungssystems.12 Insbesondere waren die Ausdehnung des Kreises der Versicherungspflichtigen und organisatorische Veränderungen beabsichtigt. Dies sowie die Zielsetzung, die drei Versicherungsarten der Arbeiterversicherung zu verbinden und in einem Gesetz zusammenzuführen, setzte der Reichstag im Jahr 1911 mit Erlass der Reichsversicherungsordnung (RVO)13 um. Die RVO fasste in sechs Büchern die Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung unter Abänderung zahlreicher materiell-rechtlicher Vorschriften zusammen.14 Der Krankenversicherungsteil im zweiten Buch der RVO übernahm im Wesentlichen das Leistungs- und Beitragsrecht aus dem KVG. In die Versicherungspflicht wurden Beschäftigte in der Land- und Forstwirtschaft, Dienstboten u. a. einbezogen, sodass die arbeitende Bevölkerung umfassend dem Schutz der Krankenversicherung unterstellt war. Wesentliche organisatorische Änderungen führten zu einer „Bereinigung der übergroßen und bunten Kassenlandschaft“.15 Die RVO ermächtigte in § 192 die Krankenkassen in ihrer Satzung eine Versagung des Krankengeldes vorzusehen, wenn „eine Krankheit vorsätzlich oder durch schuldhafte Beteiligung bei Schlägereien oder Raufhändeln“ herbeigeführt wurde.16 Damit wurde die bisherige Regelung des KVG zum Leistungsausschluss bei Eigenverschulden des Mitglieds fortgeführt. Verzichtet wurde aber auf den Versagungsgrund der Trunkfälligkeit. Während der Zeit bis 1933 bedingten die Folgen der Nachkriegszeit, der Währungsverfall und die Wirtschaftskrise weitere Änderungen. Zwar wurde der Leistungskatalog ausgeweitet (Wochenhilfe bei Mutterschaft, Familienkrankenpflege), aber andererseits infolge der wirtschaftlichen Krise erstmals eine Selbstbeteiligung

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RGBl. (1883) S. 83. Gesetz vom 25. 3. 1903 [RGBl. S. 233 (234, 236)]. 12 Reformresolution des Reichstags vom 30. 4. 1903; Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HSKV, § 1 Rn. 48. 13 RVO vom 19. 7. 1911, RGBl. S. 509; Inkrafttreten in drei Teilschritten: Invalidenversicherung am 1. 1. 1912, Unfallversicherung am 1. 1. 1913 und zuletzt die Krankenversicherung am 1. 1. 1914. 14 Zur Entwicklungsgeschichte der RVO siehe Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, S. 75 ff. 15 Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 51. 16 RGBl. (1911) S. 509 (546). 11

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

der Versicherten an den Kosten für Arznei- und Hilfsmitteln eingeführt.17 In den Jahren 1933 bis 1945 ist die Krankenversicherung – wie die gesamte Sozialversicherung – von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst worden.18 Insbesondere die von den Nationalsozialisten betriebene Entdemokratisierung aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche sowie die rassistische Ausgrenzung durchzog das Sozialversicherungsrecht. So wurde in allen Sozialversicherungsbereichen an die Stelle der Selbstverwaltung das Führerprinzip gesetzt. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verloren die Sozialversicherungsträger durch die Währungsumstellung ihr gesamtes Vermögen und die Zahl der Leistungsempfänger stand einer deutlich geringeren Zahl von Beitragszahlern gegenüber.19 Dennoch funktionierte das Sozialversicherungssystem innerhalb der drei westlichen Besatzungszonen weiter, wobei teilweise unterschiedliche Regelungen galten.20 In der sowjetischen Besatzungszone wurde unter Beseitigung der einzelnen Versicherungsträger die Entwicklung zu einer totalen Einheitssozialversicherung eingeleitet, die später von der DDR übernommen wurde. Durch den Vertrag zwischen BRD und DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – vom 31. August 1990 wurde das in der BRD weiterentwickelte gegliederte Krankenversicherungssystem in den neuen Bundesländern wieder eingeführt.21 Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde in der ersten Gesetzgebungsphase bis Mitte der 1950er Jahre die klassische Sozialversicherung rekonstruiert, Rechtszersplitterung beseitigt und das Recht an die geänderten Verhältnisse angepasst. Die weitere Entwicklung des Krankenversicherungsrechts war durch eine stetige Ausdehnung des Kreises der gesetzlich Krankenversicherten geprägt. 1956 wurden die Rentner, 1972 die selbstständigen Landwirte, 1975 Menschen mit Behinderungen, Studenten und Praktikanten sowie 1981 die selbstständigen Künstler und Publizisten in die Versicherungspflicht einbezogen.22 Zum anderen wurden in 17 Die Notverordnung vom 26. 7. 1930 (RGBl. 311) sah unter anderem eine generelle Krankenscheingebühr von 50 Reichspfennig vor. 18 Ausführlich hierzu Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 63 ff. 19 Kreßel/Wollenschläger, Leitfaden zum Sozialversicherungsrecht, S. 37. 20 Dazu ausführlich Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, S. 128 ff.; Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 73 ff.; Rehkopf, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 2 Rn. 80 ff. 21 Die Übertragung der Regelungen des SGB V durch den Einigungsvertrag (BGBl. II S. 889) erfolgte im Wesentlichen mit Wirkung ab 1. Januar 1991, wobei gleichzeitig einige Sonderregelungen für die neuen Bundesländer im SGB V geschaffen wurden. In der DDR hatte sich ein eigenes System zur Absicherung gegen die Risiken des Arbeitslebens herausgebildet, das durch eine starke Zentralisierung geprägt war und mit dem althergebrachten Sozialversicherungssystem nur noch wenig gemeinsam hatte. Zur Geschichte und Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems in der DDR siehe Ruß, Die Sozialversicherung der DDR, passim; Vortmann, in: DDR-Handbuch, S. 1226 ff.; Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 76 ff., 160 ff. Zum Gesundheitssystem in der DDR siehe Jahn, in: DDR-Handbuch, S. 557 ff.; Henke, WiDi 1990, 353 (353 ff.); Hofemann, SozSich 1991, 37 (38 f.). 22 Bloch, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 15 Rn. 6 f.; Gitter/Schmitt, Sozialrecht, S. 12; Knieps, in: v. Maydell (Hrsg.), GK-SGB V Einl. Rn. 12; Schlenker, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 1 Rn. 96, 115 f.; Wasem, Weiterentwicklung der GKV, S. 46 f.

Kap. 1: Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung

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den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg die krankenversicherungsrechtlichen Leistungen erheblich ausgeweitet.23 Erst als die Leistungsausgaben und damit die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung in den 1970er Jahren enorm anstiegen, kehrte sich der Trend um. Der Gesetzgeber kürzte mithilfe der Kostendämpfungsgesetze24 das Ausgabevolumen der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit Einschränkungen und Begrenzungen von krankenversicherungsrechtlichen Leistungen ging eine Eigenbeteiligung der Versicherten in Form von Zuzahlungen für Arzneimittel, Zahnersatz, Brillen, beim Krankenhausaufenthalt und bei Kuren einher. Langfristig gesehen ist die Kostendämpfungspolitik der Jahre 1977 bis 1986 jedoch gescheitert, wie auch der Gesetzgeber 1988 im Rahmen der Beratungen zum Gesundheits-Reformgesetz feststellen musste.25 Angesichts der ständig steigenden Kosten der ambulanten Behandlung durch die wachsende Zahl der Kassenärzte und der Verteuerung der stationären Behandlung in Krankenhäusern sowie der erheblichen Kostensteigerung für Arznei- und sonstige Heilmittel hielt die Kostenexplosion im Gesundheitswesen weiter an.26 Zusätzlicher Kostenfaktor war beispielsweise auch die Verbreitung der tödlichen Immunschwäche Aids, die in ihren finanziellen Auswirkungen kaum zu überblicken war.27

23 Zu nennen sind vor allem das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz (2. KVÄG) vom 21. 12. 1970 (BGBl. I S. 1770), das nicht nur die Ausweitung der Versicherungspflichtigen durch Anhebung der Versicherungspflichtgrenze bezweckte, sondern auch Früherkennungsmaßnahmen als vorsorgenden Gesundheitsschutz in den Leistungskatalog aufnahm, und das Gesetz zur Verbesserung von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (KVLG) vom 19. 12. 1973 (BGBl. I S. 1925), mit dem bisherige Leistungen ausgebaut und neue Leistungen (Haushaltshilfe bei stationärem Aufenthalt des Versicherten; Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes) eingeführt wurden. Mit dem Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum 5. Strafrechtsreformgesetz vom 28. 8. 1975 (BGBl. I S. 2289) wurden zudem Leistungen zur Empfängnisregelung und zum Schwangerschaftsabbruch eingeführt. 24 Dazu zählen beispielsweise das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. 6. 1977 (BGBl. I S. 1069), mit dem unter anderem eine pauschale Zuzahlung von 1,– DM für jedes Arzneimittel eingeführt wurde und der Zuschuss für Zahnersatz auf 80 % sowie die Leistung von Kuren und Fahrtkosten beschränkt wurden, oder das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsergänzungsgesetz (KVEG) vom 22. 12. 1981 (BGBl. I S. 1578), das die Versorgung mit Bagatellarzneimitteln, Zahnersatz, Hilfsmitteln und Brillen einschränkte und eine stärkere Eigenbeteiligung der Versicherten durch eine Verordnungsblattgebühr für Arznei-, Heilmittel und Brillen vorsah, oder auch das Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz vom 22. 12. 1981 (BGBl. I S. 1568). Neue Belastungen der Versicherten wurden mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 (vom 20. 12. 1982, BGBl. I S. 1557) in Form von Zuzahlungen beim Krankenhausaufenthalt und bei Kuren und erhöhter Verordnungsblattgebühr für Arzneimittel festgeschrieben. Das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz vom 20. 12. 1984 (BGBl. I S. 1716) verfolgte für den Bereich der stationären Versorgung das Ziel der Kostenbegrenzung. 25 Siehe Begründung zum Regierungsentwurf für das GRG, BT-Drs. 11/2237, S. 133, 135. 26 Kreßel/Wollenschläger, Leitfaden zum Sozialversicherungsrecht, S. 38. 27 Kreßel/Wollenschläger, NZA 1988, 80 ff.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Ende 1988 verabschiedete der Gesetzgeber das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen, auch bezeichnet als Gesundheits-Reformgesetz (GRG)28, das in wesentlichen Teilen zum 1. Januar 1989 in Kraft trat. Mit dem GRG wurden die Regelungen zur gesetzlichen Krankenversicherung aus der RVO herausgenommen und als das Sozialgesetzbuch fünftes Buch (SGB V) neu kodifiziert. Dem Regelungsbereich wurde erstmals ein Einleitungskapitel vorangestellt, das in den §§ 1 bis 4 SGB V zur gesetzlichen Krankenversicherung die besonderen Grundsätze und Strukturprinzipien der Solidarität und Eigenverantwortung, des Wirtschaftlichkeitsgebots, der Sachleistungserbringung, der solidarischen Finanzierung und zuletzt auch der Selbstständigkeit der Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung beschreibt. Mit diesen programmatischen Eingangsbestimmungen verfolgte der Gesetzgeber unter anderem das Ziel, den Solidaritätsgedanken unter Berücksichtigung des Prinzips wirtschaftlicher Leistungserbringung neu zu bestimmen, verknüpft mit dem Ziel, die Eigenverantwortung des Versicherten zu stärken. Dem lag die Erkenntnis zugrunde, dass „ohne Eigenverantwortung Solidarität anonym und missbrauchbar wird, ohne Solidarität die Eigenverantwortung egoistisch ist“29. Zu verhindern galt es, dass die Solidargemeinschaft über Gebühr in Anspruch genommen und andererseits die Eigenverantwortung des Versicherten für seine Gesundheit vollkommen ausgeschaltet würde. In § 1 Abs. 2 SGB V hieß und heißt es auch heute noch: die Versicherten „sollen für eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden“. Die Krankenkassen traf zugleich die Pflicht, die Versicherten bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe zu unterstützen und bessere Rahmenbedingungen für die Gesundheitsvorsorge bzw. Anreize für ein gesundheitsförderliches Verhalten der Versicherten zu schaffen. Im Zuge dessen sah das GRG beispielsweise regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen für Versicherte ab 35 Jahren und prophylaktische zahnmedizinische Maßnahmen vor. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer verstärkten Eigenverantwortung und einer Neubestimmung des Solidaritätsgedankens, aber sicherlich in erster Linie angesichts der Kostenexplosion sind die mit dem GRG eingeführten Leistungsbegrenzungen sowie die Zuzahlungspflichten der Versicherten zu verstehen. Die Ausgaben für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, wie z. B. Brillengestelle, -gläser oder Hörgeräte, wurden weitgehend auf Festbeträge begrenzt, Heil- und Hilfsmittel mit geringem therapeutischen Wert wurden aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen, das Sterbegeld sukzessive abgeschafft. Für die stationäre Behandlung mussten Versicherte nunmehr eine Zuzahlung in Höhe von 10 DM pro Kalendertag leisten. Hinsichtlich des Kreises der Versicherungspflichtigen nahm das GRG entgegen des bisherigen Trends der stetigen Erweiterung die bislang gemäß § 166 RVO pflichtversicherten selbstständigen Hausgewerbetreibende, 28 GRG vom 20. 12. 1988 (BGBl. I S. 2477). Dazu ausführlich: Gitter, SGb 1991, 85 ff.; Rüfner, NJW 1989, 1001 ff. 29 BT-Drs. 11/2237, S. 157.

Kap. 1: Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung

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Hebammen, Lehrer, Erzieher und in der Kranken- und Kinderpflege Tätigen aus der Versicherungspflicht heraus.30 Außerdem galt nun die Pflichtversicherungsgrenze auch für Arbeiter. Das GRG übernahm mit § 52 SGB Veine Regelung zum Leistungsausschluss bei Selbstverschulden, ähnlich der Bisherigen in § 192 RVO. Die Vorgängervorschrift hatte bereits 1972 eine wesentliche Änderung erfahren.31 Damals musste vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen32 der Versagungsgrund der schuldhaften Beteiligung bei Schlägereien und Raufhändeln gestrichen werden. Die Regelung des § 52 SGB V ergänzte jedoch den in § 192 RVO verbliebenen Versagungsgrund der vorsätzlich verursachten Krankheit um die Fälle, in denen eine Krankheit auf ein vom Versicherten begangenes Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen zurückzuführen ist. Anders als die Regelung in der RVO sah § 52 SGB V aber nicht lediglich eine entsprechende Satzungsermächtigung für die Krankenkassen vor, sondern bot den Krankenkassen eine direkte Ermächtigungsgrundlage, Versicherten, die sich „eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen“ haben, „an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe zu beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit“ zu versagen und zurückzufordern. Zusätzlich war damit eine Ausweitung des Tatbestandes auf Versicherte anstatt bislang nur Mitglieder, sowie eine Ausweitung der Rechtsfolge auf die nun mögliche Kostenbeteiligung bei den Sachleistungen verbunden. In der Gesetzesbegründung zum GRG führt der Gesetzgeber zu § 52 SGB Vaus, dass die Vorgängervorschrift des § 192 RVO „unter Berücksichtigung des in § 1 festgelegten Grundsatzes der Eigenverantwortung des Versicherten deutlicher gefasst und erweitert“ werde.33 Es komme im Gesundheitswesen darauf an, die Fähigkeit des Einzelnen zur eigenverantwortlichen Vorsorge für seine Gesundheit zu stärken.34 Um der erneuten negativen Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung entgegenzuwirken, verabschiedete der Gesetzgeber Ende 1992 das Gesetz zur Sicherung und 30 Gitter, SGb 1991, 85 (87); Rüfner, NJW 1989, 1001 (1002); Bloch, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 15 Rn. 7 f.; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 67; Zipperer, BKK 1989, 80 (80). Vor dem Hintergrund der subsidiär eintretenden Sozialhilfe kritisch zur Ausgrenzung der Selbstständigen Fuchs, VSSR 1991, 281 (298 f.). 31 Durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. 8. 1972 [BGBl. I S. 1433 (1446)]. 32 Nach dem von der BRD mit Gesetz vom 18. 9. 1957 (BGBl. II S. 1321) ratifizierten Übereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation über Mindestnormen der sozialen Sicherheit vom 28. 6. 1952 (BGBl. II 1957, S. 1322) konnte eine Leistung der sozialen Sicherheit nur ruhen, wenn der Versicherungsfall durch ein von der betreffenden Person begangenes Verbrechen oder Vergehen oder vorsätzlich herbeigeführt worden ist (Art. 69, BGBl. II 1957, S. 1346). Siehe auch BT-Drs. 6/3508, S. 31 f. sowie S. 11 des schriftlichen Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages, zu BTDrs. 6/3508. 33 BT-Drs. 11/2237, S. 182. 34 BT-Drs. 11/2237, S. 146.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz – GSG)35. Mit dem GSG wurde eine strenge Budgetierung der wichtigsten Leistungsbereiche eingeführt, indem die Ausgaben an die Einnahmeentwicklung gekoppelt wurden. Zudem wurden die Leistungen für Zahnersatz stärker begrenzt, sowie die Zuzahlungen beim Krankenhausaufenthalt und für Arzneimittel erweitert. Das GSG sah außerdem die Einführung eines Risikostrukurausgleichs der Krankenkassen zu Beginn des Jahres 1994 sowie ab 1996 ein Wahlrecht der Versicherten hinsichtlich aller regional zuständigen Krankenkassen vor. Das erste und zweite Gesetz zur Neuordnung der Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung von 199736 sowie im Folgejahr das Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung37 brachten für die Versicherten unter anderem erneute Änderungen der Leistung von Zahnersatz und Arzneimitteln. Die anschließende GKV-Gesundheitsreform 200038 verfolgte das Ziel, die Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu verbessern und die Beitragssatzstabilität zu sichern, und sah zahlreiche Änderungen des Leistungs- und Leistungserbringungsrechts vor. Neben der Stärkung von Prävention und Selbsthilfe (§ 20 SGB V) und der Erweiterung von Vorsorgeleistungen (§ 23 Abs. 1 Nr. 3 SGB V) wurde beispielsweise mit der Vorschrift des § 65a SGB V den Krankenkassen eine Bonuszahlung an diejenigen Versicherten ermöglicht, die sich verpflichten, vertragsärztliche Leistungen außerhalb der hausärztlichen Versorgung nur auf Überweisung des Hausarztes in Anspruch zu nehmen.39 Trotz aller Reformbemühungen überschritt der durchschnittliche Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2002 erstmals die 14 %-Schwelle.40 Ende 2003 folgte das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG)41, mit

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GSG vom 21. 12. 1992 (BGBl. I S. 2266); Inkrafttreten am 1. Januar 1993. Ausführlich dazu Schulte, NZS 1993, 41 ff.; Gruppe, NZS 1993, 46 ff.; Zipperer, NZS 1993, 53 ff.; Rüfner, NJW 1993, 753 ff. 36 1. GKV-Neuordnungsgesetz vom 23. 6. 1997, BGBl. I S. 1518; 2. GKV-Neuordnungsgesetz vom 23. 6. 1997, BGBl. I S. 1520. 37 GKV-SolG vom 19. 12. 1998, BGBl. I S. 3853, in Kraft getreten am 1. 1. 1999. 38 In Ermangelung eines Konsenses zwischen Bund und Ländern wurde die GKV-Gesundheitsrefom 2000 in ein gegenüber dem Bundesrat zustimmungsbedürftiges (Gesetz zur Rechtsangleichung in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22. 12. 1999, BGBl. I S. 2657) und ein zustimmungsfreies Gesetz (Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000) vom 22. 12. 1999, BGBl. I S. 2626) geteilt. 39 Weitere Änderungen bzw. Neuerungen: Soziotherapie nach § 37a SGB V als neue Leistung, Förderung von Einrichtungen zur unabhängigen Verbraucher- und Patientenberatung nach § 65b SGB V, Maßnahmen zur Qualitätssicherung, Einführung der integrierten Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V. Überblick bei Krasney, NJW 2000, 2697. 40 Orlowski/Wasem, Gesundheitsreform 2004, S. 1. 41 GMG vom 12. 11. 2003, BGBl. I S. 2190. Vorgeschaltet war das Beitragssatzsicherungsgesetz vom 23. 12. 2002, BGBl. I S. 4637, das für ein stabiles Beitragssatzniveau sorgen und den Krankenkassen Spielraum für strukturelle Reformänderungen geben sollte.

Kap. 1: Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung

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dem in erster Linie die Senkung der Beitragssätze beabsichtigt wurde. Im Zuge dessen sollten medizinische Leistungen nicht rationalisiert werden; vielmehr sollten die Versicherten stärker an den Krankheitskosten beteiligt werden.42 Konkret bedeutete dies erhöhte Zuzahlungen der Versicherten, die Einführung einer Praxisgebühr und Kürzungen des Leistungskatalogs um das Entbindungsgeld, Sehhilfen, den Anspruch auf Sterilisation und künstliche Befruchtung. Anfang 2007 wurde mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG)43 eine erneute Gesundheitsreform beschlossen, die sowohl auf der Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite ansetzte und sicherstellen sollte, dass die Mittel im Gesundheitswesen effizient und effektiv eingesetzt werden. Neben umfangreichen Änderungen des Finanzierungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung44, der Vorgaben zu Wahltarifen, des Zugangs zur gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung oder hinsichtlich eines einheitlichen Basistarifs der privaten Krankenversicherungen wurde mit Einführung des § 52 Abs. 2 SGB V auch die Eigenverantwortung der gesetzlich Krankenversicherten neu ausgerichtet. Hiernach haben gesetzliche Krankenkassen ihre Versicherten an Heilbehandlungskosten zu beteiligen und die Leistung von Krankengeld zumindest einzuschränken, wenn die Krankheit infolge einer medizinisch nicht indizierten Maßnahme eingetreten ist. Der Gesetzestext sprach dabei von einer „medizinisch nicht indizierten Maßnahme wie zum Beispiel eine ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing“ und wurde im Zuge des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)45 durch die Streichung der Wörter Maßnahme wie zum Beispiel eine geändert. Zur Durchsetzung der neuen Leistungsbeschränkung sah das Pflege-WeiterentNeuerungen im Bereich des Leistungserbringungsrechts waren z. B. die erleichterte Leistungserbringung im Rahmen der integrierten Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V, die Zulassung von medizinischen Versorgungszentren (§ 95 Abs. 1 SGB V), die hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b SGB V oder die Teilnahme von Krankenhäusern an der ambulanten Versorgung. 42 So die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 15/1525, S. 71. 43 GKV-WSG vom 26. 3. 2007, BGBl. I S. 378; BT-Drs. 16/3100, 16/4200, 16/4247. Die meisten Änderungen sind bereits zum 1. 4. 2007 in Kraft getreten (Art. 46 I GKV-WSG). 44 Ein zentraler Punkt dieser Reform lag in der Einführung eines Gesundheitsfonds. Alle Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung werden in einem zentralen Geldpool, dem Gesundheitsfonds, gesammelt, aus dem die Krankenkassen für jeden Versicherten eine pauschale, anhand bestimmter Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht und bestimmten Erkrankungen errechnete Zuweisung erhalten. Gleichzeitig gilt ein einheitlicher Beitragssatz für alle Versicherten, wobei die einzelnen Krankenkassen einen Zusatzbeitrag erheben können. Die Vorschriften zum Zusatzbeitrag wurden mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz) vom 22. 12. 2010, BGBl. I S. 2309 ff., durch Einfügung der §§ 242a f. SGB V weiterentwickelt. Ebenfalls mit dem GKV-Finanzierungsgesetz wurde zum 1. 1. 2011 ein einheitlicher Beitragssatz von 15,5 % der beitragspflichtigen Einnahmen in § 241 SGB V festgeschrieben. 45 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. 5. 2008 (BGBl. I S. 874), BT-Drs. 16/7439, 16/8525. Inkrafttreten der wesentlichen Teile (auch der hier Angesprochenen) zum 1. 7. 2008.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

wicklungsgesetz eine entsprechende ärztliche Mitteilungspflicht gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen vor (§ 294a Abs. 2 SGB V). Kapitel 2

Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung Die Sozialversicherung besteht aus fünf Bereichen: Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung. Das ist allgemein bekannt; doch was ist ihnen gemein? Wie lässt sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs Sozialversicherung bestimmen? Welche Prinzipien oder Kriterien sind charakteristisch oder gar unerlässlich? Das Grundgesetz benennt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 die Sozialversicherung zwar als Kompetenzmaterie und weist sie im Wege der konkurrierenden Gesetzgebung dem Bund zu.46 Zur inhaltlichen Konturierung des Begriffs der Sozialversicherung trägt das Grundgesetz damit jedoch kaum bei. Während die Weimarer Reichsverfassung in Art. 161 dazu aufforderte, zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz von Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten zu schaffen, wurde im Rahmen des Grundgesetzes auf entsprechend detaillierte Ausführungen verzichtet. Als Verfassungsbegriff im Rahmen der Kompetenzzuweisung ist die Sozialversicherung aber keine leere Worthülse, die dem Bund eine beliebige Verwendung erlaubt, sofern er neue Normkomplexe nur dieser Begrifflichkeit unterstellt.47 Sozialversicherung weist schon begrifflich auf eine Verbindung von Versicherungsprinzip und Solidarprinzip hin. Einer näheren Betrachtung widmete sich das Bun46 Andere Verfassungsnormen, die den Begriff Sozialversicherung enthalten, Art. 87 Abs. 2 GG und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG sind inhaltlich nachrangig, da sie die Existenz von Sozialversicherungssystemen bereits voraussetzen. 47 In diesem Zusammenhang eine Anmerkung zur Legitimationswirkung von Kompetenznormen: Die Ermöglichung einer eindeutigen staatsordnenden Zuordnung gesetzgeberischer Kompetenzen ist das Ziel, zugleich aber auch Begrenzung der materiellen Bedeutung von Kompetenznormen. Nach Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 18 ff., haben Kompetenznormen ausschließlich die Funktion, die Bundeskompetenz von der Länderkompetenz abzugrenzen. Weitgehend wird jedoch angenommen, dass Kompetenznormen der Verfassung grundsätzlich eine materiell-rechtliche Bedeutung haben können und auch die Ausübung der Gesetzgebungskompetenz legitimieren können. Strittig ist aber die Reichweite ihrer Legitimationswirkung. Als formelle Grundrechtsnormen dürfen sie inhaltlich nicht überfrachtet werden, um Konflikte mit materiell-rechtlichen Grundrechtsnormen zu vermeiden. Siehe Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 47; Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, S. 222 ff.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 327 ff.; Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Kompetenz- und Organisationsnormen, S. 422 ff.; Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, S. 161 ff.; Bieback, VSSR 2003, 1 (5 f.). Siehe auch in diesem Teil, 3. Kapitel unter C. IV.

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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desverfassungsgericht im Zuge der Subsumtion neuer Normenkomplexe unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. In ständiger Rechtsprechung bestimmt das Bundesverfassungsgericht die Sozialversicherung als einen „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“48, der alles umfasse, „was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt“. Dabei orientiert sich das Bundesverfassungsgericht zur Inhaltsbestimmung des Begriffs Sozialversicherung an den traditionellen Wesenszügen dieser Institution. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ermögliche die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem Sozialversicherung, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Bewältigung ihrer Durchführung, dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist.49 Zu diesem klassischen Bild der Sozialversicherung gehört nach Auffassung des Gerichts zumindest die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit.50 Damit ist klargestellt, dass Sozialversicherung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht nur das sein kann, was bei Inkrafttreten des Grundgesetzes bereits als Sozialversicherung bestand, der Inhalt der Kompetenzmaterie also nicht auf diesem Stand einfachgesetzlicher Normen eingefroren ist. Eine damit verbundene Rückwirkung des einfachen Rechts auf die Verfassungsebene 48 So das Bundesverfassungsgericht erstmalig in seiner grundlegenden Entscheidung zur Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, vgl. Kindergeld-Urteil vom 10. Mai 1960, BVerfGE 11, 105 (112). Darauf aufbauende und weiterentwickelnde Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z. B. in: BVerfGE 28, 324 (348); 40, 121 (134); 48, 346 (360); 75, 108 (146 ff.); 81, 156 (185); 88, 203 (313). Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 84 ff., sieht angesichts der durch das Bundesverfassungsgericht geprägten Begriffsbestimmung von Sozialversicherung das Erfordernis klarer Begrifflichkeiten und widmet diesem Anliegen wesentliche Teile seiner Arbeit, auf deren Ergebnisse im Folgenden eingegangen wird. Eine Detailanalyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nimmt Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 154 ff., vor, um Klarheit über den Interpretationsansatz des Gerichts zu schaffen. Soweit das Bundesverfassungsgericht zur Begründung des Charakters der Sozialversicherung als verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff die Motive des Verfassungsgebers bei der Formulierung „… Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ anführt, widerspricht Butzer unter Darlegung der Entstehungsgeschichte des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Im Ergebnis hält er aber das Vorgehen des Gerichts für eine angemessene, zustimmungswürdige Grundlage zur Ermittlung des Inhalts der Kompetenznorm. Der verfassungsgerichtlichen Einordnung steht Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 199 f., eher unkritisch gegenüber. Hingegen meint Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 101, mit der „Anerkennung eines verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffs ist in der Sache nicht viel gewonnen“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). 49 BVerfGE 11, 105 (112); 14, 312 (317 ff.); 62, 354 (366); 63, 1 (35); 87, 1 (34); 88, 203 (313). Leisner, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, S. 83, sieht in dieser Umschreibung eine Leerformel, der das Schrifttum ohne die erforderliche Grundsatzkritik gefolgt sei. 50 Das Bundesverfassungsgericht stimmt insoweit den grundsätzlichen Ausführungen des Bundessozialgerichts zu; vgl. BVerfGE 11, 105 (112); 75, 108 (146 f.); 88, 203 (313); BSGE 6, 213 (227 f.); W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 24. Dazu ausführlicher in diesem Kapitel unter B.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

verböte bereits der Vorrang der Verfassung.51 Vielmehr ermächtigt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG den Gesetzgeber das bestehende System weiterzuentwickeln und auch neue Sicherungsbereiche zu erschließen. Die grundsätzliche Offenheit des Grundgesetzes für einen sozialpolitischen Wandel und eine Änderung der Organisation hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont,52 eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems oder seiner tragenden Ordnungsprinzipien sei dem Grundgesetz nicht zu entnehmen. Für den Regelungsbereich der Sozialversicherung ist es geradezu charakteristisch, dass Vorschriften an veränderte Umstände, die den Kreis der Versicherten oder den Gegenstand der Versicherung betreffen, anzupassen sind.53 Folglich ist im Rahmen sozialversicherungsrechtlicher Gesetzgebung dem traditionellen Verständnis von Sozialversicherung einerseits und ihrer (Weiter-)Entwicklungsoffenheit andererseits gleichermaßen Rechnung zu tragen. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG garantiert dabei faktisch dasjenige, was für den Bestand und die Funktion von Sozialversicherung so wesentlich und so prägend ist, dass man von Sozialversicherung nicht mehr sprechen könnte, wenn es fehlte. Welche Merkmale in diesem Sinne die Materie Sozialversicherung ausmachen oder sogar unverzichtbar sind, gilt es im Folgenden aufzuzeigen. Der näheren Untersuchung der Strukturmerkmale der Sozialversicherung wird zunächst – angesichts der Charakterisierung der Sozialversicherung als verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff durch das Bundesverfassungsgericht – eine methodologische Einordnung des Sozialversicherungsbegriffs voran gestellt.

A. Methodologische Einordnung des Sozialversicherungsbegriffs Die vom Bundesverfassungsgericht eingeführte und in diesem Zusammenhang immer wieder verwendete Bezeichnung des Gattungsbegriffs54 entstammt nicht der 51

S. 70. 52

(219).

Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, Siehe bspw. BVerfGE 18, 257 (267); 29, 221 (236); 39, 302 (314); 77, 340 (344); 113, 167

53 Werner, Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 74; Günther, Verfassung und Sozialversicherung, S. 24 ff. 54 Der Begriff wurde in der Literatur überwiegend angenommen. Kritik von Pestalozza, in: von Mangoldt/Klein/Pestalozza, Das Bonner Grundgesetz, Art. 74 Rn. 832 f., aufgegriffen durch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 161. Der Begriff Gattung bezeichne eine unter einem allgemeinen Merkmal gedachte Vielheit, die andere Vielheiten bzw. Arten in sich zusammenfasst. Die Merkmale des Artbegriffs ergäben sich wiederum aus den Merkmalen, die den ihm zugeordneten Individualbegriffen gemeinsam sind. Die Wortwahl des Verfassungsgerichts träfe zwar insofern zu, als der Gattungsbegriff über die Zahl der ihm unterfallenden Arten nichts aussage und neue Arten hinzugefügt werden könnten. Im Ergebnis sei aber die Sozialversicherung eine Ebene zu hoch angesiedelt und vielmehr als Art innerhalb der Gattung Versicherung anzusehen. Problematisch sei die verfassungsgerichtliche Bezeichnung

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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rechtswissenschaftlichen Methodenlehre. Überwiegend wird – so bereits Herschel und Isensee – angenommen,55 dass das Bundesverfassungsgericht damit eine Denkform wählte, die in der juristischen Begriffs- und Systembildung gemeinhin als Typusbegriff bezeichnet wird. Um die Gründe für dieses synonyme Verständnis des verfassungsgerichtlichen Gattungsbegriffs mit dem Typusbegriff der Rechtswissenschaft darzulegen, bedarf es zunächst einer grundlegenden Erläuterung der Typuslehre. Der Typusbegriff56 bietet eine Beschreibung anhand typischer Merkmale. Typisierendes Denken vergleicht, ob die typischen Merkmale gegenüber untypischen vorherrschen. Dem Typusbegriff wird in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre der sogenannte Klassenbegriff57 oder auch abstrakt-allgemeine Begriff58 gegenübergestellt. Der Klassenbegriff ist durch abschließend aufgezählte, unverzichtbare Merkmale festgelegt. Seine Rechtsfolgen treten also nur bei Vorliegen aller hinsichtlich der in erster Linie systematisierenden Bedeutung der Ordnungsbegriffe Gattung und Art und der nur am Rande bestehenden Offenheit für neue Unterfälle. 55 Herschel, in: FS für Otto Kunze, 225 (239); Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 44 f.; aber auch andere, z. B. Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 201; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 160 ff.; Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 48 ff., 68 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 170; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 187; Werner, Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 77; Weber, in: FS für Hans Möller, 499 (509). Kritik an der methodologischen Einordnung des Kompetenzbegriffs Sozialversicherung als Typus üben Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 23 ff. und Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 486. 56 Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, S. 195 ff.; Larenz, Typologisches Rechtsdenken, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXIV (1940/41), S. 20 ff.; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 461 ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 237 ff., 308 f.; Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 111 ff.; Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 25 ff.; Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, S. 47 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 78 ff.; Strache, Das Denken in Standards, S. 19 ff.; Zippelius, Die Verwendung von Typen in Normen und Prognosen, in: FS für Karl Engisch, 224 ff.; ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 381 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 73 ff.; Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 68 ff. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 63 ff.; Herschel, in: FS für Otto Kunze, 225 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 543 ff. Die Typuslehre stößt jedoch – ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen – auf Kritik, vgl. Kokert, Der Begriff des Typus bei Karl Larenz; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser; Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, S. 160 ff. Vor den Gefahren ausufernder Verbreitung von Typusbegriffen warnt auch Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 65. 57 Bezeichnung bei Hempel/Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, S. 15 f., 22 f., 32; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 244, 246; Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, S. 47. 58 So Larenz, Typologisches Rechtsdenken, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXIV (1940/41), S.20, ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 461; Kokert, Der Begriff des Typus bei Karl Larenz.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Merkmale seiner Definition ein. Dem Typusbegriff hingegen ist eine geschlossene Anzahl konstituierender Merkmale fremd. Zwar wird auch der Typusbegriff durch Merkmale bestimmt, aber nicht im Sinne einer genauen Merkmalssumme, sondern als eine Vielzahl prägender typischer Merkmale.59 Im Unterschied zum Klassenbegriff dienen diese Merkmale nicht einer Definition, sondern lediglich der Beschreibung des Typusbegriffs. Die Zuordnung zu einem Typusbegriff hängt somit nicht davon ab, dass eine Reihe einzelner, festgelegter Merkmale vollständig vorliegt. Von Bedeutung ist vielmehr die Verbindung der den Typus kennzeichnenden Merkmale zu einem spezifischen Gesamtbild.60 Das Wort Typus bedeutet ein identisches Gemeinsames im Sinne eines Musters, also eine Wesensform in Abgrenzung zu vielen Sonderformen.61 Entscheidend ist, dass sich die Einzelelemente in einer für den Typus charakteristischen Weise zusammenfügen. Dabei stehen leitende Wertgesichtspunkte des Typus im Vordergrund. Die einzelnen Merkmale sind für die Zuordnung zu einem Typus grundsätzlich nur Indizien, häufig abstufbar und gegeneinander austauschbar. Sie sind Teil eines beweglichen Systems, können daher mehr oder weniger vorliegen.62 Denkbar sind aber auch Typusmerkmale, die konstitutive Bedeutung für die Zuordnung zu einem Typus haben.63 Nach Larenz muss mindestens ein „durch die Angabe hinreichender Merkmale“ bestimmtes „Paradigma“ stets gegeben sein, sonst fehle die Basis für Ähnlichkeitsschlüsse.64 Die Gleichsetzung des verfassungsgerichtlichen Gattungsbegriffs mit dem Typusbegriff ist durch die Art der hermeneutischen Vorgehensweise des Gerichts gestützt, die methodologisch derjenigen beim Vorliegen eines Typusbegriffs entspricht. Sozialversicherung soll nicht definiert, sondern lediglich beschrieben werden. Das Bundesverfassungsgericht statuiert nicht eine Reihe abstrakter Begriffsmerkmale, die zusammengenommen die Kompetenzmaterie ausmachen; vielmehr versteht es Sozialversicherung als einen Begriff, in dem sich eine unabgeschlossene Fülle von

59 Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 47; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 544. 60 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 78. Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 34 bezeichnet den Typus als „elastisches Merkmalsgefüge“; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 242 spricht von der „Variabilität und Graduierbarkeit der Merkmale“. 61 Heyde, Typus, in: Studium Generale 5, S. 243. 62 Wilburg, Die Elemente des Schadensersatzrechts, S. 28 ff., 283 ff.; ders., Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, S. 12 f., entwickelte die Lehre vom beweglichen System und strebte damit eine beweglichere Gestaltung des Rechts an, die rechtliche Erscheinungen anders als die Begriffsjurisprudenz nicht als feste Körper, sondern als Ergebnis einer Kräftewirkung versteht. Zusammenfassend Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 529 ff. 63 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 200. 64 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 42, 123, 294.

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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Merkmalen zu einer Struktur – einem rechtlichen Strukturtypus65 – ordnet und verdeutlicht.66 Das Bundesverfassungsgericht stellt dabei auf das gesamte Erscheinungsbild der Sozialversicherung ab und beurteilt neue sozialversicherungsrechtliche Regelungen oder gar Formen anhand der charakteristischen Wertungen dieses Normenkomplexes. Zweifel an der Interpretation des verfassungsgerichtlichen Gattungsbegriffs als rechtsmethodischen Typusbegriff ergeben sich jedoch angesichts der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Einteilung der sozialversicherungsrechtlichen Typusmerkmale in konstitutive und lediglich indizielle.67 Butzer hält diese tatsächliche Vorgehensweise bzw. Zuordnungstechnik des Bundesverfassungsgerichts für eigentlich nicht vereinbar mit einer rein typologischen Betrachtungsweise.68 Das Gericht vergleiche nicht, sondern subsumiere neue Regelungen unter ein obligatorisches, konstitutives Minimum von Einzelmerkmalen. Im Ergebnis bestätigt Butzer aber das verfassungsgerichtliche Typusverständnis des Sozialversicherungsbegriffs. Kritik an der methodologischen Einordnung des Kompetenzbegriffs Sozialversicherung als Typus übt auch Schenkel. In seiner Ungenauigkeit und der Vermischung von Wirklichkeit und Norm eigne sich ein Typus nicht dazu, ein klares Kompetenzgefüge zu etablieren.69 Zimmermann meint, „hinsichtlich des Terminus Sozialversicherung“ sollte „eine Begriffsbildung gewagt werden, anstatt ihn nur im Sinne der Typuslehre typologisch zu beschreiben“.70 Zimmermann gibt zu bedenken, dass es „Begriffe unterschiedlichster Abstraktionsstufen und damit unterschiedlicher inhaltlicher Weite gibt“, sodass sich die Frage stelle, „ob es nicht zur begrifflichen Beschreibung des vermeintlich als Typus angesehenen Gegenstandes ausreicht, das den leitenden Wertgesichtspunkt bzw. den festen Wesenskern des Typus Ausmachende begrifflich zu erfassen, so daß man einen relativ weiten, nur seiner Struktur oder Gattung nach bestimmten Begriff erhielte, unter den alles fällt, was das konstituierende Element des vermeintlichen Typus, nämlich dessen leitender Wertungsgesichtspunkt bzw. dessen Wesenskern aufweist“.71 Im Ergebnis spricht Zimmermann von dem Begriff der Sozialversicherung, der trotz seiner „relativ starren Fixierung auf seine Begriffsmerkmale hinreichend weit und interpretationsoffen“ sei, und „mittels vor allem der aus dem sozialen Charakter der Sozialversicherung 65

Zum Begriff des Strukturtypus, dem der Begriff des normativen Realtypus gegenüber gestellt wird, siehe Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 544 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 354 ff., 465 f. 66 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 45; Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 201. 67 Siehe im Folgenden unter B. 68 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 171 ff. 69 Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 23 ff. 70 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 486 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 71 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 97 f. (Hervorhebungen aus dem Originaltext).

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

hergeleiteten Begriffsmerkmale“ im Grunde das beschreibe, „was die Typuslehre als den für den Typus einheitsstiftenden und konstituierenden leitenden Wertgesichtspunkt oder festen Wesenskern von Sozialversicherung ihrerseits starr erfassen müßte“.72 „Die Hinzunahme oder Bildung von Typusmerkmalen“ vermittele, so Zimmermann weiter, „keinen erhöhten Erkenntniswert gegenüber der Bildung von Begriffsmerkmalen“. Vor diesem Hintergrund erscheint die methodologische Einordnung von Sozialversicherung als Typus oder Begriff zweitrangig und kann für die Zwecke dieser Arbeit dahin gestellt bleiben. Festzuhalten ist, dass Sozialversicherung kein eindeutiger und definierbarer Begriff ist. Das Phänomen Sozialversicherung ist aber durch den es kennzeichnenden Wesenskern und Begriffsmerkmale einer näheren Betrachtung zugänglich.

B. Wesensbestimmende Merkmale der Sozialversicherung Das Bundesverfassungsgericht benennt und umschreibt im Zuge der historischen Auslegung des Gattungsbegriffs Sozialversicherung zum einen Merkmale und Regelungsstrukturen, die für eine Zuordnung unverzichtbar vorliegen müssen.73 Zum anderen zählt das Bundesverfassungsgericht weitere Merkmale auf, die ebenfalls als typische Wesenselemente das Bild von Sozialversicherung geprägt haben und prägen, denen aber keine konstitutive Bedeutung zukommt. Sie dienen jedoch bei dem Abgleich neuer Normkomplexe mit dem bestehenden Begriff Sozialversicherung als entscheidungserhebliche Indizien. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vergleichbare, detaillierte Untersuchungen oder wesentlich abweichende Erkenntnisse zur Bestimmung des Sozialversicherungsbegriffs und seiner wesentlichen Merkmale lassen sich in der Literatur kaum finden. Zu lesen sind pauschale Beschreibungen wie beispielsweise Sozialversicherung sei eine eigenständige Form sozialer Sicherung, „in der Elemente der Versicherung und Versorgung, gelegentlich auch der Fürsorge, aufs engste und … unlöslich miteinander verflochten sind“74 oder Sozialversicherung sei „ein Vorsorgesystem, welches auf Beiträgen beruht, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis mit der Anwartschaft auf die Versicherungsleistung stehen“75. Häufig aber werden die verfassungsgerichtlichen Ausführungen zu den Wesensmerkmalen des Sozialversicherungsbegriffs übernommen und weitergehenden Untersuchungen zugrunde

72 Zu diesem und zum folgenden Zitat siehe Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 272 f. (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 73 BVerfGE 11, 105 (112 f.); 62, 354 (366); 63, 1 (35); 75, 108 (146 ff.); 81, 156 (185); 87, 1 (34); 88, 203 (313); vgl. auch H. Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 580 f. 74 W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 141. 75 Schwerdtfeger, SGb 1975, 349 (352).

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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gelegt.76 Isensee erkannte – ebenso wie das Bundesverfassungsgericht – einen festen Wesenskern der Kompetenzmaterie Sozialversicherung und charakterisierte ihn als „Grundbestand von Prinzipien, welche die Identität der Kompetenzmaterie ausmachen“77. Nach Butzer lässt sich der Begriff Sozialversicherung – hergeleitet auf der Grundlage der verfassungsgerichtlichen Aussagen – zusammenfassend „kennzeichnen als eine auf Geldleistungen, aber auch auf Sach- oder Dienstleistungen gerichtete Versicherung vorwiegend von Arbeitnehmern gegen allgemeine Lebensrisiken bei öffentlich-rechtlichen Versicherungsträgern, weithin mit Versicherungszwang, und – zu Zwecken sozialen Ausgleichs – mit Umverteilung zugunsten wirtschaftlich Schwächerer, finanziert entweder durch Sozialversicherungsbeiträge, die in der Regel von den Versicherten und ihren Arbeitgebern sowie sonstigen Beteiligten aufgebracht werden, oder durch Staatszuschüsse“.78 Rolfs hält zwar die verfassungsgerichtliche Einordnung des Sozialversicherungsbegriffs als verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff für wenig hilfreich, untersucht aber im Wesentlichen die vom Bundesverfassungsgericht für die Sozialversicherung als typisch charakterisierten Strukturmerkmale.79 Vor diesem Hintergrund orientiert sich die nachfolgende Analyse der sozialversicherungsrechtlichen Strukturmerkmale in erster Linie an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. I. Versicherungscharakter Zur Beschreibung des Gesamtsystems Sozialversicherung in seinen wesentlichen Elementen verweist das Bundesverfassungsgericht zunächst auf die grundsätzlichen Ausführungen des Bundessozialgerichts über das Wesen80 der Sozialversicherung.81 Danach gehöre „hierzu jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“. Die Sozialversicherung soll einen versicherungsmäßigen Risikoausgleich 76

So bei Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 199 f.; Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 113 ff.; vgl. auch Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 170 ff.; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 105; Stettner, in: Dreier, GG II, Art. 74 Rn. 67. 77 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 45, unter Hinweis auf BVerfGE 23, 12 (23); zustimmend Leisner, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, S.83. 78 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 175; in Anlehnung an Möller, SGb 1970, 81 (82). 79 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 101 ff. 80 Nach verbreiteter Ansicht soll es ein Wesen von Sozialversicherung nicht geben, da sie ihr inneres System und ihre Gestalt erst im Zuge der einfachen Gesetzgebung erlange; vgl. W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 24 ff.; Jahn, Allgemeine Sozialversicherungslehre, S. 5 ff. Ungeachtet dessen scheinen sich das Verständnis eines Typusbegriffs mit dem Bemühen, das Wesen von Sozialversicherung zu ermitteln, zu decken. 81 In BVerfGE 11, 105 (113) wird Bezug genommen auf BSGE 6, 213 (218, 227 f.).

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

gewährleisten.82 Von elementarer Bedeutung ist der darin zum Ausdruck kommende Vorsorgecharakter. Sozialversicherung bedeutet die Vorsorge des Einzelnen zur Absicherung bestimmter Risiken bzw. zur Deckung eines eventuellen künftigen Bedarfs durch Bildung einer Risikogemeinschaft. Der dabei vorausgesetzte und zu deckende Bedarf wurde ursprünglich in Notlagen gesehen, die typisch für wirtschaftlich und sozial schwache Bevölkerungskreise waren.83 Gesellschaftliche Veränderungen unter anderem durch Krieg und Inflation führten dazu, den versicherten Personenkreis auszuweiten und den „Ausgleich der durch die moderne gesellschaftliche Entwicklung entstehenden Belastungen“84 anzustreben. Später formulierte das Bundesverfassungsgericht: der Bedarf bzw. die abzudeckenden Risiken müssten „dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist“.85 Der Schutz vor individuellen Notlagen bleibt daher zwar typisches aber nicht essenzielles Merkmal der Sozialversicherung. II. Solidarprinzip In diesem Zusammenhang sieht das Bundesverfassungsgericht ein weiteres, prägendes und konstitutives Element des Begriffs Sozialversicherung in dem sozialen Bedürfnis nach einem Ausgleich besonderer Lasten86 – hier bezeichnet als Solidarprinzip.87 Sozialversicherung sei in Abgrenzung zum reinen Prinzip des versicherungsmäßigen Ausgleichs wesentlich durch den sozialen Lastenausgleich bestimmt.88 Ebenso erklärt das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung, 82

BVerfGE 17, 1 (9); 28, 324 (348 f.); 40,121 (136); 67, 231 (237). BVerfGE 11, 105 (112 f.). 84 BVerfGE 11, 105 (113). 85 BVerfGE 75, 108 (146) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 86 In BVerfGE 17, 1 (9) heißt es: „Der versicherungsmäßige Risikoausgleich wird in der Sozialversicherung mit einem sozialen Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft verbunden; … Gerade dieser soziale Ausgleich prägt den Charakter der Sozialversicherung“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). Dabei nimmt das Bundesverfassungsgericht Bezug auf seine früheren Entscheidungen in BVerfGE 9, 124 (133: „Sozialversicherungsrecht ist Recht der Fürsorge im weiteren Sinne“); BVerfGE 10, 141 (166); 11, 105 (114: Sozialversicherung „enthält von jeher auch ein Stück staatlicher Fürsorge“; 117: in der Sozialversicherung „herrscht der Grundsatz sozialen Ausgleichs“). Nach BVerfGE 28, 324 (348) ist die Sozialversicherung ein „besonders prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips“. BVerfGE 62, 354 (366: „auf dem Gedanken der Solidargemeinschaft beruhenden … Sozialversicherung“); 63, 1 (35); 75, 108 (146); 88, 203 (313). 87 Siehe ausführliche Untersuchungen sowohl des zuvor angesprochenen Versicherungsals auch des Solidarprinzips in den folgenden Kapiteln. 88 BVerfGE 21, 362 (378); in BVerfGE 39, 316 (330) wird formuliert „Die deutsche Sozialversicherung, namentlich die Rentenversicherung, beruht seit alters nicht allein auf dem Versicherungsprinzip, sondern enthält eine starke soziale Komponente (…). Die versicherungsfremden Prinzipien der Fürsorge und des sozialen Ausgleichs haben gerade in der Ausgestaltung des Kinderzuschusses ihren Niederschlag gefunden“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). 83

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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das Recht der Sozialversicherung werde von dem Grundsatz der Solidarität der Arbeitnehmer, die kraft Gesetzes zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen sind, beherrscht.89 Die Versichertengemeinschaft sei gleichsam eine Solidargemeinschaft, in der wirtschaftlich Leistungsfähige auch für das versicherte Risiko der wirtschaftlich Schwächeren mit einstehen. III. Organisation durch selbstständige Träger Gleichermaßen unverzichtbar für die Annahme der Kompetenzmaterie Sozialversicherung ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die „Art und Weise, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird“.90 Sozialversicherung wird seit jeher nicht vom Staat, sondern von selbstständigen Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, den Sozialversicherungsträgern, in mittelbarer Staatsverwaltung durchgeführt.91 Art. 87 Abs. 2 GG unterscheidet insofern länderübergreifende Sozialversicherungsträger, die als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt werden, von Sozialversicherungsträgern, deren Zuständigkeitsbereich sich nicht auf mehr als drei Bundesländer bezieht, und die daher als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts der Aufsicht eines einvernehmlich zu bestimmenden Landes unterliegen. Eine Bestandsgarantie ist den einzelnen Sozialversicherungsträgern jedoch weder im Zuge der Kompetenzmaterie nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG noch mit Art. 87 Abs. 2 GG verliehen. IV. Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge Zu den primären und unabdingbaren Regelungsstrukturen der Kompetenzmaterie gehört nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch die Finanzierungsweise

89 In BSGE 5, 17 (20) heißt es „in der Soz.Vers. haben neben dem reinen Versicherungsgedanken auch Gesichtspunkte der Fürsorge und Versorgung Bedeutung“; ferner in BSGE 6, 213 (218) unter Bezugnahme auf W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 141, „daß die deutsche Soz.Vers. von Anbeginn an keine eigentliche Versicherung gewesen ist, sie ist vielmehr ihrer Rechtsform nach eine Sicherung eigener Art, in der Elemente der Versicherung und Versorgung, gelegentlich der Fürsorge, aufs engste und … unlöslich miteinander verflochten sind“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). Siehe auch BSGE 11, 243 (247: „dem das Recht der Soz.Vers. beherrschenden Grundsatz der Solidarität“); 14, 185 (191); 20, 123 (127); 24, 285 (289); 32, 13 (15); 37, 240 (241); 40, 208 (209); 43, 255 (266); 44, 142 (144); 49, 22 (28: „das im Sozialversicherungsrecht vorherrschende Prinzip der Solidargemeinschaft“); 49, 247 (248); 58, 218 (222); 59, 69 (71: „Die gesetzlichen Sozialversicherungen sind Solidargemeinschaften auf Dauer“). 90 BVerfGE 11, 105 (113); 62, 354 (366); 63, 1 (35); 75, 108 (146); 87, 1 (34); 88, 203 (313). Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 118: „Die organisatorische Bewältigung kann daher stets nur zusätzliches, niemals aber alleinstehendes Merkmal für die Verfassungsmäßigkeit einer Einbeziehung neuer Aufgaben in die Sozialversicherung sein.“ 91 Siehe aktuell § 29 SGB IV.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

der Sozialversicherung durch Beiträge der Beteiligten.92 Wichtig ist dabei eine strikte Trennung von den allgemeinen Staatsfinanzen.93 Dies gilt insbesondere in Abgrenzung zu Leistungen sozialer Hilfe, die aus Gründen der Bedürftigkeit oder Versorgung des Leistungsempfängers ohne seine finanzielle Beteiligung erbracht werden. Unschädlich – gar typisch – sind hierbei staatliche Zuschüsse, die nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG vom Bund zu tragen sind.94 Die Bezeichnung Beteiligte eröffnet die Möglichkeit, Dritte, die nicht vom Versicherungsschutz erfasst sind, in die Finanzierungslast mit einzubeziehen. Zur Heranziehung nicht versicherter Dritter als Beteiligte bedarf es eines sachorientierten Anknüpfungspunktes in den Beziehungen zwischen Versicherten und Beitragspflichtigen. Dieser Anknüpfungspunkt ist typischerweise das Arbeitsverhältnis, aber auch eine „in der Lebenswirklichkeit bestehende wechselseitige Angewiesenheit“ oder die zwischen Versicherten und Beitragspflichtigen „feststellbaren integrierten Arbeits- und auch Verantwortlichkeitszusammenhängen“.95 V. Indizien: Arbeitnehmerversicherung für Notlagen Als lediglich indiziell und nicht konstitutiv für den Begriff Sozialversicherung sieht das Bundesverfassungsgericht die Beschränkung der Versichertengemeinschaft auf Arbeitnehmer an.96 Grundsätzlich sind Sozialversicherte diejenigen, die unselbstständig beschäftigt sind. Das ist typisches, aber nicht notwendiges Begriffsmerkmal. Auch zähle – so das Bundesverfassungsgericht weiter – die Verknüpfung des Bedarfs bzw. der abzudeckenden Risiken an eine für Arbeiter oder Geringverdienende typische Notlage nicht – wie ursprünglich – zu den wesentlichen Merkmalen der Sozialversicherung. Die Sozialversicherung dient aber nicht einem beliebigen Bedarf, sondern einem solchen, der dem Bild der sonstigen Risiken entspricht, die durch die klassischen Zweige der Sozialversicherung abgedeckt sind.97 92 BVerfGE 11, 105 (113); 14, 312 (318); 62, 354 (366); 63, 1 (35); 75, 108 (146); 81, 156 (185); 87, 1 (34); 88, 203 (313); 89, 132 (144); 99, 202 (212). 93 BVerfGE 75, 108 (148); Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 120. 94 BVerfGE 76, 256 (301, 307). Siehe auch in diesem Abschnitt unter VII. 95 BVerfGE 75, 108 (147, 149). Siehe hierzu ausführlich im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 5. 96 BVerfGE 10, 354 (368 f.); 11, 105 [113: „Schon die klassischen Zweige der Sozialversicherung umfaßten jetzt auch Arbeitnehmer mit höherem Einkommen und Selbständige. Die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine Notlage gehört also nicht zum Wesen der Sozialversicherung.“ (Hervorhebung aus dem Originaltext)]; 18, 38 (46); 25, 314 (321); 28, 324 (348: Die Sozialversicherung beschränke „sich längst nicht mehr auf die Abwehr ausgesprochener Notlagen und die Vorsorge für die sozial schwächsten Bevölkerungskreise“.); 29, 221 (242 ff.); 63, 1 (35 f.); 75, 108 (146). 97 BVerfGE 75, 108 (146); 88, 203 (313). Das Vorliegen dieses Merkmals wurde insbesondere im Zusammenhang mit der Einführung der Pflegeversicherung durch das PflegeVG vom 26. 5. 1994 (BGBl. I., S. 1014) kontrovers diskutiert. Gegner der sozialversicherungsrechtlichen Lösung argumentierten, dem Pflegebedürftigkeitsrisiko fehle der Allgemeincharakter, da lediglich eine Bevölkerungsgruppe, nämlich die ältere Generation, betroffen sei. Nachweise bei Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 68 Fn. 133.

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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Sozialversicherungsrechtlich zu schützende Lebenssachverhalte müssen mit den herkömmlichen Risiken (Krankheit, Unfall, Alter, Tod, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit) nach Art und Bedeutung vergleichbar sein, um ein soziales Bedürfnis nach Ausgleich dieser Lasten anzunehmen.98 Die sozialversicherten Risiken sind begründet durch die Wechselfälle des Lebens99, denen wirtschaftlich und sozial schwache Bevölkerungsteile nicht Herr zu werden vermochten. Rolfs zeigt hierzu die Entwicklung von der historisch engen Verknüpfung der sozialversicherten Risiken mit dem Lohnarbeiterstatus und den typischen Beeinträchtigungen der Arbeitskraft hin zu einem weiter gefassten Verständnis und dem damit verbundenen schwindenden Bezug zum Arbeitsleben.100 VI. Indiz: Zwangsversicherungscharakter Nicht aufgegeben hat das Bundesverfassungsgericht damit aber das Kriterium der Schutzbedürftigkeit, das weniger für die Bestimmung der Kompetenzmaterie als für die Frage der Rechtfertigung der Zwangsmitgliedschaft von Bedeutung ist. Vor dem Hintergrund der entstehungsgeschichtlichen Aufgabenstellung101 der Arbeiterversicherung wurde die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten, insbesondere zur abhängigen Arbeiterschaft und zum Kreis geringverdienender Angestellter, lange mit dem Kriterium der Schutzbedürftigkeit gleichgesetzt.102 Anfang der 1950er Jahre setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass Schutzbedürftigkeit nicht an die Form der Beschäftigung gebunden ist, vielmehr auch Selbstständige einer notleidenden, sozial schutzbedürftigen Bevölkerungsschicht angehören können.103 Die 98

In diesem Zusammenhang meint Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 117: „Deshalb wäre der Gesetzgeber schon aus kompetenziellen Gründen gehindert, medizinisch nicht indizierte Schönheitsoperationen, Schlankheitskuren oder Badereisen als Krankenversicherungsleistungen anzubieten.“ 99 BVerfGE 18, 257 (270); Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 25. 100 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 102 ff. 101 Historisch gesehen sollte mithilfe der Sozialversicherung bestimmten sozialen Gruppen, speziell den Lohnarbeitern in Industrie und Handwerk, sowie den kleinen Angestellten und sozial schwachen arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen in Notlagen, die durch Krankheit und Unfall entstanden, geholfen werden und die Überwindung dieser Notlagen ermöglicht werden. Siehe Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, S. 23. Über die Motive der Sozialversicherungsgesetzgebung mehr bei Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, S. 122 ff.; Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England, Entstehung und Grundzüge im Vergleich, S. 28 ff.; Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, 1951. Jedoch sah bereits § 4 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. 6. 1883 (RGBl. S.73) die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung von z. B. Arbeitern in Land- und Forstwirtschaft und Hausgewerbetreibenden vor. 102 Dies wird in BVerfGE 10, 354 (368 f.); 11, 105 (112); 14, 288 (288); 25, 314 (321 f.) auch noch deutlich. 103 Siehe hierzu auch Ausführungen im vorherigen Kapitel. Selbstständige Lehrer, Erzieher und Musiker, Hebammen, Pflegepersonen, Artisten, Küstenschiffer, Küstenfischer und die

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Beschränkung der Sozialversicherung auf eine Notlagen-Versicherung für die sozial schwachen Personenkreise der Arbeiter und Angestellten wurde somit aufgehoben.104 Damit ging auch ein verändertes Verständnis von Sozialversicherung einher.105 Alleiniges Ziel ist hiernach nicht mehr, die Notlage gewisser Bevölkerungskreise zu lindern und damit das Existenzminimum zu sichern, sondern darüber hinaus die erworbene gesellschaftliche Stellung des Versicherten zu erhalten. Des Weiteren muss der Sozialversicherung nicht unbedingt der für sie typische Charakter einer Zwangsversicherung zukommen.106 Der Zwangsversicherungscharakter – durchbrochen durch die Möglichkeit, sich der Sozialversicherung freiwillig anzuschließen oder sie freiwillig fortzusetzen107 – zeigt sich in der automatischen Entstehung eines Sozialversicherungsverhältnisses bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen. So begründet beispielsweise allein die Aufnahme einer nicht selbstständigen Arbeit die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der Sozialversichertengemeinschaft ungeachtet seines eigenen Willens.108 Der Zwangsversicherungscharakter – als Gegensatz zu dem das Privatversicherungsrecht bestimmenden Grundsatz der Vertragsabschlussfreiheit – wurzelte in den Anfangsjahren in der Annahme, dass von abhängigen und vermögenslosen Lohnarbeitern eine eigenständige, freiwillige Vorsorge nicht zu erwarten sei. Zum Schutz des Kollektivinteresses wurde daher mithilfe der Versicherungspflicht verhindert, dass Schutzbedürftige auf das Ausbleiben des Versicherungsfalls sowie notfalls auf das Eintreten der staatlichen Gemeinschaft im Wege der steuerfinanzierten Sozialhilfe Handwerker – als größte selbstständige Berufsgruppe – waren bereits in die Sozialversicherung einbezogen. Der pflichtversicherte Personenkreis wurde nach Einführung des Grundgesetzes weiter ausgebaut, vgl. insgesamt Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, S. 23 f., 102 ff., 365 ff. 104 Beispielsweise wurden mit dem Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte vom 27. 7. 1957 (BGBl. I, S. 1063) und mit dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. 8. 1972 (BGBl. I, S. 1433) neue Zweige der Sozialversicherung geschaffen. Siehe zur Alterssicherung der Landwirte BVerfGE 25, 314 (321 f.); BSGE 23, 37 (39). Zur Einführung der Künstlersozialversicherung mit dem Gesetz über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten vom 27. 7. 1981 (BGBl. I, S. 705) siehe BVerfGE 75, 108 (146 ff.). Zur Aufhebung der Jahresarbeitsentgeltgrenze in der Rentenversicherung der Angestellten, BVerfGE 29, 221 (241 ff.). Zum Einbezug der höherverdienenden Angestellten der Seeschifffahrt in die Arbeitslosenversicherung, BVerfGE 18, 38 (46). Im Jahr 1987 erklärt das Bundesverfassungsgericht: „in der gesetzlichen Rentenversicherung sind die unterschiedlichsten Personengruppen versichert, nämlich z. B. abhängig Beschäftigte, Selbständige, Ledige, Verheiratete, und zwar mit und ohne Kinder, Jüngere und Ältere, dazu eine Vielfalt von Berufsgruppen mit den unterschiedlichsten Risiken.“ BVerfGE 76, 256 (305). Vgl. § 2 SGB VI. 105 Jantz, Strukturprinzipien der sozialen Sicherung in der Gegenwart, S. 3. 106 BVerfGE 14, 288 (288 f.); 18, 257 (258: Die Sozialversicherung „ist im Wesentlichen eine Pflichtversicherung“.); 29, 221 (238 ff.). 107 Bereits das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. 6. 1883 (RGBl. S.73) sah – wie oben erwähnt – die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung vor. Heute in § 2 Abs. 1 SGB IV i. V. m. § 9 SGB V, § 7 SGB VI, § 6 SGB VII, auch § 28a SGB III. 108 Siehe § 24 Abs. 1 SGB III, 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 1 SGB VI, § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, i. V. m. § 7 SGB IV.

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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vertrauen. Hinzu kam die Einsicht, dass ein sozialer Ausgleich zwischen Versicherten bzw. ein Einstehen der Leistungsstärkeren für Leistungsschwächere nur mithilfe eines Versicherungszwangs erreicht werden kann.109 In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer solchen Zwangsmitgliedschaft auf, da diese in grundrechtlich geschützte Freiheiten110 des Versicherten eingreift. Die insoweit erforderliche Prüfung, ob der Gesetzgeber nicht ein anderes, ebenso wirksames und zielführendes Mittel hätte wählen können, das die Freiheiten des jeweils betroffenen Zwangsversicherten weniger einschränken würde, führt an dieser Stelle jedoch zu weit und muss hier dahinstehen. Zurückkommend auf die kompetenzielle Bestimmung des Begriffs Sozialversicherung mithilfe des Merkmals der Zwangsversicherung erweist sich der zwar typische, aber dennoch nicht konstitutive Charakter dieses Merkmals zudem darin, dass er auch der Privatversicherung, z. B. bestimmten Berufshaftpflichtversicherungen oder der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, nicht fremd ist. VII. Indizien: Bundeszuschüsse, Arbeitgeberbeteiligung, Leistungsspektrum Auch die Gewährung von Zuschüssen zur Sozialversicherung stuft das Bundesverfassungsgericht als typisch, nicht jedoch als unabdingbar ein.111 Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG regelt insofern, dass Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung vom Bund zu tragen sind. Staatliche finanzielle Zuwendungen betreffen insbesondere die Renten- und Arbeitslosenversicherung. Entgegen einiger Stimmen in der Literatur kann hierbei jedoch nicht von einem sozialversicherungszweigübergreifenden, für die Kompetenzmaterie Sozialversicherung konstitutiven Merkmal gesprochen werden.112 Zu unterschiedlich sind die staatlichen Zuschüsse in den einzelnen Versicherungszweigen ausgestaltet.113 Gleichsam als indizielle Merkmale der Sozialversicherung – wenn auch vom Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich benannt – gelten die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung114 sowie ein umfassendes Leistungsspektrum115,

109

Schulin, ZVersWiss 1994, 29 (32). Betroffen ist hier zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. hierzu Sodan, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 101 ff. 111 BVerfGE 76, 256 (301, 307). 112 Angedeutet bei W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 27, 53; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, S. 17. 113 So auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 307 ff.; Kranz, Die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung, S. 47 ff. 114 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 315. 115 Beispielsweise richtet sich der Umfang der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen ausschließlich nach dem krankheitsbedingten Versorgungsbedarf des Versicherten (§ 27 Abs. 1 SGB V). 110

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

welches nicht nur Geldleistungen, sondern auch Sach- und Dienstleistungen116 vorsieht. Gleichwohl leistet die Sozialversicherung keinen vollständigen Ausgleich der durch die Realisierung der versicherten Risiken eingetretenen materiellen oder immateriellen Schäden.117

C. Systematische Auslegung der Kompetenzzuweisung Der verfassungsgerichtlichen, historischen Perspektive der Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist aus rechtsmethodischen Gründen eine – zumindest knappe – systematische Untersuchung der Kompetenzmaterie Sozialversicherung anzufügen. Schon die Bezeichnung Sozialversicherung bestätigt ein soziales Element sowie den Versicherungscharakter als wesentliche Merkmale der Kompetenzmaterie. Art. 74 Abs. 1 GG beinhaltet neben der Sozialversicherung auch die öffentliche Fürsorge (Nr. 7) und die Versorgung (Nr. 10) als Kompetenzbereiche, die öffentlich-rechtliche Sicherungsformen zum Gegenstand haben. Ein Normkomplex muss also entweder der einen oder der anderen Sicherungsform zuzuordnen sein. Anders als die Leistungen der öffentlichen Fürsorge oder Versorgung wird die Sozialversicherung durch Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber getragen und nicht vollständig durch Steuermittel finanziert. Dabei stehen die sozialversicherungsrechtlichen Leistungen in einem versicherungsmäßigen Gegenseitigkeitsverhältnis zur Beitragsleistung. In diesem Zusammenhang wird teilweise gefordert, dass das sozialversicherungsrechtliche Leistungsniveau oberhalb desjenigen der öffentlichen Fürsorgeleistungen liegen müsse.118 Angesichts der Beitragszahlung des sozialversicherten Leistungsempfängers bestünde eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn derjenige, der gezwungen wurde, langjährig in ein Versorgungssystem einzuzahlen, lediglich Leistungen erhielte, die er auch ohne Beitragszahlung im allgemeinen Sozialhilfesystem erhielte.119 Demzufolge müssten sozialversicherungsrechtliche Leistungen über dem Niveau der fürsorgerischen Grundsicherung liegen.120 In jedem Fall dürften sie im Unterschied zur Sozialhilfeleistung nicht von der Bedürftigkeit des Leis116 Im Krankenversicherungsrecht gilt das Naturalleistungs- bzw. Sachleistungsprinzip (§ 2 Abs. 2 SGB V). Dementsprechend erhalten Versicherte die Krankenbehandlungsleistungen als Dienst- und Sachleistung, bzw. Naturalleistung und entrichten grundsätzlich keine Vergütung an die behandelnden Ärzte und die übrigen Leistungserbringer. Siehe hierzu auch im 2. Teil, Kapitel 2, C. III. 117 Beispielweise beträgt das Krankengeld 70 % des regelmäßig erzielten Arbeitseinkommens, § 47 SGB V; das Verletztengeld in der gesetzlichen Unfallversicherung 80 %, § 47 SGB VII; das Arbeitslosengeld je nach Familienstand 60 % oder 67 % des um die gesetzlichen Abzüge geminderten Arbeitsentgelts, § 129 SGB III. 118 Ruland, DRV 1986, 13 (19); Bieback, VSSR 2003, 1 (16). 119 Bieback, Verfassungsrechtlicher Schutz gegen Abbau und Umstrukturierung von Sozialleistungen, S. 35. 120 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 240 ff.; Stober, SGb 1989, 53 (61) m. w. N.

Kap. 2: Gesetzliche Krankenversicherung als Sozialversicherung

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tungsempfängers abhängig gemacht werden.121 Nach Schräder besteht aber, solange die Leistungen einen ausreichenden Versicherungsschutz böten, „kein darüber hinausgehender, aus der Kompetenznorm abgeleiteter Anspruch“.122 Dies zeige auch der sozialhilferechtliche Verweis auf den Leistungsumfang des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts (vgl. § 48 SGB XII). Unabhängig von der Frage, inwieweit der allgemeine Gleichheitssatz sowie das Verhältnismäßigkeitsgebot ein bestimmtes Leistungsniveau zwingend vorgeben würden, erklärt Schräder zu Recht, dass sich solche Vorgaben jedenfalls nicht aus kompetenzrechtlicher Sicht ergäben. Abgrenzungskriterien – und damit aus systematischer Betrachtung wesentlicher Begriffsinhalt der Kompetenzmaterie Sozialversicherung – sind zumindest die Beitragsfinanzierung der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen und der in diesem Gegenseitigkeitsverhältnis manifestierte Versicherungscharakter. Hinzu kommt im Unterschied zum Regelungsbereich des privatrechtlichen Versicherungswesens, der ebenfalls in Art. 74 Abs. 1 GG gesondert aufgeführt ist (Nr. 11), das für die Sozialversicherung spezifische Solidarprinzip. Das Solidarprinzip führt unter anderem zur Ausrichtung der Versicherungsbeiträge an der Leistungsfähigkeit des Versicherten und nicht an dem individuellen Risiko des Versicherten, das ausschlaggebend für die Bemessung der Prämien für Privatversicherungen ist. Auch die Frage, ob der Versicherungsträger öffentlich-rechtlich errichtet oder ein privates Versicherungsunternehmen ist, kann zur Abgrenzung der Sozialversicherung von der privaten Versicherungswirtschaft herangezogen werden, ist aber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hierfür nicht entscheidend.123 Im Ergebnis entspricht der sich aus systematischer Betrachtung ergebende Wesensgehalt von Sozialversicherung dem vom Bundesverfassungsgericht aus dem historischen Erscheinungsbild des Begriffs Sozialversicherung herausgebildeten Wesenskern.

D. Zusammenfassung Einen eindeutigen, definierbaren Begriff Sozialversicherung gibt es nicht. Das Phänomen Sozialversicherung kann aber mithilfe der es kennzeichnenden Wesensmerkmale genauer beschrieben werden. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind hierzu konstitutive und indizielle Wesensmerkmale aufgezeigt. Das Bundesverfassungsgericht interpretiert hierbei den kompetenziellen Sozialversicherungsbegriff aus historischer Perspektive und legt dabei das klassische Erscheinungsbild, das schon bei Schaffung des Grundgesetzes vorlag, zugrunde. Als obligatorisch für die Annahme der Kompetenzmaterie Sozialversicherung gelten folgende Merkmale: • Versicherungscharakter, 121 122 123

Bieback, VSSR 2003, 1 (16). Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 58. BVerfGE 41, 205 (218 ff.); 103, 197 (216).

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

• Solidarprinzip, • Organisation durch selbstständige Träger, • Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge. Als lediglich indiziell sind zudem folgende für die Sozialversicherung typische Merkmale anzusehen: • Arbeitnehmerversicherung für Notlagen, • Zwangsversicherungscharakter, • Bundeszuschüsse, • Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung, • umfassendes Leistungsspektrum. In den folgenden Kapiteln werden einige dieser Wesensmerkmale der Sozialversicherung, die für den hiesigen Untersuchungsschwerpunkt von besonderer Bedeutung sind, eingehend betrachtet. Dabei gilt es, deren Manifestation und Ausgestaltung im Sozialversicherungsrecht, insbesondere im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, aufzuzeigen, um auf dieser Grundlage Vorgaben für die Frage nach der Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten zu gewinnen. Kapitel 3

Versicherungsprinzip Grundprinzipien müssen, bevor sie als Maßstab und Auslegungshilfe eines Rechtsbereichs – hier dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung als Teil des Sozialversicherungsrechts – dienen können, zunächst sorgfältig analysiert werden. Diese Notwendigkeit besteht nach Merten insbesondere im Sozialrecht, da hier die Gefahr, vorschnell auf ein Prinzip zurückzugreifen, besonders ausgeprägt sei.124 Dem wird im Folgenden Rechnung getragen.

A. Begriff und Bedeutung Die Bezeichnung Versicherungsprinzip wird uneinheitlich verwendet. Im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungsrecht wird das Versicherungsprinzip oftmals auf das Verhältnis zwischen Beitrag und Risiko verengt und mit dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip gleichgesetzt.125 Die Verwendung der 124

Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 25. So z. B. BVerfGE 79, 87 (101); 90, 226 (240); 92, 53 (71 f.). Ähnliche Beispiele aus der Literatur: Waltermann/Grohmann, SGb 1997, 97 (98); Gebler, Das Versicherungsprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 88 ff.; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 46; 125

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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Bezeichnung Versicherungsprinzip bezieht sich dabei auch auf unterschiedliche Aspekte des Äquivalenzprinzips: die Beziehung zwischen der Wahrscheinlichkeit eines Risikoeintritts bei dem einzelnen Versicherten und der von ihm zu leistenden Prämie oder seinem Beitrag oder auf das Entsprechungsverhältnis zwischen dem Wert der Beitragseinnahmen und dem Wert der in allen Versicherungsfällen zu leistenden Zahlungen. Das Äquivalenzprinzip wird an späterer Stelle betrachtet; hier sei nur verdeutlicht, dass die Bezeichnung Versicherungsprinzip in diesem Zusammenhang eher Verwirrung statt Klarheit stiftet. Als Titel dieses Kapitels ist der Begriff des Versicherungsprinzips in einem weiten Sinn zu verstehen. Umfasst sind alle Eigenarten und Charakteristika, die dem Phänomen Versicherung anhaften. Die Untersuchung des Versicherungscharakters der Sozialversicherung, speziell der gesetzlichen Krankenversicherung, wird damit auf eine breite Grundlage gestellt. I. Versicherungsbegriff Manes bemühte sich bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts um eine Definition des Versicherungsbegriffs, die sowohl für die Privat- als auch für die Sozialversicherung gelten sollte.126 Danach verstehe man unter Versicherung „auf Gegenseitigkeit beruhende wirtschaftliche Veranstaltungen zwecks Deckung zufälligen schätzbaren Vermögensbedarfs“ oder die „gegenseitige Deckung zufälligen schätzbaren Bedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften“. Diese Definition, der ein rein wirtschaftswissenschaftlicher Ansatz127 zugrunde lag, übernahm das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des grundlegenden Kindergeld-Urteils von 1960 zum Wesen der Sozialversicherung. Im Zuge eines Kettenverweises (Bundessozialgericht – W. Bogs – Manes)128 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht Versicherung als „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“. Später formulierte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise: nach dem reinen Versisiehe auch Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 71 ff.; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 163 ff. 126 Manes, Versicherungswesen, Bd. 1, S. 3 ff.; ders., Grundzüge des Versicherungswesens, S. 3, 72 ff. Die einzelnen Ausführungen Manes in chronologischer Reihenfolge zeigt Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 182 ff., auf und bietet weitere Nachweise. Dabei weist Butzer auf den Rückgriff bzw. die Anlehnung Manes an die Beschreibungen des italienischen Nationalökonoms und Versicherungswissenschaftlers Ulisse Gobbis hin. Letzterer begründete den Gedanken, die Versicherung bezwecke die Befriedigung von eventuellen Bedürfnissen, den Manes in Form des Vermögensbedarfs aufnahm. 127 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 40 f., weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es schon aus grundsätzlichen methodischen Gesichtspunkten nicht erlaubt sei, Rechtsbegriffe aus ökonomischen Bestimmungen herzuleiten. 128 Kettenverweis in BVerfGE 11, 105 (112) auf BSGE 6, 213 (227 f.) dort auf W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 24 dort auf Manes, Grundzüge des Versicherungswesens, S. 3. Nach Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 211, sei die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts weniger als eine Definition und mehr im Sinne einer Typus-Beschreibung zu verstehen.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

cherungsprinzip „soll mittels der Versicherung ein Risikoausgleich durch Zusammenfassung einer genügend großen Anzahl von Personen herbeigeführt werden, die alle von einem oder mehreren gleichartigen Risiken bedroht sind, ohne daß sich diese Risiken gleichzeitig, in jedem Fall oder im gleichen Umfang realisieren“.129 Neben Manes nahmen sich zahlreiche Verfasser130 rechtswissenschaftlicher oder wirtschaftswissenschaftlicher Literatur der Definition des Versicherungsbegriffs an. Eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Begriffsbestimmungen und Formulierungen führt für die Zwecke dieser Untersuchung des Versicherungsbegriffs jedoch zu weit, sodass hier lediglich auf entsprechende Zusammenstellungen131 verwiesen werden kann. Anknüpfend an die grundlegenden Aussagen Manes und den darin wurzelnden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich aber im Einklang mit der herrschenden privatversicherungsrechtlichen Lehre132 wesentliche Merkmale einer rechtsgebietsübergreifenden Kerndefinition des Versicherungsbegriffs ausmachen. Diese gilt es im Folgenden aufzuzeigen; von Bedeutung ist dabei auch die Frage, inwieweit ein Wesenselement konstitutiv für die Annahme einer Versicherung ist. Zunächst bedarf es eines kollektiven Elements von Versicherung, auch bezeichnet als polypersonaler Bezug. Dieser polypersonale Bezug bedeutet, dass die Beiträge aller Mitglieder der Versichertengemeinschaft in ihrer Summe der Versicherungsleistung bzw. Bedarfsdeckung im Einzelfall dienen. Das Prinzip der Versicherung beruht insofern auf dem Gesetz der großen Zahl als Grundprinzip mathematischer Wahrscheinlichkeitsberechnung, um die zu versichernden Risiken durch ihre Zusammenfassung bewerten zu können.133 Umstritten ist die Frage, worin das kollektive Versicherungselement zu sehen ist, und inwieweit dies wesentlich für die Annahme einer Versicherung ist. Im Allgemeinen wird Versicherung als Risikoausgleich zwischen den Mitgliedern einer Versichertengemeinschaft verstanden.134 Tritt der Versicherungsfall bei einem Mitglied der Versichertengemeinschaft ein, deckt die Gesamtheit der Gefahrengemeinschaft den bei dem Einzelnen entstan129

BVerfGE 76, 256 (300). Zu nennen sind z. B. Adolph Wagner, Walter Rorbeck, Werner Mahr, Karl Hax, Wilfried Schreiber, Hans Möller, Wolfgang Rüfner, Wolfgang Gitter, Helmar Bley, u. v. a. 131 Überblicke bei: Eichler, Versicherungsrecht, S. 2 ff.; Wälder, Über das Wesen der Versicherung, S. 24 ff.; Möller, ZVersWiss 1962, 269 ff.; R. Schmidt, in: Festgabe für Erich Prölss, 247 ff. Präve, in: Prölss/Kollhosser/Kölschbach u. a., VAG, § 1 Rn. 35 ff. 132 Auflistung und Hinweise nach Sieg, Allgemeines Versicherungsvertragsrecht, S. 21 ff., der insoweit die Erkenntnisse der herrschenden Lehre aufzeigt. Siehe auch Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 34 ff.; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 118. 133 Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, S. 33; Mahr, in: FS für Reimer Schmidt, 433 (438 ff.); ders., ZVersWiss 1980, 37 ff.; Schlie, ZVersWiss 1966, 53 (56); Präve, in: Prölss/ Kollhosser/Kölschbach u. a., VAG, § 1 Rn. 43; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, Vorbemerkung A. Rn. 9. 134 Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 46; Schmähl, Versicherungsprinzip, S. 1 ff.; Baumann, in: Bruck/Möller, VVG, § 1 Rn. 22 jeweils m. w. N.; Koch, Versicherungswirtschaft, S. 23. 130

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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denen Schaden. Auch die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts, wie z. B. das Wort Vielheit oder die Beschreibung der Bedarfsdeckung als gemeinsame, bringen ein kollektives Element zum Ausdruck. Das Bundesverfassungsgericht formulierte gar: „Grundgedanke der Versicherung ist somit die gemeinsame Selbsthilfe von gleichartig Gefährdeten durch ihren Zusammenschluss“.135 Manes spricht auch von zahlreichen Wirtschaften. In diesem Zusammenhang steht die sogenannte Gefahrengemeinschaftstheorie136. Danach setzt die Annahme einer Versicherung eine tatsächliche Gefahrengemeinschaft voraus, in der die Versicherten zwar nicht rechtlich, wohl aber tatsächlich miteinander verbunden seien. Versicherung sei nicht allein als Organisation bzw. als Versicherungsunternehmen – so die entgegenstehende Unternehmenstheorie137 – zu verstehen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die weitergehende Streitfrage, ob die bloße Planung, eine Vielzahl von Versicherungsverhältnissen einzugehen, ausreicht, um eine Versicherung anzunehmen, oder ob sogar eine Einzelversicherung als Versicherung qualifiziert werden kann.138 Inwieweit eine Versicherung tatsächlich eine Versichertengemeinschaft zwingend voraussetzt oder das Merkmal der Polypersonalität lediglich als versicherungstechnisches Ordnungsprinzip fungiert, bedarf hier mit Blick auf die Sozialversicherung, die ohnehin große Bevölkerungsteile umfasst, jedoch keiner weiteren Erörterung.

135 BVerfGE 76, 256 (300). Diese Darstellung ist wohl der umstrittenen Gefahrengemeinschaftstheorie (nachfolgend erläutert) zuzuordnen und begegnet erheblicher Kritik. 136 Steinbach, Die Stellung der Versicherung im Privatrechte, S. 23 f., 30 f.; Bruck, in: FS für Ernst Heymann, Bd. II, 1260 (1265 ff.); Werber, in: FS für Hans Möller, 511 (531); Eichler, Versicherungsrecht, S. 8 ff., m. w. N.; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, Vorbemerkung A. Rn. 9. Demnach ist das Bestehen einer Gefahrengemeinschaft notwendige Voraussetzung für eine Versicherung, die Bildung homogener Risikoklassen wird zu einem Wesensmerkmal der Versicherung. Kritik insbesondere hinsichtlich des damit verbundenen Konstrukts einer Selbsthilfeorganisation äußert Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S.30 ff. Versicherungen seien als Organisationen in ihrer rechtlichen Selbstständigkeit anzuerkennen. Die Gesamtveranstaltung Versicherung vollziehe sich unter der Kontrolle rechtlich selbstständiger, von den versicherten Personen abgehobener Organisationen. Es handele sich nicht um eine Einrichtung, in der sich die Gestaltungsmacht individueller Rechtssubjekte niederschlägt. Versicherung sei etwas anderes als ein Rahmen, in dem nur die Aktivität Einzelner zusammenträfe. Dazu hält Hase zahlreiche weitere Literaturnachweise vor. In Bezug auf die Sozialversicherung siehe auch in diesem Kapitel unter B. I. Fn. 172 f. 137 Bedeutendster Vertreter der Unternehmenstheorie war Vivante, ZHR 38 (1891), 451 (474). Besonderes betont wird die Tatsache, dass kein direkter Austausch zwischen den Versicherten stattfindet, sondern dass dieser immer durch eine Organisation bzw. Versicherungsunternehmen vermittelt wird. Kritik an dieser Theorie setzt in erster Linie an der einseitigen Sichtweise an, die den polypersonalen Bezug aufgrund der zugrunde liegenden Versicherungsverhältnisse nahezu ausblendet; siehe Eichler, Versicherungsrecht, S. 8; Möller, ZVersWiss 1962, 269 (271 f.) je m. w. N. 138 Siehe Darstellung bei Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 34 ff. mit Nachweisen für die jeweiligen Standpunkte.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Notwendiges Wesenselement zur Annahme einer Versicherung ist das Vorliegen einer Gefahr.139 Gemeint ist, die drohende Gefahr der Verwirklichung eines Risikos bzw. die Möglichkeit der Entstehung eines Bedarfs durch ein ungewisses Ereignis. Die Gefahr oder die Ungewissheit kann subjektiv oder objektiv gegeben sein und besteht in der Regel hinsichtlich des Ob der Risikoverwirklichung, wobei auch die Ungewissheit über das Wann oder Wie viel des potenziellen Bedarfs ausreicht.140 In engem Zusammenhang mit diesem Begriffselement steht der Grundgedanke, dass ein Einzelner regelmäßig überfordert wäre, müsste er allein für den Fall einer eventuellen Risikoverwirklichung vorsorgen, da sie weder in ihrer Häufigkeit noch in ihrer Intensität absehbar ist. Die Begriffsbestimmung von Versicherung nach Manes sieht auch die Zufälligkeit der Gefahrverwirklichung vor. Das Merkmal der Zufälligkeit der Gefahrverwirklichung wird jedoch überwiegend abgelehnt.141 Zu groß seien die sich daraus ergebenden Abgrenzungsschwierigkeiten zufälliger Versicherungseintritte, die insbesondere angesichts des Phänomens des moral hazard142 bestehen. Ebenso nicht erforderlich ist die Schätzbarkeit der Gefahr bzw. des möglichen Bedarfs,143 wie Manes und danach auch das Bundesverfassungsgericht formulierten. Eine hinreichende Begründung, warum unschätzbare Risiken nicht versichert werden könnten, sei nicht ersichtlich.144 Butzer macht in diesem Zusammenhang nicht nur auf privatversicherungsrechtliche Risiken aufmerksam, die versichert wurden, obwohl sie kalkulatorisch nicht zu erfassen sind, sondern verweist hinsichtlich des sozialversicherten Risikos der Arbeitslosigkeit auf Untersuchungen, die die fehlende

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Beispielhaft siehe: BGHZ 84, 268 (277); BVerwGE 75, 155 (159 f.); Looschelders, in: Langheid/Wandt, VVG Bd. I, § 1 Rn. 6, 13; Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, § 1 Rn. 6; Präve, in: Prölss/Kollhosser/Kölschbach u. a., VAG, § 1 Rn. 37; Baumann, in: Bruck/Möller, VVG, § 1 Rn. 20. 140 Looschelders, in: Langheid/Wandt, VVG Bd. I, § 1 Rn. 30; Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 36; Sieg, Allgemeines Versicherungsvertragsrecht, S. 21, nennt hierzu die Todesfallversicherung als Beispiel. 141 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 186; Mahr, ZVersWiss 1977, 205 (212 ff.); Möller, ZVersWiss 1962, 269 (276). Siehe auch Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 36. 142 Als moral hazard wird das risikoerhöhende Verhalten von Versicherten bezeichnet, das im Bewusstsein des eintretenden Versicherungsschutzes wurzelt. Hierzu siehe Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (579), der dieses Phänomen im Bezug auf die Sozialversicherung als „Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialversicherung entgegen den Intentionen des Systems“ erklärt. Siehe hierzu auch 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 2. 143 So schon Lindenbaum, Zeitschrift für Nationalökonomie 1931, 75 (84 f.); Mugler, ZVersWiss 1980, 71 (77); Büchner, in: FS für Hans Möller, 111 (115 f.); Innami, ZVersWiss 1966, 17 (26 ff.); Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, S. 5. 144 Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 36, verweist insofern auf versicherungstechnische Instrumente, die auch die Versicherung unschätzbarer Gefahren zuließen; dargelegt bei Schwebler, VW 1987, S. 300.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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Schätzbarkeit dieses Risikos belegen.145 Aus versicherungswissenschaftlicher Sicht gilt auch die Gleichartigkeit der Gefahren nicht als zwingendes Begriffsmerkmal von Versicherung.146 Mit der Forderung der Gleichartigkeit der versicherten Risiken soll entsprechend dem Gesetz der großen Zahl der Umfang der Gefahrenübernahme begrenzt werden. In der Realität sind absolut gleichartige Risiken aber kaum zu finden, sodass sich diese Forderung auf die Zusammenfassung möglichst homogener Gruppen von Gefahren beschränkt.147 Zwingend zur Annahme einer Versicherung ist wiederum, dass die Versicherungsleistung bzw. der Versicherungsschutz gegenleistungsabhängig ist.148 Diese Wechselseitigkeit liegt vor, wenn der Versicherte seinen Versicherungsschutz durch die Zahlung von Prämien oder Beiträgen erwirbt. Versicherter und Versicherer sind somit Parteien eines Gegenleistungsverhältnisses. Der Versicherte leistet seine Beiträge oder Prämien an den Versicherer, der ihm dafür bei Eintritt des versicherten Risikos die vereinbarten Ausgleichsleistungen gewährt. Dieses Merkmal der Entgeltlichkeit dient zur Abgrenzung von Leistungen sozialer Hilfe, die aus Gründen der Bedürftigkeit oder Versorgung des Leistungsempfängers ohne seine finanzielle Beteiligung erbracht werden. Unschädlich sind hierbei staatliche Zuschüsse, solange das Versicherungssystem in erster Linie durch Beiträge finanziert wird.149 Im Zusammenhang mit dem Wesenselement der Entgeltlichkeit oder Gegenseitigkeit der Leistungen steht der Aspekt eines versicherungstechnischen Äquivalenzverhältnisses. Grundsätzlich befinden sich Leistung und Gegenleistung in einem Äquivalenzverhältnis, wenn sie versicherungsmathematisch aufeinander abgestimmt sind. Dieses für den Bereich der Privatversicherung relevante Äquivalenzprinzip gilt jedoch nach überwiegender Ansicht der Rechtswissenschaft als nicht konstitutiv für die Annahme einer Versicherung.150 145 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 187 f., Beispiele nicht bestimmbarer, aber privatversicherter Risiken seien solche von Kernkraftwerken, Satelliten, Großtankern, Staudämmen, Veranstaltungsausfällen (Fußball-Weltmeisterschaft) oder mangelnden Besucherzahlen bei der EXPO. 146 Vgl. Sieg, Allgemeines Versicherungsvertragsrecht, S. 23; Karten, ZVersWiss 1972, 290 ff.; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, Vorbemerkung A. Rn. 10; Baumann, in: Bruck/Möller, VVG, § 1 Rn. 22; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 129. 147 Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 37. 148 BGH, VersR 1964, 497 (498); BGH, VersR 1968, 138 (138); BVerwGE 75, 155 (159 f.); BVerwG, NJW 1992, 2978 (2978); Schmidt-Rimpler, VersR 1963, 493 (504); Prölss, in: Prölss/ Martin, VVG, § 1 Rn. 13. 149 BGHZ 44, 166 (169); OLG Köln, VersR 1974, 851 (852). 150 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 133 ff., 147. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 118, zeigt m. w. N. auf, dass aus juristischer Sicht die Hineinnahme des versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips eine unzutreffende Verengung des Versicherungsbegriffs bedeute, wie auch Durchbrechungen des Äquivalenzprinzips in der Privatversicherung zeigten (als Beispiele hierzu werden Behindertentarife in der Kfz-Haftpflichtversicherung oder Basistarife der privaten Krankenversicherung genannt). Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 74 ff., zeigt auf,

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Neben dem Gegenleistungscharakter ist der Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistung ein ebenso unbedingtes Versicherungsmerkmal.151 Die Versicherungsleistung knüpft allein an das Versicherungsverhältnis und an den Eintritt des Versicherungsfalls und den dadurch entstandenen Bedarf an, ohne eine konkrete Bedürftigkeit oder fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vorauszusetzen. Weiteres Merkmal des Versicherungsbegriffs ist die Selbstständigkeit der Versicherung.152 Das bedeutet, die Gefahrtragung ist Hauptleistung und darf nicht im Verbund mit anderen Leistungspflichten zur bloßen Nebenleistung werden. Anknüpfungspunkt hierbei ist der Versicherungsvertrag, sodass dieser Aspekt des Versicherungsbegriffs im Bereich der Sozialversicherung kaum eine Rolle spielt. II. Funktion von Versicherung Für das Verständnis des Versicherungsprinzips ist neben den wesentlichen Elementen des Versicherungsbegriffs auch die Funktion von Versicherung von Bedeutung. Versicherung hat Sicherungsfunktion. Zur Frage, was Versicherung genau sichert, wurden eine Fülle von Theorieansätzen153 aufgestellt, von denen hier – für die Zwecke dieser Untersuchung – lediglich einige überblickartig aufgezeigt werden. Aufgabe von Versicherung ist der Bedarfstheorie154 zufolge, den durch die Verwirklichung der versicherten Gefahr ausgelösten Bedarf zu decken. Der wirtschaftswissenschaftliche Begriff des Bedarfs bedeutet dabei jegliche Beeinträchtigung von aktiven sowie jede Belastung mit passiven Vermögenswerten. Dieser Erklärungsansatz findet sich in der Definition des Versicherungsbegriffs bei Manes155 und dementsprechend auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialversicherung wieder. In Bezug auf die Sozialversicherung als reine Personenversicherung ist der Bedarfsbegriff verknüpft mit den sogenannten Wechseldass das Äquivalenzprinzip selbst im Bereich der Privatversicherung gar kein Rechtsprinzip ist, sondern lediglich als betriebswirtschaftliche Maxime bzw. als Versicherungstechnik dient. Siehe auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 197, 218; Bieback, VSSR 2003, 1 (31). Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 129 Fn. 20, erklärt, die versicherungsrechtliche Seite sei von der wirtschaftswissenschaftlichen Seite der versicherungstechnischen Äquivalenz zu trennen. Zum Äquivalenzprinzip und dessen Geltung im Bereich der Sozialversicherung siehe in diesem Kapitel unter B. II. 151 BVerwGE 75, 155 (159 f.); BVerwG, NJW 1992, 2978 (2978); Baumann, in: Bruck/ Möller, VVG, § 1 Rn. 25; Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, § 1 Rn. 14. 152 BVerwGE 32, 196 (198); Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 37; Präve, in: Prölss/Kollhosser/Kölschbach u. a., VAG, § 1 Rn. 44. 153 Ausführliche Darstellungen bei Wälder, Über das Wesen der Versicherung, S. 23 ff.; Krosta, Über den Begriff Versicherung, S. 32 ff. 154 Begründet durch Gobbi, Zeitschrift für Versicherungs-Recht und -Wissenschaft 1896, 465 (468 ff.); 1897, 246 (255); Hülße, ZVersWiss 1903, 539 (553); Möller, ZVersWiss 1934, 18 (43); Unna, Die Stellung und Bedeutung des Bedarfsbegriffs im Versicherungsvertrag, S. 121; Eichler, Versicherungsrecht, S. 5; Winter, Konkrete und abstrakte Bedarfsdeckung in der Sachversicherung, S. 89 m. w. N. 155 Siehe im vorherigen Abschnitt I. Fn. 127.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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fällen des Lebens.156 Die Bedarfstheorie erntete aber Kritik, da sie nicht alle Formen von Versicherungen zu erklären vermag. Bei Summen- oder Tagegeldversicherungen wird die Zahlung einer bestimmten Vermögenssumme unabhängig davon vereinbart, ob der Versicherte dieses Zuflusses tatsächlich bedarf. Auch besteht speziell bei Lebens- bzw. Todesfallversicherungen allenfalls ein Bedarf des Begünstigten, nicht aber des Versicherten. Haltbar ist dieser Erklärungsansatz nur mithilfe eines weiten Bedarfsbegriffs, der sich von der konkreten Bedürfnislage und der Person des Versicherten ablöst. Auf den Begriff des Schadens hingegen stellt die Entschädigungstheorie157 ab. Nach weiterentwickeltem Theorieverständnis läge die Funktion von Versicherung in einer eventuellen Schadensbeseitigung, wobei ein typischer Schaden ausreiche. Trotz dieses Konstruktes besteht auch bei dieser Theorie das Defizit, Lebensversicherungen oder andere Summenversicherungen nicht erfassen zu können. Eine weitere Theorie zur Sicherungsfunktion von Versicherung ist die Vermögensgestaltungstheorie.158 Versicherung hat danach die Aufgabe, die ihr zugrunde liegenden Vermögensgestaltungsziele zu sichern. Durch die Versicherung werde verhindert, dass vermögensbezogene Ziele des Versicherten durch ungewisse Ereignisse vereitelt werden. Ähnlich sieht die Plansicherungstheorie159 die Funktion von Versicherung darin, Störungen der Wirtschaftspläne des Versicherten durch planwidrige Ausgaben oder entgehende Einnahmen bei Eintreten des Versicherungsfalls auszugleichen. Die letztgenannten Theorien setzen ein aktives Moment wie Vermögensgestaltungsziele oder Wirtschaftspläne des Versicherten voraus. Das wirft die Frage auf, inwieweit sie überhaupt auf den durch Versicherungspflicht gekennzeichneten Bereich der Sozialversicherung übertragbar sind, deren Untersuchung hier jedoch zu weit führen würde. Zu erwähnen ist neben den verschiedenen Erklärungsansätzen zur Sicherungsfunktion von Versicherung auch die aus volksund betriebswirtschaftlicher Sicht bestehende Liquiditätsfunktion160 von Versicherung. Als Folge der Versicherung erübrige sich das Zurückstellen von Vermögen für den Sicherungsfall. Zudem wird eine Innovationsfunktion161 von Versicherung darin gesehen, dass infolge der Absicherung bestimmter Gefahren die Wagnisbereitschaft und Innovationsfreudigkeit steige. Nach alledem gilt es die generelle Betrachtung von Versicherung zu verlassen und sich dem speziellen Bereich der Sozialversicherung zuzuwenden. Fraglich ist 156

Siehe im vorherigen Kapitel unter B. V. Wagner, Versicherungswesen, S. 355, 359 ff.; Donati, ZVersWiss 1960, 289 (292 ff.) m. w. N. 158 Schmidt-Rimpler, in: FS für Ernst Heymann, 1211 (1247 f.); ders., VersR 1963, 493 (496, 500); ders., VersR 1964, 792 (793 f.); Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 40 ff., der auch umfassend die im Schrifttum geäußerte Kritik darstellt und zu entkräften sucht. 159 Braeß, ZVersWiss 1970, 1 (8 ff.); Farny, in: FS für Hans Möller, 201 (205 ff.); Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, § 1 Rn. 3 f. 160 Sinn, ZVersWiss 1988, 1 (3 ff.); Schwintowski, in: Honsell, VVG, § 1 Rn. 14. 161 Sinn, ZVersWiss 1988, 1 (15 ff.); Schwintowski, in: Honsell, VVG, § 1 Rn. 14 f. m. w. N. 157

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

hierbei, inwieweit Sozialversicherung als Versicherung gestaltet ist, und wie ihr Verhältnis zur Privatversicherung bestimmt werden kann, bzw. worin Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen.

B. Versicherungsqualität der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung Die Sozialversicherungen erfüllen die als begriffsnotwendig angesehenen Merkmale von Versicherung.162 Die Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung beispielsweise trägt das Risiko einer ungewissen Erkrankung und leistet bzw. gewährt einen Rechtsanspruch auf Krankenbehandlung, Heilmittel und Hilfsmittel sowie Krankengeld als Gegenleistung für die Beiträge des Versicherten. Die Versicherungsnatur der Sozialversicherungen ist heutzutage nach der Rechtsprechung und juristischen Literatur nahezu unbestritten,163 wobei der versicherungsmäßige Risikoausgleich mit einem durch das Solidarprinzip vermittelten sozialen Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft verknüpft wird.164 Das 162 So auch Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 163. 163 H. Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 299 ff.; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 100 ff.; Gitter/Schmitt, Sozialrecht, S. 33; Innami, ZVersWiss 1966, 17 (23); Steinmeyer, NZA 1998, 905 (907); Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 31 f. Anderer Ansicht sind in heutiger Zeit noch: Wertenbruch, in: FS für Georg Wannagat, 687 (696); Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, S. 58 ff., 104 ff. 121 ff. (unveröffentlichte Habilitation iuris, zit. nach Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 217); Lamping, ZSR 1997, 52 (58). Auch Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 201 f., präsentiert die die Versicherungsnatur immer noch verneinende sozialwissenschaftliche Ansicht von Lamping. Zur Begründung, dass Sozialversicherung Versicherung im Rechtssinne sei, führt Rolfs – neben den gegebenen Begriffsmerkmalen von Versicherung – die Vorschrift des § 341 Abs. 1 HGB an, mit der der Gesetzgeber dies selbst zu verstehen gegeben habe. Zum Streit um den Versicherungscharakter der Sozialversicherung siehe eingehend auch Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 32 ff. Eine aktuelle und ausführliche Darstellung des Streitstandes bietet Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 106 ff. 164 BVerfGE 10, 141 (166: „Bei der Sozialversicherung ist offenbar, daß sie nicht nach dem reinen Versicherungsprinzip gestaltet ist.“); 11, 105 (114); 14, 312 (318 f.); 17, 1 (9); 21, 362 (378); 22, 241 (253); 28, 324 (349: „die Sozialversicherung, … zwar ein wesentliches Element sozialer Fürsorge enthält, aber in ihrer Struktur mindestens ebenso stark durch die versicherungsrechtliche Komponente geprägt ist“); 39, 316 (330); 39, 169 (185 ff.); 40,121 (136); 43, 13 (23 f.); 53, 257 (290 f.); 67, 231 (237); 70,101 (111); 76, 256 (300); 79, 87 (101); 79, 223 [236: „Nach den Grundsätzen des Versicherungsrechts müssen Versicherungsleistungen und Versicherungsbeiträge aufeinander bezogen sein, in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen; das gilt auch für die Sozialversicherung, soweit das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit keine Abweichungen erfordert.“ (Hervorhebung aus dem Originaltext)]. Vgl. auch BSGE 5, 17 (20); 6, 213 (218). Für die Literatur kann angesichts der vielfachen Aussagen zu dieser Frage nur beispielhaft genannt werden: A. Richter, Privatversicherungsrecht, S. 34; Wannagat, Lehrbuch des Sozi-

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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Sozialversicherungsrecht unterliege zwar dem Versicherungsgedanken, folge ihm aber mit Blick auf das gleichermaßen im Sozialversicherungsrecht herrschende Solidarprinzip nicht in seiner Reinform. Es stellt sich daher die Frage des Mischverhältnisses der beiden Rechtsgedanken, also der Ausprägung der versicherungsmäßigen Komponente und der Gewichtung des sozialen Ausgleichselements. I. Historische Diskussion Das Zusammenspiel beider Prinzipien erschließt sich insbesondere in Anbetracht des hierzu überwiegend in der Vergangenheit geführten Theorienstreits, der an dieser Stelle knapp dargestellt wird. In den Anfängen der sozialversicherungsrechtlichen Gesetzgebung bis hin zur Weimarer Zeit war der juristische Versicherungsbegriff „nicht auf die Versicherung als Einrichtung, sondern nur auf den Versicherungsvertrag zugeschnitten“.165 Ausgehend von diesem Verständnis entwickelte sich die Theorie der sozialpolitischen Fürsorge166, nach der die Sozialversicherung gar keine Versicherung sei. Es handele sich im Rahmen der Sozialversicherung nicht um ein dem Privatversicherungsrecht vergleichbares Leistungs-Gegenleistungs-Verhältnis, das durch einen Versicherungsvertrag zustande gekommen ist. Auch berücksichtige die Beitragsbemessung nicht das einzelfallspezifische Risiko. Die Leistungserbringung bezöge sich entgegen der privatversicherungsrechtlichen Leistungserbringung zudem auf Schäden, die bei Entstehen des Sozialversicherungsverhältnisses bereits eingetreten waren oder absehbar bevorstanden. Vertreter der Theorie der sozialpolitischen Fürsorge beriefen sich auch auf die politische Zielsetzung bei Einführung der Arbeiterversicherung, die sich auf öffentliche und gesellschaftspoalversicherungsrechts, Bd. I, S. 1; Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 72, 97 f., schreibt, in der Sozialversicherung bleibt „immer noch etwas von jenem Versicherungsdenken erhalten …, welches zwischen öffentlicher und privater Versicherung eine letzte Einheit aufrechterhält“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). Gitter/Schmitt, Sozialrecht, S. 33 f., erkennt neben Elementen der Vorsorge und Fürsorge einen versicherungsrechtlichen Kern an. Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, S. 137 ff.; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 202, schreibt: „Es bleibt also dabei, daß mit der ganz herrschenden Auffassung im sozial- wie im privatversicherungsrechtlichen Schrifttum auch die Sozialversicherung als eine Veranstaltung anzusehen ist, die die rechtlichen Begriffsmerkmale einer Versicherung uneingeschränkt erfüllt“. Siehe auch m. w. N.: Eichler, Versicherungsrecht, S. 76; v. Maydell, in: FS für Karl Sieg, 367 ff.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 56 ff.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 74 Rn. 55. 165 L. Richter, Sozialversicherungsrecht, S. 1, 8 f., zit. nach Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 24 Fn. 63. Zur historischen Diskussion siehe eingehend auch Wallrabenstein, Versicherung im Sozialstaat, S. 17 ff. 166 Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1, S. 255 ff.; Rehm, Der Rechtsbegriff der Arbeiterversicherung, AöR 5 (1890), S. 529 ff.; Stier-Somlo, Recht der Arbeiterversicherung, S. 5 ff.; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 3, S. 289 ff.; Weyl, Lehrbuch des Reichsversicherungsrechts, S. 920 f.; Kaskel, in: Kaskel/Sitzler, Grundriß des sozialen Versicherungsrechts, S. 33 ff.; Schoenlank, Das Versicherungsprinzip und das Fürsorgeprinzip in der deutschen Sozialversicherung, S. 14 ff.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

litische Motive beschränkt habe und nicht primär die Interessen des Einzelnen habe schützen wollen.167 Keine Antwort findet diese Theorie allerdings zu der Frage, wie die Verbindung zwischen dem Sozialversicherungsbeitrag des Versicherten und seinem Versicherungsschutz rechtlich einzuordnen ist. Nach der entgegenstehenden Versicherungstheorie galt es hingegen, Sozialversicherung in dem Maße als echte Versicherung anzusehen, in dem die sozialversicherungsrechtlichen Regelungen anhand der Grundprinzipien der Privatversicherung verstehbar waren, sowie die Sozialversicherung zunehmend daran auszurichten.168 Diesem Theorieansatz hat W. Schreiber in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Fülle von Publikationen gewidmet.169 Die Ausrichtung der Sozialversicherungssysteme an den versicherungstechnischen Prinzipien bzw. der Versuch, die Sozialversicherungssysteme allein mit den Mitteln des Privatversicherungsrechts erklärbar zu machen, führte jedoch zu „erweiternden Interpretationen des Versicherungsprinzips, zu großzügigen Globalbewertungen und eher gewaltsamen Konstruktionen“.170 Dieses Verständnis betonte besonders die durch die Sozialversicherung erfolgende Eigenvorsorge. Die Sozialversicherung wurde darüber hinaus im Sinne einer selbsthilfe-ähnlichen Gefahrengemeinschaft bzw. einer quasi-genossenschaftlichen Organisation verstanden.171 Dem begegnet grundlegende Kritik.172 Versicherungen seien als rechtlich selbstständige Organisationen anzuerkennen; die Einzelbeziehungen zwischen den Versicherten und der Organisation bzw. dem Unternehmen müssten unterschieden werden von dem Gesamtprozess der Sicherheitsproduktion, in dem realisierte Risiken durch die Gesamtleistung einer Versichertengemeinschaft gedeckt sind. Zudem könne Sozialversicherung nicht gleichgesetzt werden mit einer Selbsthil167 Rehm, Der Rechtsbegriff der Arbeiterversicherung, AöR 5 (1890), S. 543; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 3, S. 289. 168 Köhne, ZHR 1890, 76 (128 f.); Menzel, Archiv für Bürgerliches Recht, 1889, S. 339 f. Weitere Nachweise bei Fuchs, Zivilrecht und Privatrecht, S. 48; Weyl, Lehrbuch des Reichsversicherungsrechts, S. 879. 169 W. Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1957; ders., Sozialpolitik in einer freien Welt, 1961; ders., Die deutsche Sozialversicherung im Lichte der Gegenwart, 1964; ders., Die Einrichtungen der sozialen Sicherheit und ihre gesellschaftliche Funktion, 1964; ders., Soziale Ordnungspolitik heute und morgen, 1968. Publikationen W. Schreibers aufgelistet nach Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 27 Fn. 71 dort m. w. N. sowie eingehender Betrachtung auf S. 27 ff. 170 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 28 unter Bezugnahme einiger Aussagen W. Schreibers. (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 171 W. Schreiber, Die deutsche Sozialversicherung im Lichte der Gegenwart, S. 378 ff.; 399 ff.; Haverkate, Verfassungslehre, S. 289 f.: „Die Versicherten sollten in einem genossenschaftlichen Gegenseitigkeitsverhältnis stehen.“. Ähnliches Verständnis bei Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, Rn. 279 ff.; Henneke, DÖV 1988, 768 (769). 172 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 29 f. Gegen das Verständnis der Sozialversicherung als genossenschaftliche Gefahrengemeinschaft bzw. gegen die Annahme horizontaler rechtserheblicher Verbindungen zwischen den Versicherten siehe auch: Rüfner, VVDStRL 28 (1970), 187 (198); Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 89, 125, 127; Lorenz, Gefahrengemeinschaft und Beitragsgerechtigkeit aus rechtlicher Sicht, S. 14 ff. Siehe auch Fn. 137 in diesem Teil.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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feorganisation, die eine Selbstbestimmung bzw. hohe Mitbestimmung jedes Gemeinschaftsmitglieds suggeriert. Der Sozialversicherte kann nur in ganz eingeschränktem Maße Einfluss auf sein Versicherungsverhältnis, dessen Begründung, Beendigung oder rechtliche Ausgestaltung ausüben. Die Sozialversicherten haben als Mitglieder173 zwar gewisse Teilhaberechte,174 damit sind jedoch nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten verbunden. Weder die Theorie der sozialpolitischen Fürsorge noch die Versicherungstheorie bot ein hinreichendes Verständnis von Sozialversicherung, sodass allein die Synthese ein umfassendes Bild wiedergeben kann. Bereits in den 1950er Jahren verbreitete sich eine neue Sichtweise175 von Sozialversicherung, die dem Privatversicherungsrecht das Prinzip der Versicherung entnahm und dieses durch Elemente des sozialen Ausgleichs modifizierte. Nach Wannagat ist die Sozialversicherung eine eigenständige Sicherungsform, die „gegenüber der Privatversicherung viele Eigentümlichkeiten aufweist, obwohl sie mit ihr die gemeinsame Wurzel einer echten Versicherung hat“.176 Ebenso resümiert Jahn vor dem Hintergrund der Versicherungsmerkmale und in Abgrenzung zur Gemeinschaftsvorsorge in Form der Fürsorge oder Versorgung: „Die Sozialversicherung ist demnach eine Versicherung besonderer Art“.177 Richter sieht in ihr „eine nach versicherungsrechtlichen Grundsätzen ausgerichtete eigenständige Rechtsform, die sich in ihrer Eigenart von einer reinen Versicherung, aber auch von der Versorgung und Fürsorge unterscheidet“.178 Fuchs meint unter Bezugnahme auf Bogs die Privatversicherung und die Sozialversicherung seien Rechtstypen der Versicherung.179 Knels schreibt, die Sozialversicherung sei „nicht als Gegenstück und Ergänzung zum privaten Versicherungswesen zu verstehen, sondern als staatliche Institution zur sozialen Sicherung, die nicht auf vorher bestehenden privaten Versicherungsmöglichkeiten aufbaut und sich von diesen fundamental unterscheidet“.180 Als Versicherung besonderer Qualität versteht auch Rüfner die Sozialversicherung, die einerseits an die Privatversicherung an-

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Zu den Begriffen Versicherter und Mitglied siehe Leitherer, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 19 Rn. 13 ff. 174 Mitglieder haben im Rahmen der Sozialversicherungswahlen teil an der Selbstverwaltung, §§ 45 ff. SGB IV. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 161 ff.; Leitherer, in: Schulin (Hrsg.), HSKV, § 19 Rn. 249 ff. 175 W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, S. 18 ff., 22 ff.; ders., Rechtsprinzipien sozialer Sicherung, S. 15 ff.; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, S. 1 ff., 9 ff., 17 ff., 25 ff., 31 ff. 176 Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. I, S. 1. 177 Jahn, Sozialversicherung und Staat, in: FS für Horst Schieckel, 153 (155). 178 A. Richter, Privatversicherungsrecht, S. 34 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 179 Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 101, H. Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 357. 180 Knels, Das Sozialversicherungsprinzip als wesentliches Merkmal der Sozialversicherung und seine verfassungsrechtliche Relevanz, S. 42.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

knüpfe, andererseits aber wesentlich von deren Prinzipien abweiche.181 Entsprechend der eingangs bereits aufgelisteten Literatur182 ließe sich eine Fülle von weiteren Aussagen ähnlichen Inhalts anführen. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Sozialversicherung nach mittlerweile mehr als 120jähriger Geschichte und vollständiger gesetzlicher Ausgestaltung ihrer einzelnen Versicherungszweige als eigenständige Sicherungsform neben der Privatversicherung anzuerkennen ist. Um den spezifischen Versicherungscharakter von Sozialversicherungen zu bestimmen, lohnt sich aber ein Vergleich mit den Charakteristika der Privatversicherung. II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Privatversicherung Sicherlich ist der Privatversicherung und Sozialversicherung die grundsätzliche Kategorisierung als Versicherung anhand der bereits herausgestellten Wesenselemente gemein. Ein Risiko, das jedes Mitglied einer in der Regel bestehenden Versichertengemeinschaft bedroht, wird im Gegenzug zur Beitragsleistung der Versicherten durch einen Rechtsanspruch auf die bei Verwirklichung des Risikos benötigten bzw. vorgesehenen Leistungen abgesichert. Der Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse sind jedoch mit unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen Grenzen vorgegeben. Das Privatversicherungsrecht – namentlich das Versicherungsvertragsgesetz, das Pflichtversicherungsgesetz, das Versicherungsaufsichtsgesetz u. a. – bietet vergleichsweise weite Gestaltungsmöglichkeiten. Hingegen bestimmt das Sozialversicherungsrecht durch die allgemeinen Vorgaben des Sozial(versicherungs)rechts (SGB I, IV) sowie die jeweiligen Bücher des Sozialgesetzbuchs (SGB III, V, VI, VII, XI) wesentlich restriktiver die Gestaltung des Versicherungsschutzes. Während im Privatversicherungsrecht der Grundsatz der Privatautonomie herrscht und ein Versicherungsverhältnis durch die willentliche Vereinbarung zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer zustande kommt,183 ist die Sozialversicherung gekennzeichnet durch die Versicherungspflicht. Das bedeutet, ein Sozialversicherungsverhältnis entsteht in der Regel kraft Gesetzes, also automatisch bei Erfüllen des jeweiligen gesetzlichen Tatbestandes.184 Ein entspre181

Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, S. 137 ff. Siehe Fn. 164 f. in diesem Teil. 183 Dies gilt nicht ohne Ausnahme; ein Kontrahierungszwang trifft z. B. den privaten Pflegeversicherer für privat Krankenversicherte nach § 23 SGB XI oder seit 1. 1. 2009 den privaten Krankenversicherer zur Versicherung im Basistarif nach § 193 Abs. 5, 7 VVG. 184 Siehe § 2 Abs. 1 SGB VI in Verbindung mit §§ 24 – 26 SGB III; §§ 5, 10 SGB V; §§ 1 – 3 SGB VI; §§ 2, 3 SGB VII; §§ 20, 21, 25 SGB XI. Die Versicherungspflicht knüpft in erster Linie an den Tatbestand der Beschäftigung nach § 7 SGB IV an; bei der gesetzlichen Pflegeversicherung allerdings nur indirekt über die Versicherungspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung. Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 15, weist auf die missverständliche Verwendung des Begriffs Versicherungspflicht hin, da mit Erfüllen eines Versicherungspflicht-Tatbestandes nicht die Pflicht zum Abschluss eines Versicherungsvertrages verbunden ist, sondern ein Sozialversicherungsverhältnis kraft Gesetzes oder Satzung bereits entstanden ist. Merten, NZS 1998, 545 (547), schreibt, insoweit sei ein Sozialversicherungs182

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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chender Wille des Versicherungspflichtigen, ein Sozialversicherungsverhältnis einzugehen, ist nicht erforderlich; vielmehr ist ein eventuell entgegenstehender Wille unbeachtlich. Hierin liegt das für die Sozialversicherung zumindest indiziell typische Wesensmerkmal der Zwangsversicherung. Liegt jedoch keine Versicherungspflicht vor, kann ein Sozialversicherungsverhältnis auch freiwillig begründet werden.185 Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Möglichkeiten, den Inhalt des Versicherungsverhältnisses zu bestimmen. Obliegt die inhaltliche Gestaltung des Versicherungsverhältnisses im Privatversicherungsrecht grundsätzlich den Vertragsparteien – wenn auch nicht ohne Ausnahmen186 – schließt das Sozialversicherungsrecht eine bipolare Vereinbarung zwischen Versicherer und Versichertem über die essenziellen Bedingungen des Versicherungsverhältnisses aus. Der Inhalt von Sozialversicherungsverhältnissen unterliegt engmaschigen gesetzlichen Vorgaben zum Leistungsumfang und zur Leistungserbringung. Die Eigenständigkeit des Sozialversicherungsrechts im Vergleich zum Privatversicherungsrecht erweist sich auch bei der rechtlichen Verknüpfung von Beitragszahlung und Leistungsberechtigung. Während privatversicherungsrechtliche Vertragsverhältnisse auf das Synallagma im Sinne der §§ 320 ff. BGB zurückgreifen, ist der Zusammenhang von Beitragszahlung und Leistungsansprüchen im Sozialversicherungsrecht von vornherein öffentlich-rechtlicher Natur. Leistungsansprüche bestehen mit Eintreten der Versicherungspflicht, auch wenn Melde- und Beitragspflichten verletzt wurden. Umgekehrt ist den Beitragspflichten nachzukommen, unbeachtlich der Pflichterfüllung des Sozialversicherungsträgers. Privatrechtliche Regelungen zum gegenseitigen Vertrag gemäß §§ 320 ff. BGB sind dem Sozialversicherungsrecht fremd. 1. Risikogerechte Prämie versus einkommensabhängiger Beitrag Wesentlich unterscheiden sich Privatversicherung und Sozialversicherung auch in den ihnen zugrunde liegenden Versicherungstechniken. Nach Butzer umfasse die Bezeichnung Versicherungstechnik alle Verfahrens- und Arbeitstechniken, die zur Herstellung eines Versicherungsschutzes eingesetzt werden können.187 Die Versicherungstechnik bietet damit das Werkzeug, mit dem eine Versicherung durchgeführt werden kann. Vorherrschende Versicherungstechnik im Privatversicherungsrecht ist das Äquivalenzprinzip. Diese Bezeichnung wird vielfach verwendet, beinhaltet aber verschiedene Aspekte. In Bezug auf das einzelne Versicherungsverhältnis bedeutet verhältnis „grundsätzlich durch Abschlußzwang, Partnerzwang und Inhaltszwang gekennzeichnet“ und unterscheide sich von der privatrechtlichen Pflichtversicherung. 185 § 28a SGB III; § 9 SGB V; § 7 SGB VI; § 6 SGB VII; §§ 26, 26a SGB XI. 186 Ausnahmen bilden z. B. die Regelungen der §§ 192 ff. VVG, mit denen privaten Krankenversicherern weitgehende Vorgaben für ihre Allgemeinen Versicherungsbedingungen gemacht werden, sowie die Verordnung über den Versicherungsschutz in der KraftfahrzeugHaftpflichtversicherung nach § 4 PflVG vom 29. 7. 1994 (BGBl. I, S. 1837). 187 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 197.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

das Äquivalenzprinzip die Abhängigkeit der Prämienhöhe von der Risikoeintrittswahrscheinlichkeit des Einzelnen.188 Hierfür ist die konkretere Benennung als individuelles Äquivalenzprinzip oder auch als Grundsatz der Risikogerechtigkeit der Prämie bzw. Beitragsäquivalenz geeigneter. Dabei handelt es sich keineswegs um ein zivilrechtliches Rechtsprinzip.189 Der Grundsatz der Beitragsäquivalenz ist privaten Versicherern auch nicht zwingend vorgeschrieben.190 Die versicherungstechnische Kalkulation der Prämienhöhe ist vielmehr Teil der privatautonomen Vereinbarung zwischen Versicherungsnehmer und Versicherungsgeber.191 Zur Prämienkalkulation wird der Kreis der Versicherten in Gruppen gleichwertiger individueller Risiken eingeteilt. Diesen Gefahrklassen wird die jeweils mittlere Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und in einem weiteren Schritt die daran ausgerichtete Prämie zugeordnet. Diese speziellen Prämien orientieren sich also an der individuellen bzw. gruppenspezifischen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und werden daher auch als risikogerechte Prämien bezeichnet. Eine absolute Äquivalenz von Prämie und Versicherungsschutz scheint jedoch unmöglich.192 Die Berechnung der Prämienhöhe basiert lediglich auf statistischen Erfahrungswerten. Aber schon allein die Einteilung der Gefahrklassen bzw. die Festlegung der Gruppenkriterien und die damit einhergehenden Abgrenzungsschwierigkeiten führen zu Abweichungen der Prämienkalkulation der verschiedenen Versicherer. Zudem unterliegt die Privatversicherung marktwirtschaftlichen Gesetzen, sodass der Prozess der Preisbildung auch durch die jeweilige Angebots- und Nachfragesituation beeinflusst wird. Demgegenüber ist im Bereich der Sozialversicherung der Einsatz bestimmter Versicherungstechniken wie dem individuellen Äquivalenzprinzip durch die ge188 Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, S. 16 f.; Eisen, ZVersWiss 1980, 529 (539); Karten, ZVersWiss 1977, 185 (186 f.); Thullen, DRV 1981, 497 (498 f.); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 202; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, Vorbemerkung A. Rn. 18. Ebsen, in: Schulin (Hrsg.), HS-RV, § 5 Rn. 9, 12, und Wandt, Versicherungsrecht, S. 40 f., weisen darüber hinaus auch auf die Grenzen individueller Risikogerechtigkeit hin. 189 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 74 ff., zeigt anhand rechtsmethodisch fundierter Untersuchung, dass das Äquivalenzprinzip im Bereich der Privatversicherung gar kein Rechtsprinzip ist, sondern lediglich als betriebswirtschaftliche Maxime bzw. als Versicherungstechnik dient. Siehe auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 197 – 208; Berne, Die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung aus sozialverfassungsrechtlicher Sicht, S. 218 ff.; Bieback, VSSR 2003, 1 (31); Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 133 ff. 190 Eine Ausnahme bilden z. B. die Vorschriften des § 203 VVG in Verbindung mit §§ 12 ff. VAG zur Kalkulation privater Krankenversicherungsprämien. 191 Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S. 130 f.; Knappmann, in: Prölss/Martin, VVG, § 33 Rn. 5; Riedler, in: Honsell, VVG, § 35 Rn. 17; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 199 f., weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die aufsichtsrechtlichen Befugnisse der zuständigen Aufsichtsbehörde nach ganz überwiegender Ansicht nicht auf zu hohe Prämien, sondern lediglich auf die Sicherung der dauerhaften Leistungserbringung bezögen und bietet dazu zahlreiche Nachweise. 192 Dinkel, ZVersWiss 1985, 343 (348); Thullen, DRV 1981, 497 (498 ff.); Ebsen, in: Schulin (Hrsg.), HS-RV, § 5 Rn. 9.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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setzlichen Rahmenbedingungen begrenzt. Die Beitragshöhe in der Sozialversicherung berücksichtigt nicht die individuellen Gegebenheiten und Lebensumstände, richtet sich also nicht nach der individuellen oder gruppenspezifischen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Versicherungsfalls. Vielmehr werden risikounabhängige Beiträge nach einem einheitlichen, für alle Versicherten geltenden Prozentsatz vom individuellen Bruttoarbeitsentgelt bis zu bestimmten Bemessungsgrenzen erhoben.193 Maßgeblich für die Beitragshöhe des einzelnen Versicherten ist somit allein seine Einkommenshöhe. Ausgehend vom Grundsatz der Beitragsäquivalenz kann dies zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Der Beitrag desjenigen, der nur über ein geringes Einkommen verfügt und eine hohe Risikoeintrittswahrscheinlichkeit mitbringt, steht sicherlich nicht in einem individuellen Äquivalenzverhältnis zum gewährten Versicherungsschutz. Gleichzeitig kann sich aber durchaus eine Beitragsäquivalenz ergeben, wenn beispielsweise ein viel verdienender Beitragszahler auch eine hohe Risikoeintrittswahrscheinlichkeit aufweist. Eine solche im Einzelfall bestehende Beitragsäquivalenz ist im Sozialversicherungsrecht aber dem Zufall überlassen. Es herrscht das Prinzip Beitrag nach Einkommen, womit die Versicherungstechnik des individuellen Äquivalenzprinzips zwischen Risiko und Beitrag ausgeschlossen ist. Dies bezeugt auch die Möglichkeit von Staatszuschüssen zur Deckung der sozialversicherungsrechtlichen Ausgaben.194 Den Beiträgen zur Sozialversicherung liegt also – mit Ausnahme der gesetzlichen Unfallversicherung – keine Risikodifferenzierung zugrunde. Gewährt werden eine Vielzahl von ausschließlich bedarfsabhängigen und damit einkommensunabhängigen Leistungen, insbesondere in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Folglich stehen gleichen Leistungen regelmäßig ungleiche Beiträge gegenüber und bedeuten – auf den ersten Blick – eine Missachtung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes.195 Der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.196 Unter Beachtung dessen sind gleiche Leistungen ohne sachlichen 193

Siehe § 341 SGB III, § 241 SGB V, §§ 157 ff. SGB VI, §§ 54 f. SGB XI jeweils in Verbindung mit §§ 20 ff. SGB IV. Eine Ausnahme stellt insofern die gesetzliche Unfallversicherung dar. Gemäß §§ 152 ff. SGB VII werden die Unfallversicherungsbeiträge in einem Umlageverfahren anhand der Arbeitsentgelte der Versicherten und der unternehmensspezifischen Unfallgefahr (Einteilung in Gefahrklassen) erhoben. 194 Siehe insbesondere §§ 363 ff. SGB III und §§ 213 ff. SGB VI, aber auch §§ 221 ff. SGB V. 195 Der allgemeine Gleichheitssatz gilt als Verfassungsgebot für jedes Tätigwerden einer staatlichen Gewalt. Er verlangt Rechtssetzungsgleichheit und Rechtsanwendungsgleichheit. Siehe hierzu insgesamt Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 11; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, § 181. 196 So die seit 1980 angewandte neue Formel des Bundesverfassungsgerichts, siehe E 55, 72 (88); 60, 123 (133 f.); 74, 9 (24); 81, 108 (118); 85, 191 (210); 87, 1 (36); 88, 87 (96 f.). Zuvor formulierte das Bundesverfassungsgericht, das Gleichheitsgebot verbiete nicht nur „wesentlich

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Differenzierungsgrund nur bei gleichen Beiträgen zu gewähren. Insoweit konkretisiert das Prinzip individueller Äquivalenz den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz.197 Mit Äquivalenzabweichungen gehen Ungleichbehandlungen einher, die unter Beachtung des Gleichheitsgebotes der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfen. Dies erfordert sachgerechte und gewichtige Unterscheidungskriterien, das heißt, die Äquivalenzabweichungen als Ungleichbehandlungen müssen „von einem vernünftigen, aus der Natur der Sache sich ergebenden oder sonstwie einleuchtenden Grund“ gedeckt sein.198 Im Regelungsbereich der Sozialversicherung ist das Solidarprinzip ein sachlicher Grund, der eine darauf beruhende Ungleichbehandlung rechtfertigt.199 Die mangelnde Risikodifferenzierung gehört zum Kern des Solidarprinzips in der Sozialversicherung.200 Die einkommensbezogene Beitragserhebung bei einkommensunabhängigen Leistungen ist folglich Ausdruck des Solidarprinzips, sodass damit verbundene Verstöße gegen das Gleichheitsgebot grundsätzlich gerechtfertigt sein können.201 2. Entsprechungsverhältnisse im Sozialversicherungsrecht Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Sozialversicherungsbeitrag und Versicherungsleistung findet sich jedoch die Grundidee eines Entsprechungsverhältnisses wieder. Zwar erhalten die Versicherten eine Fülle von Leistungen wie z. B. die Krankenbehandlung, das Pflegegeld oder arbeitsförderungsrechtliche Leistungen unabhängig von ihrer Beitragshöhe. Bei Entgeltersatzleistungen kennt auch das Sozialversicherungsrecht individuelle Äquivalenzverhältnisse.202 Beispielsweise Gleiches willkürlich ungleich“, sondern auch „wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln“; siehe nur BVerfGE 4, 144 (155); 49, 148 (165). Siehe hierzu ausführlich im 3. Teil, Kapitel 2, D. II. 197 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 272; Niemeyer, NZS 1998, 103 (106). 198 Zitiert aus BVerfGE 1, 14 (52); aber wortgleich: 61, 138 (147); 89, 132 (141). So das Bundesverfassungsgericht zur Willkürformel, die bei weniger intensiven Gleichheitsverstößen anzuwenden ist; siehe bspw. auch Ipsen, Staatsrecht II, § 19 Rn. 805 f.; Heun, in: Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 19, 23, 29; vgl. ausführlich hierzu im 3. Teil, Kapitel 2, D. II. 199 BVerfGE 20, 52 (54 f.); 59, 36 (49); 79, 223 (236 ff.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 3 Rn. 144; Heun, in: Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 73. 200 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 49; Kolb, DRV 1984, 177 (182). Näheres hierzu im nachfolgenden Kapitel. 201 Siehe auch Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 178, 279, der in seinem § 5 E. II. verschiedene sozialversicherungsrechtliche Äquivalenzabweichungen unter dem Aspekt des Gleichheitsgebotes untersucht. 202 Im Zusammenhang mit Einkommens- und Unterhaltsersatzleistungen sei die Verwendung des Äquivalenzbegriffs im versicherungstechnischen Sinne nicht zu rechtfertigen; so Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 133. Keine der diesen Leistungen zugrunde liegenden Berechnungsmodi impliziere „Gleichungen zwischen Beitragslasten und Leistungsanrechten unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Werts, wie sie im privaten Versicherungswesen mit dem Begriff angesprochen sind“.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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bemisst sich die Höhe des Krankengeldes nach dem zuletzt erhaltenen Arbeitsentgelt des betroffenen Versicherten.203 Ähnlich berechnen sich auch die Entgeltersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung.204 Im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung findet sich der Gedanke der versicherungsmäßigen Äquivalenz wohl am stärksten wieder. Die rentenversicherungsrechtliche Hauptleistung der Altersrente richtet sich in erster Linie nach den während des Versicherungslebens versicherungspflichtigen Arbeitsentgelten.205 Jedoch besteht bei sozialversicherungsrechtlichen Entgeltersatzleistungen keine feststehende Äquivalenzrelation zwischen Beitrag und Versicherungsleistung. In diesem Zusammenhang kommt ein weiterer Unterschied in der Versicherungstechnik der Privatversicherung und der Sozialversicherung zum Tragen. Die Sozialversicherung basiert auf einem Umlageverfahren, nach dem laufende Beitragseinnahmen die aktuellen Versicherungsleistungen finanzieren.206 Demgegenüber werden nach dem Kapitaldeckungsverfahren, das für die Privatversicherung typisch ist, individuell zurechenbare Rückstellungen zur Finanzierung der Versicherungsleistungen des jeweiligen Versicherten gebildet. Folge der sozialversicherungsrechtlichen Finanzierung im Umlageverfahren ist die Schwankung der verfügbaren Beitragseinnahmen in Abhängigkeit von demographischen, arbeitsmarktpolitischen und ökonomischen Gegebenheiten. Für den beitragszahlenden Versicherten bedeutet dies, dass er nicht einen Anspruch auf Leis203 Gemäß § 47 SGB V beträgt das Krankengeld grundsätzlich 70 Prozent des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts (§ 14 SGB IV). 204 § 116 SGB III nennt fünf Entgeltersatzleistungen; eine davon ist das Arbeitslosengeld nach §§ 117 ff. SGB III. Gemäß § 129 SGB III beträgt die Höhe des Arbeitslosengeldes 67 %, bei kinderlosen Arbeitslosen 60 % des Leistungsentgelts nach § 133 SGB III und knüpft damit an die regelmäßigen Arbeitseinkünfte des Versicherten an. Darüber hinaus ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes abhängig von der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der Rahmenfrist (§ 127 SGB III). Entgegen dem Äquivalenzgedanken hängt hierbei jedoch die relative Höhe des Arbeitslosengeldes davon ab, ob der Arbeitslose Kinder hat oder nicht, sodass ungleiche Leistungen bei gleichen Beiträgen möglich sind. Dies ist wiederum durch das Solidarprinzip gerechtfertigt. Hierzu ausführlich Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 272 f. 205 Siehe §§ 63 ff. SGB VI. Grundsätzlich soll der Versicherte nach einem erfüllten Arbeitsleben eine Altersrente in Höhe von 70 % des letzten Nettoarbeitseinkommens erhalten. Die Berechnung der Altersrente basiert auf dem System der Entgeltpunkte, das das individuelle Beitragsaufkommen des Versicherten in Bezug setzt zu den Durchschnittsbeiträgen aller gesetzlich Rentenversicherten. Hintergrund dessen ist das Umverteilungssystem, wonach die laufenden Rentenzahlungen aus dem aktuellen Beitragsaufkommen der gesetzlichen Rentenversicherung geleistet werden. Der Beitragszahler erwirbt daher nicht einen konkret zu beziffernden Rentenanspruch, sondern lediglich den Anspruch in den zukünftigen Umverteilungsprozessen angemessen beteiligt zu werden (Anwartschaft). Zu weiteren Einzelheiten siehe Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-RV, § 38. Entgeltpunkte werden jedoch auch für beitragsfreie Zeiten, die mit Anrechnungszeiten, mit einer Zurechnungszeit oder mit Ersatzzeiten belegt sind, vergeben (§§ 54, 66, 71 SGB VI). 206 Siehe § 340 SGB III, § 220 SGB V, § 153 SGB VI, § 152 SGB VII, § 54 SGB XI. Der Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- sowie Pflegeversicherung lag von Beginn an ein Umlageverfahren zugrunde. Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung wurde erst mit der Reform von 1957 das Umlageverfahren eingeführt.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

tungen entsprechend dem aktuellen Leistungsniveau erwirbt, sondern dass sich seine Ansprüche nach dem künftigen Leistungsniveau bei Eintritt des Versicherungsfalls bemessen.207 Ein weiterer Aspekt des Äquivalenzprinzips liegt in der Gesamtschau aller Einnahmen und Ausgaben des Versicherers bzw. des Risikoausgleichs im Kollektiv. Das Sozialversicherungsrecht und das Privatversicherungsrecht unterliegen der versicherungstechnischen Grundregel der Globaläquivalenz oder auch Gesamtäquivalenz bzw. kollektiver Äquivalenz. Danach müssen die Versicherungsprämien so bemessen sein, dass die Summe aller erhobenen Prämien auf Dauer ausreicht, um die Gesamtheit der Versicherungsleistungen einschließlich der erforderlichen Verwaltungskosten und einer eventuell zur Sicherheit vorgesehenen Rücklage zu decken. Dies ist sowohl für private Versicherungen als auch für die Sozialversicherungen gesetzlich vorgeschrieben.208 Hase zeigt aber die unterschiedlichen Zwänge auf, die sich aus dem Erfordernis der Globaläquivalenz für die Privatversicherung und für die Sozialversicherung ergeben.209 Während dies für private Versicherer unumgehbar die Begrenzung der Ausgaben auf die Beitrags- bzw. Prämieneinnahmen bedeute und damit hohe Anforderungen an Statistik und Prognostik bei der Bemessung der Prämien stelle, könne Globaläquivalenz im Bereich der Sozialversicherung „allenfalls ein Ausdruck dafür sein, daß die wachsenden Ausgaben der Versicherungsträger im Ergebnis irgendwie gedeckt (…) werden müssen“.210 Die Sozialversicherung verfüge über vielfältige Möglichkeiten, ein gestörtes Gleichgewicht von Ausgaben und Einnahmen, z. B. durch Inanspruchnahme staatlicher Zuschüsse oder Erhöhung der Beitragssätze, wiederherzustellen. III. Mischverhältnis von Versicherungskomponente und Solidarprinzip Zurückkommend auf die eingangs gestellte Frage nach dem Mischverhältnis von Versicherungskomponente und Solidarprinzip bei Sozialversicherungen geben die festgestellten Unterschiede in der Versicherungstechnik Antworten. In Abgrenzung zum privatversicherungsrechtlichen Grundsatz der risikogerechten Prämie führt die sozialversicherungsrechtliche Beitragsbemessung nach dem Einkommen des Versicherten zu finanziellen Umverteilungswirkungen innerhalb der Versichertengemeinschaft, denen das Solidarprinzip zugrunde liegt. Diese grundlegend unter207

Dinkel, ZVersWiss 1985, 343 (353 f., 359 f.); Kolb, DRV 1984, 177 (180 f.); Ruland, DRV 1997, 94 (104). 208 Siehe für die Privatversicherung: §§ 8, 11, 12, 81a Abs. 2, 87 VAG und für die Sozialversicherungen: § 21 SGB IV, § 340 SGB III, § 220 Abs. 1 SGB V; § 158 Abs. 2 SGB VI, § 152 Abs. 1 SGB VII, § 54 Abs. 1 SGB XI. 209 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 78 ff. 210 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 81. Angesichts dessen verböte sich nach Hase, ebenda, S. 84, „jeder Rückgriff auf Grundsätze und Begriffe aus der Sphäre der Privatversicherung“.

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schiedliche Ausgestaltung der Versicherungstechnik kann den Versicherungscharakter von Sozialversicherung aber nicht infrage stellen.211 Fragen der Versicherungstechnik gehören nicht zum Wesen von Versicherung.212 Insofern erweist sich in der unterschiedlichen Versicherungstechnik lediglich die Selbstständigkeit der Sozialversicherung gegenüber der Privatversicherung. Dies findet im Rahmen der Diskussion über die Geltung des Äquivalenzprinzips – oftmals bezeichnet als Versicherungsprinzip – im Sozialversicherungsrecht zu wenig Beachtung, sodass vorschnell der Versicherungscharakter der Sozialversicherung bezweifelt wird. In der gesetzlichen Krankenversicherung ist – wie gezeigt – bei der Berechnung des Krankengeldes eine individuelle Äquivalenz zur Beitragsleistung relevant. Die Bedeutung des Krankengeldes ist jedoch durch die Einführung und Weiterentwicklung der Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers213 in den Hintergrund gerückt. Leistungen zur Krankenbehandlung, Heil- und Hilfsmittelversorgung u. a., die jedem Versicherten in gleichem Maße – entsprechend seines Bedarfs – zustehen, machen den überwiegenden Teil der krankenversicherungsrechtlichen Leistungen aus. Demgegenüber stehen ungleiche Beitragszahlungen der einzelnen Versicherten, die sich grundsätzlich alleine an der Einkommenshöhe orientieren und damit weder eine Gesundheitsprüfung zugrunde legen noch Zuschläge für außerordentliche Risiken zulassen. Dies steht im Gegensatz zum versicherungstechnischen individuellen Äquivalenzprinzip der Privatversicherung und lässt einen großen Einfluss des Solidarprinzips erkennen. Zweifelsohne unterliegt die gesetzliche Krankenversicherung aber dem Versicherungsprinzip – verstanden in einem weiten Sinne214 –, denn es handelt sich um eine Versichertengemeinschaft, die das Risiko einer Erkrankung absichert und als Gegenleistung für die Beiträge des Versicherten entsprechenden Versicherungsschutz gewährt.

211 So auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 218 f.; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 202 ff.; Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 32 f. 212 Siehe bereits Fn. 151 in diesem Teil sowie Erläuterungen unter B. II. 1. in diesem Kapitel. 213 Bereits 1931 wurde Angestellten ein Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung für eine Zeit von sechs Wochen bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit gegen ihren Arbeitgeber eingeräumt (§ 616 Abs. 2 BGB a. F. eingeführt mit der Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 5. 6. 1931, RGBl. I S. 279, 281). Arbeitern hingegen wurde erst 1970 mit Einführung des Lohnfortzahlungsgesetzes (BGBl. I S. 946) ein entsprechender Anspruch gegen ihren Arbeitgeber gewährt. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. 5. 1994, BGBl. I S. 1014) zum 1. 6. 1994 wurden die unterschiedlichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung vereinheitlicht. Zur geschichtlichen Entwicklung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall siehe die ausführliche Darstellung bei J. Schmitt, Entgeltfortzahlungsgesetz, S. 3 ff. 214 Siehe Begriffsklärung zu Beginn dieses Kapitels unter A. I.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

C. Vorgaben des Versicherungsprinzips im Sozialversicherungsrecht Die Geltung des Versicherungsprinzips im Sozialversicherungsrecht wirft die Frage auf, inwieweit dieses zur Interpretation und/oder zur Legitimation des Sozialversicherungsrechts herangezogen werden kann. Es gilt den Umfang der Direktivkraft des Versicherungsgedankens für die sozialversicherungsrechtliche Gesetzgebung zu bestimmen und daraus resultierende Grenzen bei der Abänderung der Inhaltsbestimmungen von Sozialversicherungsverhältnissen bzw. sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen auszumachen. Insofern ist eine rechtsmethodisch fundierte Einordnung des Versicherungsprinzips hilfreich. I. Prinzipien und Regeln Rechtsprinzipien gehören zum inneren System des Rechts.215 Als materiale Rechtsgedanken sind einige Rechtsprinzipien „in der Verfassung oder in anderen Gesetzen ausdrücklich ausgesprochen; andere können aus der gesetzlichen Regelung, ihrem Sinnzusammenhang, im Wege einer Gesamtanalogie oder des Rückgangs auf die ratio legis erschlossen werden; einige sind in der Lehre oder der Rechtsprechung (…) erstmals gefunden und ausgesprochen worden“.216 Sie haben unter anderem die Aufgabe, die innere, wertungsmäßige Einheit der Rechtsordnung bzw. die Tiefenstrukturen des Rechts aufzuzeigen. Prinzipien dienen als Leitlinien bei der Auslegung und Fortbildung der einfachgesetzlichen Regelungen. Verfassungsrechtlich verankerte Prinzipien ermöglichen darüber hinaus eine Legitimation einfachgesetzlicher Regelungen. Die rechtstheoretische Diskussion um die Wesenseigenschaften von Prinzipien und um ihren Stellenwert für die Geltung und Interpretation rechtlicher Bestimmungen, sowie bei Ermessensentscheidungen oder für die Schließung von Regelungslücken basiert wesentlich auf der Unterscheidung zwischen Prinzipien und nicht-prinzipiellen Normen.217 Begrifflich werden diese Gegenpole überwiegend als Prinzipien und Regeln bezeichnet.218 Regeln enthalten strikte Gebote oder Verbote, 215

Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 302 ff. Zitat aus Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 302 (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 217 Zur Prinzipiendiskussion siehe z. B. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 52 ff.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 272 ff.; Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 268 ff.; Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, S. 80 ff.; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 85 ff.; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 4 ff.; Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, S. 95 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 206 ff. 218 So Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 58; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 421 ff., 474 ff.; Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 52 ff. Zu finden sind aber auch begriffliche Unterscheidungen wie z. B. Grundsatz und Norm bei Esser, Grundsatz und Norm in 216

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die entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden, sodass eine Regel gilt oder nicht gilt.219 Regeln sehen oftmals Ausnahmen vor,220 eine gleichzeitige Geltung sich widersprechender Regeln ist aber ausgeschlossen.221 Prinzipien hingegen beinhalten „keine verbindliche Weisung unmittelbarer Art für einen bestimmten Fragenkreis“.222 Vielmehr bieten sie für die Rechtsanwendung oder für die rechtliche Bewertung relevante Gründe oder Gesichtspunkte, die für die eine oder die andere Entscheidung sprechen und damit ein bestimmtes Ergebnis nahelegen.223 Prinzipien enthalten also keine zwingenden Festsetzungen. Sie sind „keine unmittelbar auf Einzelfälle anwendbaren Regeln, sondern Leitgedanken, deren Umsetzung in Regeln, die eine Entscheidung ermöglichen,“ erfolgt und „bedürfen vielmehr ausnahmslos der Konkretisierung“.224 Nach Schilling sind „Prinzipien Gründe für Gründe einer Entscheidung (…), Regeln aber unmittelbare Gründe, genauer: daß Regeln, wenn sie überhaupt Grund für eine bestimmte Entscheidung sind, definitiver Grund sind, während Prinzipien unter derselben Voraussetzung nur einen prima facie-Grund darstellen, der zugleich im Rahmen der Abwägung mit anderen Prinzipien Grund für eine Regel sein kann, die dann ihrerseits definitiver Grund der Entscheidung ist“.225 Prinzipien „gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert“ wird und sind hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes jeweils neu im Verhältnis zu anderen Prinzipien zu gewichten.226 Charakteristisch für Prinzipien ist demnach, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt sein können; das gebotene Maß ihrer Befolgung hängt von den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten ab. Eine Kollision von Prinzipien wirft daher – anders als bei Regeln – nicht die Frage ihrer Geltung auf. Prinzipien sind „gegenläufig wirkende Formeln“227; sie entfalten „ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung“228. Im Kollisionsfall sind die betroffenen Prinzipien mit Blick der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, oder Grundsatz und Rechtssatz bei Wolff, Rechtsgrundsätze und verfassunggestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, S. 33 (44). 219 Regeln seien damit in der Weise des Alles-oder-Nichts anwendbar, so Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 58; Alexy, in: Rechtstheorie, Beiheft 1, S. 59 (63). 220 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 25. 221 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 50; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 6. 222 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 51 f. 223 Alexy, in: Rechtstheorie, Beiheft 1, S. 59 (63); Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 31 ff., 51 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 302 ff. 224 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 240, 303. 225 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 91. 226 Zitat aus Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75; siehe auch Alexy, in: Rechtstheorie, Beiheft 1, S. 59 (64); Dreier, NJW 1986, 890 (892). 227 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 80. 228 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 55.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

auf die Fragestellung zu gewichten und abzuwägen. Das gewichtigere Prinzip geht vor, wobei das zurücktretende Prinzip damit nicht seine Gültigkeit verliert und in einer anderen Fallkonstellation wieder neu zu berücksichtigen und zu gewichten ist.229 II. Einordnung des Versicherungsprinzips Sicherlich legt die Bezeichnung des Versicherungsgedankens als Versicherungsprinzip die Vermutung nahe, dass es sich um ein Rechtsprinzip handelt. Auch die vorangegangene Untersuchung der Ausprägung der versicherungsmäßigen Komponente im Zusammenspiel mit dem Solidarprinzip im Sozialversicherungsrecht deutet bereits auf einen Prinzipiencharakter hin. Diese Indizien können eine rechtsmethodisch fundierte Betrachtung jedoch nicht ersetzen. Die Frage nach der Einordnung eines Rechtsgedankens als Prinzip oder Regel knüpft an die Bestimmbarkeit seines Inhalts an. Je konkreter und eindeutiger der Inhalt eines Rechtsgedankens ist, desto höher auch seine Direktivkraft für den Gesetzgeber. Das bedeutet mit schwindender Bestimmbarkeit des Inhalts eines Rechtsgedankens nimmt auch die damit verbundene Direktivkraft ab und desto unwahrscheinlicher ist sein Regelcharakter.230 Der Inhalt des Versicherungsgedankens ist grundlegend durch die zu Beginn dieses Kapitels erläuterten Wesensmerkmale von Versicherung bestimmt. Dies sind: ein kollektives Element von Versicherung, z. B. in Form einer Versichertengemeinschaft, das Vorliegen einer Gefahr als ein ungewisses Ereignis, die Entgeltlichkeit des Versicherungsschutzes bzw. die Gegenseitigkeit von Beitrag und Leistung sowie der Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistung. Nicht zwingender, aber dennoch typischer Inhalt des Versicherungsgedankens ist die Gleichartigkeit der Gefahren, die Schätzbarkeit der Gefahr und Zufälligkeit der Gefahrverwirklichung. Auch die gezeigten Funktionen von Versicherung prägen den Versicherungsgedanken. Die Sicherungsaufgabe einer Versicherung bezieht sich je nach Sichtweise auf die Deckung des durch die Verwirklichung der versicherten Gefahr ausgelösten Bedarfs, auf die Beseitigung eines eingetretenen Schadens, die Sicherung von Vermögensgestaltungszielen oder den Ausgleich planwidriger Ausgaben oder entgangener Einnahmen im Versicherungsfall. Der Versicherungsgedanke beinhaltet auch den Aspekt eines Entsprechungsverhältnisses von Beitrag und Leistung, der – wie gezeigt – im Rahmen der Sozialversicherung im Vergleich zur Versicherungstechnik der Privatversicherung sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Trotz dieser vielfältigen Aspekte des Versicherungsgedankens führt die Heranziehung dieses Rechtsgedankens kaum zu eindeutigen Ergebnissen, wenn es beispielsweise darum geht, welche konkreten sozialversicherungsrechtlichen Leistungen zu gewähren oder unter welchen Einzelfallumständen sie zu verwehren sind. 229

(63). 230

Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 25; Alexy, in: Rechtstheorie, Beiheft 1, S. 59 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 479.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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Orientiert man sich an der These Dworkins231, wonach Regeln in der Weise des Allesoder-Nichts anwendbar sind, so steht dies im Gegensatz zur Geltung des Versicherungsgedankens im Sozialversicherungsrecht, da er keine automatischen rechtlichen Konsequenzen bei Vorliegen bestimmter festgesetzter Bedingungen vorgibt. Vielmehr enthält der Versicherungsgedanke allgemeine Gesichtspunkte wie z. B. den Aspekt des Gegenseitigkeitsverhältnisses von Beitrag und Leistung und bietet damit einen Argumentationsgrund, der in eine bestimmte Richtung weist, fordert aber keine unbedingte Entscheidung. Der Versicherungsgedanke beinhaltet damit zwar einen absoluten, unbedingten Leitgedanken, der aber hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung von Sozialversicherungsverhältnissen nicht schematisch anwendbar ist. In dem sozialversicherungsrechtlichen Umfeld steht der Versicherungsgedanke nicht alleine, sondern mischt sich mit anderen grundrechtlich oder sozialstaatlich motivierten Argumenten. Zu nennen ist in erster Linie das Solidarprinzip. Beispielsweise führt die sozialversicherungsrechtliche Beitragsbemessung nach dem Einkommen des Versicherten zu finanziellen Umverteilungswirkungen innerhalb der Versichertengemeinschaft, denen das Solidarprinzip zugrunde liegt. In der Frage, wie das Entsprechungsverhältnis zwischen Beitrag und Leistung zu bestimmen ist, tritt also der Versicherungsgedanke hinter den Aspekt des Solidarprinzips zurück. Die Bedeutung und Direktivkraft des Versicherungsgedankens variiert hinsichtlich des zur Entscheidung stehenden Sachverhalts. Andere Regelungsgehalte, wie beispielsweise die sozialversicherungsrechtlichen Entgeltersatzleistungen, zeugen von größerem Einfluss des Aspektes eines versicherungsmäßigen Entsprechungsverhältnisses, sodass sich der Versicherungsgedanke hier stärker ausgeprägt wiederfindet. Im Sozialversicherungsrecht kann der Versicherungsgedanke aber auch mit Grundrechtspositionen der Sozialversicherten bzw. Abwehrrechten anderer, die für sich und andere die Finanzierungslasten tragen, kollidieren. Zu bedenken sind auch Rechtsinstitute wie z. B. die Berufsfreiheit der Ärzte und anderer Leistungserbringer oder die Berufs- und Wirtschaftsfreiheit privater Versicherungsunternehmen. Vor diesem Hintergrund ist der Versicherungsgedanke immer nur einer der abwägungsrelevanten Aspekte, die bei der Suche nach der richtigen Entscheidung eine Rolle spielen. Nach alledem besteht an der Einordnung des Versicherungsgedankens als Rechtsprinzip des Sozialversicherungsrechts kein Zweifel mehr. Nach Hase wird das Versicherungsprinzip in der Rechtsprechung und Literatur zum Sozialversicherungsrecht auf drei unterschiedlichen Bedeutungsebenen verwandt: als hermeneutisches Prinzip (Leitlinie positivrechtlicher Vorschriften, die aus diesen selbst entnommen wird), als verfassungsrechtlicher topos (Wertungsgrundlage positivrechtlicher Vorschriften) und drittens – nun nicht als Prinzip im normtheoretischen Sinn – als begriffliche Abbreviatur verfassungsrechtlicher Regeln (Sicherstellung von Rechtsstellungen). Auf dieser dritten, zusätzlichen Verständnisebene, die die Frage der verfassungsrechtlichen Garantie individueller Rechtspositionen betrifft bzw. die Frage, was dem Versicherten in jedem Fall zustehen 231

Siehe Fn. 220 in diesem Teil.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

muss, werde – so Hase – das Versicherungsprinzip auch in einem verfassungsnormativen Sinne, als Zusammenfassung verfassungsrechtlicher Regeln verwandt.232 Diese bislang in der Rechtsentwicklung erst schemenhaft erkennbare verfassungsnormative Dimension des Versicherungsprinzips sei für die Sozialversicherten von entscheidender Bedeutung. Mit Blick auf jahre- oder jahrzehntelange Vorleistungen seien Sozialversicherte „auf eine Verlässlichkeit und Kontinuität des Rechts angewiesen, die einfachgesetzliche, der lex-posterior-Regel unterliegende Bestimmungen aus sich heraus nicht erzeugen“.233 Rechtsstellungen, die der Versicherte durch Beitragszahlungen erwirbt, könnten nur durch verfassungsrechtliche Regeln, die in jedem Fall einzuhalten wären, sichergestellt werden. Auf dieser Verständnisebene sei das Versicherungsprinzip kein Prinzip im normtheoretischen Sinn, dessen Direktivkraft durch die Abwägung mit anderen Prinzipien im Einzelfall bestimmt würde. Vielmehr verbürgen sich hinter dem so verstandenen Versicherungsprinzip Regeln, die sich aus dem Zusammenspiel der grundrechtlichen Gewährleistungen aus den Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 14 GG sowie der Kompetenznorm in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergäben. Diese verfassungsnormative Dimension des Versicherungsprinzips sei in drei Richtungen anzuerkennen; hinsichtlich der beständigen Verknüpfung von Beitragspflichten und Leistungsberechtigungen, bezüglich der Einheit des Vorsorge- und Leistungsverhältnisses, also des Erhalts des Leistungstypus auf den der Sozialversicherte Vorsorgeleistungen erbracht hat, und drittens hinsichtlich der rechtlichen Absicherung der nach Eintritt des Versicherungsfalls gegebenen Leistungsberechtigungen über den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Bestandsschutz hinaus. Im Rahmen der Konkretisierung dieser Ausprägungen argumentiert Hase mit den Bindungen, die sich aus dem Verfassungsrecht selbst ergeben; den Vorgaben der verfassungsrechtlichen Freiheitsbereiche, dem Gleichbehandlungsgebot, der Eigentumsgarantie sowie dem rechtsstaatlichen Gebot des Vertrauensschutzes, die sich im Versicherungsgedanken widerspiegeln. Ein erkennbarer selbstständiger Rechtsgehalt des Versicherungsgedankens kommt dabei jedoch nicht zum Tragen. Vielmehr dominiert die Vorstellung einer graduellen Verwirklichung des Versicherungsprinzips im Sozialversicherungsrecht, was die Einordnung des Versicherungsgedankens als normtheoretisches Prinzip erneut bestätigt. III. Versicherungsprinzip als Leitlinie des Sozialversicherungsrechts Als normtheoretisches Prinzip dient der Versicherungsgedanke somit als Leitlinie bei der Auslegung bzw. Anwendung und Fortbildung der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen. Der Prinzipiencharakter verlangt, dass der Versicherungsgedanke als potenzielles Argument bei der Entscheidung sozialversicherungsrechtlicher Fragestellungen abzuwägen ist. Das bedeutet, die dem Abwägungsvorgang folgende Entscheidung muss gegenüber dem Versicherungsprinzip gerecht232

Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 159 ff., 401 ff. Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 161 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 233

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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fertigt werden. Die Direktivkraft des Versicherungsprinzips für die sozialversicherungsrechtliche Gesetzgebung lässt sich daher nur hinsichtlich einer konkreten Fragestellung beurteilen. Sie hängt davon ab, ob der Inhalt des Versicherungsprinzips hierzu eine bestimmte Aussage vorhält und wie diese in der Abwägung mit anderen Rechtsgedanken und Prinzipien zu gewichten ist. Aus dem Versicherungsprinzip folgt beispielsweise, dass die eingezahlten Beiträge des Versicherten beim Versicherungsträger verbleiben, wenn bei dem Versicherten der Versicherungsfall nicht eintritt.234 Des Weiteren begründete das Bundessozialgericht mithilfe des Versicherungsprinzips den Umstand, dass Versicherungsleistungen nur vom Bestand des Versicherungsverhältnisses und vom Eintritt des Versicherungsfalls, nicht aber von der Einkommenssituation oder gar einer eventuellen Bedürftigkeit des Versicherten abhängen.235 Auch die rentenversicherungsrechtliche Regelung der Wartezeiten,236 die zur Entstehung eines Rentenanspruchs erfüllt sein müssen, oder die Anwartschaftszeit zur Erlangung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld237 wurzelt im Versicherungsprinzip. Das Bundessozialgericht führt das Versicherungsprinzip zur Begründung dafür an, dass eine Rente aus nachentrichteten Beiträgen regelmäßig erst nach deren Zahlung beginnen kann238 oder dass nach Eintritt des Versicherungsfalls für diesen keine Beiträge nachzuentrichten sind239. Dieser Aufzählung ließe sich eine Fülle von weiteren sozialversicherungsrechtlichen Entscheidungen anfügen, in denen das Versicherungsprinzip zur Entscheidungsbegründung beiträgt. Angesichts der vielfältigen Heranziehung des Versicherungsprinzips in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts meint Bley, „Grundprinzipien“ seien „bei formelhafter Verwendung zur tragenden Begründung richterlicher Entscheidungen ungeeignet“.240 Je nachdem, ob die Betonung auf die den Versicherten begünstigende oder belastende Komponente des Versicherungsprinzips gelegt werde, ließe sich damit nahezu jede Entscheidung begründen. Dies gelte insbesondere angesichts des gleichermaßen das Sozialversicherungsrecht bestimmenden Solidarprinzips. Das Versicherungsprinzip sei, so Bley, „daher nicht als solches, sondern nur in seinen konkreten Ausprägungen zur Begründung richterlicher Entscheidungen geeignet, wobei das Maß der Eignung dem Grade seiner Konkretisierung entspricht“.241

234

BSGE 45, 247 (250: „Außerdem liegt es im Wesen einer Versicherung, (…) daß Beiträge ohne Gegenleistung des VersTr in Form von Renten usw. beim VersTr verbleiben können.“). 235 BSGE 53, 242 (244). 236 Wartezeiten nach §§ 50 ff. SGB VI, BSGE 42, 232 (235); BVerfGE 67, 231 (237). 237 Anwartschaftszeit nach § 123 SGB III, BSGE 21, 1 (2); 58, 154 (156). 238 BSG SozR 2200, § 1290 Nr. 13, S. 16 (19); BSG SozR 2200, § 1290 Nr. 22, S. 37 (44: „Eine dem Versicherungsprinzip widersprechende Rückwirkung nachentrichteter Beiträge für den Leistungsbeginn“). 239 BSGE 21, 193 (196); 24, 146 (147 ff.); 28, 295 (297 f.). 240 Bley, VSSR 1975, 289 (366 ff.). 241 Bley, VSSR 1975, 289 (367).

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Strikte Vorgaben des Versicherungsprinzips für das Sozialversicherungsrecht lassen sich also kaum ausmachen. Grundlegender Leitgedanke des Versicherungsprinzips ist die „Gegenseitigkeit im Sinne unbedingter gegenseitiger Leistungsverpflichtung“.242 Inhaltlich gilt das Versicherungsprinzip als der Gesichtspunkt, der „für eine möglichst intensive rechtliche Verknüpfung zwischen Versicherungszugehörigkeit und individuell zuzuordnender Vorsorgeleistung einerseits und späterer Leistungsberechtigung andererseits spricht“.243 Weitreichende Rückschlüsse aus dem Versicherungsprinzip ergeben sich im Zusammenspiel mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Danach gilt im Grundsatz Folgendes: Personen, die keine Leistungen erhalten, dürfen nicht zu Beiträgen herangezogen werden und Personen, die Beiträge geleistet haben, dürfen nicht von Leistungen ausgeschlossen werden.244 Es dürfen keine Leistungen an Personen oder für Risiken aus Beitragsmitteln erbracht werden, für die keine Beiträge gezahlt wurden. Es dürfen auch keine Beiträge von oder für Personen erhoben werden, wenn der Beitragszahlung keine Gefahrtragungsleistung gegenüber steht. Des Weiteren verbietet es sich, dass Versicherte trotz gleicher Beitragsleistung unterschiedliche Versicherungsleistungen oder bei ungleichen Beiträgen den identischen Versicherungsschutz erhalten.245 Abweichungen hiervon, wie z. B. die Beitragsbemessung alleine nach dem Einkommen des Versicherten oder die Beitragszahlung durch den Arbeitgeber246, stehen also im Widerspruch zum Versicherungsprinzip und bedürfen daher der Rechtfertigung durch das Solidarprinzip oder anderer Rechtsgedanken, die in diesen Zusammenhängen höher zu gewichten sind. IV. Verfassungsrechtliche Bindung? Über die Funktion als Leitlinie zur Auslegung und systemgerechten Fortbildung hinaus, können Prinzipien eine verfassungsrechtliche Bindung gegenüber dem Gesetzgeber entfalten und damit für die Frage der Legitimität einfachgesetzlicher Normen von Bedeutung sein. Voraussetzung dafür ist normhierarchisch der Verfassungsrang des Prinzips. Das Versicherungsprinzip ist im Rahmen der Kompetenzzuweisung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verfassungsrechtlich verankert. Der Bundesgesetzgeber hat unter Maßgabe des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die Möglichkeit, das Sozialversicherungsrecht fortzuentwickeln, darf dabei aber nicht – ohne den Rahmen der Kompetenzzuweisung zu verlassen – die Grundfesten des historisch gewachsenen Phänomens Sozialversicherung antasten.247 Das Versicherungsprinzip 242

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 541. Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 158. 244 BVerfGE 51, 1 (22 ff.); 74, 9 (24 ff.); 14, 312 (319 f.); 60, 101 (108); Heun, in: Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 73. 245 BVerfGE 79, 87 (101 f.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Rn. 144. 246 Zum Arbeitgeberbeitrag siehe im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 5. 247 Isensee, ZRP 1982, 137 (142); Pitschas, ZRP 1987, 283 (288); Oeter, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 105. 243

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als Wesenselement des Begriffs Sozialversicherung lenkt und limitiert daher den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Der Kompetenzzuweisung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG müsste jedoch darüber hinaus eine normative verfassungsrechtliche Grundentscheidung zukommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen Entscheidungen Kompetenznormen des Grundgesetzes materiell-rechtliche Bedeutung beigemessen.248 Befürworter eines positiven Kompetenzverständnisses entnehmen bundesstaatlichen Zuständigkeitsregelungen einen Legitimations- bzw. Garantiegehalt, der auch zur Rechtfertigung grundrechtstangierender Maßnahmen herangezogen werden kann.249 Dies begegnet grundsätzlichen Bedenken, insbesondere soweit Kompetenznormen zur Einschränkung grundrechtlich geschützter Freiheitssphären dienen sollen.250 Neben der Gefahr, die Autorität der Grundrechtsartikel mit ihrer differenzierten Schrankensystematik zu untergraben, wird auch die Unvereinbarkeit mit Art. 1 Abs. 3 GG angeführt.251 Denn Grundrechte begrenzen die 248

Bspw. wird in BVerfGE 53, 30 (56 f.) dem Kompetenztitel für die friedliche Nutzung der Kernenergie (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG) eine Verfassungsaussage zugunsten deren prinzipieller Zulässigkeit entnommen; in BVerfGE 69, 1 (21) wird in der Kompetenzzuweisung für die Verteidigung nach Art. 73 Nr. 1 GG – allerdings im Zusammenspiel mit Art. 12a, 87a und 115b GG – eine Verfassungsentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung und die Wehrpflicht gesehen. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 6 ff.; ders., in: Dreier, GG II, Art. 70 Rn. 19 ff.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 70 Rn. 4; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 25 ff. 249 Ehmke, VVDStRL 20 (1965), 53 (89 ff.); Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, S. 161 ff.; Bleckmann, Zum materiell-rechtlichen Gehalt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, DÖV 1983, 129 ff.; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 339 ff.; Stettner, in: Dreier, GG II, Art. 70 Rn. 21 f.; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 26, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 250 Maurer, Staatsrecht, § 17 Rn. 27; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 70 ff.; Lücke, Die Berufsfreiheit, S. 31; Manssen, Grundrechte, Rn. 127; Kunig, Jura 1996, 254 (260 f.); ders., in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 70 Rn. 4; Schnapp, JuS 1978, 729 (734); Selk, JuS 1990, 895 ff.; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 54; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 122 ff.; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 26, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Siehe insbesondere: Sondervotum Mahrenholz/Böckenförde, in: BVerfGE 69, 57 (60). Nach Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 18 ff., haben Kompetenznormen nur die Funktion, die Bundeskompetenz von der Länderkompetenz abzugrenzen. 251 BVerfGE 4, 7 (15); 55, 274 (302); siehe auch Sondervotum Mahrenholz/Böckenförde, in: BVerfGE 69, 57 (58 ff.); Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 54; Stettner, in: Dreier, GG II, Art. 70 Rn. 19; Selk, JuS 1990, 895 (898); Kriele, JA 1984, 629 (631); Lücke, Die Berufsfreiheit, S. 32; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 424, Anm. 192; Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Der Staat 30 (1991), 19 (30). Zu bedenken ist danach auch, dass bei konsequenter Anwendung der materialen Kompetenzlehre auch die Länderkompetenzen grundrechtslimitierenden Verfassungsrang genießen würden. Die in Art. 2 Abs. 1 GG genannte Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung umfasst gerade dasjenige Normgefüge, das der Bundes- oder Landesgesetzgeber in Ausübung seiner

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Inanspruchnahme eines Kompetenztitels und nicht umgekehrt der Kompetenztitel die Reichweite der Grundrechte. Mit anderen Worten: die untergesetzliche Legalordnung kann nicht allein aufgrund ihres kompetenziellen Anknüpfungspunkts zum grundrechtsbeschränkenden Verfassungswert erhoben werden.252 Dies bestätigt auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.253 Auf der Grundlage verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung und unter Rückgriff auf die verfassungsrechtliche Kompetenzzuweisung des Begriffs Sozialversicherung versteht Hase das Versicherungsprinzip als topos der verfassungsrechtlichen Argumentation.254 Das Versicherungsprinzip werde „immer wieder als ein werthafter Gesichtspunkt angeführt, der bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des einfachgesetzlichen Sozialversicherungsrechts (…) von Bedeutung ist“.255 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts anhand des Versicherungsprinzips findet zumeist im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit sozialversicherungsrechtlicher Regelungen mit Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1 sowie 14 GG statt.256 Sicherlich unterstreicht das Bundesverfassungsgericht im Zuge dessen die Bedeutung des Versicherungsprinzips im Sozialversicherungsrecht, spricht diesem aber selbst keinen eigenen Verfassungsrang zu. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, dass das Versicherungsprinzip nur eines der tragenden Ordnungsprinzipien der Sozialversicherung darstelle und dem Grundgesetz weder eine Garantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung noch seiner tragenden Ordnungsprinzipien zu entnehmen sei.257 Damit ist klargestellt, dass dem Versicherungsprinzip kein Verfassungsrang zukommt, es seiner Natur nach also auf unterverfassungsrechtlicher Ebene verbleibt.258 Kompetenzen erlassen hat. Folglich würden im Ergebnis die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte der Beschränkungsmöglichkeit des Art. 2 Abs. 1 GG angenähert werden. 252 Siehe Bethge, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 158 Rn. 46 f., der auf die untragbaren Folgen hinweist. Siehe auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 49; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 70; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 70 Rn. 4; Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 121 m. w. N. 253 BSG SozR – 2600 § 158 Nr. 1 S. 8: „Das Versicherungsprinzip hat innerhalb der Kompetenz für die Sozialversicherung keinen Verfassungsrang und ist im Grundgesetz inhaltlich nicht bestimmt.“ 254 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 154 ff. mit Nachweisen zur rechtsmethodischen Topik. Unter Verweis auf Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 147, erklärt Hase, ein topisches Argument dürfe aber nicht als abschließend missverstanden werden, mit dem topos werde lediglich auf einen Gesichtspunkt hingewiesen, der zu beachten und zu prüfen sein könnte. 255 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 155. 256 So in den von Hase beispielhaft aufgeführten Entscheidungen: BVerfGE 67, 231 (237); 90, 226 (239 f.); 80, 297 (310); 79, 87 (101); 63, 119 (126 ff.); 59, 36 (49 ff.). 257 Siehe nur BVerfGE 39, 302 (314); BVerfGE 77, 340 (344). 258 So auch Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 122 ff. und § 6 Rn. 5, 45 ff.

Kap. 3: Versicherungsprinzip

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Darüber hinaus stellt Rolfs die Frage, ob sich eine verfassungsmäßige Bindung des Gesetzgebers an das Versicherungsprinzip über den Gedanken der Systemgerechtigkeit ergibt; der Gesetzgeber also im Rahmen des Sozialversicherungsrechts an das Versicherungsprinzip dadurch gebunden ist, dass er diesem System den Charakter einer Versicherung gegeben hat. In Anbetracht der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Systemgedankens verneinte Rolfs jedoch die Frage zu Recht.259 Der aus dem Willkürverbot hergeleitete Gedanke der Systemgerechtigkeit gebietet dem Gesetzgeber sich bei der Neugestaltung einer Rechtsmaterie an der bestehenden Grundkonstruktion des früheren Gesetzeswerks zu orientieren, um Wertungsbrüche innerhalb der Rechtsordnung zu vermeiden.260 Den Gedanken der Systemgerechtigkeit oder strikten Systembindung des Gesetzgebers verwendete das Bundesverfassungsgericht lediglich zur Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebotes.261 Später postulierte das Bundesverfassungsgericht das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und leitete dies aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Bundesstaatsprinzip ab.262 „Die unabdingbar auf (verfassungsstrukturelle) Prinzipien zu gründende Widerspruchsfreiheit aller Rechtssätze einer Rechtsordnung soll letztlich eine gleichmäßige Relation von Recht und sachverhaltlich festgestellter Wirklichkeit gewährleisten“, schreibt Sodan.263 Normwidersprüche müssten „hinsichtlich Mittel und Zweck ausgeschlossen werden“. „Den Normadressaten dürfen im vergleichbaren Falle immer nur gleiche Rechtssätze erreichen“, schreibt Sodan weiter; dies gebiete das allgemeine Gleichheitsgebot. Gesetzgeberische Systemdurchbrüche seien nur dann mit dem Gleichheitsgebot nach Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren, so das Bundesverfassungsgericht, „wenn das Gewicht der für die Abweichung sprechenden Gründe der Intensität der getroffenen Ausnahmeregelung entspricht“.264 Folglich kann eine Verletzung der vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit 259

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S.180 f. Schulin, in: Schulin HS-KV § 5 Rn. 103 f.; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 37 ff. Allgemein zum Gebot der Systemgerechtigkeit: Peine, Systemgerechtigkeit; Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, § 181 Rn. 208 ff.; Kischel, AöR 124 (1999), 174 (198); Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 288 ff.; Huster, Rechte und Ziele: zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, S. 386 ff.; Heun, in: Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 34; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 98 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Rn. 44 ff. 261 BVerfGE 6, 55 (77); 9, 20 (28 ff.); 13, 31 (38); 18, 315 (334); 34, 103 (115); 59, 39 (49); 76, 130 (139 f.). 262 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); 98, 265 (301). Siehe ausführlich zum Prinzip widerspruchsfreier Rechtsordnung und dessen Herleitung Sodan, JZ 1999, 864 (864 ff.). In jüngerer Zeit weist das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung folgerichtiger Regelungen und Entscheidungen hin; grundlegend hierzu siehe BVerfGE 108, 150 (181 ff.), vgl. auch BVerfGE 120, 82 (103); 121, 317 (362); 126, 170 (199). 263 Zu diesem und den folgenden Zitaten siehe Sodan, JZ 1999, 864 (865). 264 BVerfGE 18, 366 (372 f.). 260

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz indizieren, wobei dabei die Gründe für die Durchbrechung des gewählten Systems zu untersuchen sind. Damit trifft den Gesetzgeber kein allgemeines und striktes Konsequenzgebot, sondern nur das Verbot willkürlicher Inkonsequenz.265 Eine Abweichung des Gesetzgebers von den Grundregeln, die einen Normenkomplex geprägt haben, ist zulässig, wenn sachliche Gründe dafür bestehen. Systemwidrigkeit alleine begründet noch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG; es obliegt der Entscheidung des Gesetzgebers, nach welchem System er eine Regelungsmaterie ordnet,266 sofern er dabei das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung beachtet. Insofern löst ein Systemverstoß lediglich einen Begründungs- und Rechtfertigungszwang für den Gesetzgeber aus. Die schlichte Feststellung einer Systemwidrigkeit reicht nicht aus, um ein Gesetz als verfassungswidrig einzustufen. Eine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers an das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht besteht folglich nicht. Zurückkommend auf die eingangs gestellte Frage nach dem Umfang der Direktivkraft des Versicherungsgedankens für die sozialversicherungsrechtliche Gesetzgebung lässt sich nach alledem feststellen: konkrete Aussagen zu den Vorgaben des Versicherungsprinzips für die Gestaltung der Sozialversicherungsverhältnisse, insbesondere der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen, sind kaum möglich. Die Direktivkraft des Versicherungsprinzips ist mit Blick auf eine konkrete Einzelregelung unter Abwägung anderer Rechtsgedanken und Prinzipien zu bestimmen.

D. Zusammenfassung Der Begriff des Versicherungsprinzips wird hier in einem weiten Sinn verstanden als Summe der Eigenarten und Charakteristika, die dem Phänomen Versicherung anhaften. Wesentliche Merkmale einer Versicherung sind: ein kollektives Element, z. B. in Form einer Versichertengemeinschaft, das Vorliegen einer Gefahr als ein ungewisses Ereignis, die Entgeltlichkeit des Versicherungsschutzes bzw. die Gegenseitigkeit von Beitrag und Leistung sowie der Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistung. Zudem gilt die Gleichartigkeit der Gefahren, die Schätzbarkeit und Zufälligkeit der Gefahrverwirklichung als versicherungstypisch. Versicherung dient der Absicherung des Versicherten im Versicherungsfall. Sozialversicherung ist Versicherung im Rechtssinne. Im Sozialversicherungsrecht verlangt das Versicherungsprinzip die Gefahrtragung im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Beitragszahlung im Sinne unbedingter gegenseitiger Leistungsverpflichtung sowie – im Zusammenspiel mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG – die Gleichbehandlung aller Versicherten im 265

Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 11, 93; Kischel, AöR 124 (1999), 174 (198). 266 BVerfGE 59, 39 (49); 61, 138 (149); 75, 382 (395 ff.); 76, 130 (139 f.). Siehe auch Schnapp, VSSR 1995, 101 (111); Schoch, DVBl. 1988, 863 (878 f.) m. w. N.

Kap. 4: Solidarprinzip

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Verhältnis zum jeweils erlangten Versicherungsschutz. Das Versicherungsprinzip gilt als der Gesichtspunkt, der für eine möglichst intensive rechtliche Verknüpfung zwischen Versicherungszugehörigkeit und individuell zuzuordnender Vorsorgeleistung einerseits und späterer Leistungsberechtigung andererseits spricht. Sozialversicherung ist eine eigenständige Sicherungsform neben der Privatversicherung. Ihnen ist die grundsätzliche Kategorisierung als Versicherung anhand der wesentlichen Merkmale gemein. Erhebliche Unterschiede ergeben sich hinsichtlich des Zustandekommens der Versicherungsverhältnisse, der inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten sowie der rechtlichen Verknüpfung von Beitragszahlung und Leistungsberechtigung. Im Gegensatz zur privatversicherungstechnischen Beitragsäquivalenz steht das sozialversicherungsrechtliche Prinzip Beitrag nach Einkommen. Als normtheoretisches Prinzip dient der Versicherungsgedanke als Leitlinie bei der Auslegung bzw. Anwendung und Fortbildung der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen. Das Versicherungsprinzip ist seiner Natur nach auf unterverfassungsrechtlicher Ebene anzusiedeln; eine verfassungsmäßige Bindung des Gesetzgebers an das Versicherungsprinzip ergibt sich weder aus der kompetenziellen Verortung noch über den Gedanken der Systemgerechtigkeit. Der Prinzipiencharakter verlangt aber, dass der Versicherungsgedanke als potenzielles Argument bei der Entscheidung sozialversicherungsrechtlicher Fragestellungen abzuwägen ist. Das Versicherungsprinzip ist jedoch nur eines der Ordnungsprinzipien der Sozialversicherungen und daher im Einzelfall zu gewichten und abzuwägen. Kapitel 4

Solidarprinzip Die Sozialversicherungen werden nicht allein durch das Versicherungsprinzip, sondern ebenso durch das Solidarprinzip beherrscht. Erst das Miteinander dieser sich wie Waagschalen zueinander verhaltenden Strukturmerkmale verleihen dem Begriff Sozialversicherung seine Eigenständigkeit. Darauf weist nicht nur die Wortverbindung von sozial und Versicherung hin; die grundlegende und prägende Bedeutung des sozialen Elements der Sozialversicherung ergibt sich auch – wie in Kapitel 2 aufgezeigt – aus der verfassungsgerichtlichen Bestimmung der Sozialversicherung als Kompetenzmaterie. Auch das Bundessozialgericht erklärt in ständiger Rechtsprechung, das Recht der Sozialversicherung werde von dem Grundsatz der Solidarität der Arbeitnehmer, die kraft Gesetzes zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen sind, beherrscht.267 Nicht zuletzt der Europäische Gerichtshof betonte den 267 BSGE 5, 17 (20); 6, 213 (218); 11, 243 (247: „dem das Recht der Soz.Vers. beherrschenden Grundsatz der Solidarität“); 14, 185 (191); 20, 123 (127); 24, 285 (289); 32, 13 (15); 37, 240 (241); 40, 208 (209); 43, 255 (266); 44, 142 (144); 49, 22 (28: „das im Sozialversi-

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

sozialen Zweck der Sozialversicherungssysteme, in dem er die Rechtsstellung von Sozialversicherungsträgern an der Existenz und Ausprägung des sozialen Ausgleichs maß.268 Welche konkreten Vorgaben und Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit mit der Geltung des Solidarprinzips in der Sozialversicherung verbunden sind, scheint bislang jedoch unklar. Hierzu meint Kirchhof: „Das Phänomen eines Solidarprinzips im Sozialversicherungsrecht ist unübersehbar. Niemand zweifelt, daß es existiert. Merkwürdig ist allein, daß dessen allgemeine Rechtsgrundlagen und Erscheinungsformen bisher kaum ermittelt, noch dessen dogmatische Legitimation, Tragfähigkeit und Reichweite erforscht worden sind“.269 Sicherlich kann ein solches Vorhaben nicht in Gänze im Rahmen dieser Untersuchung erfolgen, dennoch wird diesem Anliegen im Folgenden für die Zwecke dieser Arbeit Rechnung getragen und das Solidarprinzip grundlegend und mit Blick auf die gesetzliche Krankenversicherung betrachtet.

A. Begriff und Bedeutung Die Terminologie zum sozialen Element der Sozialversicherung ist uneinheitlich. Neben dem hier verwendeten Begriff des Solidarprinzips270 wird auch vom Solidaritätsprinzip271, Grundsatz der Solidarität272 oder Gedanken der Solidarität273, cherungsrecht vorherrschende Prinzip der Solidargemeinschaft“); 49, 247 (248); 58, 218 (222); 59, 69. 268 Im Zusammenhang mit der Frage, ob Sozialversicherungsträger den Wettbewerbsregeln der Art. 81 ff. EG unterfallen, stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf das Maß des gewährleisteten sozialen Ausgleichs ab. Im konkreten Fall eines französischen Versicherungsträgers verneinte der EuGH bereits die Eigenschaft des Versicherungsträgers als Unternehmen im Sinne von Art. 81 und 82 EG [EuGH, Urteil vom 17. 2. 1993 – Rs. C-159/91 und C-160/91, Slg. 1993, S. I-637 ff., 666 ff. (Rn. 8, 10, 13, 18); siehe auch Urteil vom 16. 11. 1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, S. I-4013 ff., 4022 ff. (Rn. 19)]. In der Sache entscheidend war jedoch, ob das Monopol im Hinblick auf den sozialen Zweck des Systems unverzichtbar ist. Dies hat der EuGH bzgl. der französischen Versicherungsträger bejaht, da es sich um Einrichtungen mit Aufgaben allein sozialen Charakters handelt, bei denen Leistung und Finanzierung nach dem Prinzip des sozialen Ausgleichs organisiert sei. Damit stellte der EuGH klar: das Monopol der Sozialversicherungsträger hängt an der Existenz des sozialen Ausgleichs. Ausführlicher zu den Entscheidungen siehe Becker, JZ 1997, 534 (539 ff.); Giesen, VSSR 1996, 311 ff.; Heinze, ZVersWiss 1996, 281 (296 ff.); Isensee, VSSR 1996, 169 (174 ff.); Rolfs, SGb 1998, 202 ff.; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 78 ff. 269 Kirchhof, SDSRV 35 (1992), 65 (66). 270 So bspw. auch Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 21 ff.; Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 60 ff.; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, S. 178 ff.; Hong, Verfassungsrechtliche Schranken der Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen, S. 75 f.; Kirchhof, SDSRV 35 (1992), 65 (66). 271 Z. B. BSGE 47, 60 (61 f.); 57, 179 (182); Weber, Die Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 23 ff. 272 Siehe bspw. BSGE 11, 243 (247); 40, 208 (209); 58, 218 (222).

Kap. 4: Solidarprinzip

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vom Prinzip des Solidarausgleichs274, vom Prinzip des sozialen Ausgleichs275 oder auch vom Prinzip der Solidargemeinschaft276 gesprochen. Diese Termini werden ebenso wie die in Bezug genommenen Begriffe Solidarität, sozialer Ausgleich277 oder auch Solidarausgleich278 teilweise synonym, teilweise mit unterschiedlicher Bedeutung eingesetzt und sorgen in der Diskussion über den Inhalt des sozialen Elements der Sozialversicherung für Verwirrung. Ausgehend vom weiten Begriff der Solidarität ist im Folgenden das Solidarprinzip sowie der soziale Ausgleich als dessen Manifestation erläutert. I. Solidarität Das Solidarprinzip knüpft begrifflich an das Phänomen der Solidarität an. Der Begriff der Solidarität279 geht auf das lateinische solidus oder in solidum obligari zurück, worunter im römisch-rechtlichen Sprachgebrauch die Haftung für das Ganze verstanden wurde. Das bedeutete, jedes Mitglied einer Gemeinschaft hatte für die Gesamtheit der bestehenden Schulden aufzukommen und umgekehrt die Gemeinschaft für die Schulden jedes einzelnen Mitglieds. Solidarität wird meist beschrieben als das wechselseitige Aufeinanderangewiesensein von Gesellschaftsgliedern, das Bestehen und die Verfolgung gemeinsamer Interessen, die Orientierung auf ein allgemeines Wohl, das Einstehen und die Sorge für andere, die Bereitschaft zur Erbringung von Opfern zu Gunsten Schwächerer. Dies kommt in der Wendung Einer für alle, alle für einen anschaulich zum Ausdruck. Wesensmerkmal der Solidarität ist die Gegenseitigkeit geübter Solidarität, d. h. solidarisches Verhalten der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen und solidarisches Verhalten des Einzelnen ge-

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BVerfGE 70, 101 (111); 75, 108 (158); 76, 256 (301); 97, 271 (285); Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 221 f. 274 Z. B. BSGE 52, 93 (96). 275 Z. B. BVerfGE 39, 316 (330); 76, 256 (302); Jahn, Sozialversicherung und Staat, in: FS für Horst Schieckel, 153 (167). 276 Bspw. BSGE 43, 255 (266); 49, 22 (28). 277 BSGE 38, 98 (103); Krause, VSSR 1980, 115 (135 f.). 278 Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 16 ff.; Kloepfer, VSSR 1974, 156 (165). 279 Bayertz, Solidarität, S. 11 ff.; Christoph, Solidarität, S. 9 ff.; Grimm, Stichwort Solidarität, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. II; Stichwort Solidarität, in: Staatslexikon RechtWirtschaft-Gesellschaft. Der Begriff der Solidarität wird auch außerhalb des Sozialrechts in anderen Rechtsbereichen wie z. B. im Arbeitsrecht, Völker- und Europarecht oder im Steuerrecht verwendet. Zu entsprechenden Nachweisen siehe Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 373. Als rechtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Solidarität sind insbesondere Folgende zu nennen: Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung; Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat; Denninger, Rechtsperson und Solidarität; Grimm, Solidariät als Rechtsprinzip; Frankenberg, Die Verfassung der Republik; Isensee (Hrsg.), Solidarität und Knappheit; Ruland, NJW 2002, 3518 f.; Mäder, ZFSH/ SGB 1999, 675 ff., 725 ff.

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

genüber der Gemeinschaft.280 Wesentlich ist dabei die Bereitschaft, eigene Interessen insoweit den Gemeinschaftsinteressen unterzuordnen – unabhängig davon, ob dies durch Mitmenschlichkeit oder lediglich aus potenziellem Eigennutz motiviert ist. Solidarität bezeichnet somit die wechselseitige Verbundenheit einer Gruppe von Menschen, die darin liegt, dass sie aufeinander angewiesen sind und ihre Ziele nur im Zusammenwirken erreichen können. Zur Verdeutlichung wird oftmals das Bild Alle in einem Boot bemüht. Zum einen kann sich keiner – ohne Weiteres – aus dieser Schicksalsgemeinschaft lösen, zum anderen kommt aber die notwendige Zusammenarbeit allen zugute und ein jeder profitiert vom gemeinsamen Erfolg. Ausgangspunkt der Solidarität ist somit eine Gemeinschaft. Sogenannte Solidargemeinschaften sind beispielsweise die Familien als Ursprungsort von Solidarität, die staatliche Gemeinschaft, Betriebe, Kommunen oder Versicherungsträger. Solidarisches Verhalten innerhalb einer Solidargemeinschaft zielt auf deren Erfolg und bedeutet Pflichterfüllung und Einsatz jedes Gemeinschaftsmitglieds für das gemeinsame Ziel sowie das Zurückstellen eigener Interessen. Solidarität beruht auf gemeinsamen Wertorientierungen, beschreibt das Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Gruppe und bedeutet Hilfe für den Einzelnen durch die Solidargemeinschaft sowie die Unterstützung dieser Gemeinschaft durch den Einzelnen. 1. Solidarität als gesellschaftliches Prinzip Demzufolge beschreibt Solidarität ein gesellschaftliches Prinzip, das weder beim Individuum ansetzt, wie es ein liberales Verständnis verlangt, noch mit dem Marxismus vom Kollektiv ausgeht, dem der Einzelne die eigene Freiheit und Verantwortung opfern muss. Ein solidaristisches Leitbild bzw. das dem zugrunde liegende Prinzip der Solidarität versteht vielmehr den Menschen als gesellschaftliches Wesen, der für Mitmenschen offen und auf sie angewiesen ist, und sich nur im Zusammenwirken mit anderen Menschen entfalten, seine Ziele erreichen sowie Kultur und Geschichte gestalten kann. Der einzelne Mensch hängt von anderen einzelnen Menschen ab, um lebensfähig zu sein und an den Vorteilen der arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung teilhaben zu können.281 Neben dieser Bindung des Einzelnen an die Gesellschaft besteht auch eine Rückbindung der Gesellschaft, die auf die Mitwirkung der Gesellschaftsglieder angewiesen ist, an das Wohl des Einzelnen. Es ist Ziel und Aufgabe der solidarischen Gesellschaft ihren Gliedern die freie Entfaltung ihrer Kräfte zu ermöglichen. Die Verantwortung hierfür liegt jedoch nicht beim Kollektiv, sondern bei der einzelnen Person, die selbst initiativ handeln muss. Akteure und verantwortliche Träger gesellschaftlichen Lebens sind nicht die Gesellschaft, Behörden oder Experten, sondern die Menschen selbst. Gesellschaftsglieder und kleinere Gemeinschaften haben also das Recht, die eigenen Aufgaben und Ziele mit eigenen Mitteln zu verwirklichen. Die Solidarität kann insofern nicht herange280 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 39; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 32 f. 281 Siehe auch Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 32.

Kap. 4: Solidarprinzip

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zogen werden, um den Freiraum des Einzelnen, die Privatinitiative, das Privateigentum und die Eigenverantwortung der Gesellschaftsglieder unbegrenzt einzuschränken. Dieses Verhältnis von Mensch und Gesellschaft fordert die subsidiäre Struktur der Gesellschaft, sodass das Prinzip der Solidarität in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Prinzip der Subsidiarität282 steht. Das bedeutet: um die freie Entfaltung der Gesellschaftsglieder zu ermöglichen, darf staatliche Sozialpolitik nicht die Selbsthilfe des Einzelnen und der primären sozialen Netze zurückdrängen und muss insoweit Zurückhaltung üben. Die Zuständigkeit der staatlichen Gemeinschaft beschränkt sich darauf, die notwendigen Voraussetzungen und die erforderlichen Bedingungen zu schaffen, um die Individuen und primären sozialen Netze überhaupt erst in die Lage zu versetzen, Selbsthilfe zu leisten. Will eine Gesellschaft ihren Gliedern Unterstützung und Hilfestellung bei der Entwicklung der eigenen Kräfte bieten, muss die gesellschaftliche Tätigkeit subsidiär sein. Dies sichert den eigenen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich der einzelnen Gesellschaftsglieder und verpflichtet die Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft, im Bedarfsfall nachrangig tätig zu werden. 2. Solidarität und Individualität Der Begriff Individualität meint die „Eigenart des einzelnen Wesens, die Gesamtausprägung seiner eigentümlichen Eigenschaften“.283 Die Entwicklung von Individualität setzt Freiheit voraus; Freiheit, das eigene Leben zu gestalten. Das Leben einer einzelnen Person ist jedoch kein in sich geschlossenes, autarkes Geschehen. Der Mensch ist nicht alleine, sondern immer Teil einer Gesellschaft und schon seiner Natur nach auf Beziehungen mit anderen Menschen ausgerichtet. „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums“, formuliert das Bundesverfassungsgericht, „das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“.284 Individualität bzw. die Persönlichkeit des Einzelnen formt sich in erster Linie durch Interaktion mit anderen. Umgekehrt basieren zwischenmenschliche Beziehungen auf der gemeinsamen Wertorientierung, die sich aus der persönlichen, individuellen Gesinnung der einzelnen Gemeinschaftsglieder speist. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl – ungeachtet seiner jeweiligen Ausprägung –, das in der Folge gegenseitiger Abhängigkeit der Menschen entsteht, ist Grundlage von Solidarität. Individualität und Solidarität, die auf den ersten Blick als bloße Gegensätze erscheinen, sind demnach eng miteinander verknüpft.

282 Auf das Subsidiaritätsprinzip wird an späterer Stelle noch ausführlich einzugehen sein; siehe im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 4. 283 Stichwort Individualität, in: Brockhaus Enzyklopädie. 284 BVerfGE 4, 7 (15 f.); 30, 1 (20); 35, 202 (225).

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Zweifelsohne stehen Individualität und Solidarität in einem Spannungsverhältnis zueinander. Solidarität verpflichtet und berechtigt die Mitglieder der Solidargemeinschaft; sie schränkt ihre individuelle Freiheit ein und gleichzeitig sichert sie Freiheiten der Mitglieder. Je nach eigener Lebenssituation bzw. Perspektive empfindet der Einzelne die Solidargemeinschaft als Bürde oder als Hilfe. Einerseits bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Solidargemeinschaft für den Einzelnen die Sicherheit, dass die Solidargemeinschaft entsprechend ihrer Zweckbestimmung für ihn und seine Interessen eintreten wird. Dies gibt dem Einzelnen Freiheit in seiner individuellen Lebensgestaltung. Zum anderen muss er sich seinerseits solidarisch gegenüber der Solidargemeinschaft verhalten und insofern seine Freiheit unterordnen. 3. Zwangssolidarität Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive spielt die Unterscheidung von Handeln aus freiwillig zugewendeter Solidarität und demjenigen solidarischen Handeln, zu dem der Handelnde gesetzlich verpflichtet ist, eine entscheidende Rolle. Handeln aus Solidarität ist Ausdruck einer persönlichen und gesellschaftlichen Gesinnung und wird in erster Linie durch die Bedürfnisse des anderen Menschen bestimmt, geschieht freiwillig und unbegrenzt. Dagegen ist solidarisches Handeln aufgrund einer Rechtspflicht eine von außen erzwungene Zuwendung, deren Ausmaß und Grenzen festgelegt sind. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht wird teilweise gefordert,285 derart erzwungene Solidarität nicht unter den Begriff der Solidarität zu fassen. Der qualitative Unterschied zwischen freiwillig zugewendeter Hilfe und gesetzlich vorgeschriebenem, solidarischem Verhalten ist zwar offensichtlich, bezieht sich aber in erster Linie auf die Motive zu solidarischem Verhalten, die nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Solidarität nicht begriffswesentlich sind. Im Übrigen lässt sich in der heutigen Gesellschaft natürlich gewachsene Solidarität nur noch schwer aufweisen. Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft, die sich in der Vielfalt der Lebenspläne, Lebensführungen und -verhältnissen der einzelnen Bürger zeigt, schmälert das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gesellschaft. Solidarität, die dem einzelnen Bürger Freiheiten sichern soll, muss mehr sein als eine Bürgertugend. Erst der Rechtsanspruch auf Solidarität vermittelt verlässliche Sicherheit, die selbst demjenigen, der in Not geraten ist, einen Rahmen individueller Freiheit und Lebensgestaltung eröffnet. Gegenstand der hier zu untersuchenden Sozialversicherung ist die Erfüllung bestimmter Aufgaben gegenüber einem bestimmten Personenkreis im Sinne solidarischer Hilfeleistungspflichten, die der Gesetzgeber – unter organisatorischer Zwischenschaltung der öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungsträger – den einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft auferlegt. Es geht somit um staatlich angeordnete Zwangssolidarität. Das erzwungene solidarische Handeln der Sozialversi-

285

Stellvertretend für viele siehe Bayertz, Solidarität, S. 34 ff.

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cherten besteht beispielsweise in der Erbringung der Sozialversicherungsbeiträge, die zur Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben dienen. Die sich in diesem Zusammenhang aufdrängende Frage, worin die Berechtigung des Gesetzgebers besteht, den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft zwangsweise Solidaritätspflichten aufzuerlegen, untersucht Butzer eingehend.286 Dabei zeigt er vor geschichtlichem und staatstheoretischem Hintergrund auf, dass „sich der Staat vor allem aufgrund seiner Entstehungsbedingungen traditionell als Gehäuse für die Solidarität von Bürgern untereinander verstehen lässt und ihm deshalb seit jeher auch die Berechtigung zur Stiftung von Zwangssolidarität unter seinen Zugehörigen eingeräumt ist“.287 Die staatliche Gemeinschaft könne auf Dauer nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder wechselseitig soziale Gleichheit fühlen und insofern Solidarität und Rücksicht ausübten. Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft sei es, das Gemeinschaftswohl zu verwirklichen. Um dieses Ziel zu erreichen müsse der Staat – als Verkörperung der Gemeinschaft – die Rolle des Moderators hinsichtlich der dafür innergemeinschaftlich notwendigen Solidarität und gegenseitigen Rücksichtnahme einnehmen. Eine erste288 verfassungsrechtliche Festlegung, dass der Staat Solidarität zu organisieren hat, traf die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Sie stellte umfassende Gesetzgebungskompetenzen mit sozialem Bezug bereit und enthielt in den Art. 109 bis 165 einen breiten Katalog von subjektiven Grundrechten und -pflichten, Gewährleistungen, Grundsätzen, Richtlinien und Programmen für die Gestaltung des künftigen Gemeinschaftslebens.289 Im Unterschied dazu bietet das Grundgesetz von 1949 keine sozialen Grundrechte oder -pflichten, sondern unterwirft das Eigentum einer Gemeinwohlbindung und führt im Kompetenzkatalog in Art. 74 mit Fürsorge (Nr. 7), Sozialversicherung (Nr. 12) und Versorgung (Nr. 10) die wichtigsten Institutionen gesellschaftlicher Solidarität ausdrücklich auf. Insbesondere verleiht das Grundgesetz dem neuen Staat in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 eine soziale Zielbestimmung. Der Gedanke der Solidarität wird dabei jedoch nicht unmittelbar angesprochen.

286

Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 377 ff. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 377. 288 Dies gilt jedenfalls für die Reichsebene. Zuvor verwies aber bereits die Präambel der Reichsverfassung von 1867/1871 darauf, dass die beteiligten Könige und Fürsten „einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ schlossen. 289 Bspw. regelte Art. 151 Abs. 1 WRV: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Nach Art. 161 WRV bestand als sozialer Programmsatz die Verpflichtung des Reiches, „zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens … ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten zu schaffen“. 287

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

4. Solidarität und Sozialstaatsprinzip Die verfassungsrechtliche Vorgabe des sozialen Staates wurzelt in der Vorstellung, dass die Staatsbürger eine Gemeinschaft bilden, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, und miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind. Diese Solidarität in ihrer moralisch-ethischen Dimension gewährt dem Sozialstaatsprinzip eine sozialethische Legitimität und ist als inhaltliche Stütze des Sozialstaatsprinzips zu verstehen.290 Das soziale Staatsziel stellt die „verfassungsrechtliche Übersetzung staatsbürgerlicher Solidarität“291 dar. Die Vorstellung einer von Solidarität geprägten Gesellschaft findet ungeachtet aller Differenzen der Staatsbürger in Weltanschauungsfragen weitgehend Anerkennung – wenn auch hinsichtlich des Grades der wechselseitigen Verbundenheit der Gesellschaftsglieder sicherlich große Meinungsunterschiede bestehen. Das soziale Staatsziel ist nach Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG eingebunden in die Prinzipien der Republik, der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats. Soziale Ideen, die mit diesen anderen Staatszielen unvereinbar sind, sind nicht Bestandteil der sozialen Zielbestimmung. Das soziale Staatsziel – vorgegeben mit dem einzigen Wort sozial – wird durch das Grundgesetz nicht näher konkretisiert. Dementsprechend ist das Sozialstaatsprinzip gekennzeichnet durch Unbestimmbarkeit und Interpretationsoffenheit. Im Unterschied zu den anderen Staatszielen, die Organisations- und Verfahrensweisen benennen, in denen Bedingungen richtiger Befindlichkeit der Gesellschaft und des Gemeinwesens gesehen werden, meint sozial den Zustand oder die Befindlichkeit der Gesellschaft selbst.292 Mit dem Attribut sozial trägt der Verfassungsgeber dem Gesetzgeber auf, soziale Gerechtigkeit293 zu gestalten und herzustellen. Das Ziel, die gerechte Sozialordnung294, ist damit vorgegeben; wie dieses Ziel konkret zu verfolgen ist, bleibt offen. Rechtsprechung, Gesetzgebung und Wissenschaft haben dem sozialen Staatsziel in den letzten 60 Jahren Konturen gegeben. Der aus dem Sozialstaatsprinzip erwachsende Regelungs- und Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber umfasst nach allgemeiner Überzeugung den Ausgleich der sozialen Gegensätze und die Schaffung einer gerechten Sozialordnung.295 Der Gesetzgeber ist aufgefordert, „sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um Herstellung erträg290

Siehe auch Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 32, der in dem Solidaritätsgedanken die „sozialethische Grundlage für die soziale Gerechtigkeit“ sieht. 291 So formuliert Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 383. 292 Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 2; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 3. 293 BVerfGE 1, 97 (105); 5, 85 (198). 294 BVerfGE 59, 231 (263); 69, 272 (314); 94, 241 (263); 110, 412 (445). 295 BVerfGE 22, 180 (204); 94, 241 (263); 100, 271 (284); 110, 412 (445); BSG SozR 3 – 2500 § 61 SGB V Nr. 3; Stern, Staatsrecht, Bd. I § 21 I 5 c, II 1, 2; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2 § 81 V 3 b; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 24; Papier, in: v. Maydell/Ruland/ Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 8.

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licher Lebensbedingungen für alle … zu bemühen“.296 Im Einzelnen sind folgende Elemente des sozialen Staatsziels zu nennen: Hilfe gegen Not und Armut297 und ein menschenwürdiges Existenzminimum für jedermann298 ; soziale Gleichheit durch den Abbau von Wohlstandsdifferenzen,299 Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen und Herstellung von Chancengleichheit der Bürger,300 soziale Sicherheit gegen die Wechselfälle des Lebens301 und soziale Entschädigung beim Eintritt besonderer Opfer (Kriegsopfer, Behinderung, Verbrechen)302 ; sowie die Hebung und Ausbreitung des allgemeinen Wohlstandes303. Konkrete und verbindliche Aufträge im Sinne einer bestimmten Regelung lassen sich jedoch nicht aus dem Sozialstaatsprinzip ableiten – so die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts304 und weite Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur305. Es ergeben sich regelmäßig keine subjektiven Rechte allein aus dem Sozialstaatsprinzip; es besteht kein Anspruch auf bestimmte soziale Regelungen.306 Vielmehr bleibt es dem Gesetzgeber überlassen, im Einzelnen zu regeln, was sozialstaatlich geboten ist. Maßgeblich für die Bestimmung des jeweils sozialstaatlich Gebotenen ist die soziale Normalität307, die durch die Offenheit und Vielfalt der Normalitäten und der ständigen Veränderung der sozialen Verhältnisse gekennzeichnet ist. Der Gesetzgeber ist durch den sozial296

BVerfGE 1, 97 (105); 100, 271 (284). Ähnlich BSGE 6, 213 (219). Zuerst BVerfGE 1, 97 (105). 298 BVerfGE 40, 121 (133); 43, 13 (19); 44, 353 (375); 45, 187 (228); 82, 60 (80); 87, 153 (169 ff.); BSGE 25, 170 (175); BVerwGE 23, 141 (153 ff.). Eingehend Lehner, Einkommensteuer und Sozialhilferecht, S. 411 ff.; Schlenker, Soziales Rücktrittsverbot, S. 91 ff. 299 BVerfGE 5, 85 (198); 26, 16 (37); 35, 202 (236); BSGE 10, 97 (100); Zacher, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 25. 300 BVerwGE 23, 149 (153, 156); Badura, SGb 1980, 1 (3); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII Rn. 40, sieht den Gedanken der Chancengleichheit als das zentrale Anliegen staatlicher Sozialpolitik. 301 Sicherungssysteme mit dieser Zielsetzung sind insbesondere die Sozialversicherungen. In ihnen sieht das Bundesverfassungsgericht „einen besonders prägnanten Ausdruck des Sozialstaatsprinzips“; vgl. BVerfGE 28, 324 (348); 45, 376 (387). 302 BVerfGE 27, 253 (283, 291); 38, 187 (198); 41, 126 (153 f.); BSGE 54, 206 (212). 303 Dabei ist das Staatsziel der Wahrung des gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichts nach Art. 109 Abs. 2 GG zu beachten. Siehe ausführlich Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 53 ff. 304 BVerfGE 52, 283 (298); 59, 231 (262 f.); 65, 182 (193); 71, 66 (80); 94, 241 (263); 110, 412 (445). 305 Badura, DÖV 1989, 491 (494); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII Rn. 45; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 112; Gröschner, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 32; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2 § 81 V 3 b; Stern, Staatsrecht, Bd. I § 21 IV 4; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 21 f. Anderer Ansicht ist Neumann, DVBl. 1997, 92 (98 f.). 306 BVerfGE 27, 253 (283); 82, 60 (80); 94, 241 (263); 110, 412 (445); BSG, SGb 1984, 430; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 112; Gröschner, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 32. 307 Zur Grundannahme einer sozialen Normalität siehe Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 69 ff. 297

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

staatlichen Gestaltungsauftrag aber nicht zu beliebiger Förderung und Durchsetzung des sozialen Staatsziels ermächtigt.308 Er darf Solidaritätspflichten seiner Bürger nur begründen, soweit die bundesstaatliche Kompetenzordnung und die Gesetzesvorbehalte des Grundgesetzes dies zulassen. Insbesondere die verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechte sind als Schranken des Sozialstaates und der sozialstaatlichen Politik zu verstehen. Das Bundesverfassungsgericht weist insofern auf die „unaufhebbare und grundsätzliche Spannungslage zwischen dem Schutz der Freiheit des Einzelnen und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung“ hin.309 Neben den grundrechtlichen gelten auch die übrigen rechtsstaatlichen Eingriffsbegrenzungen der öffentlichen Gewalt. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Verfassung die Ziele des Sozialstaats und des Rechtsstaats nebeneinander stellt.310 Um dem sozialstaatlichen Gestaltungsauftrag nachzukommen und in diesem Rahmen solidarisches Verhalten der Bürger in den unterschiedlichsten Lebensbereichen sicherzustellen, bedient sich der Gesetzgeber verschiedener Verfahrensweisen. Zum einen gebietet er seinen Bürgern solidarisches Verhalten, um beispielsweise das Verhältnis von individuellem Grundrechtsgebrauch und Rechten Dritter bzw. der Allgemeinheit zu konkretisieren, z. B. durch Regelungen des Mieterschutzes, Natur- und Landschaftsschutzes, durch bau- und bodenrechtliche Beschränkungen. Verhaltensgebote im Zeichen der Solidarität sind auch in den Unterhalts- und Beistandspflichten in der Familie311 oder in der Pflicht zur Hilfeleistung in Not- und Unglücksfällen (§ 323c StGB) zu sehen. Zum anderen verteilt der Staat Einkommen und Vermögen der Bürger um, um auf diese Weise mehr soziale Sicherheit und mehr soziale Gleichheit zu erreichen. Finanziert durch die Erhebung von Steuern teilt der Staat sozial schwächeren Bürgern Geld- und Naturalleistungen zu, errichtet und unterhält er öffentliche Einrichtungen, stellt öffentliche Infrastruktur bereit, subventioniert Grundnahrungsmittel etc. Eine dritte Verfahrensweise, der sich der Staat zur Organisation solidarischen Verhaltens bedient, ist die Konstituierung und Förderung unterstaatlicher Solidargemeinschaften. Heute finden sich solche unterstaatlichen Solidargemeinschaften in verschiedenen Gesellschaftsbereichen, insbesondere in den Bereichen funktionaler Selbstverwaltung wie beispielweise die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Hochschulen, freien Berufe oder die Sozialversicherungsträger. Der Staat hat hierzu bestimmte Personen, Verbände oder Unternehmen zusammengeschlossen, organisiert sie durch Regelungen zum Mitgliedschafts-, Beitrags- und Leistungsrecht und verpflichtet die betroffenen Mitglieder auf diese Weise zu solidarischem Verhalten. Die Systeme der gesetzlichen Sozialversicherungen qualifiziert das Bundesverfassungsgericht als auf 308

BVerfGE 12, 354 (367); Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 27; Papier, in: v. Maydell/ Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 5. 309 BVerfGE 18, 257 (267). Siehe auch BVerfGE 10, 354 (370); 44, 70 (89); 53, 313 (326). 310 Zusammenfassend zur Anfang der 1950er Jahre geführten Diskussion über die Vereinbarkeit dieser beiden Staatsziele siehe Bleckmann, Staatsrecht I, § 11 Rn. 718 ff. 311 Siehe z. B. §§ 1353, 1360, 1601 ff. BGB.

Kap. 4: Solidarprinzip

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Dauer angelegte Solidargemeinschaften.312 Faude spricht insofern von reduzierten Solidaritätsmodellen313, da es sich um Solidargemeinschaften handelt, die nicht auf gesamtstaatlicher Ebene angesiedelt sind; ihre Zugehörigkeit also nicht an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist, sondern mittels Versicherungspflicht oder anderweitiger Begründung eines Versicherungsverhältnisses definiert wird. Nach alledem ist einerseits die historisch gewachsene und staatstheoretisch bedingte Solidarität legitimitätsstützender Hintergrund des sozialen Staatsziels und andererseits ist Solidarität unter den Bürgern bzw. die staatliche Förderung solidarischen Verhaltens auch die Zielrichtung des Sozialstaatsprinzips. Im Rahmen der Umsetzung des sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags durch den Gesetzgeber entfaltet sich Solidarität auf den verschiedenen Organisationsebenen und in unterschiedlicher Intensität im deutschen Rechtssystem. II. Solidarprinzip Das die Sozialversicherung bestimmende soziale Element wird hier mit dem Begriff des Solidarprinzips beschrieben. Die Sozialversicherungen sind kein Zusammenschluss solidarischer Menschen, sondern bilden mittels gesetzlich vorgesehener Versicherungspflicht eine nicht vorhandene Solidarität nach. Der dargelegte Solidaritätsbegriff verengt sich im Rahmen des Sozialversicherungsrechts aber nicht nur auf die erzwungene Solidarität bzw. Zwangssolidarität, sondern ist inhaltlich auf den im positiven Sozialversicherungsrecht geregelten sozialen Ausgleich beschränkt314 und bleibt damit insgesamt weit hinter dem aufgezeigten Bedeutungsgehalt von Solidarität zurück. Ein Prinzip der Solidarität nimmt nicht nur direkten Bezug zum uneingeschränkten Solidaritätsbegriff, sondern spricht in erster Linie gesellschaftliche Bedingungen und Befindlichkeiten an. In diesem Sinne ist das Prinzip der Solidarität ein gesellschaftliches Prinzip, das mittels staatlicher Macht nicht eingeführt werden kann – zumindest nicht in einem freiheitlichen Sozialstaat.315 Gesetzgeberisches Streben nach Solidarität ist mit dem sozialen Staatsziel zwar vorgegeben, muss sich aber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen, insbesondere unter Beachtung der grundrechtlich geschützten Freiheitsbereiche, 312 BVerfGE 29, 221; 49, 247 (248); 58, 218 (222); 59, 69 (71: „Die gesetzlichen Sozialversicherungen sind Solidargemeinschaften auf Dauer“); 69, 272. 313 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 38. 314 Siehe hierzu die Erläuterungen im nächsten Abschnitt unter III. 315 Auf die grundlegende Trennung von Staat und Gesellschaft als Prämisse des freiheitlichen Sozialstaats weist Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 26 unter Verweis auf Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII Rn. 52 ff. hin. Dem freiheitlichen Sozialstaat sei von Verfassungs wegen die offene Gesellschaft zugeordnet. Die soziale Befindlichkeit einer Gesellschaft stelle sich als Gesamtleistung von sozial verantwortlichem Staat und autonomer Gesellschaft dar. Siehe auch Gröschner, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 21 ff. zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als zu unterscheidende Modi derselben Interaktion.

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bewegen. In Abgrenzung zum weiten Verständnis von Solidarität und dem darin wurzelnden gesellschaftlichen Prinzip der Solidarität, meint das Solidarprinzip das dem Staat eigene Prinzip, solidarisches Verhalten im Wege der Sozialversicherungen verfassungskonform zu bewirken. Das Solidarprinzip als das soziale Element der Sozialversicherung ist in der Rechtsprechung nur sehr vage umrissen. Das Bundesverfassungsgericht benennt – meist ohne weitere Erläuterung – ein soziales Bedürfnis nach einem Ausgleich besonderer Lasten316, den Grundsatz des sozialen Ausgleichs317, den Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs318 oder den Gedanken der Solidargemeinschaft319. Die Sozialversicherung enthielte eine starke soziale Komponente320 oder das wesentliche Element bzw. den Gedanken sozialer Fürsorge321. Das Bundesverfassungsgericht spricht insofern auch von den „versicherungsfremden Prinzipien der Fürsorge und des sozialen Ausgleichs“.322 Der versicherungsmäßige Risikoausgleich werde „in der Sozialversicherung mit einem sozialen Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft verbunden; … Gerade dieser soziale Ausgleich prägt den Charakter der Sozialversicherung“.323 Im Zusammenhang mit der Bemessungsgrundlage der Beiträge von Rentnern zur gesetzlichen Krankenversicherung entschied das Bundesverfassungsgericht, es entspräche „dem die gesetzliche Krankenversicherung beherrschenden Solidaritätsprinzip, die Versicherten nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit heranzuziehen“.324 Ebenso erklärt das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung, das Recht der Sozialversicherung werde von dem Grundsatz der Solidarität beherrscht, beschreibt diesen 316

BVerfGE 11, 105 (113); 63, 1 (35); 75, 108 (146); 88, 203 (313). BVerfGE 11, 105 (117) oder „Gedanken sozialen Ausgleichs“ in BVerfGE 17, 1 (10); 97, 271 (285); 103, 197 (221); 113, 167 (219). 318 BVerfGE 11, 221 (226); 70, 101 (111); 76, 256 (301); 97, 271 (285); oder auch „Prinzip der Solidarität und des sozialen Ausgleichs“ in BVerfGE 22, 241 (253). 319 BVerfGE 62, 354 (366). 320 BVerfGE 39, 316 (330). 321 BVerfGE 10, 141 (166); 28, 324 (349); 76, 256 (301); 97, 271 (285). Siehe auch BVerfGE 17, 1 (10: Die Sozialversicherung beruhe auf dem „fürsorgerischen Prinzip“); BVerfGE 21, 362 (378: Die Sozialversicherung enthielte „von jeher ein Stück staatlicher Fürsorge“); BVerf-GE 9, 124 (133: „Sozialversicherungsrecht ist Recht der Fürsorge im weiteren Sinne“). 322 BVerfGE 39, 316 [330 (Hervorhebung aus dem Originaltext)]. 323 BVerfGE 17, 1 [9 (Hervorhebung aus dem Originaltext)]; in BVerfGE 28, 324 (348) heißt es zudem: Die Sozialversicherung diene „der sozialen Sicherung und dem sozialen Ausgleich, namentlich dem Schutz der sozialen Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens; sie ist in ihrer heutigen Ausgestaltung, die sich längst nicht mehr auf die Abwehr ausgesprochener Notlagen und die Vorsorge für die sozial schwächsten Bevölkerungskreise beschränkt, ein besonders prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips.“). 324 BVerfGE 79, 223; siehe auch in den Entscheidungsgründen (237: „Wenn das Solidaritätsprinzip (…) seine sinngebende Funktion, insbesondere seine Legitimation für die Abstufung der Beiträge nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten behalten soll, ..“). 317

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aber meist nicht näher.325 Das Bundessozialgericht spricht auch vom „Prinzip der Solidarität der Versicherten, das die wirtschaftlich Leistungsfähigeren zum Einstehen für die Schwächeren verpflichtet“326 oder vom „Prinzip der Solidargemeinschaft“, das „gerade nicht vom Grundsatz des Gleichgewichts zwischen Leistung und Gegenleistung beherrscht“327 wird. Dem Sozialversicherungssystem liege „im Gegensatz zur Privatversicherung als tragendes Element das Prinzip des Solidarausgleichs zugrunde, dessen Wesen unter anderem darin besteht, daß innerhalb einer Solidargemeinschaft Belastungen und Begünstigungen je nach dem Maß der sozialen Schutzbedürftigkeit unterschiedlich verteilt sein können“.328 Zudem verwendet das Bundessozialgericht auch die Bezeichnung des Solidarprinzips; es handele sich um einen weitschauenden Grundsatz, der das zumindest teilweise Einstehen der Leistungsfähigen für weniger Leistungsfähige beinhalte und von dem jeder Versicherte – entsprechend den jeweiligen Umständen – Nutzen ziehen könne.329 Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts, in der zwar das soziale Element überwiegend nur benannt und kaum inhaltlich konkretisiert wird, kann nach alledem aber Folgendes gewonnen werden: Das Solidarprinzip bewirkt einen sozialen Ausgleich, der in Abgrenzung zur Privatversicherung über den versicherungsmäßigen Risikoausgleich hinausgeht. Es führt dazu, dass wirtschaftlich Leistungsfähige auch für das versicherte Risiko der wirtschaftlich Schwächeren mit einstehen bzw. dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Sozialversicherten bei der Bemessung seiner Beiträge zu berücksichtigen ist. Das Solidarprinzip verlangt, dass die bei den Sozialversicherten bestehenden ungleichen Risiken ausgeglichen werden, wobei der Ausgleich der ge-

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BSGE 11, 243 (247); 14, 185 (191); 20, 123 (127); 40, 208 (209); 44, 142 (144); 49, 247 (248); 58, 218 (222: „den das Recht der Sozialversicherung beherrschenden Grundsatz der Solidarität aller Beschäftigten, der es ausschließe, die Versicherungspflicht über die gesetzlich geregelten Freistellungstatbestände hinaus von einem individuellen Schutzbedürfnis abhängig zu machen“); siehe auch BSGE 37, 240 (241: „Gedanken der Solidarität der Versicherten“). 326 BSGE 32, 13 (15: „das Prinzip der Solidarität der Versicherten, das die wirtschaftlich Leistungsfähigeren zum Einstehen für die Schwächeren verpflichtet und das mit Recht als konstituierendes Merkmal der sozialen KrV angesehen worden ist“). 327 BSGE 43, 255 (266: „Das im Sozialversicherungsrecht herrschende Prinzip der Solidargemeinschaft wird gerade nicht vom Grundsatz des Gleichgewichts zwischen Leistung und Gegenleistung beherrscht. Es umfaßt Berechtigte mit ganz unterschiedlichen Beitragsleistungen gleichermaßen, zumal regelmäßig der Leistungsanspruch im einzelnen noch von anderen Modalitäten als der reinen Beitragserbringung abhängig ist.“); siehe auch BSGE 44, 142 (144); 49, 22 (28: „das im Sozialversicherungsrecht vorherrschende Prinzip der Solidargemeinschaft“, das nicht „das Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung beinhaltet“). 328 BSGE 52, 93 (96). 329 BSGE 59, 69 (71: „Angesichts des die gesetzliche Krankenversicherung beeinflussenden Solidarprinzips, also des (teilweisen) Einstehens der Leistungsfähigen für weniger Leistungsfähige, eines weitschauenden Grundsatzes, von dem jeder Versicherte – je nach dem Wechsel der Umstände – Nutzen ziehen kann“).

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samten Solidargemeinschaft obliegt und nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen muss.330 Demnach bedeutet das Solidarprinzip eine grundsätzliche Orientierung der Sozialversicherungsbeiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht an der individuellen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit des Sozialversicherten. Kennzeichnend für das Solidarprinzip ist der Verzicht auf eine individuelle Risikoprüfung beim Eintritt in die Versicherung und der darin mitschwingende grundsätzliche Respekt vor der Lebensführung des Versicherten. Dass das Solidarprinzip die Berücksichtigung des individuellen Risikos des Versicherten jedoch nicht zwingend ausschließt, deutet beispielsweise Papier indirekt an, indem er formuliert: „Die Höhe der Beiträge ist im Rahmen der Sozialversicherung nicht wie in der Privatversicherung allein am individuellen Risiko des Versicherten ausgerichtet“.331 Ähnlich vorsichtig meint F. Kirchhof, die Verbindung in einer sozialen Risikogemeinschaft könne es erlauben, die Beitragslasten individuell unterschiedlich zu verteilen und einem Versicherten mehr aufzuerlegen, als es dessen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit rechtfertigen würde.332 Die Wirkungen des Solidarprinzips sind aber nicht auf die Beitragsbemessung beschränkt. Nach Rolfs zeichne sich der Solidarausgleich – nach hiesigem Begriffsverständnis das Solidarprinzip – dadurch aus, „daß er innerhalb der Solidargemeinschaft der Versicherten stattfindet und entweder in der an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientierten Beitragserhebung seinen Ausdruck findet oder die ihn kennzeichnenden Tatbestände so gestaltet sind, daß sie nach Struktur und Inhalt selbst einen Versicherungsfall darstellen könnten“.333 „Kernelement des Solidarausgleichs“, so formuliert Wolf, sei der Umstand, „dass die Krankenversicherung für Pflichtversicherte nicht nach individuellen Risikofaktoren fragt, sondern die Beiträge nach der Leistungsfähigkeit anhand der Einnahmen bemisst“, was spiegelbildlich bedeute, dass „im Versicherungsfall der Leistungsanspruch eines jeden Versicherten unabhängig von seinen gezahlten Beiträgen identisch“ sei, „weil die Gesundheitsleistungen der Krankenkasse nicht von der Höhe entrichteter Beiträge abhängen“.334 330

Siehe auch Papier/Möller, NZS 1998, 353 (354) unter Verweis auf BSGE 48, 134 (137 f.). 331 Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 13. 332 Kirchhof, NZS 1999, 161 (165), sieht im sozialen Ausgleich – nach hiesigem Begriffsverständnis im Solidarprinzip – einen möglichen Legitimationsgrund für die Belastung mit Beiträgen. Eine Untersuchung, inwieweit das Solidarprinzip als Rechtfertigungsgrund für sozialversicherungsrechtliche Eingriffe, insbesondere die Versicherungspflicht, dienen kann, führt jedoch an dieser Stelle zu weit. Jedenfalls stößt diese These in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf erhebliche Bedenken, siehe z. B. Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 304 ff. 333 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 209. 334 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 28, 61. Hierin sieht Wolf den Ursprung von Versichertenfehlverhalten in Bezug auf das versicherte Risiko, ohne darauf einzugehen, dass es sich bei dem Phänomen des moral hazard um ein für alle Versicherungen typisches Problem handelt.

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Ziel des die Sozialversicherung beherrschenden Solidarprinzips ist ein sozialer Ausgleich zwischen den Sozialversicherten.335 Anders formuliert: Der sozialversicherungsrechtliche Ausgleich sozialer Lasten ist, soweit er den versicherungsmäßigen Risikoausgleich übersteigt, Ausfluss bzw. Manifestation des Solidarprinzips. Der konkrete Bedeutungsgehalt und die inhaltliche Reichweite des Solidarprinzips erschließen sich daher insbesondere aus der Untersuchung des durch das Solidarprinzip vermittelten sozialen Ausgleichs.336 III. Sozialer Ausgleich Sozialer Ausgleich ist der Ausgleich unterschiedlicher Leistungsfähigkeit der Sozialversicherten im Wege finanzieller Umverteilung, insbesondere durch Gewährung gleicher Leistungen trotz unterschiedlicher Beitragszahlung.337 Butzer versteht den Ausdruck des sozialen Ausgleichs als Beschreibung eines Umverteilungsgeschehens und definiert ihn aus der Gegenüberstellung von Sozialversicherung und Privatversicherung heraus.338 Der soziale Ausgleich messe sich anhand des Grades der Abweichung von derjenigen Beitragshöhe, die nach dem privatversicherungsrechtlichen Erhebungsgrundsatz Prämie nach Risikoeintrittswahrscheinlichkeit bestünde. Demnach sei jede Beitragsleistung unterhalb des Wertes der Beitragsäquivalenz per Saldo ein sozialer Ausgleich zu Gunsten des Versicherten und jede höhere Beitragsleistung ein sozialer Ausgleich zu Lasten des Versicherten. Hingegen meint Hase, aus einer rein ökonomischen Betrachtung ließen sich keine rechtlichen Folgerungen ableiten; der Begriff des sozialen Ausgleichs stehe „für sozialversicherungsrechtliche Regelungen und Regelungszusammenhänge, durch die individuelle Vorsorgeschwäche oder -unfähigkeit kompensiert, eben ausgeglichen werden soll“.339 Der soziale Ausgleich setze – so Hase – bei drei Problemfeldern an: (1) der Gefahr des Verlustes oder der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit des Versicherten bzw. seiner Vorsorgefähigkeit, (2) bei nahen Angehörigen der Versicherten, die aufgrund ihres Alters oder infolge der intrafamiliären Rollen- und Arbeitsteilung keine ausreichende Vorsorge für die Risiken ihres eigenen Lebens treffen können und (3) der Problematik der geringen, jedenfalls angesichts der Größe der abzusichernden Risiken zu niedrigen Einkünfte der Versicherten. Diejenigen Vorkehrungen des Sozialversicherungsrechts, mit denen Einschränkungen der Vorsorgefähigkeit der Versicherten aufgefangen werden sollen und den Sicherungsbelangen der Angehörigen Rechnung getragen wird, bezeichnet er als relativen sozialen 335

So auch Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 63. Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 13, gibt jedoch zu bedenken, dass der Hinweis auf die Tragweite des Solidarprinzips mit außerordentlichen Schwierigkeiten behaftet und juristisch nur schwer fassbar sei. 337 Siehe auch Bieback, VSSR 2003, 1 (38). 338 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 223, 225. 339 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 254 ff.; Zitat S. 263 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 336

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1. Teil: Sozialversicherungsrechtliche Grundlegung

Ausgleich. Davon grenzt Hase – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rechtfertigungsanforderungen – den umfassenden bzw. absoluten sozialen Ausgleich ab, der dadurch charakterisiert sei, dass einkommensabhängig bemessene Beiträge mit für alle Versicherten gleichen, letztlich allein durch den individuellen Bedarf bestimmten Leistungsansprüchen verknüpft sind; dem Maß der individuellen Risikobelastung komme keine beitragsrechtliche Bedeutung und der Höhe der beitragsrechtlich berücksichtigten Einkünfte komme keine leistungsrechtliche Relevanz zu. Hingegen blieben beim relativen sozialen Ausgleich grundsätzlich die Abstufungen unangetastet, die sich bei einkommensproportionaler Beitrags- und Leistungsberechnung zwischen Versicherten mit unterschiedlich hohen Arbeitseinkünften ergeben.340 Nach einfachgesetzlichem Sozialversicherungsrecht bestimmt sich die Beitragshöhe des einzelnen Sozialversicherten nach der Höhe seiner Arbeitseinkünfte – bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze – und dem jeweils anzulegenden Beitragssatz, der in der Renten-, der Arbeitslosen- und der Pflegeversicherung bundesweit einheitlich ist.341 Ebenso gilt im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ein bundesweit einheitlicher allgemeiner Beitragssatz, wobei einzelne Krankenkassen von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag erheben können.342 Demgegenüber stehen regelmäßig gleiche Leistungsanrechte der Sozialversicherten, deren Höhe sich in erster Linie nach dem Bedarf des Versicherten bei Eintritt des 340

Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 265 f.; siehe auch Rezension von Kube, Der Staat 2002, 452 (460). Hase (S. 309 ff.) sieht den sozialen Ausgleich im Sicherungsbedürfnis des Versicherten begründet. Unter der Prämisse, dass die Begünstigungswirkung des sozialen Ausgleichs innerhalb des Kreises der Versicherten universell ist und rechtlich beansprucht werden kann, versteht er den sozialen Ausgleich als versicherungsmäßige Eigenvorsorge oder als eine Art Zusatzversicherung wie Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, S. 190, formuliert. 341 § 341 Abs. 2 SGB III, §§ 158, 160 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, § 55 Abs. 1 SGB XI. Das Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung weicht – aufgrund der besonderen Aufgabenstellung des Systems, das die Unternehmer grundsätzlich von der privatrechtlichen Haftung für Arbeitsunfälle ihrer Beschäftigten entbindet – erheblich von dem der übrigen Sozialversicherungszweige ab. Die Höhe der Beiträge, die ausschließlich vom Arbeitgeber zu tragen sind (§ 150 Abs. 1 SGB VII), hängt nicht von den Arbeitseinkünften des einzelnen Versicherten, sondern von der Lohnsumme und dem Grad der Unfallgefahr in dem Unternehmen ab (§ 153 SGB VII). Zum Solidarprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung siehe Papier/Möller, NZS 1998, 353 ff. 342 Seit 1. 1. 2011 beträgt der allgemeine Beitragssatz gemäß § 241 SGB V 15,5 % der beitragspflichtigen Einnahmen. Ebenfalls mit dem GKV-Finanzierungsgesetz vom 22. 12. 2010, BGBl. I S. 2309 ff., wurden die den Zusatzbeitrag betreffenden Vorschriften des §§ 242a f. SGB V eingefügt. Der Zusatzbeitrag gemäß § 242 SGB V wurde eingeführt durch das GKV-WSG vom 26. 3. 2007, BGBl. I S. 378, mit Wirkung zum 1. 1. 2009. Zuvor waren die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung uneinheitlich und wurden jeweils durch die einzelnen Krankenkassen festgelegt. Neben dem allgemeinen Beitragssatz werden weitere Beitragssätze für gesetzlich Krankenversicherte, die keinen Anspruch auf Krankengeld haben, für Studenten, Bezieher von Arbeitslosengeld, u. a. festgesetzt (§§ 243 ff. SGB V).

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Versicherungsfalls richtet. Die Versicherten erhalten eine Fülle von Sach- und Dienstleistungen wie z. B. die Krankenbehandlung, das Pflegegeld oder arbeitsförderungsrechtliche Leistungen – unabhängig von ihrer Beitragshöhe. Differenzierungen entsprechend der jeweiligen Beitragsleistung der Sozialversicherten beschränken sich auf Entgeltersatzleistungen.343 Das Solidarprinzip entfaltet sich in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung in unterschiedlicher Intensität, sodass das Ausmaß des sozialen Ausgleichs und der Umfang der finanziellen Umverteilungen je nach Sozialversicherungszweig variiert. Das Umverteilungsgeschehen in der Sozialversicherung darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit dem Begriff des sozialen Ausgleichs, denn nicht jede sozialversicherungsrechtliche Umverteilung ist im Solidarprinzip begründet.344 Von dem sozialen Ausgleich ist zunächst die versicherungsimmanente Umverteilung zu unterscheiden; gemeint ist der Risikoausgleich, der auf dem Versicherungsprinzip beruht und insofern auch für die Privatversicherung typisch ist. Ein Versicherungsverhältnis begründet die Einstandspflicht der Versichertengemeinschaft für den Eintritt des versicherten Risikos bei einem ihrer Mitglieder und zwar grundsätzlich unabhängig davon, wie oft und in welchem Ausmaß dieser die Versichertengemeinschaft bereits in Anspruch genommen hat. Diese versicherungsimmanente Umverteilung ist beispielsweise bei einer Krankenversicherung diejenige von den Gesunden zu den Erkrankten oder bei einer Rentenversicherung die Umverteilung von den früh Versterbenden zu den lang Lebenden. Ebenso nicht auf das Solidarprinzip zurückzuführen sind Umverteilungen, die durch Beiträge der Arbeitgeber zur Sozialversicherung ihrer Beschäftigten oder durch Zuschüsse des Bundes für einzelne Sozialversicherungszweige vermittelt werden.345 Nach der verfassungsgerichtlichen Kompetenzbestimmung gehören sie – anders als das Solidarprinzip – nicht zu den konstitutiven Merkmalen von Sozialversicherung346 und sind insofern vom sozialen Ausgleich abzugrenzen. Hingegen ist die Umverteilung, die auf der mangelnden Risikodifferenzierung der Beiträge beruht, auf das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip zurückzuführen. Dies ist beispielsweise im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung diejenige, die von den gesünderen zu den krankheitsanfälligeren Versicherten, von den männlichen zu den weiblichen Versicherten, die ein höheres Morbiditätsrisiko haben, von den ledigen und kinderlosen Versicherten zu solchen mit mitversicherten Familienangehörigen und von den 343

Zu nennen ist hier in erster Linie die rentenversicherungsrechtliche Hauptleistung der Altersrente, die sich nach den während des Versicherungslebens versicherungspflichtigen Arbeitsentgelten bemisst (§§ 63 ff. SGB VI). Aber auch die Höhe des Krankengeldes richtet sich nach dem zuletzt erhaltenen Arbeitsentgelt des betroffenen Versicherten (§ 47 SGB V); siehe z. B. auch § 129 SGB III für das Arbeitslosengeld. 344 So auch Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 63. 345 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 235 ff., 243. Die Arbeitgeberbeiträge (siehe hierzu im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 5.) sowie die Bundeszuschüsse gingen auf andersartige Rechtfertigungsansätze – nämlich die „Fürsorge der Arbeitgeber“ und „Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG“ anstelle von „Solidarität unter den Versicherten“ – zurück. 346 Siehe in diesem Teil, Kapitel 2 unter B. VII.

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Versicherten mit höherem Einkommen zu denen mit niedrigerem Einkommen geschieht. Im Rahmen der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung besteht dieser soziale Ausgleich z. B. zwischen den gut ausgebildeten und den weniger qualifizierten Arbeitnehmern, zwischen den unbefristet und den befristet Beschäftigten, den jüngeren und den älteren Arbeitnehmern, deren Erwerbsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt geringer einzuschätzen sind, und freilich zwischen den Versicherten mit höherem Einkommen und denen mit niedrigerem Einkommen. Im Zusammenhang mit dem sozialen Ausgleich und den damit einhergehenden Grundrechtseinschränkungen der Umverteilungsverlierer stellen sich eine Vielzahl von Rechtfertigungsfragen, insbesondere ob ein Teil der Staatsbürger so eng miteinander verbunden ist, dass der Gesetzgeber sie wegen dieser Verbundenheit wechselseitig zum sozialen Ausgleich verpflichten darf, oder in welchem Umfang der Gesetzgeber im Rahmen der Sozialversicherung den sozialen Ausgleich zwischen den Versicherten vorschreiben darf. Die Frage der Vereinbarkeit der heutigen Ausgestaltung des sozialen Ausgleichs in den Sozialversicherungssystemen mit den Grundrechten der zwangsweise Sozialversicherten kann jedoch im Rahmen der mit Blick auf den für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand vorzunehmenden, grundlegenden Betrachtung des Solidarprinzips nicht geprüft werden.

B. Reziprozität des Solidarprinzips Mit Blick auf die Frage nach der Eigenverantwortung eines Sozialversicherten kommt dem bereits angeklungenen Aspekt der Reziprozität des Solidarprinzips besondere Bedeutung zu und soll daher an dieser Stelle gesondert heraus gestellt werden. Gemeint ist die in dem Solidarprinzip mitschwingende Wechselseitigkeit von Solidarität. Wie im Rahmen der obigen Begriffsbetrachtung dargestellt, ist Gegenseitigkeit ein Wesensmerkmal von Solidarität. Derjenige, mit dem Solidarität geübt wird, oder der diese gar fordert, muss sich seinerseits solidarisch gegenüber der Solidargemeinschaft verhalten. Solidarität bietet also nicht allein die Grundlage für Leistungen an Mitglieder einer Solidargemeinschaft, sondern verpflichtet gleichsam den Einzelnen zu solidarischem Verhalten gegenüber der Gemeinschaft. Insofern setzt Solidarität eine Eigenverantwortung jedes Mitglieds einer Solidargemeinschaft voraus.347 Dieses Wesen von Solidarität geht in das Solidarprinzip ein, das im Sozialversicherungsrecht eine nicht vorhandene Solidarität nachbildet. Die solidaritätsimmanente Gegenseitigkeit zeigt sich in den gesetzlich bestimmten, wechselseitigen Rechten und Pflichten des Sozialversicherten, die dem sozialen Ausgleich, also dem im Solidarprinzip begründeten Umverteilungsgeschehen, geschuldet sind. Die reziproke Struktur des Solidarprinzips spiegelt die Spannungslage zwischen individueller Freiheit und sozialstaatlicher Ordnung wider. Verfassungsrechtlich 347 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 21 ff.; Braun, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 17 ff. (30).

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übersetzt geht es um das Miteinander von Rechtsstaatsprinzip, das die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers schützt, und Sozialstaatsprinzip, das auf soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit abzielt und insofern eine vollständige Rechtsfreiheit des Einzelnen unmöglich macht. Herzog wies darauf hin, dass die verfassungsinterpretatorische Aufgabe im Ausgleich dieser gleichermaßen verpflichtenden Staatsziele besteht und weniger in ihrer Abgrenzung.348 Eine Konkretisierung des freiheitlichen Sozialstaats bzw. eine Theorie des sozialen Rechtsstaats lässt sich jedoch bislang kaum finden.349 Allerdings zeigt Stahlmann auf, dass der soziale Rechtsstaat gerade durch seine soziale Komponente die Freiheit des Einzelnen sichern kann bzw. dass das durch die Sozialstaatsklausel geforderte Wirken des Staates der Freiheit dient.350 In § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I heißt es, die sozialen Rechte sollen dazu beitragen, „gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit (…) zu schaffen“. Hierzu formuliert Blöcher: „Sozialrecht materialisiert Freiheit, indem es Sicherheit produziert und Gleichheit vorantreibt“.351 Denn die sozialstaatliche Gewährleistung und Umverteilung ermögliche es einer Vielzahl von Bürgern überhaupt erst, ihre Grundrechte wahrzunehmen. Kube spricht insofern von gemeinschaftlicher Freiheitsentfaltung: individuelle Freiheit sei „Freiheit auch durch die Entfaltung mit und durch andere Menschen“; „die Sozialversicherung definiert einen entsprechenden Kreis von Menschen, die zueinander in besonderer, freiheitserheblicher Beziehung stehen und sich gemeinschaftlich gerade deshalb entfalten können, weil auch die sozial schwächeren Mitglieder der Gemeinschaft in ihren realen Freiheitsgrundlagen unterstützt werden“.352 Auch Faude sieht die Freiheitssicherung als Zweck sozialrechtlicher Solidarverantwortung; durch Garantie sozialer Sicherheit und Förderung materialer Gleichheit ermögliche das Sozialrecht die freie Entfaltung der Persönlichkeit.353 Dieser sozialstaatliche Prozess sei nur auf der Basis wechselseitiger Solidarität möglich; die Freiheit des Einzelnen müsse eingeschränkt werden, um Freiheit zu stiften bzw. Freiheitsgebrauch für alle zu ermöglichen. Darin bestehe die reziproke Struktur des Solidarprinzips. Im Solidarprinzip zeigt sich somit der Charakter des Sozialversicherungsrechts als prekäre Einheit von Grundrechtseingriff und Grundrechtsverwirklichung, von individueller Belastung und Freiheitseinschränkung einerseits und individueller freiheitsstiftender Begünstigung andererseits.

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Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII Rn. 33 f. So auch Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 7, m. w. N. 350 Stahlmann, Die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats als Voraussetzung der individuellen Freiheit, S. 216. 351 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 50. 352 Kube, Der Staat 2002, 452 (476 f.); siehe grundlegend auch Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen. 353 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 125 ff. 349

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C. Vorgaben des Solidarprinzips Wie bei dem gleichermaßen das Sozialversicherungsrecht beherrschenden Versicherungsprinzip stellt sich die Frage der Direktivkraft des Solidarprinzips für die sozialversicherungsrechtliche Gesetzgebung und damit verbunden die Frage, ob es sich um ein Rechtsprinzip handelt. Der Prinzipiencharakter knüpft an die Bestimmbarkeit des Inhalts eines Rechtsgedankens an; je konkreter und eindeutiger der Inhalt ist, desto höher auch seine Direktivkraft für den Gesetzgeber.354 Das Solidarprinzip bewirkt einen sozialen Ausgleich unter den Sozialversicherten; ein gegenseitiges Nehmen und Geben. Es bedeutet die grundsätzliche Orientierung der Sozialversicherungsbeiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die Gewährung von Leistungen, deren Höhe sich in erster Linie nach dem Bedarf des Versicherten bei Eintritt des Versicherungsfalls richtet. Das Solidarprinzip bietet für das Sozialversicherungsrecht den Leitgedanken des sozialen Ausgleichs und damit Gründe oder Gesichtspunkte, die für die eine oder die andere Entscheidung sprechen. Es enthält jedoch keine zwingenden Festsetzungen, bedarf vielmehr der Konkretisierung und muss hinsichtlich einzelner sozialversicherungsrechtlicher Regelungen mit anderen Rechtsprinzipien wie z. B. dem Versicherungsprinzip abgewogen werden. Das Solidarprinzip ist somit ein Rechtsprinzip des Sozialversicherungsrechts und dient als Leitlinie des Sozialversicherungsrechts. Über die Funktion als Leitlinie zur Auslegung und systemgerechten Fortbildung hinaus können Prinzipien eine verfassungsrechtliche Bindung gegenüber dem Gesetzgeber entfalten und damit einfachgesetzliche Normen legitimieren. Dies setzt den Verfassungsrang des Prinzips voraus. Das Solidarprinzip ist zwar im Rahmen der Kompetenzzuweisung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verfassungsrechtlich verankert, jedoch erhebt der kompetenzielle Anknüpfungspunkt das Solidarprinzip nicht zum grundrechtsbeschränkenden Verfassungswert.355 Dies bestätigt Becker, der die verfassungsrechtliche Verankerung des Solidarprinzips näher untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass ein Umverteilungen rechtfertigendes Solidarprinzip aus dem

354 Zur rechtsmethodischen Unterscheidung von Prinzipien und Regeln siehe im vorherigen Kapitel unter C. I. 355 Siehe im vorherigen Kapitel unter C. IV. Von der Frage des Verfassungsranges des sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzips zu trennen ist die viel umfangreichere Untersuchung der verfassungsrechtlichen Bedeutung von Solidarität. Siehe hierzu Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, S. 382 ff., der Solidarität als „Programm und Prinzip der Verfassung“ qualifiziert, dabei aber Solidarität in einem weiterentwickelten Sinn als wechselseitige Respektierung von Autonomieansprüchen versteht. Nach Ruland, NJW 2002, 3518 ist Solidarität eine „Verfassungserwartung“. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 222, 389 meint hierzu „im Umfeld des sozialen Ausgleichs geht es nicht darum, ob Solidarität in dieser oder jener Form und Hülle Programm und Prinzip der Verfassung ist“ (Hervorhebungen aus dem Originaltext) bzw. „ob Solidarität für das Grundgesetz bloß ein verfassungspolitisches Postulat oder ihm als Staatsstruktur und Verfassungserwartung zugrunde liegt oder gar ein Prinzip der Verfassung ist“.

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Grundgesetz nicht herzuleiten sei.356 Neumann bezeichnet das Solidarprinzip unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht als Rechtfertigungstopos.357 Daran anknüpfend versteht auch Hase das Solidarprinzip als topos der verfassungsrechtlichen Argumentation.358 Das Solidarprinzip als Leitlinie sozialversicherungsrechtlicher Normen diene „zugleich deren verfassungsrechtlicher Legitimation“. Vor allem werde es herangezogen, „wenn die Vereinbarkeit sozialversicherungsrechtlicher Freiheitseinschränkungen und Belastungen mit Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 14 GG in Frage steht“.359 Darüber hinaus stehe der soziale Ausgleich auch für verfassungsrechtlich-normative Vorgaben und Bindungen, die den Gestaltungsspielraum der Sozialgesetzgebung begrenzen und die Belange derjenigen sichern, die in der sozialen Vorsorge Berechtigungen erwerben. Dabei argumentiert Hase jedoch mit Bindungen, die sich aus dem Verfassungsrecht selbst ergeben und weist dem Solidarprinzip im Ergebnis keinen eigenen Verfassungswert zu. Das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip verbleibt damit auf unterverfassungsrechtlicher Ebene. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der dem Grundgesetz weder eine Garantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung noch seiner tragenden Ordnungsprinzipien zu entnehmen sei.360 Eine verfassungsmäßige Bindung des Gesetzgebers an das Solidarprinzip ergibt sich auch nicht über den aus dem Willkürverbot hergeleiteten Gedanken der Systemgerechtigkeit.361 Verstößt der Gesetzgeber bei der Neugestaltung sozialversicherungsrechtlicher Normen aber gegen die Vorgaben des Solidarprinzips – als einer vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit – löst der Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG einen Begründungs- und Rechtfertigungszwang aus. Wann aber verstößt der Gesetzgeber gegen die Vorgaben des Solidarprinzips bzw. wann gilt eine sozialversicherungsrechtliche Bestimmung als unvereinbar mit dem Solidarprinzip, sodass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entfiele? Wird diese Grenze bereits überschritten, wenn irgendeine Form der Risikodifferenzierung eingeführt wird? Risikodifferenzierung kann nicht nur bei der Beitragsbemessung stattfinden, sondern auch mittelbar bei der Leistungsgewährung, wenn beispielsweise bei Bedürfnissen infolge bestimmter Risiken nicht

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Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, S. 205 ff. Die kompetenzrechtlichen Vorschriften ließen sich nicht zur Abstützung eines verfassungsrechtlichen Solidarprinzips heranziehen. Zudem fordere weder das Sozialstaatsprinzip noch eine verfassungsrechtlich abgeleitete Solidaritätsverpflichtung zwischen den Sozialversicherten eine Solidarität in diesem Sinne. 357 Neumann, NZS 1998, 401 (407). 358 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 258 ff. 359 Zitate bei Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 260. 360 Siehe BVerfGE 18, 257 (267); 29, 221 (236); 39, 302 (314); 77, 340 (344); 113, 167 (219). 361 Siehe im vorherigen Kapitel unter C. IV.

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oder nur eingeschränkt geleistet wird.362 Charakteristisch für das Solidarprinzip ist zwar die Nichtberücksichtigung der individuellen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und die Versicherungsleistung entsprechend dem individuellen Bedarf, damit ist aber eine Berücksichtigung des individuellen Risikos des Versicherten nicht zwingend ausgeschlossen.363 Als kompetenzielle Grenze gilt zumindest das völlige Zurücktreten des Solidarprinzips.364 Dies ist nach Papier gegeben, wenn bei einer in der Organisationsform der Sozialversicherung durchgeführten Versicherung die Beiträge wie in einer Privatversicherung ausschließlich nach der Höhe des Risikos bemessen werden.365 Das Solidarprinzip als Leitlinie des Sozialversicherungsrechts gibt allein die Existenz eines sozialen Ausgleichs vor, ohne dessen Ausmaß näher zu konkretisieren.

D. Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung Die Eingangsvorschrift des SGB V zur gesetzlichen Krankenversicherung ist mit den Grundbegriffen Solidarität und Eigenverantwortung überschrieben. Hiermit sollen Grundprinzipien dieses Versicherungszweiges beschrieben sein, die das Wesen der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmen und zur Auslegung und Anwendung der speziellen Vorschriften des SGB V heranzuziehen sind.366 § 1 Satz 1 SGB V spricht dabei von der Krankenversicherung als Solidargemeinschaft, die die Aufgabe hat, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu verbessern. Daran knüpft Satz 2 eine Mitverantwortlichkeit des Versicherten für seine Gesundheit. Des Weiteren bestimmt § 3 SGB V unter der Überschrift solidarische Finanzierung die Grundsatzentscheidung zur 362 Davon zu trennen ist aber die Koppelung von Leistungen, insbesondere Entgeltersatzleistungen, an die Beitragshöhe. Hierbei handelt es sich nicht um die Unterscheidung aufgrund einer individuell höheren Risikoeintrittswahrscheinlichkeit, sondern um die Annahme unterschiedlicher Bedarfe und die versicherungstechnische Anerkennung individueller Äquivalenzverhältnisse. 363 Siehe in diesem Kapitel unter A. II. 364 Siehe auch Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 262 mit Verweis auf Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 46 ff. 365 Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 13; Papier/Möller, NZS 1998, 353 (354). 366 So die Begründung des Gesetzgebers in BT-Drs. 11/2237 S. 157. § 1 SGB V wurde eingeführt durch Art. 1 des Gesetzes vom 20. 12. 1988 (BGBl. I 2477) zum 1. 1. 1989. Zentrale Anliegen dieser Reform, mit der das Krankenversicherungsrecht in das Sozialgesetzbuch eingegliedert wurde, waren eine Neuausrichtung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten (BT-Drs. 11/2237 S. 148 ff.). Vor dem Hintergrund erheblicher Veränderungen in der medizinischen Versorgung und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten sei der Inhalt der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität neu zu bestimmen, heißt es in der Regierungsbegründung. Einerseits seien Versorgungsdefizite zu beseitigen, andererseits Leistungen auf das Notwendige zu beschränken und Leistungen, die keiner solidarischen Absicherung bedürfen, aus dem Leistungskatalog herauszunehmen.

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Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch einkommensabhängige Beitragserhebung sowie die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen. In diesen Eingangsvorschriften kommen die reziproke Struktur und die wesentlichen Inhalte des sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzips, bedarfsabhängige Leistungsgewährung und Orientierung der Sozialversicherungsbeiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, zum Ausdruck. Die programmatischen Einweisungsvorschriften können jedoch nach allgemeiner Auffassung nicht als Rechtsgrundlage für Leistungsansprüche oder Leistungseinschränkungen herangezogen werden, vielmehr dienen sie als allgemeine Aufgabenumschreibung und sollen die inhaltliche Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung widerspiegeln.367 Der überwiegende Anteil der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind Leistungen zur Krankenbehandlung. Hierzu statuiert § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V eine umfassende Leistungspflicht.368 Danach erhält jeder Versicherte die Leistungen, die in seiner jeweiligen Krankheitssituation notwendig sind, um seine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Anspruch auf Krankenbehandlung richtet sich also allein nach der Bedarfssituation.369 Unbeachtlich ist dabei beispielsweise, wie häufig der Versicherte krank ist, unter welcher Krankheit er leidet oder wie teuer die Behandlung ist. Der hierin zum Ausdruck kommende Ausgleich zwischen gesunden und kranken Menschen ist jedoch fundamentales Kennzeichen jeder Krankenversicherung und damit – für sich betrachtet – nicht Teil des durch das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip vermittelten sozialen Ausgleichs. Dieser gewinnt im Rahmen der §§ 220 ff. SGB V, die die Aufbringung der finanziellen Mittel regeln, an Gestalt. Gemäß § 223 SGB V bemisst sich die Beitragshöhe des Versicherten nach seinen beitragspflichtigen Einnahmen, begrenzt durch die Beitragsbemessungsgrenze.370 Beitragspflichtige Einnahmen sind nach den §§ 226 ff. SGB V das Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, Renten, Versorgungsbezüge, Vorruhestandsgeld, Ausbildungsvergütungen sowie in eingeschränktem Maße bei367 Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 1 Rn. 1; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 1 Rn. 2; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 28 ff., 54; Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 1 Rn. 1; Peters, in: KassKomm, § 1 SGB V Rn. 3. Siehe auch Ausführungen zu Beginn des Kapitels 2 im 2. Teil. 368 Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 89. Zur Vorgängervorschrift in § 182 RVO sprach das BSG vom „Grundsatz der umfassenden Leistungspflicht“; siehe BSGE 44, 41 (44); 47, 83 (86); 55, 188 (193: „In diesen Vorschriften kommt zugleich der Grundsatz zum Ausdruck, dass der Krankenversicherungsträger immer die für die Heilung des Versicherten notwendige Behandlung gewähren muss.“). Siehe auch Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, C. II. 369 Zum sogenannten Finalprinzip siehe im 2. Teil, Kapitel 2, C. II. und V. 2. f). 370 Im Jahr 2010 lag diese Einkommensgrenze, bis zu der Einnahmen für die Krankenversicherungsbeiträge herangezogen werden, bei 45.000 Euro im Jahr (3.750 monatlich). Diese Information kann beispielsweise auf der Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit (www.bmg.bund.de); Glossarbegriff Beitragsbemessungsgrenze abgerufen werden.

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spielsweise auch das Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld II. Beitragsfrei sind hingegen das Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Elterngeld sowie Leistungen an die in § 225 SGB V bestimmten Rentenantragsteller. Die Höhe der Beiträge ergibt sich durch den allgemeinen Beitragssatz, der gemäß § 241 SGB V 15,5 % der beitragspflichtigen Einnahmen beträgt.371 Neben dem allgemeinen Beitragssatz werden weitere Beitragssätze für gesetzlich Krankenversicherte, die keinen Anspruch auf Krankengeld haben, für Studenten, Bezieher von Arbeitslosengeld, u. a. festgesetzt (§§ 243 ff. SGB V). Die einzelnen Krankenkassen können darüber hinaus von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag erheben (§§ 242 ff. SGB V). Soweit der so bemessene Beitrag das individuelle Risiko nicht deckt, geschieht sozialer Ausgleich. Zudem manifestiert sich das Solidarprinzip in dem beitragsfreien Versicherungsschutz der Familienangehörigen des Versicherten.372 Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind zu einem überwiegenden Teil bedarfsabhängige Sach- und Dienstleistungen. Der Anteil der Leistungsausgaben für die Gewährung von Krankengeld, das entsprechend der Beitragsleistung des Versicherten berechnet wird, lag beispielsweise im Jahr 2010 lediglich bei 4,73 %.373 Der soziale Ausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung ist im Vergleich zu den anderen Sozialversicherungszweigen besonders umfangreich. In der gesetzlichen Rentenversicherung, aber beispielsweise auch in der Arbeitslosenversicherung, wird überwiegend beitragsdifferenzierender Entgeltersatz geleistet, sodass eine engere rechtliche Verknüpfung zwischen Beitragsleistung und Leistungsberechtigung besteht und einen größeren Einfluss des Versicherungsprinzips erkennen lässt. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung hingegen ist das Solidarprinzip besonders intensiv ausgeprägt.

371 Dies hat der Gesetzgeber durch das GKV-Finanzierungsgesetz vom 22. 12. 2010, BGBl. I S. 2309 ff., zum 1. 1. 2011 festgeschrieben. 372 Familienversicherte können nach § 10 SGB V Ehegatten, Lebenspartner, Kinder und Kindeskinder sein, wenn sie unter anderem nicht selbst versicherungspflichtig oder freiwillig versichert sind, keiner hauptberuflichen selbstständigen Tätigkeit nachgehen und ein bestimmtes Gesamteinkommen nicht überschreiten. Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 213; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 229 ff.; Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 36 ff.; Schräder, Bürgerversicherung und Grundgesetz, S. 71; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn . 38 (in Rn. 57 ff. qualifiziert Schulin den beitragsfreien Versicherungsschutz aber teilweise als unsolidarisch); Waltermann, Sozialrecht, § 8 Rn. 160; a. A. Schmähl, DRV 1995, 601 (609 ff.). Zur weitergehenden Frage der Verfassungsmäßigkeit siehe bspw. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 334 ff. 373 Vgl. die vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen veröffentlichte Broschüre Kennzahlen der gesetzlichen Krankenversicherung, zuletzt aktualisiert im September 2011, im Internet abrufbar unter: http://www.gkv-spitzenverband.de/upload/GKV_Kennzahlen_Booklet _Q1+Q2_2011-09-20_17631.pdf.

Kap. 4: Solidarprinzip

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E. Zusammenfassung Das die Sozialversicherung bestimmende soziale Element wird hier mit dem Begriff des Solidarprinzips beschrieben. In Abgrenzung zum weiten Begriff der Solidarität und dem darin wurzelnden gesellschaftlichen Prinzip der Solidarität meint das Solidarprinzip das dem Staat eigene Prinzip, solidarisches Verhalten im Wege der Sozialversicherungen zu erzwingen. Das Solidarprinzip bedeutet die grundsätzliche Orientierung der Sozialversicherungsbeiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten und die Gewährung von Leistungen, deren Höhe sich in erster Linie nach dem Bedarf des Versicherten bei Eintritt des Versicherungsfalls richtet. Charakteristisch ist somit die Nichtberücksichtigung der individuellen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit bei der Beitragsbemessung. Eine Berücksichtigung des individuellen Risikos des Sozialversicherten ist jedoch nicht zwingend ausgeschlossen. Das Solidarprinzip vermittelt einen sozialen Ausgleich zwischen den Sozialversicherten. Sozialer Ausgleich ist die im Solidarprinzip begründete finanzielle Umverteilung innerhalb der Sozialversichertengemeinschaft, die über den versicherungstypischen Risikoausgleich hinausgeht. Der soziale Ausgleich ist in den verschiedenen Sozialversicherungszweigen unterschiedlich gestaltet. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind zu einem überwiegenden Teil bedarfsabhängige Sach- und Dienstleistungen und nur zu einem geringen Anteil Entgeltersatzleistungen, die entsprechend der jeweiligen Beitragsleistung gewährt werden. Das Solidarprinzip entfaltet sich hier im Vergleich zu anderen Sozialversicherungszweigen besonders intensiv. Als Erscheinungsform des Sozialstaatsprinzips spiegelt das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip die Spannungslage zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip wider. Damit eng verbunden ist die reziproke Struktur des Solidarprinzips, die sich in der dem Solidaritätsbegriff immanenten Gegenseitigkeit begründet. Derjenige, mit dem Solidarität geübt wird, muss sich seinerseits solidarisch gegenüber der Solidargemeinschaft verhalten. Die Solidargemeinschaft bietet dem Einzelnen freiheitsstiftende soziale Sicherheit, gleichzeitig ist sie von der Mithilfe des Einzelnen abhängig und schränkt ihn insofern in seiner Freiheit ein. Die reziproke Struktur des Solidarprinzips zeigt sich in den gesetzlich bestimmten, wechselseitigen Rechten und Pflichten des Sozialversicherten, die dem sozialen Ausgleich geschuldet sind. Das Solidarprinzip ist Rechtsprinzip des einfachen Sozialversicherungsrechts und dient als Leitlinie bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen. Eine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers an das Solidarprinzip besteht nicht. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entfällt jedoch bei vollständigem Zurücktreten des Solidarprinzips. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die Beiträge wie in einer Privatversicherung ausschließlich nach der Höhe des Risikos bemessen werden.

Zweiter Teil

Eigenverantwortung Kapitel 1

Grundsatz der Eigenverantwortung Der Verfassung und damit der Rechtsordnung insgesamt liegt die Vorstellung des Menschen als eigenverantwortlichem Wesen zugrunde. Die Grundrechte sollen vor allem Individualität und Eigenständigkeit, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung des Menschen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft garantieren.1 Die Würde des Menschen, seine Freiheit bzw. die Möglichkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten, gilt als höchster Rechtswert.2 Art. 2 Abs. 1 GG schützt jegliches menschliches Handeln vor staatlichen Eingriffen. Danach hat jedermann die Freiheit, zu tun und zu lassen, was er möchte, soweit er die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Dieses allgemeine Freiheitsrecht schützt die menschliche Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne,3 geschützt sind im Hinblick auf die eigene Gesundheit z. B. selbst-

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In BVerfGE 4, 7 (15 f.) heißt es dazu: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Das heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“. Siehe auch BVerfGE 30, 1 (20); 35, 202 (225); 48, 127 (163); 50, 290 (339). 2 BVerfGE 5, 85 (204: „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert. Sie ist unantastbar, vom Staate zu achten und zu schützen.“); 48, 127 (163: „Das Grundgesetz geht von der Würde der freien, sich selbst bestimmenden menschlichen Persönlichkeit als höchstem Rechtswert aus.“); 60, 253 (268: „Freiheit meint vor allem die Möglichkeit, das eigene Leben nach eigenen Entwürfen zu gestalten.“). 3 Dass das in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne schützt, stellte das Bundesverfassungsgericht erstmals 1957 in dem sogenannten Elfes-Urteil fest, vgl. BVerfGE 6, 32 (36 f.), und ist seitdem ständige Rechtsprechung, siehe BVerfGE 54, 143 (146); 80, 137 (152 f.); 95, 267 (303); 96, 375 (397 f.); 108, 186 (234); 112, 1 (21); 113, 88 (103); 114, 371 (383 f.). Vgl.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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gefährdende Handlungen,4 Drogenkonsum5 und nach überwiegender Ansicht auch die Selbsttötung6. Es steht dem Einzelnen also frei, sich im Rahmen der geltenden Gesetze vernünftig oder unvernünftig zu verhalten. Jeder hat die Freiheit, sein eigenes Leben oder sein eigenes körperliches Wohlbefinden beliebig auf’s Spiel zu setzen. Riskante Freizeitbeschäftigungen beispielsweise bringen häufig erhebliche gesundheitliche Gefahren mit sich. Ein Sprung aus 100 Metern Höhe mit einem elastischen Seil am Fußgelenk, freies Klettern an steilen Felswänden, Motorradrennen oder Ähnliches erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks mit schweren gesundheitlichen Folgen. Der Konsum von Alkohol, Nikotin und anderen Drogen, aber auch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten kann zu Suchtproblematiken mit erheblichen Gesundheitsgefährdungen führen. Frei ist der Mensch auch, sich der Gefahr einer HIV-Infektion durch den Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person auszusetzen. Schlechte Ernährung, Bewegungsmangel, arbeitsbedingte Überbelastungen und Ähnliches unterfallen ebenso der persönlichen Freiheitsentscheidung jedes Menschen. Gesundheitsgefahren bergen auch Reisen in Länder mit anderen klimatischen oder hygienischen Bedingungen oder die Haltung gefährlicher Haustiere. Zudem ist es niemandem zu verwehren, die eigene Gesundheit durch schönheitschirurgische Eingriffe oder beispielsweise durch übermäßige UV-Strahlung unter Sonnenbänken zu gefährden. Aber nicht nur aktives, die Gesundheit gefährdendes Verhalten, auch das Unterlassen bzw. Ablehnen medizinisch gebotener Maßnahmen gehören zur Freiheit des Einzelnen.7 Das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen gewährleistet ein von staatlicher Bevormundung freies und selbstverantwortliches Leben. Es ist die Sache, des Einzelnen, seine Freiheit vorsichtig oder riskant zu nutzen. Dem Staat kommt es demnach nicht zu, ihm einen richtigen Gebrauch seiner Freiheit zu verordnen und ihn zu seinem Glück zu zwingen. Dieser Respekt, so Eichenhofer, wird dem Einzelnen entgegengebracht, „weil nur so die staatliche Bevormundung über individuelle Lebensverläufe unterbunden wird“.8 auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 12; Sodan, in: Sodan, GG, Art. 2 Rn. 2; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 12; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 3. 4 BVerwGE 82, 45 (48 f.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 124; Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 2 I Rn. 31. Die Beschränkung selbstgefährdender Tätigkeiten ist aber zulässig, wenn die Folgen auch die Allgemeinheit treffen (z. B. Gurt- und Helmpflicht, Rauchverbote usw.). Siehe hierzu auch Ausführungen in diesem Teil, Kapitel 2, C. V. 2. g). 5 BVerfGE 90, 145 (171); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 51. 6 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 8; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 50; Schwabe, JZ 1998, 66 (69); ausführlich hierzu siehe auch K. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 85 ff. 7 Zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten siehe auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 204 ff. Vielfach wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG entnommen, vgl. bspw. BVerfG, NJW 1997, 3085 (3085); Vießmann, VSSR 2010, 105 (133); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 72. Als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts bzgl. ärztlicher Heileingriffe ist eine Behandlung gegen den Willen des Patienten als nicht gerechtfertigte Körperverletzung gemäß §§ 223 ff. StGB zu ahnden. 8 Eichenhofer, SGb 2003, 705 (710).

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2. Teil: Eigenverantwortung

Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge gehört die Eigenverantwortlichkeit des Menschen zum Menschenbild einer freiheitlichen Demokratie.9 Alle Grundrechte gingen „vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d. h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, der sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet“.10 Häberle beschreibt das Menschenbild des Verfassungsstaates zusammenfassend als „die ungebrochene Subjektstellung und Verantwortung des Individuums“.11 Die Freiheitlichkeit des Grundgesetzes bedingt sowohl die individuelle Selbstbestimmung als auch die Selbstverantwortung.12 Die Freiheit des selbstbestimmten Individuums ist untrennbar verbunden mit der Verantwortung für die Folgen seines freiheitlichen Tuns oder Unterlassens.13 So wie der Staat die freiheitlichen Entscheidungen des Einzelnen akzeptiert, überlässt er es ihm auch, die sich daraus ergebenden positiven wie negativen Folgen zu tragen. Das Einstehen für die Folgen eigenen Tuns bzw. die Eigenverantwortlichkeit ist insofern Bestandteil der Selbstbestimmung.14 Denn entfiele die Belastung der Verantwortung, würde jedermann die Befugnis eingeräumt, seine Freiheit auf Kosten anderer auszuüben und führe zu einer qualitativ anderen Freiheit, als sie das Grundgesetz meint. Verfassungsrechtlich geschützt ist gemeinschaftsverträglicher Freiheitsgebrauch;15 9

BVerfGE 5, 85 (204: „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert. Sie ist unantastbar, vom Staate zu achten und zu schützen. Der Mensch ist danach eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit.“); 7, 198 (205); 24, 119 (144: Das Kind bedarf des Schutzes und der Hilfe, „um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht“.); 27, 1 (7); 45, 187 (228: „die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“); 47, 46 (72: „Dieser Auftrag des Staates, den Art. 7 Abs. 1 GG voraussetzt, hat vielmehr auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden.“); 56, 363 (384); 60, 253 (268); 79, 51 (63); 83, 130 (140). Siehe auch Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 35 f. 10 BVerfGE 30, 173 (193). 11 Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 78, siehe auch S. 43 f.: „So optimistisch also der Verfassungsstaat in seinem Menschenwürde-, Freiheits- und Demokratiebild gestimmt ist und so sehr ihm ein Stück Prinzip Hoffnung, gepaart mit dem Prinzip Verantwortung (am Beispiel des Grundgesetzes: Art. 1 und 20, auch 20a), zugrundeliegen: Er überfordert den Menschen nicht, er macht allenthalben Zugeständnisse an seine Fehler, Gefährdungen und Gefahren (…) und er arbeitet in den verschiedenen Problemfeldern in großer Differenziertheit.“ (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 12 Merten, NZS 1996, 593 (593, 596); ders., VSSR 1983, 137 (137 f.). Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 58, schreibt hierzu: „Grundgesetzliche Freiheit ist nicht verantwortungslose, sondern verantwortliche und risikobehaftete Freiheit. Wagnis und Gefahr sind notwendige Korrelate der Freiheit und Preis für die von der Verfassung offerierten und garantierten Chancen.“. 13 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 459. 14 Franz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 197; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 422. 15 Der verfassungsrechtliche Freiheitsgebrauch wird nur im Rahmen der Rechte Dritter und der verfassungsmäßigen Ordnung gewährt (Art. 2 Abs. 1 GG).

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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das bedeutet, die Grenze individueller Lebensführung und -gestaltung ist dort zu ziehen, wo die Selbstverwirklichung zu Lasten anderer geht. Nach alledem wird deutlich: aus dem Freiheitsgedanken folgt Eigenverantwortlichkeit. Hartwig spricht insofern vom „verfassungsrechtlich verankerten Gedanken der Eigen- bzw. Mitverantwortlichkeit des Bürgers“.16 Unsere Rechtsordnung ist somit vom Leitbild des selbstbestimmten, mündigen und eigenverantwortlich handelnden Menschen bestimmt. Was genau in diesem Zusammenhang die (Eigen-)Verantwortung des Menschen bedeutet, ist im Folgenden grundsätzlich sowie bezogen auf den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zu klären.

A. Begriff der Verantwortung Das deutsche Wort verantworten stammt ursprünglich aus der spätmittelalterlichen Gerichtssprache und bedeutete, gegenüber einem Richter für sein Tun Rechenschaft abzulegen, es zu begründen und zu verteidigen.17 Dennoch ist Verantwortung oder Verantwortlichkeit der deutschen Rechtssprache weitgehend fremd;18 Rechtswörterbücher verweisen hierzu – wenn überhaupt – nur auf andere Rechtsbegriffe wie z. B. Verschulden, Schuld, Haftung. Was unter Verantwortung zu verstehen ist, und welche Rolle sie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft übernehmen kann, wird in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen diskutiert.19 Ein rechtswis16

Hartwig, Die Eigenverantwortung im Versicherungsrecht, S. 86. Stichwort Verantwortung, in: Brockhaus Enzyklopädie; Stichwort Verantwortung, in: Staatslexikon Recht-Wirtschaft-Gesellschaft; ausführlich zu den sprachgeschichtlichen Wurzeln des Verantwortungsbegriffs siehe Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 43 ff. 18 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 26, verdeutlicht in einer grundlegenden Untersuchung von Verantwortung die fehlende rechtsbegriffliche Eindeutigkeit. Vgl. auch Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 280 f. m. w. N. 19 Siehe bspw. Lampe, Rechtsanthropologie; Heidbrink, Kritik der Verantwortung; Homann, Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik; Bayertz, Verantwortung, Prinzip oder Problem; Jonas, Das Prinzip Verantwortung; Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 712 ff.; Winter, Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft, S. 251 ff.; Schwartländer, Stichwort Verantwortung im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III S. 1577 ff.; Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip; Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat; Kaufmann, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 204 ff. Im Rahmen einer Arbeitstagung unter dem Generalthema Verantwortlichkeit und Recht im Dezember 1987 fanden sich Philosophen, Theologen, Soziologen, Biologen, Psychologen, Ethnologen und Juristen zur gemeinsamen Diskussion über die juristische Relevanz der menschlichen Verantwortung zusammen. Fikentscher, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 327 f., zieht hierzu folgende Bilanz: „Die Diskussion ergab keine Übereinstimmung in der Begrifflichkeit, wohl aber eine Einigung über die Beschränkung des Verantwortungsbegriffs auf die dem Menschen eigene Kultur: Verantwortung stelle sich dar als kulturelle, begrifflich reflektierbare Leistung des Menschengeistes in der Auseinandersetzung mit der Doppelmoral der Natur, einer Natur, die ihre Ziele mit einem angestrebten Gleichgewicht von Eigen- und Fremdnützigkeit verfolgt.“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). 17

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2. Teil: Eigenverantwortung

senschaftliches Begriffsverständnis hat insofern die bestehenden Bezüge zu insbesondere ethischen Bedeutungsgehalten von Verantwortung zu berücksichtigen. „Der Ursprung der Idee von Verantwortung überhaupt“ – so Jonas in seiner philosophischen Analyse des Prinzips Verantwortung – „ist dieses mit der biologischen Tatsache der Fortpflanzung gegebene Verhältnis zum unselbständigen Nachwuchs“ als „die einzige von der Natur gelieferte Klasse völlig selbstlosen Verhaltens“.20 Neben dieser natürlichen elterlichen Verantwortung als Archetyp aller Verantwortung und einer selbstgewählten Verantwortung beispielsweise des Politikers oder des Künstlers für sein Werk unterscheidet Jonas grundsätzlich:21 *

*

die Verantwortung als kausale Zurechnung begangener Taten. Der Täter müsse „für seine Tat antworten“; der angerichtete Schaden müsse „gutgemacht werden, auch wenn die Ursache keine Übeltat und die Folge weder vorausgesehen noch beabsichtigt war“.22 Verantwortung bedeute Rechenschaft für etwas Getanes und sei unabhängig von subjektiven Motiven und vom Bewusstsein, sondern vielmehr in der Struktur der Geschehnisse vorgezeichnet. Hier fand nach Einschätzung Jonas’ schon frühzeitig eine Vermischung mit der moralischen Idee der Bestrafung statt; die bewirkte Sühne, mit der der Täter zur Verantwortung gezogen wird, diene aber nicht der Gutmachung des von anderen erlittenen Schadens, sondern der „Wiederherstellung der gestörten moralischen Ordnung“.23 die Verantwortung als Pflicht für etwas Zu-Tuendes begründet durch Macht oder anders ausgedrückt: die Verantwortung als Pflicht der Macht. Jonas meint damit das Verantwortlichsein für eine Sache, die auf ein Handeln Anspruch erhebt; d. h. Verantwortung verpflichte „zu Taten, die keinem anderen Zweck vorgehabt sind“.24 Erforderlich sei, dass die Macht einen ursächlichen Bezug zur Sache hat und die Sache ein Recht auf Dasein, welches die Macht verpflichtet. „Diese Art von Verantwortung und Verantwortungsgefühl“ liege der Kategorie des „unverantwortlichen Handelns“ zugrunde; Ausübung der Macht ohne die Beachtung der Pflicht sei „unverantwortlich“. Diese Verantwortung werde aus einer ex-ante Sicht in die Zukunft bestimmt, sodass eine Abgrenzung nicht durch einen Kausalzusammenhang möglich sei, sondern durch den Wirkungsbereich der individuellen Macht und Gestaltungsmöglichkeit erfolge.

Das Gemeinsame der Verantwortungskategorien entnimmt Jonas einer näheren Untersuchung der elterlichen und staatsmännischen Verantwortung, in denen sich als entgegengesetzte Enden des gesamten Spektrums möglicher Formen der Verantwortung25 das Wesen von Verantwortung am vollständigsten abbilde. Wesentlich sei 20 21 22 23 24 25

Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 85. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 172 ff. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 172. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 173. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 174, zum Folgenden siehe S. 175 f. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 182.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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die Totalität der Verantwortungen, da sie „das totale Sein ihrer Objekte umspannen, daß heißt alle Aspekte desselben, von der nackten Existenz bis zu den höchsten Interessen“.26 Dieses weitreichende Verständnis von Verantwortung greift Führ aus rechtswissenschaftlicher Sicht auf und sieht darin die Gefahr eines unerfüllbaren und damit unmenschlichen Absolutheitsanspruchs.27 Verantwortung könne sich nur auf einen klar umrissenen Gegenstand im Rahmen der zumutbaren Handlungsmöglichkeiten beziehen. Verantwortung im Rechtssinne müsse eine äußerlich wirksame Folgenanlastung ermöglichen und grundrechtlich gewährte Freiheitsbereiche des Verantwortlichen sowie eines möglichen Gegenübers beachten. Auch Schubert, der die Verantwortungsethik Jonas’ aus rechtsphilosophischer und verfassungsrechtlicher Sicht untersucht, stellt klar, dass sich der Umfang rechtlicher Verantwortlichkeit ebenso wenig mit dem moralischer Verantwortlichkeit decke, wie sich auch der Umfang der rechtlichen nicht mit dem der moralischen Pflichten decke.28 In dem von Schubert skizzierten und im Folgenden zu erläuternden, juristischen Verantwortungsbegriff29 spiegeln sich aber die gleichen Attribute wider, die Jonas bereits für seinen philosophisch-moralischen Verantwortungsbegriff herausgearbeitet hat. Rechtliche Verantwortung umfasse nach Schubert zwei Aspekte: Zum einen bedeute Verantwortung ein Einstehenmüssen für negative Folgen des eigenen zurechenbaren Handelns gegenüber Dritten. Diese Verantwortung – verstanden als Rechenschaft für Getanes – setze nicht nur notwendig Macht als die Fähigkeit, rechtlich oder faktisch in einem fremden Rechtskreis zu wirken, voraus, sondern sei ihrem Umfang nach proportional zur Macht. Verantwortung in diesem Sinne könne also nur soweit bestehen, wie die Ursache der Wirkung in der beeinflussbaren Sphäre des Verursachers liegt. Zum anderen könne rechtliche Verantwortung im Sinne einer Pflicht für etwas Zu-Tuendes bzw. das Sollen als Folge des Könnens verstanden werden; Verantwortung ergibt sich insofern aufgrund normativer Begrenzung von Möglichkeiten und Kompetenzen als ex-ante Determinierung des Handelns.30 Schubert meint damit die Begrenzung der Privatautonomie aufgrund vertraglich eingegangener Verpflichtungen im Sinne eines Übernehmens von Verantwortung oder die Begrenzung von Befugnissen im Öffentlichen Recht durch Kompetenzzuweisung. Diese Ver26

Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 189. Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 45, 49, mit Verweis auf Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, S. 90 f., der die Grenzen eines solchen Ansatzes aufzeigt und darin eine überbordende Verantwortlichkeit sieht, die mit der Integrität einer Person unvereinbar sei. 28 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 281. Vgl. auch Wiegand, JöR 43 (1995), 31 (44), der Recht und Ethik als zwei unterschiedliche Normenmassen beschreibt, die sich wie zwei formal sich nicht überschneidende Kreise zueinander verhielten, die sich aber in Rechtsprinzipien, in denen sich dahinterstehende ethische Prinzipien widerspiegeln, berührten. 29 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 280 ff. 30 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 282 ff., 287. 27

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2. Teil: Eigenverantwortung

antwortung setze Freiheit voraus und korrespondiere mit dem Umfang der Freiheit. Beide Aspekte der rechtlichen Verantwortung ließen sich nicht exakt voneinander abgrenzen, bedingten sich wechselseitig und seien „über das logische und systematische Bedingungsverhältnis von Freiheit und Macht“ wiederum miteinander verbunden. Ausgehend vom deutschen Sprachgebrauch31 lässt sich eine zumindest dreistellige Relation der Verantwortung ausmachen: jemand ist für etwas gegenüber einer Instanz verantwortlich. In der rechtswissenschaftlichen Literatur gilt der Verantwortungsbegriff als mehrgliedriger Zuschreibungsbegriff. Beispielsweise spricht Höfling32 von einem fünfgliedrigen Verantwortungsbegriff: jemand (Verantwortungssubjekt) werde gegenüber einem anderen (Verantwortungsinstanz) für etwas (Verantwortungsgegenstand) nach Maßgabe normativer Standards (Verantwortungszurechnungsgrund) mit spezifischen Instrumenten (instrumentelle Verantwortungsrealisierung) zur Verantwortung gezogen. In ähnlicher Weise beschreibt Führ33 eine Verantwortungskonstellation mit folgenden kennzeichnenden Elementen: jemand (Verantwortungssubjekt/-träger) ist für etwas (Verantwortungsobjekt/ -gegenstand) in Bezug auf ein präskriptives bzw. normatives Kriterium (Verantwortungsmaßstab) gegenüber einem Adressaten vor einer Verantwortungsinstanz mit Urteilsfunktion und Sanktionsmöglichkeiten im Rahmen eines Verantwortungsbereichs (mit-)verantwortlich. Die im Zuge der einzelnen Begriffselemente aufgeworfenen Fragen, wie z. B. wer unter welchen Bedingungen verantwortungsfähig und verantwortungspflichtig ist, wem gegenüber Verantwortung besteht oder worauf sich Verantwortung gegenständlich bezieht, werden im Folgenden gesondert untersucht. Der Verantwortungsträger ist Subjekt bzw. personaler Bezugspunkt der Verantwortung. Im philosophischen und christlich-theologischen Sinne verantwortungsfähig ist allein der individuelle Mensch als zur freien Entscheidung befähigte Person.34 Die Freiheit seines Handelns gilt dabei als Bedingung von Verantwortung. Träger von Verantwortung ist aber nicht notwendig ein einzelner Mensch.35 So wie eine Aufgabe mehreren Personen gemeinsam zukommen kann, kann auch Verantwortung mehreren gemeinschaftlich zufallen. Verantwortungsträger können daher 31

Z. B.: Eine Person ist einer anderen Person gegenüber für etwas verantwortlich. Eine Person ist für eine Person oder eine Sache verantwortlich. Eine Person ist für ihr Handeln und die Wirkung dieses Handelns verantwortlich. Eine Person übernimmt Verantwortung. 32 Höfling, ZEFQ 2009, 286 (289); ders., Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 515 f., jeweils m. w. N. Vgl. auch Marckmann, Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 302 f. 33 Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 47 ff. m. w. N. 34 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. II/2, S. 713 f.; Weischedel, Versuch über das Wesen der Verantwortung, S. 43 ff.; Stichwort Verantwortung, in: Brockhaus Enzyklopädie. 35 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 36.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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Personenverbindungen verschiedenster Art sein, auch eine juristische Person oder ein Staat.36 Sachlicher Bezugspunkt von Verantwortung ist der Verantwortungsgegenstand; gemeint sind Handlungen des Verantwortungsträgers, Handlungsfolgen, Zustände, Aufgaben. Sachs37 definiert aus staatsrechtlicher Perspektive den Verantwortungsgegenstand als das Gesamtverhalten des Verantwortungsträgers in seinem Verantwortungsbereich, das sowohl aktives Tun als auch das Unterlassen umfasse.38 Zudem weist Sachs auf die weitergehende gefahrenabwehrrechtliche Zustandsverantwortlichkeit hin. Verantwortung ist nicht auf das eigene Handeln begrenzt, sondern erstreckt sich grundsätzlich auf alles, was mit der Person oder der Sache, für die man verantwortlich ist, geschieht.39 Aus ethischer Sicht wird oftmals zwischen prospektiver und retrospektiver Verantwortung unterschieden.40 Hiermit sind Verantwortungskonstellationen bezeichnet, deren sachlicher Bezugspunkt im ersten Fall ein Gegenstand bzw. Zustand und im zweiten Fall eine bereits vollzogene Handlung ist. Verantwortungszuschreibung bedarf einer konkreten Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen dem Verantwortungsträger und dem Verantwortungsgegenstand innerhalb eines abgrenzbaren Verantwortungsbereichs.41 Die Verantwortung ist bestimmt durch die Zuständigkeit, die sich aus den Aufgaben, die dem Einzelnen oder einer Gruppe zufallen, ergibt42. Notwendig begrenzt ist das zu verantwortende Verhalten 36

Bspw. untersucht Sachs, in: DVBl. 1995, 873 ff., die Verantwortung als staatsrechtliche Kategorie. Schulin, Soziale Entschädigung als Teilsystem kollektiven Schadensausgleichs, S. 141 ff., beleuchtet die Allgemeinheit oder staatliche Gemeinschaft als Verantwortungsträger. Grundlegend zur Frage der Staatsverantwortung siehe auch Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 77 ff., 112 ff. 37 Sachs, DVBl. 1995, 873 (875 ff.) beleuchtet die Verantwortung als staatsrechtliche Kategorie und erschließt aus der Gesamtheit der Verfassungsvorschriften, in denen der Verantwortungsbegriff ausdrücklich verwendet wird, Strukturen des Verantwortungsbegriffs. Einschlägige Verfassungsvorschriften sind dabei: Art. 20a, 23 V, VI, 28 Abs. 2 S. 1, 3, 46 I, II, 65 S. 1, 2, 143a I, 143b III GG sowie die Präambel; außerdem findet sich der Begriff Verantwortlichkeit in Art. 34 S. 1, 42 II GG. Ungeachtet bleiben verantwortungsträchtige Bezüge anderer Begrifflichkeiten. Sachs benennt weitere Bestimmungen einiger Landesverfassungen, die einen eigenständigen verantwortungsbezogenen Inhalt aufweisen, insbesondere zu Erziehungszielen. 38 Sachs, DVBl. 1995, 873 (877) greift in diesem Zusammenhang die obig dargestellte Unterscheidung Jonas’ zwischen der Verantwortung als kausale Zurechnung begangener Taten und Verantwortung als Pflicht der Macht auf und hält diese philosophische Einsicht aus juristischer Sicht für selbstverständlich, da das Verhalten des Verantwortungsträgers immer auch dessen Unterlassen mit einschließe. 39 Ingarden, Über die Verantwortung, S. 16; Picht, Der Begriff Verantwortung, in: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, S. 318 ff. (324). 40 Siehe bspw. Heidbrink, Kritik der Verantwortung, S. 209 ff.; Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (2); Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (105). 41 Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 48. 42 Hierzu formuliert Picht in: Der Begriff Verantwortung, in: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, S. 318 ff. (340 f.): „Wir haben nicht nur die Verantwortung dafür, daß wir die Aufgaben erfüllen, für die wir zuständig sind; wir haben auch eine Verantwortung dafür, daß wir

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2. Teil: Eigenverantwortung

somit auf die Wirkungsmöglichkeiten des Verantwortungsträgers. Übertragen auf Staatsorgane als Verantwortungsträger bedeutet dies beispielsweise, dass ihre Verantwortung nur im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenz besteht.43 Die Verantwortung einer einzelnen Person reicht insofern nicht weiter als ihre Freiheit.44 Verantwortung im Sinne einer vollen Verantwortung bezieht sich gegenständlich auch auf die Folgen menschlichen Handelns; dies gilt seit M. Weber, der den Begriff der Verantwortungsethik prägte, als gesicherte ethische Erkenntnis.45 Verantwortung unterliegt aber der sozialen, gesellschaftlichen Bestimmung und besteht nicht für alle Folgen menschlichen Handelns. Gegenstände einer Verantwortungszuschreibung können nicht solche Handlungsfolgen sein, die naturnotwendig ablaufen, auf die der Mensch also keinen Einfluss nehmen kann. Das bedeutet, Individualverantwortung für eingetretene Folgen endet jedenfalls dort, wo das individuelle Verhalten den Lauf der Dinge nicht verändert hätte. Nach Sachs ist Folgenverantwortung neben der Kausalität auch durch das Element der Ungewissheit über die zukünftige Entwicklung bedingt, sodass die Vorhersehbarkeit – zumindest der Risiken selbst – gegeben sein müsse.46 Grühn spricht insofern von (kausaler und) zurechenbarer Erfolgsherbeiführung für die der Verantwortliche einzustehen habe.47 Unser Rechtssystem nimmt bestimmte kausale Handlungsfolgen aus dem Verantwortungsbereich des Einzelnen aus.48 Anhand rechtlicher Zurechnungskriterien wie z. B. Verschulden oder bestimmte Gefahrenlagen bezieht sich die Verantwortung des die neuen Aufgaben erkennen, für die noch niemand zuständig ist, von deren Lösung aber das Schicksal der Menschen, mit denen wir verbunden sind, der Gesellschaft, des Staates und vielleicht sogar das Schicksal der Menschheit abhängen wird.“ 43 Sachs, DVBl. 1995, 873 (877); Pestalozza, JuS 1975, 366 (371 f.) im Zusammenhang mit der Mitverantwortungslehre des BVerfG zur Bestimmung der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes (BVerfGE 37, 363). 44 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 82 ff. Siehe auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 459: „Ohne Freiheit im Sinne des Vorhandenseins mehrerer Handlungsbzw. Entscheidungsmöglichkeiten kann es folglich auch keine Verantwortung geben.“. 45 M. Weber, Gesammelte politische Schriften, 505 (549 ff.). Danach wird der moralische Wert von Entscheidungen oder Handlungen an der Qualität der Güterabwägung und der angemessenen Beachtung der möglichen Folgen gemessen. Im Unterschied dazu stellt die Gesinnungsethik auf die Intention des Handelnden und deren Übereinstimmung mit allgemein verbindlichen Pflichten ab. Siehe auch Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik, S. 29 ff. 46 Sachs, DVBl. 1995, 873 (879), der sich hierzu z. B. auf Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 37 f., 206 ff., bezieht. 47 Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 11: „Verantwortung ist das Einstehen für kausale und zurechenbare Erfolgsherbeiführung durch eine Handlung im Rahmen eines von der Gemeinschaft oder Gesellschaft konstruierten Normensystems.“ Aus rechtswissenschaftlicher Sicht müsse zwischen Verantwortung und Verschulden differenziert werden. 48 Bspw. bedeutet die Freiheit des Einzelnen, z. B. die der wirtschaftlichen Betätigung, oftmals, für andere Folgen setzen zu können, ohne dafür die Konsequenzen tragen zu müssen. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, S. 37 f., sieht in der „Verantwortungslosigkeit“ für die sozialen Folgen individuellen Handelns die „Substanz der bürgerlichen Freiheit“.

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Handelnden auf einen durch die zu verantwortende Handlung verursachten Schaden, keineswegs aber auf alle kausalen Folgen seines Handelns. Verantwortung braucht einen Maßstab, dem das zu verantwortende Verhalten zu entsprechen hat. Verantwortung heißt, Antwort geben zu müssen auf Fragen, die sich auf die Korrektheit des Handelns bzw. auf ein Versagen hinsichtlich einer Sollensanforderung beziehen.49 Anders ausgedrückt steht Verantwortung im Verhältnis zu fremd- oder selbstgesetzten Anforderungen; wie diese Anforderungen erfüllt werden, hat der Verantwortliche zu rechtfertigen. Voraussetzung für Verantwortung ist die Geltung von Gesetzen und Regeln, die dem Verantwortlichen sagen, was ihm zu tun verboten und erlaubt ist.50 Normative Maßstäbe ergeben sich aus den rechtlichen Bindungen des zu verantwortenden Verhaltens. Irrelevant für die Frage des Verantwortungsmaßstabes ist sowohl Gesinnungslosigkeit als auch höchste Gesinnung.51 Es spielt keine Rolle, ob ein Verhalten von niedrigen Beweggründen, Gleichgültigkeit, Naivität oder ähnlichen Kategorien moralischen Bewusstseins begleitet war.52 Rechtliche Verantwortung, sofern sie sich gegenständlich auf Zustände z. B. das Eigentum des Verantwortungsträgers bezieht, geht darüber hinaus; beispielsweise kann jemand für einen Schaden einzustehen haben, auch wenn er nicht von einer Norm bzw. Sollensanforderung abgewichen ist.53 Verantwortungsmaßstab ist insofern nicht eine normative Verhaltenserwartung, sondern der normative Standard bezüglich der Beschaffenheit und des Zustands bestimmter Sachen. Verantwortung gilt als Kommunikationsbegriff; sie ist Antwort auf einen Anruf eines Du.54 Die Instanz, der gegenüber der Mensch verantwortlich ist, ist aus christlicher Sicht Gott als der liebende Schöpfer des Menschen. Auch sahen sich die Verfassungsgeber laut Präambel des Grundgesetzes in einer „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Aus philosophisch-ethischer Sicht ist der Mensch in erster Linie vor sich selbst verantwortlich und das menschliche Gewissen die Verantwortungsinstanz.55 Die Frage, ob Verantwortung notwendigerweise ein Gegenüber des Ver49

Larenz, Richtiges Recht, S. 93; Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 26; Zippelius, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 257 ff. 50 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 19 ff.; Stichwort Verantwortung, in: Staatslexikon Recht-Wirtschaft-Gesellschaft. 51 Sachs, DVBl. 1995, 873 (878 f.) greift insoweit die oben bereits erwähnte Unterscheidung von M. Weber, Gesammelte politische Schriften, 505 (549 ff.), zwischen einer folgenorientierten Verantwortungsethik und einer Gesinnungsethik auf. 52 Picht, Der Begriff Verantwortung, in: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, S. 318 ff. (325: „Die Verantwortung ist (…) keine Sache des moralischen Bewußtseins, sondern sie ist in der Struktur der Geschehnisse vorgezeichnet“.); Sachs, DVBl. 1995, 873 (883). 53 Solche Gefährdungshaftungen finden sich z. B. im Straßenverkehrsrecht, im Umweltrecht. Siehe Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 26. 54 Riedel, Freiheit und Verantwortung, in: Prinzip Freiheit, S. 201 ff. (221); siehe auch Ingarden, Über die Verantwortung; Weischedel, Versuch über das Wesen der Verantwortung. 55 Stichwort Verantwortung, in: Brockhaus Enzyklopädie; Stichwort Verantwortung, in: Staatslexikon Recht-Wirtschaft-Gesellschaft; Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 19 ff.

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antwortungsträgers, einen Verantwortungsadressaten, voraussetzt, hält Sachs mit Blick auf die landesverfassungsrechtlich ausdrücklich angesprochene Verantwortung vor dem eigenen Gewissen einer Person in ihrer Bedeutung jedenfalls aus rechtswissenschaftlicher Sicht für gering.56 Führ meint hingegen eine Verantwortung im Rechtssinne setze eine externe Verantwortungsinstanz voraus.57 Zudem unterscheidet Führ zwischen dem Verantwortungsadressaten, dem gegenüber der Verantwortliche rechenschaftspflichtig sei, und der Verantwortungsinstanz, die über eine Sanktion zu entscheiden habe. Bei einer moralischen Verantwortung, der lediglich informelle, soziale Sanktionen folgten, fielen Adressat und Verantwortungsinstanz oftmals zusammen; ginge es um rechtliche Verantwortung beispielsweise in einem zivilgerichtlichen Verfahren seien sie aber nicht identisch (Geschädigter als Verantwortungsadressat; Gericht als Verantwortungsinstanz). Dieser Differenzierung kann bei genauerer Betrachtung nicht gefolgt werden. Verantwortungsinstanz ist diejenige Person, zu deren Schutz der Verantwortungsmaßstab dienen soll; also der geschädigte Rechtsgutinhaber. Ein Gericht hingegen, das über die Folgenanlastung einer Verletzung dieser Verantwortung entscheidet, ist nicht Bestandteil der Verantwortungskonstellation, sondern lediglich eine Sanktionsinstanz. Dem Urbild der Verantwortung entnimmt Sachs eine zentrale Rolle der Sanktion.58 Aus der Art und Weise, wie dem Verantwortungsmaßstab entsprochen wurde, ergeben sich Konsequenzen für den Verantwortungsträger. Aus philosophischethischer Sicht müsse der Verantwortungsträger – als Sanktion seines Verhaltens – selbst die Folgen tragen, soweit es ihm misslinge, in seinem Verantwortungsbereich den Maßstäben zu genügen.59 Höfling nennt dies in seiner oben erwähnten.60 Definition des Verantwortungsbegriffs instrumentelle Verantwortungsrealisierung. Ohne Sanktion bedeutet die Verantwortungszuschreibung einen bloßen Appell, dessen handlungsleitende Wirkung sich womöglich auf ein schlechtes Gewissen beschränkt. Aufgabe von Verantwortung als soziales Konstrukt ist es aber, menschliches Verhalten in sozial erwünschte Bahnen zu lenken und gegenläufige Interessen kompromisshaft voneinander abzugrenzen. Verantwortung begrenzt den Entfaltungsspielraum des Einzelnen und schützt dadurch gleichzeitig den Freiheitsraum anderer. Verantwortung kommt daher eine gesellschaftliche Steuerungs- und Ordnungs56

Sachs, DVBl. 1995, 873 (879 f.). Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 48, 62. 58 Sachs, DVBl. 1995, 873 (880) m. w. N. Diese ursprünglich zentrale Rolle der Sanktion spiegele sich in den Verantwortungsbestimmungen des Grundgesetzes jedoch nur sehr begrenzt wider, insbesondere im Zusammenhang mit der politischen Verantwortung von Staatsorganen. Grundlegend zur politischen Verantwortung siehe Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 284 ff. m. w. N. 59 Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, S. 200 f.; M. Weber, Gesammelte politische Schriften, 505 (552); Schwartländer, Stichwort Verantwortung im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III S. 1579. 60 Siehe Fn. 32 in diesem Teil. 57

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funktion zu; sie gilt als gesellschaftliches Organisationsprinzip.61 Um möglichst effektiv das Verhalten des Einzelnen zu beeinflussen und einen Steuerungserfolg zu gewährleisten, ist demjenigen, der eine Norm nicht erfüllt, sein Verhalten persönlich zuzurechnen und zu sanktionieren. Verantwortung erfordert also einen Mechanismus der Folgenanlastung. Das Recht sieht eine Folgenanlastung durch die Verknüpfung der Verfehlung normativer Maßstäbe mit belastbaren Rechtsfolgen vor. Fehlt eine rechtliche oder außerrechtliche Folgenanlastung solle man nicht von Verantwortung sprechen, meint Führ.62 Kernelement einer Verantwortungskonstellation sei die Art und Weise der Folgenanlastung, die die Motivationslage des Verantwortungsträgers beeinflussen soll. Jede Verantwortungskonstellation impliziert zumindest eine Rechenschaftspflicht des Verantwortungsträgers gegenüber der Verantwortungsinstanz als Folge einer Verfehlung des Verantwortungsmaßstabs. Sicherlich hat diese Folgenanlastung nur eine sehr geringe handlungsleitende Wirkung, dennoch kann eine Verantwortung auch in diesem Zusammenhang bestehen. Verantwortungskonstellationen erfüllen eine Ordnungsfunktion; ihr Bestand sollte aber nicht von einem Mindestmaß gesellschaftlicher Steuerungswirkung abhängig gemacht werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Verantwortung begrifflich die Bestimmung eines Verantwortungsträgers, eines Verantwortungsgegenstands, eines Verantwortungsmaßstabs, einer Verantwortungsinstanz sowie einer Form der Folgenanlastung voraussetzt. Aus der Verantwortung als solcher konkrete, auch rechtliche Schlussfolgerungen herzuleiten, ist jedoch angesichts des teilweise weiten Verständnisses von Verantwortung kaum möglich.63 Vielmehr ist für die jeweilige Handlungssituation konkret zu fragen, wie die einzelnen Elemente des Verantwortungsbegriffs zu präzisieren sind.

B. Verantwortung innerhalb der Rechtsordnung „Verantwortung innerhalb unserer Rechtsordnung“ bedeutet nach Blöcher „das Risiko, mit den Folgen seiner selbstbestimmten Handlungsweise belastet zu werden“.64 Wie bereits eingangs aufgezeigt,65 ist Verantwortung untrennbar mit der 61 Münnich, VSSR 1981, 197 ff.; Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 18 ff. 62 Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 51. 63 So auch Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 50. Führ weist auf mögliche Gefahren für die bürgerliche Freiheit hin, wenn aus bestimmten Sichtweisen von Verantwortung der Umfang der Freiheit definiert würde. Aus juristischer Sicht abzulehnen seien daher Versuche, aus der Verantwortung als solcher bzw. von einem Prinzip Verantwortung normative Schlussfolgerungen abzuleiten. 64 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 10. Ähnlich meint Hartwig, Die Eigenverantwortung im Versicherungsrecht, S. 405: Verantwortung-Tragen bedeute nicht bloß

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grundrechtlich gewährten Freiheit des selbstbestimmten Individuums verbunden. Die Gewährleistung rechtlicher Freiheit schließt notwendig das Überbinden rechtlicher Verantwortung ein; Freiheit als das Primäre, Verantwortung als das Sekundäre, Bedingte.66 Wenn der Einzelne handeln kann, wie er es für richtig hält, muss er auch für die Ergebnisse seiner Handlungen verantwortlich gemacht werden. Verantwortung begrenzt daher den Entfaltungsspielraum des Einzelnen und schützt auf diese Weise den Freiheitsbereich anderer. Andererseits bedingt Verantwortung auch die Freiheit des Handelns; das heißt, Verantwortung setzt die Freiheit der Willensbildung, des Handlungsentschlusses und der Umsetzungshandlung voraus.67 Von der Willensfreiheit des Handelnden geht das Recht grundsätzlich68 aus. Verantwortung und Freiheit bedingen sich innerhalb unserer Rechtsordnung somit gegenseitig. Derjenige, der bei seinen freiheitlichen Handlungen mit Rechtsgütern Dritter in Berührung kommt, trägt das Risiko, dabei eventuell entstehende Schäden wiedergutmachen zu müssen. Blöcher bezeichnet Verantwortung insofern als Verbindungsglied zwischen der Verletzungshandlung und dem Schaden einerseits sowie der Person des Ersatzpflichtigen andererseits.69 Verantwortung erfülle eine rechtliche Zurechnungsfunktion bzw. Zurechnung bedeute „Verantwortung, genauer Verantworten-Können und Verantworten-Müssen“, so Blöcher. Die Verteilung der Schadensgefahr auf die beteiligten Rechtssubjekte bzw. die Ausgestaltung einer solchen Verantwortungskonstellation, konkret: des Verantwortungsmaßstabs, kann anhand unterschiedlicher Zurechnungskriterien erfolgen. Typisches Zurechnungskriterium ist das Verschulden des Verantwortungsträgers. Daneben kann dem Verantwortungsträger auch die unverschuldete Gefährdung fremder Rechtsgüter zugerechnet werden. Bei der Gefährdungshaftung geht es im Unterschied zur Verschuldenshaftung nicht um ein Unwerturteil, sondern um die gerechte Verteilung gesellschaftlicher Risiken, die der Verantwortungsträger, wenn auch erlaubterweise, gesetzt hat und aufrechterhält. Darüber hinaus existieren vereinzelte spezielle Zurechnungskriterien.70 mit bestimmten rechtlichen, gesellschaftlichen oder ethisch-moralischen Pflichten belastet zu sein; vielmehr sei das Maß an Verantwortung immer auch Ausdruck der dem Einzelnen von unserer Gesellschaft eingeräumten Freiheit. 65 Siehe Ausführungen zum verfassungsrechtlichen Menschenbild zu Beginn des Kapitel 1 in diesem Teil. 66 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 73, 82 ff. m. w. N., zeigt enge Bezüge zwischen Freiheit, Macht und Verantwortung auf. Vgl. auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 459; Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 45 ff.; Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 284, 287. 67 So Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 46, mit Verweis auf Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 64 ff. und Stichwort Verantwortung, in: Staatslexikon Recht-WirtschaftGesellschaft. 68 Ausnahmen hierzu: §§ 20 f. StGB, §§ 6, 105 Abs. 2 BGB. 69 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 11 f. 70 Bspw. die kaufvertragliche Mängelhaftung nach §§ 437, 433 BGB.

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Neben der zivilrechtlichen Schadensverantwortung, die meist als Haftung bezeichnet wird,71 gehört auch die strafrechtliche Verantwortung zu den traditionellen Bereichen rechtlicher Verantwortlichkeit. Der Verantwortungsmaßstab wird durch den jeweiligen Straftatbestand definiert, der grundsätzlich das Verschulden des Straftäters als Verantwortungsträger voraussetzt. Ein weiterer Bereich rechtlicher Verantwortlichkeit ist die rechtspolitische Verantwortung.72 Politische Verantwortung bezeichnet die Pflicht eines Machtträgers einem anderen Machtträger über die Amtsführung bzw. die Erfüllung der ihm zugewiesenen Funktion Rechenschaft ablegen zu müssen73 und gilt als ein Grundelement des demokratischen Parlamentarismus.74 In diesem Zusammenhang wird die Frage der Verantwortung eines Staatsbürgers75 und eines sich daraus ergebenden Mechanismus’ zu einer wirksamen Kontrolle politischer Machtausübung diskutiert. In seiner rechtsphilosophischen Untersuchung versteht Schubert Verantwortung als ethisch fundierte politisch-juristische Kategorie, die nicht nur einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen, sondern vielmehr auch die Besinnung auf Aufgaben und Gestalt moderner westlicher Staaten sowie die Gewährleistung von Menschenrechten umfasse.76 Als ein die ganze verfassungsrechtliche Ordnung kennzeichnendes Prinzip werde das „Prinzip Verantwortung“ „allein durch die Macht des Faktischen“ zur „Schlüsselkategorie des demokratischen Verfassungsstaats“,77 schreibt Schubert, der im Ergebnis sein Prinzip Verantwortung als Rechtsprinzip auf verfassungsrechtlicher 71 Mayer-Maly, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 276, weist darauf hin, dass der Begriff der Verantwortlichkeit im Privatrecht (verwandt z. B. in § 76 Abs. 1 AktG, §§ 651a, 1356, 1627 BGB) keinen gesicherten Bedeutungsgehalt habe. 72 Zippelius, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 257 ff., unterteilt rechtliche Verantwortung in vier Varianten: strafrechtliche Verantwortung, schuldrechtliche Schadensverantwortung auf Verschuldensbasis sowie auf Gefährdungsbasis und rechtspolitische Verantwortung. Siehe hierzu auch Fikentscher, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 327 (329). Mayer-Maly spricht in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 268 (276) nur von der staatsrechtlichen und politischen Ministerverantwortlichkeit. Schröder, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 65 Rn. 52. 73 Badura, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 246 ff.; Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 27, 46; Loewenstein, Verfassungslehre, S. 45 ff., 48. Politische Verantwortung beinhaltet nach Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: FS für Gebhard Müller, S379 (391 ff.), eine gegliederte Staatsordnung, eine selbstständige Entscheidungsbefugnis, Distanz und Öffentlichkeit. Grundlegend zur politischen Verantwortlichkeit siehe auch Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 284 ff. m. w. N. 74 Zippelius, in: Verantwortlichkeit und Recht, S. 257 (262 ff.); Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 63 Rn. 6. 75 Siehe Berichte und Diskussionen zur Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Wien im Oktober 1995, insbesondere: Merten, VVDStRL 55 (1996), 7 ff.; Berka, VVDStRL 55 (1996), 48 ff.; Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), 90 ff. 76 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 254, 261. 77 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 19.

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Ebene qualifiziert.78 Auch Saladin79 begreift Verantwortung als Staatsprinzip und damit als „Schlüssel zur Lehre vom modernen Rechtsstaat“. In diesen Zusammenhängen bezieht sich Verantwortung im Sinne eines Nach- und Umweltschutzes gegenständlich auf das staatliche Handeln, das Ringen um die richtige Politik und das demokratische Engagement der Bürger. Eine nähere Betrachtung eines solchen Verantwortungsverständnisses ist jedoch im Rahmen dieser Untersuchung nicht angezeigt, da es vorliegend um Verantwortungskonstellationen geht, die privates Handeln und individuelle Subjekt-Objekt-Beziehungen zum Gegenstand haben. Die Verantwortung im Rechtssinne unterteilt Führ80 nach dem Inhalt und Konkretisierungsgrad der sie jeweils konstituierenden rechtlichen Pflichten. Verantwortungskonstellationen, die auf exakt definierten gesetzlichen Pflichten beruhen, bezeichnet Führ als Verantwortlichkeit. Ein Verstoß gegen derart strikte Pflichten – beispielsweise des Strafrechts – ziehe unmittelbar eine Sanktion nach sich. Neben der Verantwortlichkeit bildet Führ die Kategorie der Eigen-Verantwortung. Dieser lägen keine eindeutigen Pflichten, sondern meist positiv formulierte Erwartungen des Rechts an das Verhalten des Verantwortungsträgers zugrunde. Solche unvollkommenen Pflichten des Rechts zeichneten sich dadurch aus, dass sie inhaltlich offen und daher erst situationsbezogen zu konkretisieren sowie zum Teil nur indirekt sanktioniert seien. Sie könnten nicht punktgenau befolgt werden und beinhalteten daher die Zuweisung von Kompetenzen – nicht jedoch im Sinne von Beliebigkeit. In den unvollkommenen Pflichten – so Führ – treffen konkurrierende Prinzipiennormen aufeinander; das heißt, Eigen-Verantwortung meine ein Verhalten unter Prinzipiennormen des Rechts, während die Verantwortlichkeit sich aus Rechtsregeln81 ergebe. Führ grenzt unter dem Oberbegriff Verantwortung die Verantwortung im Rechtssinne von der ethisch begründeten Selbst-Verantwortung ab. Im Unterschied zur Eigen-Verantwortung werde bei der Selbst-Verantwortung zwar auch der Gebrauch der Freiheit mit einer unvollkommenen Pflicht belastet; diese Pflicht sei jedoch nicht dem Bereich des Rechts zuzuordnen, sondern als Tugendpflicht oder ethische Pflicht zu bezeichnen. Bei der Selbst-Verantwortung habe der Verantwor78

Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 252 ff., 278 f., sieht den Gedanken der Verantwortung für die Permanenz menschenwürdiger Existenz und damit auch für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen in allen Präambeln verfassungsstaatlicher Verfassungen sowie als verfassungsrechtlich normiertes Erziehungsziel und damit als Wertentscheidung des Verfassungsgebers festgelegt. 79 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip. 80 Zum ganzen Abschnitt siehe Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 21 ff., 51 ff., 59 ff. Führ untersucht die Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts unter Zugrundelegung der These, der Rechtsstaat sei für die Bewältigung seiner Steuerungsaufgaben auf Regelungsmuster angewiesen, die sich in der Kategorie der Eigenverantwortung zusammenfassen ließen. Unvollkommene Pflichten und indirekt steuernde Anreizmechanismen – in diesem institutionellen Rahmen könne sich eigenverantwortliches Verhalten entfalten. Darin liege die Chance, Steuerungserfolge auf schonendere Weise erzielen zu können, aber auch die Gefahr, Rechtspositionen auszuhöhlen. 81 Zur rechtstheoretischen Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln siehe Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 3, C. I.

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tungsträger sein Verhalten in erster Linie vor sich selbst als Verantwortungsinstanz zu rechtfertigen. Die von Führ gebildeten Kategorien rechtlicher Verantwortung (Verantwortlichkeit und Eigen-Verantwortung) lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Beide definieren einen Verantwortungsmaßstab und nehmen eine Folgenanlastung vor; sie unterscheiden sich lediglich darin, wie konkret der Verantwortungsmaßstab definiert ist und in welcher Weise die Folgenanlastung verknüpft ist. Gemeinsam sei ihnen, dass nicht lediglich eine innere Verantwortung gemeint ist, sondern einer externen Verantwortungsinstanz die Befugnis übertragen wurde, Handlungsfolgen mit zwingendem Charakter festzusetzen.82 Verantwortung im Rechtssinne – so Führ – müsse daher immer eine rechtlich vorgesehene Folgenanlastung durch eine externe Verantwortungsinstanz vorsehen. Diese Aussage erscheint jedoch in ihrer Absolutheit mit Blick auf gesetzliche Bestimmungen – beispielsweise des Grundgesetzes –, die Verantwortung auch ohne eine explizite Sanktion zuschreiben, zweifelhaft. Sachs kommt in seiner Untersuchung der Verantwortung als staatsrechtlicher Kategorie zu dem Ergebnis, dass sich die ursprünglich zentrale Rolle der Sanktion in den Verantwortungsbestimmungen des Grundgesetzes – insbesondere im Zusammenhang mit der politischen Verantwortung von Staatsorganen – nur sehr begrenzt widerspiegele.83 Die Sicherung der ethischen Qualität bei der Ausübung politischer Verantwortlichkeit in der demokratischen Verfassungsordnung erfolge nach Schubert aber über die Rechenschaftslegung und Rechtfertigung vor den wählenden Bürgern.84 Derartige staatsrechtlich vorgesehene Verantwortungskonstellationen, bei denen eine externe Verantwortungsinstanz nicht direkt befugt ist, Handlungsfolgen mit zwingendem Charakter festzusetzen, könnten der Einteilung Führ’s zufolge weder als rechtliche noch als außerrechtliche SelbstVerantwortung, der eine lediglich ethische Pflicht zugrunde liege, qualifiziert werden. Eine staatsrechtliche Verantwortungskonstellation weist jedoch bereits wegen ihrer (verfassungs-)rechtlichen Verankerung den Charakter einer Verantwortung im Rechtssinne auf.85 Nach Wolf86 bedeutet Eigenverantwortung „die Aufgabenbewältigung an selbstgewählten Maßstäben“. Der eigenverantwortlich Handelnde müsse über sein Tun lediglich der eigenen Person und keinem Dritten gegenüber Rechenschaft ablegen. Dies ließe sich aber nur rechtfertigen, wenn der eigenverantwortlich Han82

Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, S. 62, 64. Sachs, DVBl. 1995, 873 (880) m. w. N. Im Zusammenhang mit der These einer nur mittelbaren, durch den Bundeskanzler vermittelten Ministerverantwortlichkeit [siehe hierzu bspw. Karehnke, DVBl. 1974, 101 (103)] meint Schröder, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 65 Rn. 54, es sei methodisch und sachlich unzutreffend, den Begriff der Ministerverantwortlichkeit anhand einer spezifischen Form ihrer Geltendmachung zu identifizieren. 84 Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, S. 334. 85 So auch Schröder, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 65 Rn. 52. 86 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 65 f. 83

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delnde und damit Einstandspflichtige eine freie Entscheidungsmöglichkeit zwischen mindestens zwei Optionen hatte. Entsprechend der aufgezeigten notwendigen Begrenzung von Verantwortung auf den Umfang der Entscheidungsfreiheit und die Wirkungsmöglichkeiten des Verantwortungsträgers begrenzt Wolf die Kategorie der Eigenverantwortung, lässt damit aber die Frage unbeantwortet, wem die Folgen des eigenen, unfreiwilligen Schicksals anzulasten sind. Die Verantwortung innerhalb der Rechtsordnung ist hier in folgende Kategorien eingeteilt, die der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt sind. I. Rechtliche Verantwortung Rechtliche Verantwortung umfasst alle Verantwortungskonstellationen, die auf rechtlichen Pflichten beruhen, genauer: deren Verantwortungsmaßstab gesetzlich oder vertraglich bestimmt ist und sich somit aus den rechtlichen Bindungen des zu verantwortenden Verhaltens ergibt. Rechtliche Verantwortung bezieht sich auf einen klar umrissenen Gegenstand im Rahmen der beeinflussbaren Sphäre des Verantwortungsträgers. Typische Merkmale einer rechtlichen Verantwortungskonstellation sind eine externe Verantwortungsinstanz und eine äußerlich wirksame Folgenanlastung, falls der Verantwortungsträger seinen rechtlichen Pflichten, dem Verantwortungsmaßstab, nicht genügend nachkommt. Irrelevant ist dabei die Motivation und moralische Gesinnung des Verantwortungsträgers. II. Eigenverantwortung Grundlegende Annahme der Verfassung und damit der gesamten Rechtsordnung ist die Eigenverantwortung des freien Menschen.87 Rechtliche Freiheit führt zu tatsächlicher Ungleichheit. Die Freiheit eines jeden Gesellschaftsmitglieds bedingt grundsätzlich, dass der Einzelne die Folgen seiner freiheitlichen Entscheidungen und Lebensweise selbst trägt. Die eigene Freiheit kann nicht zu Lasten anderer ausgeübt werden. Diese Eigenverantwortung bezieht sich jedoch nicht nur auf die Folgen des eigenen freiheitlichen Handelns, sondern darüber hinaus auch auf die Risiken des eigenen Schicksals, die sich naturgemäß dem Einfluss des Betroffenen entziehen. Die freiheitliche Grundordnung bedeutet, dass persönliches Schicksal nicht automatisch kollektiviert ist. Würden die schicksalhaften Ereignisse des individuellen Lebens der Gesellschaft von vornherein angelastet werden, führte dies zu einer fremdbestimmten Belastung jedes Gesellschaftsmitglieds und damit zu einer qualitativ anderen Freiheit als sie das Grundgesetz meint. Eigenverantwortung ist somit untrennbar mit der Freiheit des Einzelnen verknüpft, beinhaltet aber nicht notwendigerweise die verantwortungstypischen Elemente der Kausalität und Willentlich87 Zum verfassungsrechtlichen Menschenbild siehe Ausführungen zu Beginn des Kapitel 1 in diesem Teil.

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keit. Zacher spricht insofern vom natürlichen Mechanismus der Verantwortung des Einzelnen für sich.88 Eigenverantwortung in diesem grundsätzlichen Sinne beruht nicht auf rechtlichen Bindungen, sondern steht vielmehr in einem Gegensatz zu fremder Verantwortung.89 Ausgehend von dem dargelegten Verantwortungsbegriff handelt es sich bei der Eigenverantwortung um einen Sonderfall. In dieser Verantwortungskonstellation ist der einzelne Mensch Verantwortungsträger und Verantwortungsinstanz zugleich. Verantwortungsgegenstand sind nicht nur seine freien Entscheidungen, sondern auch die nicht notwendigerweise beeinflussbaren eigenen Lebensrisiken. Die Bestimmung eines Verantwortungsmaßstabs obliegt ebenfalls dem moralischen Verständnis und Gewissen des Einzelnen; eine fremdgesetzte, vertraglich oder gesetzlich bestimmte Verhaltensvorgabe besteht grundsätzlich nicht. Die untrennbare Verknüpfung von Freiheit und Eigenverantwortung wirkt in beide Richtungen; ein eigenverantwortliches Verhalten bedingt einen freien, selbstbestimmten Verhaltensmaßstab. Die aus der eigenen Lebensführung und dem eigenen Schicksal folgenden körperlichen, seelischen oder materiellen Leiden und Einbußen trägt jeder selbst. Die Eigenverantwortung – im Folgenden auch als grundsätzliche oder natürliche Verantwortung bezeichnet – wird nicht durch Recht zugeschrieben, sondern von der Rechtsordnung vorausgesetzt und besteht immer, soweit nicht eine Fremdverantwortung greift. Für eine ausnahmsweise Fremdzurechnung der Risiken des eigenen Schicksals und/oder der Folgen des eigenen Handelns sieht die Rechtsordnung zwei wesentliche Rechtfertigungen vor: zum einen die mit der Freiheitsausübung eines anderen notwendigerweise verbundene (Schadens-)Verantwortung; zum anderen die Verantwortung einer Solidargemeinschaft.

C. Verantwortung innerhalb einer Solidargemeinschaft Solidargemeinschaften sind Zusammenschlüsse von Personen, die hinsichtlich einer gemeinsamen Aufgabe aufeinander angewiesen sind.90 Dies sind z. B. die Familie, die staatliche Gemeinschaft, Betriebe, Kommunen oder Versicherungsträger. Das einzelne Gemeinschaftsglied erfährt entsprechend der Zweckbestimmung und Gestaltung der Solidargemeinschaft Unterstützung durch die Gemeinschaft und muss im Gegenzug seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft erfüllen. Die Solidargemeinschaft entlastet das einzelne Gemeinschaftsglied hinsichtlich der Folgen bestimmter Risiken des eigenen Schicksals und des eigenen Handelns. Als Personenverbindung mit einer gemeinschaftlichen Aufgabe ist die Solidargemeinschaft 88

Zacher, ZVersWiss 1973, 135 (142); siehe auch ders., ZfS 1983, 171 (172). So auch Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 200. 90 Die Solidargemeinschaft ist Ausgangspunkt der Solidarität. Siehe hierzu im 1. Teil, Kapitel 4, A. I. 89

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Verantwortungsträger. Dabei handelt es sich um rechtliche Verantwortung, sofern die jeweilige Verantwortungskonstellation auf vertraglich oder gesetzlich bestimmten Pflichten beruht. Werden Solidargemeinschaften frei gebildet bzw. ist ihre Mitgliedschaft freiwillig, können rechtliche Bindungen aus der vertraglichen Vereinbarung zwischen der Solidargemeinschaft und dem einzelnen Gemeinschaftsglied erwachsen; auch das Gesetz sieht bestimmte Pflichten hinsichtlich freiwillig oder naturbedingt gebildeter Solidargemeinschaften vor. Beispielsweise verpflichtet § 1601 BGB Verwandte in gerader Linie einander zur Unterhaltszahlung. Innerhalb der Familie wird demnach das Risiko der finanziellen Mittellosigkeit nicht mehr allein von dem für seine eigene Situation Verantwortlichen, sondern gemeinschaftlich im engsten Familienkreis getragen. Darüber hinaus verpflichtet das Gesetz bestimmte Personen, sich einer Solidargemeinschaft anzuschließen (z. B. KfzHaftpflichtversicherung, Berufshaftpflichtversicherung für Rechtsanwälte) oder begründet die Zugehörigkeit kraft Gesetzes bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen (z. B. bei Arbeitnehmereigenschaft zur Sozialversicherung). I. Private Versicherungen Im Versicherungswesen wird das versicherte Risiko des Einzelnen umgelegt auf ein Kollektiv, den Versicherungsträger. Der Versicherungsvertrag begründet eine Verantwortung des Versicherungsträgers. Blöcher nennt die Verantwortung des Versicherungsträgers Gemeinschaftsverantwortung und sieht in ihr neben der Eigenverantwortung des Versicherten eine „zweite Form von Verantwortung“.91 Die privatrechtliche Gemeinschaftsverantwortung sei jedoch „keine eigene, sondern eine fremde, abgeleitete Verantwortung“.92 Ein Vertrag über eine Haftpflichtversicherung beispielsweise verpflichtet zum einen den Versicherungsträger, für den Fall einer privaten Haftung des Versicherten aufzukommen, sowie zum anderen auch den Versicherten zur Prämienzahlung. Der Versicherungsvertrag entfaltet also verschiedene rechtliche Bindungen und ist damit Maßstab unterschiedlicher rechtlicher Verantwortungskonstellationen. Bei der Frage, wie sich die Verantwortung des Versicherungsträgers zur Verantwortung des Versicherten verhält, muss daher in Bezug auf die einzelnen Elemente einer Verantwortungskonstellation differenziert werden. Dem Beispiel der Haftpflichtversicherung liegt folgende Situation zugrunde: Der Einzelne ist verpflichtet, einen zurechenbar verursachten Schaden eines Dritten wiedergutzumachen. Verantwortungsgegenstand ist das schädigende Verhalten des Einzelnen, das dem privaten Schadensersatzrecht als Verantwortungsmaßstab unterliegt; Verantwortungsinstanz ist der Geschädigte und die Folgenanlastung ist die Pflicht zum Schadensersatz. Ist 91

Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 24 ff., 53 ff. 92 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 34.

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der Zahlungsverpflichtete haftpflichtversichert, übernimmt der Versicherungsträger die Zahlungsverpflichtung des Versicherten.93 Gegenstand der Verantwortung des Versicherungsträgers ist die Zahlung des Schadensersatzes an den Versicherten;94 Verantwortungsmaßstab ist dabei der Versicherungsvertrag sowie das Versicherungsvertragsrecht; Verantwortungsinstanz ist der Versicherte. Kommt der Versicherungsträger dieser Verantwortung nicht nach, haftet er dem Versicherten gegenüber. Der Haftpflichtversicherer ersetzt nicht den bisherigen Verantwortungsträger, sondern übernimmt gegen die Leistung der Prämienzahlung die Folgenanlastung der Verantwortungskonstellation des Versicherten. Die Verantwortung des Versicherungsträgers wird daher oftmals als Folgenverantwortung bezeichnet. Sie ist eine neue, eigene Verantwortungskonstellation, die von der Verantwortung des Versicherten unterschieden werden muss. Die Verantwortungskonstellation des Versicherten bleibt indes bestehen. Er bleibt für den Ersatz des Schadens verantwortlich. Der Geschädigte muss den Ersatz seines Schadens gegenüber dem Versicherten geltend machen.95 Der Versicherte bleibt weiterhin rechenschaftspflichtiger Verantwortungsträger. Insbesondere ist das Element der Folgenanlastung nicht durch eine eintretende Versicherung aufgelöst. Eine Versicherung ist die vom Versicherten erkaufte Absicherung im Versicherungsfall.96 Der Versicherte trägt also mittelbar durch Zahlung der Versicherungsprämie die Folgenanlastung. Bei der Verantwortung des Versicherungsträgers und der Verantwortung des Versicherten handelt es sich somit um jeweils eigene Verantwortungskonstellationen. Demnach irrt Blöcher, wenn er die Verantwortung des privaten Versicherungsträgers als fremde, abgeleitete und damit nicht eigenständige Verantwortung versteht. Dies wird auch mit Blick auf solche privaten Versicherungen deutlich, in denen nicht das Risiko der Schadensersatzpflicht des Versicherten, sondern beispielsweise das Risiko der Krankheit oder das Erreichen eines bestimmten Lebensalters versichert ist, und somit eine ableitbare Verantwortung des Versicherten gegenüber Dritten nicht besteht. Dass Kollektiv- und parallele Individualverantwortlichkeiten sich grundsätzlich nicht ausschließen, bestätigt auch Schulin angesichts der Möglichkeiten eines Nebeneinanders von Individual- und Kollektivverantwortlichkeiten

93 Dies gilt nach § 81 VVG nicht, wenn der Versicherte den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt hat. 94 Bei der Kfz-Haftpflichtversicherung sieht § 3 Nr. 1, 2 PflVG einen Direktanspruch des Geschädigten gegen die Versicherung vor. Gegenstand der Verantwortung der Kfz-Haftpflichtversicherung ist in diesem Fall die Zahlung des Schadensersatzes an den Geschädigten. 95 Auch bei der Kfz-Haftpflichtversicherung schuldet der Versicherte dem Geschädigten Schadensersatz. Aufgrund des Direktanspruchs nach § 3 Nr. 1, 2 PflVG des Geschädigten kann der Geschädigte seinen Anspruch gegenüber dem Versicherten sowie der Versicherung als Gesamtschuldner geltend machen. 96 Die Entgeltlichkeit des Versicherungsschutzes bzw. die Gegenseitigkeit von Beitrag und Leistung ist Wesensmerkmal einer Versicherung. Siehe hierzu ausführlich im 1. Teil, Kapitel 3, A. I.

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im privaten Schadenausgleichsrecht sowie im öffentlich-rechtlichen Entschädigungsrecht.97 II. Sozialversicherungen Von der Gemeinschaftsverantwortung eines privaten Versicherungsträgers unterscheidet Blöcher die Gemeinschaftsverantwortung im Sozialversicherungsrecht.98 Angesichts der gesetzgeberischen Motive beim Aufbau der Sozialversicherungsordnung sowie des freiheitsstiftenden, emanzipatorischen Zwecks der Sozialversicherungen sei hier eine andere Wertigkeit der Gemeinschaftsverantwortung zu entdecken. Die Gemeinschaftsverantwortung innerhalb der Sozialversicherungsordnung sei daher „keine abgeleitete sondern eine eigenständige, unabhängige Verantwortungsform von Kollektiven“,99 hingegen komme der eigenen Verantwortung des Versicherten – zumindest in dem von Blöcher untersuchten Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – eine nur ergänzende, ordnende Funktion zu. In Bezug auf das sozialversicherte Risiko der Pflegebedürftigkeit meint Blöcher sogar: „Dieses Risiko soll der Verantwortung des Einzelnen und seinen Angehörigen entzogen und nach eigenen Kriterien gesellschaftlich aufgeteilt werden, da man es nicht mehr als ein der Eigenverantwortung zurechenbares, singuläres Lebensrisiko, sondern vielmehr als ein allgemeines wie Krankheit, Individualität oder Arbeitslosigkeit auffaßt“.100 Ähnlich nebulös formuliert Zacher mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme: „Der natürliche Mechanismus der Verantwortlichkeit ist weitgehend aufgehoben“.101 Faude schreibt hierzu: „Sozialrecht externalisiert Schicksal nicht unbegrenzt. Es sichert vor den Wechselfällen des Lebens, kann aber die Selbstverantwortung des Einzelnen für sein Tun nicht gänzlich außer Betracht lassen“.102 Daher sei in begrenzter Weise auch das zurechenbare Fehlverhalten des Leistungsberechtigten zu berücksichtigen. Faude, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die sozialrechtliche Relevanz des Verschuldens nachzuweisen, geht somit von der grundsätzlichen Existenz der Eigenverantwortung des Sozialversicherten aus, setzt jedoch das Prinzip der Eigenverantwortung bzw. personaler Verantwortung dem Verschuldensprinzip gleich.103 Im Sozialversicherungsrecht – so Faude – werde der Gedanke der Selbstverantwortung für selbstbestimmtes Verhalten im Gegensatz zum privaten 97

Schulin, Soziale Entschädigung als Teilsystem kollektiven Schadensausgleichs, S. 156 f. Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 53 ff. 99 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 54, 201. 100 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 52. 101 Zacher, ZVersWiss 1973, 135 (142). 102 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 45. 103 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 7 ff., 126, 138. 98

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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Versicherungsrecht vom Solidaritätsgedanken überlagert.104 Die natürliche Zuständigkeit des Geschädigten für die in freier Selbstbestimmung selber unmittelbar herbeigeführten Gefahrverwirklichungen werde durch die Zuständigkeitsvereinbarung des privatrechtlichen Versicherungsvertrags nicht berührt. Hingegen zeige sich im Sozialrecht eine umgekehrte haftungsrechtliche Ausgangslage; auf der Basis grundsätzlicher gesellschaftlicher Solidarverantwortung für die Wechselfälle des Lebens bringe erst die sozialrechtliche Verschuldensrelevanz das Prinzip der Selbstverantwortung des Einzelnen für die gezielten Akte freier Selbstbestimmung und deren Folgen ins Spiel.105 Das Prinzip der Eigenverantwortung bedürfe daher im sozialrechtlichen Kontext einer über sich selbst hinausweisenden Legitimation, denn es müsse die Unterscheidung legitimieren zwischen einem gefahrverwirklichenden Verhalten, welches noch von der Solidargemeinschaft mitgetragen wird, und einem Verhalten, das aus dem Verantwortungsbereich der Solidargemeinschaft ausgenommen wird. Den Ausführungen Faudes muss grundsätzlich entgegengehalten werden, dass Verantwortung und Verschulden nicht den gleichen Bedeutungsgehalt haben und insofern voneinander zu unterscheiden sind.106 Das Verschulden ist zwar typisches Zurechnungskriterium einer Schadensgefahr, aber gleichsam nur eine mögliche Gestaltung des Verantwortungsmaßstabs im Rahmen einer rechtlichen Verantwortungskonstellation. Die undifferenzierte Gleichsetzung von Verantwortung und Verschulden, die den Bedeutungsgehalt des Verantwortungsbegriffs verkürzt, verkennt den grundlegenden, untrennbaren Zusammenhang zwischen der grundrechtlich gewährten Freiheit des selbstbestimmten Individuums und seiner grundsätzlichen Verantwortung für die Risiken seines Schicksals sowie die Folgen seines eigenen Handelns und wird somit dem verfassungsrechtlichen Menschenbild des eigenverantwortlichen Bürgers nicht gerecht. Ausgehend von dem verfassungsrechtlich als frei konstituierten Menschen sei das Prinzip der Eigenverantwortung „notwendiges Gestaltungselement einer sozial gerechten Sozialordnung“, meint Hartwig.107 Auch Ecker sieht die „Verantwortlichkeit des erwachsenen und seelisch gesunden Menschen“ als „unentbehrliche Vorbedingung jeder auf Freiheit gegründeten Sozialordnung“.108 An das „Bismarcksche Prinzip: zuerst Eigenverantwortung dann erst Solidarität“ erinnert insofern Sodan109 und weist auf dessen besondere Bedeutung für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme hin. Mit Blick auf das sozialversicherungsrechtliche Versicherungs104

Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 147. Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 139 f. 106 Siehe Ausführungen in diesem Kapitel 1 unter A. und B. Auch Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 11, weist darauf hin, dass aus rechtswissenschaftlicher Sicht zwischen Verantwortung und Verschulden differenziert werden muss. 107 Hartwig, Die Eigenverantwortung im Versicherungsrecht, S. 406. 108 Ecker, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 55 (62). 109 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 341; ders., VVDStRL 64 (2004), 144 (164); siehe auch Ehlers, MedR 1993, 334 (337). 105

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2. Teil: Eigenverantwortung

prinzip versteht Hase die Eigenverantwortung als wesentliche Grundlage der Sozialversicherung.110 Das Sozialversicherungsrecht sei dadurch bestimmt, „daß es die Versicherten nicht aufgrund ihrer Verantwortung für andere erfaßt, sondern deshalb, weil sie für sich selbst einzustehen haben: Seine logische, historische und verfassungsrechtliche Voraussetzung ist die Eigenverantwortung des Individuums.“111 Die Sozialversicherung sei also in der Verantwortung des Einzelnen für sich selbst verankert. Die Eigenverantwortung des Einzelnen werde „durch den Eintritt in das Sozialversicherungsverhältnis gerade nicht pauschal auf das große Kollektiv übertragen“.112 Voelzke schreibt: „Zunächst ist von Natur aus jeder für sich selbst verantwortlich. Hieran vermag auch das Recht – die Sozialversicherung – nichts zu ändern. Es wäre geradezu ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und seiner Würde, nähme man ihm diese Verantwortung endgültig ab.“113 Beachtung findet die Frage nach der Eigenverantwortung im Sozialversicherungsrecht insbesondere auch mit Blick auf den Zwangsversicherungscharakter der Sozialversicherungen. In diesem Zusammenhang meint Faude: „Die Versicherungspflicht tritt an die Stelle der Selbstverantwortung für die eigene Sicherheit. Zur Selbstverantwortung gehört aber auch die Freiheit, sich nicht zu versichern. Vorsorge im Kontext mit Versicherungspflicht, also Zwangsvorsorge, ist der moralischen Kategorie der Selbstverantwortung weitgehend entkleidet.“114 Anlässlich der Bundestagung des Deutschen Sozialrechtsverbands im Oktober 1996 zum Thema Individualverantwortung im Sozialversicherungsschutz zeigt Boecken115 verschiedene Formen der Individualverantwortung in der Sozialversicherung auf. Von Individualverantwortung könne im Bereich der Sozialversicherung dann gesprochen werden, „wenn für die pflichtversicherten Mitglieder Entscheidungsspielräume bestehen, innerhalb derer ein willensgetragenes Handeln möglich ist, für dessen Konsequenzen der einzelne Versicherte einzustehen hat“.116 Boecken unterscheidet dabei folgende drei Erscheinungsformen sozialversicherungsrechtlicher Individualverantwortung: die Einräumung von Dispositionsfreiheit des Sozialversicherten,117 die Berücksichtigung von Selbstverschulden des Sozialversi-

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Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 293 ff. Bzgl. der gesetzlichen Rentenversicherung siehe auch Ruland, DRV 2000, 395 (396). 111 Hase Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 308. 112 Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, S. 299. 113 Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 32. 114 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 360 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 115 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (7 ff.). 116 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (32). 117 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (13 ff.), meint hiermit das Bestehen von Entscheidungsspielräumen des Sozialversicherten zwischen sozialversicherungsrechtlich vorgesehenen Handlungsalternativen und benennt hierzu z. B. die freie Arztwahl nach § 76 SGB V und das Kassenwahlrecht nach §§ 173 ff. SGB V.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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cherten118 und schließlich die Heranziehung des Versicherten zur Selbsthilfe in den Bereichen, die der individuellen Risikovorsorge überantwortet sind. Sozialversicherung vertrage und erfordere Individualverantwortung, wenn auch nicht grenzenlos, resümiert Boecken, und weist darauf hin, dass sich systemimmanente wie auch rechtliche Schranken nicht übergreifend benennen ließen. Angesichts der vielfältigen Perspektiven und Herangehensweisen an die Frage der Verantwortung innerhalb der Sozialversicherungen wird deutlich, dass eine Differenzierung der einzelnen Verantwortungskonstellationen unumgänglich ist. Unterschieden werden muss die Verantwortung nicht nur hinsichtlich ihres Gegenstandes, z. B. das sozialversicherte Lebensrisiko selbst, die Zahlung der Beiträge oder die Entscheidung über die Versicherungsnahme und den Versicherungsumfang, sondern auch nach den verschiedenen Verantwortungsträgern. Das Sozialversicherungsrecht sieht bestimmte Pflichten des Sozialversicherten vor und begründet insoweit rechtliche Verantwortung des Sozialversicherten. Es regelt aber beispielsweise auch Pflichten von Leistungsanbietern und -erbringern sowie Beitragsabführungs-, Melde-, Hinweis- und Auskunftspflichten von Arbeitgebern. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Untersuchung der Verantwortung, die der Sozialversicherte hinsichtlich des sozialversicherten Lebensrisikos trägt. Auszugehen ist dabei von dem der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegenden, verfassungsrechtlichen Menschenbild, nach dem der Einzelne die Risiken seines Schicksals sowie die Folgen seines eigenen Handelns selbst zu tragen hat.119 Inwieweit Eigenverantwortung in diesem grundsätzlichen Sinn hinsichtlich der gegenständlichen Lebensrisiken durch das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses aufgehoben oder beschränkt ist oder sogar als rechtliche Verantwortung des Sozialversicherten neu begründet wird, wird im Folgenden anhand des positiven Sozialversicherungsrechts sowie dessen grundlegenden Prinzipien untersucht. 1. Rückschlüsse aus den Vorschriften des Sozialversicherungsrechts Im Sozialversicherungsrecht finden sich diverse Aussagen zur Verantwortung des Versicherten. Beispielsweise haben gemäß § 2 Abs. 4 SGB III Arbeitnehmer als Versicherte im Rahmen der Arbeitslosenversicherung bei ihren Entscheidungen verantwortungsvoll deren Auswirkungen auf ihre beruflichen Möglichkeiten einzubeziehen. Sie sollen insbesondere ihre berufliche Leistungsfähigkeit den sich ändernden Anforderungen anpassen. Im Zusammenhang mit der Leistungsgewährung enthält das SGB III eine Vielzahl konkreter Pflichten des Versicherten, deren Nichtbeachtung mit Leistungseinschränkungen (z. B. Sperrzeit nach § 144 SGB III) sanktioniert wird. Gesetzlich Krankenversicherte sind nach § 1 SGB V für ihre 118

Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (20 ff.). Damit gemeint sei das Einstehenmüssen des Versicherten durch Leistungsausschluss oder -beschränkung für ein Verschulden gegen sich selbst, verstanden als Verstoß gegen ein im eigenen Interesse gebotenes Verhalten. 119 Siehe hierzu die Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels sowie unter B. II.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Gesundheit mitverantwortlich. Durch gesundheitsbewusste Lebensführung, frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie aktiver Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation sollen sie dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken. Die vorgesehenen Leistungen der Krankenkassen erhalten die Versicherten gemäß § 2 Abs. 1 SGB V nur, soweit sie nicht der Eigenverantwortung des Versicherten zugerechnet werden. Konkrete Gestalt nimmt diese Vorgabe z. B. durch die in § 52 SGB V vorgesehenen Leistungsbeschränkungen bei Selbstverschulden des Versicherten an. Leistungsbeschränkungen, die an das Verschulden des Versicherten anknüpfen, kennt beispielsweise auch das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung in §§ 103 f. SGB VI. Auch Ansprüche gegen die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung können versagt werden, wenn der Versicherungsfall bei einer vom Versicherten vorsätzlich begangenen und strafgerichtlich verurteilten Straftat eingetreten ist (§ 101 Abs. 2 SGB VII). Für die gesetzlich Pflegeversicherten regelt § 6 SGB XI unter der Überschrift Eigenverantwortung, dass sie durch gesundheitsbewusste Lebensführung, frühzeitige Beteiligung an Vorsorgemaßnahmen und aktiver Mitwirkung an Krankenbehandlung und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation dazu beitragen sollen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Absatz 2 der Vorschrift sieht eine Mitwirkungspflicht des bereits Pflegebedürftigen bezüglich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der aktivierenden Pflege vor, um die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhindern. Die Pflegekassen haben den Versicherten auf seine Eigenverantwortung und Mitwirkungspflicht hinzuweisen (§ 31 Abs. 3 SGB XI) und ihn durch Aufklärung und Beratung zu unterstützen (§ 7 Abs. 1 SGB XI), werden aber bei Zuwiderhandlungen des Versicherten nicht zu konkreten Leistungsbeschränkungen ermächtigt. Diese Bestandsaufnahme sozialversicherungsrechtlicher Aussagen zur Verantwortung des Versicherten macht deutlich, dass die Eigenverantwortung des sozialversicherten Bürgers in Bezug auf die versicherten Lebensrisiken keineswegs vollständig aufgehoben wird. Es handelt sich überwiegend um inhaltlich kaum bestimmbare und sanktionslose Appelle an die Eigenverantwortung des Versicherten, die zwar keine rechtliche Bindungswirkung120 entfalten und somit eine rechtliche Verantwortung des Versicherten nicht selbst begründen, die aber das verfassungsrechtliche Menschenbild des eigenverantwortlichen Bürgers widerspiegeln und insofern aufrechterhalten. Dass die natürliche Verantwortung des Versicherten hinsichtlich seiner sozialversicherten Lebensrisiken fortbesteht, zeigt sich auch schon daran, dass die sozialversicherungsrechtlichen Leistungen die Einbußen bei Eintritt des Versicherungsfalls nur teilweise kompensieren. Bei Eintritt der Arbeitslosigkeit beispielsweise erleidet der Betroffene – unabhängig von sozialen Einbußen – einen 120 Zu den krankenversicherungsrechtlichen Einweisungsvorschriften siehe Ausführungen zu Beginn des folgenden Kapitels.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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kompletten Einnahmeausfall, der durch die Zahlung des Arbeitslosengeldes nur teilweise121 aufgefangen wird. Auch am Beispiel einer Erkrankung des Versicherten wird deutlich, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung keineswegs sämtliche Folgen der Erkrankung – insbesondere nicht den immateriellen Schaden des Versicherten – ausgleichen. Die Eigenverantwortung des Sozialversicherten hinsichtlich der gegenständlichen Lebensrisiken kann somit durch das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses nicht grundsätzlich aufgehoben sein. Jedoch haben die Sozialversicherungsträger im Rahmen ihrer gesetzlichen Leistungspflicht eine rechtliche Verantwortung für die versicherten Lebensrisiken und beeinflussen in diesem Maße die Eigenverantwortung des Versicherten. Dies deuten bereits Formulierungen wie die Mitverantwortlichkeit des gesetzlich Krankenversicherten für seine Gesundheit (§ 1 SGB V) an. Die Eigenverantwortung des Sozialversicherten hinsichtlich der gegenständlichen Lebensrisiken wird aber faktisch durch den jeweils geregelten Leistungsumfang beschränkt. Das Sozialversicherungsrecht sieht – wie oben aufgezeigt – Leistungsausschlüsse bei einer vorsätzlichen Verursachung des Versicherungsfalles vor bzw. stellt dies in das Ermessen des Versicherungsträgers. Folgen bei Eintritt eines sozialversicherten Lebensrisikos, die durch die gesetzlich vorgesehenen Sozialversicherungsleistungen grundsätzlich kompensiert werden, können somit wieder aus dem rechtlichen Verantwortungsbereich der Sozialversicherung in den natürlichen Verantwortungsbereich des Sozialversicherten zurückfallen. Eine rechtliche Verantwortung122 des Sozialversicherten kann bestehen, wenn sein Verhalten einem gesetzlich vorgesehenen Verantwortungsmaßstab unterliegt bzw. das Verhalten des Versicherten bestimmten, rechtlichen Bindungen unterworfen ist. So ist der leistungsberechtigte Sozialversicherte nach den §§ 60 ff. SGB I zur Mitwirkung verpflichtet, bei deren Nichtbefolgung der Leistungsträger gemäß § 66 SGB I die Leistung ganz oder teilweise versagen oder entziehen kann. Diese Pflichten123 beziehen sich jedoch gegenständlich beispielsweise auf die Angabe von Tatsachen, die mit der Leistungsgewährung im Zusammenhang stehen, auf sein persönliches Erscheinen oder auf seine Bereitschaft, sich bestimmten ärztlichen oder psychologischen Untersuchungsmaßnahmen und Heilbehandlungen zu unterziehen, und nicht auf das versicherte Lebensrisiko selbst. Bei der Verantwortung des Sozialversicherten hinsichtlich seines versicherten Lebensrisikos handelt es sich nicht um eine rechtliche Verantwortung, da ihr keine rechtlichen Pflichten des Versicherten als Verantwortungsmaßstab zugrunde liegen. Der Versicherte ist nicht gesetzlich dazu verpflichtet, arbeiten zu gehen oder sich nicht zu verletzen. Leis121 Gemäß § 129 SGB III beträgt die Höhe des Arbeitslosengeldes bei Kinderlosen 60 % des pauschalierten Nettoentgelts, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Zudem ist die Anspruchsdauer begrenzt (§ 127 SGB III). 122 Siehe in diesem Kapitel unter B. I. 123 Es handelt sich jedoch um bloße Obliegenheiten, die keine rechtlich durchsetzbare Pflichten sind; vgl. Wulfhorst, VSSR 1982, 1 (9); Schlegel, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 1 Rn. 82.

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2. Teil: Eigenverantwortung

tungsausschlüsse begründen daher keine eigene rechtliche Verantwortung des Versicherten, nehmen aber bestimmte Handlungsfolgen aus dem rechtlichen Verantwortungsbereich des Sozialversicherungsträgers heraus, sodass diese der natürlichen Verantwortung des Versicherten überlassen sind. 2. Rückschlüsse aus dem Versicherungsprinzip Die Geltung des Versicherungsprinzips als obligatorisches Merkmal124 der Kompetenzmaterie Sozialversicherung bedingt die Eigenverantwortung des Sozialversicherten hinsichtlich der gegenständlichen Lebensrisiken. Wesensmerkmale einer Versicherung sind unter anderem die Entgeltlichkeit des Versicherungsschutzes und der dafür erlangte Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistung bzw. die Gegenseitigkeit von Beitrag und Leistung.125 Der Sozialversicherte erkauft also durch seine Beitragsleistung die Sozialversicherungsleistungen im Versicherungsfall. Logische Voraussetzung der Beitragszahlung des Sozialversicherten – unabhängig davon, ob sie freiwillig geleistet oder gesetzlich erzwungen wird – ist somit seine Eigenverantwortung für seine Lebensrisiken. Durch die Beitragsleistung kommt der Sozialversicherte seiner natürlichen Verantwortung insofern nach, als dass er die Übernahme einer rechtlichen Verantwortung durch den Sozialversicherungsträger für seine Lebensrisiken erwirbt. Die rechtliche Verantwortung des Versicherungsträgers ist dabei auf den gesetzlich oder vertraglich festgelegten Leistungsumfang beschränkt. Darüber hinaus bedeutet das Versicherungsprinzip, dass die Verantwortung eines Versicherungsträgers auch hinsichtlich des versicherten Risikos als Verantwortungsgegenstand beschränkt ist. Eine Versicherung zeichnet sich wesensnotwendig durch das Merkmal einer ungewissen Gefahr sowie zumindest typischerweise durch das Merkmal der Zufälligkeit der Gefahrverwirklichung aus.126 Eine Versicherung setzt die drohende, aber ungewisse Gefahr der Verwirklichung des versicherten Risikos bzw. die Möglichkeit der Entstehung eines Bedarfs durch ein ungewisses Ereignis voraus, wobei sich die Ungewissheit regelmäßig auf das Ob der Risikoverwirklichung, zumindest aber auf das Wann oder Wie viel des potenziellen Bedarfs bezieht. Als nicht versicherbar sind daher diejenigen Fälle einzustufen, in denen die Gefahrverwirklichung vom Versicherten absichtlich herbeigeführt wird.127 Dies

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Siehe im 1. Teil, Kapitel 2, B. I. Siehe im 1. Teil, Kapitel 3, A. I. 126 Siehe im 1. Teil, Kapitel 3, A. I. 127 So auch Kloth/Neuhaus, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, § 81 Rn. 1, die anderenfalls einen „krassen Widerspruch zum Grundgedanken des Versicherungsrechts“ sehen. Siehe auch Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 211; Koch, Versicherungswirtschaft, S. 22; Gebler, Das Versicherungsprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 94 ff.; Merten, VSSR 1983, 137 (151: „Unter Berücksichtigung ähnlicher Vorschriften im Privatversicherungsrecht (§§ 61, 169 VVG) kann man sogar einen allgemeinen 125

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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spiegelt sich nicht nur – wie im letzten Abschnitt gezeigt – im Sozialversicherungsrecht, sondern auch im privaten Versicherungsrecht wider. So sieht § 81 VVG128 allgemein für Schadensversicherungen vor, dass der Versicherer bei vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherten nicht zur Leistung verpflichtet ist und bei lediglich grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls berechtigt ist, seine Leistungen entsprechend der Schwere des Verschuldens des Versicherten zu kürzen. Hierbei handelt es sich nach herrschender Ansicht um einen subjektiven Risikoausschluss129 und nicht um die Verletzung einer Schadensverhütungspflicht oder -obliegenheit.130 Eine Obliegenheit oder sogar Pflicht des Versicherten, den Versicherungsfall nicht herbeizuführen, gibt es nach überwiegender Meinung insofern nicht. Eine rechtliche Verantwortung des Versicherten wird dementsprechend nicht begründet. In solchen absichtlich herbeigeführten Versicherungsfällen besteht aber auch keine rechtliche Verantwortung des Versicherungsträgers den gesetzlich oder vertraglich festgelegten Leistungsumfang zu gewähren, sodass die natürliche Verantwortung des Versicherten für die Risiken eines absichtlich herbeigeführten Versicherungsfalls unberührt bleibt. Nach alledem stellt sich die Frage, inwieweit die Eigenverantwortung des Versicherten für die versicherten Risiken durch die Übernahme einer rechtlichen Verantwortung des Versicherungsträgers eingeschränkt wird. Das Versicherungsprinzip selbst bietet hierzu keine direkten Hinweise. Im Umkehrschluss zur Verantwortungslage bei privaten Versicherungen, denen ebenfalls das Versicherungsprinzip Rechtsgedanken des Versicherungsrechts ableiten, daß keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen hat, wer den Versicherungsfall vorsätzlich (absichtlich) herbeigeführt hat.“). 128 Neben dieser zum 1. 1. 2008 mit dem neuen VVG in Kraft getretenen Vorschrift (vgl. § 61 a. F.) enthält das VVG zu einzelnen Versicherungsarten auch speziellere Leistungsausschlüsse: Beispielsweise ist nach § 103 VVG (vgl. § 152 VVG a. F.) der Haftpflichtversicherer von seiner Leistungspflicht befreit, wenn der Versicherte vorsätzlich und widerrechtlich den bei dem Dritten eingetretenen Schaden herbeigeführt hat. § 161 VVG (vgl. § 169 VVG a. F.) sieht einen Leistungsausschluss bei einer Lebensversicherung für den Todesfall vor, wenn der Versicherte sich vorsätzlich selbst tötet. Für Krankenversicherungen regelt § 201 VVG (§ 178 l VVG a. F.), dass der Versicherer von seiner Leistungspflicht befreit ist, wenn der Versicherte vorsätzlich die Krankheit oder den Unfall bei sich selbst herbeigeführt hat. 129 Abzugrenzen ist der Risikoausschluss zunächst von der primären Risikobeschreibung durch Definition der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Versicherungsfalls. Der Risikoausschluss als sekundäre Risikobeschreibung nimmt hingegen ein an sich versichertes Ereignis ausdrücklich vom Versicherungsschutz aus. Hängt der Risikoausschluss von der Bewertung des Versichertenverhaltens ab, spricht man von einem subjektiven Risikoausschluss. Demgegenüber sanktioniert eine Obliegenheit Verhaltensweisen des Versicherten, die lediglich das Risiko des Eintritts des Versicherungsfalls hervorrufen, z. B. durch Rücktritts- oder Kündigungsrechte des Versicherers oder auch Leistungsausschlüsse. Siehe zu dieser Dogmatik Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (595 ff.); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 347 ff., jeweils m. w. N. 130 Looschelders, VersR 2008, 1 (2); Schmidt-Kessel, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 81 Rn. 9 ff.; Karczewski, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, § 81 Rn. 1; Kloth/Neuhaus, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, § 81 Rn. 7; Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, § 81 Rn. 4 m. w. N. Ebenso zu § 61 VVG a. F.: BGHZ 11, 120 (122 f.); 42, 295 (300).

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2. Teil: Eigenverantwortung

zugrunde liegt, wird zumindest deutlich, dass die Verantwortung des Versicherten unabhängig von einer rechtlichen Verantwortung des Versicherungsträgers bestehen bleiben kann. Wie aufgezeigt, bleibt der privatrechtlich Versicherte weiterhin rechenschaftspflichtiger Verantwortungsträger hinsichtlich der versicherten Risiken.131 Dem Versicherungsprinzip lassen sich demnach keine unbedingten Aussagen darüber entnehmen, ob und wie die Übernahme einer rechtlichen Verantwortung des Sozialversicherungsträgers die grundsätzliche Verantwortung des Sozialversicherten hinsichtlich der gegenständlichen Lebensrisiken beeinflusst. In diesem Spannungsfeld der beidseitigen Verantwortung für das versicherte Risiko steht das ökonomische Phänomen des moral hazard. Dieser amerikanische Ausdruck wurde als moralisches Risiko ins Deutsche übertragen. Verstanden wird hierunter das risikoerhöhende Verhalten von Versicherten, das im Bewusstsein des eintretenden Versicherungsschutzes wurzelt.132 Voraussetzung für derartige Inanspruchnahmen von Leistungen ist eine gewisse Manipulierbarkeit des Versicherungsfalls; d. h., der Versicherte muss zumindest in gewissem Umfang Einfluss auf das Eintreten, den Umfang und/oder Verlauf des Versicherungsfalls nehmen können. Diese mit dem Begriff des moralischen Risikos bezeichneten, gestaltenden Einflussnahmen des Versicherten auf den Versicherungsfall sind jedoch abzugrenzen von illegalem Verhalten des Versicherten wie z. B. einem Versicherungsbetrug. Das Phänomen des moralischen Risikos betrifft die private Versicherung ebenso wie die Sozialversicherung.133 Bezogen auf die Sozialversicherung erklärt Hänlein das Phänomen des moral hazard als „Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialversicherung entgegen den Intentionen des Systems“.134 Ob ein Widerspruch zu den Intentionen des Systems vorliegt, sei auf der Basis der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen zu beurteilen.135 Das moralische Risiko zeugt von einer faktischen Beeinträchtigung des Verantwortungsempfindens des Versicherten und damit seiner individuellen Selbstbestimmung durch die vom Versicherungsträger übernommene, rechtliche Verantwortung für die gegenständlichen Lebensrisiken. Muss der Einzelne nicht für die 131

Siehe in diesem Kapitel, C. I. Wandt, Versicherungsrecht, S. 58; siehe auch grundlegend zum moralischen Risiko: W. Mahr, ZVersWiss 1977, 205 ff. 133 Münnich, VSSR 1981, 197 (203 f.); Krause, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 101 ff. [105: „Es ist in der Versicherungswirtschaft seit langem bekannt, daß das Bewußtsein, versichert zu sein, das menschliche Verhalten und damit auch das versicherte Risiko verändert, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Sicherung zum Nulltarif oder zu Prämien angeboten wird.“ (Hervorhebung aus dem Originaltext)]. 134 Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (579) mit Verweis auf B. Wolff, in: Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, S. 250. Siehe auch bezogen auf die Krankenversicherung: Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 27 ff. 135 Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (581 ff.), untersucht in diesem Zusammenhang zunächst die verschiedenen möglichen Einflussnahmen des Sozialversicherten vor, nach oder bei Eintritt des Versicherungsfalls und stellt diesen die einschlägigen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften gegenüber, die eine spezifische Reaktion darauf vorsehen. 132

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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negativen Folgen seines Handelns einstehen, berücksichtigt er diese auch nicht für sein Verhalten. Insoweit blendet er einen Teil des Rahmens, in dem sein Handeln steht, bei seiner Entscheidungsfindung aus. Die Versicherungsgemeinschaft muss jedoch davor geschützt werden, dass der Versicherte Schäden herbeiführt, die ohne den Versicherungsschutz vermieden worden wären. Als taugliches Mittel, um das moralische Risiko zu verringern, gilt die Einführung von Selbstbeteiligungsregeln.136 Je höher der vom Versicherten selbst zu tragende, unversicherte Anteil des Schadens im Versicherungsfall ist, desto stärker ist sein Verantwortungsgefühl und desto größer ist für ihn der Anreiz, den Versicherungsfall zu verhüten. 3. Rückschlüsse aus dem Solidarprinzip Auch das für die Kompetenzmaterie Sozialversicherung obligatorische Solidarprinzip137 lässt Rückschlüsse auf die Eigenverantwortung des Sozialversicherten für seine sozialversicherten Lebensrisiken zu. Das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip bildet eine in der Gemeinschaft der Sozialversicherten nicht natürlich gewachsene Solidarität nach. Demzufolge geht das Wesen von Solidarität, das sich durch ein wechselseitiges Aufeinanderangewiesensein der Gemeinschaftsglieder auszeichnet, in das Solidarprinzip ein und verleiht diesem eine reziproke Struktur.138 Das bedeutet, dass derjenige, dem durch die sozialversicherungsrechtliche Absicherung eine befreitere und sorglosere, individuelle Lebensgestaltung ermöglicht wird, sich seinerseits solidarisch gegenüber der Solidargemeinschaft verhalten und insofern seine Freiheit unterordnen muss. Dem Solidarprinzip ist daher eine Verpflichtung zu einem solidarverträglichen selbstbestimmten Handeln immanent. Verhält sich der Versicherte solidarwidrig, steht das Solidarprinzip einer Verantwortung des Sozialversicherungsträgers, für die Folgen dieses Verhaltens einzutreten, grundsätzlich entgegen. Diese sehr abstrakte Pflicht zu solidarverträglichem Verhalten ist keine gesetzlich normierte Pflicht des Sozialversicherten im Sinne einer rechtlichen Verantwortung, vielmehr ein Appell an die bestehende Eigenverantwortung des Sozialversicherten. In dem Umfang der sozialversicherungsrechtlich gewährten Leistungen wird die natürliche Verantwortung des Einzelnen für die eigenen Lebensrisiken durch das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses also nicht aufgehoben, sondern modifiziert. In der natürlichen Verantwortungskonstellation139 ist der einzelne Mensch gleichzeitig Verantwortungsträger und Verantwortungsinstanz; Verantwortungsgegenstand sind seine freien Entscheidungen sowie die nicht notwendigerweise beeinflussbaren eigenen Lebensrisiken. Zudem obliegt die Bestimmung eines Verantwortungsmaßstabs allein dem moralischen 136

Wandt, Versicherungsrecht, S. 58; Münnich, VSSR 1981, 197 (205); Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 47. 137 Siehe im 1. Teil, Kapitel 4. 138 Zur Reziprozität des Solidarprinzips siehe im 1. Teil, Kapitel 4, B. 139 Zur Eigenverantwortung als Sonderfall einer Verantwortungskonstellation siehe Ausführungen in diesem Kapitel, B. II.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Verständnis und Gewissen des Einzelnen. Dem Solidarprinzip zufolge ist der Einzelne nicht mehr die alleinige Verantwortungsinstanz bzgl. seines die eigenen, sozialversicherten Lebensrisiken beeinflussenden Verhaltens. Die Konstellation der natürlichen Verantwortung wird insofern modifiziert, als dass die Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz und der Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens hinzutritt. Es hängt von der Bewertung des gefahrrelevanten Verhaltens des Versicherten ab, ob der Eintritt des sozialversicherten Lebensrisikos als solidarwidrig verursacht seiner Eigenverantwortung überlassen bleibt. Die dem Sozialversicherungsrecht gemäße Reaktion auf solidarschädliche Verhaltensweisen des Versicherten ist die Verweigerung der Leistung; dem Sozialversicherungsrecht kann es nicht darum gehen, ein solidargerechtes Verhalten direkt zu erzwingen oder generell ein solidarwidriges Verhalten über die Verweigerung von Leistungen hinaus zu bestrafen.140 Den Sozialversicherten trifft somit keine bestimmbare Rechtspflicht zu solidarischem Verhalten gegenüber der Sozialversicherungsgemeinschaft, sodass eine diesbezügliche rechtliche Verantwortung des Versicherten nicht begründet wird, die Folgen solidarwidrigen Verhaltens aber in seinen natürlichen Verantwortungsbereich fallen. Die dem Solidarprinzip innewohnende Wechselseitigkeit der Solidarität erfordert insofern eine Grenzziehung zwischen dem solidaritätswidrig und daher eigenverantwortlich zu tragenden und dem von der Solidarhaftung übernommenen Schaden des Versicherten. Dem entspricht die Frage: Wie viel Unsolidarität führt zum Verlust der Ansprüche gegen die Solidargemeinschaft? Oder: Wo liegen die Grenzen, die dem gefahrrelevanten Verhalten des Sozialversicherten gesteckt sind, um die Gemeinschaft der Sozialversicherten vor einer unangemessenen Inanspruchnahme zu schützen? Und: Welches gefahrrelevante Verhalten bzw. Verhalten in Bezug auf die eigenen sozialversicherten Lebensrisiken ist solidaritätswidrig? Der Eintritt der geschützten Lebensrisiken und Gefahrenlagen ist regelmäßig für den Versicherten unvorhersehbar. Soziale Risiken sind jedoch nicht völlig losgelöst von beeinflussbaren Risikozusammenhängen, sondern meist auf menschliches Verhalten wie beispielsweise bestimmtes Konsumverhalten zurückzuführen. So ist eine Erkrankung zwar prinzipiell eine naturhafte Erscheinung, die aber gleichsam durch vielfältige gesellschaftliche, arbeitsbedingte und persönliche Faktoren beeinflusst wird.141 Soziale Risiken sind also bis zu einem gewissen Grad nicht trennbar von dem selbstbestimmten Verhalten des Versicherten bzw. seiner Lebensführung.142 Schicksal und Selbstbestimmung können nicht streng voneinander getrennt werden. Köbl schreibt hierzu: „Generell sind die den Gesundheitszustand der Versicherten betreffenden oder davon abhängigen Versicherungsfälle der Krankheit, der Berufs140

Ähnlich bspw. auch Zacher, ZfS 1983, 171 (175). Siehe hierzu Ausführungen in diesem Teil, Kapitel 2, C. V. 2. b). 142 Bspw. schreibt Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 21: „Die Entstehung von Ansprüchen wird vielmehr in einem ganz erheblichen Umfang – mittelbar oder unmittelbar – durch das Verhalten der Versicherten beeinflusst.“ 141

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

131

und Erwerbsunfähigkeit, der Rehabilitations- und der Pflegebedürftigkeit sowohl nach Verursachung wie nach Dauer und Verlauf stark beeinflußt durch je individuelle Faktoren der Lebensführung und Lebensplanung.“143 Auch Eichenhofer144 weist darauf hin, dass Sozialleistungsfälle nur auf den ersten Blick als schicksalhafte Ereignisse erscheinen und nicht selten durch den Einzelnen beeinflusst seien. Dabei sei nicht nur daran zu denken, dass Krankheiten, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfälle oftmals auf falschen Lebensweisen, unzureichender Bildungs- und Fortbildungsbereitschaft oder mangelnder Sorgfalt beruhten. Vielmehr würden häufig die rechtlichen Voraussetzungen von Sozialleistungen erst durch rechtsgeschäftliches, privatautonomes Handeln des Versicherten geschaffen. Nach Zacher145 trägt der Solidarverband aber auch die Risiken des selbstbestimmten Handelns mit und verschafft dadurch seinen Mitgliedern Spielräume. Eine Krankenversicherung nur für den Fall unvermeidlicher Erkrankungen mache nicht sozial sicher. Vorsorge – insbesondere Sozialversicherung – wälze Schicksal auf die Solidargemeinschaft ab und vermindere die Risiken der Selbstbestimmung, da Schicksal und Selbstbestimmung nicht voneinander getrennt werden könnten. Eine Solidarhaftung des Sozialversicherungsträgers für nachteilige Folgen selbstbestimmten Verhaltens steht jedoch in offenem Widerspruch zu der Wechselseitigkeit der Solidarität bzw. des Solidarprinzips und zu der unserer Rechtsordnung zugrunde liegenden Vorstellung eines freien und insofern eigenverantwortlichen Menschen.146 Folglich sind Kriterien für die Vorwerfbarkeit eigenschädigenden Verhaltens zu definieren, wobei der grundrechtliche Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit betreffend die eigene Lebensführung und der Aspekt einer überwiegend auf Rechtszwang beruhenden Sozialversicherung zu berücksichtigen sind. Mögliches Abgrenzungskriterium ist das Verschulden des Sozialversicherten hinsichtlich seines gefahrverwirklichenden Verhaltens. In Anbetracht der lebenslangen Sicherungs- und Vorsorgesozialrechtsverhältnisse hält Köbl jedoch die Verschuldenskategorien des Zivil- und Strafrechts für untauglich: „Denn irgendwann unterläuft jedem, auch dem Sorgfältigsten, einmal ein Fehler, der katastrophale Folgen auslösen kann, und selbst langzeitlich gepflogene, gesundheitsschädliche Verhaltensweisen haben zumindest häufig auch Verursachungskomponenten, die nicht dem Einzelnen allein anzulasten sind. Persönlicher, betrieblicher und gesellschaftlicher Verantwortungsbereich können jedoch weithin nicht sinnvoll vonein-

143

Köbl, ZFSH/SGB 1996, 292 (298 f.). Eichenhofer, VSSR 1991, 185 (185 f.). 145 Zacher, ZfS 1983, 171 (172 f.). 146 Vgl. auch Hartwig, Die Eigenverantwortung im Versicherungsrecht, S. 438 f., der vor dem Hintergrund, dass dem Solidarprinzip auch die Verpflichtung zu solidarverträglichem selbstbestimmten Tun immanent ist, darauf hinweist, dass im Sozialversicherungsrecht mit den solidarschädlichen Verhaltensweisen rechtswirksame Abwehrrechte der Solidargemeinschaft korrespondieren müssen, um auch in Solidargemeinschaften die Folgen solidarwidrigen Verhaltens angemessen abwehren zu können. 144

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2. Teil: Eigenverantwortung

ander getrennt werden“.147 Bedenken gegen das Kriterium des Verschuldens äußert auch Voelzke;148 es gehöre zu den hergebrachten Grundsätzen des Sozialversicherungsrechts, dass der durch die Sozialversicherung vermittelte Schutz in der Regel nicht an menschlichem Fehlverhalten scheitern soll. Daher gelte das Prinzip, dass das Verschulden bzw. Mitverschulden des Versicherten an der Herbeiführung des leistungsauslösenden Versicherungsfalls für die Leistungsgewährung grundsätzlich keine Rolle spielt. Die Versicherung könne jedoch nicht eintreten, so Voelzke, wenn der Versicherte die Solidarität der Versichertengemeinschaft provoziere.149 In der Abwälzung des selbst verursachten Schadens auf die Gemeinschaft liege ein Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens.150 Die von Voelzke nicht näher erläuterte Übertragung des Verbots widersprüchlichen Verhaltens bzw. des Gedankens des venire contra factum proprium als Ausprägung des zivilrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben muss aber angesichts des für die Sozialversicherung typischen Charakters einer Zwangsversicherung151 zumindest in Zweifel gezogen werden. Nicht zuletzt aus Akzeptabilitätsgründen der staatlich erzwungenen Solidarität müsse der Gesetzgeber, so führt Butzer aus, die sich aus der Reziprozität von Solidarität ergebene „immanente Schranke des Solidaritätsgrundsatzes“ beachten und demnach sicherstellen, dass die Solidargemeinschaft nicht für die Folgen eines Versichertenverhaltens, das bewusst auf die Inanspruchnahme solidarischer Hilfe zielt, aufkommen muss.152 Nach Butzer ginge es jedoch nicht darum, dem einzelnen Versicherten etwas abzufordern, was als eigenverantwortlich getroffene Entscheidung über seinen persönlichen Lebensentwurf zu respektieren ist. Es könne nicht von Solidaritätswidrigkeit gesprochen werden, wenn der Versicherte durch den Wechsel seines Arbeitsplatzes oder Berufs, sein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt vermindert oder das Risiko einer Arbeitslosigkeit erhöht. Solidaritätswidrig handele der Versicherte vielmehr erst dann, wenn sein Handeln final auf die Auslösung der sozialversicherungsrechtlichen Leistung gerichtet ist.153 Ähnlich formuliert Rolfs, der Solidarausgleich finde seine Grenze erst dort, wo das Handeln des Versicherten final auf die Auslösung der Leistungspflicht des Versicherungsträgers gerichtet ist und der Gesetzgeber letzterem ein Leistungsverweigerungsrecht vorhält.154 Wichtigste Elemente des Solidarausgleichs seien „der Verzicht auf eine 147 148 149 150

47 f.

Köbl, ZFSH/SGB 1996, 292 (299). Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 21. Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 47. Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 37,

151 Zum Zwangsversicherungscharakter der Sozialversicherung siehe im 1. Teil, Kapitel 2, B. VI. Dieser zeigt sich in der automatischen Entstehung eines Sozialversicherungsverhältnisses bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen. 152 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 510 f., der solidaritätswidriges Verhalten des Versicherten als verfassungsrechtliche Grenze des sozialen Ausgleichs qualifiziert. 153 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 511. 154 Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 208 ff.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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individuelle Risikoprüfung beim Eintritt in die Versicherung und der grundsätzliche Respekt vor der eigenverantwortlich getroffenen Entscheidung über den individuellen Lebensentwurf und die daraus resultierenden Lasten für die Solidargemeinschaft“.155 Beispielsweise könne jeder Versicherte durch einen Berufs- bzw. Arbeitsplatzwechsel das Risiko einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit erhöhen oder durch Heirat das Risiko der Witwer-/Witwenrente begründen. Leistungen an Versicherte, die den Versicherungsfall vorsätzlich verursacht haben, seien zwar versicherungsfremde Leistungen, die der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen hätte; wegen des sozialen Schutzzwecks der Sozialversicherung sei dafür aber – anders als in der Privatversicherung – regelmäßig ein final auf die Entstehung des Anspruchs gerichtetes Handeln erforderlich.156 Auch Faude untersucht die Grenze zwischen dem gefahrverwirklichenden Verhalten des Sozialversicherten, das noch in den solidarischen Versicherungsschutz fällt und solchem, das vom Schutz der Solidargemeinschaft ausgenommen ist.157 Dabei stellt Faude zunächst die Frage, ob die schuldhafte Herbeiführung des Versicherungsfalls an sich zu Anspruchs- und Leistungsrestriktionen führen könne oder ob es darüber hinaus erst noch eines spezifischen Unrechtsurteils bedürfe. Zwar gebe die Reziprozität des Solidarprinzips vor, dass der Sozialversicherte den Versicherungsfall nicht schuldhaft herbeiführen dürfe, aber gleichsam umfasse die sozialrechtliche Absicherung gerade auch die Folgen selbstbestimmten, gefahrverwirklichenden Verhaltens, um soziale Sicherheit herzustellen und freiheitliche Handlungsspielräume des Sozialversicherten zu sichern.158 Das versicherte Risiko im Rahmen der Sozialversicherung sei ein Wechselfall des Lebens und erfasse daher teilweise auch die gezielte Herbeiführung des Versicherungsfalls. Bestimmtes autonomes Verhalten des Sozialversicherten unterfiele also gerade dem versicherten Lebensrisikobereich. Die Grenze des solidarisch noch mitzutragenden gefahrverwirklichenden Verhaltens könne daher nicht dort gezogen werden, wo der Sicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich herbeiführt, denn dies würde bedeuten, dass dann jeder, der eigene Körperschäden billigend in Kauf nimmt (z. B. auch der Nothelfer), von den sozialversicherungsrechtlichen Leistungen ausgenommen würde. Um autonomes risikoverwirklichendes Verhalten des Versicherten mit Anspruchs- oder Leistungsrestriktionen zu ahnden, bedürfe es – insbesondere im Hinblick darauf, dass die Regelsetzungen des Sozialrechts größtenteils nicht auf privatautonomen, vertraglichen Selbstbindungen beruhen, sondern auf Rechtszwang – der Bestimmung eines spezifisch sozialrechtlichen Rechtswidrigkeitszusammenhangs.159 Dieser sei „gewissermaßen der Schlüssel zum Verständnis der besonderen Strukturen und Funktionen des sozialrechtlichen Verschuldensprinzips“. Im Rahmen 155 156 157 158 159

Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 208. Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 211 m. w. N. Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 117 ff. Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 127. Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 128 ff.

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2. Teil: Eigenverantwortung

der zivilrechtlichen Verschuldenshaftung beruhe der Schuldvorwurf auf einem vorausgehenden Rechtswidrigkeitsurteil, welches den Unwertgehalt der schuldhaft schädigenden Handlung aufzeige und insoweit eine Filterfunktion wahrnehme. Eine sozialrechtliche Rechtswidrigkeit, die Faude auch als Solidaritätswidrigkeit bezeichnet, markiere „die Untergrenze, jenseits derer sich das Verhalten des Sicherungsnehmers als unsolidarisches Verhalten darstellt und daher sanktioniert wird“.160 Zur Ausfüllung dieses Blankettbegriffs könne schon deswegen nicht einfach die privatversicherungsrechtliche Vorschrift des Leistungsausschlusses161 analog angewandt werden, da Solidarität in der privatversicherungsrechtlichen Solidargemeinschaft autonom bestimmt sei und die Regelung insofern eine Typisierung der vertraglichen Interessenabgrenzung darstelle. Der Unwertgehalt risikoverwirklichenden Verhaltens des sozialversicherten Leistungsberechtigten müsse vielmehr bereichsspezifisch bestimmt werden.162 Für Einkommensersatzleistungen beispielsweise gelte: „Solidaritätswidrig verhält sich derjenige, dessen den Versicherungsfall herbeiführende Handlung strafrechtswidrig oder sittenwidrig ist, oder auf die Erlangung arbeitslosen Einkommens abzielt“.163 Auch Schulin meint, der sozialversicherungsrechtliche Schutz würde häufig zu kurz greifen, wenn nicht auch bei Selbstverschulden des Versicherten Leistungsansprüche in Betracht kämen.164 Daher sei „im Krankenversicherungs- wie im gesamten Sozialversicherungsrecht und darüber hinaus auch im übrigen Sozialrecht seit jeher anerkannt, daß Verschulden und Mitverschulden grundsätzlich keine Rolle spielen“. Die äußerste Grenze der von der Sozialversicherung zu tragenden Folgen autonomen, gefahrverwirklichenden Verhaltens des Versicherten sieht Schulin in der von Faude entwickelten „spezifisch sozialrechtlichen Solidaritätswidrigkeit als dem sozialrechtlichen funktionalen Äquivalent zur klassischen Rechtswidrigkeit“.165 Daraus folge – so Schulin –, dass über die ausdrücklichen Vorschriften des Sozialversicherungsrechts hinaus keine Anspruchsminderungen wegen Selbstverschuldens des Versicherten, insbesondere auch nicht unter Berufung auf die Eigenverantwortung, zulässig seien. Ebenfalls bezugnehmend auf Faude meint Hänlein, die Sozialversicherung könne „dann nicht eintreten, wenn es der Versicherte bewusst darauf anlegt, in den Genuss von Leistungen zu kommen, wenn er die Solidarität der Risikogemeinschaft provoziert, sich gezielt ein arbeitsloses Einkommen verschaffen oder erhalten will“.166 160

Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 134. Faude bezieht sich hier auf den Leistungsausschluss nach § 61 VVG a. F., der seit 1. 1. 2008 in § 81 VVG – unter Aufgabe des Alles-oder-Nichts-Prinzips für den Fall grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls – geregelt ist. 162 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 142. 163 Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, S. 226 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 164 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 52. 165 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 53. 166 Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 [603 (Hervorhebung aus dem Originaltext)]. 161

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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Hänlein greift damit den Aspekt der Reziprozität von Solidarität auf. Vor dem Hintergrund der Bestandsaufnahme sozialversicherungsrechtlich sanktionierter Verhaltenserwartungen werde jedoch nur die Einhaltung eines gewissen Mindeststandards gefordert. Hänlein sieht darin ein Prinzip der minimalen Solidarität, das er angesichts der seiner Einschätzung nach offenkundigen Wirkungslosigkeit von Sanktionen für sinnvoll hält.167 Wer beispielsweise Gesundheitsschäden riskiere, tue dies regelmäßig nicht mit Blick auf die bestehende Versicherung. Anderes gelte jedoch hinsichtlich des Versicherungsfalls der Arbeitslosigkeit, bei dem ein geringerer Leidensdruck bestehe und der nicht zuletzt vom guten Willen des Versicherten abhinge, sodass es hier strikterer Verhaltenserwartungen und strengerer Sanktionen bedürfe. Nach alledem ist festzustellen, dass die dem Solidarprinzip innewohnende Gegenseitigkeit von Solidarität die Eigenverantwortung des Einzelnen für seine von der Solidargemeinschaft abgesicherten Lebensrisiken nicht aufhebt. Vielmehr ist der Einzelne nicht mehr die alleinige Verantwortungsinstanz hinsichtlich seines die eigenen, sozialversicherten Lebensrisiken beeinflussenden Verhaltens. Die natürliche Verantwortung wird auf diese Weise modifiziert; es tritt die Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz und der Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens hinzu. Wann ein Verhalten solidarwidrig ist, ist in Bezug auf das jeweilige Lebensrisiko bzw. die zu gewährende Sozialversicherungsleistung zu bestimmen. Allein ein Verschulden des Versicherten hinsichtlich des Eintretens des versicherten Risikos führt noch nicht unbedingt zur Solidaritätswidrigkeit des Versichertenverhaltens. Vielmehr ist regelmäßig ein final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtetes Handeln des Versicherten bzw. ein entsprechender Schädigungswille erforderlich. Führt die Bewertung des gefahrrelevanten Verhaltens des Versicherten zu dem Schluss, dass der Eintritt des sozialversicherten Lebensrisikos solidarwidrig verursacht wurde, ist dieser dem Solidarprinzip zufolge der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen. Allein der Umstand eines solidarwidrig verursachten Versicherungsfalls berechtigt jedoch den Sozialversicherungsträger nicht zur Versagung der Leistung, da § 31 SGB I vorschreibt, dass die Rechte des Sozialversicherten nur dann geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz dies vorschreibt oder zulässt. Der Sozialgesetzgeber ist insofern gehalten, den Ausschluss von Sozialversicherungsleistungen bei einem solidarwidrig herbeigeführten Versicherungsfall im Sozialversicherungsrecht festzuschreiben bzw. die jeweiligen Sozialversicherungsträger entsprechend zu ermächtigen.

167 Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (604). Daneben gelte – so Hänlein – auch das Prinzip des ethischen Minimums, das zu Leistungsausschlüssen bei Verstößen gegen strafrechtlich sanktionierte Verhaltensnormen führe. Ein sich unterhalb dieser Schwelle bewegendes, fragwürdiges, moralwidriges Verhalten bliebe grundsätzlich ohne spezifisch sozialversicherungsrechtliche Sanktion. Begründet sei das Prinzip des ethischen Minimums in der Einsicht, dass die Sozialversicherung ein ungeeignetes Mittel sozialer Disziplinierung sei. Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (602 f.) m. w. N.

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2. Teil: Eigenverantwortung

4. Rückschlüsse aus dem Subsidiaritätsprinzip Für eine stärkere Berücksichtigung der Eigenverantwortung wird vielfach das Prinzip der Subsidiarität herangeführt. Die Eigenverantwortung des Individuums, die das grundgesetzliche Menschenbild kennzeichnet, gilt als geistiger Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips.168 Andersherum betrachtet verdeutlicht sich das Prinzip staatlicher Subsidiarität in dem grundgesetzlichen Primat der Eigenverantwortung und Eigenvorsorge vor Fremdverantwortung und Fremdvorsorge.169 Der Mensch als ein auf Freiheit angelegtes Wesen, das sich selbst verwirklichen und die in ihm angelegten körperlichen und geistigen Fähigkeiten entfalten will, kann sein Dasein nach seinem Willen und seinen Vorstellungen gestalten und die sich daraus ergebenden Aufgaben grundsätzlich in eigener Zuständigkeit erfüllen.170 Vor dem Hintergrund, dass ausweislich Art. 1 Abs. 1 GG Ausgangspunkt des Grundgesetzes der Mensch ist und die ihm gewährten Freiheiten im ersten Abschnitt gewährleistet sind, insofern also der Staatszweck der Freiheitssicherung an erster Stelle steht, ist jede staatliche Antastung individueller Freiheit rechtfertigungsbedürftig.171 Staatliches Handeln hat daher dem freien Spiel privatautonomer Kräfte den Vorrang zu lassen, soweit es nicht durch einen legitimen Zweck gedeckt und sachlich notwendig bzw. erforderlich ist.172 Staatliches Handeln muss also gegenüber der privaten Freiheit begründet werden können und ist daher subsidiär.173 Die Eigenverantwortung steht in einem Gegensatz zu fremder Verantwortung.174 Dem Einzelnen ist seine Eigenverantwortung grundsätzlich zu belassen,175 soweit er die Aufgabe bewältigen kann.176 Das Subsidiaritätsprinzip bietet eine Art Organisations- oder Zuständigkeitsregel im Sinne eines Aufbaugrundsatzes der Hand168

Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 202. BVerfGE 17, 38 (56); 89, 155 (211); Merten, in: Die Subsidiarität Europas, S. 77 ff.; Merten, NZS 1996, 593 (596); Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 57; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 494, 556. 170 Siehe Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels; vgl. auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 457. 171 Nicht das Gebrauchmachen von Freiheit bedarf der Rechtfertigung, sondern die Freiheitsbeschränkung durch den Staat. Diese verfassungsrechtliche Binsenwahrheit erläutert bspw. Pieper, Subsidiarität, S. 97 ff.; Schnapp, Jura 1986, 113 (117 f.). 172 BVerfGE 67, 157 (176 ff.); 77, 84 (109 ff.). 173 Ausführlich Pieper, Subsidiarität, S. 106 ff.; Oppermann, JuS 1996, 569 (570 f.); Merten, in: Die Subsidiarität Europas, 77 (90). Siehe auch Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 270 ff., der insofern vom Rechtsstaat, aber auch den Grundrechten ausgeht und darüber hinaus weitere denkbare Ableitungen aufzeigt (S. 220 ff.). Grundlegend siehe auch Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 306 ff.; ders., DÖV 2000, 361 (368 f.), zum Grundsatz des Vorrangs privater Lebensgestaltung bzw. zum Vorrang der Privatheit. 174 Siehe Ausführungen in diesem Kapitel, B . II. Vgl. auch Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 200. 175 BVerfGE 34, 54 (72); Pieper, Subsidiarität, S. 104. 176 Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 201. 169

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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lungsverantwortlichkeiten.177 Vorrangig ist danach die eigenverantwortliche Selbsthilfe des Individuums. Wenn dem Einzelnen eine Selbsthilfe nicht möglich ist, dann greift ein prinzipieller Zuständigkeits- und Handlungsvorrang der kleineren Gemeinschaftsebene (Familie, Nachbarschaft, Betriebe, Versicherungsgemeinschaften usw.) vor der größeren Gemeinschaft, dem Staat.178 Der Subsidiaritätsgedanke zielt also einerseits auf die Abgrenzung staatlicher Zuständigkeiten von solchen gesellschaftlicher Art und statuiert andererseits einen kompetenziellen Vorrang der jeweils kleineren Einheit vor der jeweils größeren Einheit. Dementsprechend ist das Subsidiaritätsprinzip als Vorrang der Aufgabenerfüllung durch den personennäheren Lebenskreis der Betroffenen179 und nicht nur als Zugangssperre für staatliches Handeln180 anzusehen. Neben der institutionellen Komponente weist das Subsidiaritätsprinzip daher auch eine starke inhaltliche Komponente auf. Das Subsidiaritätsprinzip kann sowohl in negativer Hinsicht dem Betätigungsspielraum der jeweils größeren Gemeinschaft Grenzen setzen als auch positiv ein Tätigwerden wie etwa die Unterstützung der kleineren Gemeinschaft einfordern.181 Dabei schafft die positive Subsidiarität (hilfreicher Beistand), nach der die Individuen bzw. die Gesellschaft in die Lage zu versetzen sind, ihre Aufgaben selbst und autonom wahrzunehmen, erst die Voraussetzungen für eine möglichst weitgehende Zurückhaltung des Staates bzw. die Basis für einen breiten Anwendungsraum des Subsidiaritätsprinzips in seiner negativen, die Staatstätigkeit begrenzenden Seite. Die negative Seite (Enthaltung) begrenzt das Subsidiaritätsprinzip in seiner positiven Ausprägung; das heißt, Individuen bzw. Gesellschaftsgruppen sind nur insoweit zu stützen, bis die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln wieder hergestellt ist.182 Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet somit die Entschlossenheit des Sozialstaats, vorrangig den Selbsthilfewillen zu stützen. Der Gedanke der Subsidiarität ist Leitidee der Sozialrechtsgestaltung.183 In der Diskussion um die Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip Verfassungsqualität besitzt, wird in jüngerer Zeit insbesondere unter Berücksichtigung des im Zuge der Ratifikation des Vertrages über die Europäische Union 1992 neu gefassten Art. 23 Abs. 1 GG dem Subsidiaritätsprinzip vermehrt ein 177

Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 60. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 460; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HSKV, § 6 Rn. 60. 179 Mann, in: Subsidiarität heute, S. 87; Fink, in: Neue Subsidiarität: Leitidee für eine zukünftige Sozialpolitik?, S. 157 (163 ff.); Schneider, Subsidiäre Gesellschaft – Erfolgreiche Gesellschaft, S. 26 f. m. w. N.; zur Entwicklung der jüngeren Subsidiaritätsdiskussion siehe Pieper, Subsidiarität, S. 78 ff. 180 Sachße, in: Subsidiarität heute, S. 32 (34 f.); Bellermann, in: Neue Subsidiarität: Leitidee für eine zukünftige Sozialpolitik?, S. 92 (103 ff.) jeweils m. w. N. 181 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 481 f.; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 34, 37; Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 207. 182 Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 201 m. w. N., 207. 183 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 455 ff. 178

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2. Teil: Eigenverantwortung

verfassungsrechtlicher Geltungsanspruch zugebilligt.184 Aber selbst wenn das Subsidiaritätsprinzip als verfassungsrechtliches Strukturprinzip einzustufen wäre, besitzt es doch keine strengrechtliche Normativität in dem Sinne, dass sich im konkreten Einzelfall hieraus eindeutige Entscheidungen ergeben würden.185 Butzer weist darauf hin, dass der Subsidiaritätsgedanke in Anbetracht seiner verschiedenen Wirkungsdimensionen zu höchst unterschiedlichen Interpretationen führen und insofern nicht als konkreter Maßstab für die sozialrechtliche Feingestaltung dienen könne.186 Bei dem Subsidiaritätsgrundsatz handelt es sich ebenso wie bei dem Versicherungs- und Solidarprinzip um ein normtheoretisches Prinzip,187 dessen Direktivkraft durch andere mit ihm konfligierende Prinzipien eingeschränkt wird. Es dient als Leitlinie bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung der sozialver184 Oppermann, JuS 1996, 569 (571); Horn, Die Verwaltung 26 (1993), 545 (569 f.); Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 473: „Subsidiarität ist ein fundamentaler Rechts- und Architekturgrundsatz des Grundgesetzes, und er ist vom Verfassungsgeber des neuen Art. 23 GG auch als solcher begriffen worden.“. Auch Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 203 ff., erwägt die verfassungsrechtliche Fundierung des Subsidiaritätsprinzips durch dessen Festschreibung in Art. 23 Abs. 1 GG. Da die Vorschrift zum Ziel habe, die grundlegenden Verfassungsprinzipien auch im Rahmen der europäischen Integration abzusichern und insofern deren Bestehen auf nationalverfassungsrechtlicher Ebene voraus gesetzt werde, müsse dann auch der Grundsatz der Subsidiarität in der bundesdeutschen Verfassung verankert sein. Frenz weist jedoch darauf hin, dass dieser Schluss wegen der besonderen, europabezogenen Entstehungsgeschichte des Art. 23 GG nicht zwingend sei, und sieht das verfassungsrechtliche Fundament des Subsidiaritätsprinzips vielmehr in den Grundrechten als Schutzrahmen des individuellen Entfaltungsspielraumes. Staatliches Handeln müsse gegenüber der privaten Freiheit begründet werden können und ist daher subsidiär. Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 206, zieht insofern den Schluss, dass das Subsidiaritätsprinzip durch das Übermaßverbot verfassungsrechtlich getragen werde. Positive Stellungnahmen zur verfassungsrechtlichen Qualität des Subsidiaritätsprinzips finden sich auch schon in der Zeit vor Aufnahme der Strukturklausel in das Grundgesetz: z. B. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 149 ff., 270 ff. Das Bundesverfassungsgericht hat sich allerdings in dieser Frage noch nicht festgelegt, vgl. BVerfGE 10, 59 (83); 58, 233 (253). 185 Dies gilt auch nach Ansicht der Befürworter einer verfassungsrechtlichen Qualität des Subsidiaritätsprinzips. Siehe z. B. Horn, Die Verwaltung 26 (1993), 545 (568), nach dem das Subsidiaritätsprinzip aus sich heraus keine handfesten Lösungen für Gemeinwohlkonflikte zwischen Staat und Gesellschaft abzugeben vermag. Stets bedürfe es dazu des Zu- und Rückgriffs auf konkrete Gesetzes- und Verfassungs(text)entscheidungen. Vgl. auch Schnapp/ Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 36. 186 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 484. Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 33, meinen, das Subsidiaritätsprinzip für sich genommen, ohne konturengebende andere Umstände erweise sich als hypothetisches Urteil, das zwar besage, dass die größere Gemeinschaft der kleineren eine Aufgabe überlassen müsse, selbst aber keinen Anhaltspunkt dafür gebe, wann dieser Fall anzunehmen ist. 187 Siehe ausführlich Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 475 ff., 506; zum Prinzipiencharakter siehe auch Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), 169 (197); Pieper, Subsidiarität, S. 84. Siehe auch im 1. Teil, Kapitel 3, C. I.

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sicherungsrechtlichen Regelungen und ist als potenzielles Argument bei der Entscheidung sozialversicherungsrechtlicher Fragestellungen abzuwägen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll die Gewährung sozialer Leistungen in erster Linie darauf zielen, die individuelle Selbsthilfefähigkeit (Selbstsorge für den Lebensunterhalt, Selbsthilfe bei besonderen Belastungen des Lebens) und damit die Eigenverantwortung des Bürgers zu fördern, aufrechtzuerhalten und wiederzuerlangen.188 Der Sozialgesetzgeber ist gehalten, die Verantwortung Dritter oder des Gemeinwesens erst dann eingreifen zu lassen, wenn und soweit der Einzelne seine Bedarfe nicht selbst verwirklichen kann.189 Dass bei Unfähigkeit des Individuums zu eigenverantwortlichem Handeln eine gesellschaftliche oder staatliche Kollektivverantwortlichkeit begründet wird, basiert auf dem Leitbild der Solidarität.190 Ohne Solidarität – egal ob freiwillig oder rechtlich angeordnet – kann der Subsidiaritätsgedanke als Zuordnungsregel nicht greifen; Subsidiarität und Solidarität sind untrennbar miteinander verknüpft.191 Im einfachgesetzlichen Sozialrecht finden sich Vorschriften, die als Ausdruck des sozialstaatlichen Subsidiaritätsgrundsatzes, wonach Hilfe nur ergänzend zur verbliebenen Leistungsfähigkeit und vorrangig als solche zur Selbsthilfe zu gewähren ist, anerkannt sind.192 Subsidiarität in diesem Sinne erscheint jedoch fremdartig im Rahmen der Sozialversicherung als ein dem Versicherungsprinzip folgendes Institut zur Absicherung vor bestimmten Gefahren. Insbesondere die versicherungswesentlichen Aspekte der Entgeltlichkeit des Versicherungsschutzes bzw. Gegenseitigkeit von Beitrag und Leistung machen einen elementaren Unterschied zu anderen nicht sozialversicherungsrechtlichen Sozialleistungen aus.193 Dennoch lassen sich 188

Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 458; Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 28 Rn. 32 f. 189 Schulin, in: Handbuch Sozialpolitik, 85 (90); Schneider, Subsidiäre Gesellschaft – Erfolgreiche Gesellschaft, S. 18 ff. 190 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 60. 191 Nach Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 460 ff. bestimme Subsidiarität die Handlungsverantwortlichkeiten vertikal und Solidarität sie horizontal, d. h. der Gesichtspunkt der Subsidiarität gebe Anhaltspunkte für die Frage der vertikalen Zuordnung sozialer Aufgaben (Festlegung, ob eine Aufgabe eigenverantwortlich durch das Individuum erfüllt oder durch die Gemeinschaft erfüllt wird), dagegen betreffe der Solidaritätsgedanke die Frage der Art und Weise der Erfüllung durch die jeweils zuständig gemachte Gemeinschaft. Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 20, meint, dass das Solidaritätsprinzip das Subsidiaritätsprinzip voraussetze; es könne nur unter voller Achtung und Wahrung des Subsidiaritätsprinzips überhaupt die Solidarität legitimieren. Zur Verknüpfung von Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip siehe auch Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, A. I. 1. 192 Siehe z. B. § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I; vgl. auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 456. 193 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 61, gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass insofern nur von denjenigen Sozialversicherten, die aufgrund des sozialen Ausgleichs geringere als risikoäquivalente Beiträge zahlen, ein verstärkter Einsatz ihnen verbliebener Selbsthilfemöglichkeiten verlangt werden könne. Tatsächlich werde aber sozialpo-

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2. Teil: Eigenverantwortung

aus dem Subsidiaritätsprinzip Präferenzen für die Aufgaben- und Lastenverteilung zwischen dem Sozialversicherten und dem Sozialversicherungsträger ausmachen. Grundsätzlich bedeutet der mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundene Vorrang der privatautonomen Eigenverantwortung vor allen kollektiven Verantwortlichkeiten, dass die privatversicherungsmäßige Vorsorge Vorrang vor dem Schutz durch eine öffentlich-rechtlich organisierte Zwangsversicherung hat.194 Für die rechtsnormative Ausgestaltung der Sozialversicherung sind insbesondere zwei Wirkrichtungen der Nachrangproblematik festzustellen: in personeller Hinsicht dürfen nur bestimmte Personenkreise einbezogen werden und in gegenständlicher Hinsicht dürfen nur diejenigen Gefahrentatbestände einbezogen werden, die der Einzelne in Privatinitiative nicht selbst bewältigen kann.195 In Bezug auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, der Eigenverantwortung des Sozialversicherten hinsichtlich seiner versicherten Risiken, wird aus dem Subsidiaritätsprinzip vereinzelt196 gefolgert, dass, soweit der Sozialversicherte den Eintritt des versicherten Risikos ohne weiteres durch zumutbares Verhalten vermeiden kann, die Sozialversicherungsträger für die entstehenden Kosten bei Fehlverhalten nicht einzustehen haben. Diese Aussage knüpft aber nicht an die Frage der Selbsthilfefähigkeit des Sozialversicherten an, sondern an sein Verhalten als Mitglied der Sozialversicherungsgemeinschaft und ist daher nicht dem Subsidiaritätsprinzip, sondern vielmehr dem in horizontaler Hinsicht die Sozialversicherung bestimmenden Solidarprinzip zuzuordnen. Das eng mit dem Subsidiaritätsprinzip verknüpfte Solidarprinzip steht – wie gezeigt – einer Verantwortung des Sozialversicherungsträgers für einen solidarwidrig verursachten Eintritt des sozialversicherten Lebensrisikos entgegen. Dem litisch das Gegenteil gefordert, nämlich die Besserverdienenden stärker an den Kosten ihrer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung zu beteiligen. 194 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 493, 500 ff., benennt neben der Bewahrung eines Maximums an Dispositionsfreiheit folgende weitere Leitlinien zur konkreten Ausgestaltung der sozialversicherungsrechtlichen Agenden, die sich aus dem Subsidiaritätsprinzip ergäben: z. B. Individualprävention vor Kompensation (D. h. Maßnahmen der Prävention, die dem Verantwortungsbereich des Einzelnen zuzuweisen seien, sollten grundsätzlich Vorrang vor den kompensatorischen genießen.); Wiedereingliederung vor Kompensation; Vorrang möglicher und zumutbarer Selbsthilfe und Eigenvorsorge für den Eintritt bestimmter Risiken; Vorrang des Kostenerstattungsverfahrens sowie den Vorrang einer gegliederten Organisation mit sozialer Selbstverwaltung. 195 Hartwig, Die Eigenverantwortung im Versicherungsrecht, S. 391 ff. Dass diese Grenzen – insbesondere in personeller Hinsicht – überschritten seien, da auch diejenigen Bürger in die Sozialversicherung miteinbezogen seien, die bspw. ihr Krankheitsrisiko selbstverantwortlich absichern könnten, meinen z. B. Sodan, VVDStRL 64 (2004), 144 (168); ders., Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 346; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, S. 80. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (ehemals Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen) gab dies in seinem Sondergutachten 1995 zur Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000, Rn. 583, zu bedenken. 196 Mihm, SpuRt 1995, 18 (22); Geschwinder, ZfS 1981, 101 (104). Diese Rückschlüsse beruhen jedoch auf einer undifferenzierten Betrachtung von Subsidiarität und Solidarität.

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

141

Subsidiaritätsprinzip lassen sich jedoch keine eigenen Vorgaben hinsichtlich der Eigenverantwortung des Sozialversicherten bezüglich seiner versicherten Lebensrisiken entnehmen. 5. Rückschlüsse aus der Beitragslast der Arbeitgeber Ein weiterer Aspekt, der Einfluss auf die Eigenverantwortung des Sozialversicherten haben könnte, ist die grundsätzlich197 hälftige Beitragslast des Arbeitgebers.198 Der Arbeitgeber des Sozialversicherten ist beispielsweise im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 249 Abs. 1 SGB V verpflichtet, die Hälfte der Beiträge des von ihm versicherungspflichtig beschäftigten Mitglieds aus dem Arbeitsentgelt nach dem um 0,9 Beitragssatzpunkte verminderten allgemeinen Beitragssatz zu zahlen.199 Diese Beitragslast ist Gegenstand einer rechtlichen Verantwortung des Arbeitgebers gegenüber dem jeweiligen Sozialversicherungsträger.200 Dritte bzw. nicht selbst Versicherte dürfen nur dann zur Beitragstragung verpflichtet werden, wenn die Beziehung des Dritten zum Versicherten einen sachorientierten Anknüpfungspunkt bietet.201 Derartige „Solidaritäts- und Verantwortungsbeziehungen zwischen Zahlungspflichtigen und Versicherten“ können – so das Bundesverfassungsgericht – „aus auf Dauer ausgerichteten, integrierten Arbeitszusammenhängen oder aus einem kulturgeschichtlich gewachsenen besonderen Verhältnis gleichsam symbiotischer Art“ resultieren.202 Typischer Fall einer solchen spezifischen Verantwortlichkeit ist das Arbeitsverhältnis. Das Bundesverfassungsgericht sieht den sachorientierten Anknüpfungspunkt und damit die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Heranziehung der Arbeitgeber zur anteiligen Tragung 197 Abweichend von dem Grundsatz der hälftigen Beitragstragung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat der Arbeitgeber in Ausnahmefällen, wie z. B. bei Geringverdienern, die Beiträge allein zu tragen. Darüber hinaus zeigt Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 239 ff., weitere Ausnahmen bspw. im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung oder der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf. 198 Gemäß § 20 Abs. 1 SGB IV werden die Mittel der Sozialversicherung durch Beiträge der Versicherten, der Arbeitgeber und Dritter, durch staatliche Zuschüsse und durch sonstige Einnahmen aufgebracht. Weitere Dritte neben dem Arbeitgeber sind bspw. im Rahmen des gesetzlichen Krankenversicherung nach § 251 SGB V Rehabilitationsträger, die Künstlersozialkasse, der Bund, die Bundesagentur für Arbeit u. a. 199 Bei freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Beschäftigten hat der Arbeitgeber gemäß § 257 SGB V Beitragszuschüsse zu zahlen. 200 Zusätzlich treffen ihn als in steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Fragen versierten Arbeitgeber weitere gesetzliche Pflichten betreffend die Berechnung, Verwaltung und Abführung der gesamten Sozialversicherungsbeiträge seiner Arbeitnehmer. Dies sind bspw. die in den §§ 28a, 28e, 28 f, 97 SGB IV geregelten Melde-, Zahlungs-, Aufzeichnungs- und Nachweispflichten. 201 BVerfGE 75, 108 (146 ff.); 81, 156 (185). Vgl. auch Sodan, NZS 1999, 105 (110); Kirchhof, SDSRV 35 (1992), 65 (85). 202 BVerfGE 75, 108 (158); vgl. auch BVerfGE 81, 156 (185).

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2. Teil: Eigenverantwortung

der Sozialversicherungsbeiträge in der sozialen Fürsorgepflicht der Arbeitgeber für ihre Arbeitnehmer.203 In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird zudem eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung aus dem Gedanken der Solidarität zwischen Arbeitgebern und Rechtfertigung aus dem Gedanken der Solidarität zwischen Arbeitnehmern untersucht.204 Mit Blick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand bedarf die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Beitragslast des Arbeitgebers jedoch keiner weiteren Betrachtung. Klar ist, der Arbeitgeber schuldet den Beitrag einzig zugunsten eines Dritten, seines Arbeitnehmers. Die Beitragspflicht knüpft an das individuelle Arbeitsverhältnis an und bemisst sich nach der jeweiligen Lohnhöhe. Aus ökonomischer Sicht handelt es sich bei den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung der Beschäftigten um Bestandteile der Personalzusatzkosten.205 Dem Bundesverfassungsgericht zufolge zählen die Arbeitgeberbeiträge als eigene Leistungen des Versicherten.206 Nach Isensee wächst der Arbeitgeberbeitrag „der Versicherungsanwartschaft des Arbeitsnehmers zu und steht dessen Eigenleistung rechtlich gleich“.207 Zimmermann sieht in dem Arbeitgeberbeitrag zumindest einen externen Lohnbestandteil, der „wirtschaftlich somit jedenfalls faktisch dem Versicherten zuzurechnen“ sei, sodass sich „der Arbeitgeberbeitrag auch aus Sicht des Versicherten selbst als Entgelt für damit bewirkten Versicherungsschutz ansehen“ ließe und der Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag „faktisch-wirtschaftlich vollständig von den Versicherten bzw. den Mitgliedern getragen“ werde.208 Für den versicherten Beschäftigten ergeben sich aus der Beitragslast seines Arbeitgebers keine unmittelbar das versicherte Risiko betreffenden Vorgaben. Der Arbeitgeber hat zwar angesichts des von ihm zu leistenden Beitragsanteils einen grundrechtlichen Anspruch auf funktionsgerechte Verwendung der Beiträge.209 Dieser Anspruch richtet sich aber gegen den Sozialversicherungsträger bzw. Gesetzgeber und ist insofern den Beitragspflichtigen gemein. Der Arbeitgeber hat als Beitragsschuldner grundsätzlich eine akzessorische Rolle.210 Butzer stellt hierzu fest, dass eine aus Sicht des Versicherten gegebene Antwort zu der Frage, ob eine bestimmte sozialversicherungsrechtliche Aufgabe als Fremdlast in der Sozi203

BVerfGE 11, 105 (113 f.). Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 580 ff. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Arbeitgeberbeiträge siehe bspw. auch Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 243 ff.; Isensee, SDSRV 35 (1992), 7 (29); Leisner, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, S. 100 ff. 205 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 61, 90, § 53 Rn. 27; Kirchhof, SDSRV 35 (1992), 65 (77 f.); Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 334 f. 206 BVerfGE 69, 272 (302). 207 Isensee, SDSRV 35 (1992), 7 (29). 208 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes, S. 152 f. (Hervorhebung aus dem Originaltext). 209 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 338 f.; ders., NZS 1999, 105 (113). 210 Isensee, SDSRV 35 (1992), 7 (28). 204

Kap. 1: Grundsatz der Eigenverantwortung

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alversicherung anzusehen ist, aus Sicht des beitragszahlenden Arbeitgebers akzessorisch und damit gleich zu beantworten ist.211 Im Ergebnis besteht folglich kein Anhalt dafür, dass die Beitragslast der Arbeitgeber Einfluss auf die Eigenverantwortung des Versicherten hinsichtlich seiner versicherten Lebensrisiken haben kann. 6. Fazit Hinsichtlich seines die eigenen sozialversicherten Lebensrisiken beeinflussenden Verhaltens treffen den Sozialversicherten keine ihn rechtlich bindenden Pflichten. Eine rechtliche Verantwortung des Sozialversicherten besteht insoweit nicht. Ausgehend von dem der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegenden, verfassungsrechtlichen Menschenbild, trägt jeder seine Lebensrisiken grundsätzlich in Eigenverantwortung. Bei der Eigenverantwortung handelt es sich um eine besondere Verantwortungskonstellation, in der der Einzelne als Verantwortungsträger und zugleich Verantwortungsinstanz nicht nur die Folgen seiner freien Entscheidungen, sondern auch die Folgen seines nicht beeinflussbaren Schicksals trägt. Fremdgesetzte Verhaltensvorgaben bestehen dabei grundsätzlich nicht. Eigenverantwortung ist damit ein neutraler Begriff, der moralischen Vorgaben nicht zugänglich ist. Im Zuge der Sozialversicherung erkauft der Einzelne in Ausübung seiner Eigenverantwortung einen Versicherungsschutz bzw. eine Fremdverantwortung. Der Sozialversicherungsträger übernimmt gegenüber dem Sozialversicherten eine rechtliche Verantwortung in dem Maße des gesetzlich bestimmten Leistungsumfangs. Die Fremdverantwortung des Sozialversicherungsträgers entlastet den Einzelnen von seiner Eigenverantwortung für seine von der Solidargemeinschaft abgesicherten Lebensrisiken, hebt diese jedoch nicht gänzlich auf. Aufgrund der dem sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzip innewohnenden Gegenseitigkeit von Solidarität wird die Eigenverantwortung durch den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens und die Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz modifiziert. Verhält sich der Versicherte solidarwidrig, bedarf es einer gesetzlichen Regelung, nach der die Folgen dieses Verhaltens aus der rechtlichen Verantwortung des Sozialversicherungsträgers ausgenommen und der insoweit wieder voll auflebenden Eigenverantwortung des Versicherten überlassen sind. Im Rahmen des sozialversicherungsrechtlichen Leistungsumfangs ist die Eigenverantwortung des Versicherten somit auf die Fälle solidarwidrigen Verhaltens beschränkt. Damit geht – wie bei jeder Versicherungsnahme – eine Beeinflussung des Verantwortungsgefühls des Versicherten bzw. eine größere Sorglosigkeit hinsichtlich der sozialversicherten Lebensrisiken einher. Dieses sogenannte moralische Risiko muss jedoch abgegrenzt werden von einem solidarwidrigen Verhalten, das regel211 Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, S. 577 ff. Zu diesem Ergebnis kommt auch Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 35.

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2. Teil: Eigenverantwortung

mäßig ein final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtetes Handeln des Versicherten bzw. einen entsprechenden Schädigungswillen voraussetzt. Der Gesetzgeber ist hier nicht nur gefordert, solidarwidriges Verhalten bezogen auf das jeweilige Lebensrisiko zu definieren und entsprechende Leistungsausschlüsse vorzusehen, sondern auch das Verantwortungsempfinden des Sozialversicherten zu stärken. Kapitel 2

Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten In der Diskussion über die Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung wird vielfach eine stärkere Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten gefordert.212 Diese Forderungen zielen auf unterschiedliche Maßnahmen und zeugen insofern von einem uneinheitlichen Verständnis des Begriffs der Eigenverantwortung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Diskutiert werden beispielsweise die Ausweitung der finanziellen Selbstbeteiligung der Versicherten oder die verstärkte Berücksichtigung der individuellen Lebensführung durch entsprechende Leistungsausschlüsse. Neben der Einschränkung des Leistungsspektrums sind Gegenstände der Forderungen nach einer stärkeren Eigenverantwortung auch die Wahlmöglichkeiten des Versicherten hinsichtlich des Leistungskatalogs sowie der Versorgungsform oder Maßnahmen, die ein gesundheitsbewussteres Verhalten fördern sollen, wie z. B. Erhöhung der Transparenz medizinischer Entscheidungen, Patientenschulungen, Präventionsprogramme.213 Der Begriff der Eigenverantwortung wird in zahlreichen gesundheitspolitischen und -ökonomischen Stellungnahmen, Gutachten, Konzepten und Programmpapieren verwendet, ohne dabei einen klar umrissenen Bedeutungsgehalt erkennen zu lassen.214 Auch ist er nicht einem bestimmten Problemzusammenhang zuzuordnen; die 212 Merten, NZS 1996, 593 (593); Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (7); Pitschas, VSSR 1998, 253 (253); Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 51; Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (1) m. w. N.; Donges u. a., Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, S. 84 ff.; Bundesärztekammer, Beschlussprotokoll des 113. Deutschen Ärztetages, S. 14; Die Deutschen Bischöfe, Solidarität braucht Eigenverantwortung, S. 27. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Gutachten 2007, Rn. 46 ff. 213 Siehe bspw. Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (3 f.); Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (105); Thielmann u. a., Szenarien für mehr Selbstverantwortung und Wahlfreiheit im Gesundheitswesen, S. 56, 59. 214 Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 17, spricht von einer „ideologischen Karriere“ des Begriffs der Eigen- oder Selbstverantwortung. In ähnlicher Weise meint Höfling, Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 514, der Begriff der Eigenverantwortung habe eine „erstaunliche Karriere hinter sich“ und seine Prominenz in der gesundheitspolitischen Diskussion stünde „in einem augenfälligen Missverhältnis zu seiner theoretischen Fundierung sowie seiner praktischen Operationalisierung“. Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 67, meint, „in Zeiten dieser terminologischen Hochkonjunktur liegt es nahe, von einer Eigenverantwortungseuphorie zu sprechen“.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Eigenverantwortung berührt verschiedenste Fragen der Ausgabenentwicklung, der Finanzierungsgrundlagen und ordnungspolitischen Steuerungsprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung, die Beziehungen zwischen Krankenkassen, Versicherten und Leistungserbringern und insbesondere aus public health-Sicht auch den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Zumeist wird der Begriff der Eigenverantwortung verwandt, um den Bereich individueller Risikobewältigung in Abgrenzung zur sozialversicherungsrechtlichen, solidarischen Risikobewältigung zu bezeichnen. Gemeint ist damit einerseits die außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung stattfindende freiwillige Vorsorge bzw. die Entscheidung des Einzelnen, ob und in welchem Umfang er Risikovorsorge betreibt,215 oder andererseits die finanzielle Beteiligung gesetzlich Krankenversicherter an den Kosten der nach Eintritt des Versicherungsfalls erforderlichen Leistungen.216 Als weitere Erscheinungsform von Eigenverantwortung werden bestehende Entscheidungsmöglichkeiten des Versicherten zwischen krankenversicherungsrechtlich vorgesehenen Handlungsalternativen angesehen.217 Darüber hinaus wird vielfach mit dem Begriff Eigenverantwortung das gesundheitsrelevante Verhalten des Versicherten angesprochen und dessen Berücksichtigung bei Eintritt des Versicherungsfalls diskutiert.218 So wurden beispielsweise im Rahmen eines EiB. Schmidt, Eigenverantwortung haben immer die Anderen, S. 41 ff., 73 ff., zeigt ausführlich das Spektrum des aktuellen Gebrauchs des Begriffs Eigenverantwortung, insbesondere im Gesundheitswesen, auf und sieht darin einen Megatrend. 215 In der Rechtsprechung des BSG wird hierfür auch der Begriff Eigenvorsorge in Abgrenzung zu staatlicher Vorsorge verwendet; siehe bspw. BSGE 20, 233 (235 f.). 216 Bspw. bezeichnete der Gesetzgeber in der Begründung des GRG-Entwurfs, BT-Drs. 11/ 2237, S. 149 f., Zuzahlungen der gesetzlich Krankenversicherten als Ausdruck von Eigenverantwortung. Ebenso begründete der Gesetzgeber die Einführung der sogenannten Praxisgebühr, vgl. BT-Drs. 15/1525, S. 83. Das BSG verwendet hierfür verschiedene weitere Begriffe wie Eigenbeteiligung, Eigenanteil, Kostenanteil des Versicherten, vgl. z. B. BSGE 74, 271 (291); 75, 171 (173); 75, 74 (81). Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, Einleitung Rn. 18, meint, tendenziell sei festzustellen, „dass sich dann, wenn von der Eigenverantwortung der Versicherten die Rede ist, zumeist finanzielle Eigenbeteiligungen der Versicherten über die von ihnen bereits gezahlten Beiträge und Zuzahlungen hinaus ankündigen“. Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 14, 35 ff., untersucht aus wirtschaftwissenschaftlicher Sicht nachfrageseitige Reformvorschläge zur Kosteneinsparung im Gesundheitswesen und sieht in einer Verlagerung des finanziellen Risikos einer Krankheit von der Krankenversicherung zurück zum Versicherten eine Stärkung der Eigenverantwortung, dies sei durch eine höhere Kostenbeteiligung der Versicherten zu erreichen. 217 Vgl. z. B. Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (13 ff.); Borchert, in: FS für Wolfgang Gitter, 133 (137 f.). Derartige Dispositionsfreiheiten des gesetzlich Krankenversicherten sind z. B. die freie Arztwahl nach § 76 SGB V, das Kassenwahlrecht nach §§ 173 ff. SGB V oder das Informationsrecht nach § 305 SGB V sowie die Betroffenenmitwirkung im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen Selbstverwaltung nach §§ 29, 50, 51 SGB IV. 218 Bspw. schreibt der CDU-Abgeordnete Rolf Koschorrek, Volkskrankheiten: Prognosen und Visionen aus politischer Sicht, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 229: „Eigenverantwortung bedeutet dabei nicht nur eine Beteiligung an den Kosten, eine Kostenübernahme durch den Einzelnen zur Entlastung des Solidarsystems. Es geht darüber hinaus ganz zentral um die Vermeidung von Krankheit und eine gesunde Lebensführung.“ Vgl. auch

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2. Teil: Eigenverantwortung

genverantwortungs-Projekts219 ein breites Spektrum unterschiedlicher Reformkonzepte, wie z. B. die Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung, der Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten, der Versorgungsform und des persönlichen gesundheitsbezogenen Verhaltens, thematisiert.220 Der unterschiedliche Bedeutungsgehalt des Begriffs Eigenverantwortung findet sich auch in den allgemeinen Vorschriften des ersten Kapitels des SGB V wieder. Die Einweisungsvorschriften221 in den §§ 1 – 4 SGB V222 beschreiben die Grundprinzipien dieses Versicherungszweigs, die das Wesen der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmen, und zur Auslegung und Anwendung der speziellen Vorschriften des SGB V heranzuziehen sind.223 Die programmatischen Einweisungsvorschriften können nicht als Rechtsgrundlage für Leistungsansprüche oder Leistungseinschränkungen herangezogen werden, vielmehr dienen sie als allgemeine AufgaHöfling, Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 514 ff.; Marckmann, Ethik in der Medizin 2010, 207 (214 f.); ders., Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 299 ff. Im Zuge dessen wird oftmals die Verengung des Begriffs der Eigenverantwortung auf die finanzielle Beteiligung des Versicherten beklagt. 219 Gemeinsam mit dem IGES Institut für Gesundheits- und Sozialforschung und RAND Europe hat die Bertelsmann Stiftung zu Jahresbeginn 2002 ein Projekt ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die unterschiedlichen Facetten von Eigenverantwortung zu konkretisieren und für das deutsche Gesundheitswesen greifbar zu machen. Auf der Grundlage einer umfassenden Literaturrecherche zum Thema Eigenverantwortung wurden mögliche Zukunftsszenarien entwickelt und in Workshops mit zahlreichen Akteuren des Gesundheitswesens zur Diskussion gestellt, um auf diese Weise zu erkunden, ob bzw. wo ein Konsens der Interessengruppen im deutschen Gesundheitswesen möglich ist. Die Ergebnisse dieses Eigenverantwortungs-Projekts veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2004 unter dem Titel Eigenverantwortung. Ein gesundheitspolitisches Experiment. 220 Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 18. 221 So lautet auch die Überschrift des 2. Abschnitts des SGB I. Die §§ 11 – 29 SGB I weisen die im Sozialrecht unkundigen Personen in die möglichen Leistungsansprüche ein und nennen die zuständigen Sozialleistungsträger. Bezogen auf § 1 SGB V bezweifelt Peters, in: KassKomm, § 1 SGB V Rn. 2, den Wert solcher Einweisungsvorschriften, da bislang (2007) nicht festgestellt werden könne, dass sie bei der Rechtsanwendung nennenswerte Bedeutung erlangten. Als sinnvolle Orientierung sehen sie jedoch Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPKSGB V, § 1 Rn. 1, und Wollenschläger, in: Wannagat, SGB V, § 1 Rn. 8. 222 §§ 1 – 4 SGB V wurden eingeführt durch Art. 1 des GRG vom 20. 12. 1988 (BGBl. I 2477) zum 1. 1. 1989. Mit dem GMG vom 12. 11. 2003, BGBl. I S. 2190, wurde § 2a SGB V zum 1. 1. 2004 eingefügt, der ebenso wie die bisherigen programmatischen Regelungen der §§ 1 – 4 SGB Vals nicht geeignet angesehen wird, um allein aus ihm Leistungsansprüche gegen die gesetzlichen Krankenkassen abzuleiten; vgl. Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 2a Rn. 3. Zudem wurden die allgemeinen Vorschriften des ersten Kapitels des SGB V mit dem GKV-WSG vom 26. 3. 2007, BGBl. I S. 378, mit der Vorschrift des § 4a SGB V ergänzt, der Sonderregelungen zum Verwaltungsverfahren enthält und insofern nicht als Einweisungsvorschrift, vergleichbar mit den §§ 1 – 4 SGB V, anzusehen ist. 223 So die Gesetzesbegründung, siehe BT-Drs. 11/2237, S. 157.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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benumschreibung und sollen die inhaltliche Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung widerspiegeln.224 Die Eingangsvorschrift zur gesetzlichen Krankenversicherung in § 1 SGB V ist mit den Grundbegriffen Solidarität und Eigenverantwortung überschrieben. Der Gesetzgeber erklärte hierzu, dass Solidarität und Eigenverantwortung keine Gegensätze darstellten, sondern als tragende Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung zusammengehörten; erforderlich sei der Ausgleich zwischen beiden Prinzipien, denn ohne Solidarität werde Eigenverantwortung egoistisch und ohne Eigenverantwortung werde Solidarität anonym und missbrauchbar.225 Nach § 1 Satz 2 SGB V sind die Versicherten für ihre Gesundheit mitverantwortlich. Dies wird in einem zweiten Halbsatz näher erläutert: Durch gesundheitsbewusste Lebensführung, frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie aktiver Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation sollen die Versicherten dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Jeder sei für die Erhaltung seiner Gesundheit soweit verantwortlich, wie er darauf Einfluss nehmen könne, heißt es hierzu in der Regierungsbegründung.226 Gemäß § 1 Satz 3 SGB V227 haben die Krankenkassen den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken. Der nachfolgende § 2 SGB V enthält Grundprinzipien des Leistungsrechts und verwendet ebenfalls den Begriff Eigenverantwortung. In Satz 1 seines ersten Absatzes ist festgeschrieben, dass die Versicherten die im dritten Kapitel des SGB V vorgesehenen Leistungen der Krankenkassen nur erhalten, „soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden“. Dieser Hinweis bedeute jedoch nicht eine über das geltende Recht hinausgehende generelle Einschränkung der Leistungen oder eine Ermächtigung der Krankenkassen dazu, erläuterte der Gesetzgeber,228 vielmehr sei damit zum Ausdruck gebracht, dass die

224 Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 1 Rn. 1, § 2 Rn. 1; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 1 Rn. 2 f., § 2 Rn. 2, 5; Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 28 ff., 53 f.; Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 1 Rn. 1, § 2 Rn. 1; Peters, in: KassKomm, § 1 SGB V Rn. 3, § 2 SGB V Rn. 3. 225 BT-Drs. 11/2237, S. 157. Ein zentrales Anliegen des GRG war laut Gesetzesbegründung neben der Neuausrichtung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung die Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten (BT-Drs. 11/2237, S. 148 ff.). 226 BT-Drs. 11/2237, S. 157. 227 Die Vorschrift führt jedoch nicht zu einer Ausweitung des Leistungskatalogs nach § 11 SGB V. Eine den Erfordernissen des sozialrechtlichen Gesetzesvorbehalts gemäß § 31 SGB I genügende Ermächtigung kann § 1 Satz 3 SGB V schon mangels hinreichender Bestimmtheit nicht entnommen werden. Vgl. Schlegel, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 1 Rn. 85; Wollenschläger, in: Wannagat, SGB V, § 1 Rn. 12. Jedoch sieht Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 1 Rn. 13, in dieser Vorschrift eine – neben den §§ 13, 14 SGB I eigenständige Rechtsgrundlage für Aufklärung und Beratung. 228 BT-Drs. 11/2237, S. 157.

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2. Teil: Eigenverantwortung

gesetzliche Krankenversicherung nicht für alle Leistungen, die der Gesundheit dienen, als Kostenträger infrage kommt. Die in den §§ 1 und 2 SGB V gebildeten Kategorien von Eigenverantwortung werden im Folgenden näher untersucht und auf der Grundlage des im vorherigen Kapitel entwickelten Verständnisses der Eigenverantwortung eines Sozialversicherten qualifiziert.

A. Eigenverantwortung im Sinne des § 1 Satz 2 SGB V Angesichts der Verknüpfung von Eigenverantwortung und Solidarität geht Satz 2 dieser Vorschrift von einer Verantwortungsteilung zwischen der Solidargemeinschaft und dem Versicherten aus. Die dem Versicherten zugeschriebene Mitverantwortlichkeit229 ist auf den eigenen Gesundheitszustand des Versicherten bzw. auf seine gesamte gesundheitsrelevante Lebensführung bezogen. Der Versicherte hat danach die Aufgabe, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden, soweit er darauf Einfluss nehmen kann. Hierzu konkret genannte Maßnahmen sind erstens eine gesundheitsbewusste Lebensführung,230 also eine solche, die unnötige Risiken231 für die Gesundheit vermeidet, zweitens die frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen232 sowie drittens bei einer Krankenbehandlung oder Rehabilitation aktiv mitzuwirken.233 Dem Versicherten wird somit unter Berufung auf seine Eigen- bzw. Mitverantwortung ein Verhaltensprogramm zur Vermeidung bzw. Überwindung krankenversicherungsrechtlicher Risikoeintritte auferlegt.234 Dabei handelt es sich jedoch nicht um 229

tung.

Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (2), spricht insofern von Gesundheits-Mitverantwor-

230 „Gesundheitsbewußt soll eine Lebensführung dann sein,“ formuliert Grühn, „wenn bekannte und erkennbare, die Gesundheit gefährdende Risiken vom Versicherten gemieden und damit auch vermieden oder – sofern sie unvermeidlich sind – durch Handlungen in ihrer Wirkung zumindest abgeschwächt werden“; vgl. Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 50, mit Verweis auf Brocke, SGb 1990, 437 (438). 231 Als Beispiele für gesundheitsgefährdendes Verhalten benennt der Gesetzgeber in seinem Entwurf des GRG, in BT-Drs. 11/2237, S. 180, Rauchen, Bewegungsmangel, Stress oder arbeitsplatzbedingte Gefährdungen. 232 Vorsorgemaßnahmen sind (1) Leistungen zur Primärprävention nach § 20 SGB V, die den allgemeinen Gesundheitszustand bessern und zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen beiträgt, (2) Leistungen zur Verhütung von Krankheiten nach §§ 21 – 24 SGB V und (3) Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten gemäß §§ 25, 26 SGB V. Vgl. auch Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 1 Rn. 11. 233 Die Mitwirkungspflicht wird durch die §§ 60 – 67 SGB I konkretisiert. Weitergehende Mitwirkungspflichten lassen sich aus § 1 Satz 2 SGB V nicht herleiten; so auch Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 1 Rn. 12. 234 Eine Konkretisierung der in § 1 Satz 2 SGB V geforderten Mitverantwortung der Versicherten zur Gesunderhaltung sieht das BSG z. B. in der bei ausreichender Zahnprophylaxe

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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rechtlich erzwingbare Verpflichtungen des Versicherten.235 Dies zeigt schon die Gesetzesformulierung die Versicherten sollen und gilt insbesondere angesichts der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit zur Krankheit236. Die Eigenverantwortung im Sinne des § 1 Satz 2 SGB V ist folglich keine rechtliche Verantwortung.237 Die Regelung geht vielmehr von einer grundsätzlich bestehenden Eigenverantwortung des Versicherten aus. Wie im vorherigen Kapitel grundlegend untersucht und dargestellt, setzt unsere freiheitliche Grundordnung eine natürliche Eigenverantwortung jedes Bürgers für seine Lebensrisiken voraus. Dabei handelt es sich um eine besondere Verantwortungskonstellation, in der der Einzelne als Verantwortungsträger und gleichzeitig Verantwortungsinstanz die eigenen Lebensrisiken trägt, ohne dabei fremdbestimmte Verhaltensvorgaben beachten zu müssen. Bezieht sich der Gesetzgeber auf diese natürliche Verantwortung des Bürgers, schließt dies also grundsätzlich die Vorgabe eines Verantwortungsmaßstabes aus. Der eigenverantwortliche Bürger ist frei in seinen Entscheidungen und seinem Verhalten. Im Rahmen eines Sozialversicherungsverhältnisses ändert sich diese Ausgangssituation: der Versicherte erwirbt durch seine Beitragszahlung den Versicherungsschutz bzw. die Fremdverantwortung des Sozialversicherungsträgers in dem Maße des gesetzlich bestimmten Leistungsumfangs. Dem sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzip zufolge besteht jedoch auch in diesem Rahmen die Eigenverantwortung des Versicherten in abgeschwächter bzw. modifizierter Form weiter. Aufgrund der dem Solidarprinzip innewohnenden Gegenseitigkeit von Solidarität hat der Versicherte als Verantwortungsträger gegenüber der Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens zu beachten.

eingreifenden Bonus-Regelung betreffend die Höhe der Kostenerstattung bei Zahnersatz; vgl. BSGE 75, 171 (173). 235 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 62 f., 67; Kluth/Bauer, VSSR 2010, 341 (348); Borchert, in: FS für Wolfgang Gitter, 133 (134); Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 1 Rn. 8; Wollenschläger, in: Wannagat, SGB V, § 1 Rn. 9, 11. Siehe auch die diesem Abschnitt vorangestellten Ausführungen sowie Nachweise in Fn. 224 in diesem Teil. Schlegel, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 1 Rn. 83, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dies ebenso auch für die Mitwirkungsobliegenheiten nach §§ 62 ff. SGB I gelte. 236 Das in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit beinhaltet zwar keinen negativen Schutzbereich; vgl. Sodan, in: Sodan, GG, Art. 2 Rn. 21; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 50. Jedoch schützt Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne und gibt jedermann ein Recht zur Selbstschädigung. Dementsprechend ist der Staat hinsichtlich des gesundheitlichen Wohlergehens des Einzelnen zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Lebensformen und -entscheidungen verpflichtet, solange nicht die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit verletzt sind. Siehe hierzu Ausführungen und Nachweise in diesem Kapitel unter C. V. 2. g). 237 Siehe hierzu die Ausführungen im vorherigen Kapitel, C. II. 1.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Vor diesem Hintergrund ist die Regelung des § 1 Satz 2 SGB V zu verstehen. Die Überschrift setzt den Begriff der Eigenverantwortung in Beziehung238 zu dem Begriff der Solidarität bzw. dem darauf beruhenden Solidarprinzip. Ausgehend von der in § 1 Satz 1 SGB V beschriebenen Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung erläutert Satz 2 die Rolle des Versicherten für die Erhaltung und Wiederherstellung seiner Gesundheit. § 1 Satz 2 SGB V definiert damit den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens im Rahmen der bestehenden Fremdverantwortung der Krankenkasse. Der Gesetzgeber appelliert damit „an das Verantwortungsbewusstsein der Versicherten“, „den Grundsatz der Solidarität nicht eigennützig zu strapazieren“239. Dem liege – so Schulin240 – die sozialethische Vorstellung zugrunde, dass das von der Versichertengemeinschaft zu erbringende Ausmaß an Solidarität davon abhängig ist, wie weit der Einzelne das ihm Mögliche zur Erhaltung seiner Gesundheit bzw. zur Vermeidung von Schäden beigetragen hat; wer seine Gesundheit schädige und anschließend von der Solidargemeinschaft der Versicherten Leistungen verlange, handele unsolidarisch. Was genau unter unsolidarischem Verhalten zu verstehen ist bzw. wann ein Verhalten die Grenze der Solidarwidrigkeit überschreitet, kann der Vorschrift des § 1 Satz 2 SGB V jedoch nicht entnommen werden. Hierzu bedarf es eines speziellen, gesetzlich geregelten Leistungsausschlusses.241 Gegenstand des § 1 Satz 2 SGB V ist demnach die trotz bestehender Fremdverantwortung der Krankenkasse in eingeschränkter Form fortbestehende Eigenverantwortung des Versicherten. Diese um den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens und die Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz modifizierte Form der Eigenverantwortung nennt der Gesetzgeber Mitverantwortlichkeit.

B. Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V Mit dem Hinweis auf die Eigenverantwortung der Versicherten in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist der Anteil an der Gesundheitsversorgung gemeint, der nicht von dem krankenversicherungsrechtlichen Leistungsumfang gedeckt ist, den also die gesetzliche Krankenversicherung entweder gar nicht oder unter finanzieller Eigenbeteiligung des Versicherten nur teilweise trägt.242 In § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird 238 Bspw. Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 1 Rn. 9, spricht insofern von der Eigenverantwortung „als notwendige Ergänzung der Solidarität“; vgl. auch Wollenschläger, in: Wannagat, SGB V, § 1 Rn. 2. 239 Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, vor § 1 Rn. 2. 240 Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 51. 241 Gemäß § 31 SGB I dürfen die Rechte des Sozialversicherten nur dann geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz dies vorschreibt oder zulässt. 242 Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 2 Rn. 2. Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (2) spricht insofern von Finanzierungs-Eigenverantwortung.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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der Begriff der Eigenverantwortung also in Abgrenzung zur Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkassen verwandt. Die vom Sozialversicherungsträger übernommene rechtliche Verantwortung beschränkt sich auf den gesetzlich vorgesehenen Leistungsumfang. Nur in diesem Rahmen ist die dem verfassungsrechtlichen Menschenbild geschuldete Eigenverantwortung243 des krankenversicherten Bürgers eingeschränkt. Außerhalb des im SGB V festgelegten Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenkassen trägt der Versicherte seine gesundheitlichen Risiken und deren Folgen bzw. Kosten in Eigenverantwortung. Das heißt, er selbst verhält sich nach eigenen Maßstäben und hat die Konsequenzen seines Verhaltens vor sich selbst zu rechtfertigen. Demnach entspricht die Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V dem hier entwickelten Begriffsverständnis der Eigenverantwortung als die grundsätzliche oder natürliche Verantwortung des Bürgers, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegt. Dieses Begriffsverständnis begegnet teilweise erheblichen Bedenken.244 Beispielsweise meint Boecken, im Rahmen der Sozialversicherung ließe sich nur von Eigenverantwortung sprechen, wenn der Einzelne Verhaltens- bzw. Entscheidungsspielräume hat, innerhalb derer ein willensgetragenes Handeln möglich ist, für dessen Konsequenzen der einzelne Versicherte als Verantwortungsträger einzustehen hat.245 „Eigenverantwortliches Handeln heißt im Mindestmaß immer die Auswahl zwischen der Alternative, die Allgemeinheit oder die eigene Person zu belasten“ schreibt Wolf,246 sodass der Versicherte ohne eine Wahlmöglichkeit keine Chance habe, selbst Verantwortung zu übernehmen. Das Treffen einer Wahlentscheidung als wesentlicher Aspekt von Eigenverantwortung wurde ebenfalls im Rahmen des bereits erwähnten Eigenverantwortungs-Projekts herausgestellt.247 Darüber hinaus erklärt Seger, die Grundvoraussetzung von Eigenverantwortung sei die Kompetenz des Verantwortungsträgers, also seine persönliche Fähigkeit, eine Entscheidung auf der Basis rationaler Überlegungen überhaupt treffen zu können.248 Dass Eigenverantwortung im Rahmen der Gesundheitsversorgung eine Wahlmöglichkeit und die 243

Siehe Ausführungen in diesem Teil, Kapitel 1, B. II. sowie C. II. Z. B. Thielmann u. a., Szenarien für mehr Selbstverantwortung und Wahlfreiheit im Gesundheitswesen, S. 7, 43 ff., meinen wirkliche Selbstverantwortung erschöpfe sich nicht in finanziellen Selbstbeteiligungen, sondern beinhalte vorrangig eine weitreichende Partizipation der Bürger in ihrer Rolle als Nutzer des Gesundheitswesens an der Steuerung und Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Grundbedingungen von Selbstverantwortung seien die Information des Patienten, die Transparenz des Leistungsgeschehens im Gesundheitswesen sowie ein Empowerment im Sinne einer umfassenden Nutzerpartizipation. Siehe auch Die Deutschen Bischöfe, Solidarität braucht Eigenverantwortung, S. 16. 245 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (13). 246 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 66, 76. 247 Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 18; vgl. hierzu auch Fn. 219 in diesem Teil. 248 Seger, SDSRV 42 (1997), 35 (38). 244

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2. Teil: Eigenverantwortung

Entscheidungsautonomie sowie die Kompetenz des Versicherten voraussetze, wird insbesondere aus ethischer Sicht249 vertreten.250 So fordern z. B. Marckmann und Gallwitz für eine in Eigenverantwortung zu tragende Schädigungsfolge neben der kausalen Verursachung, dass „man sich auch hätte anders entscheiden können, dass man über verfügbare Alternativen informiert war und die Handlungsfolgen einigermaßen überschauen konnte“.251 Der Einzelne vermöge nur für das Verantwortung 249

Marckmann, Ethik in der Medizin 2010, 207 (215 ff.); ders., Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 299 ff.; Buyx, Ethik in der Medizin 2005, 269 (272); ders., Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 315 ff.; Höfling, ZEFQ 2009, 286 (290); ders., Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 514 ff. 250 Teilweise wird in diesem Zusammenhang – zurückgehend auf den amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin als Vertreter des sogenannten Glücksegalitarismus – zwischen option luck als das Ergebnis einer bewussten Inkaufnahme von Risiken und brute luck, das sich als reiner Zufall der Einflussnahme des Einzelnen entzieht, unterschieden und insoweit die Grenze zwischen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung gezogen. Ereignisse, die dem option luck zuzuordnen seien, seien in Eigenverantwortung zu tragen. Vgl. z. B. Marckmann, Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 305; Dietrich, ZfmE 47 (2001), 371 (372 f.). Demgegenüber meint Kersting, Gerechtigkeit und Medizin, S. 177 ff., die besondere Bedeutung der Gesundheit für alle Menschen rechtfertige zwar eine egalitaristische Verteilung medizinischer Grundversorgungsleistungen, angesichts der liberalen Selbstbestimmung bestehe aber keineswegs die Verpflichtung einer Gesellschaft über die Bereitstellung eines Minimums an Gesundheitsversorgung hinauszugehen. Vor diesem Hintergrund spricht sich Kersting, Gerechtigkeit und Medizin, S. 199, für eine Mischung privater und öffentlicher Versorgungsformen in einem zweistufigen Gesundheitswesen auf der Grundlage eines Minimalegalitarismus aus. Ähnlich zuvor auch schon Sass, Persönliche Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität, S. 93 ff. Auf dieser Grundlage schlägt Buyx, Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 332, die Eigenverantwortung als Verteilungskriterium auf Makroebene vor und meint damit im Ergebnis ebenfalls eine staatliche vorgehaltene Grundversorgung und private Zusatzversicherungen. 251 Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (106). Siehe auch Marckmann, Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 299 ff.; ders., Ethik in der Medizin 2010, 207 (215 ff.). Marckmann unterscheidet zwischen prospektiver, d. h. hinsichtlich zukünftig zu Leistendem, und retrospektiver, im Rückblick auf zurechenbare Handlungen gerichtete Eigenverantwortung und meint, nur wenn die Voraussetzungen für eine prospektive Wahrnehmung von gesundheitlicher Verantwortung geschaffen sei, sei es gerechtfertigt, den erkrankten Versicherten retrospektiv für solche Erkrankungen verantwortlich zu machen, die auf einem gesundheitsschädlichen Verhalten beruhen. Auch Buyx betont, die Zuweisung gesundheitlicher Eigenverantwortung setze eine freie, selbstbestimmte Entscheidung auf der Grundlage valider Information voraus, und schlägt hierzu die Einführung eines Schulfachs Gesundheitserziehung vor; vgl. Buyx, Ethik in der Medizin 2005, 269 (278); ders., Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 328.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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zu tragen, was er durch sein Verhalten und seine Lebensführung auch beeinflussen könne.252 Als denklogische Folge dieses Verständnisses wird vertreten, dass Zuzahlungspflichten bzw. finanzielle Eigenbeteiligungen des gesetzlich Krankenversicherten nicht als Ausdruck der Eigenverantwortung anzusehen seien.253 Hintergrund dieses ideologisch geprägten Verständnisses von Eigenverantwortung im Rahmen der solidarischen Krankenversicherung ist die oftmals undifferenzierte Betrachtungsweise von Eigenverantwortung und Eigenverschulden.254 Eigenverantwortung wird damit zu einer Kategorie mit der eine gewisse Vorwerfbarkeit und negative Verhaltensbewertung verbunden ist. Diese inhaltliche Überfrachtung des Begriffs der Eigenverantwortung ist in erster Linie der fehlenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem unserer Rechtsordnung immanenten Menschenbild des eigenverantwortlichen Bürgers geschuldet. Danach kann Eigenverantwortung gerade nicht eine freie Wahlentscheidung als verantwortungstypisches Wesenselement voraussetzen.255 Eigenverantwortung bezeichnet auch nicht eine rechtliche Verantwortung, die sich typischerweise an dem Kriterium des Verschuldens misst. Vielmehr steht sie in einer untrennbaren Wechselbeziehung zur grundrechtlich gewährten Freiheit des selbstbestimmten Individuums und entzieht sich als solche einer externen moralischen Bewertung. Wie bereits grundlegend erläutert, wird diese natürliche Verantwortung des Einzelnen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nur in dem Umfang der gesetzlich zugesprochenen Versicherungsleistungen eingeschränkt bzw. modifiziert. Klar ist insofern, dass pauschale Leistungsausgrenzungen und finanzielle Beteiligungen des Versicherten in den Bereich seiner Eigenverantwortung fallen.256 Die so verstandene Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten kann also nur in Abgrenzung zum gesetzlich festgeschriebenen Leistungsumfang kon252 Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (107); Marckmann, Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 302 ff. So auch Höfling, Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 517 ff. 253 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 76, 161; Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (28); Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 1 Rn. 8 mit Verweis auf Götze/Salomon, ZSR 2009, 71 (75 ff.). 254 Bspw. untersucht Dietrich, ZfmE 47 (2001), 371 ff., unter der Überschrift Eigenverantwortung als medizinischethisches Rationierungskriterium wann von einem Eigenverschulden des Individuums gesprochen werden könne und inwieweit sich das Eigenverschulden als Rationierungskriterium eignet. Zur Gleichsetzung von Eigenverantwortung und Eigenverschulden siehe auch Ausführungen im vorherigen Kapitel, B. und C. II. 255 Siehe Ausführungen in diesem Teil, Kapitel 1, B. II. 256 So z. B. auch BT-Drs. 11/2237, S. 149 f.; Merten, NZS 1996, 593 (593); ders., in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 57; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 2 Rn. 5. Vgl. auch Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 14, die in ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Arbeit Eigenverantwortung als die „finanzielle Verantwortung bei Krankheit, die beim Patienten liegt und nicht von der Krankenversicherung getragen wird“, definiert.

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2. Teil: Eigenverantwortung

kretisiert werden. Dies wird im Folgenden ausgehend vom Versicherungsschutz des gesetzlich Krankenversicherten untersucht.

C. Versicherungsschutz nach dem SGB V versus Eigenverantwortung Die Zielrichtung der gesetzlichen Krankenversicherung ist in § 1 SGB V beschrieben: die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Versicherten sowie die Besserung ihres Gesundheitszustands. Dabei ist der Bedeutungsgehalt des in Bezug genommenen Begriffs der Gesundheit257 unklar. Diese Regelung dient jedoch als Einweisungsvorschrift258 lediglich der allgemeinen Aufgabenbeschreibung. Die zur Erreichung des beschriebenen Ziels zur Verfügung stehenden Leistungen sind in § 11 SGB V sowie § 195 RVO aufgezählt. Genannt werden Leistungen zur Verhütung von Krankheiten und von deren Verschlimmerung sowie zur Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und bei Schwangerschaftsabbruch nach den §§ 20 bis 24b SGB V, Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten nach den §§ 25 und 26 SGB V, Leistungen bei Krankheit nach den §§ 27 bis 52 SGB V sowie Leistungen des persönlichen Budgets nach § 17 Abs. 2 bis 4 SGB IX und Leistungsansprüche bei Schwangerschaft und Mutterschaft nach den §§ 196 bis 200b RVO. Gewährt werden zudem Zahnersatz nach den §§ 55 ff. SGB V und Fahrtkosten gemäß § 60 SGB V. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB V sind die Leistungen dabei auf das Maß des medizinisch Notwendigen beschränkt. I. Versicherungsfall der Krankheit Der Kernbereich der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung knüpft an den Versicherungsfall der Krankheit an. Das SGB V definiert ebenso wenig wie zuvor die RVO den Begriff der Krankheit. Angesichts des medizinischen Fortschritts und der sich verändernden gesellschaftlichen Anschauungen sei die Festschreibung einer Legaldefinition nicht geboten, so der Gesetzgeber,259 die Klärung des Begriffs solle daher der Rechtsprechung und Praxis überlassen bleiben. Nach der ständigen 257 Der Begriff der Gesundheit wird unterschiedlich definiert. Die bekannteste Definition ist wohl die der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in ihrer Satzung vom 22. 7. 1946 Gesundheit als ein „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als das Freisein von Krankheiten oder Gebrechen“ versteht; vgl. die deutsche Bekanntmachung der Satzung der WHO vom 22. 1. 1974, BGBl. II, 43 (45). Dieser weitgefasste Gesundheitsbegriff der WHO hat aber – so der Gesetzgeber in BT-Drs. 11/2237, S. 157 – keine Bedeutung für das Krankenversicherungsrecht. Weitere Sichtweisen und Definitionen von Gesundheit und auch Krankheit zeigen z. B. Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 33 ff., und Lenk, Therapie und Enhancement, S. 35 ff., 103 ff., auf. 258 Siehe hierzu Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. 259 BT-Drs. 11/2237, S. 157, 170.

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Rechtsprechung des Bundessozialgerichts260 ist Krankheit im Sinne des SGB V ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht. Dabei wird das Leitbild des gesunden Menschen nicht als Ideal-, sondern als Normalbild des Menschen in Bezug genommen und als der Zustand verstanden, der dem Einzelnen ermöglicht, seine Körperfunktionen bzw. seine normalen psychophysischen Funktionen auszuüben.261 Krankheitswert kommt somit nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist, dass „der Betroffene in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt“.262 Eine äußere Entstellung, der Krankheitswert in diesem Sinne zukommt, muss jedoch eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Die körperliche Auffälligkeit muss „in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi im Vorbeigehen bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt“.263 Behandlungsbe260 BSGE 26, 240 (242); 33, 202 (203); 35, 10 (12); 39, 167 (168); 59, 119 (121); 62, 83 (83); 72, 96 (98); 85, 36 (38); 90, 289 (290); 93, 252 (252 f.); 100, 119 (120). Dieser sich in den Tatbestand des regelwidrigen Körper- und Geisteszustands und der Behandlungsbedürftigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit als dessen mögliche Folgen zweigliedernde Krankheitsbegriff wurde in der Literatur kritisiert, da er nicht ausreichend zwischen Krankheit und den weiteren Voraussetzungen für die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen differenziere. Siehe hierzu Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 27 Rn. 42; Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 10 m. w. N. Von dem krankenversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff ist der Krankheitsbegriff im allgemein-medizinischen Sinne zu unterscheiden, der jede „Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen“ bzw. „eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, morphologisch, symptomatisch oder nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die als eine bestimmte Erkrankung verstanden wird“ umfasst; vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort Krankheit. 261 BSGE 26, 240 (242); 39, 167 (168); 59, 119 (121). 262 BSGE 100, 119 (120) mit Verweis auf BSGE 82, 158 (163 f.); 93, 252 (253). Einen aktuellen Rechtsprechungsüberblick zur Abgrenzung zwischen Krankheit und hinnehmbarer körperlicher Unregelmäßigkeit bieten z. B. Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 24 ff.; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 27 Rn. 15 ff. und Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 27 Rn. 37 ff. 263 BSGE 100, 119 (121) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Abweichungen des Aussehens von den üblichen Vorstellungen sind grundsätzlich kein regelwidriger Zustand, da sie normalerweise keine Funktionsstörung zur Folge haben. Krankheitswert können aber die Auswirkungen an sich haben. Entstellungen gelten auch ohne Funktionsbeeinträchtigung von Körperteilen als eine körperliche Funktionsstörung, wenn sie dem Betroffenen ein freies und unbefangenes Leben unter den Mitmenschen erschweren oder unmöglich machen. Dies ist jedoch regelmäßig nicht der Fall, wenn der betroffene Körperteil normalerweise durch Kleidung bedeckt ist. Der Krankheitswert einer äußeren Entstellung ergibt sich auch nicht allein daraus, dass er eine psychische Belastung für den Betroffenen darstellt, die ihrerseits zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung geführt hat. Bejaht wurde eine Entstellung bspw. bei Kahlköpfigkeit einer Frau oder einer Gesichtsspalte/Hasenscharte. Siehe hierzu und weiteren Einzelfällen ausführlich Marburger, SGb 1995, 432 ff.; Schramm/Witte, in: Sodan,

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2. Teil: Eigenverantwortung

dürftig ist der regelwidrige Zustand, wenn er nach den Regeln der ärztlichen Kunst einer Behandlung mit dem Ziel der Heilung oder zumindest der Besserung oder Verhütung einer Verschlimmerung des anormalen Zustands oder der Linderung von Schmerzen zugänglich ist.264 Dabei genügt die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls gegebene Prognose, dass die Behandlungsziele ohne ärztliche Behandlung wahrscheinlich nicht erreicht werden können.265 Die neben der Behandlungsbedürftigkeit gleichzeitig oder alternativ vorausgesetzte Arbeitsunfähigkeit ist gegeben, wenn der Versicherte wegen des regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands nicht oder nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung seines Zustands der bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit oder einer sonst vertraglich geschuldeten Tätigkeit nachgehen kann.266 Der Versicherungsfall der Krankheit kennzeichnet das versicherte Risiko und ist damit die auslösende Ursache für den Leistungsanspruch. Ein Leistungsfall bzw. die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse tritt erst ein, wenn sämtliche Voraussetzungen des jeweiligen Anspruchs erfüllt sind. Die verschiedenen Leistungsansprüche im Versicherungsfall der Krankheit und ihre jeweiligen Voraussetzungen ergeben sich aus den Vorschriften des fünften Abschnitts im dritten Kapitel des SGB V, den §§ 27 ff. SGB V. II. Leistungen bei Krankheit Die durch eine Erkrankung eintretende Bedarfslage besteht in der Behandlungsbedürftigkeit der Krankheit bzw. den damit verbundenen Kosten sowie in dem bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung eintretenden Verdienstausfalls. Zentrale Anspruchsnorm für Leistungen zur Krankenbehandlung ist § 27 Abs. 1 SGB V. Danach erhält jeder Versicherte die Krankenbehandlung, die notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V fasst damit die Zielrichtung und Zweckbestimmung der Krankenbehandlung zusammen267 und zählt in Satz 2 die dafür zur Verfügung stehenden Krankenversicherungsrecht, § 10 Rn. 22; Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPKSGB V, § 27 Rn. 41 m. w. N. 264 Siehe BSGE 26, 240 (243); 26, 288 (290); 35, 10 (13); 39, 167 (168 f.); 47, 47 (50 f.); 47, 83 (85 f.); 48, 258 (265); 57, 227 (228 f.); 59, 116 (117); 62, 82 (84); 93, 252 (252 f.). Behandlungsbedürftigkeit setzt insofern Behandlungsfähigkeit voraus. Ausreichend für die Annahme einer Behandlungsbedürftigkeit ist auch eine ärztliche Behandlung, die sich bei nicht mehr besserungsfähigen Leiden auf die Linderung von Beschwerden beschränkt oder lediglich bezweckt, das Leben für eine begrenzte Zeit zu verlängern; vgl. BSGE 28, 199 (201); 47, 83 (86). Zudem ist bereits ein hinreichend konkret bestimmter Krankheitsverdacht behandlungsbedürftig, da zumindest Diagnoseleistungen zur Erkennung der Krankheit in Betracht kommen; vgl. BSGE 51, 115 (117 f.). 265 BSGE 35, 10 (12 f.). 266 BSGE 19, 179 (181); 26, 288 (290 ff.); 33, 202 (203); 57, 227 (228 f.). 267 BT-Drs. 11/2237, S. 170.

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Leistungsarten268 abschließend auf. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V hat die Leistungsgewährung unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 12 SGB V zu erfolgen, wonach die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Mindestvoraussetzung für eine Leistung zur Krankenbehandlung ist daher, dass die Leistung überhaupt geeignet ist, die bezweckte Heilwirkung zu erzielen bzw. dass deren therapeutische Wirkung ausreichend sicher ist.269 Ein Anspruch270 des Versicherten auf Krankenbehandlung kann sich jedoch nur dann unmittelbar aus § 27 Abs. 1 SGB V ergeben, wenn „im Einzelfall nur eine dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Methode bei notwendigerweise prognostischer Beurteilung der Erfolgsaussichten eine reale Chance zur Erreichung des Behandlungsziels bietet“.271 Grundsätzlich handelt es sich bei § 27 Abs. 1 SGB V um eine unvollständige Anspruchsnorm, die lediglich einen Anspruchs-Rahmen272 als äußerste Grenze der Leistungspflicht der Krankenkassen bei der Krankenbehandlung vorgibt und insofern der Konkretisierung durch andere, auch untergesetzliche Normen bedarf.273 Der Anspruchsinhalt ergibt sich nach Maßgabe der konkretisierenden Vorschriften der §§ 27a ff. SGB V und den einschlägigen, nach § 92 SGB V erlassenen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses.274 Letztlich ist aber der einzelne Leistungserbringer dazu berufen, innerhalb der normativen Vorgaben den Anspruch des Versicherten gegenüber der Krankenkasse aus medizinischer Sicht verbindlich zu konkretisieren.275 268 Dies sind die ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, die zahnärztliche Behandlung, die Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen, die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, die häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, die Krankenhausbehandlung sowie die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen. 269 Siehe ausführlich zum Begriff der notwendigen Krankenbehandlung Fastabend, NZS 2002, 299 ff. 270 Ein Anspruch ist gemäß § 194 Abs. 1 BGB das Recht, von dem Leistungserbringer ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Nach § 31 SGB I können sozialrechtliche Rechte und Pflichten nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit dies durch ein Gesetz geregelt ist. 271 BSGE 78, 70 (85 f.) mit Verweis auf BSGE 76, 194 (201). 272 BSGE 78, 70 (85). Darüber hinaus bezeichnet das BSG die Vorschrift des § 27 Abs. 1 SGB V bspw. auch als Rahmen-Recht [BSGE 78, 70 (86)] oder als Anspruch dem Grunde nach [BSGE 73, 271 (280)]. 273 Fastabend, NZS 2002, 299 (302); Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 27 Rn. 20, 82; ausführlich hierzu siehe Neumann, SGb 1998, 609 ff. 274 Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 86; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 27 Rn. 46 f. 275 BSGE 73, 271 (281); 81, 54 (61); 81, 73 (78 f.). Das BSG spricht insofern von einem Rechtskonkretisierungskonzept, dessen Kerngedanke sei, dass die für die Entstehung eines Anspruchs im Einzelfall notwendige Erkenntnis, ob eine bzw. welche Krankheit besteht und was zu ihrer Behandlung im Sinne des § 27 SGB V medizinisch notwendig ist, weder einem Bestimmungsrecht des Versicherten noch der Wahl oder hoheitlichen Entscheidung der

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Neben den Leistungen zur Krankenbehandlung haben Versicherte, die krankheitsbedingt arbeitsunfähig sind, nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung einen Anspruch auf Krankengeld gemäß § 44 Abs. 1 SGB V. Die Gewährung des Krankengeldes richtet sich nach den Vorschriften der §§ 44 bis 51 SGB V. Die Leistungen bei Krankheit sind final auf die in den §§ 1 und 27 Abs. 1 SGB V genannten Ziele ausgerichtet.276 Das bedeutet, die Leistungen werden grundsätzlich unabhängig von der Krankheitsursache gewährt und bemessen sich allein nach der im Einzelfall bestehenden Bedarfslage des erkrankten Versicherten. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. In Abgrenzung zu den Versicherungsfällen anderer Sozialversicherungszweige besteht gemäß § 11 Abs. 5 SGB V kein Krankenbehandlungsanspruch nach §§ 27 ff. SGB V, wenn die Krankenbehandlung als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit zu erbringen ist. Zudem sieht § 52 SGB V Leistungsausschlüsse vor, die an die Ursache der Erkrankung anknüpfen.277 III. Naturalleistungsprinzip Die Versicherten erhalten gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V die Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen. Das bedeutet, dass der Versicherte als Patient keine Vergütung an die behandelnden Ärzte und übrigen Leistungserbringer entrichten muss, und dass die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet sind, die Dienste und Güter zu beschaffen, auf die der erkrankte Versicherte einen Leistungsanspruch nach dem SGB V hat. Dieser auch als Sachleistungsprinzip bezeichnete Grundsatz wird durch verschiedene Sachverhalte der Kostenerstattung durchbrochen, beispielsweise wenn die Krankenkasse eine erforderliche Leistung nicht rechtzeitig erbringt oder unrechtmäßig ablehnt oder wenn der Versicherte dies ausdrücklich wünscht.278 Das Bundessozialgericht begreift das Naturalleistungsprinzip als ein „übernormatives Grundprinzip“ bzw. einen „wesentlichen Grundsatz der gesetzlichen KV“, Krankenkasse, sondern vielmehr dem jeweiligen Vertragsarzt überantwortet ist. Der Krankenkasse ist damit rechtlich an die medizinische Erkenntnis des ordnungsgemäß handelnden Vertragsarztes gebunden. 276 Wagner, in: Krauskopf, Soziale KV, § 27 Rn. 9; Schlegel, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 1 Rn. 23, § 27 Rn. 32; Schramm/Witte, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 10 Rn. 26; Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 53; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 27 Rn. 8. Auf das sogenannte Finalprinzip bzw. den Finalitätsgrundsatz wird an späterer Stelle eingegangen; siehe Ausführungen in diesem Kapitel unter C. V. 2. f). 277 Siehe hierzu in diesem Kapitel unter C. V. 1 sowie im 3. Teil, Kapitel 2. Darüber hinaus sieht das SGB V in §§ 50 und 52a weitere Leistungsausschlüsse vor. 278 Vgl. § 13 SGB V. Weitere Ausnahmen des Naturalleistungsprinzips sind in den §§ 17, 18, 37 Abs. 4, 38 Abs. 4, 53 Abs. 4, 64 Abs. 4 Satz 2 SGB V und den §§ 9 Abs. 2, 15 Abs. 1 SGB IX vorgesehen. Ausführliche Erläuterungen zu den Fällen der Kostenerstattung bietet Hauck, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 8 Rn. 22 ff., der in seinem Beitrag das Naturalleistungsprinzip auch aus historischer und ökonomischer Sicht grundlegend darstellt.

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dem „einhellig ein hervorragender Rang und eine fundamentale Bedeutung zugesprochen worden“ sei.279 Die Untersuchung der Wesensmerkmale einer Sozialversicherung im ersten Teil, Kapitel 2 dieser Arbeit hat jedoch gezeigt, dass dieses Prinzip weder ein obligatorisches Wesensmerkmal ist, noch ein wesenstypisches Strukturelement einer Sozialversicherung darstellt. Eine Notwendigkeit bzw. wesentliche Bedeutung des Naturalleistungsprinzips lässt sich auch nicht aus den Vorgaben des sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzips begründen. Das Solidarprinzip vermittelt einen sozialen Ausgleich zwischen den Sozialversicherten, indem es die Bemessung der Sozialversicherungsbeiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten unabhängig von seiner individuellen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und eine bedarfsgerechte Leistungsgewährung vorsieht.280 Davon zu trennen ist die Frage der praktischen Abwicklung des sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruchs. Sicherlich erfüllt das Naturalleistungsprinzip auch einen Schutzzweck für Versicherte, die nur über ein geringes Einkommen verfügen und insofern durch eine finanzielle Vorleistung bei der Inanspruchnahme krankenversicherungsrechtlicher Leistungen überfordert wären und damit Gefahr liefen, medizinisch notwendige Behandlungen nicht in Anspruch zu nehmen. Dieser soziale Schutz könnte jedoch auch im Rahmen eines Kostenerstattungssystems beispielsweise durch längere Zahlungsfristen281 oder eine Vorschußpflicht der Krankenkasse und einer Pflicht zur Kostenübernahme bei aufwendigen Behandlungen282 realisiert werden. „In großer Distanz zur Eigenverantwortung steht das Sachleistungsprinzip“ schreibt Merten283 und führt weiter aus: „nur wenn der Versicherte die Kosten kennt und vorab begleichen muß, wird er sich wirtschaftlich verhalten und beispielsweise auf bereits durchgeführte Untersuchungen bei anderen Ärzten verweisen sowie kontrollieren, ob in Rechnung gestellte Leistungen auch wirklich in vollem Umfang erbracht wurden“. Zur Steigerung des Kostenbewusstseins und der Sparsamkeit der Krankenversicherten plädiert beispielsweise auch Sodan für die Ablösung des Naturalleistungsprinzips durch ein generelles Kostenerstattungssystem.284 Dem wird 279

BSGE 69, 170 (173) mit Verweis auf BSGE 46, 179 (181); 42, 117 (119). Siehe Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4. 281 So der Vorschlag von Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 13 Rn. 4. 282 Dies schlägt Sodan, NZS 1998, 305 (312) vor. Auch Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 110, hält eine Vorschußpflicht der Krankenkassen heute für unproblematisch. Ebenso M. Fischer, SGb 2008, 461 (464). 283 Merten, NZS 1996, 593 (597). 284 Sodan, NZS 1998, 305 (311 f.); ders., VVDStRL 64 (2004), 144 (168). Dieses Votum ergibt sich insbesondere angesichts der mit dem Naturalleistungsprinzip verbundenen Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Berufsfreiheit der Ärzte und Leistungserbringer; siehe ausführlich hierzu und zur Begründung des Naturalleistungsprinzips Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 119 ff., 310 ff. Für eine Abschaffung des Naturalleistungsprinzips sprechen sich darüber hinaus z. B. auch Donges u. a., Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, S. 15, 27, 113; 280

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entgegengehalten, das Sachleistungsprinzip verfolge verschiedene Schutzzwecke; neben dem Schutz des Versicherten sei der Schutz der Leistungserbringer vor dem Insolvenzrisiko ihrer Patienten bzw. Inkassorisiko ihrer Vergütung sowie die Sicherung von Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit durch Einbindung der Leistungserbringer in ein öffentlich-rechtliches Pflichtensystem entscheidend.285 Schulin meint, die Einführung eines Kostenerstattungssystem entsprechend der privaten Krankenversicherung berge zudem die Gefahr von Kostensteigerungen.286 Die hier lediglich skizzierte Diskussion über die Abschaffung des Naturalleistungsprinzips berührt die Thematik der Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten nur am Rande. Entsprechend des in den vorherigen Abschnitten grundlegend entwickelten Verständnisses der Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten beschränkt sich diese im Rahmen des krankenversicherungsrechtlichen Leistungsumfangs auf die Fälle solidarwidrigen Verhaltens. Zwar geht damit eine Beeinflussung des Verantwortungsgefühls des Versicherten bzw. eine größere Sorglosigkeit einher; dieses sogenannte moralische Risiko muss jedoch abgegrenzt werden von einem solidarwidrigen Verhalten, das regelmäßig ein final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtetes Handeln des Versicherten bzw. einen entsprechenden Schädigungswillen voraussetzt.287 Eine aufgrund mangelnden Kostenbewusstseins des Versicherten unangemessene Inanspruchnahme von Krankenversicherungsleistungen kann entsprechend der Ausführungen im vorherigen Kapitel, C. II. 3. nicht grundsätzlich als solidarwidrig qualifiziert werden und muss insofern dem Phänomen des moral hazard zugeordnet werden. Wie im Zusammenhang mit der Kostenbeteiligung der Krankenversicherten aufgezeigt,288 wird das moralische Krankenversicherungsrisiko kontrovers diskutiert. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung der Frage, ob das Naturalleistungsprinzip durch ein Kostenerstattungssystem zugunsten eines höheren Kostenbewusstseins und Verantwortungsempfindens des Versicherten abgelöst werden sollte, kann nicht unabhängig von den weiteren damit verbundenen Auswirkungen auf das Gesamtsystem der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere das Vertragsarztrecht, erfolgen und muss daher hier mit Blick auf den Untersuchungsschwerpunkt offen bleiben.

M. Fischer, SGb 2008, 461 (466); Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2000, 512 (515); Haft, ZRP 2002, 457 (458 f.) aus. 285 Hauck, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 8 Rn. 15 ff.; Plagemann, in: Schlegel/ Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 2 Rn. 53; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, Einl. zum SGB V, Rn. 16; Engelmann, NZS 2000, 1 (5); Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 129 m. w. N. 286 Schulin, VSSR 1997, 43 (47). 287 Siehe Ausführungen in diesem Teil, Kapitel 1, C. II. 2., 3. und 6. 288 Insofern wird auf die Ausführungen in diesem Kapitel, C. IV. 2. verwiesen.

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IV. Kostenbeteiligung des Versicherten Deckt die krankenversicherungsrechtlich vorgesehene Leistung nicht oder nur teilweise die entstandenen Kosten der Krankenbehandlung oder sieht das Leistungsrecht einen finanziellen Eigenanteil des Versicherten vor, trägt der Versicherte in diesem Maße seine gesundheitlichen Risiken und deren Folgen bzw. Kosten in Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Zur Einschränkung des krankenversicherungsrechtlich vorgesehenen Leistungsumfangs und Ausweitung der Eigenverantwortung des Versicherten stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung. Zunächst kann das versicherte Risiko durch pauschalen Ausschluss289 bestimmter Leistungen oder bestimmter Gesundheitsrisiken im Sinne eines ursachenbezogenen Leistungsausschlusses begrenzt werden. Darüber hinaus können Versicherte an den Kosten der Krankenbehandlung und anderen Leistungen durch unterschiedliche Formen der Selbstbeteiligung sowie Selbstbehalttarifen beteiligt werden. Selbstbeteiligung290 bedeutet, dass sich der Leistungsempfänger bzw. Versicherte an den Kosten einer Leistung zu beteiligen hat, die in den Aufgabenbereich der Krankenversicherung fällt. Dies kann durch die Festlegung von Festbeträgen291 für bestimmte Leistungen, durch Festsetzung einer prozentualen292 Beteiligung des Versicherten an den Kosten der Gesundheitsleistungen in einer Abrechnungsperiode oder einer absoluten293 Selbstbeteiligung, die auch als Selbstbehalt bezeichnet wird, erfolgen. Bezieht sich die absolute Selbstbeteiligung auf eine bestimmte Leistung wird sie meist als Zuzahlung bezeichnet.

289 Entsprechend der von Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (595 ff.), aufgezeigten Dogmatik der Instrumente zur Konkretisierung und Begrenzung des versicherten Risikos handelt es sich hierbei um einen Risikoausschluss als sekundäre Risikobeschreibung, die ein an sich versichertes Ereignis ausdrücklich vom Versicherungsschutz ausnimmt. Hängt der Risikoausschluss von der Bewertung des Versichertenverhaltens ab, spricht man von einem subjektiven Risikoausschluss. Siehe hierzu auch Fn. 129 in diesem Teil. 290 Hierzu ausführlich Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 32 ff.; Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 160 ff.; Rau, Selbstbeteiligungsregelungen im Gesundheitswesen, S. 21 ff. Siehe auch Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 35 ff., die zwischen mengenregulierenden und preisregulierenden Kostenbeteiligungen unterscheidet. 291 Festbeträge sehen einen fixen Betrag pro Leistung vor, der idealerweise eine ausreichende Versorgung ermöglicht. Wünschen Patienten eine darüber hinausgehende Leistung, haben sie die Kosten für dieses Mehr zu tragen. Problematisch hierbei ist der hohe Verwaltungsaufwand, den die Festlegung eines Festbetrages für jede medizinische Leistung und dessen kontinuierliche Anpassung an die Preisentwicklung bedeutet. 292 Eine prozentuale Selbstbeteiligung bedeutet die Beteiligung des Versicherten in Höhe eines festgelegten Prozentsatzes an den Kosten der in einer Abrechnungsperiode insgesamt in Anspruch genommenen Leistungen. Eine solche relative Selbstbeteiligung kann sich auch nur auf spezifische Leistungen beziehen. 293 Ein Selbstbehalt oder absolute Selbstbeteiligung meint, dass der Versicherte die Kosten der medizinischen Versorgung innerhalb einer bestimmten Abrechnungsperiode bis zu einem festgelegten Geldbetrag selbst übernimmt.

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Als dynamische Selbstbeteiligungsformen können Bonus-Malus-Regelungen294 oder Beitragsrückerstattungen,295 die beispielsweise nach der Dauer der Leistungsfreiheit gestaffelt sind, sowie optionale Selbstbehalttarife296 eingeführt werden. Wesentliches Anliegen der Beteiligung des Versicherten an den Kosten der Krankenbehandlung ist es, bei dem Versicherten ein Eigeninteresse an der sparsamen Inanspruchnahme der zur Verfügung stehenden Leistungen zu wecken und auf diese Weise, den Versicherten zu einem größeren Verantwortungsempfinden bezüglich seines Gesundheitszustands im Sinne seiner Mitverantwortlichkeit nach § 1 Satz 2 SGB V zu führen. Neben der angestrebten Steuerungswirkung auf die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen spielt die mit der Kostenbeteiligung des Versicherten verbundene finanzielle Entlastung der Krankenkassen eine entscheidende Rolle. Mit welchen Instrumenten und in welchem Umfang die im SGB V vorgesehenen Leistungen und damit die rechtliche Verantwortung der gesetzlichen Krankenkassen beschränkt ist, welche Argumente für oder gegen eine Ausweitung der Kostenbeteiligung sprechen und inwieweit dem Gesetzgeber hierbei verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind, wird im Folgenden dargelegt. 1. Ausgestaltung im SGB V Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung297 grenzt in § 34 SGB V bestimmte Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, wie z. B. nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel oder verschreibungspflichtige Bagatellarzneimittel, pauschal von dem Leistungsanspruch298 auf die notwendige Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln aus.299 Zudem schließt das Leistungsrecht des SGB V in § 52 zumindest teilweise solche Gesundheitsrisiken aus, die sich der Versicherte vorsätzlich oder bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen hat, sowie die Gesundheitsrisiken, die sich infolge einer me294 Z. B. können Bonuszahlungen für die Inanspruchnahme spezifischer Präventionsmaßnahmen geleistet werden. Dabei ist jedoch nicht nur das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Recht auf Nichtwissen), sondern insbesondere auch die Patientenautonomie zu beachten, da medizinische Präventionsleistungen oftmals auch mit Gesundheitsrisiken verbunden sind. 295 Der Versicherte erhält einen Teil seiner Versichertenbeiträge zurück, wenn er in einer festgelegten Zeitspanne keine Versicherungsleistungen in Anspruch nimmt. 296 Zu den verschiedenen Arten von Selbstbehalttarifen siehe Pütz, Selbstbehalttarife für die gesetzliche Krankenversicherung, S. 62 ff. 297 Zur historischen Entwicklung des Leistungskatalogs bzw. der Kostenbeteiligung des Versicherten siehe die Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 1. 298 Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 in Verbindung mit §§ 31 bis 33 SGB V. 299 Darüber hinaus sind bspw. auch die Kosten des Brillengestells von der Versorgung mit Sehhilfen ausgeschlossen (§ 33 Abs. 2 Satz 4 SGB V). Weitere Leistungsausschlüsse sieht das SGB V in §§ 50 und 52a vor.

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dizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings ergeben.300 Bezogen auf bestimmte Leistungen sieht das SGB Veine Reihe von Zuzahlungen des Versicherten vor, die entweder als absolute Selbstbeteiligung oder als relative Selbstbeteiligung, die durch einen absoluten Zuzahlungsbetrag gedeckelt ist, ausgestaltet sind. Zuzahlungen im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung sind diejenigen Kostenbeteiligungen des Versicherten, die im SGB V als solche bezeichnet werden und die der Versicherte301 gemäß den jeweiligen Vorschriften in Verbindung mit § 61 SGB V zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Leistung direkt an den jeweiligen Leistungserbringer302 zahlen muss. Im Bereich der ambulanten Versorgung sind dies: Zuzahlungen bei (zahn)ärztlicher Behandlung,303, für Arznei- und Verbandmittel304, für Heilmittel305, für Hilfsmittel306, für häusliche Krankenpflege307, Soziotherapie308, für Haushaltshilfe309 und zu Fahrkosten310. Im Bereich stationärer Maßnahmen besteht eine Zahlungspflicht bei medizinischen

300 Diese ursachenbezogenen Leistungsausschlüsse werden in diesem Kapitel unter C. V. 1. sowie im 3. Teil, Kapitel 2 näher untersucht. 301 Kinder und Jugendliche sind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres generell – mit Ausnahme der Zuzahlung zu Fahrkosten – von Zuzahlungen befreit. 302 Zum Zahlungsweg siehe § 43b SGB V. 303 Die sogenannte Praxisgebühr ist gemäß § 28 Abs. 4 i. V. m. § 61 Satz 1 SGB V in Höhe von 10 Euro pro Kalendervierteljahr für jede erste Inanspruchnahme eines Arztes, Zahnarztes oder Psychotherapeuten zu zahlen. 304 Die Zuzahlung für Arznei- und Verbandmittel beträgt gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 61 Satz 1 SGB V 10 % des Abgabepreises, mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro, jedoch nicht mehr als die Kosten des Mittels. 305 Die Zuzahlung für Heilmittel (Krankengymnastik, Massagen, Ergotherapie..) beträgt gemäß § 32 Abs. 1 i. V. m. § 61 Satz 3 SGB V 10 % der Kosten zuzüglich 10 Euro je Verordnung. 306 Die Zuzahlung für Hilfsmittel ist gemäß § 33 Abs. 8 Satz 1 i. V. m. § 61 Satz 1 SGB V in Höhe von 10 % des Abgabepreises, mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro, jedoch nicht mehr als die Kosten des Mittels zu leisten. Zur Vermeidung einer Überforderung des Versicherten ist die Zuzahlung für zum Verbrauch bestimmte Hilfsmittel gemäß § 33 Abs. 8 Satz 1 SGB V auf maximal 10 Euro für den gesamten Monatsbedarf begrenzt. 307 Die Zuzahlung für häusliche Krankenpflege beträgt gemäß § 37 Abs. 5 i. V. m. § 61 Satz 3 SGB V 10 % der Kosten, begrenzt auf die ersten 28 Kalendertage der Leistungsinanspruchnahme je Kalenderjahr, sowie zusätzlich 10 Euro je Verordnung. 308 Die Zuzahlung zur Soziotherapie beträgt gemäß § 37a Abs. 3 i. V. m. § 61 Satz 1 SGB V 10 % der kalendertäglichen Kosten, jedoch mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro. 309 Die Zuzahlung zur Haushaltshilfe ist gemäß § 38 Abs. 5 i. V. m. § 61 Satz 1 SGB V in Höhe von 10 % der kalendertäglichen Kosten, jedoch mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro zu leisten. 310 Fahrkosten ergeben sich auch im Zusammenhang mit stationärer Behandlung. Die Zuzahlung beträgt gemäß § 60 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 61 Satz 1 SGB V pro Fahrt 10 % des Preises, mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro, jedoch nicht mehr als die Kosten der Fahrt.

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Vorsorgemaßnahmen311, bei Krankenhausbehandlungen312, bei medizinischer Rehabilitation313 und zur Anschlussrehabilitation314. Um eine finanzielle Überforderung des Versicherten zu vermeiden, sieht § 62 SGB V vor, dass Zuzahlungen innerhalb eines Kalenderjahres nur bis zur Belastungsgrenze in Höhe von 2 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt des jeweiligen Versicherten, bzw. 1 % bei chronisch erkrankten Versicherten315, zu leisten sind.316 Darüber hinaus tragen Versicherte einen finanziellen Eigenanteil bei kieferorthopädischer Behandlung, der, wenn die Behandlung in dem medizinisch erforderlichen Umfang abgeschlossen ist, von der Krankenkasse zurückerstattet wird.317 Bei zahnprothetischer Versorgung haben Versicherte einen Anspruch auf einen Festzuschuss, der sich erhöht, wenn eine regelmäßige Zahnpflege erkennbar ist und 311

Zuzahlungen zu stationären Vorsorgemaßnahmen sind gemäß § 23 Abs. 6 Satz 1 i. V. m. § 61 Satz 2 SGB V und § 24 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 61 Satz 2 SGB V in Höhe von 10 Euro je Kalendertag zu leisten. 312 Die Zuzahlung zur Krankenhausbehandlung beträgt gemäß § 39 Abs. 4 i. V. m. § 61 Satz 2 SGB V 10 Euro je Kalendertag für maximal 28 Tage je Kalenderjahr. 313 Gemäß § 40 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. § 61 Satz 2 SGB V beträgt die Zuzahlung für ambulante sowie stationäre medizinische Rehabilitation 10 Euro je Kalendertag. Dies gilt gemäß § 41 Abs. 3 i. V. m. § 61 Satz 2 SGB V ebenso für medizinische Rehabilitation für Mütter und Väter. 314 Die Zuzahlung zur Anschlussrehabilitation beträgt gemäß § 40 Abs. 6 Satz 1 i. V. m. § 61 Satz 2 SGB V 10 Euro je Kalendertag für maximal 28 Tage je Kalenderjahr. 315 Bei chronisch Kranken wird die Belastungsgrenze auf 1 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt reduziert, es sei denn – so die Regelung des § 62 Abs. 1 Satz 3 SGB V, der chronisch erkrankte Versicherte hat zuvor unter bestimmten Voraussetzungen Früherkennungsmaßnahmen nicht in Anspruch genommen. Der Gemeinsame Bundesausschuss, der hierzu gemäß § 62 Abs. 1 Satz 5 SGB V Näheres in Richtlinien festlegen soll, hat in seinem Beschluss vom 19. Juli 2007 entschieden, dass keine der bestehenden Früherkennungsuntersuchungen als verpflichtende Untersuchung festgesetzt und die gesetzlich vorgesehenen Untersuchungsobliegenheiten durch Beratungsobliegenheiten ersetzt werden. Der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses ist im Sinne der Patientenautonomie zu begrüßen, da mit der Durchführung von Früherkennungsmaßnahmen teilweise nicht unerhebliche Risiken verbunden sind, deren Eingehen der freien Entscheidung des Patienten überlassen sein muss. Darüber hinaus weist Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 209 ff., darauf hin, dass auch das Recht auf Nichtwissen des Patienten zu wahren sei. Kritisch zu Früherkennungsmaßnahmen, insbesondere deren tatsächlicher Kosteneinspareffekt, siehe Eberbach, MedR 2010, 756 (763 ff.); Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 (291); ders., JZ 2008, 859 (864); Maschewsky/Rosenbrock, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 37 ff.; Höfling, ZEFQ 2009, 286 (291). 316 Dass das Krankenversicherungsrecht für derartige Härtefallregelungen der richtige Ort sei, bezweifelt Hänlein, SGb 2003, 301 (309), da dann ein doppelter Sozialausgleich stattfinden würde. „Bei niedrigem Einkommen gibt es Krankenversicherungsschutz nicht nur zu niedrigeren Beiträgen, sondern auch zu besseren Konditionen“. 317 Gemäß § 29 Abs. 2 SGB V haben Versicherte bei einer nach Abs. 1 zu beanspruchenden, kieferorthopädischen Behandlung einen Anteil in Höhe von 20 % der Kosten an den Vertragsarzt zu leisten. Wurde die Behandlung in dem medizinisch erforderlichen Umfang abgeschlossen, hat der Versicherte gemäß § 29 Abs. 3 Satz 2 SGB V einen Anspruch auf Rückzahlung des geleisteten Eigenanteils gegen die Krankenkasse.

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eine regelmäßige zahnärztliche Kontrolle nachgewiesen wird, und/oder sie mit den anfallenden Kosten unzumutbar belastet würden.318 Zudem können die gesetzlichen Krankenkassen gemäß § 53 SGB V dynamische Selbstbeteiligungsformen in Wahltarifen einführen. Danach können z. B. Wahltarife angeboten werden, bei denen der Versicherte eine Prämienzahlung erhält, wenn er die von den Krankenkassen zu tragenden Kosten zumindest teilweise selbst finanziert (Selbstbehalt) oder wenn er die Krankenversicherungsleistungen ganzjährig nicht in Anspruch genommen hat oder um Leistungsbeschränkungen auszugleichen.319 2. Pro und contra einer Ausweitung der eigenverantwortlich zu tragenden Kosten Verbunden mit der Forderung320 nach einer stärkeren Gewichtung der Eigenverantwortung im Sinne eines höheren Kostenanteils des Versicherten ist oftmals die Erwartung eines sorgfältigeren Umgangs mit den Ressourcen und einer stärker nutzenorientierten Mittelverwendung im Gesundheitswesen. Dem liegt die An318 Gemäß § 55 Abs. 1 SGB V haben Versicherte einen Anspruch auf befundbezogene Festzuschüsse in Höhe von 50 % der jeweils festgesetzten, auf die Regelversorgung bezogenen Kosten. Dieser Festzuschuss erhöht sich um 20 bzw. 30 %, wenn der Behandlung eine regelmäßige Zahnpflege und -kontrolle vorausgegangen ist. Für den Fall einer finanziellen Überforderung des Versicherten sieht § 55 Abs. 2 SGB V eine Härtefallregelung vor. 319 Die hier im Zusammenhang mit einer möglichen Kostenbeteiligung des Versicherten genannten Wahltarife sind in § 53 Absätze 1, 2 und 7 SGB V vorgesehen. Darüber hinaus sieht § 53 SGB V weitere Sachverhalte vor, für die die Krankenkassen Wahltarife anbieten müssen oder können. Dabei sind grundsätzlich solche Wahltarife, bei denen eine fehlende bzw. geringere Inanspruchnahme von Leistungen durch Prämienzahlungen belohnt werden und solche, bei denen die Versicherten gegen zusätzliche Prämienzahlung den Leistungskatalog aufstocken können, zu unterscheiden. Der 113. Deutsche Ärztetag (2010) sprach sich für eine stärkere Erprobung von Selbstbehalttarifen sowie Wahltarifen für zusätzliche Versorgungsangebote zur Förderung der Eigenverantwortung der Versicherten aus; siehe Bundesärztekammer, Beschlussprotokoll des 113. Deutschen Ärztetages, S. 14. Ausführlich zu den verschiedenen Wahltarifen nach § 53 SGB V siehe Schlegel, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 11. 320 Merten, NZS 1996, 593 (597); Felder, Neue Konzepte für die Selbstbeteiligung in Deutschland, in: Vogel/Häßner, Selbstbeteiligung im deutschen Gesundheitswesen, S. 67 ff. Bahro/Kämpf/Strnad, Ethik in der Medizin 2001, 45 (58), plädieren für einen deutlich höheren Selbstbehalt bei der Erstattung von Kosten für Heilbehandlungen. Die CDU sprach sich anlässlich des Parteitages im Dezember 2001 in Dresden für eine Selbstbeteiligung des Versicherten auch bei unverzichtbaren, medizinisch notwendigen Leistungen im Sinne einer sparsameren Inanspruchnahme dieser Leistungen aus. Wesentliche Punkte des dort beschlossenen Reformvorschlags waren die Katalogisierung von Kernleistungen, die Ausweitung von Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Versicherten und Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Finanzierungsmodelle zusätzlicher Leistungen sowie eine umfassende Präventionsstrategie. Die Beschlussfassung ist dargelegt bei Fink, Gesundheitsreform 2003, S. 49 ff., 62, Fink stellt die Arbeitsergebnisse der 1999 eingesetzten und von ihm geleiteten Kommission Humane Dienste der CDU, auf die die CDU-Beschlüsse inhaltlich zurückgehen, vor. Weitere Nachweise zu Beiträgen der Befürworter einer höheren Kostenbeteiligung in: Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 24 ff.

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nahme zugrunde, dass der Einzelne, der die finanziellen Konsequenzen seiner Entscheidung zumindest teilweise selbst zu tragen hat, erheblich vorsichtiger den zu erwartenden Nutzen und den entstehenden Kostenaufwand abwägt. Die finanzielle Selbstbeteiligung des Krankenversicherten wirke daher dem Phänomen des moral hazard321 entgegen.322 Je höher der vom Versicherten zu tragende, unversicherte Anteil der Gesundheitsleistungen, desto stärker sei sein Verantwortungsgefühl hinsichtlich seines Gesundheitszustands und desto größer sei für ihn der Anreiz, Versicherungsfälle zu verhindern. Die Selbstbeteiligung der gesetzlich Krankenversicherten wird somit als probates Mittel anerkannt, um die Versicherten zu einem stärkeren Gesundheitsbewusstsein sowie zu einer veränderten Gesundheits- bzw. Krankheitseinstellung und in der Folge zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten zu führen. Vor diesem Hintergrund plädieren Donges u. a. aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht für eine breitere und intelligenter ausgestaltete Selbstbeteiligung der Versicherten an den Gesundheitsausgaben, die sich dadurch auszeichne, dass sie im niedersten Bereich möglicher Gesundheitsausgaben sehr weit reicht und selbst im Bereich höherer Gesundheitsausgaben noch fühlbar wird und nur in Fällen höchster Belastung auf Null sinkt.323 Selbstbeteiligung habe dabei nicht nur den Zweck, die Versicherten dazu zu bewegen, bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen deren Kosten zu bedenken, sie solle vielmehr auch dazu anregen, kostengünstigere Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente herauszufinden und zu nutzen.324 Dass Selbstbeteiligung nicht nur Wirtschaftlichkeitsanreize setze, sondern zudem die Konsumentensouveränität der Versicherten stärke, vertritt auch Steindl und meint, Selbstbeteiligung wirke damit einer durch Ärzte angebotsinduzierten325 Nachfrage entgegen.326 321 Moral hazard bzw. das moralische Risiko bezeichnet das risikoerhöhende Verhalten von Versicherten, das in dem Bewusstsein des eintretenden Versicherungsschutzes wurzelt. Siehe Erläuterungen hierzu in diesem Teil, Kapitel 1, C. II. 2. 322 Merten, NZS 1996, 593 (597); Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 46 f.; Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 150; Steindl, Der Preis der Solidarität, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 79 f. So auch Vogel, in: Vogel/Häßner, Selbstbeteiligung im deutschen Gesundheitswesen, S. 1, der mit dieser Feststellung ein Symposium der internationalen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie e. V. im März 1999 einleitet. 323 Donges u. a., Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, S. 84 ff., 116. Donges u. a. haben sich im sogenannten Kronberger Kreis zusammengeschlossen und schlagen in ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Studie eine vom versicherungswirtschaftlichen Ordnungsgedanken getragene Reform des Gesundheitswesens vor. 324 Donges u. a., Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, S. 88. 325 Die Bezeichnung einer angebotsinduzierten Nachfrage bei Gesundheitsleistungen impliziert jedoch, dass eine über das ärztliche Angebotsinteresse hinausgehende medizinische Indikation nicht gegeben ist. Dies unterstellt jedoch ein Gewinnstreben der Ärzte, das mit dem ärztlichen Berufsethos nicht vereinbar ist. Dass sich die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen aber zumindest als anbieterdeterminiert bezeichnen lässt, bestätigen Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomie, S. 309 ff., 324, und sehen dies in dem erheblichen Wissensvorsprung des Arztes gegenüber dem Patienten begründet.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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Kritiker327 bezweifeln diese positiven Effekte der Selbstbeteiligung weitgehend, zumindest aber sehen sie ihnen wesentlich überwiegende, teilweise inakzeptable Nachteile gegenüber stehen. Das versicherungstypische Phänomen des moral hazard, das voraussetzt, dass der Versicherte zumindest in gewissem Umfang Einfluss auf das Eintreten, den Umfang und/oder Verlauf des Versicherungsfalls nehmen können muss,328 sei im Rahmen einer Krankenversicherung nur sehr gering ausgeprägt.329 Die Mehrzahl behandlungsbedürftiger Leistungsfälle bei Krankheit sei „individuell so unvorhersehbar wie steuerbar“; der Versicherte habe keinen oder nur einen geringen Einfluss auf seine gesundheitlichen Determinanten.330 Bei chronischen und schweren Erkrankungen oder risikoreichen Operationen sei ein moralisches Risiko ohnehin nicht gegeben, allenfalls bei Bagatellerkrankungen, aber auch hier sei die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in der Regel mit Unannehmlichkeiten verbunden.331 In den seltensten Fällen stelle die nachträgliche Wiederherstellung der Gesundheit eine gleichwertige Alternative zum primären Gesundheitszustand dar.332 Selbstbeteiligung habe daher keinen dauerhaft wirkenden Steuerungseffekt auf die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, sondern diene lediglich der Einnahmenverschaffung.333 Zudem wird bezweifelt, dass die finanzielle Selbstbeteiligung eine positive Auswirkung auf das gesundheitsrelevante Verhalten habe, da dies bislang empirisch nicht nachgewiesen werden konnte.334 Vielmehr spräche der „Wissensbestand über die Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten“ dagegen; es deute nichts darauf hin, dass gesundheitsschädliche Lebens326 Steindl, Der Preis der Solidarität, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 79. 327 Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 108 ff., 202 f.; Götze/Salomon, ZSR 2009, 71 (75 ff.); Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 15; Ziniel, Finanzielle Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 61 ff.; Flemmich, Selbstbehalte im Gesundheitswesen, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 114; Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (15 ff.); Mielck, Ethik in der Medizin 2010, 235 (240 ff.); Holst/Laaser, Deutsches Ärzteblatt 2003, A3358 (A3359 ff.) m. w. N. 328 Vgl. in diesem Teil, Kapitel 1, C. II. 2. 329 Schulin, VSSR 1997, 43 (52); Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (604); Mielck, Ethik in der Medizin 2010, 235 (241) m. w. N. 330 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 2 f. Siehe auch Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 109; Holst/Laaser, Deutsches Ärzteblatt 2003, A3358 (A3361). 331 Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 109 f. m. w. N. 332 Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (15 ff.). 333 Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 15. Eine nur geringe Steuerungswirkung der Selbstbeteiligung des Versicherten stellt auch Meggeneder, Selbstbehalte und ihre Wirkung, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 128 f., fest, der aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht auf der Grundlage verschiedener Studien die potenzielle Steuerungswirkung von Selbstbehalten untersucht. 334 Götze/Salomon, ZSR 2009, 71 (73 ff.); Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 15; Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 175.

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gewohnheiten aus finanziellen Motiven aufgegeben werden.335 Auch könne der Patient in vielen Fällen überhaupt keine souveräne Konsumentscheidung treffen, da die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch das Krankheitsbild bestimmt sei und der Arzt auf der Grundlage seiner Fachkenntnisse über die Art und den Umfang der angebrachten bzw. medizinisch indizierten Behandlungsmaßnahmen entscheide.336 Angesichts des erheblichen Wissensvorsprungs des Arztes gegenüber seinem Patienten könne der Patient selbst den Nutzen von Gesundheitsleistungen kaum einschätzen.337 Gegen die Kostenbeteiligung des Versicherten werden Selektions- bzw. negative Steuerungseffekte eingewandt. Eine finanzielle Beteiligung an Krankenbehandlungskosten führe dazu, dass medizinisch sinnvolle oder gar notwendige Leistungen unterlassen oder zu spät in Anspruch genommen würden und dies aufgrund gesundheitlicher Folgeschäden das Versicherungssystem indirekt belaste.338 Diese Selektionswirkung betreffe vor allem sozial schwache Bevölkerungsschichten, wodurch die ohnehin festzustellende Ungleichverteilung von Gesundheitsrisiken

335 Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 109. Vgl. auch Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 72 f. 336 Ziniel, Finanzielle Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 62, 67, sieht vor diesem Hintergrund die Wirksamkeit von generellen Selbstbehalten als nachfrageorientiertes Steuerungsinstrument der Kostendämpfung infrage gestellt. Siehe auch Meggeneder, Selbstbehalte und ihre Wirkung, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 130; Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 15. 337 Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (15 ff.); Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomie, S. 309 ff., 324, Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 158 f., fragt vor diesem Hintergrund nach der Notwendigkeit einer Selbstbeteiligung der Ärzte. 338 Diesen Schluss zieht ein Bericht des Health Evidence Network (HEN), des europäischen Büros der World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation – WHO), aus dem Jahr 2004, der wichtige aktuelle Ergebnisse internationaler Untersuchungen über die Auswirkungen von Privatversicherungssystemen und privater Beiträge zu den Gesundheitsausgaben im Sinne von cost-sharing zusammenfasst; siehe WHO Regional Office for Europe’s Health Evidence Network, What are the Equity, Efficiency, Cost Containment and Choice Implications of private Health-Care Funding in Western Europe?, S. 25 f. Vgl. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (ehemals Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen), Sachstandsbericht 1994, Rn. 612 ff.; Ziniel, Finanzielle Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 61, 67; Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 15; Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (9 f.); Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 110; Die Deutschen Bischöfe, Solidarität braucht Eigenverantwortung, S. 16, 23. Auch im Rahmen des Eigenverantwortungs-Projekts (vgl. Fn. 219 in diesem Teil) wird vor der Gefahr, dass Selektionseffekte bei Einführung neuer Selbstbeteiligungsregelungen unzureichend beachtet werden, gewarnt; Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 58.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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zuungunsten benachteiligter Gruppen, wie z. B. ältere und ärmere Versicherte noch verschärft würde.339 Schachenhofer, die in ihrer sozialwissenschaftlichen Arbeit verschiedene Selbstbeteiligungsformen, deren Ziele und Auswirkungen, Wirksamkeitsvoraussetzungen sowie empirische Untersuchungen zur Evaluierung der verschiedenen Behauptungen aufzeigt und diskutiert, hält das Instrument der Selbstbeteiligung für grundsätzlich geeignet, die Inanspruchnahme von weniger notwendigen Gesundheitsleistungen einzudämmen. Angesichts der Konzentration eines hohen Anteils der Gesundheitskosten bei einer geringen Anzahl von erkrankten Versicherten könne, so Schachenhofer, eine Selbstbeteiligung jedoch nicht wirklich effektiv und sozialverträglich gestaltet werden.340 Zur Aufhebung dieses Zielkonflikts schlagen Götze und Salomon eine sogenannte Fair Fee als einkommens- und morbiditätsadjustierte Zuzahlungsform vor, die erkrankten Versicherten ihrer Belastungsfähigkeit angepasste Anreize zur zweckmäßigen Inanspruchnahme medizinischer Leistungen gebe.341 Ebenfalls aus sozialwissenschaftlicher Sicht untersucht Rau die Selbstbeteiligungsregelungen im Gesundheitswesen umfassend auf der Grundlage einschlägiger nationaler und internationaler Studien342 und kommt gleichermaßen zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Kostendämpfungspolitik mithilfe von Selbstbeteiligungen zwar grundsätzlich möglich sei, das Ausmaß der realisierbaren Einsparungen jedoch angesichts der Konzentration der Gesundheitsausgaben auf einen relativ kleinen Personenkreis nicht überschätzt werden dürfe.343 Festzuhalten ist, dass die tatsächlichen Auswirkungen der Kostenbeteiligung des Krankenversicherten umstritten sind und sowohl Befürworter der Selbstbeteiligung als auch Kritiker plausibel erscheinende Gründe aufzeigen können, die ihre Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit nahe legen. Die in meist internationalen Studien

339 Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 108, 110, 202 f.; Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 15; Götze/Salomon, ZSR 2009, 71 (86 f.); Ziniel, Finanzielle Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 61, 67. Flemmich, Selbstbehalte im Gesundheitswesen, in: Grillberger/Pichler, Selbstbehalte in der gesetzlichen Krankenversicherung aus ökonomischer und rechtlicher Sicht, S. 114, befürchtet negative Auswirkungen einer Selbstbeteiligung auf den Gesundheitszustand von insbesondere älteren Menschen. 340 Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 224. 341 Götze/Salomon, ZSR 2009, 71 (86 f.). Angesichts des zur Umsetzung dieses Vorschlags erforderlichen Aufwands wären jedoch die Finanzierungswirkungen eines solchen Vorhabens kritisch zu prüfen. 342 Zu nennen ist hier insbesondere das in der Zeit von 1974 bis 1977 mit finanzieller Unterstützung der US-Regierung von der RAND Coporation, Santa Monica, in vier verschiedenen Staaten der USA durchgeführte Health Insurance Experiment. Manning u. a., Health Insurance and the Demand for Medical Care, S. 251 ff., sowie Newhouse, in: Steuerung im Gesundheitswesen, S. 123 ff., fassen die Resultate dieses Experiments zusammen. 343 Rau, Selbstbeteiligungsregelungen im Gesundheitswesen, S. 110.

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2. Teil: Eigenverantwortung

festgestellten Wirkungen von Selbstbeteiligungsinstrumenten344 sind stark abhängig von der Gestaltung der wettbewerblichen Rahmenbedingungen; oftmals werde „erwartet, dass eine effiziente Wirkung von Instrumenten zur Risikobeteiligung der Versicherten vermutlich nur dann erreicht werden kann, wenn zum einen für Versicherte eine ausreichende Markttransparenz gegeben ist und wenn zum anderen für sie faktische Wahlmöglichkeiten bzgl. unterschiedlicher Preis- und Qualitätsangebote gegeben sind“.345 Im Zuge des bereits im Jahr 2003 abgeschlossenen Eigenverantwortungs-Projekts wurde im Ergebnis mehr Eigenverantwortung im Sinne der Übernahme von größeren Lasten durch den Versicherten als sinnvoll eingeschätzt, sofern vulnerable Bevölkerungsgruppen wie chronisch Kranke und sozial Schwache durch Ausnahmeregelungen vor Nachteilen geschützt würden.346 Inwieweit dieses Votum, angesichts der in der Zwischenzeit erfolgten Neugestaltung der Kostenbeteiligung des gesetzlich Krankenversicherten,347 auch heute noch vertreten würde, ist unklar. Bei der Austarierung des Verhältnisses des Leistungsumfangs in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Eigenverantwortung des Versicherten handelt es sich – insbesondere in Anbetracht der im Folgenden aufgezeigten geringen rechtswissenschaftlichen Vorgaben – in erster Linie um eine gesundheits- bzw. sozialpolitische Frage, die sich als solche hier einer weiteren Betrachtung entzieht. Soll sich diese der rechtlichen Verantwortung der Krankenkasse gegenüber stehende Eigenverantwortung des Versicherten positiv auf das Verantwortungsempfinden des Versicherten bezüglich seines Gesundheitszustands im Sinne solidarverträglichen Verhaltens bzw. seiner Mitverantwortlichkeit nach § 1 Satz 2 SGB V auswirken, scheint es jedoch unerlässlich, dass der Versicherte auch tatsächlich die Möglichkeit sieht, durch sein Verhalten Einfluss auf die Entstehung der Kosten nehmen zu können. 3. Verfassungsrechtliche Grenzen Konkrete rechtswissenschaftliche Vorgaben zum Umfang der Eigenverantwortung des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V, der sich durch den krankenversicherungsrechtlich vorgesehenen Leistungsumfang bestimmt, lassen

344 Eine umfassende Zusammenstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirkung der Selbstbeteiligungsformen auf die Inanspruchnahme, auf den Gesundheitszustand und auf die Verteilungsgerechtigkeit sowie zum Wahlverhalten der Versicherten bietet Sehlen im Rahmen des Eigenverantwortungs-Projekts in Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 28 ff., 36 ff., 45 ff. 345 Dies stellt Sehlen im Zuge einer umfassenden Recherche internationaler, wissenschaftlicher Erkenntnisse fest; vgl. Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 28. 346 Bertelsmann Stiftung, Eigenverantwortung, S. 143 ff.; vgl. auch Fn. 219 in diesem Teil. 347 Wesentliche Neugestaltung der Kostenbeteiligung des Versicherten erfolgte durch das GMG vom 12. 11. 2003, BGBl. I S. 2190; vgl. Erläuterungen im 1. Teil, Kapitel 1. Eine detaillierte Übersicht der mit dem GMG eingeführten Zuzahlungen findet sich auch bei Holst/ Laaser, Deutsches Ärzteblatt 2003, A3358 (A3360).

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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sich kaum ausmachen.348 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Grundgesetz weder eine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystem noch seiner tragenden Ordnungsprinzipien oder gar bestimmter Versicherungsleistungen zu entnehmen.349 Der Gesetzgeber habe lediglich dafür Sorge zu tragen, dass jeder gegen das Risiko der Krankheit insoweit abgesichert ist, als er sich nicht selbst helfen kann.350 Dem Bundesverfassungsgericht zufolge darf der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung „auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein“.351 Die gesetzlichen Krankenkassen seien nach der Verfassung nicht dazu verpflichtet, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist.352 Der Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Gestaltungsspielraum, insbesondere bezüglich Regelungen, die dazu dienen sollen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen.353 Dem Gesetzgeber – so das Bundesverfassungsgericht – sei es „im 348 So bspw. auch Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (30) und Hauck, in: 1. Deutscher Sozialgerichtstag, 33 (39, 42), der anlässlich des ersten Deutschen Sozialgerichtstages im November 2006 feststellt, dass „soweit der erforderliche Vertrauensschutz für Übergangsregelungen Beachtung findet“, „der Gesetzgeber in Würdigung seiner dargelegten verfassungs- und europarechtlichen Gestaltungsgrenzen so weite Spielräume“ habe, „dass sie jedenfalls von der aktuellen politischen Diskussion bei weitem nicht ausgeschöpft sind“. 349 BVerfGE 18, 257 (267); 29, 221 (236); 39, 302 (314 f.); 77, 340 (344); 113, 167 (219). Vgl. auch Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (342 ff.); Pitschas, VSSR 1998, 253 (260); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 16. Merten, NZS 1996, 593 (595), weist zudem darauf hin, dass sich lediglich aus der Bundesstaatlichkeit und der verfassungsrechtlichen Einteilung der Gesetzgebungskompetenzen eine mittelbare oder faktische Garantie des Sozialversicherungssystems ergebe. Die Gesetzgebungskompetenz, nach der bspw. eine rein steuerfinanzierte Vorsorge für den Krankheitsfall verwehrt sei, grenze den Gestaltungsspielraum des Bundesgesetzgebers ein. Da eine übereinstimmende landesgesetzliche Regelung der Sozialversicherung nur theoretisch möglich erscheine, sei die Krankenversicherung in ihren Grundelementen faktisch garantiert. 350 BVerfGE 10, 354 (363). Der Schutz in Fällen von Krankheit als ein Wechselfall des Lebens sei ein besonders prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips und damit eine der Grundaufgaben des Staates; vgl. BVerfGE 28, 324 (348); 68, 193 (209); 75, 348 (359). 351 BVerfGE 115, 25 (46) mit Verweis auf BVerfGE 68, 193 (218: „Die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine Gemeinwohlaufgabe, welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte. Ihr dient die Kostendämpfung im Gesundheitswesen.“) und BVerfGE 70, 1 (26, 30: „Die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ist, wie gezeigt, ein Gemeinwohlbelang von derart hoher Bedeutung, daß Maßnahmen, die ihr zu dienen bestimmt sind, auch dann gerechtfertigt sein können, wenn sie für die Betroffenen zu fühlbaren Einschränkungen führen.“). Zum Grundsatz der finanziellen Stabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung siehe grundlegend Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung; ders., in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 16 Rn. 2 ff. 352 BVerfGE 115, 25 (46); Vießmann, VSSR 2010, 105 (138). 353 BVerfGE 10, 354 (370 f.); 29, 221 (235); 44, 70 (89); 53, 313 (326); 113, 167 (215); Sodan, NZS 2003, 393 (396); Prehn, NZS 2010, 260 (265); Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 253.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Rahmen seines Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann“.354 Dementsprechend besteht keine feststehende Verantwortlichkeitsteilung zwischen dem Versicherten und der gesetzlichen Krankenkasse. Die Ausweitung der Kostenbeteiligung des Versicherten bzw. die Rücknahme der rechtlichen Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse zugunsten einer höheren Eigenverantwortung des Versicherten ist zumindest dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Kostenbeteiligung durch Härtefallregelungen und Überforderungsklauseln sozial abgemildert ist.355 In Anbetracht des für die Sozialversicherung typischen Charakters einer Zwangsversicherung und dem damit verbundenen Eingriff in grundrechtlich geschützte Freiheiten356 des Versicherten weisen Brockmann und Ullrich darauf hin, dass Regelungen zur Kostenbeteiligung des Versicherten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren müssten und meinen, die verfassungsrechtliche Grenze der Ausweitung der Kostenbeteiligung bei pflichtversicherten Mitgliedern sei erreicht, „wenn der unter protektiven Gesichtspunkten erzwungene Eintritt in die Solidargemeinschaft aufgrund der Zuzahlungen nicht zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Absicherung bei Krankheiten führt“.357 Zudem stünden erhebliche Zuzahlungsausweitungen im Widerspruch zum Solidarprinzip.358 Das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip vermittelt – wie gezeigt359 – einen sozialen Ausgleich zwischen den Versicherten, indem es die Bemessung der Beiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten unabhängig von seiner individuellen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und eine bedarfsgerechte Leistungsgewährung vorsieht. Von dem sozialen Ausgleich ist die versicherungsimmanente Umverteilung abzugrenzen, die bei jeder Krankenversicherung zwischen den gesunden und den erkrankten Versicherten stattfindet. Bei einer Ausweitung von Zuzahlungen bzw. der Koppelung von Kostentragung an den persönlichen Gesundheitszustand würde die finanzielle Umverteilung zwischen den erkrankten und den gesunden Versicherten geschwächt. Betroffen ist neben dem Solidarprinzip auch die dem Versicherungsprinzip geschuldete, gegenseitige Verknüpfung von Beitragspflichten und Leistungsberechtigungen. Sowohl Versicherungs- als auch Solidarprinzip können jedoch als Rechtsprinzipien des einfachen Sozialversicherungsrechts 354

BVerfGE 115, 25 (46) mit Verweis auf BVerfGE 70, 1 (30). Siehe auch Vießmann, VSSR 2010, 105 (138). 355 Hänlein, SGb 2003, 301 (309); Merten, NZS 1996, 593 (598); Pitschas, VSSR 1998, 253 (259 f.). 356 Betroffen ist hier zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. hierzu Sodan, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 101 ff. 357 Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (348 ff., 357). 358 Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (354). So z. B. auch Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (21); Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 108. 359 Siehe Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, speziell zur Abgrenzung des sozialen Ausgleichs von der versicherungsimmanenten Umverteilung siehe dort unter A. III.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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keine verbindlichen Vorgaben für die konkrete Ausgestaltung des Leistungsumfangs setzen. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht können keine klaren Vorgaben zur Austarierung der Eigenverantwortung des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V im Verhältnis zur Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse aufgezeigt werden. Die Ausweitung der Kostenbeteiligung des Versicherten bzw. die Rücknahme der rechtlichen Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse zugunsten einer höheren Eigenverantwortung des Versicherten ist, sofern sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt, verfassungsrechtlich zulässig. V. Berücksichtigung der individuellen Lebensführung des Versicherten Zweifelsohne beeinflusst die persönliche Lebensführung des Krankenversicherten seinen Gesundheitszustand und damit seine Inanspruchnahme krankenversicherungsrechtlicher Leistungen. Inwieweit diese im Zuge der Mitverantwortlichkeit nach § 1 Satz 2 SGB V, also seiner im Rahmen der Fremdverantwortung des Krankenversicherungsträgers durch den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens modifizierten Eigenverantwortung berücksichtigt wird oder werden sollte, ist im Folgenden untersucht. Gemäß § 31 SGB I bedarf es zur Berücksichtigung solidarwidrigen Verhaltens des Versicherten einer gesetzlichen Regelung, nach der die Folgen dieses Verhaltens aus der rechtlichen Verantwortung des Krankenversicherungsträgers ausgenommen und der insoweit wieder voll auflebenden Eigenverantwortung des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V überlassen sind. Ursachenbezogenen Leistungsausschlüsse bzw. -beschränkungen sieht das SGB V in § 52 vor. Gemäß § 52 Abs. 1 SGB V kann die Krankenkasse diejenigen Versicherten an den Kosten der krankenversicherungsrechtlichen Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer der Erkrankung versagen oder zurückfordern, wenn sich der Versicherte die Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen hat. Gemäß § 52 Abs. 2 SGB V, der im dritten Teil, Kapitel 2 dieser Arbeit gesondert untersucht wird, unterliegen auch solche Gesundheitsrisiken einem Leistungsausschluss, die sich infolge einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings ergeben. 1. Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 1 SGB V Die Vorschrift des § 52 Abs. 1 SGB V qualifiziert ein bestimmtes Verhalten des gesetzlich Krankenversicherten als solidarwidrig.360 Dabei handelt es sich nicht um 360 So bspw. auch Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 4, 10. Zur Normhistorie des § 52 Abs. 1 SGB V siehe 1. Teil, Kapitel 1.

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2. Teil: Eigenverantwortung

eine Obliegenheit, sondern um eine Risikobegrenzung als subjektive sekundäre Risikobeschreibung, die aufgrund der Bewertung des Versichertenverhaltens ein an sich versichertes Ereignis vom Versicherungsschutz ausnimmt.361 Mit dieser Vorschrift werde „dem Solidarprinzip eine Grenze gezogen und die praktische Konkordanz zum Grundsatz der Eigenverantwortung (…) hergestellt“, schreibt Heberlein.362 Dalichau meint, „mit § 52 SGB V wird der Grundsatz der Eigenverantwortung der Versicherten konkretisiert“.363 Wie gezeigt konkretisiert § 52 Abs. 1 SGB V die Eigenverantwortung bzw. Mitverantwortlichkeit nach § 1 Satz 2 SGB V und damit den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens. Die Regelung muss wegen ihres Ausnahmecharakters eng ausgelegt werden; das bedeutet, dass sie bezüglich Leistungen, die nicht im fünften Abschnitt des dritten Kapitels des SGB V geregelt sind, nicht analog angewandt werden kann und ihre Voraussetzungen nicht extensiv ausgelegt werden dürfen.364 Die erste Alternative des § 52 Abs. 1 SGB V setzt voraus, dass sich ein Versicherter seine Erkrankung durch eigenes, zurechenbares Handeln vorsätzlich zugezogen hat.365 Erforderlich ist die bewusste Zufügung eines körperlichen oder seelischen Schadens, wobei sich der Versicherte Art und Ausmaß der Erkrankung nicht konkret vorgestellt haben, sondern lediglich der schädigenden Wirkung seiner Handlung im Allgemeinen bewusst gewesen sein muss.366 Der Versicherte muss 361 Siehe Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (597); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 363; Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 83 f. Zur Dogmatik der Instrumente zur Konkretisierung und Begrenzung des versicherten Risikos siehe Fn. 129 in diesem Teil. Nach herrschender Ansicht ist auch die privatversicherungsrechtliche Leistungsbegrenzung bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherten nach § 81 VVG als Risikobegrenzung einzuordnen; siehe hierzu im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 2., Fn. 130. 362 Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 1. 363 Dalichau, SGB V, § 52 I. 1. 364 Mihm, NZS 1995, 7 (8); dies., SpuRt 1995, 18 (20); Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 3; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 8; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 23; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 5. 365 Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 5; Schmidt, in: Peters, Handbuch KV, § 52 Rn. 26; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 15. Dabei wird unter Hinweis auf den strafrechtlichen Handlungsbegriff oder auf die Mitwirkungspflicht nach § 63 SGB I nicht nur aktives Tun, sondern auch Unterlassen als ausreichend angesehen. Anderer Ansicht ist insoweit Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 139, 160 ff., der parallel zu § 103 SGB VI und mangels einer Garantenpflicht bzw. einer Pflicht zum Tätigwerden des Krankenversicherten die Herbeiführung der Krankheit durch Unterlassen nicht unter den Anwendungsbereich des § 52 Abs. 1 SGB V fasst. Vor dem Hintergrund des eher theoretischen Sonderfalls einer durch eigenes, zurechenbares Unterlassen vorsätzlich herbeigeführten Krankheit ist eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Problematik hier nicht angezeigt. 366 Marburger, DOK 1990, 571 (571); Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 46; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 3; Dalichau, SGB V, § 52 II. 1. Bezogen auf die Vorgängervorschrift des § 192 RVO war Geschwinder, ZfS 1981, 101 (101)

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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seine Krankheit nicht nur wissentlich, sondern auch willentlich herbeigeführt haben. Erfasst ist jede Art vorsätzlichen Handelns, vom bedingten Vorsatz bis zur Absicht.367 Ausreichend ist somit, dass der Versicherte den Eintritt der Krankheit, mag er sie auch nicht gewünscht haben, zumindest billigend in Kauf genommen hat.368 Dies ist abzugrenzen von einem grob fahrlässigen Verhalten, bei dem der Versicherte zwar die Möglichkeit einer Erkrankung aufgrund seines gesundheitsgefährdenden Verhaltens erkennt, aber darauf vertraut, dass diese nicht eintreten werde. Ist dem Versicherten lediglich grob fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen, kommt eine Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 1 SGB V nicht in Betracht.369 Als weitere Voraussetzung der Regelung muss zwischen dem Versichertenverhalten und der Erkrankung ein ursächlicher Zusammenhang bestehen.370 Wie auch sonst im Sozial (versicherungs)recht ist dieser Kausalzusammenhang bei mehreren Ursachen der

anderer Ansicht: Der Vorsatz brauche sich nicht auf die Krankheit zu erstrecken; lediglich die eigene Körperverletzungs- bzw. Schädigungshandlung müsse vorsätzlich erfolgen. In einem solchen Fall würde der Versicherte seine Erkrankung aber nicht vorsätzlich, sondern bloß fahrlässig herbeiführen. 367 BSGE 61, 117 (119); Rompf, SGb 1997, 105 (105); Brocke, SGb 1990, 437 (438); Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 43 ff.; Waltermann, in: Kreikebohm/Spell-brink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 2; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 5a, 8 f. Vor dem Hintergrund einer mangelnden Differenzierung zwischen dem Vorsatzgegenstand und der Vorsatzart vertritt Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 86 ff., 116, die Ansicht, dass ein bedingter Vorsatz nicht ausreiche und formuliert als eine eigene Definition des Vorsatzes im Sinne des § 52 Abs. 1, 1. Alt. SGB V „eine direkt vorsätzliche innere Einstellung des Versicherten“. Erst derjenige, der einen Krankheitseintritt als End- oder notwendiges Zwischenziel seiner Handlung erkennt, müsse mit einer Kostenbeteiligung rechnen, da seine innere Einstellung auf einen Missbrauch der kollektiven Ordnungskonzeption abziele; vgl. Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 114. 368 Der bedingte Vorsatz liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor, wenn der Betreffende den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in einer Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Ziels willen mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt unerwünscht sein; vgl. BGHSt 7, 363 (369); 36, 1 (9). 369 Künnell, Die Leistungen 1991, 41 (42); Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPKSGB V, § 52 Rn. 45; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 5a, 9; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 2; Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 10. Anderes gilt nach der komplementären arbeitsrechtlichen Vorschrift in § 3 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz, nach der der grundsätzlich bestehende Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Dauer einer Arbeitsunfähigkeit von maximal sechs Wochen auch bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung der Erkrankung ausgeschlossen ist; vgl. Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 136 m. w. N. 370 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 39, 41; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 4; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 2.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Erkrankung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen.371 Ausgehend von der Bedingungstheorie im Sinne des conditio-sine-qua-non, nach der jedes Ereignis Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, ist eine Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung kausal bzw. zurechenbar, wenn sie wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat.372 Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, ist aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum eingetretenen Erfolg bzw. dem Gesundheitsschaden abzuleiten.373 § 52 Abs. 1 SGB V greift somit nicht ein, wenn die Erkrankung des Versicherten ganz oder überwiegend durch andere Umstände hervorgerufen worden ist. Das vorsätzliche Handeln des Versicherten muss zwar nicht die alleinige, aber eine wesentliche (Mit-)Ursache für die Erkrankung gewesen sein. Alternativ setzt § 52 Abs. 1 SGB V voraus, dass sich ein Versicherter seine Erkrankung bei einem von ihm begangenen Verbrechen374 oder vorsätzlichen Vergehen375 zugezogen hat. Der Vorsatz des Versicherten muss sich hier, anders als bei der ersten Alternative des § 52 Abs. 1 SGB V, nicht auf die Herbeiführung der Krankheit, sondern nur auf die Begehung der Straftat beziehen.376 Die Straftat muss rechtswidrig und schuldhaft begangen worden sein,377 wobei eine Beteiligung des 371 Schmidt, in: Peters, Handbuch KV, § 52 Rn. 26; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 4; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 41; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 16; Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 79; Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 8 f. Zur Anwendbarkeit der Theorie der wesentlichen Bedingung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung siehe bspw. auch BSGE 33, 202 (204); 63, 277 (278). 372 BSGE 96, 196 (199); 94, 269 (272) jeweils m. w. N. Die Theorie der wesentlichen Bedingung wurde von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung entwickelt, um den Sozialversicherungsschutz nicht durch Nebenursachen oder Gelegenheitsursachen auszuschließen; vgl. Muckel/Ogorek, Sozialrecht, § 10 Rn. 38 ff.; Schmitt, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 16 Rn. 126. 373 Ausführlich hierzu BSGE 96, 196 (199 f.) m. w. N. 374 Verbrechen sind gemäß § 12 Abs. 1 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder länger bedroht sind. Ein Verbrechen ist immer eine vorsätzlich begangene Straftat. 375 Vergehen sind gemäß § 12 Abs. 2 StGB rechtswidrige Taten, die mit einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind. 376 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 53; Noftz, in: Hauck/ Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 24; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 3; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 3. 377 Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 11; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/ Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 3; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 7; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 5; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 3; Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 120 ff.; anderer Ansicht ist Marburger, DOK 1990, 571 (572: Schuldausschließungsgründe seien lediglich bei der Ermessensausübung nach § 52 Abs. 1 SGB V zu berücksichtigen).

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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Versicherten als Anstifter oder Gehilfe ausreicht.378 Ein strafgerichtliches Urteil ist nicht erforderlich; vielmehr hat die gesetzliche Krankenkasse ein eigenständiges Prüf- und Beurteilungsrecht, das aber eine Tatbestandswirkung eines strafgerichtlichen Urteils für die Entscheidung nach § 52 Abs. 1 SGB V nicht ausschließt.379 Im Unterschied zur ersten Alternative des § 52 Abs. 1 SGB V muss sich der Versicherte die Gesundheitsschädigung nicht selbst zugefügt haben,380 vorausgesetzt ist aber auch hier ein ursächlicher Zusammenhang nach Maßgabe der Theorie der wesentlichen Bedingung zwischen der Straftat und der eingetretenen Gesundheitsschädigung.381 Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang die Versicherten an den Kosten der Leistungen beteiligt werden oder die Gewährung von Krankengeld versagt wird, überlässt § 52 Abs. 1 SGB V dem Ermessen der gesetzlichen Krankenkassen. Dem Gesetzestext zufolge kann die Krankenkasse die Versicherten „an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit versagen und zurückfordern“. Die Krankenkasse kann entweder beide oder auch nur eine der beiden Leistungsbeschränkungen verfügen; eine vollständige Versagung der Krankenbehandlungsleistung ist nach überwiegender Ansicht jedoch nicht zulässig.382 Ihr Ermessen muss die Krankenkasse gemäß § 39 Abs. 1 SGB I entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen ausüben. Nach der Gesetzesbegründung sind unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles die Interessen der Versichertengemeinschaft und diejenigen des Versicherten gegeneinander abzuwägen, wobei der Grad des Verschuldens, eventuelle Schuldmilderungsgründe, die Höhe der Aufwendungen und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versicherten unter Berücksichtigung seiner Unterhaltsverpflichtungen maßgebliche 378

Rn. 6.

Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 10; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52

379 Nach überwiegender Ansicht kommt einem bereits vorliegenden strafgerichtlichen Urteil eine Tatbestandswirkung für die Entscheidung nach § 52 Abs. 1 SGB V zu; vgl. Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 6; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 5. Anderer Ansicht ist Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 56, da eine solche Tatbestandswirkung eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung voraussetze. 380 Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 5. 381 Rompf, SGb 1997, 105 (108); Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 53; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 3. 382 Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 15; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/ Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 6; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 14; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 7; a. A. Lang, in: Becker/ Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 6. In diesem Zusammenhang weisen z. B. Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 86, 91 und Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 129, darauf hin, dass der Leistungsanspruch des Versicherten weiterhin besteht und die Krankenkasse die Krankenbehandlung als Sachleistung nicht verweigern darf. So auch Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 19.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Kriterien darstellen.383 Die getroffene Entscheidung ist als Verwaltungsakt gemäß § 35 Abs. 1 SGB X von der Krankenkasse zu begründen und muss die Ermessensausübung und die dabei berücksichtigten Gesichtspunkte erkennen lassen. In der Praxis der gesetzlichen Krankenkassen und Sozialgerichte spielt § 52 Abs. 1 SGB V nur eine geringe Rolle.384 In den meisten Fällen einer gesundheitsschädigenden Lebensführung hat der Versicherte keinen Vorsatz bezüglich des Eintritts der Erkrankung.385 Typischerweise wird der Betroffene selbst bei einem extrem gesundheitsgefährdenden Verhalten hoffen, dass gerade in seinem Fall die Gesundheitsschädigung nicht eintritt, sodass von einer vorsätzlichen Zuziehung keine Rede sein kann. Aber selbst wenn dem Versicherten vorsätzliches Handeln vorgeworfen werden könnte, ist dies für die gesetzlichen Krankenkassen, die die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen trifft,386 faktisch kaum nachweisbar.387 2. Reformdiskussion Die Frage, welches gesundheitsrelevante Verhalten des Versicherten darüber hinaus als solidarwidrig einzustufen ist, ist immer wieder Gegenstand der gesundheitspolitischen Debatte. Anlass hierzu bieten die zunehmenden Erkenntnisse über die Bedeutung der individuellen Lebensführung für den Gesundheitszustand. Allgemein bekannt sind die negativen Wirkungen des Zigarettenrauchens388, übermä-

383

BT-Drs. 11/2237, S. 182. Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 (292 f.); Hänlein, SGb 2003, 301 (303); Marburger, Die Leistungen 2006, 257; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 6; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 2; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 4. 385 Rompf, SGb 1997, 105 (110); Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 2; Muckel/Ogorek, Sozialrecht, § 8 Rn. 69; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 2. Einzelfallübersichten finden sich bspw. bei Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPKSGB V, § 52 Rn. 74 ff.; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 5b; ausführlicher bei Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 154 ff. und Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 143 ff. 386 Dies gilt entsprechend der allgemeinen Beweislastregeln, vgl. Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 14; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 104. 387 Siehe hierzu auch Marburger, DOK 1990, 571 (573); Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 4; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 6, 15. 388 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (ehemals Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen) benennt in seinem Sachstandsbericht 1994, Rn. 644, als Folgen des Zigarettenrauchens das Erkrankungsrisiko für Lungenkrebs, chronische Bronchitis, Herzinfarkt, Krebs der Mundhöhle, des Kehlkopfes, der Speiseröhre und der Blase sowie während einer Schwangerschaft die Schädigung des Fötus. 384

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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ßigen Alkoholkonsums389, Drogenkonsums und massiven Übergewichts. Weniger im öffentlichen Bewusstsein sind die gesundheitsschädlichen Risiken von beispielsweise übermäßiger UV-Exposition390, chronischen Stresssituationen391, falscher Ernährung und mangelnder körperlicher Bewegung oder gefährlichen Sport- und Freizeitaktivitäten und den auch in diesem Zusammenhang oftmals vermuteten Konsum von Schmerz- und Dopingmitteln392. Sorge bereitet z. B. die steigende Anzahl393 von Patienten mit einem Typ-2-Diabetes mellitus als häufigste Form der Zuckerkrankheit, deren Entstehung neben vererblichen Risikofaktoren auf Bewegungsmangel und hochkalorische Ernährung zurückzuführen sei,394 oder beispielsweise auch der von 2001 bis 2007 in Deutschland zu verzeichnende kontinuierliche Anstieg der HIV-Neudiagnosen395. Nicht nur die Entstehung, auch der Verlauf einer 389

Der Sachverständigenrat, Sachstandsbericht 1994, Rn. 636 ff., benennt als Folgen des chronischen Alkoholkonsums: Leberzirrhose, Bauchspeicheldrüsen- und Herzerkrankungen sowie bestimmte Karzinome der oberen Verdauungswege und der Leber, psychische und psychosoziale Erkrankungen und Gesundheitsschädigungen durch Verkehrs- und Arbeitsunfällen sowie während einer Schwangerschaft die Schädigung des Fötus. 390 Höfling, Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 518 f., erläutert, dass die UV-Exposition, die ganz wesentlich vom Verhalten des Einzelnen bestimmt ist, ein wesentlicher Risikofaktor des malignen Melanoms (bösartiger Tumor der Haut) ist. 391 Schulz, Zur Bedeutung chronischer Belastung und sozialer Unterstützung für die Entwicklung körperlicher Erkrankungen, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 543, weist darauf hin, dass chronische Stressreaktionen geeignet sind, in allen körperlichen Anpassungssystemen pathologische Prozesse einzuleiten, wie z. B. Bluthochdruck, Insulinresistenz, chronisch-entzündliche Erkrankungen, neuronale Atrophie. 392 Brune u. a., Deutsches Ärzteblatt 2008, B1630 (B1630 ff.); Steiner, NJW 1991, 2729 (2734). 393 Eichenhofer, SGb 2003, 705 (705) meint eine Diabetes-Epidemie drohe; 1985 seien nach Angaben der WHO 35 Millionen, im Jahr 2000 bereits 177 Millionen Menschen von der Erkrankung betroffen und im Jahr 2025 würden voraussichtlich 300 Millionen Menschen an Diabetes leiden. 394 Kluth/Bauer, VSSR 2010, 341 (342, 346); Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (104); Weber, Adipositas und Diabetes, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 269 ff. Marckmann und Gallwitz weisen zudem darauf hin, dass bei unzureichend behandeltem Diabetes Gefäßkomplikationen zu befürchten seien, die zu Herzinfarkten, Schlaganfällen, Nierenversagen und Erblindung oder auch Amputationen von Gliedmaßen führen könnten und als Folgeerkrankungen etwa 80 % der diabetesbedingten Behandlungskosten verursachten; so zumindest im Jahr 2002, in dem alleine in Deutschland diabetesbedingte Behandlungskosten in Höhe von 16 Milliarden Euro entstanden, vgl. Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (104) m. w. N. Sorge bereitet insbesondere auch die starke Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes mellitus. Siehe hierzu Steinau u. a., Adipositas im Kindes- und Jugendalter, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 282 ff. 395 Siehe Bericht der Bundesregierung zum Stand der Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/AIDS in Deutschland, BT-Drs. 17/2058. Der überwiegende Teil des Anstiegs sei auf die Gruppe der Männer, die mit Männern Sex haben, und nicht zuletzt auf ein erhöhtes Risikoverhalten dieser Personengruppe zurückzuführen.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Krankheit hinge sehr viel stärker „vom Engagement des Patienten ab, als wir dies bisher vermutet haben“, meint Seger und erklärt, dass es beispielsweise möglich sei, „durch eine Änderung des Lebensstils mit Ernährungsumstellung, Streßmanagement und Ausdauertraining“ „atherosklerotische Veränderungen der Herzkranzgefäße innerhalb eines Jahres rückgängig zu machen“.396 Eine gesundheitsbewusste Lebensführung kann jedoch nicht durch gesetzliche Bestimmungen durchgesetzt oder vollstreckt werden.397 Zwar schreibt § 1 Satz 2 SGB V den Krankenversicherten vor, durch gesundheitsbewusste Lebensführung dazu beizutragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine durchsetzbare bzw. vollstreckbare Pflicht des Versicherten.398 Das Krankenversicherungsrecht statuiert keine Rechtspflicht des Versicherten, die eigene Gesundheit zu erhalten; es enthält auch kein generelles Verbot der Selbstschädigung.399 Vielmehr schützt Art. 2 Abs. 1 GG das Recht zur Selbstschädigung, sodass der Gesetzgeber hinsichtlich des gesundheitlichen Wohlergehens des Einzelnen zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Lebensformen und -entscheidungen verpflichtet ist, soweit nicht die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit betroffen sind.400 Insbesondere angesichts der gesundheitlichen Folgen von Nikotin- und Alkoholmissbrauch wird bzw. wurde gefordert,401 nicht nur die vorsätzliche, sondern auch die grob fahrlässige Herbeiführung einer Erkrankung leistungsrechtlich zu sankSofern der Versicherte mit einer Person ungeschützten Geschlechtsverkehr hat, von der er weiß, dass sie mit HIV infiziert ist, ist regelmäßig vorsätzliches Handeln gegeben und damit die Leistungsbegrenzung nach § 52 Abs. 1 SGB V anzuwenden; vgl. auch Zipperer, in: Orlowski/ Rau u. a. (Hrsg.), GKV-Kommentar, § 52 Rn. 5. 396 Seger, SDSRV 42 (1997), 35 (48). 397 Plagemann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 2 Rn. 35; Eichenhofer, SGb 2003, 705 (710). 398 Siehe Erläuterungen hierzu in diesem Kapitel unter A. 399 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 30; Kluth/Bauer, VSSR 2010, 341 (348 f.); Prehn, NZS 2010, 260 (263); Wulfhorst, VSSR 1982, 1 (10); Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 98 f., 125; Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 130; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 3. Bezogen auf die Leistungsbeschränkung des § 52 Abs. 1 SGB V weist Mihm, SpuRt 1995, 18 (20) darauf hin, dass sich keine allgemeine Erfolgsvermeidungspflicht ableiten ließe. 400 Die Freiheit zur Krankheit genießt als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Schutz. Siehe hierzu Ausführungen in diesem Abschnitt unter g). 401 Rompf, SGb 1997, 105 (107); Ecker, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 55 (56). Dieser Ansicht ist im Ergebnis auch Geschwinder, ZfS 1981, 101 (101), der jedoch davon ausgeht, dass der von § 192 RVO vorausgesetzte Vorsatz sich nicht auf die Krankheit, sondern nur auf die Schädigungshandlung erstrecke, sodass dieser Regelung bereits die Folgen des vorsätzlichen Gebrauchs von Nikotin, Alkohol oder Drogen unterfielen; vgl. Geschwinder, ZfS 1981, 101 (101, 105).

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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tionieren. Ecker reklamiert damit „die ethische Pflicht des Menschen, sich nicht selbst Nachteile zuzufügen“.402 Rechtlich gesehen werde die Eigenschädigung jedoch erst vom Standpunkt eines deswegen in Anspruch genommenen anderen relevant. Versuche der Selbstschädiger, den Schaden auf andere abzuwälzen, sei dies „rechtswidrig aus dem Gedanken des Verbots eigenen widersprüchlichen Verhaltens heraus“.403 Boecken teilt diese rechtstechnische Rechtfertigung verhaltensbezogener Leistungsbeschränkungen und meint, der Versicherte müsse leistungsrechtlich sanktioniert werden, wenn ihn ein Verschulden gegen sich selbst,404 verstanden als Verstoß gegen ein im eigenen Interesse gebotenes Verhalten, träfe: „Nicht die Solidargemeinschaft sozialversicherter Personen soll die aus einem entsprechenden Fehlverhalten resultierenden Lasten tragen, sondern der Versicherte selbst, was letztlich Ausdruck des Gedankens des venire contra factum proprium ist“.405 Hierauf Bezug nehmend sieht auch Voelzke in der Abwälzung des selbst verursachten Schadens auf die Gemeinschaft einen Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens.406 Diese dogmatische Einordnung durch Übertragung des Verbots widersprüchlichen Verhaltens bzw. des Gedankens des venire contra factum proprium als Ausprägung des zivilrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben wird von Boecken und Voelzke nicht näher erläutert und muss bereits angesichts des für die Sozialversicherung typischen Charakters einer Zwangsversicherung bezweifelt werden. Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Eigenverantwortung als eine Kategorie, die fremdgesetzten Verhaltensvorgaben nicht zugänglich ist, steht der Annahme eines Verschuldens gegen sich selbst grundsätzlich entgegen. Im Rahmen der Sozialversicherung wird die Eigenverantwortung modifiziert durch den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens und die Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz, sodass hierin die dogmatische Grundlage verhaltensbedingter Leistungsbeschränkungen liegt. Dementsprechend ist eine leistungsrechtliche Sanktion des die eigene Gesundheit gefährdenden Versicherten dann gerechtfertigt, wenn sein Verhalten als solidarwidrig einzustufen ist.

402

Ecker, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 55 (66). Auch Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (5 ff.), sieht in der Gesundheits-Mitverantwortung des Versicherten ein Gebot der Klugheit, dessen Beachtung ein liberaler Rechtsstaat jedoch nicht zur Pflicht machen dürfe. 403 Ecker, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 55 (66). 404 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (25), begreift die sozial(versicherungs)rechtlichen Selbstverschuldensregelungen mangels Verbots der Selbstschädigung oder Nichtmitwirkung dogmatisch als ein „Verschulden gegen sich selbst“. So auch bereits Schnorr von Carolsfeld, in: FS für Horst Schieckel, 261 (280). Ebenso sieht Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 3, 10, hierin die dogmatische Struktur des § 52 SGB V. Siehe hierzu und bspw. auch zu der von Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, entwickelten Solidaritätswidrigkeit die grundlegenden Ausführungen im vorherigen Kapitel, C. II. 3. 405 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (20). 406 Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 37, 47 f.

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2. Teil: Eigenverantwortung

Wie die Solidarwidrigkeit des Versichertenverhaltens im Rahmen der Sozialversicherung grundsätzlich zu bestimmen ist, bzw. wo die Grenze zwischen dem gefahrrelevanten Verhalten des Sozialversicherten, das noch in den Versicherungsschutz fällt und solchem, das vom Schutz der Solidargemeinschaft ausgenommen ist, zu ziehen ist, wurde bereits im vorherigen Kapitel im Abschnitt C. II. 3. ausführlich untersucht. Danach wurden vor dem Hintergrund, dass soziale Risiken naturgemäß bis zu einem gewissen Grad nicht trennbar von dem selbstbestimmten Verhalten des Versicherten sind, Kriterien für die Vorwerfbarkeit eigenschädigenden Verhaltens definiert. Festzustellen war, dass das Kriterium des Verschuldens des Versicherten für sich genommen nicht notwendigerweise zur Annahme eines solidarwidrigen Verhaltens führt. Vielmehr ist regelmäßig ein final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtetes Handeln des Versicherten bzw. ein entsprechender Schädigungswille erforderlich. Im Übrigen ist die Frage, welches gefahrrelevante Verhalten solidarwidrig ist, in Bezug auf das jeweilige sozialversicherte Lebensrisiko bzw. die zu gewährende Sozialversicherungsleistung zu bestimmen. Erkrankt beispielsweise ein übergewichtiger Versicherter, dem grundsätzlich bewusst war, dass er seine Ernährung umstellen sollte oder sogar bereits ärztlich zur Gewichtsreduktion angehalten wurde, an einem Typ-2-Diabetes mellitus, wird er aller Wahrscheinlichkeit nach zuvor darauf vertraut bzw. ernsthaft gehofft haben, dass diese Erkrankung ihn nicht treffen würde. Damit hätte er seine Erkrankung grob fahrlässig – den Ursachenzusammenhang vorausgesetzt – herbeigeführt. Diese Intentionslage steht grundsätzlich der Annahme eines final auf die Entstehung des Leistungsanspruchs gerichteten Handelns bzw. eines Schädigungswillen gegenüber der Solidargemeinschaft entgegen. Selbst wenn er die Erkrankung billigend in Kauf genommen hätte und ihm insofern vorsätzliches Handeln vorgeworfen werden könnte, ist es wohl zuallererst seinen Lebensgewohnheiten geschuldet und kaum vorstellbar, dass es ihm dabei um die Entstehung eines Krankenbehandlungsanspruchs ging. Dennoch würde in diesem Fall die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 1 SGB V grundsätzlich Anwendung finden und somit solidarwidriges Verhalten angenommen. Die krankenversicherungsrechtliche Einordnung des Versichertenverhaltens als solidarwidrig geht demnach bereits über die allgemein für die Sozialversicherung festgestellten Kriterien zur Bestimmung solidarwidrigen Verhaltens hinaus. Welche in Bezug auf das Risiko der Krankheit spezifischen Aspekte und Besonderheiten bei der Bestimmung und Sanktion solidarwidrigen Verhaltens des gesetzlich Krankenversicherten diskutiert werden und zu berücksichtigen sind, wird im Folgenden näher betrachtet. a) Abgrenzung der Risiken im Sinne eines normativen Standards der Lebensführung Soll eine bestimmte Lebensführung eines gesetzlich Krankenversicherten als solidarwidrig qualifiziert werden, setzt dies voraus, dass die gesundheitsfördernden und -gefährdenden Lebensführungsrisiken voneinander abgegrenzt werden können

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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bzw. dass individuelle Verhaltensweisen eindeutig der Risikovermeidung oder -erhöhung zugeordnet werden können. Beispielsweise müsste für eine leistungsrechtliche Sanktion eines Alkoholmissbrauchs zunächst bestimmt werden, wo die Grenze zwischen Alkohol als Genussmittel und als Suchtmittel zu ziehen ist,407 oder für einen Ausschluss von Krankheiten infolge risikoreicher Sportarten müssten die gesundheitsgefährdenden die gesundheitsfördernden Wirkungen der jeweiligen sportlichen Aktivität deutlich überwiegen.408 Es bedarf somit eines normativen Standards, mit dem festgelegt wird, welche der selbst verursachten Gesundheitsstörungen normale Risiken sind und welche als solidarwidrig verursacht gelten sollen. Marckmann und Höfling weisen darauf hin, dass dies zu einer vermutlich wenig erfreulichen politischen Diskussion über gesellschaftlich akzeptierte und nicht zu akzeptierende Lebensstile führen würde.409 b) Krankheiten und ihre Ursachen Dass die individuellen Lebensbedingungen des Einzelnen eine maßgebliche Bedeutung für seinen Gesundheitszustand hat, ist unbestritten. Der Einzelne beeinflusst mit seinem Alkoholkonsum, Rauchverhalten, Ernährung, Sexualverhalten, körperlichen Bewegung, Alltagsstress, UV-Exposition und vielem anderen mehr die Entstehung von Krankheiten oder den Verlauf einer bereits vorhandenen Erkrankung.410 Neben der persönlichen Lebensführung werden als weitere wesentliche Einflussfaktoren des Gesundheitszustands die genetische Disposition bzw. die 407 Der Sachverständigenrat, Sachstandsbericht 1994, Rn. 635, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gelegentlicher und regelmäßiger Alkoholkonsum nicht immer voneinander zu trennen seien. Vgl. auch Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 71 f. 408 Muckel/Ogorek, Sozialrecht, § 8 Rn. 69, sieht hierin ein „kaum lösbares Abgrenzungsproblem“. Mihm, SpuRt 1995, 18 (21 f.) beleuchtet Risikosportarten genauer und kommt zu dem Schluss, dass sich „kaum zu lösende Abgrenzungsprobleme ergeben“ und dass eine Differenzierung nach Risikosportarten „nicht nur unpraktikabel, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich“ sei. Vgl. auch Schwede, NZS 1996, 562 (563, 565); ders., SpuRt 1996, 145 (145). 409 Marckmann, Ethik in der Medizin 2010, 207 (218); ders., Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 306 f.; Höfling, ZEFQ 2009, 286 (290); ders., Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 519 f. Auf die Schwierigkeit vernünftige und unvernünftige Risiken zu unterscheiden, weisen auch Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 176, und Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21, hin. 410 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 2 f., und Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 109, weisen aber darauf hin, dass der Eintritt einer Krankheit ein zufälliges Ereignis sei und der Versicherte keinen oder nur einen geringen Einfluss auf seine gesundheitlichen Determinanten habe.

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Erbfaktoren des Einzelnen411 und die Umweltbedingungen im Wohnumfeld sowie am Arbeitsplatz412 genannt. Soziale Faktoren wie z. B. die Einkommenssituation und die damit verbundenen Möglichkeiten, sich zusätzliche Gesundheitsleistungen, gesunde Lebensmittel oder Erholungsurlaub zu leisten, aber auch die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, Diskriminierung oder sozialer Ausgrenzung scheinen ebenso Einfluss auf den Gesundheitszustand zu haben. Mielck untersucht unter Zugrundelegung empirischer Studien den Einfluss eines niedrigen sozialen Status auf den Gesundheitszustand des Einzelnen und kommt zu dem Schluss, dass nur ein kleiner Teil der gesundheitlichen Ungleichheit durch das individuelle Gesundheitsverhalten erklärt werden könne und andere Ursachen wie beispielsweise die sozialen Unterschiede bei den Belastungen in der Wohnumgebung sowie bei den Arbeitsbedingungen erheblich bedeutsamer seien.413 Festgestellt wird oftmals, dass gesundheitsrelevante Faktoren zu einem erheblichen Teil schichtenspezifisch ausgeprägt sind.414 Der individuelle Gesundheitszustand hängt somit von unterschiedlichen Faktoren ab, von denen sich manche wie z. B. die genetische Veranlagung vollständig der Einflussnahme des Betroffenen entziehen, während sich andere nur im Rahmen kollektiver Maßnahmen beeinflussen lassen (z. B. Umweltbelastungen, Arbeitsbedingungen oder sozioökonomische Voraussetzungen).415 Erkennbar wird nach alledem die Komplexität des Zusammenhangs zwischen Lebensweise und Gesundheit. Die meisten Krankheiten, insbesondere die Volkskrankheiten416, beruhen auf einem multifaktoriellen Ursachengeflecht, bei dem die 411 Huster, JZ 2008, 859 (861). Huster weist außerdem darauf hin, dass auch die Qualität und Verfügbarkeit der medizinischen Versorgung als Einflussfaktor für den individuellen Gesundheitszustand gelte – wenn auch mit eher geringem Gewicht, sobald ein gewisses Versorgungsniveau erreicht sei. 412 Mielck, Ethik in der Medizin 2010, 235 (238 ff.); Letzel, Arbeit und Gesundheit – Krankheitsursachen am Arbeitsplatz, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 481 ff.; Straub, Volkskrankheiten als Herausforderung für die GKV, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 395. Zur Prävention umweltbedingter Gesundheitsprobleme siehe ausführlich Maschewsky/Rosenbrock, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 37 ff. 413 Mielck, Ethik in der Medizin 2010, 235 ff. 414 Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 (291); Kluth/Bauer, VSSR 2010, 341 (342, 346); Kühn, in: Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 30, S. 11. Indizien dafür, dass der durchschnittliche Gesundheitszustand einer Bevölkerung umso schlechter ist, je stärker die soziale Ungleichheit ausgeprägt ist, stellen Wippermann, Lebensstile und Milieus: Einflüsse auf die Gesundheit, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 143 ff.; Letzel, Soziale Umwelt: Was macht krank?, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 157 ff. fest. Siehe hierzu grundlegend Mielck, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Auf den Handlungsbedarf angesichts des Zusammenhangs zwischen der sozialen Lage und den Gesundheitschancen macht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Sondergutachten 2009, Band I, Rn. 3 f. aufmerksam. 415 Marckmann, Ethik in der Medizin 2010, 207 (216); Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (106 f.); Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 143 ff.; Dietrich, ZfmE 47 (2001), 371 (373 f.). 416 Als Volks- bzw. Zivilisationskrankheiten gelten gemeinhin: Diabetes, Hypertonie, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung COPD, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, rheumatische

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relative Bedeutung von genetischer Veranlagung, Umweltfaktoren und dem gesundheitsbezogenen Verhalten des Betroffenen sowie die Wechselwirkungen der einzelnen Krankheitsursachen kaum bestimmbar seien.417 Bei Herz- und Gefäßkrankheiten beispielsweise spielten genetische Faktoren, aber auch Verhaltensweisen und Umweltbedingungen eine erhebliche Rolle; dabei seien jedoch Faktoren wie Stress und Genetik im Gegensatz zu Faktoren wie Blutdruck, Cholesterinspiegel und Anzahl der gerauchten Zigaretten schwer messbar.418 c) Entscheidungsautonomie und Lebensführung Der Vorwurf des schuldhaften Handelns hinsichtlich der als solidarwidrig zu kategorisierenden Herbeiführung der eingetretenen Erkrankung durch eine gesundheitsgefährdende Lebensweise wirft darüber hinaus die Frage auf, inwieweit der Einzelne bezüglich seiner gesundheitsrelevanten Lebensgewohnheiten tatsächlich frei ist und diese insoweit zurechenbar sind. Lebensstile wie das Ernährungs- und Bewegungsverhalten sind häufig bereits in der Kindheit angelegt, durch soziale und mediale Einflüsse verstärkt und weisen nicht selten Suchtcharakter auf.419 Nach Huster sind dies „die typischen Elemente, die uns zur Zurückhaltung mahnen sollten, die Verantwortung für diese Verhaltensweisen und ihre Folgen allein dem Individuum zuzuschreiben; es gibt hier offensichtlich Ursachen der Ursachen“.420 Als wichtiger Prädiktor gesundheitsschädlichen Verhaltens wird z. B. Armut in der Kindheit angesehen,421 die sich fast gänzlich einer Einflussnahme durch die BeErkrankungen, Depressionen, Schmerz, Krebserkrankungen, Karies, Essstörungen, Übergewicht/Adipositas, Allergien, Lungen- und Darmkrebs, bestimmte Hauterkrankungen. 417 BT-Drs. 11/6380, S. 24; Dietrich, ZfmE 47 (2001), 371 (373 f.); Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 143 ff.; Höfling, ZEFQ 2009, 286 (289); ders., Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 517; Marckmann, Ethik in der Medizin 2010, 207 (217); ders., Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/ Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 305; Buyx, Ethik in der Medizin 2005, 269 (276); ders., Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 324; Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 241; Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 71. 418 Vgl. Schachenhofer, Gesundheitsbewußtsein versus Selbstbeteiligung, S. 143 ff. Sie zeigt ein Multifaktorenkonzept auf, bei dem medizinische, psychologische und soziologische Faktoren, die für die Entstehung bestimmter Krankheiten bedeutsam sind, kombiniert werden. 419 Huster, JZ 2008, 859 (866); ders., Ethik in der Medizin 2010, 289 (297); Mielck, Ethik in der Medizin 2010, 235 (242 f.). 420 Huster, JZ 2008, 859 (866) (Hervorhebung aus dem Originaltext); ders., Ethik in der Medizin 2010, 289 (297 f.). Angesichts der Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und dem gesundheitsrelevanten Verhalten des Einzelnen sei es – so Huster – „illegitim, Bürgern die Kosten ihrer Krankheit aufzuerlegen, die aufgrund von Bildungsdefiziten und ungünstigen Lebensumständen keine realistische Chance hatten, ein gesünderes Leben zu führen.“ 421 Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (108); Höfling, Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/Vogel, Volkskrankheiten, S. 518 f.; Marckmann, Ethik in der

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troffenen entzieht. Damit stellt sich die Frage, ob ein gesundheitsschädigendes Verhalten im Erwachsenenalter tatsächlich auf einer selbstbestimmten Entscheidung beruht oder – zumindest teilweise – durch nicht beeinflussbare Umgebungsfaktoren verursacht wurde. Vor dem Hintergrund der Determinierung des Gesundheitsverhaltens durch Erziehung, Sozialisation, Geschlecht und der Beeinflussung durch Werbung, das kulturelle Umfeld und anderem lehnen die Vertreter des sogenannten victim-blaming-Argumentes422 eine Sanktion gesundheitsschädlichen Verhaltens ab. Sicherlich ist die eigene Lebensweise durch Kindheitserfahrungen geprägt und durch viele Außenfaktoren beeinflusst, sodass eine klare Abgrenzung zwischen selbst gewählten und nicht selbst gewählten Lebensführungsrisiken schwierig ist. Dass das gesundheitsrelevante Verhalten nicht vollständig frei gewählt ist, erkennt man auch daran, dass viele ihre gesundheitsschädlichen Angewohnheiten selbst ändern wollen, es ihnen aber nicht gelingt. Beispielsweise – so das Bundessozialgericht – erlaube die körperliche und psychische Abhängigkeit vom Alkohol dem süchtigen Trinker in den meisten Fällen nicht mehr, mit eigener Willensanstrengung vom Alkohol loszukommen.423 Dennoch kann in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der der Einzelne seine Lebensführung selbst bestimmt, nicht grundsätzlich die Zurechnung gesundheitsschädlichen Verhaltens versagt sein. d) Kausalzusammenhang zwischen Lebensführung und Erkrankung Sollen die Folgen einer gesundheitsschädlichen Lebensführung als solidarwidrig verursacht aus der rechtlichen Verantwortung des Krankenversicherungsträgers ausgenommen werden und der Eigenverantwortung des Versicherten überlassen sein, setzt dies voraus, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der gesundheitsschädlichen Lebensführung und der eingetretenen Krankheit festgestellt werden kann. Dies ist im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen, nach der eine Ursache, das heißt, ein Ereignis, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, dann kausal bzw. zurechenbar ist, wenn sie eine wesentliche (Mit-)Ursache für die Erkrankung gewesen ist.424 Medizin 2010, 207 (217); ders., Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 306. 422 Als Reaktion auf die in den USA zu Beginn der 1990er Jahre zunehmende Berücksichtigung eines negativen Gesundheitsverhaltens bei der Gewährung von Gesundheitsleistungen wurde verstärkt über die Frage der Freiheit des individuellen Gesundheitsverhaltens diskutiert. Im Zuge dessen wurde diese Form der Zuweisung von Eigenverantwortung als victim blaming bezeichnet. Siehe hierzu Buyx, Ethik in der Medizin 2005, 269 (277); ders., Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/ Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 326 f. m. w. N. 423 BSGE 28, 114 (116). 424 Siehe hierzu Ausführungen und Nachweise in diesem Kapitel unter C. V. 1.

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Die Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Lebensführung des Erkrankten und dem Eintritt der Erkrankung birgt erhebliche praktische Probleme.425 Sicherlich lässt sich bei unfallbedingten Gesundheitsstörungen ein kausaler Ursachenzusammenhang feststellen. Wie bereits erläutert, ist ein Krankheitsgeschehen aber im Regelfall multifaktoriell bedingt, wobei sich die relative Bedeutung von genetischer Veranlagung, Umweltfaktoren und dem gesundheitsbezogenen Verhalten des Betroffenen nicht genau bestimmen lässt. Unabhängig davon, ob innerhalb der medizinischen Wissenschaften Konsens über bestimmte Ursachenzusammenhänge herrscht, ist jedoch ein individueller Erkrankungsfall zu beurteilen. Beispielsweise sei es medizinischen Studien zufolge zwar unumstritten, dass Lebensgewohnheiten wie wenig Bewegung und Ernährung mit hochkalorischer, fettreicher Nahrung das Diabetesrisiko erhöhen, jedoch sei es aufgrund der Komplexität der Wechselwirkungen mit den ebenso Ausschlag gebenden genetischen Faktoren und Umweltfaktoren nur schwer möglich, ein individuelles Diabetesrisiko für eine bestimmte Person festzulegen und auf dieser Grundlage die Auswirkungen der individuellen Lebensführung als kausale Faktoren eindeutig zu charakterisieren.426 Ein weiteres Beispiel sind Rückenschmerzen, die als gemeinhin bekannte Folge einer falschen Körperhaltung unter anderem auch durch die Berufsausübung, die Freizeitgestaltung oder durch eine vererbte Disposition verursacht sein können.427 Deutlich wird somit, dass in der Regel aufgrund der Symptome keine Zuordnung der Ursachen möglich ist. Vor diesem Hintergrund spricht sich das Bundessozialgericht gegen „eine an der Krankheitsursache ansetzende Differenzierung des Versicherungsschutzes“ aus, „weil sich die Ursache erst während der Behandlung herausstellt oder häufig ganz verborgen bleibt“.428 Hinzu kommt, dass typischerweise in der praktischen Medizin – anders als in der Rechtswissenschaft – nicht ein einzelnes Ereignis oder eine einzelne Handlung auf ihre kausalen Ursachen hin untersucht wird. Vielmehr gilt es einen Zustand zu beurteilen, der oft jahrelang andauert und dessen kausalen Ursachenzusammenhänge sich während der Zeit immer wieder ändern können. e) Nachweis der gesundheitsschädlichen Lebensführung, des Verschuldens und des Kausalzusammenhangs Soll eine gesundheitsschädliche Lebensführung als grob fahrlässige Herbeiführung des Leistungsfalls durch die gesetzlichen Krankenkassen sanktioniert werden, 425

Vgl. auch Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 71 f. Marckmann/Gallwitz, ZfmE 53 (2007), 103 (112 ff.). Aufgrund der multifaktoriellen Genese der Erkrankung sehen Marckmann und Gallwitz eine höhere finanzielle Eigenbeteiligung der Patienten mit einem Typ-2- Diabetes als nicht vertretbar an. 427 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (ehemals Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen), Sachstandsbericht 1994, Rn. 629. 428 BSGE 85, 56 (59 f.). 426

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müssen diese die gesundheitsschädliche Lebensführung ihres Versicherten, sein Verschulden und den Kausalzusammenhang zwischen seiner Lebensführung und dem Eintritt seiner Erkrankung gerichtsfest nachweisen können. Damit geht nicht nur ein außerordentlicher Verwaltungsaufwand der gesetzlichen Krankenkassen,429 sondern auch ein Nachweis- und Kontrollregime einher, das mit erheblichen Eingriffen in die Freiheitsbereiche der Versicherten verbunden wäre und als solches schwerwiegende verfassungsrechtliche und ethische Bedenken hervorruft.430 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen schrieb hierzu: „Eine Kontrolle, die zu stark und weit in die individuelle Lebenssphäre jedes Einzelnen eingreifen müßte, ist aber weder wünschenswert noch praktikabel und lediglich auf freiwilliger Basis denkbar.“431 Sogar Ecker – als einer derjenigen, die sich für eine leistungsrechtliche Sanktion nicht nur der vorsätzlichen, sondern auch der grob fahrlässigen Herbeiführung einer Erkrankung aussprechen – sieht in dem damit verbundenen erheblichen Feststellungsaufwand auf Seiten der beweispflichtigen Versicherungsträger die Gefahr, dass „wohl unvermeidlich in sehr private Lebensbereiche der Versicherten eingedrungen“ würde, und weist darauf hin, dass der Gesichtspunkt des Feststellungsaufwandes bei Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung für den damaligen Gesetzgeber ein wesentlicher Grund war, von der Berücksichtigung grob fahrlässigen Fehlverhaltens abzusehen.432 Boecken hält schon wegen des Feststellungsaufwands eine Ausdehnung des Leistungsausschlusses auf grob fahrlässiges Handeln für nicht zweckmäßig.433 Den gesetzlichen Krankenkassen wäre der Nachweis einer gesundheitsschädlichen Lebensführung des Versicherten und seines Verschuldens, insbesondere aber der erforderlichen Kausalität für den Eintritt der Erkrankung, nur durch Hinzuziehung der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung möglich. Der behandelnde Vertragsarzt müsste insoweit eine Kontrollfunktion übernehmen und sein im Rahmen des Behandlungsverhältnisses gewonnenes Wissen der Krankenkasse zuungunsten seines Patienten preisgeben. Dies scheint mit einer vertraulichen 429 Siehe z. B. BSGE 13, 240 (241); 18, 257 (258); 59, 119 (121); Hänlein, SGb 2003, 301 (303). Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 241, 244, sieht hierin eine Beeinträchtigung des Grundsatzes eines verwaltungseffizienten Handelns der Krankenkassen. 430 Davor warnen auch Höfling, Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Schumpelick/ Vogel, Volkskrankheiten, S. 518; Marckmann, Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/ Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 306; Buyx, Ethik in der Medizin 2005, 269 (276); ders., Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 325. 431 Sachverständigenrat, Sachstandsbericht 1994, Rn. 633. 432 Ecker, in: Selbstverantwortung in der Solidargemeinschaft, S. 55 (56 ff., 63 m. w. N.). Zur historischen Diskussion vgl. auch Ausführungen und Nachweise im 1. Teil, Kapitel 1. 433 Boecken, SDSRV 42 (1997), 7 (25 f.); er weist zudem auf praktische Schwierigkeiten in der Abgrenzung zwischen fahrlässigem und nicht fahrlässigem Verhalten hin. Siehe hierzu auch Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 245 f.

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Arzt-Patient-Beziehung, wie sie der ärztliche Berufsethos vorsieht und eine erfolgreiche therapeutische Beziehung voraussetzt, nur schwierig zu vereinbaren.434 Angesichts der vielfältigen praktischen Schwierigkeiten, insbesondere bei der Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Lebensführung des Erkrankten und dem Eintritt der Erkrankung, scheint in den meisten Fällen kein Nachweis möglich.435 Buyx hält insofern eine retrospektive Zuweisung von Verantwortung für nicht vertretbar.436 f) Finalprinzip Mit der Berufung auf das Finalprinzip437 wird teilweise eingewandt, dass die persönliche Lebensführung des gesetzlich Krankenversicherten keinen Einfluss auf seinen Versicherungsschutz haben dürfe. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – so das Bundessozialgericht – sei es grundsätzlich unerheblich, aus welchen Gründen der Versicherte der ärztlichen oder zahnärztlichen Behandlung bedarf.438 Die Krankenversicherung habe nicht die Aufgabe, bestimmte Krankheitsursachen zu bekämpfen, sodass Einschränkungen des Versicherungsschutzes grundsätzlich nicht die Ursache der Behandlungsnotwendigkeit, sondern allenfalls die Art der erforderlichen Maßnahme beträfen.439 Im Zusammenhang mit § 192 RVO440 hat das Bundessozialgericht ausgeführt, dass es „mit dem das geltende Recht der KrV beherrschenden Grundsatz, dem Versicherten bei Erkrankungen jeder Art im eigenen und auch im Interesse der Allgemeinheit Krankenhilfe zu gewähren, damit er nach 434 Vgl. auch Buyx, Ethik in der Medizin 2005, 269 (278 f.); ders., Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 329; Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (12). Nach Einschätzung Werners werden vor diesem Hintergrund verschuldensbezogene Leistungsausgrenzungen wohl auch in Zukunft keine große Rolle spielen. Auf die Problematik derartiger Einbeziehung der behandelnden Vertragsärzte wird im 3. Teil, Kapitel 2, C. eingegangen. 435 Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (11); Marckmann, Ethik in der Medizin 2010, 207 (217); ders., Eigenverantwortung als Rechtfertigungsgrund für ungleiche Leistungsansprüche in der Gesundheitsversorgung, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 305 f.; Dietrich, ZfmE 47 (2001), 371 (374). 436 Buyx, Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen, in: Rauprich/ Marckmann/Vollmann, Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, S. 325. 437 Dem Finalprinzip steht das Kausalprinzip gegenüber, nach dem der Leistungsanspruch an eine besondere Ursache des Bedarfs anknüpft, wie z. B. im sozialen Entschädigungsrecht oder im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Hingegen ist die Ursache des Bedarfs nach dem Finalprinzip für den Leistungsanspruch unerheblich. Vgl. zur Unterscheidung Igl/Welti/ Schulin, Sozialrecht, § 2 Rn. 4; Waltermann, Sozialrecht, § 5 Rn. 66. 438 BSGE 85, 56 (59). Mit dieser Begründung lehnte das BSG hier die Übernahme einer mittelbaren Zahnbehandlung ab; gemeint ist eine zahnärztliche Behandlung von aus zahnmedizinischer Sicht nicht behandlungsbedürftigen Zähnen, die dazu dienen soll, eine andere, allgemeinmedizinische Erkrankung zu beheben. 439 BSGE 85, 56 (59). 440 Dies ist die Vorgängervorschrift des § 52 Abs. 1 SGB V; vgl. hierzu Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 1.

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Möglichkeit bald wieder arbeitsfähig und gesund wird, nicht zu vereinbaren“ wäre, „die Gewährung von Krankenpflege davon abhängig zu machen, auf welche Weise die Krankheit entstanden ist; das Bedürfnis nach sachgerechter ambulanter oder stationärer ärztlicher Behandlung und Versorgung mit Arzneien und Heilmitteln ist unabhängig von der Ursache der Erkrankung“.441 Darauf Bezug nehmend wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur vielfach unter Hinweis auf die Ausnahme der ursachenbezogenen Leistungsbeschränkungen nach § 52 SGB V angeführt, dass das Krankenversicherungsrecht vom Finalprinzip beherrscht werde, sodass es auf die Ursache einer Erkrankung nicht ankomme.442 Nach Voelzke gehöre es zu den hergebrachten Grundsätzen des Sozialversicherungsrechts, dass der durch die Sozialversicherung vermittelte Schutz in der Regel nicht an menschlichem Fehlverhalten scheitern soll; daher gelte das Prinzip, dass das Verschulden bzw. Mitverschulden des Versicherten an der Herbeiführung des leistungsauslösenden Versicherungsfalls für die Leistungsgewährung grundsätzlich keine Rolle spielt.443 Auch Blöcher zufolge, sei es im Krankenversicherungsrecht grundsätzlich unerheblich, worauf eine Krankheit im Einzelnen zurückzuführen

441

BSGE 18, 257 (258). Auf die hier zitierten Ausführungen wird in BSGE 59, 119 (121) verwiesen. Bereits im Jahr 1959 hat das BSG in BSGE 9, 232 (236) die Versagung der damaligen Ermessensleistung Krankenhauspflege nach einem Unfall beim Fußballspielen mit folgender Begründung als willkürlich angesehen: „Mit dem Zweck der Sozialversicherung, den Versicherten in den Wechselfällen des Lebens Schutz und Hilfe zu bieten, ist es grundsätzlich unvereinbar, die Gewährung der Hilfe davon abhängig zu machen, auf welche Weise die Krankheit entstanden ist; insbesondere ist das Bedürfnis nach sachgemäßer ärztlicher Versorgung und Pflege in Fällen, in denen die Erkrankung auf einem Sportunfall beruht, nicht geringer als in anderen Fällen, in denen die gleiche Erkrankung vorliegt, ihre Entstehung aber in keinem Zusammenhang mit einer sportlichen Betätigung steht.“ Ebenso auch BSGE 13, 240 (241). 442 Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 27 Rn. 8; Wagner, in: Krauskopf, Soziale KV, § 27 Rn. 9; Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 (292); Schlegel, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 1 Rn. 23: „Die gesetzliche Krankenversicherung ist insofern ein finales, nicht ein kausales System.“; Igl/Welti/Schulin, Sozialrecht, § 2 Rn. 4; Muckel/Ogorek, Sozialrecht, § 8 Rn. 68; Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 287 ff.; Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2000, 512 (513: „Die GKV kennt in Bezug auf den Versicherten weder ein Verursachungsprinzip noch ein Verschuldensprinzip.“). Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 49 f., und Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 129, 132, meinen, das Finalprinzip gelte uneingeschränkt, da § 52 SGB V eine reine Regressvorschrift sei, die den Leistungsanspruch unberührt lasse und das Finalprinzip nicht in Abrede stelle. Zwar besteht in einem Fall des § 52 SGB V der Krankenbehandlungsanspruch grundsätzlich fort und die Krankenkasse bleibt zur Sachleistung verpflichtet (vgl. Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 86, 118, 124; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 32, 32b), dennoch ist dieser Auffassung zu widersprechen. Das Finalprinzip knüpft nicht in diesem engen Sinn an einen technisch bestehenden Leistungsanspruch an, sondern muss als eingeschränkt betrachtet werden, wenn eine Leistungsgewährung nachträglich beschränkt wird. 443 Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 21.

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sei.444 Rechtsgrund für den sozialen Ausgleich sei der Bedarf als solcher und nicht dessen Ursache. Außerdem führe der freiheitsstiftende, emanzipatorische Zweck des Versicherungszweiges – so Blöcher – zur Einbeziehung der Folgen eigenen Fehlverhaltens; eine Krankenversicherung, die lediglich im Fall einer von außen vermittelten Krankheit schützt, mache nicht sozial sicher.445 Das Finalprinzip gibt demnach vor, die Leistungen grundsätzlich unabhängig von der Krankheitsursache zu gewähren und nach der im Einzelfall bestehenden Bedarfslage des erkrankten Versicherten zu bemessen. Damit entspricht das Finalprinzip der finalen Ausrichtung der Leistungen bei Krankheit auf die in den §§ 1 und 27 Abs. 1 SGB V genannten Ziele.446 Wie bereits in diesem Kapitel im Abschnitt C. II. erwähnt, wird dieser Grundsatz durch die ursachenbezogenen Leistungsausschlüsse nach § 52 SGB V und gemäß § 11 Abs. 5 SGB V bei einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit durchbrochen. Soll darüber hinaus aber eine gesundheitsschädliche Lebensführung als grob fahrlässige Herbeiführung des Leistungsfalls aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen – zumindest teilweise – ausgenommen werden, müsste nahezu jede Erkrankung auf ihre Ursachen hin überprüft werden. Damit wäre das Finalprinzip inhaltsleer und in der Sache abgeschafft. Begründet ist das Finalprinzip im Solidarprinzip als das die Sozialversicherung bestimmende soziale Wesenselement. Das Solidarprinzip447 verlangt, dass die bei den gesetzlich Krankenversicherten bestehenden ungleichen Risiken nach sozialen Gesichtspunkten ausgeglichen werden, sich die Krankenversicherungsbeiträge somit grundsätzlich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht an der Erkrankungswahrscheinlichkeit des Einzelnen orientieren. Kennzeichnend für das Solidarprinzip ist der Verzicht auf eine Risikodifferenzierung bei der Beitragsbemessung und der darin mitschwingende grundsätzliche Respekt vor der Lebensführung des Versicherten. Diese Vorgaben stehen nicht zwingend jeglicher Berücksichtigung des individuellen Risikos des Versicherten entgegen. Werden aber beispielsweise die Krankenversicherungsbeiträge wie in einer privaten Krankenversicherung ausschließlich nach der Höhe des Risikos bemessen, tritt das Solidarprinzip als obligatorisches Wesensmerkmal der Kompetenzmaterie Sozialversicherung vollständig zurück, sodass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entfällt.448 Eine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers an das Soli444

Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 54 f. 445 Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 56. 446 Wagner, in: Krauskopf, Soziale KV, § 27 Rn. 9; Schlegel, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 1 Rn. 23, § 27 Rn. 32; Schramm/Witte, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 10 Rn. 26; Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 53; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 27 Rn. 8. 447 Siehe im 1. Teil, Kapitel 4, A. II. 448 Siehe hierzu und zum Folgenden die Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, C.

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darprinzip besteht jedoch nicht. Das Solidarprinzip ist ein Rechtsprinzip des einfachen Sozialversicherungsrechts und dient als Leitlinie bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen. Verstößt der Gesetzgeber gegen die Vorgaben des Solidarprinzips als einer vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit hat er dies mit Blick auf den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG besonders zu begründen und zu rechtfertigen. Wird bei jeder Leistungsgewährung geprüft, inwieweit der Krankenversicherte durch seine Lebensführung die eingetretene Erkrankung verursacht hat, und wird damit das Finalprinzip aufgegeben, dann entspricht dies – bezogen auf den Aspekt des sozialen Ausgleichs – faktisch einer Risikodifferenzierung bei der Beitragsbemessung. Das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip würde in erheblichem Maße missachtet, sodass dem Gesetzgeber zumindest aus Gleichheitsgründen eine Rechtfertigungspflicht obliegt. g) Verfassungsrechtliche Grenzen Fraglich ist, inwieweit die Einführung von Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung einer Erkrankung durch die gesundheitsschädliche Lebensführung des Versicherten an verfassungsrechtliche Grenzen stößt. Die Kostenbeteiligung des Versicherten an den krankenversicherungsrechtlichen Leistungen für eine auf seine Lebensführung zurückzuführende Erkrankung greift angesichts des Zwangsversicherungscharakters der gesetzlichen Krankenversicherung in seine verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte ein.449 Betroffen ist zumindest der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG450, der jedem Menschen die Freiheit zuspricht, zu tun und zu lassen, was er möchte, soweit er die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Darüber hinaus könnte die Kostenbeteiligung des Versicherten an den krankenversicherungsrechtlichen Leistungen für eine auf seine Lebensführung zurückzuführende Erkrankung auch eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen Versicherten 449

Auf die ausführliche Prüfung eines Verstoßes gegen Freiheitsrechte durch eine krankenversicherungsrechtliche Leistungsbeschränkung im 3. Teil, Kapitel 2, D. 1. wird verwiesen. Mangels Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen ist der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht beeinträchtigt. Eine Beeinträchtigung des Art. 14 Abs. 1 GG kann aufgrund erheblicher Zweifel an der Eigentumsqualität krankenversicherungsrechtlicher Ansprüche nicht ohne Weiteres angenommen werden, sodass der subsidiäre Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG betroffen ist. 450 Das in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne; siehe Nachweise hierzu in Fn. 3 in diesem Teil. Diese Freiheit des Einzelnen wird aber nicht unmittelbar und allein dadurch beeinträchtigt, dass ihm krankenversicherungsrechtliche Leistungen vorenthalten werden. Erst aufgrund des Zwangsversicherungscharakters der gesetzlichen Krankenversicherung reduzieren Leistungsbeschränkungen den Freiheitsbereich des Versicherten, vgl. hierzu ausführlich und mit Nachweisen im 3. Teil, Kapitel 2, D. I. 3.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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bedeuten und insofern gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Hierin sieht Hänlein eine ernstzunehmende Hürde und meint, ein echter Leistungsausschluss als Folge riskanten Verhaltens oder riskanter Lebensweise überschreite die Grenze des verfassungsrechtlich Vertretbaren.451 Auch Schulin hegt Zweifel, ob die Begrenzung von Leistungen wegen einer ungesunden oder risikoreichen Lebensführung „überhaupt rechtlichen Regelungen in einer Weise zugänglich ist, die rechtsstaatlichen Anforderungen genügt“.452 Um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen, müsste die Einführung von krankenversicherungsrechtlichen Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung der Erkrankung durch gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten des Versicherten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit453 wahren können. Das bedeutet, der Gesetzgeber müsste mit dieser Regelung einen legitimen Zweck verfolgen und hierzu ein geeignetes Mittel wählen, das erforderlich und angemessen ist. Als legitimer Zweck von krankenversicherungsrechtlichen Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls könnte zunächst der Schutz und die Besserung der Gesundheit der Bevölkerung angeführt werden. Die Volksgesundheit an sich sei jedoch kein Rechtsgut in einer freiheitlichen Grundordnung, sondern bezeichnet nur die Summe der individuellen Gesundheitszustände der Bürger, meint Huster.454 Hingegen belegt Pestalozza mit Blick auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einen Verfassungsrang der Bevölkerungsgesundheit.455 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG gilt die Volksgesundheit zumindest als ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut.456 Aus dem in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleisteten Recht auf körperliche Unversehrtheit leitet das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Pflicht des Staates ab, sich schützend und fördernd vor das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu stellen und diese Rechtsgüter auch vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren.457 Damit geht jedoch keine Pflicht

451

Hänlein, SGb 2003, 301 (303, 310). Schulin, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 6 Rn. 51. 453 Siehe hierzu Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 60 ff.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 308 ff. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und seine Kriterien werden auch im 3. Teil, Kapitel 2, D. I. 3. c) ausführlich erläutert und nachgewiesen. 454 Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 (296). 455 Pestalozza, Bundesgesundheitsblatt 2009, 683 (684 ff.). 456 Vgl. BVerfGE 7, 377 (414); 9, 338 (346); 13, 97 (107); 25, 236 (247); Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 261. Mit Blick auf die deutsche Geschichte wendet sich Frenzel, DÖV 2007, 243 ff. gegen die Verwendung des Begriffs Volksgesundheit und schlägt die Bezeichnung Gesundheit der Bevölkerung als Alternative vor. 457 Beispielhaft siehe BVerfGE 39, 1 (42). 452

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2. Teil: Eigenverantwortung

des Einzelnen zu einer gesundheitsgemäßen Lebensführung einher.458 Die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG gibt vielmehr jedermann ein Recht zur Selbstbeschädigung an Leben oder Gesundheit.459 Geschützt sind insofern auch selbstgefährdende und riskante Handlungen.460 Beschränkungen dieses Schutzbereichs sind nur zulässig, wenn die Folgen selbstgefährdender Tätigkeiten auch die Allgemeinheit treffen.461 Der Staat ist somit hinsichtlich des gesundheitlichen Wohlergehens des Einzelnen zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Lebensformen und -entscheidungen verpflichtet. Er darf nur eingreifen, wenn Interessen Dritter oder der Allgemeinheit betroffen sind und besitzt keine darüber hinausgehende Bewertungskompetenz.462 Eichenhofer schreibt, „es steht der Rechtsgemeinschaft nicht zu, über den tunlichen oder untunlichen Gebrauch individueller Freiheiten zu urteilen und in der sozialen Sicherheit an einen bestimmten Gebrauch dieser Freiheiten Leistungsausschlüsse zu knüpfen“.463 Die gesetzgeberische Absicht, nur die Rechtsgüter desjenigen zu schützen, dem gegenüber Beschränkungen ergehen, verschafft folglich keine Eingriffslegitimation, da die grundrechtlich eingeräumte Dispositionsfreiheit über bestimmte Rechtsgüter nicht zum Schutz eben dieser Güter wieder eingeschränkt werden kann.464 Dementsprechend betonte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Rechtfertigung der gesetzlichen Rauchverbote, dass diese allein zum Schutz der Nichtraucher vor den Gefahren des Passivrauchens dienten und keineswegs den Raucher in unzulässiger Weise 458 Steiner, NJW 1991, 2729 (2734 f.); Eichenhofer, SGb 2003, 705 (710 ff.); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 228 f.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 62; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 84. 459 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 84; Schwabe, JZ 1998, 66 (69); Eberbach, MedR 2010, 756 (767); Höfling, ZEFQ 2009, 286 (288). Heilmann, ZRP 1997, 268 (268) weist speziell auf das Grundrecht der Raucher aus Art. 2 Abs. 1 GG auf allgemeine Handlungsfreiheit, das sie ungeachtet medizinischer Risiken genießen, hin. Nach überwiegender Ansicht umfasst der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG auch die Selbsttötung; vgl. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 8; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 50; Schwabe, JZ 1998, 66 (69); K. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 85 ff. 460 BVerwGE 82, 45 (48 f.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 124; Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 2 I Rn. 31. Siehe auch Ausführungen zu Beginn des 2. Teils, Kapitel 1. 461 Schwabe, JZ 1998, 66 (70 ff.); K. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 201 ff., 230 ff.; Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 2 I Rn. 31. Zulässig sind insofern beispielsweise die Gurt- und Helmpflicht [vgl. BVerfGE 59, 275 (279)], sowie Maßnahmen gegen Passivrauchen, siehe BVerfGE 121, 317 (359); Faber, DVBl. 1998, 745 ff. 462 Schwabe, JZ 1998, 66 (70 ff.); K. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 201 ff., 230 ff.; Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 2 I Rn. 31; grundlegend hierzu Huster, Die ethische Neutralität des Staates. 463 Eichenhofer, SGb 2003, 705 (711). 464 Schwabe, JZ 1998, 66 (69 f.); Eichenhofer, SGb 2003, 705 (710 ff.); K. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 197, 201. Eichenhofer, SGb 2003, 705 (710).

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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bevormundeten, ihm insbesondere keinen Schutz vor Selbstgefährdung aufdrängten.465 Allein die Besserung der Gesundheitszustände der Versicherten kann demnach krankenversicherungsrechtliche Leistungsbeschränkungen bei einem durch die Lebensführung grob fahrlässig herbeigeführten Versicherungsfall nicht rechtfertigen. Allerdings ist die „Freiheit zur Krankheit“ „in sozialer Verantwortlichkeit gebunden“, was die „finanzielle Mitverantwortung auch und gerade bei Mitgliedschaft in einer sozialen Krankenversicherung“ mit einschließe, mahnt Pitschas466 und sieht daher beispielsweise die Auferlegung einer „Selbstbeteiligung wegen Risikoverursachung bzw. -erhöhung oder auch von Zuschlägen auf die allgemeinen Versicherungsbeiträge“ als zulässig an. Der legitime Zweck von krankenversicherungsrechtlichen Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls könnte somit – entsprechend der um den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens modifizierten Form der Eigenverantwortung nach § 1 Satz 2 SGB V – in der Solidarwidrigkeit des Versichertenverhaltens liegen. Wie bereits im vorherigen Kapitel unter C. II. 3. ausführlich untersucht und eingangs dieses Abschnitts 2. zusammengefasst, setzt die Einordnung eines Versichertenverhaltens als solidarwidrig im Rahmen der Sozialversicherung regelmäßig ein final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtetes Handeln des Versicherten bzw. einen entsprechenden Schädigungswillen voraus. In Bezug auf das Erkrankungsrisiko bzw. die Leistungen bei Krankheit nach dem SGB V gilt gemäß § 52 Abs. 1 SGB V auch eine vorsätzlich herbeigeführte – womöglich nur billigend in Kauf genommene – Erkrankung als solidarwidrig verursacht. Bei einer lediglich grob fahrlässig herbeigeführten Erkrankung, bei der sich der Versicherte zwar der gesundheitsschädlichen Wirkung seiner Lebensführung bewusst war, er aber darauf vertraut hat, dass eine Erkrankung ihn nicht treffen wird, besteht jedoch kein Anhaltspunkt für eine gemeinschaftsschädigende Willensrichtung. Im Gegenteil wird es dem Versicherten regelmäßig darum gehen, nicht zu erkranken, nicht der medizinischen Behandlung zu bedürfen und die damit verbundenen Einschränkungen der eigenen Lebensqualität nicht erleiden zu müssen. Gesundheitsgefährdende Lebensgewohnheiten, die teilweise in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind, lassen sich somit nicht kategorisch als solidarwidriges Verhalten eines gesetzlich Krankenversicherten einordnen. Die dem Solidarprinzip geschuldete Herausnahme solidarwidrig verursachter Versicherungsfälle aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen kann somit eine leistungsrechtliche Sanktion der grob fahrlässigen Herbeiführung einer Erkrankung durch die gesundheitsschädliche Lebensführung des Versicherten nicht legitimieren.

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Vgl. BVerfGE 121, 317 (359). Pitschas, VSSR 1998, 253 (257). An gleicher Stelle schreibt Pitschas aber auch: „Allerdings wäre der Ausschluss selbstverschuldeter Krankheit aus dem Leistungsanspruch verfassungswidrig“. Die „Freiheit zur Krankheit“ verbiete „eine Rationierung von Gesundheitsleistungen nach dem Maß betätigter Eigenverantwortlichkeit bzw. Unvernunft“. 466

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2. Teil: Eigenverantwortung

Als legitimer Zweck käme jedoch das Argument der Kostenersparnis467 als Interesse aller gesetzlich Krankenversicherten in Betracht. Dass sich Leistungsbeschränkungen bei gesundheitsschädigenden Lebensgewohnheiten positiv auf das gesundheitsrelevante Verhalten der Versicherten auswirken und die Gesundheitskosten nachhaltig senken würden, wird bezweifelt.468 Im Übrigen bestehen berechtigte Zweifel an der These, dass eine gesundheitsfördernde Lebensweise geringere Gesundheitskosten als eine gesundheitsgefährdende Lebensführung bedeutet.469 Angesichts der deutlich kürzeren Lebenserwartung von beispielsweise Rauchern ist unklar, ob sie im Gesundheitswesen tatsächlich höhere Kosten verursachen als Nichtraucher oder ob Rauchen für die sozialen Systeme kostenneutral oder sogar kostensparend ist.470 Sollte dennoch eine finanzielle Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung als legitimer Zweck dienen können, müsste die leistungsrechtliche Sanktion des durch seine gesundheitsschädliche Lebensführung grob fahrlässig erkrankten Versicherten zur Erreichung dieses Zweckes geeignet und das mildeste Mittel bzw. erforderlich sein. Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung der Erkrankung bzw. die Regresspflicht eines erkrankten Versicherten, der insofern Rechtsschutz sucht, bergen für sich genommen jedoch ein hohes Kostenrisiko für die gesetzlichen Krankenkassen, die zum Nachweis der gesundheitsschädlichen Lebensführung des Betroffenen, seines Verschuldens und des Kausalzusammenhangs zwischen dieser Lebensführung und dem Eintritt der Erkrankung verpflichtet sind und darüber hinaus das Insolvenzrisiko des regresspflichtigen Versicherten tragen.471 Fraglich ist daher, ob eine solche Regelung überhaupt geeignet wäre, die gesetzlichen Krankenkassen finanziell zu entlasten. Jedenfalls aber ist eine nachträgliche, also bei Eintritt einer Erkrankung erfolgende 467

Schulin, VSSR 1997, 43 (53) weist jedoch grundsätzlich darauf hin, dass mit pauschalen Berufungen auf die Nichtfinanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zwangsweise Leistungseinschränkungen nicht legitimiert werden könnten. Zum Grundsatz der finanziellen Stabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung siehe grundlegend Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung; ders., in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 16 Rn. 2 ff. 468 Nach Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, S. 109, spräche der „Wissensbestand über die Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten“ gegen diese Annahme. Auch Brunner, Partielle Selbstversicherung, S. 36, sieht in einer Kostenbeteiligung nach dem Verursacherprinzip eine eher geringe Steuerungswirkung. Vgl. auch Grühn, Dimensionen von Eigenverantwortung und Solidarität, S. 72 f. 469 Eichenhofer, SGb 2003, 705 (711) meint, der Sozialstaat werde „nicht nur durch ungesundes, sondern genauso in der Tendenz sogar weit stärker durch gesundes Verhalten belastet“. 470 Dies geben z. B. auch Huster, Ethik in der Medizin 2010, 289 (295); Coeppicus, ZRP 1998, 251 (251 f.); Werner, RsdE Heft 61 (2006), 1 (8); Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 176, zu bedenken. 471 Vgl. auch Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 247, der darauf hinweist, dass den ohnehin kaum quantifizierbaren Einsparpotenzialen die mit dem erforderlichen Nachforschungsaufwand verbundenen erheblichen Verwaltungskosten gegenüberstünden.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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Berücksichtigung einer gesundheitsschädlichen Lebensführung nicht das mildeste Mittel zur finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung von diesen Risiken. Führt man sich mögliche Einzelfälle vor Augen, kann durch die Zahlungspflicht eines erkrankten Versicherten, beispielsweise bei der Erkrankung eines Rauchers an einem Bronchialkarzinom, das typischerweise mit einer geringen Überlebensdauer und hohen Behandlungskosten einhergeht, eine ethisch äußerst bedenkliche Situation geschaffen werden, die mit der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Würde des Menschen kaum vereinbar erscheint. Zu denken ist beispielsweise auch an denjenigen Versicherten, der an einem Bronchialkarzinom erkrankt, obwohl er nie geraucht hat, und sich nunmehr einem Generalverdacht und insofern einer Rechtfertigungspflicht ausgesetzt sieht. Um eine gesundheitsschädliche Lebensführung krankenversicherungsrechtlich zu berücksichtigen, wäre zum Beispiel die Erhebung eines Risikozuschlags472 eine Alternative, die für den erkrankten Versicherten einen weniger massiven Eingriff in seine Freiheitsrechte bedeuten würde. Krankenversicherungsrechtliche Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässigen Herbeiführung der Erkrankung durch gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten verstoßen somit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und wären insofern als verfassungswidrig einzustufen. Zudem mahnen der grundrechtliche Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit betreffend die eigene Lebensführung und der Aspekt einer überwiegend auf Rechtszwang beruhenden Sozialversicherung den Gesetzgeber zur Zurückhaltung. h) Völkerrechtliche Grenzen Die Einführung von Leistungsbeschränkungen bei einer grob fahrlässig durch eine gesundheitsschädliche Lebensführung herbeigeführte Erkrankung ist zudem an zwischenstaatlichen Absprachen zu messen. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit Gesetz vom 18. 9. 1957473 das Übereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation über Mindestnormen der sozialen Sicherheit vom 28. 6. 1952 ratifiziert und damit dessen innerstaatliche Einhaltung garantiert. Nach Art. 69 Buchstabe e und f dieses Übereinkommens kann eine Leistung der sozialen Sicherheit nur ruhen, wenn der Versicherungsfall von der betreffenden Person durch ein von ihr begangenes Verbrechen oder Vergehen oder vorsätzlich herbeigeführt worden ist. Als Leistung der sozialen Sicherheit gelten dabei alle Leistungen, die ein soziales Risiko, das als einer staatlichen Absicherung bedürftig angesehen wird,

472 Hierin sieht Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 29, 33, 38, – die ursachenbezogenen Leistungsausschlüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung für unvereinbar mit dem Sozialstaatsprinzip, der Menschenwürdegarantie, dem Gleichheitssatz sowie den Freiheitsrechten hält – eine mögliche Alternative, die „aber insbesondere mit Blick auf die Freiheitsrechte ebenfalls nicht ganz unbedenklich“ sei. 473 BGBl. II 1957, S. 1321 ff.

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2. Teil: Eigenverantwortung

absichern.474 Die sozialversicherungsrechtlichen Leistungen zur Absicherung des Risikos der Krankheit können somit nicht ruhen, wenn der Versicherungsfall, also hier die Krankheit, fahrlässig herbeigeführt wurde.475 Vor diesem Hintergrund wurde die Vorgängervorschrift des § 52 Abs. 1 SGB V in § 192 RVO geändert476 und der Versagungsgrund der schuldhaften, also auch fahrlässigen Beteiligung bei Schlägereien und Raufhändeln gestrichen.477 i) Fazit Aus rechtswissenschaftlicher Sicht sind Forderungen, eine gesundheitsschädliche Lebensführung des Versicherten durch Ausschlüsse oder Beschränkungen der krankenversicherungsrechtlichen Leistungen zu sanktionieren, abzulehnen. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit zur Selbstschädigung und der überwiegend auf Rechtszwang beruhenden gesetzlichen Krankenversicherung verstößt eine entsprechende Regelung gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und verletzt die Freiheitsrechte des betroffenen Versicherten. Zudem erscheint, insbesondere angesichts der praktischen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Risiken im Sinne eines normativen Standards der Lebensführung, eine Verletzung des Gleichheitsgebots aus Art. 3 Abs. 1 GG unausweichlich. Unvereinbar wäre eine solche Regelung auch mit völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus dem von Deutschland ratifizierten Übereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation über Mindestnormen der sozialen Sicherheit ergeben. Darüber hinaus würde das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip, das gegen eine Risikodifferenzierung und für eine bedarfsgerechte Leistungsgewährung spricht, in erheblichem Maße missachtet. Eine persönliche Lebensführung, die zu einer Erkrankung führen kann, kann auch nicht grundsätzlich als solidarwidriges Verhalten qualifiziert werden. Es besteht kein Anhaltspunkt für einen Schädigungswillen gegenüber der Gemeinschaft; vielmehr stellt sich die Frage, inwieweit das gesundheitsschädliche Verhalten frei gewählt und somit zurechenbar ist. Darüber hinaus würde die Umsetzung leistungsrechtlicher Sanktionen bei Krankheiten, die durch eine gesundheitsschädliche Lebensführung des Krankenversicherten verursacht wurden, erhebliche Probleme mit sich bringen. Die Krankenkasse müsste gerichtsfest nachweisen, dass der Versicherte gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten hatte, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen seiner Lebensführung und dem Eintritt seiner Erkrankung gegeben ist, und dass dies dem Versicherten vorwerfbar im Sinne einer groben Fahrlässigkeit ist. Nicht nur der damit 474 BSGE 50, 95 (99); Nußberger, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 34 Rn. 13, 15. 475 Dies stellt auch Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 20, fest. 476 Durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. 8. 1972 [BGBl. I S. 1433 (1446)]. 477 BT-Drs. 6/3508, S. 31 f. sowie S. 11 des schriftlichen Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages, zu BT-Drs. 6/3508.

Kap. 2: Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten

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verbundene Verwaltungsaufwand, sondern insbesondere das dafür erforderliche Kontrollregime der gesetzlichen Krankenkassen, das mit den grundrechtlich gewährten Freiheiten der Versicherten kaum zu vereinbaren wäre, schrecken ab. Unabhängig davon stellt bereits die erforderliche Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen der gesundheitsschädlichen Lebensführung und der eingetretenen Krankheit den begutachtenden Mediziner vor große Probleme. Die meisten Krankheiten beruhen auf einem multifaktoriellen Ursachengeflecht, bei dem die relative Bedeutung von genetischer Veranlagung, Umweltfaktoren und dem gesundheitsbezogenen Verhalten des Betroffenen sowie die Wechselwirkung der einzelnen Krankheitsursachen kaum bestimmbar ist.

Dritter Teil

Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin Kapitel 1

Wunscherfüllende Medizin Neben der traditionellen indikationsbezogenen Medizin gewinne „eine neue wunscherfüllende Medizin“ Raum, „die nicht der Bedürftigkeit des Kranken oder des in seiner Gesundheit gefährdeten Menschen abhilft, sondern dem Begehren, der bloßen Nachfrage folgt“, schreibt Laufs.1 „In den Bereich der Wunschmedizin“ gehörten – so Hammerstein – „ärztliche Maßnahmen, die vom Patienten begehrt werden, ohne dass dafür eine Notwendigkeit im Sinne des Krankenversicherungsrechts besteht“.2 Dazu zählten neben der ästhetischen Medizin die individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) und die meisten Angebote der komplementären Heilverfahren, der Lifestyle-Medizin und des Anti-Aging, sowie die Fortpflanzungsmedizin, nicht medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche während der ersten drei Monate, der Kaiserschnitt auf Wunsch (Wunschsektio) und geschlechtskorrigierende Eingriffe bei Transsexualität.3 Diese Bereiche waren Gegenstand eines Symposiums für Juristen und Ärzte im Februar 2006 mit dem Titel Wunschmedizin – Der Arzt im Spannungsfeld zwischen medizinisch Notwendigem und Patientenbegehren.4 „Unter Wunschmedizin im Kontext dieser Veranstaltung“ – so der Hinweis von Schlungbaum und Hammerstein – seien aber „keineswegs nur solche ärztlichen Maßnahmen zu verstehen“, „für die es keine medizinische Indi1 Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 21. „Immer mehr Bereiche der Medizin sind als Dienstleistungssektoren konzipiert, die auf Wunsch abgefragt werden können“, schreibt Höfling, ZEFQ 2009, 286 (288); ebenso ders., Salus aut/et voluntas aegroti suprema lex – Verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 120. Aus medizinhistorischer Perspektive meint Unschuld, ZaeFQ 2006, 639 (639) jedoch, dass die Medizin schon immer den Bedürfnissen der Patienten folge, Wunschmedizin also im Grunde nichts Neues sei. Neu sei vielmehr, dass der Patient Eingriffe verlangen könne, die früher undenkbar waren. 2 Hammerstein, ZaeFQ 2006, 638 (638). 3 Hammerstein, ZaeFQ 2006, 638 (638). 4 Die einzelnen Referate und Diskussionen dieses 32. Symposiums der Kaiserin-FriedrichStiftung in Berlin sind in gestraffter Form in Heft 9 – 10 der ZaeFQ 2006 wiedergegeben.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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kation gibt – wie das zum Beispiel in weiten Bereichen der ästhetischen Medizin der Fall“ sei; „auch kurative Maßnahmen auf ausdrücklichen Patientenwunsch gehören dazu, wenn deren Kosten von den Kassen nicht erstattet werden, weil die Indikationsstellung dafür den harten Kriterien der modernen Medizin nicht standzuhalten vermögen“.5 Ähnlich weite Bereiche6 ordnet auch Kettner der wunscherfüllenden Medizin zu und meint, deren „kleinster gemeinsamer Nenner“ bzw. „die Verwandtschaft der heterogenen Phänomene, die der Begriff der Wunscherfüllung hervorheben soll,“ liege „in der wachsenden Spannung zwischen überkommenen professionsethischen Selbstbeschränkungen ärztlichen Handelns im jeweiligen Praxisbereich und dem Druck von weit darüber hinaus gehenden Anwendungswünschen, die die herkömmlichen, mehr oder weniger guten Gründe für die Selbstbeschränkungen in Frage stellen oder entwerten“.7 Nach Stock beginne Wunschmedizin „dort, wo ein medizinischer Anlass zu Diagnose und Therapie fehlt“.8 Als Handlungsfelder wunschmedizinischer Maßnahmen untersucht er exemplarisch die Maßnahmen der assistierten Reproduktion, kosmetische Operationen und die Wunschsektio.9 Hinsichtlich der Reproduktionsmedizin bezweifelt Stock, ob insofern ein medizinischer Anlass tatsächlich fehlt und meint in Anbetracht des gesetzlichen Rahmens, insbesondere des Embryonenschutzgesetzes, dass der „in der medizinethischen Diskussion behauptete Trend“ zu wunschmedizinischen Eingriffen ohne Indikation nicht erkennbar sei.10 Widersprüchlich erscheint auch die Einordnung der Wunschsektio als wunschmedizinische Maßnahme, da Stock selbst feststellt, dass die Schwangere in einer Situation sei, in der sie medizinische Hilfe benötige und daher „jedenfalls Anlass zu medizinischem Handeln“ bestünde.11 Dieses weite Verständnis wunscherfüllender Medizin begegnet Kritik. „Ein nicht unbeträchtlicher Teil der unter dem Etikett wunscherfüllende Medizin diskutierten Phänomene kann durchaus im Sinne traditioneller krankheitsbezogener Medizin 5

Schlungbaum/Hammerstein, ZaeFQ 2006, 724 (724). Als Bereiche wunscherfüllender Medizin nennt Kettner, Ethik in der Medizin 2006, 81 (82 ff.), Folgende: die Fortpflanzungsmedizin, die Schönheitschirurgie, die Anti-Aging und Lifestyle-Medizin, Enhancement, Doping, „alternative Heilmittel, Diagnose- und Behandlungsverfahren, deren Wirksamkeit sich eher subjektiv erweist“ sowie die IGeL. Eine ähnliche Auflistung von Erscheinungsbildern wunscherfüllender Medizin findet sich auch bei Junker/ Kettner, Konsequenzen der wunscherfüllenden Medizin für die Arzt-Patient-Beziehung, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 60 ff. Junker und Kettner benennen hier zusätzlich Maßnahmen eines positiven medizinischen Utopismus. Dazu schreiben sie: „Geweberegenerierung, Stammzelltherapie, Keimbahnveränderung, die individualisierte (das heißt, auf die spezifische genetische Konstitution eines Menschen abgestimmte) Medizin und die Aussicht auf übernormale Verlängerung der Lebensspanne wecken quasireligiöse Euphorien.“, siehe Junker/Kettner, Konsequenzen der wunscherfüllenden Medizin für die Arzt-Patient-Beziehung, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 63. 7 Kettner, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 21. 8 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 125, siehe auch auf S. 142. 9 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 153 ff. 10 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 203, 227 ff. 11 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 216, Zitat auf S. 274. 6

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

interpretiert werden, wenn man die semantischen Offenheiten des Krankheitsbegriffs nicht restriktiv, sondern expansiv handhabt“, schreiben Buyx und Hucklenbroich.12 IGeL seien „zu einem großen Anteil sinnvolle präventivmedizinische Maßnahmen – sinnvoll jedenfalls, wenn primär der Maßstab der Gesundheitsbewahrung angelegt wird, dagegen vielleicht nicht immer sinnvoll unter primär ökonomischem Aspekt (und daher auch nicht erstattungsfähig)“.13 Grundsätzlich nicht zum Bereich der wunscherfüllenden Medizin zählten Maßnahmen der medizinischen Prävention, soweit deren Anlass und Ziel sei, den Eintritt von Krankheit zu verhindern, meint Eberbach und ordnet IGeL daher nicht notwendigerweise der Wunschmedizin zu, wobei jedoch Überschneidungen denkbar seien.14 Auch Viehöver und Wehling meinen, „alternative Formen der Medizin (Akupunktur, Homöopathie, Naturheilkunde etc.)“ und „bestimmte als IGeL angebotene Früherkennungsverfahren“ dienten „aus Sicht der Patienten keineswegs einer wunscherfüllenden WohlfühlMedizin, sondern durchaus kurativen (Akupunktur, Homöopathie) oder präventiven Zielen“ und könnten daher nicht als Erscheinungsformen wunscherfüllender Medizin dargestellt werden.15 Während zu Beginn der Diskussion über die Wunschmedizin auf das Kriterium des bloßen Patientenbegehrens abgestellt wurde, ergab die weitere Fachdiskussion eine Konkretisierung der subjektiven Zielrichtung des Patienten. Mit der wunscherfüllenden Medizin sei eine eigene Kategorie ärztlichen Handelns entstanden, meint Eberbach, bei der es sich „um ärztliche Maßnahmen zur Verbesserung des Menschen, um Maßnahmen zur Optimierung seiner Anlagen und zur Steigerung seiner Fä-

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Buyx/Hucklenbroich, „Wunscherfüllende Medizin“ und Krankheitsbegriff, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 41. 13 Buyx/Hucklenbroich, „Wunscherfüllende Medizin“ und Krankheitsbegriff, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 28. „Unter IGeL ist ein Spektrum von Leistungen für GKVVersicherte zu verstehen, das außerhalb des GKV-Leistungsanspruchs steht bzw. vom GKVVersicherten als privatärztliche Leistung selbst gezahlt werden muss.“ schreibt die Medizinerin Klakow-Franck, ZaeFQ 2006, 703 (703). Kettner schreibt: IGeL seien Leistungen, die „bestenfalls medizinisch sinnvoll aber keineswegs medizinisch notwendig sind“, siehe Kettner, Ethik in der Medizin 2006, 81 (85); Junker/Kettner, Konsequenzen der wunscherfüllenden Medizin für die Arzt-Patient-Beziehung, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 65. 14 Eberbach, MedR 2008, 325 (325, 333). Hingegen ordnete er zuvor in ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 14, die IGeL dem Bereich der wunscherfüllenden Medizin zu. So bspw. auch Schreiber, ZaeFQ 2006, 644 (644). 15 Viehöver/Wehling, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 27 (Hervorhebung aus dem Originaltext). Anlässlich einer Tagung zum Themenbereich der Wunschmedizin im Januar 2009 des Fachbereichs Soziologie der Universität Augsburg präsentieren Viehöver und Wehling ihre These der „Entgrenzung der Medizin, eines Wandels von der ärztlichen Heilkunst zur biotechnologischen Optimierung des Menschen“, siehe Viehöver/Wehling, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 7 ff., 29. Die einzelnen Tagungsbeiträge sind zusammengestellt in Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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higkeiten“ handele.16 Wunscherfüllender Medizin gehe es – so Eberbach an anderer Stelle – um die „mit biomedizinischen Interventionen herbeigeführte Steigerung, Erweiterung oder Verbesserung etwa natürlicher physischer Eigenschaften, kognitiver Fähigkeiten und der psychischen Konstitution, seien diese Änderungen nun reversibel oder nicht, mögen sie den ganzen Körper betreffen oder nur einzelne seiner Teile, soll die Wunscherfüllung die eigene Person betreffen oder, mittels gentherapeutischen Eingriffs, auch nachfolgende Generationen“.17 Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. formuliert in ihren Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin18 im Oktober 2008: „Wunscherfüllende Medizin bezeichnet jede Art von nicht medizinisch indizierten Eingriffen in den menschlichen Organismus mit dem Ziel der Verbesserung, Veränderung oder Erhaltung von Form, Funktion, kognitiven Fähigkeiten oder emotionalen Befindlichkeiten (sog. Enhancement), die unter ärztlicher Verantwortung durchgeführt werden. Dazu zählen insbesondere operative, pharmakologische, biotechnische (z. B. neurobionische) und gentechnische Maßnahmen. Dabei kommen häufig Substanzen und Verfahren zum Einsatz, die ursprünglich zur Behandlung und Prävention von Krankheiten entwickelt wurden.“ Der in Bezug genommene Begriff des Enhancements erscheint in seinem Bedeutungsgehalt nahezu deckungsgleich mit dem der Wunschmedizin. Nach Lenk bezeichne Enhancement solche biomedizinischen Interventionen, die über die Heilung von Krankheiten und Erhaltung der Gesundheit hinausgehen; dies seien „chirurgische Eingriffe zur Verwirklichung kultureller oder individueller Schönheitsideale, pharmakologische Manipulationen zur Herstellung größerer Leistungsfähigkeit oder höherer Angepasstheit in Schule und Beruf, und vielleicht eben eines Tages gentechnische Interventionen zur Erzeugung bestimmter psychischer oder körperlicher Merkmale, die den Menschen zwar nicht gesünder machen, ihn aber näher an ein kulturell oder subkulturell vermitteltes Idealbild heranführen“.19 Deutlich weiter definiert beispielsweise Lanzerath Enhancement als „Methoden, die 16 Eberbach, MedR 2008, 325 (325) (Hervorhebung aus dem Originaltext); siehe auch ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 15. 17 Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (366) (Hervorhebung aus dem Originaltext); dabei nimmt Eberbach Bezug auf Gesang, Ethik in der Medizin 2006, 10 (18 ff.), der die Reversibilität der Maßnahme als taugliches Abgrenzungskriterium zwischen zu akzeptierender und abzulehnender Wunscherfüllung annimmt. 18 Die DGMR hat zum Thema wunscherfüllende Medizin im Oktober 2008 einen Workshop abgehalten und als Tagungsergebnis die Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin verabschiedet. Wienke u. a. haben die Empfehlungen und Tagungsbeiträge in einem Band der Schriftenreihe Medizinrecht des Springer-Verlags mit dem Titel Die Verbesserung des Menschen. Tatsächliche und rechtliche Aspekte der wunscherfüllenden Medizin veröffentlicht. Die Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin sind abgedruckt, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 179 – 181; zur nachfolgenden Definition wunscherfüllender Medizin siehe dort S. 179. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch bei Prehn, NZS 2010, 260 (260). 19 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 15.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

der Stärkung der Leistungsfähigkeit von gesunden Menschen dienen und die Natur des Menschen insgesamt verbessern wollen“.20 „Der von der Ethik geprägte Begriff Enhancement bezieht sich auf alle korrigierenden Eingriffe in den menschlichen Körper, die nicht der Behandlung einer Krankheit, sondern der Verbesserung des Körpers einschließlich seiner Leistungsfähigkeit dienen“, schreibt Lorz.21 Nach alledem ist folgendes Verständnis von wunscherfüllender Medizin festzustellen und der nachfolgenden Untersuchung zugrunde zu legen: Maßnahmen, die den Kategorien der Wunschmedizin sowie des Enhancements unterfallen, sind Eingriffe in den menschlichen Körper, die nicht medizinischen Heilzwecken dienen, sondern das Ziel des Patienten22 verfolgen, seinen Körper entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren. Die vom Patienten beabsichtigte Verbesserung seines Körpers kann sich dabei auf eine Veränderung seines körperlichen Erscheinungsbildes oder auf eine Steigerung seiner körperlichen oder geistigen Fähigkeiten beziehen. Enhancement erfasst im Unterschied zur Wunschmedizin auch solche Maßnahmen, die außerhalb des medizinischen Bereichs angeboten werden, wie z. B. leistungssteigernde Nahrungsergänzungsmittel.23 Nach den oben zitierten Definitionen, beispielsweise der DGMR, ist der Bereich wunscherfüllender Medizin auf solche Maßnahmen beschränkt, die von einem Arzt oder unter ärztlicher Verantwortung durchgeführt werden. Medizinische Behandlungen sind jedoch nicht gleichzusetzen mit ärztlichen Behandlungen, sondern werden auch selbstständig von Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, wie z. B. von Heilpraktikern oder Psychotherapeuten, durchgeführt.24 Wunscherfüllende Medizin umfasst somit alle von einem Arzt oder Angehörigen eines anderen Heilberufs vorgenommenen Eingriffe in den menschlichen Körper, die nicht medizinischen Heilzwecken dienen, sondern das 20 Lanzerath, Professionsethische Aspekte, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 253. Siehe auch Fuchs u. a., Enhancement, S. 15 f. 21 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 27 (dort in Fn. 16) m. w. N. Weitere Formulierungen z. B. bei Repantis, Die Wirkung von Psychopharmaka bei Gesunden, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 63; Beck, MedR 2006, 95 (95) m. w. N. 22 Wunscherfüllende Medizin stehe für einen „neuartigen Nutzertypus medizinischer Leistungen“, „der als Klient und Konsument ärztliches Wissen und Können benötige, um sich zu seiner Lebensführung genau diejenige körperliche Verfassung zu schaffen, die er oder sie sich wünscht“; siehe Viehöver/Wehling, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 26 m. w. N. Vgl. auch Eberbach, MedR 2008, 325 (326). Zum Rollenwandel des Patienten vom Leidenden zum Kunden und Partner siehe Unschuld, ZaeFQ 2006, 639 ff. Im Folgenden sind Personen, die wunschmedizinische Maßnahmen an sich vornehmen lassen, dennoch als Patient bezeichnet. 23 Eberbach, MedR 2008, 325 (325); ders., in: FS für Günter Hirsch, 365 (370). Enhancement erfasse daher als Oberbegriff die wunscherfüllende Medizin. 24 Eine Legaldefinition von medizinischen Behandlungen existiert nicht. Laut Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, steht der Begriff Medizin für die „ärztliche Kunst“ bzw. die „Wissenschaft von gesunden und kranken Menschen, von den Ursachen, Wirkungen und der Vorbeugung und Heilung der Krankheiten“. Dass aber auch Andere als Ärzte Heilkunde ausüben können, geht beispielsweise aus § 1 des Heilpraktikergesetzes oder § 1 des Psychotherapeutengesetzes hervor.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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Ziel des Patienten verfolgen, seinen Körper entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren.

A. Optionen, Risiken, Verbreitung wunscherfüllender Medizin Als mögliche Maßnahmen wunscherfüllender Medizin werden beispielsweise die Schönheitschirurgie und -dermatologie, zahnmedizinische Maßnahmen25, AntiAging-Behandlungen26, Lifestyle-Medizin27, Neuro-Enhancement, die Fortpflanzungsmedizin28, Doping und gentherapeutische Maßnahmen genannt, die nicht der Heilbehandlung, sondern der Steigerung und Verbesserung der physischen oder psychischen Leistungsfähigkeit dienen sollen.29 „Eine abschließende Umschreibung der medizinischen Bereiche, die der wunscherfüllenden Medizin zuzuordnen sind, 25 Kritisch beschreibt Groß aus zahnmedizinischer Sicht den Trend zur wunscherfüllenden Zahnmedizin bzw. dentalen Kosmetik und nennt Maßnahmen wie das Bleichen der Zähne, Zahntattoos, Zahncaps, Zahnpiercings etc. „Die Risiken dentaler Piercing-Maßnahmen sind – nicht nur, aber vor allem bei unsachgemäßer Durchführung – erheblich.“; siehe Groß, Wunscherfüllende Zahnmedizin, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 103 ff., Zitat auf S. 108. Einen wachsenden Markt für ästhetisch motivierte Zahnbehandlungen erkennt auch Hahn, MedR 2010, 485 (485), und untersucht, inwieweit diese als Maßnahmen der Zahnheilkunde gelten. Hahn, MedR 2010, 485 (488 ff.), zeigt die unterschiedlichen Maßnahmen auf, die ggf. auch der Zahnheilkunde unterfallen können, wie z. B. Bleachingbehandlungen bei erheblichen Zahnverfärbungen, die als Zahnerkrankungen anzusehen seien. 26 Dabei handelt es sich im Wesentlichen um dermatologische und chirurgische Eingriffe, die dem körperlichen Alterungsprozess entgegenwirken. Steinkraus gibt zu bedenken, dass „das Wort Anti-Aging in sich widersprüchlich, irreführend und genauso falsch wie das Wort AntiSonnenuntergang oder Anti-Tod“ sei, siehe Steinkraus, ZaeFQ 2006, 650 (651) (Hervorhebungen aus dem Originaltext). Siehe ausführlich auch Maio, ZfmE 2006, 339 ff. Kritisch zur damit verbundenen Entgrenzungstendenz der Medizin positioniert sich z. B. auch Eichinger, Ausweitung der Kampfzone, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 195 ff. 27 Darunter werden z. B. Stimmungsaufheller, bewusstseinserweiternde Drogen, potenzsteigernde Medikamente verstanden, siehe Kettner, Ethik in der Medizin 2006, 81 (82 ff.). 28 Angesichts der für die Wunschmedizin vorausgesetzten subjektiven Zielrichtung der körperlichen, geistigen oder mentalen Optimierung erscheint es zweifelhaft, ob die Fortpflanzungsmedizin hierunter zu fassen ist. Damm kategorisiert sie ebenso wie die Sektio auf Wunsch, die Transplantationsmedizin und die genetische Diagnostik als medizinische Handlungsfelder zwischen Indikations- und Wunschmedizin; siehe Damm, Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 275 ff.; ders., Informed consent zwischen Indikations- und Wunschmedizin, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 183 ff. Aufgrund der insofern unklaren Zuordnung ist die Fortpflanzungsmedizin hier nicht näher untersucht. 29 Lindner, MedR 2010, 463 (464); Eberbach, MedR 2008, 325 (325, 328 ff.); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 16; Lanzerath, Professionsethische Aspekte, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 253; Schöne-Seifert, Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 279.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

erscheint nicht sinnvoll“, meint Eberbach; ausschlaggebend sei allein die Intention der Behandlung: „Ärztliche Tätigkeit ist dann wunscherfüllende Medizin, wenn sie geeignet ist und dafür eingesetzt wird, das menschliche Potenzial zu verbessern und die Leistungsfähigkeit zu steigern“.30 Im Folgenden sind die Möglichkeiten wesentlicher Bereiche wunscherfüllender Medizin, ihre gesundheitlichen Risiken und Häufigkeit dargestellt. I. Schönheitsoperationen Typisches Beispiel wunscherfüllender Medizin ist die Schönheitsoperation. „Die Suche des Menschen nach Mitteln sich zu verschönern ist so alt wie die Menschheit selbst, und die Schönheitschirurgie selbst ist so alt wie die Geschichte der Medizin“, schreibt Taschen31 „Schönheit ist sowohl für die Selbstzufriedenheit als auch für die Akzeptanz in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung“, meint Lorz.32 „Maßnahmen der (Selbst-)Verbesserung des Menschen“ gehörten – so Eberbach33 – „längst zum Alltag in der modernen Gesellschaft“ und dienten „in der Regel direkt oder indirekt der besseren Verwertung zu merkantilen Zwecken und damit überwiegend zur Einkommenserzielung“. „Es geht bei der Schönheitschirurgie auch um die Überwindung von authentisch erlebten Leid, um die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe“, schreibt Villa.34 Aus psychoanalytischer Sicht formuliert Rohde-Dachser35 : „Schönheitsoperationen können als Mittel der narzisstischen Selbsterschaffung, als Austragungsort innerer Konflikte, als Inszenierung ödipaler Phantasien und als Medium erlösender Verwandlung verstanden werden“. Die Entscheidung, eine Schönheitsoperation an sich vornehmen zu lassen, wird auch aus ethischer Sicht

30 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 16. 31 Taschen, Schönheitschirurgie, S. 10. „Bereits im alten Ägypten“ hätte „es Beschreibungen von Nasenkorrekturen und Narbenbehandlungen“ gegeben. „Die Schönheitschirurgie in ihrer heutigen Form“ habe „allerdings ihre Wurzeln vor allem im ersten Weltkrieg“ und den vielen „Kriegsversehrten und Opfern mit Grauen erregenden Verletzungen“; vgl. Taschen, Schönheitschirurgie, S. 11, 62 ff. Zur historischen Entwicklung von Schönheitsoperationen siehe auch Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 50 ff.; Stark, ZfmE 2006, 103 (104 ff.); Bergdolt, ZfmE 2006, 115 (117 ff.); Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 19 ff.; BührerLucke, Die Schönheitsfalle, S. 61 ff. 32 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 23. Sie beleuchtet den Begriff der Schönheit als Zwecksetzung einer Schönheitsoperation und unterscheidet Schönheit als objektiven Begriff, Schönheit als kulturell geprägten Begriff und Schönheit als ausschließlich subjektiven Begriff; vgl. Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 28 ff. 33 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 34. 34 Villa, Mach mich schön!, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 157 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 35 Rohde-Dachser, Im Dienste der Schönheit, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 211, 218 ff.

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untersucht,36 beispielsweise fragt Herrmann37, ob die Inanspruchnahme schönheitschirurgischer Maßnahmen Ausdruck einer autonomen Entscheidung oder Ausdruck eines zunehmenden Konformitätsdrucks und einer Unterwerfung des Individuums unter soziale Standards ist. Einen besonderen Einfluss auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Schönheitsoperationen und damit auch auf die individuelle Entscheidung zu einer solchen Maßnahme üben die Medien aus, indem in bestimmten Fernsehsendungen38 sowie in Ratgeberbüchern39 und anderen Printmedien, derartige Eingriffe angepriesen und die damit verbundenen Risiken verharmlost werden.40 Bergdolt41 schreibt: „Dank einer raffinierten Werbung erreicht der illusorische Schönheitswahn zunehmend ein labiles, jugendliches Zielpublikum, das äußere Attraktivität mit sozialem Erfolg, Reichtum und sozialem Aufstieg verbindet. Häufig nimmt die Bemühung um Gesundheit sogar den Status einer Ersatzreligion ein, die Freizeit dient ausschließlich dem Kampf um Schönheit und Fitness. Die Medienindustrie suggeriert, dass ein gefälliges Äußeres die Vorbedingung allen Glücks und Heils darstellt. Ethisch bedenklich erscheint auch, dass hinter der Verführung, die nicht selten mit dem Leidensdruck von weniger schönen Menschen begründet wird, wirtschaftliche Überlegungen stehen und die wirklichen Motive der Betroffenen, etwa schwere Neurosen, Partnerkonflikte und schwere Störungen des Selbstwertgefühls außer Acht gelassen werden.“ Der Facharzt für Plastische Chirurgie Stark42 meint: „Die derzeitige Situation in Deutschland ist gekennzeichnet durch mangelnde Transparenz und ökonomisch motivierten sich ausbreitenden Wildwuchs.“ Nahezu einhellig wird auf eine in Deutschland in den letzten Jahren stetig zunehmende Anzahl von Schönheitsoperationen hingewiesen.43 Kettner44 meint, „die 36 Siehe bspw. Wiesing, ZfmE 2006, 139 ff.; Bayertz/Schmidt, „Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein …!“, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 43 ff.; Ach, Komplizen der Schönheit?, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 187 ff.; Fuchs u. a., Enhancement, S. 71 ff. 37 Herrmann, Ethik in der Medizin 2006, 71 ff. 38 Z. B. The Swan bei Pro Sieben oder Extrem schön bei RTL2; siehe hierzu Teichner/ Schröder, MedR 2009, 586 (587); Taschen, Schönheitschirurgie, S. 12 f.; Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 52 f.; Villa, Mach mich schön!, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 150 ff. 39 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (587), bieten hierzu zahlreiche Nachweise. 40 So auch Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (587). Bezogen auf Brustvergrößerungen siehe z. B. Allert, Hamburger Ärzteblatt 2009, 30 (30). 41 Bergdolt, ZfmE 2006, 115 (115). 42 Stark, ZfmE 2006, 103 (103). 43 Prehn, NZS 2010, 260 (261); Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (587); Beck, MedR 2006, 95 (95); Hibbeler/Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2011, A1468 (A1468 f.); Taschen, Schönheitschirurgie, S. 10; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 53, 251; Hönig, Ästhetische Chirurgie, Vorwort; Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 59; Ach, Komplizen der Schönheit?, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 188 f.; Villa, Mach mich schön!, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 143 ff.; Herrmann, Ethik in der

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Massenmedien“ sensationalisierten „die Ausbreitung der kosmetischen, die körperliche Erscheinungsform verbessernden Medizin enorm, um Erregungswerte zu produzieren“ und würden durch „monoton wiederholte Zahlen, wie die von den dramatischen 600 000 Schönheitsoperationen pro Jahr in Deutschland, verdecken, dass ein großer Teil der Maßnahmen überhaupt nicht operativ ist (z. B. chemische peelings) und ein anderer großer Teil zwar operativ aber ohne dramatisches Risiko ist (z. B. Botulinumeinspritzungen oder Lidstraffungen)“. Genaue Zahlen zur Häufigkeit und zahlenmäßigen Entwicklung von Schönheitsoperationen in Deutschland lassen sich nicht finden; eine bundeseinheitliche statistische Erhebung existiert nicht.45 In ihrem Antrag Missbräuche im Bereich der Schönheitsoperationen gezielt verhindern – Verbraucher umfassend schützen vom 24. Oktober 2007 formulieren die CDU/CSU- und die SPD-Bundestagsfraktion hierzu Folgendes:46 „Erhebungen werden insoweit nur von den plastisch-chirurgischen Fachgesellschaften durchgeführt. So haben die Mitglieder der Vereinigung Deutscher Plastischer Chirurgen im Jahr 2005 etwa 700 000 Eingriffe durchgeführt, davon etwa 175 000 rein ästhetische Eingriffe. Die Mitglieder der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland haben im Jahr 2004 rund 186 000 Schönheitsoperationen und rund 68 000 Faltenbehandlungen durchgeführt. Es gibt jedoch eine hohe Dunkelziffer, denn die Eingriffe von Ärzten, die keine Facharztausbildung zum plastischen Chirurgen absolviert haben, werden genauso wenig erfasst wie die von Heilpraktikern und Kosmetikern. Auch die Anzahl der in Deutschland lebenden Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich im Rahmen eines OP-Tourismus im Ausland einer schönheitschirurgischen Behandlung unterziehen, ist nicht bekannt. Laut Schätzungen sollen im Jahr 2001 ca. 400 000 Menschen in Deutschland eine Schönheitsoperation an sich haben durchführen lassen, 2002 mehr als 800 000. Seit 2003 wird die Zahl auf über eine Million geschätzt.“ Eine Hochrechnung im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Schönheitsoperationen im Auftrag der Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft ergab für das Jahr 2005 eine Anzahl von 523 885 ästhetischen Operationen in Deutschland; ließe man die minimal-invasiven Laserbehandlungen unberücksichtigt, reduziere sich die Gesamtzahl auf 331 500.47 Fehlende verlässliche Medizin 2006, 71 (71); Eberbach, MedR 2008, 325 (327 ff.); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 9 ff., 37; Wiesing, ZfmE 2006, 139 (140); Löwisch/Beck, BB 2007, 1960 (1960). Der Wunsch nach einem neuem Busen zum Abitur sei keine Ausnahme mehr, meint Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 169; BTDrs. 16/6779, S. 1 f.; BT-Drs. 15/4117, S. 7. 44 Kettner, Ethik in der Medizin 2006, 81 (89 f.) (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 45 Siehe auch BT-Drs. 16/6779, S. 1; BT-Drs. 15/2289, S. 3; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 52, 251. 46 BT-Drs. 16/6779, S. 1 f. 47 Siehe Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 44; eine Analyse des Markts für ästhetische Operationen in Deutschland ergab jedoch abweichende Zahlenangaben, siehe S. 87 ff., 91.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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Zahlenangaben zur Häufigkeit von Schönheitsoperationen sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass diesem Bereich keine eindeutigen Begrifflichkeiten48 zugrunde liegen. 1. Begriffsverständnis und -inhalt Die Schönheitsoperation wird auch als ästhetische, ästhetisch-plastische oder kosmetische Operation, Chirurgie, Eingriff oder Behandlung bezeichnet.49 Nach Wenzel50 stelle die kosmetische Chirurgie einen Teil der ästhetischen Chirurgie dar, die solche Eingriffe bezeichne, „die nicht der Beseitigung einer Erkrankung, sondern der Verbesserung des äußeren Erscheinungsbildes dienen, wobei damit vor allem formenverändernde Maßnahmen wie Facelifting, Ohr- und Nasenplastik, Brustaufbau bzw. -verkleinerung, Fettabsaugung gemeint“ seien. Hingegen würden „als kosmetische Eingriffe“ „die nicht formenverändernden Eingriffe zur Abmilderung physiologischer Prozesse (Hautalterung) wie Faltenbehandlungen durch Unterspritzung mit verschiedenen Füllmaterialien (z. B. Botulinum, Hyalonsäure, Collagen) gesehen“. Kosmetische Operationen beträfen nicht nur das Fachgebiet der Chirurgie, sondern ebenso die Dermatologie, meint Stock51 und hält es deswegen für verkürzt, nur von kosmetischer Chirurgie zu sprechen. Jacobs und Vorndamme schreiben:52 „Kosmetische Chirurgie oder Schönheitschirurgie sind im laienhaften Sprachgebrauch die geläufigsten Bezeichnungen für ästhetische Chirurgie oder ästhetisch-plastische Chirurgie. Die ästhetische Chirurgie ist ein Teilbereich der plastischen Chirurgie, deren Ziel ist, die sichtbar gestörte Form und Funktion des Körpers durch einen plastisch-operativen Eingriff wiederherzustellen oder zu verbessern.53 Der ästhetische Bereich der plastischen Chirurgie hat jedoch ausschließlich das Ziel, den Körper oder die Gesichtszüge des Menschen zu verschönern.“54 48 Siehe hierzu BT-Drs. 16/6779, S. 1; BT-Drs. 15/2289, S. 1; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 52; Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 8, 15 f. 49 Damm, GesR 2010, 641 (641); Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 17; Bruck, ZaeFQ 2006, 647 (647); Wiesing, ZfmE 2006, 139 (140); Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 46 ff. m. w. N. 50 Nachfolgende Zitate aus Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 94. Wenzel nimmt Bezug auf die arzthaftungsrechtliche Rechtsprechung des BGH, in der vorrangig der Begriff der kosmetischen Chirurgie verwandt würde. Der Rechtsprechung gehe es jedoch „weniger um die Art und nach medizinischer Fachdisziplin einzuordnende Zielrichtung des Eingriffs als vielmehr um dessen Grund bzw. Motivation“, schreibt Wenzel. 51 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 160. 52 Jacobs/Vorndamme, Schönheitschirurgie, S. 18. 53 Siehe hierzu auch Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 17, der meint die Gleichsetzung der Begriffe plastisch und ästhetisch sei „einer der häufigsten Irrtümer von Laien auf diesem Gebiet”. Ähnlich formulieren ebenfalls aus fachärztlicher Sicht Hönig, Ästhetische Chirurgie, Vorwort; Bruck, ZaeFQ 2006, 647 (647). 54 Etwas vorsichtiger formuliert der Facharzt Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 19: „Ästhetische Operationen werden mit dem Ziel durchgeführt, einen oder mehrere Körperteile harmonischer zu gestalten, um bezüglich der Proportionen eine gewisse Angleichung an

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Im medizinischen Sprachgebrauch wird unter einer Operation ein chirurgischer Eingriff in den lebenden menschlichen Organismus verstanden55 und somit auf das Fachgebiet der Chirurgie Bezug genommen. Dieses enge Verständnis vertritt auch Karcher und qualifiziert die Faltenbehandlung durch Unterspritzungen mit verschiedenen Füllmaterialien wie Botox (Botulinumtoxin A), Kollagen, Hyaluronsäure, Eigenfett oder Milchsäure sowie die Laserbehandlungen der Dermatologie als nicht operative (minimalinvasive) Eingriffe.56 Zur ästhetischen Dermatologie schreibt der Facharzt Steinkraus:57 „Die moderne Medizin mit molekularbiologischen Ansätzen und neuen biophysikalischen Technologien (z. B. Lasertechnologie) hat der Dermatologie Möglichkeiten eröffnet, die noch vor kurzem unvorstellbar waren.“ Aus dem Bereich der Chirurgie werden als die gängigsten Operationsmethoden und -techniken Folgende genannt und beschrieben:58 das Gesichtslifting (Lippen-, Augenlid-, Stirn-, Wangen-, Halsstraffung), die Nasenkorrektur, die Profilplastik (Kinn), die Ohrenkorrektur, Jochbogenkorrektur (Aufpolstern der Wangenknochen), die Haartransplantation, die Brustvergrößerung mittels verschiedener Implantate, die Brustverkleinerung, auch bei Männern, die Fettabsaugung sowie die mittels Skalpell vorzunehmende Bauchstraffung, Oberarmstraffung, Oberschenkelstraffung, das Einbringen von Waden- und Poimplantaten sowie operative Veränderungen des männlichen oder weiblichen Genitalbereichs. In der Diskussion über Schönheitsoperationen wird der Begriff Operation häufig weiter, im Sinne eines instrumentellen, ärztlichen Eingriffs59 verstanden und dabei in erster Linie auf die subjektive Zielrichtung des Patienten abgestellt. Lorz legt ihrer arzthaftungsrechtlichen Untersuchung von Schönheitsoperationen folgende Be-

Vorstellungen der Umwelt zu erreichen und dadurch wiederum die psychische Stabilität des Patienten zu erhöhen.“ 55 Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort Operation. 56 Karcher, in: Taschen, Schönheitschirurgie, S. 320 ff. 57 Steinkraus, ZaeFQ 2006, 650 (650). Etwa 10 % der Patienten in einer dermatologischen Praxis stellten sich mit primär ästhetischen Fragestellungen vor, meint Steinkraus, ZaeFQ 2006, 650 (651). 58 Auflistung nach Karcher, in: Taschen, Schönheitschirurgie, S. 330 ff. Eingehende Beschreibungen der einzelnen Maßnahmen bieten Jacobs/Vorndamme, Schönheitschirurgie, S. 53 ff.; Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 69 ff.; Hönig, Ästhetische Chirurgie, S. 19 ff.; Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 46 ff.; zusätzlich mit Erfahrungsberichten siehe Toussaint, Schönheitsoperationen, S. 27 ff. Zudem informieren die entsprechenden medizinischen Fachgesellschaften, wie beispielsweise die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC), die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄCP) oder die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC) auf ihren jeweiligen Internetseiten über die verschiedenen Operationsmethoden und damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken und Komplikationen. 59 Als Eingriff in den menschlichen Körper sind auch solche medizinischen Maßnahmen anzusehen, die keinen äußerlichen, operativen und instrumentellen Eingriff bedeuten, wie z. B. die Medikamenteneinnahme.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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schreibung zugrunde:60 „Eine Schönheitsoperation stellt keinen Eingriff in den kranken Körper primär zum Zweck der Gesundheit, sondern einen Eingriff in den gesunden Körper primär zum Zweck der Schönheit dar. Sie ist ein ärztlicher, formverändernder Eingriff in die körperliche Integrität zum Zweck der Verschönerung.“ Entscheidend sei dabei, „ob der Patient – unabhängig von gegenwärtigen Schönheitsidealen – eine Verschönerung seines Aussehens bezweckt“.61 Umfasst seien „Operationen als sog. blutige Eingriffe“ sowie „sog. unblutige Eingriffe wie Injektionen zur Faltenbeseitigung oder Lippenauffüllung“.62 Im Rahmen ihrer Erläuterung der wichtigsten Operationsmethoden63 ordnet Lorz die Faltenunterspritzung und Lippenauffüllung dem operativen Bereich zu. Die Faltenunterspritzung sehen beispielsweise auch Kettner, Eberbach u. a.64 als Schönheitsoperation an. Stock meint, der Begriff der Schönheitsoperation bzw. kosmetischen Operation beziehe „sich auf alle Eingriffe, die der Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes auf primären Wunsch der Klientin/des Klienten dienen und für die kein medizinischer Anlass zum medizinischen Tätigwerden besteht“.65 Im Rahmen dieser Betrachtung wunscherfüllender Medizin ist die Schönheitsoperation, die auch als ästhetische oder kosmetische Operation bezeichnet werden kann, in einem weiten Sinne zu verstehen. Davon umfasst sind sämtliche medizinischen, instrumentellen Eingriffe in den menschlichen Körper, die der subjektiven Zielrichtung des Patienten folgen, sein äußeres Erscheinungsbild entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren. Abzugrenzen sind Schönheitsoperationen von nicht-medizinischen Maßnahmen – also solchen, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden. Diese werden oftmals als kosmetische Behandlung bezeichnet werden, wie z. B. die von Kosmetikern angebotene Haarentfernung mittels Photoepilation.66 Besonders schwierig erscheint diese Abgrenzung beispielsweise bei Faltenunterspritzungen,

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Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 251, siehe auch S. 27 ff. Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 251, siehe auch S. 34. 62 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 27. Im Widerspruch zu ihrer eigenen Eingrenzung von Schönheitsoperationen auf ärztliche Eingriffe zählt Lorz zu den unblutigen Schönheitsoperationen auch Tätowierungen, Piercings oder das Haareschneiden und weist darauf hin, dass diese typischerweise nicht von einem Arzt durchgeführt werden. 63 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 55 f. 64 Kettner, Ethik in der Medizin 2006, 81 (82, 90); Eberbach, MedR 2008, 325 (328); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 10 m. w. N. Siehe auch Hibbeler/SiegmundSchultze, Deutsches Ärzteblatt 2011, A1468 (A1469); Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 65 ff.; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 161. 65 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 159. 66 Dabei werden mittels einer hochenergetischen Blitzlampe unter der Haut liegende Haarwurzeln durch kurze Lichtimpulse verödet; vgl. Teumer, VersR 2008, 174 (175). 61

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

die sowohl von Ärzten als auch von Kosmetikern, die keinen Heilberuf ausüben, durchgeführt werden.67 Eine Schönheitsoperation unterfällt zudem nicht zwingend dem Bereich der Wunschmedizin, da derartige Operationsmethoden und -techniken auch medizinischen Heilzwecken dienen können. Der Frage, nach welchen Kriterien die heilende ästhetische Operation und die wunscherfüllende ästhetische Operation abzugrenzen ist, ist nachfolgender Abschnitt B. gewidmet. 2. Gesundheitliche Risiken Brustvergrößerungen, Nasenkorrekturen, Gesichtsstraffungen, das Unterspritzen von Lippen und Stirnfalten, das Absaugen von Fett, chirurgische Veränderungen an Genitalien und andere ästhetische Operationen bringen erhebliche Gesundheitsrisiken mit sich, heißt es oftmals im Zusammenhang mit der diesbezüglichen Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V.68 „Diese Maßnahmen können zu Verletzungen der Nerven, Muskeln und größerer Blutgefäße führen, es kann zu Thrombosen und Lungenembolien kommen, bei Brustvergrößerungen ist eine Kapselfibrose möglich, die Nasenkorrektur kann dauerhafte Atemschwierigkeiten zur Folge haben, und generell sind Wundheilungsstörungen, Narbenwucherungen und Hautverfärbungen möglich“, fasst Reyels zusammen.69 „Trotz entsprechender Vorbeugungsmaßnahmen“ seien „bei jedem operativen Eingriff und bei jedem Operateur verschiedene allgemein unerwünschte Wirkungen des Eingriffs möglich“, schreibt der plastische Chirurg Panfilov70 und benennt Folgende: Nachblutungen und Blutergüsse, Infektionen und Entzündungen, eine gestörte Wundheilung, Narben, Thrombosen, Nervenverletzungen und Allergien. Konkrete und belastbare Erhebungen zu Erkrankungen, die auf die Durchführung von Schönheitsoperationen zurückzuführen sind, lassen sich jedoch nicht finden.71 Angaben hierzu beziehen sich 67 Zur Frage, ob das Faltenunterspritzen Heilkunde und damit Kosmetikern versagt ist, besteht eine uneinheitliche Rechtsprechung; vgl. AG Eckernförde vom 20. 11. 2007 (Az. 51 Cs 590 Js 29933/06) und BVerwG NVwZ-RR 2007, 686 ff. 68 Damm, GesR 2010, 641 (646); Prehn, NZS 2010, 260 (264); Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 9; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 33, 115; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 10. Die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V ist Untersuchungsgegenstand des nachfolgenden Kapitels 2. Siehe auch BT-Drs. 15/4117, S. 7; Hibbeler/Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2011, A1468 (A1469 f.). 69 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 115. Eine entsprechende Auflistung findet sich auch bei Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28e. 70 Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 31 ff. Siehe auch Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 71 f. 71 So auch BT-Drs. 15/2289, S. 3; Hibbeler/Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2011, A1468 (A1469 f.). Das meint auch Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 22 ff., der jedenfalls erste Hinweise auf die Häufigkeit von Komplikationen bei einzelnen ästhetischen Operationen tabellarisch auflistet und auf S. 72 ff. die Ergebnisse einer diesbzgl. Patientenbefragung darstellt.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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meist sehr vage auf wenige in den USA durchgeführten Untersuchungen zu Brustimplantaten72 und Fettabsaugungen73. Von 1998 bis 2002 sei es bei „knapp 200.000 Fettabsaugungen zu 67 lebensbedrohlichen Infektionen, Lungenembolien und durchstochenen Organen sowie zu 19 Todesfällen“ gekommen, schreibt Eberbach.74 Die mit Schönheitsoperationen verbundenen Risiken „reichen vom Narkoserisiko über mögliche Komplikationen beim Eingriff selbst bis hin zu unerwünschten Nebenwirkungen und entstellenden Ergebnissen nach fehlerhaftem ärztlichen Eingriff“, meint Damm.75 „Dem Traum von ewiger Schönheit vor der Operation folgen Entstellungen und gesundheitliche Schäden nach der Operation: Hängelid statt faltenfreier Stirn, Schiefnase statt Stupsnase, falsch sitzende Brustwarzen, vernarbte statt gestraffter Bauchdecke bis hin zur tödlich verlaufenden Embolie bei der Fettabsaugung“, schreibt Lorz.76 Ästhetische Operationen dienten daher teilweise – so Teichner und Schröder – „schon immer auch der Korrektur fehlgeschlagener Ersteingriffe“.77 Kruse schreibt:78 „Es kommt immer wieder vor, dass sich als Folge solcher Eingriffe, die nicht selten auch unfachmännisch ausgeführt werden, Krankheiten einstellen.“ Bührer-Lucke79 warnt insbesondere vor den kostengünstigen Lockangeboten, im Ausland ästhetische Operationen an sich vornehmen zu lassen. „Bei gut ausgebildeten und erfahrenen Chirurgen“ seien „Komplikationen auf ein Minimum beschränkt“, meint der plastische Chirurg Panfilov.80 Die Berufbezeichnung Schönheitschirurg ist jedoch nicht geschützt.81 „Ästhetisch-plastische Operationen werden auch von Ärzten anderer Fachgebiete durchgeführt, z. B. operieren manche Gynäkologen Brüste, HNO-Ärzte operieren im Gesicht, und zwar nicht nur Hals, Nase, Ohren usw.“, so Panfilov.82 „Allzu oft werden solche Eingriffe von Ärzten ausgeführt, die nicht die notwendige Ausbildung und Erfahrung besitzen“, kritisiert auch der Arzt für Gesichtschirurgie und plastische Operationen 72

Siehe bspw. Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 124 ff. BT-Drs. 16/6779, S. 2. Dort heißt es: „Nach der bislang gründlichsten Untersuchung über Liposuktionszwischenfälle in den USA, veröffentlicht im Fachblatt Plastic and Reconstructive Surgery, kommt auf 5 000 Fettabsaugungen jeweils ein Todesfall infolge Lungenembolien, innerer Verletzungen, Hautnekrosen oder Infektionen. Damit korrespondiert eine jüngere Studie der Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum.“ 74 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21 m. w. N. 75 Damm, GesR 2010, 641 (646). 76 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 25. 77 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (587) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 78 Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 10. 79 Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 82 f. 80 Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 31 ff. 81 BT-Drs. 16/6779, S. 2; Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 274 f. 82 Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 275. Bezogen auf die Brustvergrößerung siehe auch Allert, Hamburger Ärzteblatt 2009, 30 (30). Eine umfassende Auflistung auf der Grundlage einer Arzterhebung bietet Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 32 ff. 73

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Hönig.83 Ebenso meint Stock,84 abgesehen von Chirurgen, Dermatologen und Zahnmedizinern würden „kosmetische Operationen von nahezu jedem Facharzt vorgenommen“; so werde die Fettabsaugung „auch von Gynäkologen, die Lidstraffung, das Facelifting oder die Ohrkorrektur auch von HNO-Ärzten durchgeführt“. Von den grundsätzlich mit ästhetischen Operationen verbundenen gesundheitlichen Risiken sind diejenigen Gesundheitsschäden zu unterscheiden, die aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers eingetreten sind. Insofern können – nach Lorz – vier Fehlerkategorien unterschieden werden.85 die originäre Fehlerhaftigkeit des Eingriffs beispielsweise bei Kontraindikationen, die fehlerhafte Methodenwahl, die fehlerhafte Durchführung des Eingriffs sowie die fehlerhafte postoperative Sicherungsaufklärung. In solchen Fällen kann der geschädigte Patient Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zivilgerichtlich geltend machen.86 II. Weitere Körpermodifikationen „Neben den Schönheitsoperationen nehmen in den letzten Jahren auch sog. body modifications stetig zu“, schreibt Prehn87 und meint damit „jede Art von freiwillig durchgeführten Veränderungen am menschlichen Körper, die dauerhaft oder zumindest schwer rückgängig zu machen und mit invasiven (verletzenden) Eingriffen verbunden sind“. In ähnlicher Weise formuliert May:88 „neben Schönheitsoperationen werden Körperveränderungen vielfältig vorgenommen durch dauerhafte oder zeitweise vorgenommene Tätowierungen, Veränderungen der Hautoberfläche durch Brandmale oder Brandmarken (Branding) oder durch das Implantieren von körperfremden Materialien unter die Haut“. Schramme89 sieht hierin eine „in westlichen 83

Hönig, Ästhetische Chirurgie, Vorwort. Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 161 m. w. N. 85 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 170 ff. Siehe ebenso Damm, GesR 2010, 641 (650). 86 Siehe hierzu beispielhaft OLG Düsseldorf, VersR 2001, 1380 (Nach einer kosmetischen Nasenoperation kam es zu einer vermeidbaren Deformierung des Ohrs, die durch weitere chirurgischen Eingriffe zu beheben war.); OLG Hamm, VersR 2006, 1509 ff. (8000 Euro Schmerzensgeld für rechtswidrige und misslungene Fettabsaugung); OLG Hamm, VersR 2006, 1511 ff. (10000 Euro Schmerzensgeld bei misslungener Brustkorrektur und unzureichender Risikoaufklärung); OLG Koblenz, VersR 2008, 492 f. (Diagnosefehler, da die festgestellte Indikation, ein pathologisches Hervortreten des Augapfels aus der Augenhöhle, nicht vorlag.). Vgl. auch Allert, Hamburger Ärzteblatt 2009, 30 (30 f.), der verschiedene Schadensfälle bei Brustvergrößerungen aus der Schlichtungsstelle der norddeutschen Ärztekammern darstellt. 87 Prehn, NZS 2010, 260 (260) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 88 May, Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 229. 89 Siehe Schramme, Freiwillige Verstümmelung, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 167, der diese Phänomene aus ethischer Sicht diskutiert (S. 163 ff.) (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 84

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Ländern in Mode kommende Kultur der Körpermodifikation (body modification)“; Tattoos und Piercings seien „heute so verbreitet wie früher Ohrringe“. Hinzu kämen – so Schramme90 – „inzwischen Praktiken wie das Hinzufügen von verzierenden Brandnarben91, Zungenspaltungen92, subkutane Implantate93, extreme Gewebedehnungen (stretchings), Genitalpiercings, Gewebeschnitte (cuttings94), das Zusammennähen der Lippen, die Verankerung von Metallklammern in der Haut (flesh stapling) und das Verabreichen von Salzinjektionen zur Vergrößerung der Genitalien“. Das Tätowieren95 und Piercen96 gehe auf „zum Teil Jahrtausend alte Traditionen“ zurück und werde immer noch in zahlreichen Kulturen und ethnischen Gruppen praktiziert.97 Unter dem Einfluss gesellschaftlicher Trends seien Tattoos und Piercings in der westlichen Gesellschaft mittlerweile etabliert und weit verbreitet.98 Noftz weist darüber hinaus auf die lange Tradition des Ohrpiercings in der westli90 Schramme, Freiwillige Verstümmelung, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 167 (Hervorhebungen aus dem Originaltext). Die Fußnoten sind hier zur Erklärung eingefügt. 91 Das sogenannte Branding bezeichnet das Einbrennen von Symbolen und Schriftzeichen auf der Haut zur Erzielung eines Brandnarbenmusters. 92 Das sogenannte Tongue-Cutting bezeichnet das Aufschneiden, Aufspalten der Zunge zur Erzielung einer amphibisch wirkenden Zungenform. 93 Sogenannte Subdermals/Transdermals bedeuten das Anbringen eines formgebenden Implantats aus Silikon oder Metall unter der Haut zur Erzielung eines äußerlich sichtbaren, dreidimensionalen Abdrucks. 94 Bezeichnet das Zufügen von Schnittwunden zur Erzielung eines Narbenmusters auf der Haut. 95 Tätowieren bezeichnet das Einbringen von Farbpigmenten in die Haut, um dauerhafte Muster zu schaffen; vgl. Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 24; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 g. Noftz weist an dieser Stelle auch auf das sogenannte PermanentMake-Up als Sonderform einer Tätowierung hin, bei dem Gesichtspartien „zur Darstellung krankheitsbedingt fehlender Augenbrauen und Wimpern“ dauerhaft pigmentiert würden. Von Tätowierungen abzugrenzen seien, so Noftz, sogenannte Hennatattoos, bei denen lediglich die Hornschicht der Oberhaut eingefärbt wird und sich die Farbe nach kürzerer Zeit ablöst. 96 Piercen wird übersetzt mit Durchbohren oder Durchstechen und bezeichnet das Herstellen künstlicher Körperöffnungen bzw. die Perforation von Gewebe mit einer Hohlnadel, um Schmuckgegenstände anzubringen; vgl. Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 24; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 h. 97 Prehn, NZS 2010, 260 (261) m. w. N. Siehe hierzu auch Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 9 ff.; Schoch, Hebe mich heraus! Über den Sinn von Tätowierungen, in: Ach/ Pollmann, no body is perfect, S. 225; May, Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 231 ff. 98 Siehe Prehn, NZS 2010, 260 (261); Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 9 ff. Dass die Anzahl der Tätowierungen zunehme, meint z. B. Schoch, Hebe mich heraus! Über den Sinn von Tätowierungen, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 225. Zur steigenden Popularität des Brustwarzenpiercings siehe Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A484). Neben sozialen und kulturell geprägten Motiven, seien „auch negative, manchmal auch pathologische Motive festzustellen“, meint Prehn und nennt als Beispiele Gruppendruck, Perversion, Depersonalisation, Derealisation, Vorgänge der Selbstzerstörung; vgl. Prehn, NZS 2010, 260 (261).

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

chen Kultur hin, worunter er das Ohrlochstechen versteht.99 Nach SiegmundSchultze wird jedoch das Durchstechen der Ohrläppchen im Allgemeinen nicht als Piercing betrachtet.100 Nach einer für Deutschland repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2006 seien ca. 5,3 Mio. Bundesbürger gepierct, berichtet Siegmund-Schultze101; in der Altersgruppe der zwischen 14- und 24-Jährigen seien gut 40 % der Frauen und knapp 30 % der Männer tätowiert und/oder gepierct. Mit derartigen Maßnahmen der Körpermodifikation werden Risiken für die Gesundheit gesetzt. „Virusinfektionen wie Hepatitis oder HIV, bakterielle Infektionen wie Grindflechte, Pilzinfektionen, allergische Reaktionen wie Hautreizungen oder Nesselausschlag sowie andere Hautkrankheiten wie z. B. Psoriasis“ sind mögliche gesundheitliche Folgen einer Tätowierung.102 Neben derartigen bakteriellen und viralen Infektionen (bis hin zu Nekrosen) sind Hauptrisiken von Piercings auch „Blutungen, Ausrisse, Allergien, überschießende Narbenbildung (Keloide) und Fremdkörpergranulome“.103 Die Komplikationsrate beim Piercing, die auf knapp 30 % geschätzt wird,104 hinge im Wesentlichen ab von der Wahl der Körperregion, dem verwendeten Material, der Erfahrung des Piercers, den hygienischen Bedingungen beim Piercen und der Nachsorge, meint Siegmund-Schultze.105 Ein Problem

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Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 h. Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1329). Als Piercing versteht Siegmund-Schultze wohl aber die Perforation des Knorpels im oberen Ohrbereich, vgl. Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1330 f.). 101 Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1329 f.). 102 Zitat aus Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 116 m. w. N.; vgl. auch Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 g. 103 Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1330). Vgl. auch May, Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 235 f.; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 h; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 116 m. w. N. 104 Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1329 f.), berichtet über die Ergebnisse einer britischen Studie, wonach 27,5 % der Piercings gesundheitliche Probleme folgten, davon aber nur in 13 % der Fälle professionelle Hilfe nötig war. Nach einer deutschen Befragung bestünden bei 28 % der Piercings Probleme beim Heilungsprozess. Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21 m. w. N., meint, beim Piercing komme es in 10 bis 30 % aller Fälle zu Komplikationen wie Blutungen und Entzündungen und in seltenen Fällen Hepatitis-Infektionen. 105 Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1330 f.), mit weiteren Ausführungen zu den für die jeweils betroffene Körperregion spezifischen gesundheitlichen Komplikationen. Besonders komplikationsträchtig seien Piercings im Genitalbereich, aber bspw. auch die Perforation des Knorpels im oberen Ohrbereich. Außerdem weist SiegmundSchultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1331), darauf hin, dass Patienten mit Diabetes mellitus oder mit einem aus anderen Gründen beeinträchtigten Immunsystem, Menschen mit Herzfehlern, Blutungsneigung, atopischer Dermatitis oder Sarkoidose ein deutlich höheres Komplikationsrisiko haben. 100

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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– so Jacobs u. a.106 – sei auch „die adäquate und frühzeitige Behandlung von Piercinginfektionen, denn die Patienten lassen oft Wochen bis Monate verstreichen, bis sie einen Arzt aufsuchen“. Häufig werde der „Wunsch, das Piercing um jeden Preis zu behalten,“ als wichtiger angesehen, „als die Beseitigung einer eventuell lebensbedrohlichen Infektionskomplikation“. Tätowieren und Piercen darf in Deutschland jeder; eine anerkannte Ausbildung hierfür gibt es nicht.107 Nach Einschätzung Eberbachs würden Piercings häufig von Ärzten, insbesondere HNO-Ärzten, Gynäkologen und Zahnärzten, durchgeführt.108 Das Piercen unter Anwendung einer örtlichen Betäubung mittels Injektion von Arzneimitteln stelle eine heilkundliche Maßnahme dar, dennoch sehe die Bundesärztekammer Piercen nicht als ärztliche Tätigkeit an, meint Zykla-Menhorn.109 Vor dem Hintergrund, dass die Hygienebedingungen in Piercingstudios bzw. die Einhaltung der Hygienebestimmungen der Länder von den Gesundheitsämtern nur unzureichend überprüft würden,110 plädiert May für die Beteiligung von Ärzten am Piercen als Beitrag zur Qualitätssicherung.111 Die Mediziner Jacobs u. a.112 fordern eine „Unterstützung der Piercingszene im Hinblick auf eine Professionalisierung des Gewerbes“ durch Vermittlung von „Grundkenntnissen in Anatomie, Materialkunde, Infektionslehre und Hygiene“; das Piercen durch Ärzte lehnen sie jedoch ab, „da eine hygienische Durchführung in der Arztpraxis keinen sicheren Schutz vor Infektion im Verlauf gibt und die vorsätzliche nichtindizierte Verletzung der körperlichen Integrität und Gesundheit des Patienten im Gegensatz zum ärztlichen Ethos stehen sollte“. Der Zahnmediziner Groß meint, Zahntattoos, Zahncaps und Zahnpiercings seien Dienstleistungen, die nicht dem Berufsrecht unterfielen.113 Derartige Maßnahmen würden „den wissenschaftlichen Charakter des Fachs Zahnheilkunde“ 106

Zu dieser und der folgenden Aussage siehe Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A487), die aus medizinischer Sicht praktische Fallbeispiele von Brustabszessen nach Brustwarzenpiercing aufzeigen. 107 Vorausgesetzt ist für das Betreiben dieses Gewerbes lediglich ein Gewerbeschein. Vgl. insbesondere zum Piercen Zykla-Menhorn, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1332 (B1332); Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1331); Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A487); May, Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 239; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 h. 108 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 13. 109 Zykla-Menhorn, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1332 (B1332) m. w. N. 110 So bspw. Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1331); Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A487 f.). 111 May, Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 238, 247. 112 Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A488). 113 Groß, Wunscherfüllende Zahnmedizin, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 111 f. Zur Berufsrechtswidrigkeit des Vertriebs von Waren (z. B. Piercingsringe) und des Erbringens der Dienstleistungen des Piercens und Tätowierens in einer Arztpraxis siehe auch Ronellenfitsch/Maier, JuS 2007, 1015 (1019 f.).

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„tangieren oder unterminieren“, da sie „erstens keinen genuin (zahn)ärztlichen, sondern einen gewerblichen Charakter haben, zweitens auch von Nichtapprobierten bzw. Laien angeboten werden (wie Piercing, Massage, Bleaching) und drittens teilweise als potenziell gesundheitsschädigend deklariert und ärztlich umstritten sind (zum Beispiel Piercing)“.114 Die hier aufgezeigten Maßnahmen der Körpermodifikation gehören als Eingriffe in den menschlichen Körper, die nicht medizinischen Heilzwecken dienen, sondern das Ziel des Patienten verfolgen, seinen Körper entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren, zum Bereich des Enhancements.115 Da diese Körpermodifikationen aber häufig nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden, können sie nicht generell dem Bereich der Wunschmedizin zugeordnet werden und sind insbesondere von den operativen Verfahren zu unterscheiden.116

III. Neuro-Enhancement und Doping „Unter dem inzwischen auch in Deutschland eingeführten Begriff Neuro-Enhancement versteht man Maßnahmen zur gezielten Verbesserung geistiger Fähigkeiten oder psychischer Befindlichkeiten bei Gesunden“, schreibt Schöne-Seifert117 114 Groß, Wunscherfüllende Zahnmedizin, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 117 f. Auf S. 108 schreibt Groß: „Die Risiken dentaler Piercing-Maßnahmen sind – nicht nur, aber vor allem bei unsachgemäßer Durchführung – erheblich.“ 115 Siehe zu dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Enhancement und Wunschmedizin die in diesem Kapitel dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellten Definitionen. 116 Das hier zugrunde gelegte, weite Verständnis von Operationen ist jedenfalls auf medizinische, instrumentelle Eingriffe in den menschlichen Körper beschränkt und daher von nicht-medizinischen Maßnahmen – also solchen, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden, abzugrenzen; vgl. abschließende Ausführungen in diesem Kapitel unter A. I. 1. Dass Maßnahmen wie z. B. das Ohrlochstechen, Piercen oder Tätowieren, von operativen Verfahren zu unterscheiden sind, geht auch aus der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrates zur Änderung des Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens hervor, siehe BT-Drs. 15/4117, S. 7. Angesichts der Aufzählung in § 52 Abs. 2 SGB V meint dies auch Bernzen, MedR 2008, 549 (551, Fn. 5). 117 So die einleitenden Feststellungen von Schöne-Seifert/Talbot, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 9 (Hervorhebung aus dem Originaltext). Die in diesem Band zusammengestellten Aufsätze gehen zurück auf eine Tagung im Herbst 2005 am Hanse-Wissenschaftkolleg in Delmenhorst zum Thema Neuro-Enhancement – Verbesserung des Menschen und seines Gehirns: ethische, soziale und rechtliche Aspekte. Zum Thema Hirndoping und Neuroenhancement – Möglichkeiten und Grenzen führte auch das Institut für Bio-, Gesundheitsund Medizinrecht der Universität Augsburg 2010 eine interdisziplinäre Jahrestagung durch; siehe Tagungsbericht hierzu von Linoh, MedR 2011, 353 (353 ff.). Lindner, MedR 2010, 463 (463), formuliert: „Neuro-Enhancement (NE) bezeichnet die medizinisch nicht indizierte Verbesserung von menschlichen Gehirnleistungen durch pharmakologische, genetische, elektro-magnetische oder andere von außen auf das Gehirn wirkende Maßnahmen.“ Zum Einsatz von Psychopharmaka zur Leistungssteigerung und Stimmungsverbesserung siehe auch Fuchs u. a., Enhancement, S. 59 ff.

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und berichtet hierzu, dass „Medikamente, die zur Behandlung der Alzheimer-Demenz (z. B. Aricept), des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms ADS (z. B. Ritalin), von Depressionen (z. B. Fluxil) oder des pathologischen Schlafdrangs (z. B. Narkolepsie) (z. B. Modafinil) entwickelt und zugelassen sind, außerhalb ihres Indikationsbereichs (off-label) verschrieben“ würden, „weil etwa Studenten sich mit diesen Mitteln durch Examina, Manager durch Stress-Zeiten oder melancholische Mitmenschen sich so durch den Winter bringen lassen wollen“. „Genaue Daten über das Ausmaß und Nutzergruppe“ lägen jedoch nicht vor – so Schöne-Seifert118 – Experten in den USA gingen „jedenfalls von Hunderttausenden von Klienten/Patienten aus“, was „erst der Anfang einer möglichen künftigen Enhancement-Praxis“ sei, „die von den zahlreichen zu erwartenden neuen und wirksamen Neuro-Therapeutika Gebrauch machen könnte“. Kipke u. a.119, die Neuro-Enhancement als „die Verbesserung mentaler Eigenschaften und psychischer Fähigkeiten durch medizinische Mittel ohne therapeutische Absichten“ definieren, meinen, „fünf Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland im Alter zwischen 20 und 50 Jahren nehmen entsprechende Medikamente ein, um ihre mentalen Eigenschaften zu verbessern“. „Auch die exorbitant gestiegenen Verschreibungen mancher Pharmaka“ sprächen „für einen verbreiteten off-label use“. Auch nach Eberbach120 ziehe das „Lifestyle- oder Alltags-Doping“ weite Kreise; dabei würden Präparate, die „für Erkrankungen oder altersbedingte Minderleistungen des menschlichen Gehirns sowie zur Behandlung psychischer Defizite“ entwickelt wurden, zur Stimmungs- und Leistungsverbesserung eingesetzt. Führungseliten und auch bereits Studenten stünden „zunehmend unter Drogen“.121 Zudem zeigt Eberbach122 die zunehmende Verbreitung des Dopings im Spitzensport aber auch im Freizeitsport auf. „In großem Umfang – nach einzelnen Studien bis zu fast 50 % –“ würden „die der Leistungsverbesserung dienenden Substanzen mittels Arztrezepten bezogen“.123 Die zum Doping und kogni118

Schöne-Seifert/Talbot, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 9. Kipke u. a., Deutsches Ärzteblatt 2010, A2384 (A2384), zu den folgenden Aussagen jeweils m. w. N. Karsch, Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung?, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 121 ff., fragt, inwieweit der zunehmende Konsum von Methylphenidat als „die zur Behandlung der ADHS angezeigte Psychopharmakatherapie“, „bekannt unter dem Produktnamen Ritalin“ sowie die entsprechenden Verschreibungspraktiken noch im Sinne einer Krankenbehandlung zu verstehen sind oder unausgesprochen bereits in die Kategorie Enhancement fallen und damit die Grenzen heilender Medizin überschreiten. 120 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 5 ff., Zitat auf S. 5 m. w. N. 121 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 6 ff. 122 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 1 ff. 123 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 4 m. w. N. (Hervorhebung aus dem Originaltext). 119

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tivem Enhancement eingesetzten, medizinischen Mittel seien – so Boldt124 – „vor allem hochpotente Pharmazeutika“, die „für bestimmte, zumeist schwere Indikationen entwickelt und freigegeben“ wurden. Zu den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken schreibt Boldt:125 „Die Dopingmittel im Sport haben bekanntermaßen gravierende Langzeitnebenwirkungen, bis hin zum Tod des dopenden Sportlers. Bei den Psychopharmaka zur kognitiven Leistungssteigerung und zur Stimmungsaufhellung wird Suchtpotenzial befürchtet, außerdem ist bisher nicht abzusehen, ob es nachteilige Effekte auf andere psychische Fähigkeiten gibt.“ Boldt formuliert als „Konsequenz für Klinik und Praxis“:126 „Die langfristigen Nebenwirkungen des Enhancements sind nach dem heutigen Wissensstand kaum zu kalkulieren“, was im Zuge ärztlicher Verantwortung kritisch zu berücksichtigen sei. Auch nach Kipke u. a.127 seien die langfristigen unerwünschten Wirkungen des Neuro-Enhancements noch unklar; sie belegen aber die Vermutung eines mit Drogen wie Kokain oder Amphetaminen vergleichbaren Suchtrisikos und warnen insbesondere vor negativen sozialen Folgen. Die Möglichkeiten des Neuro-Enhancements sind vielfach Gegenstand der ethischen Diskussion.128 Befürchtet werden insbesondere ein zunehmender gesellschaftlicher Leistungsdruck und entsprechend negative soziale Folgen, eine weitere Technisierung des Menschen sowie die fehlende Echtheit von Leistungen, die unter

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Boldt, DMW 2010, 1823 (1823). Boldt, DMW 2010, 1823 (1823). Atzler, Hessisches Ärzteblatt 2010, 145 (145), nennt folgende Nebenwirkungen von leistungssteigernden und das persönliche Wohlbefinden verbessernden Medikamenten: Schlafstörungen, Nervosität, Selbstüberschätzung, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Depressionen, Angst, Schwindel, Störungen der Sexualfunktion, Einschränkungen des Denkvermögens bei zu hoher Dosierung und Neigung zu suizidalem Verhalten. 126 Boldt, DMW 2010, 1823 (1826). 127 Kipke u. a., Deutsches Ärzteblatt 2010, A2384 (A2385 ff.). Siehe auch Synofzik, Ethik in der Medizin 2006, 37 (45 f.). Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 36, und Talbot/Wolf, Dem Gehirn auf die Sprünge helfen, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 263 f., meinen, bei ständiger Einnahme von leistungssteigernden Medikamenten liege die Gefahr weniger in unmittelbar auftretenden Schäden, sondern eher in möglichen Spätfolgen. 128 Biedermann, Ethik in der Medizin 2010, 317 ff.; Fuchs u. a., Enhancement, S. 59 ff.; Ach/Lüttenberg, Ungleich besser?, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 231 ff.; Nagel/Stephan, Was bedeutet Neuro-Enhancement?, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 19 ff.; Lenk, Kognitives Enhancement und das „Argument des offenen Lebensweges“, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 93 ff.; Gesang, Moderates und radikales Enhancement, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 221 ff.; Stier, NeuroEnhancement und das Problem der Verantwortung, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 277 ff.; Crone, Gedächtnispillen, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 233 ff.; Talbot/Wolf, Dem Gehirn auf die Sprünge helfen, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 253 ff.; Schöne-Seifert, Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 279 ff. 125

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dem Einfluss von Enhancement-Maßnahmen erbracht wurden.129 Gefragt wird auch nach der Sinnhaftigkeit des Enhancements, nach dem Wert von Authentizität, nach der Gerechtigkeit sowie dem Verlust der Menschlichkeit und einem unerwünschten Wandel der individuellen Persönlichkeit.130 Lindner131 meint, Neuro-Enhancement werfe „nicht nur eine Fülle schwieriger ethischer Fragen, sondern auch Rechtsprobleme auf“, und untersucht aus grundrechtlicher Sicht, ob sich Neuro-Enhancement „mit der Menschenwürde und dem Selbstbestimmungsparadigma vereinen“ ließe oder ob „es sich um eine vom Staat zu unterbindende Selbstentfremdung oder Selbstgefährdung des Menschen, gar um eine Transzendierung der menschlichen Speziesgrenze“ handele. Selbstbestimmt angewendetes Neuro-Enhancement könne jedoch „vom Staat mit der Berufung auf eine Natur des Menschen, auf die Bewahrung der Authentizität des menschlichen Wesens oder unter Berufung auf eine (angeblich) nicht angemessene, dem Wesen des Menschen widersprechende Selbstentfremdung weder verboten noch eingeschränkt werden“.132

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Schöne-Seifert, Neuro-Enhancement: Zündstoff für tiefgehende Kontroversen, in: Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement, S. 347 ff.; Kipke u. a., Deutsches Ärzteblatt 2010, A2384 (A2386). 130 Boldt, DMW 2010, 1823 (1824 ff.); Gesang, Ethik in der Medizin 2006, 10 ff.; ders., Enhancement, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 301 ff. Gesang bewertet reversible und irreversible Veränderungen unterschiedlich und hält reversible Veränderungen für ethisch vertretbar. Er vertritt insofern eine eingeschränkte liberale Position, die er als Liberalismus mit Auffangnetz bezeichnet. 131 Lindner, MedR 2010, 463 (463). Einen Überblick über verschiedene im Zusammenhang mit Neuroenhancement aufgeworfene Rechtsprobleme bietet der Bericht zur Jahrestagung 2010 des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht der Universität Augsburg zum Thema Hirndoping und Neuroenhancement – Möglichkeiten und Grenzen von Linoh, MedR 2011, 353 (353 ff.). 132 Lindner, MedR 2010, 463 (470 f.). Auf S. 471 führt Lindner hierzu weiter aus: „Verfassungsrechtlich legitime Zwecke für staatliche Restriktionen von NE können die körperliche oder psychische Selbstbestimmung des Einzelnen (Schutz vor sich selbst), gefährdeter Dritter (Schutz vor individueller Fremdschädigung) oder auch das friedliche und sozial vertretbare Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft (Schutz vor kollektiver Fremdschädigung) sein.“ „Je nach der Intensität der Selbst- oder Fremdgefährdung kommen (…) ein vollständiges Verbot, ein Verbot unter Befreiungsvorbehalt oder sonstige (leichtere) Beschränkungsmaßnahmen (wie z. B. ärztliche Beratung und/oder Verschreibungspflichtigkeit des entsprechenden Präparats) in Betracht.“ Abschließend meint Lindner: „Vertretbarkeit und Grenzen von NE bedürfen einer fundierten Interessenanalyse, -gewichtung und -abwägung. Insgesamt handelt es sich um ein geradezu ideales Referenzgebiet für interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten, sind doch u. a. die Medizin, die Neurowissenschaften, die Psychologie, die Ethik und die Rechtswissenschaften aufgefordert, sich an der Diskussion zu beteiligen.“

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

B. Abgrenzung zwischen wunscherfüllender und heilender Medizin „Indem sich die medizinischen Möglichkeiten – außerhalb des Bereichs des Heilens und Helfens – mit dem Markt vermählt haben, wird auch ohne besondere prophetische Gaben deutlicher als je zuvor: Die Medizin wird sich zunehmend aufspalten in die klassische heilende, lindernde, Leiden begleitende Medizin und die moderne wunscherfüllende, verbessernde, selbststilisierende Medizin: Die eine wird kurierend sein, die andere konsumierend. Die eine wird ethisch fundiert sein, die andere in weitem Sinn ästhetisch. Die eine wird der Humanität verpflichtet sein, die andere der Egozentrik. Die Medizin wird damit in den nächsten Jahren ihr Gesicht grundlegend verändern.“133 Dies formuliert Eberbach und knüpft zur Abgrenzung der Heilbehandlung von der Wunschmedizin zunächst an das Verständnis traditionellen ärztlichen Handelns an. Danach seien ärztliche Maßnahmen durch eine vorliegende Gesundheitsbeeinträchtigung herausgefordert, begründet bzw. durch sie indiziert.134 Anders sei dies bei Maßnahmen der wunscherfüllenden Medizin, da „ein solcher, in der Gesundheit des Betroffenen liegender Anlaß und damit eine Indikation für eine ärztliche Behandlung gerade nicht vorliegt“, so Eberbach, Anlass sei „nicht die Bedürftigkeit des leidenden Menschen, sondern das Begehren“ des Konsumenten. Eberbach135 weist darauf hin, dass „die Abgrenzung zwischen diesen Kategorien des indizierten und wunscherfüllenden Handelns des Arztes schwierig sein“ könne, da sie „die Festlegung eines Normalfalls an Gesundheit“ voraussetze und insofern mit der Abgrenzung von krank und gesund korrespondiere. Gesundheit und Krankheit könnten „auch nebeneinander bestehen“, „selbst beim schwerkranken Menschen“ seien „viele Einzelsysteme noch gesund“.136 Da zudem ein einheitlicher Gesundheitsbegriff nicht existiert,137 unterliege seine Bestimmung der „Einschätzung durch die Gesellschaft“ und werde „mitbestimmt durch den Fortschritt der medizinischen Fähigkeiten“; so „gelten immer mehr gesundheitliche Befindlich-

133 Eberbach, MedR 2008, 325 (336) (Hervorhebungen aus dem Originaltext). An anderer Stelle schreibt Eberbach: „Prägende Merkmale dieser Erweiterungen ärztlichen Handelns sind: individuell, auf Seiten des Patienten, das Fehlen einer medizinischen Indikation,“ und „generell die durchgängige Kommerzialisierung der angebotenen Leistungen“; vgl. Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 16 (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 134 Hierzu und zum Folgenden siehe ebenfalls Eberbach, MedR 2008, 325 (326). 135 Eberbach, MedR 2008, 325 (326) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Vgl. auch ders., in: FS für Günter Hirsch, 365 (376); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 16. 136 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 17. 137 Dass der Begriff der Gesundheit sowie der damit korrespondierende Begriff der Krankheit nicht einheitlich definiert ist, wurde bereits im 2. Teil, Kapitel 2, C. (Fn. 257), I. (insbesondere Fn. 260) dargestellt.

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keiten als krank, weil nun behandelbar“ wie z. B. die Schiefstellung von Zähnen.138 Im Ergebnis stellt Eberbach auf die aus ärztlicher Sicht zu beurteilende Behandlungsbedürftigkeit eines anormalen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustands ab, die er auch als Indikation bezeichnet.139 Lenk untersucht aus medizinethischer und -philosophischer Sicht die Abgrenzung von Therapie und Enhancement. Dabei stehe der Begriff Therapie „für medizinische Anwendungen und Verfahren, die letztlich der Heilung von Krankheit oder der Erhaltung von Gesundheit dienen“.140 Die begriffliche Trennlinie zwischen Therapie und Enhancement sei somit bestimmt von den zugrunde gelegten Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit.141 Dabei seien – so Lenk – drei Differenzierungsaspekte, namentlich ein objektiver (Normalität versus Abnormität), der subjektive (Wohlsein versus Unwohlsein) und der relationale Aspekt (Kompetenz versus Inkompetenz), in ein geeignetes Verhältnis zueinander zu bringen.142 Als Therapie sei zumindest diejenige medizinische Behandlung zu qualifizieren, der ein Zustand zugrunde liegt, bei dem alle drei Aspekte auf eine Krankheit hinweisen.143 Zur Abgrenzung von Therapie und Enhancement schreiben Fuchs u. a.:144 „Aufgrund der Unschärfe der 138 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 18 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 139 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 18 f. 140 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 15. 141 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 16. 142 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 226 f. Zu den drei Aspekten der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit siehe S. 35 ff., 103 ff. sowie ders., Enhancement vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Gesundheit und Krankheit, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 67 ff. 143 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 240 ff. Hingegen sei beispielsweise die Korrektur abstehender Ohren, deren Beweggründe nicht aus dem Bereich des objektiven, sondern des subjektiven und relationalen Aspektes stammen, nicht eine Therapie einer Krankheit, sondern die Kompensation der sozialen Stigmatisierung von Menschen mit gesundheitlich ganz unbedenklichen Eigenschaften; vgl. S. 244 f. Zu weiteren Fallbeispielen siehe S. 247 ff. Ästhetische Chirurgie überschneide sich mit dem Bereich des Enhancements, da die Leistungen der ästhetischen Chirurgie bei der Rekonstruktion der Gesichter und Körper von Brand- und Unfallopfern als Therapie eines pathologischen Zustands anzusehen seien. Hingegen seien „das Absaugen von Fetteinlagerungen an Hüften und Oberschenkeln, das Vergrößern von Busen und Lippen mit Silikonimplantaten, die Korrektur von Nasen oder Augenlidern“ „sicherlich keine therapeutischen Maßnahmen, auch wenn die Betroffenen unter ihrem Aussehen leiden“; vgl. S. 254. Wie jedoch in diesem Abschnitt unter II. erläutert, werden die Augenlidkorrektur oder die Ohrkorrektur sogar unter bestimmten Umständen von der gesetzlichen Krankenversicherung als Krankenbehandlung übernommen. Zur medizinischen Indikation Korrektur abstehender Ohren werden im Normalfall nur bei Kindern oder Jugendlichen vgl. bspw. Ausführungen des Mediziners Hönig, Ästhetische Chirurgie, S. 111. 144 Fuchs u. a., Enhancement, S. 20 m. w. N. (Hervorhebungen aus dem Originaltext). Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung von Therapie und Enhancement siehe auch Beck, MedR 2006, 95 (96 ff.); Hombergs-Schwetzel, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2008, 207 ff.; Hoffmann, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2006, 201 ff.

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Begriffe Krankheit und Enhancement, die durch subjektive und soziale Elemente hervorgerufen wird, bezweifeln jedoch einige Autoren, dass Therapie und Enhancement überhaupt sinnvoll voneinander unterschieden werden könnten“. Erneut wird deutlich, dass eine klare Abgrenzung zwischen den offenen und nicht eindeutig definierbaren Begriffen Gesundheit und Krankheit nicht möglich ist.145 Vielmehr handele es sich um einen fließenden Übergangsbereich bzw. ein Kontinuum zwischen ganz gesund und ganz krank, auf dem eine Grenzlinie nicht gezogen werden könne, meint Synofzik.146 Dass Gesundheit und Krankheit nicht als scharfe Gegensätze, sondern im Sinne eines Kontinuums zu verstehen sind, zeigen in Anbetracht der historischen Entwicklung der Begriffsverständnisse auch Fangerau und Martin147 auf. Eine Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement „als die Verbesserung, die nicht zur Behandlung von Krankheiten dient“, sei somit nicht eindeutig vorzunehmen, meint Synofzik.148 Ungeeignete Differenzierungskriterien seien auch die Qualifikation von Enhancement als die Verbesserung, „die sich auf Zustände im Normalbereich einer Referenzklasse bezieht“, also anhand eines zu definierenden Normalitätsbegriffs, oder als die Verbesserung, „die den Aufgabenbereich der Medizin überschreitet“, was letztlich wieder auf den Krankheitsbegriff verweisen würde.149 Im Ergebnis schlägt Synofzik bezogen auf das Neuro-Enhancement vor, dass „Ärzte aufgrund ihres medizinischen Fachwissens die Psychopharmakawünsche ihrer Patienten durch eine eigene Nutzen-Schadens-Abwägung überprüfen und im Gespräch mit dem Patienten abklären“, um so „einen Mittelweg zwischen einer subjektivistischen Beliebigkeitsmedizin (…) und einer paternalistischen Ärztemedizin“ zu gehen.150 Nach diesem Einzelfall-Entscheidungsmodell komme den subjektiven Präferenzen und Wünschen des Patienten eine zentrale Entscheidungsrelevanz für die Durchführung einer medizinischen Maßnahme zu.151 Die wunscherfüllende Medizin bezeichnet Synofzik daher als subjektive Medizin mit ärztlichem Empfehlungs- und Vetovorbehalt bzw. Präferenzmedizin.152

145 Darauf weisen bspw. auch Buyx/Hucklenbroich, „Wunscherfüllende Medizin“ und Krankheitsbegriff, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 29 ff., und Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 70 ff., hin. 146 Synofzik, Ethik in der Medizin 2006, 37 (38 ff.); ders., Denken auf Rezept?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 155 ff. 147 Fangerau/Martin, Konzepte von Gesundheit und Krankheit, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 51 ff. 148 Synofzik, Ethik in der Medizin 2006, 37 (38); ders., Denken auf Rezept?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 155. 149 Synofzik, Ethik in der Medizin 2006, 37 (38, 41 ff.); ders., Denken auf Rezept?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 155, 163 ff. 150 Synofzik, Ethik in der Medizin 2006, 37 (49) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 151 Synofzik, Denken auf Rezept?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 166 ff. 152 Synofzik, Denken auf Rezept?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 174 ff.

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I. Operationsmethode und -technik Aus gesetzestechnisch generalisierender Sicht drängt sich die Frage auf, ob eine objektive Abgrenzung zwischen wunscherfüllender und heilender Medizin z. B. nach der Art der medizinischen Maßnahme möglich ist. Beispielsweise sind – wie im vorhergehenden Abschnitt A. II. 1. gezeigt – Schönheitsoperationen als typische Maßnahmen wunscherfüllender Medizin bestimmte Operationsmethoden und -techniken. Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis zählen dazu z. B. Hautunterspritzungen mit Botox (Botulinumtoxin A), Brustoperationen, Augenlidkorrekturen usw. Aus medizinischer Sicht gilt aber beispielsweise die Injektion von Botulinumtoxin A in zahlreichen Fällen wie zur Mirgäneprophylaxetherapie, Therapie von Lidkrämpfen, Überfunktion der Tränendrüse, Analfissuren, Spannungskopfschmerz etc. als medizinisch und therapeutisch indiziert.153 Zu Brustoperationen schreibt der Arzt für Gesichtschirurgie und plastische Operationen Hönig:154 „Die Indikationen für eine Brustaugmentation sind in erster Linie Entwicklungsanomalien der Brust, asymmetrische Veränderungen oder Unterentwicklungen sowie die nur einseitige Entwicklung einer Brust. Traumatische Veränderungen, wie Verbrennungsdeformitäten, Zustand nach Bestrahlung mit Verkleinerung der Brust, Veränderungen der Brust durch Tumorentfernung in der Brust, degenerative Veränderungen der Brust, z. B. Post-partum-Atrophie, können weitere Indikationen einer Brustvergrößerung darstellen.“ Auch Augenlidkorrekturen oder Nasenkorrekturen und andere gemeinhin als ästhetische Operationen geltenden Maßnahmen können aus medizinischen Gründen angezeigt sein.155 Klar wird insofern, dass Operationsmethoden und -techniken, die oftmals dem Bereich der Wunschmedizin unterfallen, also das subjektive Ziel des Patienten verfolgen, den eigenen Körper entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren, unter bestimmten Gegebenheiten auch medizinischen Heilzwecken dienen können.156 Eine exakte Grenzziehung zwischen einer reinen Schönheitsoperation und einer Heilbehandlung sei im konkreten Fall schwierig, meint auch Lorz157 in ihrer arzthaftungsrechtlichen Untersuchung von Schönheitsoperationen. Dies sieht Lorz in der fehlenden Klarheit und Präzision der zugrunde liegenden Begriffe wie Schönheit und

153

Kleinhans/Verse, Hamburger Ärzteblatt 2011, 22 (22 f.). Unklar ist jedoch, inwieweit dies unter Medizinern als gesicherte Erkenntnis gilt. 154 Hönig, Ästhetische Chirurgie, S. 142. Zu Indikationen von Brustvergrößerungen siehe auch BT-Drs. 15/2289, S. 5; Allert, Hamburger Ärzteblatt 2009, 30 (30). 155 Siehe hierzu Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 99; Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 62 ff.; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 43 ff.; Jacobs/Vorndamme, Schönheitschirurgie, S. 46; Toussaint, Schönheitsoperationen, S. 21. 156 Dies bestätigen z. B. Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 49 Rn. 9; Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (370). Siehe außerdem die Ausführungen zur insoweit eintretenden Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen im folgenden Abschnitt. 157 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 38 ff., 251.

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Gesundheit begründet.158 Zumindest biete aber die Kategorisierung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung einen Anhaltspunkt zur Abgrenzung, meint Lorz.159 II. Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen Als Fallgruppen medizinischer Aussehenskorrekturen unterscheidet Lorz160 zunächst die Behebung einer physischen Funktionsbeeinträchtigung als eine nicht nur unerhebliche Störung der körperlichen Lebensvorgänge von der Behebung einer entstellenden Deformität durch eine Maßnahme der konstruktiven (bei einer angeborenen Abweichung) oder der rekonstruktiven Chirurgie (bei einer durch Unfall oder Operation bedingten Deformität). Die Kosten dieser Maßnahmen übernähme die gesetzliche Krankenkasse, sofern es keine kostengünstigere, gleich wirksame Behandlungsalternative gibt, und die entstellende Abweichung, da sie selbst keinen Krankheitswert habe, sofort ins Auge springt bzw. von einiger Intensität ist.161 Hingegen begründe die Behebung einer psychischen Beeinträchtigung durch physischen Eingriff keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse, auch wenn sie als Heilbehandlung gelte, weil die Behandlung nicht unmittelbar an der Krankheit ansetze.162 Psychische Störungen seien psychiatrisch oder psychotherapeutisch zu behandeln, selbst dann, wenn der körperliche Eingriff das einzig geeignete Mittel darstellt, denjenigen Patienten zu heilen, der krankheitsbedingt eine Psychotherapie ablehnt.163 Ebenfalls nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen unterfielen und zudem auch keine Heilbehandlung seien Körpereingriffe zur Verschönerung von Körperformen unterhalb der Schwelle der entstellenden Deformität. Wenzel164schreibt: „Danach können als Behandlung einer Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dienend und medizinisch indizierte ästhetische 158

Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 38. Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 251. Ähnlich auch Prehn, NZS 2010, 260 (261 f.). 160 Siehe hierzu und zum Folgenden Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 38 ff. m. w. N. 161 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 38 ff. mit Verweis auf BSGE 93, 252 (252 ff.). Ähnlich auch Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (655). 162 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 39 f. Siehe auch Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (657). 163 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 39 f. 164 Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 99 (Hervorhebung aus dem Originaltext). In der vorherigen Rn. 96 gibt Wenzel aber zu bedenken, dass die Frage der medizinischen Indikation nicht völlig deckungsgleich mit derjenigen, der sozialversicherungsrechtlichen Kostentragung ist, und stellt zur Abgrenzung zwischen Wunschmedizin und heilende Medizin auf das Kriterium der medizinischen Indikation ab, siehe Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 93, 265. Ähnliche Auflistungen finden sich auch bei Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 62 ff., und Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 43 ff. m. w. N. Siehe auch Jacobs/Vorndamme, Schönheitschirurgie, S. 46; Toussaint, Schönheitsoperationen, S. 21. 159

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Eingriffe vor allem solche Eingriffe gelten, die eine Entstellung aufgrund vorangegangener Tumoroperation (z. B. Abnahme der Brust, Entfernung eines Gesichtstumors mitsamt umliegender Gesichtsareale) kompensieren und abmildern sollen. Ferner solche, die verhindern sollen, dass es in der Folge eines Unfalls, einer Krankheit oder einer angeborenen Missbildung zu vorhersehbaren funktionalen Beeinträchtigungen kommen wird (z. B. bei Verbrennungen mit gelenknahen Narbenkorrekturen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalte); schließlich auch folgende häufige ästhetische Operationen: – Oberlidstraffung bei Einschränkung des Sehfelds – Unterlidstraffung bei sekundärer Beeinträchtigung des Auges (unkontrollierbarer Tränenfluss) – Brustaufbau nach Tumoroperation – Brustverkleinerung bei Wirbelsäulenbeschwerden oder Hautekzembildung unter der Brust – Gynäkomastie (Brustanlage bei Männern) – Fettabsaugung zur OP-Vorbereitung (z. B. Hüft- oder Knieprothese) – Nasenoperation bei starker Behinderung der Nasenatmung durch Schiefstand der Nasenscheidewand – Entfernung von Hautveränderungen bei Tumor/Tumorvorstufe bzw. drohender Entartung – Narbenkorrekturen (z. B. bei Brandverletzungen) bei Kindern zur Vermeidung psychosozialer Probleme – Ohrkorrekturen bei Kindern bis zur Pubertät (Winkel zwischen Ohrmuschel und Schädel mehr als 45 Grad) – Entfernen einer Tätowierung bei allergischer Reaktion auf den Farbstoff – Resektion massiver Bauchfalte bei therapieresistenter hygienischer Beeinträchtigung“. Einer Patientenbefragung zufolge, so Korczak,165 übernähmen die gesetzlichen Krankenkassen beispielsweise 68 % der Ohrkorrekturen, 67 % der Brustverkleinerungen, 46 % der Bauchdeckenstraffungen, 33 % der Kinnkorrekturen und 26 % der Nasenkorrekturen. Nach Einschätzung Wenzels kämen in der Praxis „häufig ästhetische Eingriffe vor, die sowohl der Behandlung einer Krankheit im zuvor genannten Sinne wie der Umsetzung eines Wunsches des Patienten nach Aussehensverbesserung dienen und zwar insoweit als letztlich mehr gemacht wird als zur Behandlung der Krankheit eigentlich erforderlich wäre“.166 Beispielsweise könne bei einer Nasenscheidewandbegradigung aufgrund von Atmungsproblemen auch die Nasenform verändert werden oder bei Umstellungsoperation des Kiefers, die aufgrund eines Fehlbisses medizinisch indiziert sei, könnten zusätzliche Korrekturen am Kinn vorgenommen werden. Auch Korczak167 weist auf die „Kombinationen von Kassenleistung und Eigenleistung“ hin und meint, „die Entscheidung, ob gesetzliche Krankenkassen die Kosten tragen, liegt von Fall zu Fall im Ermessen des Versicherers“. Vielfach sei streitig, so Jansen,168 „ob die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für eine ästhetische Operation zu übernehmen hat“.

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Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 63. Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 105 (Hervorhebung aus dem Originaltext); dort auch die folgenden Beispiele. 167 Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 62 f. 168 Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (656). 166

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Fest steht, dass die gesetzlichen Krankenkassen gemäß § 27 Abs. 1 SGB V verpflichtet sind, ihren Versicherten die Krankenbehandlung zukommen zu lassen, die notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Wie bereits im 2. Teil, Kapitel 2, C. I. aufgezeigt, ist es für die Annahme einer Krankheit in diesem Sinne erforderlich, dass „der Betroffene in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt“.169 Eine äußere Entstellung gilt im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung erst dann als Krankheit, wenn sie „in einer solchen Ausprägung vorhanden“ ist, „dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi im Vorbeigehen bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt“.170 Einer körperlichen Auffälligkeit kommt nur dann ein Krankheitswert im krankenversicherungsrechtlichen Sinne zu, wenn sie eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschreitet. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass Heilzwecke einer ästhetischen Operation immer dann ausgeschlossen sind, wenn die zu behebende körperliche Abweichung die für die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse erforderliche Erheblichkeitsschwelle unterschreitet. Während sich der sozialversicherungsrechtliche Krankheitsbegriff171 in den Tatbestand des regelwidrigen Körper- und Geisteszustands und der Behandlungsbedürftigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit als dessen mögliche Folgen zweigliedert, erfasst der

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BSGE 100, 119 (120) mit Verweis auf BSGE 82, 158 (163 f.); 93, 252 (253). Einen aktuellen Rechtsprechungsüberblick zur Abgrenzung zwischen Krankheit und hinnehmbarer körperlicher Unregelmäßigkeit bieten z. B. Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 24 ff.; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 27 Rn. 15 ff. und Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 27 Rn. 37 ff.; Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 98. 170 BSGE 100, 119 (121) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Abweichungen des Aussehens von den üblichen Vorstellungen sind grundsätzlich kein regelwidriger Zustand, da sie normalerweise keine Funktionsstörung zur Folge haben. Krankheitswert können aber die Auswirkungen an sich haben. Entstellungen gelten auch ohne Funktionsbeeinträchtigung von Körperteilen als eine körperliche Funktionsstörung, wenn sie dem Betroffenen ein freies und unbefangenes Leben unter den Mitmenschen erschweren oder unmöglich machen. Dies ist jedoch regelmäßig nicht der Fall, wenn der betroffene Körperteil normalerweise durch Kleidung bedeckt ist. Bejaht wurde eine Entstellung bspw. bei Kahlköpfigkeit einer Frau oder einer Gesichtsspalte/Hasenscharte. Siehe hierzu und weiteren Einzelfällen ausführlich Marburger, SGb 1995, 432 ff.; Schramm/Witte, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 10 Rn. 22; Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 27 Rn. 41 m. w. N. 171 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist Krankheit im Sinne des SGB Vein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht; vgl. BSGE 26, 240 (242); 33, 202 (203); 35, 10 (12); 39, 167 (168); 59, 119 (121); 62, 83 (83); 72, 96 (98); 85, 36 (38); 90, 289 (290); 93, 252 (252 f.); 100, 119 (120). Dieser Krankheitsbegriff wurde in der Literatur kritisiert, da er nicht ausreichend zwischen Krankheit und den weiteren Voraussetzungen für die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen differenziere. Siehe hierzu Follmann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 27 Rn. 42; Adelt/Kraftberger, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 27 Rn. 10 m. w. N.

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medizinische Krankheitsbegriff172 jede Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen. Ein sozialversicherungsrechtlicher Krankheitswert einer äußeren Entstellung ergibt sich beispielsweise nicht allein daraus, dass sie eine psychische Belastung für den Betroffenen darstellt, die ihrerseits zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung geführt hat.173 Eine psychische Erkrankung oder Erkrankungswahrscheinlichkeit wird jedoch – wie im folgenden Abschnitt erläutert – bei der aus ärztlicher Sicht zu beurteilenden medizinischen Indikation für eine ästhetische Operation zu berücksichtigen sein. Demzufolge sind ästhetische Operationen denkbar, die Heilzwecken dienen, aber nicht eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne heilen. Darüber hinaus löst das Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne nicht zwingend die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse aus. Der Leistungsumfang in der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sich gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 1 SGB V auf die Leistungen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der krankenversicherungsrechtliche Leistungsumfang ist somit durch wirtschaftliche und insofern medizinfremde Erwägungen geprägt. Denkbar sind ästhetische Eingriffe, die zwar eine Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne heilen könnten, aber nicht unbedingt notwendig sind. Nach alledem ist festzuhalten, dass die Abrechnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich kein geeignetes Kriterium zur Differenzierung zwischen wunscherfüllender und heilender Medizin ist.

III. Medizinische Indikation Wunscherfüllende und heilende Medizin werden häufig danach unterschieden, ob eine medizinische Indikation vorliegt oder nicht.174 Medizinisch indiziert ist gleichbedeutend mit der Beschreibung aus medizinischen Gründen angezeigt. In172 Der Krankheitsbegriff im allgemein-medizinischen Sinne wird auch als „eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, morphologisch, symptomatisch oder nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die als eine bestimmte Erkrankung verstanden wird“ definiert; vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort Krankheit. 173 BSGE 93, 252 (254 f.); 90, 289 (291). Dies gelte insbesondere angesichts der Schwierigkeiten einer Vorhersage der psychischen Wirkungen von körperlichen Veränderungen und der deshalb unsicheren Erfolgsprognose. Siehe auch im 2. Teil, Kapitel 2, C. I., Fn. 263. 174 Damm, GesR 2010, 641 (642); Schreiber, ZaeFQ 2006, 644 (646); Prütting, MedR 2011, 275 (275); Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 179; Eberbach, MedR 2008, 325 (326); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 18 f.; Lanzerath, Professionsethische Aspekte, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 253.

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dikation bedeutet im medizinischen Sprachgebrauch die „Heilanzeige“ bzw. das „Kriterium zur hinreichend gerechtfertigten Anwendung einer bestimmten therapeutischen oder diagnostischen Maßnahme“ bzw. „Arzneimittels“.175 Darauf Bezug nehmend schreibt Kern:176 „Jeder Heileingriff und jede Heilbehandlung muss grundsätzlich indiziert, d. h. angezeigt sein. Es muss also ein Grund zur Anordnung bzw. Verordnung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens vorliegen, der die Anwendung einer ärztlichen Maßnahme, sei es diagnostisch oder therapeutisch, im Krankheitsfall rechtfertigt. Die Frage der Indikation ist zugleich auch eine solche der Interessenabwägung. Risiko und Schwere des Eingriffs, Erfolgsaussichten und erstrebter Zweck der Heilbehandlung müssen in angemessenem und vernünftigem Verhältnis zueinander stehen.“ „Unter Indikation versteht man den begründeten Hinweis auf eine bestimmte Handlungsnotwendigkeit, also den Grund für medizinisches Handeln, nicht die Handlung selbst“, schreibt Stock.177 In seiner umfassenden Untersuchung der „Indikation in der Wunschmedizin“ versteht er die Indikation als „Rechtfertigungsgrund“ bzw. als „Grund, der medizinisches Handeln rechtfertigt“ und zugleich als Entscheidungsvorgang, in dem der Arzt den Nutzen gegen die Risiken abwägt und entscheidet.178 „Eine Indikation liegt danach vor, wenn sämtliche Belange, insbesondere die medizinischen, aber auch andere, in die Entscheidung eingestellt und sachgerecht gewichtet worden sind. Umgekehrt ist eine ärztliche Maßnahme nicht indiziert, wenn medizinische und andere Aspekte in den Vorgang der Indikationsstellung nicht oder nicht ausreichend eingegangen sind“, so Stock.179 Die medizinische Indikation sei somit „nicht allein von der Frage abhängig, ob ein ausreichender Anlass zum medizinischen Tätigwerden vorliegt, sondern auch davon, ob es nach objektiven Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung in Bezug auf den gewünschten Erfolg vertretbar ist, sie als notwendig anzusehen“. In Bezug auf die Wunschmedizin folgert Stock daraus, dass „nicht die Indikation fehlt, sondern der medizinische Anlass, überhaupt tätig zu werden“.180 „Mit der Differenzierung zwischen medizinischem Anlass und medizinischer Indikation besteht die Möglichkeit, die ärztliche Tätigkeit auf eine andere als diejenige der traditionellen Medizin auszudehnen.“ Damit sieht Stock die unscharfe Begriff175 Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwörter Indikation und indiziert. Die Indikation wird eingeteilt in die absolute Indikation, die bei einem zwingenden Grund, z. B. Lebensgefahr gegeben ist, und die relative Indikation, die bei bedingter Gefährdung des Patienten oder Inbetrachtkommen sinnvoller alternativer Maßnahmen vorliegt. 176 Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 49 Rn. 1. „Ärztliche Behandlungsmaßnahmen ohne Indikation“ seien „demzufolge keine Heileingriffe“, vgl. Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 49 Rn. 5. 177 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 88. 178 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 98. 179 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 99, dort auch das folgende Zitat. 180 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 100, dort auch das folgende Zitat. Auf S. 128 schreibt Stock: „In dieser Arbeit wird zwischen traditioneller und Wunschmedizin danach differenziert, ob (weiteres) medizinisches Handeln veranlasst ist.“

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lichkeit der Indikation auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt, die darin bestehe, das spezifische ärztliche Handeln zu rechtfertigen.181 Indikation definiert Stock somit „als Rechtsgrund für das ärztliche Handeln, aber auch als dynamischer Prozess“, „in dem der Arzt den Nutzen und die Risiken seines Handelns abwägt und entscheidet“.182 Im Rahmen seines Vorschlags eines allgemeinen Indikationskataloges als eine Auflistung der in die Indikation einzustellenden Belange plädiert er dafür, sämtliche medizinischen Belange sowie psychosozialen, wirtschaftlichen, organisatorischen, personellen, kollegialen, rechtlichen und ethischen Belange sowie Risikofaktoren zu berücksichtigen.183 Eine wunschmedizinische Maßnahme sei somit trotz eines fehlenden Heilzwecks indiziert und damit gerechtfertigt, wenn sie „nach einem intensiven Abwägungs-, Kommunikations- und Entscheidungsvorgang den Anforderungen an ärztliche Standards genügt“.184 Hierzu bedürfe „es mindestens der Feststellung, diese sei jedenfalls nicht schädlich“; der Arzt müsse mit anderen Worten „das Risiko eines medizinischen Eingriffs trotz fehlender Veranlassung indizieren“.185 Die Indikation als „umfassender Vorgang“, „in den alle Belange, also auch die Risiken der medizinischen Behandlung einzustellen sind“, sei „umso sorgfältiger durchzuführen“, „je weniger Grund zum Handeln besteht“.186 „Gerade dort, wo es an einem feststehenden Krankheitsbild und damit an dem Anlass für einen medizinischen Eingriff fehlt, vielmehr der Wunsch des Klienten die ärztliche Tätigkeit auslöst, ist die Indikation zwingend geboten. Die Indikation ist der Rechtfertigungsgrund für das medizinische Handeln. Die Indikation ist gleichermaßen der Abwägungs- und Entscheidungsvorgang auf Seiten des Arztes, ob und wie er die Maßnahme durchführt.“187 Bezogen auf das zivilrechtliche Behandlungsverhältnis schreibt Stock weiter:188 „Ohne einen solchen Prozess der Indikationsstellung

181

Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 101. Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 107. 183 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 282 f., siehe dort auch auf S. 389. 184 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 388. 185 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 128. 186 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 141, 143. 187 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 150. Zum Abwägungs- und Entscheidungsvorgang bei wunscherfüllender Medizin schreibt Stock auf S. 129 (Hervorhebung aus dem Originaltext): „Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Klient den Zustand seiner Gesundheit insgesamt nicht verschlechtern will.“ „Dementsprechend muss die Diagnose in der Wunschmedizin auf die Ermittlung des gesamten physischen und psychischen Zustandes gerichtet sein.“ 188 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 220. Stock sieht die Indikation im ärztlichen Standesrecht (§ 13 MBO; zur Erläuterung siehe Fn. 256 in diesem Teil), in den Vorschriften des SGB V und den strafrechtlichen Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff. StGB) rechtlich verankert (S. 107 ff.) und meint darüber hinaus: „Eine verfassungsrechtliche Verankerung erfährt die Indikation insofern, als die ärztliche Berufsfreiheit und deren Einschränkung durch Berufsausübungsregelungen und Rechtsprechung das Berufsbild des Arztes geprägt haben“, vgl. S. 107. Die verfassungsrechtliche Verankerung begründet Stock – dogmatisch unzureichend – damit, dass der Arzt bei der Indikationsstellung seine Thera182

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ist nach der Vorstellung beider Parteien rechtmäßiges ärztliches Handelns nicht möglich. Das folgt aus dem durch Verfassung und Recht geprägten Berufsbild des Arztes, an dem sich die Vertragspartner bei der Begründung des Pflichtenverhältnisses orientieren.“ Diesem von Stock entwickelten Indikationsverständnis, nach dem eine medizinische Indikation allein deswegen gegeben ist, weil der Arzt medizinische Belange neben psychischen, sozialen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten in seine Behandlungsentscheidung einbezieht, muss widersprochen werden. Bei seinem Indikationskonzept geht Stock von der irrigen Annahme aus, dass es kein ärztliches Handeln ohne Indikation geben könne. „Indikationsstellung und Herstellung des Informed Consent sind gleichermaßen die Grundvoraussetzungen für rechtmäßiges ärztliches Handeln“, formuliert Stock zusammenfassend.189 Während der Informed Consent die informierte, auf einer umfassenden Aufklärung beruhende Einwilligung und damit einen strafrechtlich relevanten Rechtfertigungsgrund bezeichnet,190 stellt die Indikation keinen Rechtsgrund dar, der ärztliches Handeln aus rechtlicher Sicht legitimieren kann.191 Vielmehr geht es bei der Indikation um die aus medizinischer Sicht zu beurteilende Rechtfertigung ärztlichen Handelns. Eberbach192 wirft die Frage auf, welcher zusätzliche Gewinn mit dem weiten Indikationskonzept Stocks verbunden sei, und schreibt hierzu: „Nach diesem Modell wird zwar vermieden, ärztliches Handeln bei der Wunschmedizin als nicht indiziert einzustufen. Das erforderliche Umschwenken vom (aus Diagnose, Prognose und Therapiemöglichkeiten sich ergebenden) Befund – der Notwendigkeit ärztlichen Handelns – zum Indikations-Prozess droht indessen den Begriff nahezu gänzlich zu verflachen“. Damm193 gibt Eberbach diesbezüglich Recht, meint aber: „es erscheint wohl angemessener, insofern statt von einer Verflachung von einer Kategorienverpiefreiheit ausübe (S. 108) und die Indikation im verfassungsrechtlich geschützten ärztlichen Berufsbild verankert sei (S. 110, 151). 189 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 388. Seiner Annahme, dass ärztliches Handeln rechtlich zwingend eine Indikation voraussetze, hielt Stock (S. 119 ff.) selbst die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im sogenannten Zahnextraktionsfall (BGH, NJW 1978, 1206; ähnlich auch OLG Düsseldorf, VersR 2001, 1380 f.) entgegen, wonach ärztliches Handeln grundsätzlich auch ohne ärztliche Indikation zulässig sei. Dies sei jedoch unbeachtlich, so Stock, da dieselbe Rechtsprechung auch prüfe, ob ein Behandlungserfolg erzielbar gewesen ist und insofern ärztliche Aufklärungspflichten verschärft, was seiner Ansicht nach beides eine Indikationsstellung voraussetze. 190 Zum Begriff des informed consent, siehe Damm, GesR 2010, 641 (643); Laufs, in: Laufs/ Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 22 ff.; Wellner, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 70/BGB, §§ 823 ff. Rn. 200. Zur Einwilligung als Rechtfertigungsgrund ärztlicher Eingriffe, siehe im nachfolgenden Abschnitt C. 191 Inwieweit die Indikation aus rechtlicher Sicht Rechtfertigungsgrund ärztlichen Handelns ist, wird in diesem Kapitel unter D. genauer untersucht und im Ergebnis abgelehnt. 192 Eberbach, MedR 2010, 367 (367) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Eberbach, MedR 2008, 325 (334), vertritt die Ansicht, dass allein die Einwilligung des Betroffenen den ärztlichen Eingriff rechtfertige. Siehe hierzu auch in diesem Kapitel unter D. 193 Damm, GesR 2010, 641 (645).

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fehlung zu sprechen, durch die objektiv fachwissenschaftliche und subjektiv lebensweltliche Aspekte gleichermaßen zu Teilelementen des Indikationskonzepts gemacht werden“.194 Damm sieht in dem Konzept Stocks einen Versuch, „die Schönheitschirurgie dadurch vom Makel der Indikationslosigkeit zu befreien, dass man einen expansiven Indikationsbegriff propagiert, der durch ihm bislang nicht zugeordnete Elemente angereichert wird“. „Diese unterschiedslose Einbeziehung des Klientenwunsches, aber auch weiterer Gesichtspunkte in den Indikationsbegriff“ erscheine „problematisch und jedenfalls prüfbedürftig“, so Damm.195 Das Kriterium der medizinischen Indikation sei „durch die Entwicklungen der modernen Medizin in zahlreichen Sektoren problematisch geworden und teilweise in Auflösung begriffen“.196 Während die Indikation als „der gute Grund und die hinreichende Rechtfertigung (…) jedenfalls nach überkommenem Verständnis grundsätzlich aus objektiv medizinwissenschaftlicher Kriterienbildung bezogen“197 würden, erkennt Damm bezüglich der praktizierten Schönheitschirurgie das Konzept eines entgrenzten Indikationsbegriffs, das „nicht ausgerichtet am Handlungsziel Gesundheit, sondern an einer Zielvorstellung Schönheit“ sei.198 Danach komme „auch bei völligem Fehlen einer medizinischen Indikation bei reinen Schönheitsoperationen dem Konzept der Indikation dennoch Bedeutung zu, wenn auch in einer spezifischen Ausrichtung“; es gehe „gewissermaßen um eine nicht medizinische Indikation für medizinische, aber nicht auf Heilbehandlung bezogene Maßnahmen, um eine immanente Indikation sui generis, wenn man so will um eine ästhetische Indikation im Bereich der Ästhetischen Chirurgie“199. Dabei nimmt Damm im Wesentlichen Bezug auf die arzthaftungsrechtliche Untersuchung der Schönheitsoperationen von Lorz, die hierzu Folgendes schreibt:200 „Ist neben der Gesundheit auch die Schönheit ein im Grundsatz legitimer Behandlungszweck, so muss – als zweite Voraussetzung für die fehlerfreie Entscheidung des Arztes über die Durchführung der Schönheitsoperation – diese zur Erreichung ihres Zwecks indiziert sein. Eine Indikation liegt vor, wenn eine ärztliche Maßnahme unter Abwägung ihres potenziellen Nutzens und ihres potenziellen Schadens voraussichtlich dem Wohl des Patienten dient. Sie ist das Bindeglied zwischen Zweck und Zweckverwirklichung. Eine Schönheitsoperation muss folglich geeignet sein, die bezweckte Verschönerung herbeizuführen, ohne mit unangemessenen Beeinträchtigungen und Risiken verbunden zu sein.“ Ebenso wie 194 Damm, GesR 2010, 641 (645) (Hervorhebung aus dem Originaltext), dort auch das folgende Zitat. 195 Damm, GesR 2010, 641 (645). 196 Damm, GesR 2010, 641 (642). Auf S. 652 meint Damm, die „spezifische Wechselbezüglichkeit von Indikation und Information“ in der wunscherfüllenden Medizin bestehe darin, dass nicht nur „Eindeutigkeitsverluste der Indikation festzustellen sind, sondern unmittelbar hierauf reagierend ein Bedeutungszuwachs der informationellen Dimension unübersehbar ist“. 197 Damm, GesR 2010, 641 (643) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 198 Damm, GesR 2010, 641 (644) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 199 Damm, GesR 2010, 641 (644) (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 200 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 175.

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Stock verkennt jedoch auch Lorz, dass es sich bei der Indikation um einen technischen Begriff der Medizin handelt, dessen Fortentwicklung grundsätzlich nicht aus rechtswissenschaftlicher Sicht erfolgen kann, sondern der medizinwissenschaftlichen Debatte obliegt. Welche medizinischen Maßnahmen unter welchen gesundheitlichen Gegebenheiten indiziert sind, ist oftmals in den Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften201 und Ärztekammern beschrieben. Darauf weist auch Stock hin und meint, „in derartigen Richt- und Leitlinien“ sei „zuweilen ein weit gefasstes Begriffsverständnis“ von Indikation vorzufinden; beispielsweise seien Kaiserschnittentbindungen „relativ indiziert“, wenn „sich der Arzt aus Gründen der Klinikorganisation und Personalbesetzung“ hierzu entscheide.202 Mit weiteren Ausführungen und Nachweisen zur „unscharfen Verwendung des Begriffs in aktuellen Veröffentlichungen“ zeigt Stock zutreffend ein vielfältiges Begriffsverständnis von Indikation auf.203 Dabei verwendet er selbst in seiner Untersuchung den Ausdruck der medizinischen Notwendigkeit synonym für die medizinische Indikation.204 Die medizinische Notwendigkeit ist eine Begrifflichkeit, die den im Zuge des Wirtschaftlichkeitsgebots eingeschränkten Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung bezeichnet205 und insofern grundsätzlich von der aus medizinischer Sicht zu beurteilenden Indikation zu unterscheiden ist.206 201 Diese schließen sich unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zusammen, über deren Internetseite sich die Mehrzahl der medizinischen Leitlinien auffinden lässt. 202 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 90. 203 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 89 ff. 204 Vgl. z. B. Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 99, 113. Siehe bspw. auch BTDrs. 15/2289, S. 5; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28d. Prehn, NZS 2010, 260 (263 f.), und Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 22, meinen, der Begriff indiziert decke sich im Wesentlichen mit der Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit einer Maßnahme im Sinne von § 12 I SGB V. 205 Nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 1 SGB V ist der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Leistungen beschränkt, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Zur Verwendung des Ausdrucks der medizinischen Notwendigkeit als Kriterium zur Feststellung der Leistungspflicht einer Krankenkasse, siehe bspw. OLG Koblenz, VersR 2007, 680 f. 206 Dies gilt zudem aufgrund eines im Vergleich zum medizinischen Sprachgebrauch im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung eingeschränkten Verständnisses von Krankheit; siehe zur grundsätzlichen Unterscheidung des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenkasse von dem Bereich medizinisch indizierter Maßnahmen die abschließenden Ausführungen des vorherigen Abschnitts II. Dass die Frage der medizinischen Indikation nicht völlig deckungsgleich mit derjenigen, der sozialversicherungsrechtlichen Kostentragung ist, meint auch Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 96, und stellt zur Abgrenzung zwischen Wunschmedizin und heilende Medizin auf das Kriterium der medizinischen Indikation ab, siehe Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 93, 265.

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Die in der Praxis bestehende begriffliche Unschärfe wird auch in den folgenden Ausführungen des Chefarztes der Abteilung für Plastische Chirurgie eines Berliner Krankenhauses Bruck deutlich: „Ein wesentliches Kriterium für die Feststellung der medizinischen Notwendigkeit eines ärztlichen Eingriffs durch den Plastischen Chirurgen“ sei „die Initiative für den Eingriff: Geht sie vom Patienten aus, der sein subjektives Leid der psychologischen Exploration des Arztes mit dem Ziel der Therapie oder Prophylaxe seines Leids aussetzt, so wird von einer medizinischen Notwendigkeit und Rechtfertigung auch für die daraus folgenden Handlungen auszugehen sein“.207 „Vereinfacht gesagt: Die Deckung eines Bedürfnisses mit den einschlägigen Kenntnissen und Fähigkeiten des Facharztes für Plastische und Ästhetische Chirurgie auf Initiative des Patienten zur Linderung oder Prophylaxe eines auch subjektiven Leides ist nach entsprechender Exploration und Aufklärung eine ethisch zu rechtfertigende ärztliche Heilbehandlung.“ „Versucht der Arzt dagegen in seiner Eigenschaft als Unternehmer über einschlägige Werbung und die Verheißung von Lebensglück und Liebenswürdigkeit oder nur Schönheit und Jugend also suggestiv – einen Menschen (noch keinen Patienten) zum Eingriff zu bewegen, wird eine medizinische Indikationsstellung nicht zu konstruieren sein“, so Bruck weiter. „Im Gegensatz zur normalen Medizin im Allgemeinen und der Chirurgie im Besonderen, wo eine für jeden ersichtliche Notwendigkeit das ärztliche Handeln bestimmt, wird in der Ästhetischen Chirurgie die Indikation für einen Eingriff vom Patienten und nicht von offensichtlich lebens- oder gesundheitsbedrohenden Umständen bestimmt. Die subjektive Definition eines empfundenen Leides bekommt Priorität in der ethischen Rechtfertigung des Eingriffs.“208 „Zur Indikationsstellung reicht eine emotionale Verunsicherung oder psychische Krise als andere Gesundheitsstörung aus, die der Arzt – Plastische Chirurg – im Rahmen der Exploration erfassen kann.“209 „Eine Psychose“, so Bruck, sei zwar „chirurgisch nicht zu heilen“, der Eingriff könne aber durchaus „einen Wendepunkt oder eine Wegmarke von der aus das Leben mit neuem Schwung angegangen werden kann,“ darstellen.210 Der Facharzt für Plastische Chirurgie Stark211 schreibt: „Neben einer Wiederherstellung von Körperfunktionen ist eine Verbesserung des Erscheinungsbildes eine häufige Indikation für einen Eingriff. Ethisch kann dies gerechtfertigt sein, da es sehr hilfreich und bedeutungsvoll für das seelische und soziale Wohlbefinden des Patienten sein kann.“ Dem Bundesgerichtshof zufolge berge die „Unterscheidung zwischen medizinisch notwendigen und nur kosmetisch veranlassten Operationen“ Unsicherheiten, „da die Übergänge unter Berücksichtigung auch der psychischen Befindlichkeit der Patienten fließend sind und eine Abgrenzung nicht stets mit vertretbarem Aufwand

207 208 209 210 211

Bruck, ZaeFQ 2006, 647 (647), dort auch die beiden folgenden Zitate. Bruck, ZaeFQ 2006, 647 (648) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Bruck, ZaeFQ 2006, 647 (649) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Bruck, ZaeFQ 2006, 647 (649). Stark, ZfmE 2006, 103 (107).

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möglich sein wird“.212 Jansen213 schreibt, „mögliche psychische Beeinträchtigungen“ seien „grundsätzlich ausschließlich mit Mitteln der Psychotherapie bzw. Psychiatrie zu bekämpfen“. In der Regel begründeten psychische Bedürfnisse „keine medizinische Indikationsstellung“, meint auch Wenzel214 und formuliert: „Ein regelwidriger Geisteszustand mag eine psychotherapeutische bzw. psychiatrische Behandlung notwendig machen, eine ästhetische Operation wird dadurch nicht medizinisch indiziert“. Ob diese Formel, die auf die insoweit ergangene krankenversicherungsrechtliche Rechtsprechung215 zurückgeht, möglicherweise zu pauschal ist, fragt Stock216 und kommt zu folgendem Ergebnis:217 „Die Behebung oder Linderung psychischer Leiden durch kosmetische Operationen ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Entscheidend ist, ob das näher liegende Fachgebiet eine solche Maßnahme nach psychotherapeutischer Diagnostik und Therapie sowie eingehender Begutachtung im Einzelfall (als ultima ratio) für vertretbar hält.“ Dass sich eine medizinische Indikation aus psychischen Gründen ergeben kann, vertritt offenbar auch Eberbach, indem er schreibt, bei Schönheitsoperationen mangele es „an einer ärztlichen Indikation, sofern nicht aus dem körperlichen Buckel ein psychischer erwachsen ist, so dass zur medizinischen Behandlung beider wirklich ärztliches Eingreifen angezeigt ist“.218 Der Dermatologe Steinkraus weist in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin: „sogenannte Dysmorphophobien, bei denen lediglich der Patient aufgrund einer Fehlwahrnehmung die Veränderung einer Körperregion wünscht, die in Wirklichkeit unauffällig ist, müssen sicher diagnostiziert werden und entsprechende Patienten müssen gegebenenfalls einem anderen Fachgebiet zugeführt werden“.219 212

BGH, NW 2006, 1879 (1880) m. w. N. Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (657). 214 Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 102. Auch Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 11, meint, operative Eingriffe zur Behebung psychischer Störungen seien nur selten indiziert und verweist dabei auf die krankenversicherungsrechtliche Rechtsprechung. 215 BSGE 93, 252 (254 f.); 90, 289 (291); 72, 96 (98 f.). Siehe auch im vorherigen Abschnitt II. Fn. 173 in diesem Teil. 216 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 77 ff. Auf der Grundlage seines Exkurses zu psychischen Störungen (S. 162 ff.) untersucht Stock die Bedeutung der psychischen Belange für die Indikationsstellung bei kosmetischen Operationen (S. 262 ff.). 217 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 273 (Hervorhebung aus dem Originaltext). Auf S. 253 belegt Stock, dass bspw. psychische Belastungen eine Verkleinerung oder auch Vergrößerung der weiblichen Brust indizieren können und eine medizinisch wissenschaftliche Leitlinie zur Ohrmuscheldeformität komplett auf subjektive Aspekte abstellt. „Die Diagnose in der Wunschmedizin“ müsse, so Stock auf S. 129, auf die Ermittlung des gesamten physischen und psychischen Zustandes gerichtet sein“. 218 Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (370). 219 Steinkraus, ZaeFQ 2006, 650 (652). Zur Kontraindikation bei psychischen Erkrankungen wie body dysmorphic diserder siehe auch Damm, GesR 2010, 641 (645); Ach, Komplizen der Schönheit?, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 192; Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 103; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 175 f. 213

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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Kern220 vermutet, dass „die Zahl der Eingriffe“ zunehme, „bei der die medizinische Indikationsstellung entweder ganz entfällt, wie etwa bei Schönheitsoperationen, psychologische Gründe hat, oder solche Gründe zumindest vorschiebt“. „Gelegentlich wird vertreten, dass nicht nur die unmittelbar der Heilung oder Leidensminderung dienenden Maßnahmen indiziert seien, sondern auch reine Wunschbehandlungen. Vor derartigen Tendenzen in der Medizin, die klaren Begriffe aufzuweichen und etwa jeden Wunsch schon als Indikation anzusehen, kann nur nachdrücklich gewarnt werden.“221 Diesen Ausführungen des Juristen Kerns ist entgegenzuhalten, dass es sich bei der Indikation insbesondere angesichts der Entwicklungen der modernen Medizin keineswegs um einen in seinem Bedeutungsgehalt klaren Begriff handelt. Wann eine medizinische Indikation vorliegt und wann nicht und inwieweit hierbei psychische Befindlichkeiten zu berücksichtigen sind, ist eine allein aus medizinischer Sicht zu beurteilende Frage, die nur im konkreten Einzelfall beantwortet werden kann. Die Indikation bzw. der „Grund zur Anwendung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens in einem Krankheitsfall, der seine Anwendung hinreichend rechtfertigt“, beziehe sich „immer auf den konkreten Patienten“, so Damm.222 „Von zentraler Bedeutung“ sei es, dass die Indikation „ihre Ausgangsbegründung in dem vom ärztlichen Sachverstand vorzuhaltenden medizinischen Wissen über kausale Wirkzusammenhänge“ finde. „Die Beurteilung, ob eine Behandlung angezeigt ist oder nicht, obliegt dem Arzt, der aufgrund seiner medizinischen Fachkenntnisse Vor- und Nachteile sowie Risiken einer Maßnahme einschätzen kann“, entschied beispielsweise auch das Oberlandesgericht Karlsruhe.223 Schäfer und David von der Ärztekammer Nordrhein appellieren insofern an die Verantwortung der Ärzte und schreiben:224 „Aufgrund einer erheblichen Streuung der individuellen Vorstellung von Normabweichungen, Leidensdruck und persönlicher Problembewältigung, tragen Ärztinnen und Ärzte eine besonders hohe Verantwortung bei der Indikationsstellung für ästhetisch plastische Eingriffe. Je nach Konstellation kann und muss ein Eingriff auch ausgeredet werden.“ Festzustellen ist, dass der Begriff medizinische Indikation – wie eingehend aufgezeigt – sowohl unter Medizinern als auch Juristen unterschiedlich verstanden wird. Daher kann anhand der medizinischen Indikation die wunscherfüllende Medizin nicht rechtssicher von der heilenden Medizin unterschieden werden.

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Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 49 Rn. 8. Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 49 Rn. 10. 222 Hierzu und zum folgenden Zitat siehe Damm, Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 272; wortgleich bei ders., Informed consent zwischen Indikations- und Wunschmedizin, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 185 f. 223 OLG Karlsruhe, VersR 2004, 244 (245). 224 Schäfer/David, ZaeFQ 2006, 653 (653) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 221

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

IV. Zielrichtung der Maßnahme aus ärztlicher Sicht Wunscherfüllende Medizin umfasst nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis225 alle von einem Arzt oder Angehörigen eines anderen Heilberufs vorgenommenen Eingriffe in den menschlichen Körper, die nicht medizinischen Heilzwecken dienen, sondern das Ziel des Patienten verfolgen, seinen Körper entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren. Ob eine Maßnahme medizinischen Heilzwecken dient, kann – wie soeben erklärt – nur bezogen auf den einzelnen Patienten aus ärztlicher Sicht bzw. durch einen Angehörigen eines anderen Heilberufs aufgrund medizinwissenschaftlichen Sachverstands beurteilt werden. Wunscherfüllende Medizin kann daher nicht anhand pauschaler Kriterien von der heilenden Medizin abgegrenzt werden. Vielmehr ist eine medizinische Maßnahme dann dem Bereich der Wunschmedizin zuzuordnen, wenn sie aus medizinischer Sicht nicht überwiegend eigenen oder fremden226 Heilzwecken dienen sollte, sondern in erster Linie der Absicht des Patienten folgt, den eigenen Körper oder die eigenen Körperfunktionen zu verändern.

C. Grenzen wunscherfüllender Medizin? „Die ständig wachsenden Möglichkeiten der wunscherfüllenden Medizin und insgesamt des Enhancements rühren an fundamentale Werte unserer Gesellschaft“, schreibt Eberbach.227 „Der Einsatz medizinischer Mittel zur Leistungssteigerung bei Gesunden (Enhancement) avanciert gegenwärtig zu einem Modethema der Medizinethik“, stellt Schöne-Seifert fest; dabei rückten „neben Schönheitschirurgie, Doping im Leistungssport oder Potenzpillen zunehmend Möglichkeiten eines kognitiven oder psychischen Enhancements in den Blick der Ethiker“.228 In der hierzu aus (medizin-)ethischer, philosophischer und soziologischer Sicht geführten Debatte229 wird kontrovers darüber diskutiert, ob beispielsweise eine plötzliche Stei225

Siehe zu dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Wunschmedizin die in diesem Kapitel dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellte Definition. 226 Dies betrifft insbesondere die Blut- und Organspende, die als fremdnützige Heileingriffe nicht der Wunschmedizin zugeordnet werden; vgl. Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 49 Rn. 6; Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 21; Eberbach, MedR 2008, 325 (325 f.). 227 Eberbach, MedR 2008, 325 (336). 228 Schöne-Seifert, Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 279. 229 Siehe bspw. Lenk, Therapie und Enhancement; Fuchs u. a., Enhancement, S. 23 ff. Siehe die einzelnen Beiträge in Schöne-Seifert u. a., Neuro-Enhancement; in Ach/Pollmann, no body is perfect; im Themenheft zur wunscherfüllenden Medizin der Zeitschrift Ethik in der Medizin 2006 Band 18, Heft 1; in der Zeitschrift für medizinische Ethik (ZfmE) 2006, S. 101 ff. und S. 323 ff.; in Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin; in Kettner, Wunscherfüllende Medizin.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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gerung der geistigen Fähigkeiten ethisch zulässig und vertretbar wäre und ob damit eine Veränderung des menschlichen Kerns und der Identität einer Person verbunden wäre. Lenk, der die Argumente für und gegen Enhancement aus ethischer Sicht untersucht, unterscheidet diejenigen Argumente, die sich generell gegen die Manipulation von Natur und Schöpfung richten (religiöse und naturalistische Argumente) von solchen, die speziell gegen Enhancement-Maßnahmen (Risiko-Argumente, Verständnis der Rolle des Arztes, unerwünschte soziale Effekte) angeführt werden sowie von den Argumenten der Autonomie und Menschenwürde, die Enhancement-Maßnahmen bei nicht einwilligungsfähigen Personen entgegenstünden.230 Lenk schlussfolgert, es gebe „eine Reihe bedenkenswerter ethischer Argumente gegen Enhancement-Praktiken, die die in einem liberalen Staat bestehende persönliche Freiheit hinsichtlich solcher Praktiken einschränken“.231 Kettner232 schreibt: „Viele befürchten vom Vorrücken der wunscherfüllenden Medizin den Bankrott medizinethischer Werte“. Der Verlust von Menschlichkeit werde ebenso vorausgesehen wie eine positiv zu wertende Steigerung menschlicher Eigenschaften, meint Eberbach.233 Der plastische Chirurg Panfilov schreibt zu dieser Ambivalenz:234 „Oft heißt es, die ästhetische und die plastische Chirurgie seien allmächtig, vermöchten alles, und der plastische Chirurg sei ein Zauberer. Gleichzeitig wird die ästhetische Chirurgie negativ gesehen. Man wirft ihr vor, sich den Naturgesetzen durch Betrug und willkürliches Ändern von Schicksalen zu widersetzen. Das Spektrum der Urteile über die ästhetisch-plastische Chirurgie reicht von Lobeshymnen bis zur Verdammung dieser faustoiden, alchemischen Chirurgie.“ Hierzu erklärt Kettner:235 „Die Verwandtschaft der heterogenen Phänomene, die der Begriff der Wunscherfüllung hervorheben soll, liegt in der wachsenden Spannung zwischen überkommenen professionsethischen Selbstbeschränkungen ärztlichen Handelns im jeweiligen Praxisbereich und dem Druck von weit darüber hinaus gehenden Anwendungswünschen, die die herkömmlichen, mehr oder weniger guten Gründe für die Selbstbeschränkungen in Frage stellen oder entwerten. Bereits dieser kleinste

Zur Debatte bzgl. des Einsatzes von Psychopharmaka bei Gesunden siehe insbesondere Repantis, Die Wirkung von Psychopharmaka bei Gesunden, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 63 ff.; Talbot, Pharmakologisches Enhancement, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 69 ff.; Groß, Neuro-Enhancement unter besonderer Berücksichtigung neurobionischer Maßnahmen, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 85 ff.; Graf-Baumann, Pharmakologische und gentechnische Leistungssteigerung im Sport, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 79 ff. 230 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 49 ff, 98 ff. 231 Lenk, Therapie und Enhancement, S. 260. 232 Kettner, Ethik in der Medizin 2006, 81 (87). Ders., in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 22, schreibt: „Wunscherfüllende Medizin ist ein moralisch ambivalenter Trend und muss als solcher weiterhin die medizinische Ethik beschäftigen.“ 233 Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (366 f.). 234 Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 25. 235 Kettner, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 21.

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gemeinsame Nenner erklärt die zwiespältigen Bewertungen der wunscherfüllenden Medizin und die Provokationen, die von ihr ausgehen“. In Anbetracht skeptischer Stimmen zum Schönheitswahn oder einer Diktatur des Scheins236 stellt sich die Frage,237 inwieweit der Wunschmedizin rechtliche Grenzen gesteckt werden können und sollen. Die Frage eines Verbotes wunscherfüllender medizinischer Maßnahmen muss an den verfassungsrechtlichen Freiheitsbereichen gemessen werden. Der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG238 gewährt jedem Menschen die Freiheit, zu tun und zu lassen, was er möchte, soweit er die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. „Die Maßnahmen des Enhancements werden grundsätzlich von dem verfassungsrechtlich garantierten Recht auf Selbstbestimmung im Bereich der körperlich-seelischen Integrität erfasst“, stellt die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht in ihren diesbezüglichen Empfehlungen fest.239 Das Recht, sich selbst auch mithilfe eines anderen körperlich und/oder psychisch zu verbessern, sei von allgemeinen Handlungsfreiheit umfasst, betont auch Eberbach,240 sodass nicht die Freiheit, sondern deren Beschränkung begründet werden müsse; es sei „auch nicht Aufgabe des Rechts, bevormundend die individuellen Präferenzen und selbstbezogenen Handlungen autonomer Bürger zu reglementieren“. Nach Art. 2 Abs. 1 GG hat jeder das Recht, seine Gesundheit zu schädigen, es sei denn, die Folgen dieses selbstgefährdenden Handelns betreffen auch die Interessen Dritter oder die Allgemeinheit.241 Das bedeutet, dass nur dann der Staat mithilfe eines Verbotes bestimmter Maßnahmen in die Handlungsfreiheit des Einzelnen eingreifen darf. Wunscherfüllende medizinische Maßnahmen bergen zwar gesundheitliche Risiken für den Patienten, eine Bedrohung der Rechte Dritter ist damit jedoch grundsätzlich nicht verbunden. Patienten können also wunscherfül-

236 Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 45 ff. Siehe auch Bayertz/Schmidt, „Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein..!“, in: Ach/Pollmann, no body is perfect, S. 43 ff.; kritisch zu der mit der Anti-Aging-Medizin verbundenen Entgrenzungstendenz der Medizin siehe bspw. Steinkraus, ZaeFQ 2006, 650 (651); Eichinger, Ausweitung der Kampfzone, in: Viehöver/ Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 195 ff. 237 Siehe hierzu auch Höfling, Salus aut/et voluntas aegroti suprema lex – Verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 119 ff.; Stock, Ist die Verbesserung des Menschen rechtsmissbräulich?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 145 ff. 238 Das in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne; vgl. Nachweise hierzu in Fn. 3 im 2. Teil. 239 Vgl. die Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht e.V. (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180. 240 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 32. 241 Siehe Ausführungen und Nachweise hierzu im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 2. g).

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lende medizinische Maßnahmen grundsätzlich nicht verboten werden.242 Spiegelbildlich hierzu darf der Arzt „unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten jede nicht sittenwidrige Maßnahme vornehmen“.243 Damm befürchtet insofern „eine verkürzte Perspektive von Autonomie“, „die Systembezüge und Rahmenbedingungen individueller Selbstbestimmung aus dem Blick zu verlieren droht“.244 Bei einem „rein subjektivistischen Autonomieverständnis, das sich im Wesentlichen in der Forderung der informierten Zustimmung der Patienten oder Klienten erschöpft“, so Damm, bliebe „der Umstand unterbewertet“, „dass gerade in dem hier interessierenden Bereich individuelle Entscheidungen in einem Umfeld getroffen werden, das durch wirkungskräftige mediale Überformungen und Marktinteressen geprägt ist“.245 Eine Grenze wunscherfüllender Medizin ergibt sich aber daraus, dass sich Ärzte und Angehörige anderer Gesundheitsberufe bei der Vornahme sittenwidriger wunscherfüllender Maßnahmen strafbar machen können. Nach ständiger Rechtsprechung ist jede ärztliche, die körperliche Integrität betreffende Maßnahme tatbestandlich als Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB anzusehen.246 Diese ist gerechtfertigt und bleibt damit straflos, wenn der Patient zuvor wirksam eingewilligt hat.247 Verstößt die Maßnahme jedoch gegen die guten Sitten ist die Einwilligung des Patienten gemäß § 228 StGB unwirksam und der Arzt begeht bei deren Vornahme eine rechtswidrige Körperverletzung. Zu prüfen sei dies, so Eberbach,248 bei extremen Maßnahmen wie beispielsweise im Fall einer lesbischen Frau, die sich ihre gesunden Brüste entfernen lassen will, weil sie sich davon positive Auswirkungen auf ihre Beziehung verspricht, oder auch bei Maßnahmen, die 242

Nicht untersucht ist hier die Frage, inwieweit die Entscheidung über die Vornahme wunscherfüllender medizinischer Maßnahmen von einwilligungsfähigen Minderjährigen oder durch Dritte (z. B. der sorgeberechtigten Person) eingeschränkt werden können. 243 Ulsenheimer, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 138 Rn. 7. 244 Damm, GesR 2010, 641 (653). 245 Damm, GesR 2010, 641 (653). 246 RGSt 25, 375 ff.; 38, 64; 61, 256; BGHSt 11, 111; 12, 379 (382 ff.); 16, 309; 35, 246; 43, 306. Dabei handele es sich um eine „eine seit einem Jahrhundert eingeschliffene und eingewurzelte Rechtsprechung“, so Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 410. In Bezug auf den ärztlichen Heileingriff wird in der Literatur überwiegend vertreten, der Tatbestand der Körperverletzung sei nicht erfüllt; vgl. hier nur Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 223 Rn. 30. Wunscherfüllende Maßnahmen dienen nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis gerade nicht Heilzwecken, sodass der Eingriff unstrittig als tatbestandliche Körperverletzung zu betrachten ist, vgl. Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 223 Rn. 49 ff. Siehe auch Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 340 ff. 247 Zum Rechtfertigungsgrund der Einwilligung siehe Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, vor §§ 32 ff. Rn. 29 ff.; sowie zur rechtfertigenden Einwilligung zum ärztlichen Eingriff, die eine umfassende Aufklärung über die Risiken der Maßnahme voraussetzt, siehe Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 223 Rn. 37 ff. 248 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 30 f., 35 f. Siehe hierzu grundsätzlich auch Eberbach, MedR 2008, 325 (335).

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zur Beseitigung oder Beschränkung der Verantwortungsfähigkeit, Herbeiführung der Hilfsbedürftigkeit oder Erinnerungslosigkeit oder persönlicher Unkenntlichkeit führen würden. Hahn249 schreibt, „spätestens Extremfälle, wie das in der Szene der modern primitives zu findende Zungenspalten und Anspitzen der Zähne, dürften aber die Grenze der Sittenwidrigkeit erreichen und damit die Voraussetzungen des § 228 StGB erfüllen, der einer scheinbar gerechtfertigen Einwilligung des Patienten ihre Wirksamkeit nimmt“.

D. Rechtliche Dimensionen wunscherfüllender Medizin „Es gibt wohl kaum ein großes Rechtsgebiet, von dem die Ästhetische Chirurgie nicht berührt wäre“, meint Damm.250 „Für den Bereich der ästhetischen Medizin gibt es keine gesetzlichen Sonderregelungen (…); es gelten vielmehr die allgemeinen medizinrechtlichen Regelungen, die freilich in der ästhetischen Medizin besondere Fragen aufwerfen“, stellt Jansen fest.251 Mit Blick auf den Untersuchungsschwerpunkt sind die im Zusammenhang mit der wunscherfüllenden Medizin diskutierten, wesentlichen Rechtsfragen hier lediglich skizzenhaft dargestellt. Zivilrechtlich stellt sich die Frage, ob der Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient aufgrund der Eigenarten der wunscherfüllenden Medizin dem Werkvertragsrecht unterliegt oder wie beim traditionellen, kurativen ärztlichen Handeln dem Dienstvertragsrecht unterworfen ist. Eberbach252 diskutiert dies ausführlich und plädiert für die Anwendung des Werkvertragsrechts; eine rechtliche Zuordnung der wunscherfüllenden Medizin zum Dienstvertragsrecht könne angesichts der damit verbundenen geringen Haftungsrisiken für den Arzt „nicht die geforderte lenkende Begleitung gesellschaftlicher Prozesse“ erreichen. Überwiegend253 wird jedoch vertreten, dass auch der Behandlungsvertrag über wunscherfüllende medizinische Maßnahmen dem Dienstvertragsrecht zuzuordnen ist. So stellt die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht e.V. in ihren Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin fest, dass Verträge über Leistungen der wunscher-

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Hahn, MedR 2010, 485 (490) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Damm, GesR 2010, 641 (652). 251 Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (655). 252 Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (370 ff.; Zitat auf 374 f.). Siehe auch Eberbach, MedR 2008, 325 (334 f.); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 25 ff. 253 Siehe BGHZ 63, 306 (309); OLG Köln, VersR 1988, 1049 (1049); Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (656); Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 68 ff. m. w. N., 252; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, 326 ff.; Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 38 Rn. 27. Eine ausführliche Darstellung des Streitstandes findet sich bei Prütting, MedR 2011, 275 (276 ff.), der sich im Ergebnis der herrschenden Meinung anschließt. 250

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füllenden Medizin „grundsätzlich als Dienstverträge zu qualifizieren“ sind, „auch wenn sie zum Teil werkvertragliche Elemente enthalten“.254 Besondere Anforderungen gelten für die ärztliche Aufklärung vor wunscherfüllenden medizinischen Maßnahmen. Die Pflicht des Arztes zur umfassenden, rechtzeitigen Aufklärung des Patienten über Art und Umfang der geplanten Behandlungsmaßnahmen und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ergibt sich sowohl aus dem zivilrechtlichen Behandlungsvertrag255 als auch aus dem ärztlichen Berufsrecht256 und aus dem verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 GG257 sowie mittelbar aus dem Strafrecht258. Die ärztliche Aufklärungspflicht muss im Bereich der Wunschmedizin erhöhten Anforderungen genügen.259 Je weniger der ärztliche Eingriff medizinisch geboten ist, um so ausführlicher und eindrücklicher ist der Patient, über die Erfolgsaussichten und etwaige schädliche Folgen aufzuklären.260 Zudem habe der 254 Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180. 255 Siehe Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 57 Rn. 14; Deutsch/ Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 249. Zur ärztlichen Haftung für Aufklärungsfehler, siehe bspw. Wellner, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 70/BGB, §§ 823 ff. Rn. 200 ff.; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 58 ff. 256 Vgl. § 8 MBO. Hierbei handelt es sich um eine vom Deutschen Ärztetag beschlossene Musterregelung mit Empfehlungscharakter. Die Gesetzgebungskompetenz für das ärztliche Berufsausübungsrecht haben gemäß Art. 70 Abs. 1 GG die Bundesländer. Zur näheren Ausgestaltung des Berufsausübungsrechts haben die Landesgesetzgeber in ihren Heilberufs- und Kammergesetzen die Landesärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts und damit als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung verpflichtet. Die Landesärztekammern haben in funktionaler Selbstverwaltung Berufsordnungen erlassen, die im Wesentlichen der MBO entsprechen und als Satzungsrecht rechtliche Bindungskraft entfalten. Vgl. hierzu insgesamt Scholz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 350/MBO, Vorbemerkungen Rn. 1 f. 257 Siehe Damm, GesR 2010, 641 (643); Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 248; Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 57 Rn. 15 f. 258 Die umfassende und rechtzeitige Aufklärung ist Wirksamkeitsvoraussetzung der die Körperverletzung rechtfertigenden Einwilligung; vgl. Ausführungen im vorherigen Abschnitt C. 259 Ausführlich zur erhöhten Aufklärungspflicht siehe Damm, GesR 2010, 641 (650 ff.); Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (587); Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (371 f.); ders., MedR 2008, 325 (334); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 27; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 96 ff., 108, 252 f.; jeweils m. w. N. Siehe auch OLG Oldenburg, VersR 1998, 854; 2001, 1381; OLG Düsseldorf, VersR 1999, 61; OLG Frankfurt, MedR 2006, 294; OLG Hamm, VersR 2006, 1509; OLG Köln, VersR 1988, 1049 (1049); Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (656); Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28e; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 142 f., 303 ff.; Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 92, 95, 107; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 289. 260 Vgl. nur Eberbach, in: FS für Günter Hirsch, 365 (371); Wenzel, in: Wenzel (Hrsg.), Medizinrecht, Kap. 4 Rn. 95. Dies schreibt auch die insoweit durch die Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011 geänderte berufsrechtliche Mustervorschrift in § 8 MBO vor.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Arzt den Patienten auch über die möglichen wirtschaftlichen Folgen der Behandlung, wie z. B. die Höhe der Behandlungskosten und eventuelle Folgebehandlungskosten sowie die fehlende Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse aufzuklären.261 Dass diesen im Bereich von Schönheitsoperationen und anderen wunscherfüllenden medizinischen Maßnahmen besonders strengen Aufklärungserfordernissen in der Praxis genügend nachgekommen werde, bezweifeln beispielsweise Teichner und Schröder.262 „Die Probleme, vor die uns dieses neue Feld der Wunschmedizin stellt, sind komplex und reichen von Fragen der ärztlichen Ethik bis hin zu grundlegenden Veränderungen des ärztlichen Berufsbildes“, meint Steinkraus aus ärztlicher Sicht.263 Ganz überwiegend wird die Anwendung des ärztlichen Berufsrechts264 für den Bereich der Wunschmedizin angenommen.265 Diskutiert wird auch die Frage, inwieweit wunscherfüllende medizinische Maßnahmen, die oftmals nicht medizinisch indiziert sind, zulässigerweise von Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe durchgeführt werden dürfen.266 Laufs sieht in der Indikation eine Grundvoraussetzung beruflich legitimen ärztlichen Handelns und ein „erforderliches Element rechtmäßigen ärztlichen Eingreifens“.267 Bezogen auf die Wunschmedizin schreibt Laufs jedoch: „Die Indikation als normative Voraussetzung ärztlicher Intervention verliert in dem Maße an Gewicht, in dem neben der traditionellen indi261

Siehe hierzu Krüger/Helml, GesR 2011, 584 (585 ff.); Damm, GesR 2010, 641 (646); Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (588 ff.); Eberbach, MedR 2008, 325 (334); Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 190 ff. sowie die Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180. 262 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (590). So auch Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (656). 263 Steinkraus, ZaeFQ 2006, 650 (650) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 264 Das ärztliche Berufsausübungsrecht ist – wie in Fn. 256 in diesem Teil erläutert – in den Heilberufs- und Kammergesetzen der Bundesländer verankert und im Wesentlichen durch die Berufsordnungen der Landesärztekammern in Selbstverwaltung als Satzungsrecht ausgestaltet. 265 Die DGMR stellt in ihren Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180, fest, dass der Arzt auch bei Maßnahmen der wunscherfüllenden Medizin der ärztlichen Berufsordnung unterliege, da diese auch anwendbar und zu beachten sei, wenn der Arzt außerhalb der Heilkunde tätig wird. Die DGMR regt eine entsprechende Klarstellung in den Berufsordnungen der Ärztekammern sowie in den Heilberufsund Kammergesetzen der Länder an. Zur Diskussion siehe auch Eberbach, MedR 2008, 325 (332, 335) (nicht unmittelbar geltend); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 19 f. (Anwendbarkeit wird befürwortet). Klar sei jedenfalls, dass die Gebührenordnung für Ärzten (GOÄ) auch für nicht indizierte ärztliche Tätigkeiten anwendbar sei, da es sich ebenfalls um die berufliche Tätigkeit von Ärzten handele; vgl. BGH, NJW 2006, 1879 (1879 f.); Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 14. 266 Zum Begriff der medizinischen Indikation siehe in diesem Kapitel, B. III. Siehe zur Frage des ärztlichen Handelns ohne Indikation auch die dortigen Ausführungen. 267 Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 21.

Kap. 1: Wunscherfüllende Medizin

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kationsgebundenen Medizin eine neue wunscherfüllende Medizin Raum gewinnt“.268 Offen bleibt, worin Laufs die Indikation rechtlich verankert sieht und aus welchen Gründen hiervon bezüglich der Wunschmedizin Abstand genommen werden kann. Der ärztliche Eingriff findet aus rechtlicher Sicht seine Rechtfertigung allein in der wirksam abgegebenen Einwilligung des Patienten.269 Dass ärztliches Handeln grundsätzlich auch ohne ärztliche Indikation zulässig ist, entschied der Bundesgerichtshof bereits 1978 im sogenannten Zahnextraktionsfall.270 Damm271 sieht dennoch in der Frage, „ob und in welchem Maße medizinisches Handeln überhaupt noch an eine spezifisch medizinische Indikation im traditionellen Verständnis gebunden bleibt, sowie zugleich die Frage, ob und in welchem Maße Indikationsverluste durch Informationsgewinne kompensiert oder gar ersetzt werden könnten“ „zentrale Fragen der modernen Medizin“. Dem Wandel liege einerseits der „normative Aufschwung des Autonomieprinzips zugrunde, aber andererseits und mit zunehmendem Gewicht der objektive Entwicklungsprozess der Medizin“, meint Damm und erkennt bezüglich der praktizierten ästhetischen Chirurgie eine an der Zielvorstellung Schönheit ausgerichtete „immanente Indikation sui generis“ an.272 Zudem schreibt Damm:273 „Es spricht viel dafür, einem weiteren Abdriften der Medizin in eine indikationslose Dienstleistungsveranstaltung entgegenzuwirken. Der traditionelle Heilauftrag sollte als paradigmatische Leitgröße entschieden im Zentrum gehalten werden. Daraus folgt, dass auch weiterhin nicht die Grundregeln der Indikationsmedizin, sondern Ausweitungstendenzen der Wunschmedizin

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Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 1 f. Ansonsten kommt eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung in Betracht; vgl. hierzu Ausführungen im vorherigen Abschnitt C. Dass die Einwilligung des Patienten der alleinige Rechtfertigungsgrund des ärztlichen Eingriffs ist, vertritt auch Eberbach, MedR 2008, 325 (334). 270 BGH, NJW 1978, 1206 (1206). Ähnlich auch OLG Düsseldorf, VersR 2001, 1380 (1380 f.). 271 Damm, Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe, in: Viehöver/ Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 275 (Hervorhebungen aus dem Originaltext). Ähnlich bei ders., GesR 2010, 641 (652 f.); ders., Informed consent zwischen Indikations- und Wunschmedizin, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 188. In GesR 2010, 641 (644), schreibt Damm: „In Konfrontation mit der zentralen normativen Stellung der Indikation für ärztliches Handeln wird der Indikationsverlust für die Ästhetische Chirurgie geradezu zum Prüfstein für deren Legitimation.“ 272 Damm, GesR 2010, 641 (644, 652 f., erstes Zitat auf S. 653). Zu Damm’s Konzept eines entgrenzten Indikationsbegriffs siehe auch in diesem Kapitel, B. III. 273 Damm, GesR 2010, 641 (652 f.). An anderer Stelle formuliert Damm, Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe, in: Viehöver/Wehling, Entgrenzung der Medizin, S. 297 (Hervorhebungen aus dem Originaltext): „Für die konkrete Arbeit an der medizinrechtlichen Normbildung sollte gegenüber einer gewissermaßen naturwüchsigen Medizinentwicklung darauf beharrt werden, dass aus der Summe von angebotsorientierter technischer Machbarkeit und nachfrageorientierter Wünschbarkeit als solche weder Legitimität noch Legalität einer medizinischen Handlungsmöglichkeit resultieren kann.“ 269

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

rechtfertigungsbedürftig sein sollten.“ Stock274 formuliert: „Nach dem Verständnis des modernen Medizinrechts ist die ärztliche Tätigkeit nicht mehr beschränkt auf die Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden. Sie umfasst auch Maßnahmen am gesunden Menschen, wenn diese ihrer Methode nach der ärztlichen Krankenbehandlung gleichkommen, ärztliche Fachkenntnisse voraussetzen und gesundheitliche Schädigungen verursachen können.“ Die Werbung für Schönheitsoperationen ist nur in engen Grenzen zulässig. Neben den allgemeinen Werberegelungen des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (z. B. dem Verbot der irreführenden Werbung, dem Verbot der Ausnutzung von geschäftlicher Unerfahrenheit insbesondere von Kindern und Jugendlichen) unterliegt die Werbung für Schönheitsoperationen seit 1. April 2006 auch den strengeren Vorschriften des Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens (Heilmittelwerbegesetz – HWG).275 „Insbesondere bestimmte Formen der suggestiven Werbung, wie sie inzwischen weit verbreitet sind, werden damit verboten“, heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrates zur Änderung des Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens.276 An gleicher Stelle wird klargestellt, dass sich diese Beschränkungen nur auf operative Verfahren beziehen und somit „andere Verfahren mit Auswirkungen auf den Körper, wie z. B. Ohrlochstechen, Piercen und Tätowieren, nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens fallen“. Wunscherfüllende medizinische Maßnahmen, die nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis277 nicht medizinischen Heilzwecken dienen, sondern in erster Linie der Absicht des Patienten folgen, den eigenen Körper, sein äußeres Erscheinungsbild oder die eigenen Körperfunktionen zu verändern, unterfallen nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.278 Der Patient bezahlt somit die Kosten279 wunscherfüllender medizinischer Maßnahmen selbst. Erkrankt der 274 Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 150, wortgleich auch auf S. 387. Stock sieht jedoch die Indikation als unverzichtbare Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ärztlichen Handelns an und baut auf dieser Annahme sein weites Konzept von Indikation als ärztlichen Abwägungsprozess, in den auch vielfältige nicht medizinische Belange einzustellen sind, auf; vgl. hierzu Ausführungen und Kritik in diesem Kapitel, B. III. 275 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (588) m. w. N.; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 63; Fritzsche, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 270/HWG, § 1 Rn. 28. Siehe insbesondere die Werbeverbote nach §§ 3 und 11 HWG. Darüber hinaus verbietet das ärztliche Berufsrecht eine „anpreisende, irreführende oder vergleichende Werbung“, siehe § 27 MBO (zur MBO siehe Fn. 256 in diesem Teil). 276 BT-Drs. 15/4117, S. 7. 277 Siehe hierzu die in diesem Kapitel dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellte Definition. 278 Zu den Fallgruppen medizinischer Aussehenskorrekturen, die der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen unterfallen, siehe in diesem Kapitel, B. II. 279 Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 56 f., bietet einen Überblick über die durchschnittlichen Kosten von Schönheitsoperationen; die Höhe sei abhängig von Umfang, Dauer und Schwierigkeit der jeweiligen Behandlung sowie den Honorarvorstellungen des

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Patient in der Folge einer wunschmedizinischen Maßnahme, stellt sich die Frage, wer die nun erforderliche Krankenbehandlung übernimmt. Die insoweit eingreifende Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V ist Untersuchungsgegenstand des folgenden Kapitels. Kapitel 2

Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V Die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V trat zum 1. April 2007 in Kraft280 und lautete wie folgt: „Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme wie zum Beispiel eine ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen, hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern.“ In der Begründung hierzu wurde ausgeführt,281 dass die Übernahme der mit derartigen Maßnahmen verbundenen gesundheitlichen Risiken durch die Versichertengemeinschaft nicht sachgerecht und von den betroffenen Versicherten insofern Eigenverantwortung einzufordern sei. Damit werde die gesetzliche Krankenversicherung jährlich um rund 50 Mio. Euro entlastet.282 Zum 1. Juli 2008 wurde § 52 Abs. 2 SGB V durch Streichung der Wörter Maßnahme wie zum Beispiel eine geändert,283 um klarzustellen, dass nur bei Erkrankungsfolgen einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder einem Piercing eine Kostenbeteiligung der Versicherten erfolgt.284 Darüber hinaus trat zum 1. Juli 2008 die Regelung des § 294a Abs. 2 SGB V in Kraft, nach der die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen sowie die Krankenhäuser nach § 108 SGB V verpflichtet sind, bei Anhaltspunkten für ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 52 Abs. 2 SGB V den Krankenkassen die erforderlichen Daten mitzuteilen.285 Arztes. Weitere Kostenanhaltspunkte finden sich auch bei Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 20 ff., 60 ff.; Jacobs/Vorndamme, Schönheitschirurgie, S. 184 f.; Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 65 ff. 280 Die Regelung wurde mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) vom 26. 3. 2007, BGBl. I S. 378, 386, in das SGB V eingefügt und ist gemäß Art. 46 I GKV-WSG zum 1. 4. 2007 in Kraft getreten. 281 Siehe im besonderen Teil der Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD vom 24. 10. 2006, BT-Drs. 16/3100, S. 108. 282 Siehe BT-Drs. 16/3100, S. 210 f. 283 Die Änderung erfolgte durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) vom 28. 5. 2008, BGBl. I S. 874, 899. 284 So die Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 16/7439, S. 96. 285 § 294a Abs. 2 SGB V wurde durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. 5. 2008, BGBl. I S. 874, 901 eingeführt. Siehe Ausführungen hierzu in diesem Kapitel unter C.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

A. Regelungsinhalt des § 52 Abs. 2 SGB V Wegen ihres Ausnahmecharakters muss die Regelung, ebenso wie § 52 Abs. 1 SGB V, eng ausgelegt werden,286 sodass sie bezüglich Leistungen, die nicht im fünften Abschnitt des dritten Kapitels des SGB V geregelt sind, nicht analog angewandt werden kann und ihre einzelnen Voraussetzungen nicht extensiv ausgelegt werden dürfen. I. Versicherte, die sich eine Krankheit zugezogen haben Der Personenkreis der gesetzlich Krankenversicherten ergibt sich aus dem zweiten Kapitel des SGB V und umfasst Versicherungspflichtige nach § 5 SGB V, die weder nach § 6 oder § 7 SGB V kraft Gesetzes versicherungsfrei noch nach § 8 SGB V von der Versicherung befreit sind, sowie freiwillig Versicherte gemäß § 9 SGB V und Familienversicherte nach § 10 SGB V. Eine Krankheit im Sinne des SGB V ist ein regelwidriger, vom Normalbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht. Auf die diesbezüglichen Erläuterungen und Nachweise im 2. Teil, Kapitel 2, C. I. dieser Arbeit wird Bezug genommen. Sich eine Krankheit zuzuziehen setzt ein persönliches, zurechenbares Verhalten des Versicherten voraus. Typischerweise geschehen ästhetische Operationen, Tätowierungen oder Piercings nicht durch eigenes Handeln287 des Versicherten, sondern durch das Handeln einer anderen Person, das der Betroffene duldend hinnimmt. In der Gesetzesbegründung ist die Rede von Versicherten, „die derartige Maßnahmen durchführen lassen“, bzw. die sich „aus eigenem Entschluss gesundheitlichen Risiken aussetzen“.288 Der Tatbestand des § 52 Abs. 2 SGB V erfordert somit nicht ein eigenes Versichertenhandeln als Erkrankungsursache. Entscheidender Anknüpfungspunkt ist vielmehr der eigene Entschluss des Versicherten, eine der genannten Maßnahmen an sich vornehmen zu lassen.289 Ausgeschlossen sind damit Handlungen, die ohne oder gegen den Willen des Versicherten stattgefunden haben.290 286 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 4 f., 38; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 3; Prehn, NZS 2010, 260 (266). Siehe zu § 52 Abs. 1 SGB V Nachweise in Fn. 364 im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. 287 Nach Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28p, umfasse das Versichertenverhalten wie in § 52 Abs. 1 SGB V nicht nur ein aktives Tun, sondern auch ein pflichtwidriges Unterlassen. Er verweist insofern auf die Diskussion zu § 52 Abs. 1 SGB V; vgl. Fn. 363 im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. Anknüpfungspunkt des § 52 Abs. 2 SGB V ist jedoch nicht in erster Linie das körperliche Tun oder Unterlassen, sondern vielmehr der dem zugrunde liegende Entschluss, etwas tun zu lassen und dies dann duldend hinzunehmen. 288 Vgl. BT-Drs. 16/3100, S. 108. 289 Siehe auch Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 110, 112; Prehn, NZS 2010, 260 (263); Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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II. Eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing Ästhetische Operationen, die üblicherweise auch als Schönheitsoperationen bezeichnet werden,291 dienen der Veränderung des Aussehens auf Wunsch des Patienten.292 Als typisches Beispiel wunscherfüllender Medizin war die Schönheitsoperation bereits Untersuchungsgegenstand des vorherigen Kapitels. Auf die Darstellung der unterschiedlichen Begriffsverständnisse und hiervon umfassten Operationen im Kapitel 1, A. I. 1. wird verwiesen. Ob der Begriff der ästhetischen Operation im Sinne des § 52 Abs. 2 SGB V auf das enge Verständnis im medizinischen Sprachgebrauch von Operation als chirurgischer Eingriff begrenzt sein soll, geht aus der Gesetzesbegründung nicht hervor. Der systematische Zusammenhang des Begriffs in der Aufzählung mit Körpermodifikationen wie Piercings und Tätowierungen spricht jedoch für das in der Diskussion über Schönheitsoperationen verbreitete, weite Verständnis von Operation als jeder medizinische, instrumentelle Eingriff in den menschlichen Körper. Folglich unterfallen dem Anwendungsbereich des § 52 Abs. 2 SGB V beispielsweise auch Faltenunterspritzungen, Lippenauffüllungen oder Laserbehandlungen der Dermatologie. Erfasst sind sämtliche medizinischen, instrumentellen Eingriffe in den menschlichen Körper, die der subjektiven Zielrichtung des Patienten folgen, sein äußeres Erscheinungsbild entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren. Abzugrenzen sind ästhetische Operationen grundsätzlich von nicht-medizinischen Maßnahmen, also solchen, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen und oftmals als kosmetische Behandlung bezeichnet werden. Derartige Maßnahmen, wie z. B. die Faltenunterspritzung, die in der Praxis nicht nur von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, sondern auch außerhalb der Medizin von Kosmetikern293 angeboten werden, unterfallen jedoch ebenfalls der Vorschrift des § 52 der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 172. 290 So auch Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 21; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 8. Bei einer ohne die Einwilligung des Betroffenen vorgenommenen ästhetischen Operation, Tätowierung oder Piercing handelt es sich um eine rechtswidrig begangene Körperverletzung gemäß § 223 StGB; vgl. hierzu auch die Ausführungen im vorherigen Kapitel 1 unter C. 291 So auch in der Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/3100, S. 108. Siehe hierzu auch Ausführungen im vorherigen Kapitel 1 unter A. I. 1. 292 Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 24, und Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28c, sprechen insofern von der Verbesserung des körperlichen Aussehens. Da die Frage, ob sich das körperliche Aussehen einer Person verbessert hat, lediglich einer subjektiven Beurteilung zugänglich ist, wird hier an die Veränderung des körperlichen Aussehens angeknüpft. 293 Der Beruf des Kosmetikers ist kein Heilberuf. Zur Frage, ob das Faltenunterspritzen Heilkunde und damit Kosmetikern versagt ist, besteht eine uneinheitliche Rechtsprechung; vgl. AG Eckernförde vom 20. 11. 2007 (Az. 51 Cs 590 Js 29933/06) und BVerwG NVwZ-RR 2007, 686 ff.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Abs. 2 SGB V. Für diese Auslegung spricht zum einen die weitere Aufzählung von Piercings und Tätowierungen, die typischerweise nicht von Ärzten durchgeführt werden, und zum anderen das Gleichheitsgebot nach Art. 3 Abs. 1 GG, da belastbare Kriterien für unterschiedliche krankenversicherungsrechtliche Konsequenzen einer Faltenunterspritzung durch einen Arzt und der gleichen Maßnahme durch einen Kosmetiker nicht ersichtlich sind. Ästhetische Operationen dienten – so Reyels – „allein der Korrektur äußerer Körpermerkmale, ohne dass insoweit ein krankhafter Zustand gegeben ist“.294 Bei keiner der genannten Maßnahmen sei aus medizinischer Sicht eine Behandlung erforderlich, so Reyels, der daraus schlussfolgert, es sei entscheidend darauf abzustellen, dass keine Behandlungsbedürftigkeit bestand.295 Ästhetische Chirurgie könne „nicht generalisierend über einen Leisten geschlagen werden“, meint Damm296 und sieht Differenzierungsbedarf. Dass eine Schönheitsoperation nicht zwingend dem Bereich der Wunschmedizin unterfällt, bzw. dass derartige Operationsmethoden und -techniken auch in erster Linie medizinischen Heilzwecken dienen können, ergibt sich – wie im vorherigen Kapitel 1 unter B. eingehend erläutert – nicht zuletzt aus dem Umstand, dass ästhetische Operationen unter bestimmten Umständen von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Als tatbestandliche Voraussetzung des § 52 Abs. 2 SGB V muss die ästhetische Operation medizinisch nicht indiziert gewesen sein. Medizinisch nicht indiziert ist gleichbedeutend mit der Beschreibung aus medizinischen Gründen nicht angezeigt.297 Ist eine Maßnahme medizinisch nicht indiziert, heißt das, dass aus ärztlicher Sicht kein Grund besteht, der die Durchführung dieser Maßnahme ausreichend rechtfertigt.298 Die Feststellung, ob eine ästhetische Operation medizinisch indiziert war, muss ausgehend von der zuvor im konkreten Einzelfall bestandenen Krankheitslage beurteilt werden. Unbeachtlich ist dabei, ob die Maßnahme zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden konnte.299 Im Rahmen der eingehenden Untersuchung des Begriffs medizinische Indikation im vorherigen Kapitel 1 unter B. III. wurde deutlich, dass sowohl unter Medizinern als auch Juristen unterschiedliche Verständnisse von medizinischer Indikation, insbesondere im Zusammenhang mit Schönheitsoperationen, vertreten werden, sodass mit dieser tat294

Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 115. Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 113. 296 Damm, GesR 2010, 641 (648). 297 Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwörter Indikation und indiziert. Siehe hierzu die detaillierte Begriffsbetrachtung im vorherigen Kapitel 1, B. III. 298 Vgl. auch Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 173. 299 Dass eine ästhetische Operation auch dann medizinisch indiziert sein kann, wenn keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse besteht, wurde im vorherigen Kapitel 1, B. II. und III. ausführlich erläutert. Siehe auch entsprechenden Hinweis von Dalichau, SGB V, § 52 II. 2., der darauf hin meint, die Vorschrift erscheine unscharf. 295

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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bestandlichen Voraussetzung des § 52 Abs. 2 SGB V eine gewisse Rechtsunsicherheit einhergeht.300 Alternativ zu einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation setzt § 52 Abs. 2 SGB Veine Tätowierung oder ein Piercing voraus. Wie bereits im vorherigen Kapitel 1 unter B. 4. erläutert, bezeichnet das Tätowieren301 das Einbringen von Farbpigmenten in die Haut, um dauerhafte Muster zu schaffen, und Piercen302 das Herstellen künstlicher Körperöffnungen bzw. die Perforation von Gewebe mit einer Hohlnadel, um Schmuckgegenstände anzubringen. Diese eine Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB Vauslösenden Maßnahmen sind seit der bereits eingangs dieses Teils erwähnten Änderung der Vorschrift303 abschließend aufgezählt. III. Ursächlicher Zusammenhang Die Krankheit des Versicherten muss er sich durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen haben. Der insofern vorausgesetzte Kausalzusammenhang bedingt zunächst, dass diese Maßnahme nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Erkrankung in ihrer konkreten Gestalt entfiele, wobei sie entsprechend der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung nur dann kausal bzw. zurechenbar ist, wenn sie die Erkrankung wesentlich mitverursacht hat.304 Der erforderliche Kausalzusammenhang liegt somit nicht vor, wenn die Erkrankung des Versicherten ganz oder überwiegend durch andere Umstände hervorgerufen worden ist.

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Im Gesetzgebungsverfahren meinte die Fraktion DIE LINKE., dass insbesondere wegen des unbestimmten Rechtsbegriffs der medizinisch nicht indizierten Maßnahme in der Praxis Umsetzungsprobleme vorprogrammiert seien; vgl. BT-Drs. 16/4247, S. 12. 301 Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 24; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 g. Noftz weist an dieser Stelle auch auf das sogenannte Permanent-Make-Up als Sonderform einer Tätowierung hin, bei dem Gesichtspartien „zur Darstellung krankheitsbedingt fehlender Augenbrauen und Wimpern“ dauerhaft pigmentiert würden. Von Tätowierungen abzugrenzen seien, so Noftz, sogenannte Hennatattoos, bei denen lediglich die Hornschicht der Oberhaut eingefärbt wird und sich die Farbe nach kürzerer Zeit ablöst. 302 Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 24; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 h. Noftz weist in diesem Zusammenhang auf die lange Tradition des Ohrpiercings in der westlichen Kultur hin. Nach Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1329), wird jedoch das Durchstechen der Ohrläppchen im Allgemeinen nicht als Piercing betrachtet. 303 Durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz ist die ursprüngliche Fassung – wie es in der Gesetzesbegründung heißt: klarstellend – geändert worden. Durch die Änderung wird, so die amtliche Begründung, „gewährleistet, daß nur bei Folgen einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder einem Piercing eine Kostenbeteiligung der Versicherten erfolgt“; vgl. BT-Drs. 16/7439, S. 96. 304 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 111; Noftz, in: Hauck/ Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28r, 16. Zur Theorie der wesentlichen Bedingung und deren Anwendbarkeit im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung siehe Ausführungen und Nachweise im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V greift auch bei einer Wiedererkrankung, wenn also die ursprüngliche Krankheit im selben Erscheinungsbild erneut auftritt, sowie bei einer Folgeerkrankung, die infolge der ursprünglichen Krankheit eintritt, sich aber im Erscheinungsbild von ihr unterscheidet. Dies gilt jedoch nur, sofern ein ununterbrochener Kausalverlauf vorliegt, bzw. die Folgeerkrankung auf dieselbe Ursache zurückzuführen ist und es sich um ein einheitliches Krankheitsgeschehen handelt.305 Wie bereits im Rahmen der Frage einer leistungsrechtlichen Berücksichtigung ungesunder Lebensführung erläutert,306 birgt die Feststellung des erforderlichen Kausalzusammenhangs praktische Probleme für die begutachtenden Mediziner. Die relative Bedeutung von genetischer Veranlagung, Umweltfaktoren und dem gesundheitsbezogenen Verhalten des Betroffenen sowie die Wechselwirkungen einzelner Krankheitsursachen sind kaum bestimmbar. Die Erkrankungsfolgen bestimmter Eingriffe in den Körper wie z. B. ästhetische Operationen, Tätowierungen und Piercings erscheinen allerdings erheblich einfacher auf ihre (Mit-)Ursachen zurückzuführen sein. Dennoch weist Noftz in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Nachweis und die Beurteilung der wesentlichen Mitursächlichkeit beispielsweise bei allergischen Reaktionen häufig schwierig sei.307 Im Gesetzgebungsverfahren warf die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN308 die Frage auf, wie „man bspw. einen Zusammenhang zwischen einer Entzündung und einer Tätowierung herstellen“ wolle, „wenn diese zeitverzögert, möglicherweise erst nach Wochen oder Monaten auftritt“; hier würde „fälschlicherweise eine Laborsituation angenommen, bei der externe Faktoren weitestgehend ausgeklammert werden“. IV. Entscheidung der Krankenkasse Die Entscheidung, ob die Versicherten an den Kosten der Leistungen beteiligt werden oder die Gewährung von Krankengeld versagt wird, überlässt § 52 Abs. 2 SGB V im Gegensatz zu Absatz 1 nicht dem Ermessen der gesetzlichen Krankenkassen. Nach dem Gesetzeswortlaut „hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern“. Der Krankenkasse ist es anders als nach Absatz 1 auch nicht freigestellt, nur eine der beiden Leistungsbeschränkungen zu verfügen. Lediglich die Frage, in welchem Umfang die Versicherten an den Kosten der Leistungen beteiligt werden und inwieweit das Krankengeld für die Dauer dieser Krankheit versagt oder zurückge305 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 109; Noftz, in: Hauck/ Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 16, jeweils m. w. N. 306 Siehe hierzu Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 2. d) und e). 307 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28r. 308 BT-Drs. 16/4247, S. 20. Siehe insofern auch Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/ Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 171.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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fordert wird, steht im Ermessen der Krankenkasse.309 Eine vollständige Kostenübernahme durch den Versicherten ist dem Wortlaut nach ausgeschlossen.310 Das Auswahlermessen bezüglich des Umfangs der Kostenbeteiligung bzw. Krankengeldversagung oder -rückforderung muss die Krankenkasse gemäß § 39 Abs. 1 SGB I entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen ausüben. Dabei sind – ebenso wie bei der Ermessensausübung nach § 52 Abs. 1 SGB V311 – alle relevanten Umstände des Einzelfalles, insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen für die Versichertengemeinschaft und die ökonomisch-soziale Lage des Versicherten und seine Handlungsmotive zu berücksichtigen.312 Zudem ist darauf zu achten, dass der Lebensunterhalt des Versicherten und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen gesichert bleibt, ohne auf nachrangige Sozialleistungen, wie beispielsweise solche zur Grundsicherung, angewiesen zu sein.313 Darüber hinaus, meint Dalichau, sei die Vorschrift „im Wege der Auslegung zu ergänzen, in dem im Rahmen der Beurteilung der Angemessenheit die objektiv und aus der Sicht des Versicherten zu erwartende Gefahr einbezogen wird“.314 Nach Kruse könnte auch die Frage eine Rolle spielen, „ob die Krankheitsfolgen nachweislich dadurch verschlimmert wurden, dass die Maßnahme nicht fachgerecht 309

Anderer Ansicht sind Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (713 f.), die ein Auswahlermessen der Krankenkassen lediglich bzgl. des Krankengeldes annehmen. Was die Beteiligung an den Krankenbehandlungskosten angehe, räume § 52 Abs. 2 SGB V aufgrund des unbestimmten Rechtsbegriffs in angemessener Höhe, dessen Auslegung gerichtlich voll überprüfbar sei, kein Auswahlermessen ein. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs des § 52 SGB V a. F. in BTDrs. 11/2237, S. 182, ist der Begriff angemessen jedoch systematisch dem Ermessen zuzuordnen. Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 32, zufolge, handelt es sich um „keinen (gerichtlich evtl. voll überprüfbaren) unbestimmten Rechtsbegriff“. 310 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 32, 32b; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 14; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 129; a. A. Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 6, 9. 311 Siehe Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. 312 Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 9; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 25; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 10; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 127; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 29, 32a. Die (damaligen) Spitzenverbände der Krankenkassen haben in einer Besprechung im Januar 2008 zum Thema § 52 SGB V – Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden allgemein anwendbare Hinweise für die Umsetzung des § 52 Abs. 2 SGB V erarbeitet. Danach wird den Krankenkassen empfohlen, von den Versicherten grundsätzlich einen 50 %igen Eigenanteil an den Behandlungs- und Nebenkosten zu fordern, soweit nicht auf Grund der der Krankenkasse bereits bekannten Verhältnisse ein anderer Prozentsatz angemessen erscheint. Die Niederschrift dieses Besprechungsergebnisses wurde grundsätzlich zur Veröffentlichung freigegeben und auf Nachfrage beim Spitzenverband Bund der Krankenkassen zugesandt. Ein Hinweis hierauf findet sich auch bei Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 174. 313 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 31, 32b; Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 16. 314 Dalichau, SGB V, § 52 II. 2.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

ausgeführt wurde, wie dies bei Tätowierungen oder Piercings immer wieder geschieht“.315 Sollte der betroffene Versicherte an einer kausalen Folgeerkrankung oder nach zunächst behobener Krankheit unvorhersehbar wieder an der gleichen Krankheit erkranken, ist davon auszugehen, dass die hieraus resultierende Belastung bei der ursprünglichen Ermessensentscheidung nicht gewürdigt werden konnte, und eine neue Entscheidung geboten.316 Dies gilt auch, wenn die Erkrankung länger andauert als es bei der Entscheidung der Krankenkasse abzusehen war.317 Die Krankenkasse hat gemäß § 20 SGB X den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und nach § 24 SGB X den betroffenen Versicherten anzuhören. Die Entscheidung der Krankenkasse ergeht als Verwaltungsakt, der gemäß § 35 Abs. 1 SGB X zu begründen ist und dabei die konkreten Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Krankenkasse bei der Ermessensausübung ausgegangen ist. Die Krankenkasse bleibt zur Sachleistung verpflichtet318 und trägt somit das Insolvenzrisiko des betroffenen Versicherten. Die Zahlungsforderung nach § 52 SGB V ist möglich, sobald die Behandlungsleistung erbracht ist.319 Die Vorschriften zur Aufhebung von Verwaltungsakten nach den §§ 44 ff. SGB X werden durch § 52 SGB V als spezialgesetzliche Norm verdrängt.320 Für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 52 Abs. 2 SGB V liegt die Beweislast bei der Krankenkasse.321

B. Eigenverantwortung als Normzweck Über die Zielrichtung der in § 52 Abs. 2 SGB V neu eingeführten Kostenbeteiligung gibt zunächst die Begründung des Gesetzentwurfs Aufschluss. „In Bereichen, in denen aufgrund medizinisch nicht notwendiger Eingriffe Behandlungsbedürftigkeit entsteht,“ wird „mehr Eigenverantwortung eingefordert“, heißt es in der

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Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 10. Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 34, 16 m. w. N. 317 Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 13. 318 Der Leistungsanspruch besteht grundsätzlich fort; die Krankenkasse darf Sachleistungen unter Hinweis auf § 52 SGB V nicht verweigern. Siehe Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 86, 118, 124; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 32, 32b; Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 19. 319 Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 15. 320 Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 7; Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 7, 9; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 122; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 31, 33. 321 Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 134; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 14; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 38. 316

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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allgemeinen Begründung des GKV-WSG.322 Zur besonderen Begründung des § 52 Abs. 2 SGB V wird ausgeführt:323 „Durch medizinisch nicht notwendige Schönheitsoperationen, Piercing und Tätowierungen entstehen oft gravierende Gesundheitsstörungen, deren Behandlung nach der bisherigen Rechtslage durch die Krankenkassen finanziert werden muss. Da sich Versicherte, die derartige Maßnahmen durchführen lassen, aus eigenem Entschluss gesundheitlichen Risiken aussetzen, ist es nicht sachgerecht, diese Risiken durch die Versichertengemeinschaft abzudecken. Hier ist von den betroffenen Versicherten die Übernahme von Eigenverantwortung einzufordern. Die Krankenkassen haben sie daher an den Behandlungskosten angemessen zu beteiligen und Krankengeld gegebenenfalls ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern.“ Die so begründete Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V wird im Folgenden mithilfe des im zweiten Teil dieser Arbeit entwickelten Verständnisses von Eigenverantwortung des gesetzlich Krankenversicherten eingeordnet und unter Berücksichtigung der ihr entgegengebrachten Kritik324 näher untersucht. I. Ausgangslage Brustvergrößerungen, Nasenkorrekturen, Gesichtsstraffungen, das Unterspritzen von Lippen und Stirnfalten, das Absaugen von Fett, chirurgische Veränderungen an Genitalien und andere ästhetische Operationen bringen erhebliche Gesundheitsrisiken mit sich.325 Auf die Beschreibung der möglichen gesundheitlichen Folgen von Schönheitsoperationen im Kapitel 1, A. I. 2. wird verwiesen. Auch mit Tätowierungen und Piercings werden – wie im Kapitel 1, A. II. aufgezeigt – Risiken für die Gesundheit gesetzt. Bezogen auf die Risiken von Piercings schreibt SiegmundSchultze:326 „Die Kosten für eine Behandlung von Komplikationen können jedenfalls

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BT-Drs. 16/3100, S. 86. BT-Drs. 16/3100, S. 108. 324 Bereits im Gesetzgebungsverfahren äußerten die Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE. zahlreiche Bedenken und forderten, die Vorschrift zu streichen; vgl. BT-Drs. 16/4247, S. 12 f., 20. Aus der rechtswissenschaftlichen Literatur siehe z. B. Eberbach, MedR 2010, 756 (765: „völlig missglückte Vorschrift“); Damm, GesR 2010, 641 (649); Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (714); Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/ Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 176 f. 325 BT-Drs. 16/6779, S. 2; BT-Drs. 15/4117, S. 7; Hibbeler/Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2011, A1468 (A1469 f.); Damm, GesR 2010, 641 (646); Prehn, NZS 2010, 260 (264); Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 9; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 33, 115; Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 10; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28e; Panfilov, Schönheitschirurgie, S. 31 ff.; Bührer-Lucke, Die Schönheitsfalle, S. 71 f.; Korczak, Forschungsprojekt Schönheitsoperationen, S. 22 ff., 72 ff.; Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21. 326 Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1331). Siehe auch Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A487). 323

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

erheblich sein: Sie lagen bei den Behandlungen nach Brustwarzenabszessen zwischen 3.000 und 4.300 Euro.“ Verwirklicht sich ein mit einer Schönheitsoperation, einer Tätowierung oder einem Piercing gesetztes Gesundheitsrisiko bzw. erkrankt der Versicherte infolge einer solchen Maßnahme, hat er einen Anspruch auf Krankenbehandlung als Sachleistung.327 Der Versicherte wird zuvor regelmäßig darauf vertraut haben, dass sich keine mit dem Eingriff verbundenen gesundheitlichen Komplikationen einstellen werden. Von einer vorsätzlichen Zufügung der Folgeerkrankung einer Schönheitsoperation, einer Tätowierung oder eines Piercings kann somit in der Regel nicht ausgegangen werden,328 sodass eine Leistungsbeschränkung gemäß § 52 Abs. 1 SGB V grundsätzlich nicht in Betracht kommt.329 Anderes kann jedoch bei Folgen von außerordentlich riskanten Maßnahmen gelten.330 Vor Einführung des § 52 Abs. 2 SGB V übernahm die gesetzliche Krankenkasse die vollen Kosten möglicher Gesundheitsschäden von Schönheitsoperationen, Tätowierungen und Piercings. Dies galt beispielsweise auch für die Beseitigung von Tätowierungen, wenn psychische Belastungen mit Krankheitswert drohten, meint Krauskopf.331 Die unter anderem mit der Behandlung von Piercingfolgen befassten Mediziner Jacobs u. a. schreiben 2003, es könnte „darüber diskutiert werden, ob eine Kostenübernahme von Piercingkomplikationen sowie von medizinischen Behandlungs327 Zum Anspruch auf Krankenbehandlung nach dem SGB V und zum Naturalleistungsprinzip siehe Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, C. II. und III. In einem Fall des § 52 SGB V besteht der Krankenbehandlungsanspruch grundsätzlich fort und die Krankenkasse bleibt zur Sachleistung verpflichtet; vgl. Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 86, 118, 124; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 32, 32b. 328 Dass man bei Komplikationen derartiger Maßnahmen nicht ohne Weiteres eine vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführte Erkrankung annehmen kann, meinen – bezogen auf die arbeitsrechtliche Parallelvorschrift in § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz – auch Löwisch/Beck, BB 2007, 1960 (1960). 329 Nach überwiegender Ansicht setzt § 52 Abs. 1 SGB V eine vorsätzliche Zufügung eines körperlichen oder seelischen Schadens voraus, wobei sich der Versicherte der schädigenden Wirkung seiner Handlung im Allgemeinen bewusst gewesen sein muss und den Eintritt der Krankheit, mag er sie auch nicht gewünscht haben, zumindest billigend in Kauf genommen hat. Siehe hierzu Ausführungen und Nachweise im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. Geschwinder, ZfS 1981, 101 (101), hingegen vertrat – bezogen auf die Vorgängervorschrift des § 192 RVO – die Ansicht, der Vorsatz brauche sich nicht auf die Krankheit, sondern nur auf die eigene Körperverletzungs- bzw. Schädigungshandlung zu erstrecken. Während Geschwinder eine solche im Ergebnis lediglich fahrlässige Herbeiführung der Erkrankung als ausreichend für die Anwendung des § 52 Abs. 1 SGB V ansieht, meint Blöcher, dass erst derjenige, der einen Krankheitseintritt als End- oder notwendiges Zwischenziel seiner Handlung erkennt, und „eine direkt vorsätzliche innere Einstellung“ aufweist, mit einer Kostenbeteiligung rechnen müsse, da seine innere Einstellung auf einen Missbrauch der kollektiven Ordnungskonzeption abziele; vgl. Blöcher, Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensführung bei der Leistungsvergabe der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 52 SGB V, S. 86 ff., 114, 116. 330 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 22; Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 83; Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 5b. 331 Krauskopf, in: Krauskopf, Soziale KV, § 52 Rn. 10.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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kosten und der finanziellen Kompensation von Arbeitsausfall durch die Krankenkassen und damit durch die Gemeinschaft erfolgen soll“.332 Der Medizinethiker May gibt zur Bewertung von Piercings im Spannungsfeld von Selbstverwirklichung und Fürsorge Folgendes zu bedenken:333 „Die Kosten für das Piercing selbst werden durch mögliche Komplikationen weit überschritten. Wenn nun die Solidargemeinschaft von der Kostenlast für Komplikationen entbunden werden soll, ist dies über die private Bezahlung des Gepiercten möglich. Denkbar wäre ein Modell der Zwangsversicherung bei Stechen eines Piercings, was mögliche Komplikationen umfasst. Die Kosten für diese nicht abzuwählende Leistung richten sich für Versicherungsunternehmen nach der Komplikationsquote und -schwere.“ Alternativ wäre „ein Risikoaufschlag bei der Berechnung der Krankenversicherungsbeiträge“ möglich. Nach einer „Befragung von unter anderem medizinischem, pflegerischem Personal, Rettungsdienstpersonal und Schülern befürworteten 73 Prozent die Eigenverantwortung des Gepiercten, der für mögliche Kosten für Komplikationen selbst aufkommen soll“, so May. Bezogen auf Schönheitsoperationen und deren gesundheitliche Risiken schreibt Wiesing:334 „Es stellt sich die Frage, wer bei privat finanzierten Operationen für die Behandlung der unerwünschten Wirkungen aufkommen soll. Sollen mögliche – durchaus erhebliche – Folgekosten auch privat gezahlt werden, z. B. durch eine zuvor abzuschließende zusätzliche Versicherung? Da es sich bei diesen Operationen um eine freie Wahl handelt, liegt es nahe, auch die Folgekosten denjenigen aufzubürden, die sich dafür entschieden haben. Theoretische Überlegungen zur Gerechtigkeit unterstützen eine solche Einschätzung, praktisch lässt sie sich hingegen kaum durchführen – eine Erfahrung, die man auch in anderen Bereichen des Gesundheitssystems mit der Selbstverantwortung gemacht hat. Zum einen ist auch hier die Kausalkette nicht immer eindeutig nachzuweisen: Wenn beispielsweise ein Kunde aufgrund einer Erkrankung (z. B. Diabetes) ein erhöhtes Risiko für Wundheilungsstörungen hat, muss er dann auch dafür haften? Zum anderen stellt sich die Frage der Gleichbehandlung: Schließlich finanzieren die gesetzlichen Kassen auch die krankheitsbedingten Folgekosten durch Rauchen und Risikosportarten. Warum sollte gerade die kosmetische Chirurgie hier ausgeschlossen werden?“ „So überzeugend eine eigenverantwortliche Beteiligung an den Folgekosten auch theoretisch einleuchtet, die praktischen Schwierigkeiten überwiegen“, meint Wiesing abschließend.335

332 Jacobs u. a., Deutsches Ärzteblatt 2003, A484 (A488). Weiterhin schreiben sie: „Ob Piercingkunden für Gesundheitsschäden und ihre Folgen finanziell in Regress genommen werden sollten, wie von Politikern immer wieder thematisiert, bleibt sehr umstritten.“ 333 May, Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung?, in: Kettner, Wunscherfüllende Medizin, S. 245 (Hervorhebung aus dem Originaltext).; dort auch die folgenden Zitate. 334 Wiesing, ZfmE 2006, 139 (150). 335 Wiesing, ZfmE 2006, 139 (150).

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

II. Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V Nach der zum 1. April 2007 eingeführten Kostenbeteiligung gemäß § 52 Abs. 2 SGB V trägt der Versicherte, der sich einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation unterzieht oder sich tätowieren oder piercen lässt, das damit gesetzte Gesundheitsrisiko zumindest teilweise in Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V.336 Durch diesen ursachenbezogenen Leistungsausschluss werden der krankenversicherungsrechtlich vorgesehene Leistungsumfang bzw. die Fremdverantwortung der Krankenkassen eingeschränkt und die genannten Gesundheitsrisiken der sich aus dem verfassungsrechtlichen Menschenbild ergebenden, natürlichen Verantwortung des Einzelnen überlassen. 1. Verstoß gegen das Solidarprinzip? „Mit dieser Neuregelung wird innerhalb der solidarischen Krankenversicherung ein Paradigmenwechsel eingeläutet“, schreibt die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN337 und sieht „das hiermit eingeführte Selbstverschuldensprinzip“ als „symbolisch für einen ersten Schritt aus dem bisher solidarisch organisierten Krankenversicherungssystem“ an. „Die geplante Ursachenforschung zur Ergründung der Schuldfrage ist ein eklatanter Verstoß gegen das Solidarprinzip der GKV“, formuliert die Fraktion DIE LINKE.338 Auch in der Rechtswissenschaft wird die Neuregelung als Verstoß gegen das Solidarprinzip und Abkehr vom Finalprinzip kritisiert.339 Der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V bzw. die Übernahme von Eigenverantwortung des Versicherten für bestimmte Risiken, beschreite den Weg in die Entsolidarisierung und bedeute die Verabschiedung der Solidarhaftung im

336 Zur Eigenverantwortung in diesem Sinne siehe im 2. Teil, Kapitel 2, B. § 2 Abs. 1 SGB V verwendet den Begriff der Eigenverantwortung in Abgrenzung zur Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkassen und somit in seiner originären, dem verfassungsrechtlichen Menschenbild geschuldeten Bedeutung. 337 Vgl. die Begründung des Änderungsantrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Vorschrift zu streichen, in BT-Drs. 16/4247, S. 20. 338 So die Begründung des Änderungsantrags der Fraktion DIE LINKE., die Vorschrift zu streichen, in BT-Drs. 16/4247, S. 12. 339 Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (716). Eberbach, MedR 2008, 325 (333); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21. Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht e. V. empfiehlt eine Änderung der Norm und meint „der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V, nämlich die Übernahme von Eigenverantwortung durch den Versicherten, sollte den Gesetzgeber nicht dazu veranlassen, das Solidaritätsprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung weiter einzuschränken“; siehe die Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180 f.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Krankheitsfall, meint beispielsweise Wienke.340 Auch Prehn stellt die Frage, ob mit der Neuregelung „bereits ein Systemwechsel von der Solidargemeinschaft hin zu einer von Eigenverantwortung getragenen Selbstvorsorge eingeleitet worden ist“.341 Wesentliche Befürchtung bei Einführung des § 52 Abs. 2 SGB V war die Ausweitung der Leistungsbeschränkung auf andere Sachverhalte des gesundheitsgefährdenden Handelns in der Lebensführung des Versicherten.342 Die Regelung sei zwar „bei isolierter Betrachtung durchaus nachvollziehbar“, so Kruse; es stelle sich jedoch die Frage, „ob hier nicht bereits in einer zu verallgemeinernden Weise auf gesundheitsschädliche Lebensführung reagiert“ werde, und warum „dann andere Verhaltensweisen wie etwa Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, extrem gesundheitsgefährdende Ernährungsweise“ nicht einer Leistungsbeschränkung unterliegen.343 Wienke erwartete ein Aufflammen der Diskussion um Risikosportarten, ungesunden Lebenswandel usw., sodass „das Thema für Raucher, Diabetiker, Übergewichtige, Organtransplantierte, Extremsportler, Sportwagenfahrer, im sexuellen Verkehr Leichtsinnige und auch für HIV-Positive wieder relevant“ werde.344 Angesichts der in der ursprünglichen Fassung des § 52 Abs. 2 SGB V lediglich beispielhaften Aufzählung medizinisch nicht indizierter Maßnahmen sah die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die „Gefahr, dass die Regelung beliebig auf andere Gruppen und Behandlungen ausgeweitet wird“.345 Der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V in ihrer ursprünglichen Fassung unterfiel aber keineswegs jedes risikoerhöhende Verhalten. Der Hinweis auf die medizinisch nicht indizierte Maßnahme und die hierzu aufgezählten Beispiele hatten einen „prägenden Charakter für die Auslegung“.346 Der Gesetzeswortlaut war „über eine am Zweck und an der 340

Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 176 f. Ähnlich formuliert Eberbach, MedR 2008, 325 (333). 341 Prehn, NZS 2010, 260 (263); sie lässt diese Frage im Ergebnis aber offen. 342 So z. B. Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (714: „Mit § 52 Abs. 2 SGB V wird nun individuell beherrschbares Verhalten, das ein Gefährdungspotenzial für die Gesundheit beinhaltet, zum Ausgangspunkt für Sanktionen in Form von Kostenbeteiligung und Leistungsversagung.“); Eberbach, MedR 2008, 325 (333); ders., Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21. 343 Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 12. Auch Eberbach, MedR 2008, 325 (333 f.) wirft insofern die Frage nach belastbaren Differenzierungskriterien auf, die dem Maßstab des Gleichheitsgebots genügen. Siehe hierzu die Ausführungen im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 52 Abs. 2 SGB V im nachfolgenden Abschnitt D. II. 344 Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 176 f. (Zitat auf S. 177). 345 So die Begründung des Änderungsantrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 16/4247, S. 20; ähnlich auch die Begründung des Änderungsantrags der Fraktion DIE LINKE., BT-Drs. 16/4247, S. 12 f. 346 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28n; Prehn, NZS 2010, 260 (264); Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 145.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Bedeutung der Vorschrift zu messenden Auslegung nur so zu verstehen, dass es sich um Körpereingriffe handeln musste, deren Handlungsintention eindeutig nicht medizinischen Heileingriffen dienten, sondern der bewussten Steigerung des Selbstwertgefühls oder soziokulturellen Wertvorstellungen“, formuliert Prehn.347 Eine nahezu gleichlautende Beschreibung der gemeinsamen Typologie der Maßnahmen, die § 52 Abs. 2 SGB V in seiner ursprünglichen Fassung unterfielen, findet sich bei Wolf und Noftz.348 Derartige Maßnahmen gehören dem Bereich der Wunschmedizin bzw. des Enhancements an. Diese Maßnahmen haben nach dem hier entwickelten Verständnis349 gemeinsam, dass sie aus medizinischer Sicht nicht überwiegend medizinischen Heilzwecken dienen, sondern in erster Linie der Absicht des Patienten folgen, den eigenen Körper oder die eigenen Körperfunktionen zu verändern. Die in § 52 Abs. 2 SGB V aufgezählten Maßnahmen beschränken sich jedoch auf Eingriffe, die das äußere Erscheinungsbild betreffen, und sind insofern vom Bereich des Neuro-Enhancements, bei dem es um eine körperliche, geistige oder mentale Funktionenverbesserung geht, abzugrenzen. Eine Vergleichbarkeit im Sinne einer gemeinsamen Typologie der Maßnahmen, die § 52 Abs. 2 SGB V in seiner ursprünglichen Fassung unterfielen, bestand aber beispielsweise mit dem Ohrlochstechen350 oder anderen Körpermodifikationen351. Nicht dieser Typologie entsprachen hingegen gesundheitliche Risiken wie übermäßiges Rauchen oder Essen, Extremsportarten usw., die sich aus der Lebensführung des Versicherten ergeben. Der Anwendungsbereich des § 52 Abs. 2 SGB V erfasste somit auch in seiner ursprünglichen Fassung nicht andersartige, mit der Lebensführung des Versicherten verbundene Gesundheitsgefahren. Aufgrund der Konzeption als Ausnahmevorschrift kam und kommt auch eine analoge Anwendung des § 52 Abs. 2 SGB V bei generell riskantem Verhalten nicht in Betracht.352 Dennoch hat der Gesetzgeber, um klarzustellen, dass eine Leistungsbeschränkung nur bei Erkrankungsfolgen einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder einem 347

Prehn, NZS 2010, 260 (265, Fn. 97). Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 145; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28o. 349 Siehe zu dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Enhancement und Wunschmedizin die im vorherigen Kapitel 1 dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellten Definitionen. Enhancement umfasst danach im Unterschied zur Wunschmedizin auch solche Maßnahmen, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden. 350 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 146; Damm, GesR 2010, 641 (649). Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 h, versteht das Ohrlochdurchstechen sogar selbst als (Ohr-)Piercing. Nach Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1329 (B1329), wird das Durchstechen der Ohrläppchen im Allgemeinen aber nicht als Piercing bezeichnet. 351 Siehe hierzu Erläuterungen im vorherigen Kapitel 1, A. II. 352 Prehn, NZS 2010, 260 (264 ff.) meint, eine so weitgehende Interpretation habe der Gesetzgeber gemäß der Gesetzesbegründung nicht gewollt, sodass es für eine analoge Anwendung an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. So auch Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 175, der keine planwidrige oder legislativ unvermeidbare Regelungslücke anerkennt. Siehe auch in diesem Kapitel zu Beginn des Abschnitts A. 348

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Piercing erfolgt, die Wörter Maßnahme wie zum Beispiel eine gestrichen.353 Der Anwendungsbereich des § 52 Abs. 2 SGB V ist somit auf wenige bestimmte Risiken eingeschränkt.354 Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob und wenn ja, mit welcher Intensität die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V gegen das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip verstößt, zu untersuchen. Als ursachenbezogene Leistungsbeschränkung durchbricht § 52 Abs. 2 SGB V das Finalprinzip,355 nach dem die krankenversicherungsrechtlichen Leistungen grundsätzlich unabhängig von der Krankheitsursache zu gewähren und nach der im Einzelfall bestehenden Bedarfslage des erkrankten Versicherten zu bemessen sind. Begründet ist das Finalprinzip im Solidarprinzip als das die Sozialversicherung bestimmende soziale Wesenselement. Das Solidarprinzip356 verlangt, dass die bei den gesetzlich Krankenversicherten bestehenden ungleichen Risiken nach sozialen Gesichtspunkten ausgeglichen werden, sich die Krankenversicherungsbeiträge somit grundsätzlich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht an der Erkrankungswahrscheinlichkeit des Einzelnen orientieren. Kennzeichnend für das Solidarprinzip ist damit der Verzicht auf eine Risikodifferenzierung bei der Beitragsbemessung und der darin mitschwingende grundsätzliche Respekt vor der Lebensführung des Versicherten. Diese Vorgaben stehen aber nicht zwingend jeglicher Berücksichtigung des individuellen Risikos des Versicherten entgegen. Für den Fall solidarwidrigen Verhaltens bedingt das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip sogar den Ausschluss der Folgen dieses Verhaltens des Versicherten im Zuge seiner Eigenverantwortung nach § 1 Satz 2 SGB V.357 Damit stellt sich die Frage, ob § 52 Abs. 2 SGB V Fälle solidarwidrigen Verhaltens regelt und daher dessen Folgen aus der rechtlichen Verantwortung des Krankenversicherungsträgers herausnimmt und

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Siehe die Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 16/7439, S. 96. Die Änderung erfolgte zum 1. Juli 2008 – gut ein Jahr nach Inkrafttreten des § 52 Abs. 2 SGB V – durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) vom 28. 5. 2008, BGBl. I S. 874. Nach Prehn, NZS 2010, 260 (265, Fn. 97) sei „davon auszugehen, dass sich der Gesetzgeber von der Vorstellung hat leiten lassen, dass die Streichung der beispielhaften Aufzählung notwendig sei, um andere Risikobereiche wie übermäßiges Rauchen, Extremsportarten etc. auszuschließen“. 354 Siehe Ausführungen in diesem Kapitel, A. II. 355 Siehe Ausführungen hierzu im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 2 f). Zu der von Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 49 f., und Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 129, 132, vertretenen Ansicht, § 52 SGB V schränke als reine Regressvorschrift das Finalprinzip nicht ein, siehe Fn. 442 im 2. Teil. 356 Siehe hierzu und zum Folgenden im 1. Teil, Kapitel 4, Abschnitte A. II., B. und C. 357 Siehe hierzu die Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, A. Gegenstand des § 1 Satz 2 SGB V ist die trotz bestehender Fremdverantwortung der Krankenkasse in eingeschränkter Form fortbestehende natürliche Verantwortung des Versicherten. Aufgrund der dem Solidarprinzip innewohnenden Gegenseitigkeit von Solidarität hat der Versicherte als Verantwortungsträger gegenüber der Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens zu beachten. Diese modifizierte Form der Eigenverantwortung nennt der Gesetzgeber Mitverantwortlichkeit.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

der insoweit wieder voll auflebenden Eigenverantwortung des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V überlässt. 2. Eigenverantwortung im Sinne des § 1 Satz 2 SGB V ? Unter der Überschrift Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden qualifiziert § 52 SGB V in seinem Absatz 1 ein bestimmtes Versichertenverhalten als solidarwidrig.358 Absatz 2 sehe „einen besonderen Anwendungsfall der Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden“ vor und stehe „daher in direktem Zusammenhang mit der – systematisch vorgehenden – allgemeinen Regelung des § 52 Abs. 1 SGB V“, meint Reyels.359 „Zumindest nach dem Wortlaut der Norm“ sei „der Anwendungsbereich einer Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden durch den neuen Abs. 2 des § 52 SGB V erheblich erweitert worden“, formuliert Wolf.360 „Angesichts der amtlichen Überschrift des § 52 SGB V“ führt er weiter aus, könne man jedoch „hinterfragen, ob die Operation überhaupt ein Selbstverschulden des Versicherten ist“.361 „Vollkommen passgenau fügt sich § 52 Abs. 2 SGB V also nicht ein“, schlussfolgert Wolf und meint, „der Grund für seine Annexstellung zu Abs. 1 dürfte in systematischer Hinsicht eher in den identischen Rechtsfolgen zu suchen sein“.362 Die Funktion des Absatzes 2 sei aber mit derjenigen des Absatzes 1 übereinstimmend, da bestimmte Verhaltensweisen als solidarschädlich gekennzeichnet würden.363 Nach § 52 Abs. 1 SGB V kann die Krankenkasse diejenigen Versicherten an den Kosten der krankenversicherungsrechtlichen Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer der Erkrankung versagen oder zurückfordern, wenn sich der Versicherte die Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen hat. Demgegenüber ist die Krankenkasse im Fall des § 52 Abs. 2 SGB V verpflichtet, den Versicherten an den Behandlungskosten zu beteiligen und das 358

Siehe Ausführungen hierzu im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, § 52 Rn. 20 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 360 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 143. 361 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 143 f. (Hervorhebung aus dem Originaltext). Wolf begründet seine Zweifel, ob ein Selbstverschulden des Versicherten besteht, damit, dass faktisch der Arzt den Eingriff durchführe, sodass nur ihn der Vorwurf mangelhafter Ausführung treffen könnte. Dabei verkennt Wolf, dass § 52 Abs. 2 SGB V seinen Anwendungsbereich nicht auf diese Fälle eingrenzt, sondern vielmehr auf die grundsätzlich mit derartigen Maßnahmen einhergehenden Folgeerkrankungen abstellt. Eine mangelhafte Ausführung dieser Maßnahmen wirft vielmehr die zivilrechtliche Haftungsfrage auf, ob und in welchem Umfang der Versicherte von der mit der Maßnahme beauftragten Person Schadensersatz verlangen kann. Davon unberührt bleibt aber grundsätzlich das Sozialversicherungsverhältnis bzw. die Rechtsbeziehung zwischen dem geschädigten Versicherten und seiner Krankenkasse. 362 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 143 f. 363 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 144. 359

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Krankengeld zumindest teilweise zu versagen oder zurückzufordern. Wienke vermutet, der Gesetzgeber habe in Absatz 2 eine obligate Rechtsfolgenregelung vorgesehen, um dem Maßnahmenkatalog mehr Durchsetzungskraft zu verleihen.364 Nach überwiegender Ansicht gilt dieser Unterschied aber als verfehlt.365 Mit Blick auf die allgemeine Handlungsfreiheit schreibt Eberbach366 hierzu, „im Ergebnis wird damit jenem, der in zulässiger Weise mit seinem Körper verfährt, jedoch das Pech hat, dass hieraus eine Erkrankung folgt, eine härtere Sanktion auferlegt als dem, der wissentlich sich selbst an der Gesundheit schädigt“. Eberbach sieht hierin die Gefahr, dass „zulässiges, unter dem Schutz des Grundgesetzes stehendes Verhalten durch die Hintertür der Kostenfolgen in Fehlverhalten umgedeutet“ werde. „Rechtmäßiges und vorsätzlich gesundheitswidriges Verhalten“ würden „in den gleichen Sanktionstopf geworfen“, warnt Eberbach. Die in Absatz 2 vorgesehene Verpflichtung der Krankenkassen stehe „in deutlichem Wertungswiderspruch zu den jedenfalls im Unwertgehalt intensiveren Fällen der bloßen Kann-Regelung in Abs. 1“, meint Lang.367 Der Unterschied „widerspricht der Systematik der Norm“, so Prehn, „da auf diese Weise eine nicht begründbare Diskrepanz zwischen dem objektiven und subjektiven Handlungsunwert von Abs. 1 und der Handlungsintention in Abs. 1 hervorgerufen wird“.368 Nach Prehn rechtfertige der in der Gesetzesbegründung angegebene Grund, mehr Eigenverantwortung einzufordern, nicht die Anwendung unterschiedlicher Entscheidungsmaßstäbe. Auch der Umstand, dass mit der gebundenen Entscheidung, angesichts der bisherigen praktischen Bedeutungslosigkeit des § 52 Abs. 1 SGB V, die Versichertengemeinschaft besser geschützt ist, genüge nicht, um den Wertungswiderspruch aufzulösen. Es leuchte nicht ein, so auch Heberlein, „dass und warum die Fallgruppen unterschiedlich behandelt werden sollen“; der Verweis der Gesetzesbegründung auf die Eigenverantwortung des Versicherten trage „die Anwendung unterschiedlicher Entscheidungsmaßstäbe nicht“.369 Auf Noftz wirkt der konstruktive Unterschied gegenüber Absatz 1 irritierend, da der objektive und subjektive Handlungsunwert in Fällen des Absatzes 1 generell höher sei.370 Während bei § 52 Abs. 1 SGB V das Handeln der Versicherten „konkret 364 Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 170. 365 Prehn, NZS 2010, 260 (265 f.); Eberbach, MedR 2010, 756 (765); Neumann, NJOZ 2008, 4494 (4495); Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 8; Waltermann, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann (Hrsg.), KommSozR, § 52 Rn. 5. 366 Hierzu und zum Folgenden Eberbach, MedR 2010, 756 (765) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 367 Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 8. 368 Hierzu und zum Folgenden siehe Prehn, NZS 2010, 260 (265 f.), Zitat auf S. 266. 369 Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 22. 370 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 32a. Bereits zuvor (Rn. 9a) schreibt Noftz: „Das systematische Verhältnis von § 52 Abs. 1 und Abs. 2 ist nicht eindeutig.“

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

und individuell zielgerichtet (intentional), evident-intensiv“ in die Gesundheit eingreife, sei bei Absatz 2 das Versichertenverhalten, wie bei der Lebensführung im Allgemeinen, „lediglich risikobehaftet“.371 Es handele sich dabei „um eine eigenständige, abgeschlossene Sonderregelung“. Die für ihr „Gesamtverständnis bedeutsame Gesamtschau der drei Tatbestandsalternativen“ ließe „aber den Schluss zu, dass die Norm von einem individuellen Verschulden des Versicherten ausgeht“, meint Noftz.372 Das Verschulden beziehe sich jedoch nicht auf die Krankheit als Handlungserfolg, sondern nur auf das mit den genannten Maßnahmen verbundene gesundheitsgefährdende Verhalten im Sinne eines Gefährdungsverschuldens. Dies gelte insbesondere in Anbetracht der Überschrift des § 52 SGB V und der systematischen Nähe zu Absatz 1 sowie der Intention des Gesetzgebers. Außerdem setzten Obliegenheitsverletzungen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zwangsläufig ein individuelles Verschulden voraus, so Noftz.373 Dass die Verhaltensanforderungen des § 52 Abs. 2 SGB V Obliegenheiten seien, meint auch Wolf, „denn die verpönten Verhaltensweisen müssen nicht zwangsläufig eine Krankheit und damit einen Versicherungsfall zur Folge haben“.374 Dem ist zu widersprechen. Nach der versicherungstechnischen Dogmatik der Einflussnahmen des Versicherten auf den Versicherungsfall375 handelt es sich bei der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V nicht um eine Obliegenheit.376 Eine Obliegenheit sanktioniert Verhaltensweisen des Versicherten, die lediglich das Risiko eines Eintritts des Versicherungsfalls hervorrufen. Obliegenheiten beinhalten Verhaltenserwartungen, die zwar nicht eingefordert werden können, deren Missachtung aber regelmäßig vorwerfbar ist; sie dienen insofern der Verhaltenssteuerung und haben einen erzieherischen Beigeschmack.377 Hingegen nimmt der Risikoausschluss bzw. die Risikobegrenzung als sekundäre Risikobeschreibung ein an sich versichertes Ereignis ausdrücklich vom Versicherungsschutz aus. Werden – wie im Fall des § 52 Abs. 2 SGB V – Leistungen begrenzt, weil der Versicherungsfall auf eine bestimmte Weise verursacht wurde, wird nicht das Verhalten, eine der genannten Maßnahmen an sich vornehmen zu lassen, als vorwerfbar sanktioniert, sondern lediglich die 371

Siehe hierzu und zum folgenden Zitat Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 9a. 372 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28q; dort sind auch die folgenden Aussagen zu finden. 373 Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28q mit Verweis auf BSGE 84, 270 (274); 95, 176 (176). 374 Wolf, Das moralische Risiko der GKV, S. 146 f. 375 Siehe Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (595 ff.); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 347 ff., jeweils m. w. N. Danach sind Obliegenheiten abzugrenzen von der Risikobegrenzung bzw. dem Risikoausschluss als sekundäre Risikobeschreibung. Siehe hierzu auch Fn. 129, 289 im 2. Teil. 376 So auch die herrschende Ansicht zu § 52 Abs. 1 SGB V, siehe im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. und Fn. 361. 377 Siehe Hänlein, ZVersWiss 2002, 579 (597 f.); Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 347 ff., 363 ff.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Leistungen in diesem bestimmten Versicherungsfall beschränkt. Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V beschreibt bzw. begrenzt das versicherte Risiko der Krankheit durch negative Tatbestandsmerkmale und ist daher als sekundäre Risikobeschreibung einzuordnen. Zwar ist § 52 Abs. 2 SGB V unter die Überschrift Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden gefasst, dennoch setzt die Vorschrift kein Verschulden des Versicherten voraus. Dafür spricht zunächst der Wortlaut der Norm. Ein subjektiver Handlungsunwert müsste sich auf einen objektiven Handlungsunwert beziehen. Eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing an sich vornehmen zu lassen, ist für sich genommen nicht durch die Rechtsordnung missbilligt bzw. beinhaltet selbst keinen objektiven Handlungsunwert. Vielmehr handelt es sich um „sozial zunehmend akzeptierte Verhaltensweisen“378, die im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Handlungsfreiheit geschützt sind.379 Diese Freiheit als Korrelat zur Eigenverantwortung ist im Zuge eines Sozialversicherungsverhältnisses insofern eingeschränkt, als dass der Versicherte den Maßstab des solidarverträglichen Verhaltens beachten muss.380 Handlungsunwert im Rahmen eines Sozialversicherungsverhältnisses ist somit die Solidarwidrigkeit des Versichertenhandelns, die objektiv und subjektiv an eine zumindest mögliche Schädigung der Solidargemeinschaft anknüpft. Ein sozialversicherungsrechtlicher Handlungsunwert bzw. die Einordnung eines Versichertenverhaltens als solidarwidrig setzt regelmäßig ein final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtetes Handeln des Versicherten bzw. einen entsprechenden Schädigungswillen voraus.381 In Bezug auf das Erkrankungsrisiko gilt gemäß § 52 Abs. 1 SGB V auch eine vorsätzlich herbeigeführte Erkrankung als solidarwidrig verursacht. Hingegen besteht – wie gezeigt – bei einer lediglich grob fahrlässig herbeigeführten Erkrankung, bei der sich der Versicherte zwar der gesundheitsschädlichen Wirkung seiner Lebensführung bewusst war, er aber darauf vertraut hat, dass eine Erkrankung ihn nicht treffen wird, kein Anhaltspunkt für eine gemeinschaftsschädigende Willensrichtung. Die Schwelle zur Solidarwidrigkeit ist somit nicht allein deswegen überschritten, weil der Versicherte die Gefahr des Eintritts eines Versicherungsfalls erhöht, da bereits naturgemäß die Verwirklichung sozialversicherter Risiken zu einem gewissen Grad abhängig von dem selbstbestimmten 378 So formuliert Heberlein, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), BeckOK Sozialrecht, § 52 SGB V Rn. 16. 379 Siehe hierzu Ausführungen im vorherigen Kapitel 1 unter C. Auch Eberbach, MedR 2010, 756 (765) weist darauf hin, dass der Versicherte in Fällen des § 52 Abs. 2 SGB V „nur von seiner in Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Entfaltungsfreiheit Gebrauch“ macht und sieht daher in der Vorschrift „das Modell einer perfiden gesundheitlichen Disziplinierungsregelung“ mit der Gefahr, dass „zulässiges, unter dem Schutz des Grundgesetzes stehendes Verhalten durch die Hintertür der Kostenfolgen in Fehlverhalten umgedeutet“ werde (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 380 Siehe zusammenfassend hierzu im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 6. 381 Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlich im 2. Teil, Kapitel 1, C. II. 3. und 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 2. und dort insbesondere Abschnitt g).

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Verhalten des Versicherten ist. Insofern ist das von Noftz konstruierte Gefährdungsverschulden,382 das allein an den Umstand anknüpft, dass der Versicherte bewusst neue Risiken für seine Gesundheit setzt, im Rahmen des Sozialversicherungsrechts systemfremd.383 In Fällen des § 52 Abs. 2 SGB V zielt der Wille des Versicherten auf die Veränderung des eigenen Körpers. Dabei wird der Versicherte regelmäßig darauf vertrauen, dass der Eingriff im Sinne des begehrten Ergebnisses verläuft und im Nachgang keine Komplikationen und Folgeerkrankungen auftreten und er insofern keine krankenversicherungsrechtlichen Leistungen in Anspruch nehmen muss. Ein subjektives Element, das auf den Eintritt einer Erkrankung gerichtet ist, wird von § 52 Abs. 2 SGB V nicht vorausgesetzt. Es bestehen keine Anhaltspunkte für einen Schädigungswillen des Versicherten gegenüber der Solidargemeinschaft oder auch nur hinsichtlich des versicherten Gutes, seiner Gesundheit. Folglich regelt die Vorschrift keine Fälle solidarwidrigen Verhaltens. Diese Durchbrechung des Finalprinzips ist daher nicht der Eigenverantwortung des Versicherten nach § 1 Satz 2 SGB V bzw. seiner Verpflichtung zu solidarverträglichem Verhalten geschuldet. 3. Systemfremde Gesundheitsrisiken Der Rechtsgrund für die Ausweitung der Eigenverantwortung des Versicherten im Zuge der ursachenbezogenen Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB Vergibt sich aus der Besonderheit der in Bezug genommenen, sich verwirklichenden Gesundheitsrisiken. Darauf weist bereits die Gesetzesbegründung384 hin, die für die Ausweitung der Eigenverantwortung bzw. Eingrenzung der Kassenverantwortung ausschließlich die Eigenart der mit medizinisch nicht notwendigen Schönheitsoperationen, Piercings und Tätowierungen verbundenen Gesundheitsrisiken anführt. Diese mit den selbst veranlassten, medizinisch nicht indizierten Eingriffen in die körperliche Integrität verbundenen Gesundheitsgefahren seien außerordentliche Risiken, meinen beispielsweise auch Löwisch und Beck, die nicht zum normalen Krankheitsrisiko gehörten.385 382

Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28q. Der Rechtsgedanke der (zivilrechtlichen) Gefährdungshaftung, die gerade kein Verschulden des Haftenden voraussetzt, sondern bei der der Verpflichtete allein wegen der Verwirklichung der Gefahr haftet, folgt den Geboten der ausgleichenden Gerechtigkeit, dass derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft oder beherrscht und daraus einen wirtschaftlichen Nutzen zieht, für die damit verbundenen Schäden aufzukommen hat. Vgl. hierzu Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, § 54 Rn. 1; Looschelders, Schuldrecht BT, Rn. 1438 ff. Beispiel für eine solche Gefährdungshaftung ist diejenige des Kraftfahrzeughalters nach § 7 StVG. Dieser Rechtsgedanke kann aber nicht auf die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V übertragen werden, da sich die gesetzten Gefahren nur auf den Körper des betreffenden Versicherten beziehen und seine Verantwortung für eine Schädigung der Solidargemeinschaft – wie gezeigt – anderen Kriterien folgt. 384 BT-Drs. 16/3100, S. 108. 385 Löwisch/Beck, BB 2007, 1960 (1960 f.). Nach Löwisch und Beck müsse der Gedanken des § 52 Abs. 2 SGB V auf die arbeitsrechtliche Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers übertragen werden. Auch Eberbach, MedR 2008, 325 (334); ders., Möglichkeiten und recht383

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

267

Die im Zuge der Sozialversicherung abzudeckenden Risiken sind begründet durch die Wechselfälle des Lebens, denen wirtschaftlich und sozial schwache Bevölkerungsteile nicht gewachsen sind.386 Das bedeutet, dass die sozialversicherten Risiken an eine für Arbeiter oder Geringverdienende typische Notlage anknüpfen. Dabei handelt es sich zwar nicht um ein obligatorisches Wesensmerkmal der Sozialversicherung; deutlich wird aber, dass die Sozialversicherung nicht einem beliebigen Bedarf dient, sondern einem solchen, der dem Bild der sonstigen Risiken entspricht, die durch die klassischen Zweige der Sozialversicherung abgedeckt sind. Das Erkrankungsrisiko galt als eines der ersten sozialversicherungsrechtlich zu schützenden Lebenssachverhalte. Krankheiten sind oftmals abhängig von dem Verhalten des Betroffenen und viele Krankheitsursachen sind – teilweise auch bewusst – selbst gesetzt.387 Wie gezeigt ist ein solches Versichertenverhalten erst dann als solidarwidrig einzustufen und zu sanktionieren, wenn sich der Betroffene der schädigenden Wirkung seiner Handlung im Allgemeinen bewusst war und den Eintritt der Krankheit, mag er sie auch nicht gewünscht haben, zumindest billigend in Kauf genommen hat. Zumeist sind diese selbst gesetzten Risiken in der Lebensführung des Versicherten begründet, wie beispielsweise übermäßiges Essen, Rauchen, gefährliche Sportarten, Reisen in gesundheitsgefährdende Gebiete und vieles andere, wobei der Versicherte typischerweise ernstlich hofft und darauf vertraut, dass er nicht erkranken wird. Eine ähnliche Situation besteht bei den in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Gesundheitsrisiken. Der Versicherte setzt aus eigenen Motiven neue Risiken für seine Gesundheit. In diesen Fällen kommt jedoch ein wesentliches Element hinzu: Im Unterschied zu dem allgemeinen, mit der Lebensführung einhergehenden Erkrankungsrisiko verwirklichen sich in Fällen des § 52 Abs. 2 SGB V Risiken, die in erster Linie in der Absicht, den eigenen Körper bzw. das eigene Erscheinungsbild zu verändern, eingegangen wurden. Dem Versicherten kommt es gerade darauf an, dass sich der eigene Körper – das versicherte Gut – verändert, wenn auch eine daraus entstehende Erkrankung regelmäßig ungewollt ist. Operative Eingriffe bergen grundsätzlich eine Vielzahl von Risiken für die Gesundheit, die im eigenen Interesse sorgfältig mit den damit zu erreichenden Heilzwecken abgewägt werden sollten. Werden – wie hier – keine eigenen oder fremden Heilzwecke verfolgt, hat der den Eingriff vornehmende Arzt den Betreffenden besonders sorgfältig und umfassend über die Risiken des Eingriffs aufzuklären.388 Faktisch gewarnt wird der Betreffende zudem durch die teilweise recht hohen Kosten derartiger Operaliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 25, meint, wenn es der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zuzumuten ist, die gesundheitlich negativen Folgen selbstverantwortlich verwirklichter Wunscherfüllung einzelner Versicherter solidarisch mitzufinanzieren, dann könne es auch eine Überstrapazierung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers bedeuten. 386 Siehe hierzu und zum Folgenden im 1. Teil, Kapitel 2, B. V. 387 Siehe im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 2. b) und c). 388 Siehe hierzu im vorherigen Kapitel 1, D.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

tionen, die er selbst aufbringen muss.389 § 52 Abs. 2 SGB V grenzt diese Risiken von dem sozialversicherungsrechtlich abzudeckenden, allgemeinen Erkrankungsrisiko ab und qualifiziert sie damit als systemfremd. III. Fazit Die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V regelt keine Fälle solidarwidrigen Verhaltens und dient daher nicht der Ausgrenzung solidarwidrigen Verhaltens im Sinne der Eigenverantwortung bzw. Mitverantwortlichkeit nach § 1 Satz 2 SGB V. Der Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V besteht vielmehr in der Herausnahme der systemfremden Gesundheitsgefahren, die bestimmte Maßnahmen wunscherfüllender Medizin mit sich bringen. Die Vorschrift überlässt diese Gesundheitsrisiken zumindest teilweise der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Mit der zumindest teilweisen Herausnahme derartiger Risiken verfolgt der Gesetzgeber letztlich das legitime Ziel die gesetzliche Krankenversicherung entsprechend ihres Wesens als Sozialversicherung den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Zur Beschränkung des sozialversicherten Erkrankungsrisikos auf die Gefahren, die die allgemeine Lebensführung mit sich bringt, ist der Gesetzgeber auch mit Blick auf die Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflichten derjenigen Versicherten, die derartige wunscherfüllende Maßnahmen nicht an sich vornehmen lassen, angehalten. Auch wenn gute Gründe dafür sprächen, diese Folgekosten der eigenen Verschönerung nicht unbesehen der Versichertengemeinschaft aufzuerlegen, sei die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V keine normativ zwingende Antwort auf diese Problematik, meint Eberbach.390 In Anbetracht der mit Maßnahmen wunscherfüllender Medizin einhergehenden Gesundheitsrisiken sei es aber „unbestreitbar, dass die Frage der Belastung der sozialen Sicherungssysteme durch die Folgen medizinisch nicht indizierter Maßnahmen der Diskussion bedarf“.391 389 Siehe Erläuterungen am Ende des vorherigen Kapitels 1, D. (Fn. 279). Vor diesem Hintergrund ist die Kritik der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 16/4247, S. 20, dass mit der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V eine Benachteiligung sozial benachteiligter Gruppen verbunden ist, nur bedingt nachvollziehbar. Dies sei darauf zurückzuführen, dass Piercings und Tätowierungen vielfach der Habitus unterer sozialer Milieus sei und diese Betroffenen nicht über die finanziellen Ressourcen für eine qualitäts- und hygienegerechte Behandlung verfügten. Dem muss jedoch entgegengehalten werden, dass die infolge dieser Maßnahmen Erkrankten jedenfalls zunächst die Kosten der Maßnahme aufgebracht haben. Die Bedenken der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können sich somit nur gegen eine nachträglich eingreifende und für den Versicherten überraschende Kostenlast richten. Diese Aspekte sind auch Gegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung im nachfolgenden Abschnitt D. I. 3. c). 390 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21. 391 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 22.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Gegen eine solche Risikoherausnahme spricht grundsätzlich das sozialversicherungsrechtliche Solidarprinzip, das aber nicht zwingend eine Berücksichtigung individueller Risiken des Versicherten ausschließt.392 Eine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers an das Solidarprinzip besteht nicht; es handelt sich vielmehr um ein Rechtsprinzip des einfachen Sozialversicherungsrechts und dient als Leitlinie bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen.393 Verstößt der Gesetzgeber gegen die Vorgaben des Solidarprinzips als einer vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit hat er dies mit Blick auf den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG besonders zu begründen und zu rechtfertigen. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber frei, die rechtliche Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse zugunsten einer höheren Eigenverantwortung des Versicherten zurückzunehmen, sofern er verfassungsrechtlichen Maßstäben genügt.394 Inwieweit die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V dem Gleichheitssatz sowie weiteren verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, ist im nachfolgenden Abschnitt D untersucht.

C. Umsetzung des § 52 Abs. 2 SGB V I. Anwendung der Norm Mit Blick auf das Ziel, mehr Eigenverantwortung einzufordern, dürfe die Vorschrift „in quantitativer Hinsicht eher symbolische Wirkung haben“, meint Lang.395 Auch nach Höfling handele es sich um eine „rein symbolische Gesetzgebungsmaßnahme“.396 Eberbach weist angesichts der in der Literatur berichteten Zahlen darauf hin, dass § 52 Abs. 2 SGB V eine rein vorsorgliche, praktisch noch nicht relevante Regelung sei.397 Informationen zu Leistungsbeschränkungen bei Krankheiten infolge von Schönheitsoperationen lassen sich beispielsweise auf den Internetseiten großer Krankenkassen kaum finden.398 „Ob und ggf. mit welchem Nachdruck die Krankenkassen gegenwärtig ihre Ansprüche verfolgen, ist nicht bekannt“,

392 Siehe hierzu in diesem Abschnitt unter II. 1. Zwar ist die mit der Vorschrift verbundene Durchbrechung des Finalprinzips nicht durch die Solidarwidrigkeit des hier gegenständlichen Versichertenverhaltens bedingt ist, dennoch ist ein direkter Verstoß gegen das Solidarprinzip aufgrund der Systemwidrigkeit dieser Gesundheitsrisiken nicht anzunehmen. 393 Siehe hierzu und zum Folgenden die Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, C. 394 Siehe hierzu ausführlich im 2. Teil, Kapitel 2, C. IV. 3. 395 Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 1. 396 Höfling, ZEFQ 2009, 286 (291). 397 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 21. 398 Hierauf weist auch Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 173, hin und meint, die praktische Relevanz der Regelung tendiere gen Null.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

schreiben Teichner und Schröder 2009.399 Nach den bisherigen Erfahrungen habe die Einräumung von Ermessen dazu geführt, so Höfler, dass die Krankenkassen „allenfalls in den seltensten Einzelfällen von den Möglichkeiten des § 52 Gebrauch gemacht haben“.400 Mit dem in seinem Absatz 2 im Unterschied zum bisherigen § 52 SGB V den Krankenkassen entzogenen Entschließungsermessen, geht zumindest nach dem Gesetzestext eine höhere praktische Bedeutung der neuen Kostenbeteiligung einher. Teichner und Schröder meinen hierzu, „dass es eine Vielzahl nicht durchsetzbarer Forderungen geben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Verpflichtung der Kassen, ihre Ansprüche zumindest erst einmal geltend zu machen“.401 Im Gesetzgebungsverfahren warf die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN402 die „Frage der Praktikabilität dieser Neuregelung“ auf und schreibt: „Wie will man bspw. einen Zusammenhang zwischen einer Entzündung und einer Tätowierung herstellen, wenn diese zeitverzögert, möglicherweise erst nach Wochen oder Monaten auftritt. Hier wird fälschlicherweise eine Laborsituation angenommen, bei der externe Faktoren weitestgehend ausgeklammert werden.“ Diese Bedenken der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgreifend, sieht auch Wienke „ungeklärte Abrechnungs- und Praktikabilitätsprobleme“.403 Die Fraktion DIE LINKE.404 meint, „von der Intention her ist es zwar nachvollziehbar, dass die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten für die Folgekosten von nicht indizierten ästhetischen Operationen oder Maßnahmen nicht im vollen Umfang einstehen soll“; in der Praxis seien „allerdings insbesondere wegen des unbestimmten Rechtsbegriffs medizinisch nicht indizierte Maßnahme Umsetzungsprobleme vorprogrammiert“. Schwierigkeiten bestünden auch in der „gerichtsfesten Beurteilung einer selbst verschuldeten Komplikation“. Durch die Änderung des § 52 SGB V werde „das Arzt-Patienten-Verhältnis schwer belastet“ und „erheblich gestört“. Weiter schreibt

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Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (589, 590). Höfler, in: KassKomm, § 52 SGB V Rn. 25. Fast wortgleich: Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 170. Siehe zu den Erfahrungen mit § 52 Abs. 1 SGB V im 2. Teil, Kapitel 2, C. V. 1. 401 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (589). 402 BT-Drs. 16/4247, S. 20. Im Ergebnis fordert die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Vorschrift zu streichen. 403 Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 171. 404 Hierzu und zu den folgenden Zitaten siehe die Begründung des Änderungsantrags der Fraktion DIE LINKE., die Vorschrift zu streichen, in BT-Drs. 16/4247, S. 12 f. Die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V zu streichen, schlägt die Fraktion DIE LINKE. erneut als Änderungsantrag zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vor (siehe BT-Drs. 16/8525, S. 90) und führt hierzu unter anderem aus: „In der Praxis ist der Begriff der medizinisch nicht indizierten Maßnahme unbestimmt und weit auslegungsfähig. Umsetzungsprobleme sind damit vorprogrammiert gewesen.“ 400

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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die Fraktion DIE LINKE.:405 „Der Arzt wird auf diese Weise zum Gesundheitsspitzel, dem der Patient mit Misstrauen begegnet. Dies hat Auswirkungen auf die medizinische Behandlung, da der Arzt auf wahrheitsgemäße Angaben und ein vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Patienten angewiesen ist.“ Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V wirkt sich zunächst hinsichtlich der ärztlichen Aufklärungspflicht auf das Arzt-Patienten-Verhältnis aus. Wie im vorherigen Kapitel 1 unter D. erläutert, sind bei wunscherfüllenden medizinischen Maßnahmen besondere Anforderungen an die ärztliche Aufklärung zu stellen. Führt ein Arzt eine wunschmedizinische Schönheitsoperation durch, muss er seinen Patienten insbesondere auch über die möglichen wirtschaftlichen Folgen dieser Behandlung, wie z. B. die Höhe der Behandlungskosten und eventuelle Folgebehandlungskosten sowie die fehlende Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse aufklären.406 Teichner und Schröder vermuten insofern, dass sich viele Ärzte über die möglichen Folgen des § 52 Abs. 2 SGB V nicht im Klaren sind und demzufolge ihre Patienten derzeit nicht in der gebotenen Weise aufklären.407 Vor diesem Hintergrund befürchtet Eberbach, dass den Versicherten eine finanzielle Folgen- und Risikoabschätzung nicht möglich sei.408 Wesentliche Bedeutung für die praktische Umsetzung des § 52 Abs. 2 SGB V hat die Einführung der ärztlichen Mitteilungspflicht nach § 294a Abs. 2 SGB V, da erst durch sie eine Kenntnisnahme der Krankenkasse von Behandlungen der Erkrankungen infolge der genannten Maßnahmen gewährleistet ist. II. Ärztliche Mitteilungspflicht gemäß § 294a Abs. 2 SGB V Die zum 1. Juli 2008 in Kraft getretene Regelung des § 294a Abs. 2 SGB V lautet:409 „Liegen Anhaltspunkte für ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 52 405

BT-Drs. 16/4247, S. 13. Siehe hierzu Krüger/Helml, GesR 2011, 584 (585 ff.); Damm, GesR 2010, 641 (646); Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (588 ff.); Eberbach, MedR 2008, 325 (334); Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, S. 190 ff. sowie die Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180. 407 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (588, 590). Siehe auch Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (656). 408 Eberbach, MedR 2008, 325 (333). 409 § 294a Abs. 2 SGB V wurde durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) vom 28. 5. 2008, BGBl. I S. 874, 901 eingeführt. Zum Inkrafttreten siehe Art. 17 Abs. 1 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz. Der im Deutschen Bundestag und Bundesrat diskutierte Gesetzentwurf sah die Mitteilungspflicht nicht nur für Fälle des § 52 Abs. 2 SGB V vor, sondern auch für diejenigen des § 52 Abs. 1 SGB V; vgl. BT-Drs. 16/7439, S. 31. Die Änderung begründete der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages damit, dass es sich „um eine rechtstechnische Änderung und Klarstellung des Gewollten“ handele; siehe BT-Drs. 16/8525, S. 106. Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 17, meint, die Konstellationen nach § 52 Abs. 1 SGB V „dürften selbst 406

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Abs. 2 vor, sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen sowie die Krankenhäuser nach § 108 verpflichtet, den Krankenkassen die erforderlichen Daten mitzuteilen. Die Versicherten sind über den Grund der Meldung nach Satz 1 und die gemeldeten Daten zu informieren.“ In der Gesetzesbegründung410 heißt es hierzu: „Die Krankenkasse kann das Vorliegen der Voraussetzungen für eine derartige Leistungsbeschränkung nur überprüfen, wenn ihr hierfür maßgebliche Anhaltspunkte auch tatsächlich mitgeteilt werden. Die Neuregelung schafft nunmehr in Satz 1 eine normenklare datenschutzrechtliche Grundlage für die Übermittlung der notwendigen Daten durch die Leistungserbringer an die Krankenkassen. Da die Datenübermittlung dazu führen kann, dass die Krankenkasse den Versicherten an den Krankheitskosten beteiligt und Krankengeld ganz oder teilweise versagt oder zurückfordert, verlangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass der Versicherte über die an die Krankenkasse gemeldeten Daten informiert wird, damit er gegebenenfalls seine Rechte rechtzeitig verfolgen kann. Satz 2 sieht deshalb eine entsprechende Informationspflicht für den Leistungserbringer vor.“ § 294a Abs. 2 SGB V erweitert die in Absatz 1411 vorgesehene Verpflichtung und datenschutzrechtliche Befugnis bestimmter Leistungserbringer, in bestimmten Fällen, versichertenbezogene Angaben ohne die Einwilligung des erkrankten Versicherten seiner Krankenkasse mitzuteilen.412 Während dies bislang nur in Fällen, bei bei ärztlicher Mitteilung von Verdachtsmomenten schwierig durch die KK zu beweisen und ohnehin selten sein“. 410 BT-Drs. 16/7439, S. 98. 411 Der bisherige § 294a SGB V bzw. nunmehr § 294a Abs. 1 SGB V lautet: „Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Krankheit eine Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung oder deren Spätfolgen oder die Folge oder Spätfolge eines Arbeitsunfalls, eines sonstigen Unfalls, einer Körperverletzung, einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes oder eines Impfschadens im Sinne des Infektionsschutzgesetzes ist oder liegen Hinweise auf drittverursachte Gesundheitsschäden vor, sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen sowie die Krankenhäuser nach § 108 verpflichtet, die erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher, den Krankenkassen mitzuteilen. Für die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen, die nach § 116 des Zehnten Buches auf die Krankenkassen übergehen, übermitteln die Kassenärztlichen Vereinigungen den Krankenkassen die erforderlichen Angaben versichertenbezogen.“ 412 Zur Mitteilungspflicht und gleichzeitigen datenschutzrechtlichen Übermittlungsbefugnis siehe Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715); Michels, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 294a Rn. 1; Hess, in: KassKomm, § 294a SGB V Rn. 5; Dalichau, SGB V, § 294a II. 2, 4. Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 3, macht deutlich, dass davon die „Befugnis zum Offenbaren von Patientengeheimnissen nach der ärztlichen Schweigepflicht“ umfasst sei, sodass zur Mitteilung „daher weder eine datenschutzrechtliche Einwilligung noch eine Schweigepflichtentbindung erforderlich“ sei. Siehe auch BGHZ 185, 74 (81 f.); Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 12, 18 m. w. N. sowie Fischinger, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 500/SGB V, § 294a Rn. 1 m. w. N. Strittig ist die davon zu unterscheidende Frage, ob die Krankenkassen aufgrund des § 294a SGB V Einsicht in die Patientenunterlagen ohne Einwilligung des Patienten erhalten dürfen; zustimmend Schultze-Zeu/Riehn, VersR 2007, 467 (469). Ablehnend Smentkowski, VersR 2008, 465 (466 ff.), da ein so weitreichender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht gerechtfertigt und zudem

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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denen ein anderer Kostenträger für die Krankenbehandlung in Betracht kommen könnte, zu befolgen bzw. möglich war, sieht der neue Absatz 2 eine Mitteilungspflicht und entsprechende datenschutzrechtliche Befugnis einiger Leistungserbringer413 auch bei Verdacht auf Versicherungsfälle nach § 52 Abs. 2 SGB V vor. Die Regelungen in § 294a SGB V durchbrechen die ärztliche Schweigepflicht, die durch das ärztliche Berufsrecht sowie mittelbar durch die Strafbarkeit der Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgegeben ist.414 Sofern aber ein Arzt der Mitteilungspflicht gemäß § 294a Abs. 2 SGB V nicht nachkommt, werde „darin ein Verstoß gegen die vertragsärztlichen Pflichten zu erblicken sein, der empfindliche Sanktionen nach sich ziehen könnte“, meinen Teichner und Schröder und schreiben weiter, „auf Seiten des Arztes kommt deshalb für diesen Fall sogar eine Strafbarkeit wegen Betruges i. S. des § 263 StGB in Betracht“.415 Die Mitteilungspflicht besteht bei Anhaltspunkten für einen Fall des § 52 Abs. 2 SGB V. Das bedeutet, dass zwar noch keine Gewissheit über das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen dieser Kostenbeteiligung bestehen muss, eine nur entfernte Möglichkeit dessen aber auch nicht genügt.416 Die nach § 294a SGB V mitzuteilenden Daten gingen „erkennbar über die sonst zur Aufgabenerfüllung insb. im Rahmen der Abrechnung, der Wirtschaftlichkeitsprüfung, der Qualitätsprüfung auch nicht notwendig sei, da die Krankenkassen den Sachverhalt auch anders klären könnten. Ein Einsichtsrecht der Krankenkassen in die Patientenunterlagen aufgrund des § 294a SGB V verneinen auch Beck/Hausch, VersR 2008, 1321 (1323, 1325), und sehen bei Gewährung eines solchen Rechts die Gefahr der Strafbarkeit nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB wegen Verletzung des Patientengeheimnisses. 413 Die Mitteilungspflicht trifft die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen und zugelassene Krankenhäuser, nicht aber andere Leistungserbringer, wie z. B. Zahnärzte, Psychotherapeuten, Apotheken etc. 414 § 9 Abs. 1 Satz 1 MBO schreibt vor, dass Ärzte „über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Ärztin oder Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist – auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus – zu schweigen“ haben. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 MBO sind Ärzte „zur Offenbarung befugt, soweit sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist“. Nach den folgenden Sätzen 2 und 3 des § 9 Abs. 2 MBO bleiben zudem gesetzliche Aussage- und Auskunftspflichten unberührt; der Arzt hat aber den Patienten über gesetzliche Vorschriften, die seine Schweigepflicht einschränken, zu unterrichten. Zum Mustercharakter dieser Vorschrift und zum ärztlichen Berufsausübungsrecht siehe Erläuterungen in Fn. 256 in diesem Teil. Zu gesetzlichen Anzeige-, Mitteilungs- und Auskunftspflichten im Gesundheitswesen siehe bspw. Scholz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 350/MBO, § 9 Rn. 3; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 203 Rn. 29a. 415 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (589). 416 Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 7, 18, formuliert: „Vielmehr müssen konkrete Tatsachen vorliegen, die eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit im Sinne eines Anfangsverdachts (…) begründen“. Fischinger, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 500/SGB V, § 294a Rn. 3, schreibt: „Da Anhaltspunkte genügen und die Übermittlung gerade der weiteren Aufklärung dient, muss sich der Verdacht nicht zur Gewissheit verdichtet haben; es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit“. Schultze-Zeu/Riehn, VersR 2007, 467 (468), setzen den Begriff Anhaltspunkt mit den Begriffen „Vermutung, Verdacht, Bedenken, Zweifel, Mutmaßung, Argwohn, Misstrauen, Hinweis“ gleich.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

oder der Prüfung von Leistungsansprüchen erforderlichen versichertenbezogenen Daten hinaus“, meint Michels.417 Mit der Mitteilungspflicht korrespondiert die Aufzeichnungspflicht der Leistungserbringer nach § 294 SGB V und die Erhebungsund Speicherungsbefugnis der Krankenkassen gemäß § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V.418 Die in § 294a Abs. 2 SGB V vorgesehene ärztliche Mitteilungspflicht wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz heftig kritisiert. Sie bedeute „eine Aushöhlung der ärztlichen Schweigepflicht und würde das Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnis erheblich beschädigen“, meinte beispielsweise die Fraktion DIE LINKE.419 Massive Kritik wurde insbesondere seitens der Ärzteschaft420 laut. Die Neuregelung habe „weit reichende Folgen für Patienten und Ärzte“ und dürfe „erhebliche Auswirkungen auf das Arzt-Patient-Verhältnis“ haben, meinen auch Teichner und Schröder421 und befürchten einen „gravierenden Vertrauensverlust“. Die Fraktion der FDP stellte im Gesetzgebungsverfahren den Antrag, die Regelung des § 294a Abs. 2 SGB V so zu ändern, dass die Mitteilung an die Krankenkasse nur erfolgen darf, wenn der betroffene Versicherte eingewilligt hat.422 Verweigert er seine Einwilligung, dürfe der Vertragsarzt oder das Krankenhaus die Behandlung zu Lasten der Krankenkasse versagen und eine private Bezahlung des Patienten aufgrund des Behandlungsvertrages verlangen. Zur Begründung wird 417 Michels, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 294a Rn. 4. Auch Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 3, meint, dass „die herkömmlichen Abrechnungsdaten nach §§ 295, 301“ für die Mitteilungspflicht nach § 294a SGB V nicht ausreichten. „Auf die Angabe eines möglichen Verursachers“ könne aber regelmäßig verzichtet werden, so Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 18, sofern jedoch der Verdacht naheliege, „dass ein Kunstfehler begangen wurde,“ greife „neben der Mitteilungspflicht gem. Abs. 2 S. 1 auch die wegen drittverursachter Gesundheitsschäden nach Abs. 1 S. 1“. 418 Siehe auch Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 4; Fischinger, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 500/SGB V, § 294a Rn. 1; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 28 t. Die Erhebungs- und Speicherungsbefugnis der Krankenkassen in Fällen des § 294a Abs. 1 SGB V ergibt sich aus § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11. 419 BT-Drs. 16/8525, S. 90. 420 Die Bundesärztekammer forderte, den Petz-Paragrafen zu streichen, und der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. med. Andreas Köhler formulierte: „Ärzte sind keine Hilfspolizisten der Krankenkassen und Arztpaxen keine Abhörstationen der Kassengeschäftsstellen.“, zitiert nach Zykla-Menhorn, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1332 (B1332). 421 Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (586, 588 f.). Damm, GesR 2010, 641 (649), schreibt: „Der neue § 294a SGB V hat zur Folge, dass diese Norm nunmehr zulasten des rechtlich geschützten Patientengeheimnisses die straflose Informationsübermittlung ermöglicht. Die Auswirkungen auf die Praxis sind abzuwarten.“ Ähnliches formulieren Teichner und Schröder, die zudem stark bezweifeln, „ob die neuen Regelungen auf Seiten der behandelnden Ärzte in ihrer Bedeutung und gesamten denkbaren Dramatik angekommen sind“, vgl. Teichner/ Schröder, MedR 2009, 586 (590). 422 Siehe hierzu im Bericht des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages, BT-Drs. 16/8525, S. 90; dort auch die im Folgenden zitierte Begründung.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Folgendes ausgeführt: „Ärzte dürfen nicht ohne Einwilligung ihrer Patienten zu Informanten der Krankenkassen gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht misst dem Willen des Einzelnen große Bedeutung bei, die ärztliche Beurteilung seines Gesundheitszustandes vor fremden Einblicken zu bewahren. Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muss die Gewissheit haben, dass alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über die gesundheitliche Verfassung seines Patienten erfährt, geheim bleibt und ohne Einwilligung des Patienten nicht weitergegeben werden darf. Anderenfalls gerät das für den Erfolg einer ärztlichen Behandlung so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient in Gefahr. Eine Weiterleitung der Daten ohne Zustimmung des Patienten stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Arzt-Patienten-Verhältnis dar.“ Mit Blick „auf das Ziel, dass die Gemeinschaft der GKV-Versicherten vor ungerechtfertigter Leistungsinanspruchnahme geschützt werden soll,“ sei ein „solch gravierender Eingriff in das Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient“ auch nicht notwendig. Die vorgeschlagene Änderung stelle sicher, – heißt es in der Begründung des Änderungsantrags423 der Fraktion der FDP weiter – „dass die gesetzlichen Krankenkassen im Regelfall nicht ohne ihr Wissen für Leistungen in Anspruch genommen werden, die sich als Folge einer ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings ergeben“ und ermögliche „damit, ohne den Arzt zum Informanten der Krankenkasse zu machen, den notwendigen Schutz der Solidargemeinschaft vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme“. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten kommen Reimer und Merold sowie Bernzen zu dem Ergebnis, dass die ärztliche Mitteilungspflicht gemäß § 294a Abs. 2 SGB V als verfassungswidrig einzustufen sei.424 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ergibt sich aus dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.425 Das Persönlichkeitsrecht umfasse „unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten“; „das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die 423

BT-Drs. 16/8525, S. 90 f. Siehe Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715 f.); Bernzen, MedR 2008, 549 (551 ff.). Nach Beck/Hausch, VersR 2008, 1321 (1326), sei § 294a Abs. 2 SGB V „nicht nur im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht des Patienten bedenklich: Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist eine wesentliche Voraussetzung für den Heilerfolg.“ 425 Dies stellte das Bundesverfassungsgericht grundlegend im sogenannten Volkszählungsurteil vom 15. 12. 1983 fest, siehe BVerfGE 65, 1 (1, 41 ff.), und ist seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. aus den letzten Jahren z. B. BVerfGE 113, 29 (45 f.); 115, 166 (188); 120, 274 (311 f.). Siehe auch Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715); Bernzen, MedR 2008, 549 (551); Smentkowski, VersR 2008, 465 (467); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 173; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 37, 42 ff. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 114 ff., spricht insofern von der Integrität persönlicher Daten. 424

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“, so das Bundesverfassungsgericht.426 Dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unterfallen damit auch Patientendaten bzw. die „Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter“.427 Da der Arzt den Krankenkassen in Fällen des § 294a Abs. 2 SGB V auch gegen den Willen seines Patienten Angaben über dessen Gesundheitszustand mitzuteilen hat, greift die Vorschrift in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten ein. Der grundrechtliche Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Einschränkungen dieses Rechts sind „im überwiegenden Allgemeininteresse“ zulässig, das heißt, sie „müssen dem Schutze und der Förderung von Gemeinschaftsgütern dienen“.428 „Diese Beschränkungen bedürfen nach Art. 2 Abs. 1 GG (…) einer (verfassungsgemäßen) gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht“, schreibt das Bundesverfassungsgericht.429 Außerdem muss eine Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren, das heißt, sie muss für die mit ihr verfolgten Zwecke des Allgemeininteresses geeignet, erforderlich und angemessen sein.430 426 BVerfGE 65, 1 (43). Siehe bspw. auch BVerfGE 113, 29 (46); 115, 166 (188); 120, 274 (312). Zum Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung siehe auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 175 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 42 f.; Sodan, in: Sodan, GG, Art. 2 Rn. 6. 427 BVerfGE 89, 69 (82). Siehe auch BVerfG, MedR 2006, 586 (586 f.); Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715); Bernzen, MedR 2008, 549 (551); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 114, 118. 428 Erstes Zitat aus BVerfGE 65, 1 (1); zweites Zitat aus Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 2 Rn. 115. Vgl. hierzu auch BVerfG, MedR 2006, 586 (586 f.); Bernzen, MedR 2008, 549 (552); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 181. 429 BVerfGE 65, 1 (44). So auch BVerfGE 113, 29 (50); 115, 166 (190); 120, 274 (315 f.). In BVerfGE 120, 274 (316) heißt es, das Bestimmtheitsgebot „soll sicherstellen, dass der demokratisch legitimierte Parlamentsgesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über Grundrechtseingriffe und deren Reichweite selbst trifft, dass Regierung und Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können“. Zudem sicherten „Klarheit und Bestimmtheit der Norm, dass der Betroffene die Rechtslage erkennen und sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen kann“. Zum Bestimmtheitsgebot siehe auch im nachfolgenden Abschnitt D. I. 3. d). 430 BVerfGE 65, 1 (1, 44); BVerfG, MedR 2006, 586 (586 f.); Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 41, 181 f.; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 115. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der auch als Übermaßverbot bezeichnet wird, gehört zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG; siehe BVerfGE 19, 342 (348 f.); 23, 127 (133); 61, 126 (134); 69, 1 (35); 76, 1 (50); 92, 277 (326); Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 107; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 146; Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 60 ff.; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 65. Zum Streit um die Frage der Rechtsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes siehe zusammenfassend hierzu Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 108.

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Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 294a Abs. 2 SGB V wurden in der Literatur insbesondere hinsichtlich dessen Verhältnismäßigkeit geäußert. Reimer und Merold sehen diese Regelung als nicht geeignet an, die Leistungsbeschränkung des § 52 Abs. 2 SGB V zu verwirklichen. Die Krankenkassen könnten aufgrund der nach § 294a Abs. 2 SGB V übermittelten Daten eine Beteiligung des betroffenen Versicherten an den entstandenen Kosten nicht berechnen. Vielmehr bräuchten sie dafür die Abrechnungsdaten, die der behandelnde Vertragsarzt an die Kassenärztliche Vereinigung meldet, die diese aber aufgrund einer fehlenden Übermittlungsbefugnis entsprechend § 294a Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht an die Krankenkasse weiterleiten könnte, meinen Reimer und Merold.431 Darüber hinaus seien „auch Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i. e. S. zweifelhaft“, so Reimer und Merold432, da „mildere, gleich wirksame Mittel zur Informationsbeschaffung zur Verfügung stehen“ könnten. Zu denken sei „an eine Kombination aus Aufklärung über die Leistungstatbestände und Auskunftspflicht als Teil der Mitwirkungspflichten der Patientinnen und Patienten“, schreiben Reimer und Merold weiter, lassen aber offen, ob dies gleich wirksam wäre. „Denn die vom Gesetzgeber in § 294a Abs. 2 SGB V normierten Mitteilungspflichten“ seien „jedenfalls unangemessen“. „Sie erweisen sich wegen des geringen Ertrags, den sie für die angestrebte Durchsetzung der Leistungsbeschränkungen als Schritt hin zu mehr Eigenverantwortung aufweisen, als unverhältnismäßig i. e. S., selbst wenn der Gesetzgeber sie aufgrund seiner Einschätzungsprärogative für geeignet und die milderen Mittel für nicht gleichermaßen wirksam halten durfte“, formulieren Reimer und Merold433 und sehen damit die ärztliche Mitteilungspflicht nach § 294a Abs. 2 SGB V als unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung an. Zwar sei das von § 294a Abs. 2 SGB V verfolgte Ziel, „das aus dem Sozialstaatsprinzip und der allgemeinen Handlungsfreiheit des Einzelnen folgende Gebot“, „innerhalb der Errungenschaft einer staatlich verfassten Krankensolidarversicherung eine solidargerechte Beitragsverwendung zu gewährleisten derart, dass der Einzelne für Risiken, die er als Ausfluss seiner Handlungsfreiheit selbstbestimmt zu verwirklichen vermag, kehrseitig die (finanzielle) Verantwortung zu tragen hat“, durchaus ein mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung konfligierendes gleich- oder höherwertiges Rechtsgut im überwiegenden Allgemeininteresse, meint Bernzen.434 Bei dieser Verfahrensregelung handele es sich aber um eine „unzureichende Normierung“; „mit diesen Regelungen hat der Gesetzgeber eine Mitteilungspflicht der Behandlungsseite geschaffen, die auf der Tatbestands- und 431 Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715). Aufgrund des im Datenschutzrecht besonders wichtigen Gebots der Normenklarheit sei für die Übermittlung der Abrechnungsdaten eine explizite Regelung erforderlich, so Reimer und Merold. 432 Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (715), dort auch die folgenden Zitate. 433 Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (716). Zu dem vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eröffneten Prognosespielraum, bzw. zu dessen Einschätzungsprärogative bzgl. möglicher Gesetzeswirkungen siehe Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 64. 434 Bernzen, MedR 2008, 549 (552).

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Rechtsfolgenseite viel zu unbestimmt ist, um den Eingriff des Staates in das informationelle Selbstbestimmungsrecht in seinen Entstehungsvoraussetzungen und Auswirkungen überhaupt ausreichend klar erkennen zu lassen“, so Bernzen.435 Jedenfalls könne die in § 294a Abs. 2 SGB V getroffene Regelung „angesichts der unterbliebenen Anordnung einer vorangehenden Aufklärung der Versicherten (…) im Lichte des informationellen Selbstbestimmungsrechts nicht verhältnismäßig sein (…), ganz gleich, welches Gewicht man der erstrebten solidargerechten Beitragsverwendung zumessen will“.436 „Die Frage, wann der Arzt die Mitteilung zu machen hat“, sei in § 294a Abs. 2 SGB V nicht geregelt; auch finde sich „gar kein geregelter Gedanke“ dazu, „dass der Versicherte vorab überhaupt auf die neuen Bestimmungen hinzuweisen sei“, so Bernzen.437 Hingegen meint Schneider438 mit Blick auf § 294a Abs. 2 Satz 2 SGB V, der Leistungserbringer müsse den Versicherten vor der Meldung informieren und auf die Mitteilung verzichten, wenn der Versicherte die Behandlung selbst bezahlen will und eine Krankschreibung nicht in Betracht kommt. Die Vorschrift des § 294a Abs. 2 Satz 2 SGB V sieht zwar vor, dass die Versicherten über den Grund der Meldung und die gemeldeten Daten zu informieren sind. Nach dem Wortlaut der Norm besteht die Informationspflicht des Leistungserbringers gegenüber dem betroffenen Versicherten aber erst nach seiner Mitteilung an die Krankenkasse.439 Wenn angeordnet wäre, „dass der Versicherte vorab vom Arzt über die Mitteilungspflicht zu informieren ist“, „könnte er sich frei entscheiden, ob er zum Schutz seiner Daten mit dem aufgesuchten oder einem nicht an der privatärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt einen privat zu liquidierenden Behandlungsvertrag abschließt, aus dessen Vollzug nichts nach außen dringt, sowie möglichen Lohnausfall selbst zu tragen“, schreibt Bernzen.440 „Der Hinweis, dass der Arzt zivilrechtlich zu einer (wirtschaftlichen) Aufklärung verpflichtet sein könnte, scheint demgegenüber weder ausreichend noch hilfreich“, führt Bernzen weiter aus und begründet dies in erster Linie damit, dass „der Gesetzgeber das Wesentliche selbst regeln muss“. Die hier angesprochene ärztliche Aufklärungspflicht441 bezieht sich auf die möglichen wirtschaftlichen Folgen einer wunschmedizinischen Schönheitsoperation, ist dieser zeitlich vorgelagert und kann in der Tat den Eingriff in das

435 Bernzen, MedR 2008, 549 (552). Bernzen meint, es sei insbesondere unklar, was Anhaltspunkte seien, was zugezogen bedeute, bzw. ob hierfür auch mittelbare Zusammenhänge ausreichten und was die erforderlichen Daten seien. 436 Bernzen, MedR 2008, 549 (553). 437 Bernzen, MedR 2008, 549 (552). 438 Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 19 f. 439 Auch das Berufsrecht verpflichtet den Arzt, den Patienten über gesetzliche Vorschriften, die seine Schweigepflicht einschränken, zu unterrichten; vgl. § 9 Abs. 2 Satz 3 MBO (Erläuterungen hierzu in Fn. 414, 256 in diesem Teil). Dass diese Unterrichtung vor der Durchbrechung der Schweigepflicht zu erfolgen hat, sieht das Berufsrecht aber auch nicht vor. 440 Bernzen, MedR 2008, 549 (553), dort auch die folgenden Zitate. 441 Siehe hierzu Erläuterungen und Nachweise in diesem Abschnitt C. unter I. sowie im vorherigen Kapitel 1 unter D.

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informationelle Selbstbestimmungsrecht bei vertragsärztlicher Behandlung einer Erkrankung infolge der wunschmedizinischen Maßnahme nicht legitimieren. Darauf, dass die Vorschrift des § 294a Abs. 2 SGB V mit Blick auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung des Patienten einen unverhältnismäßigen Eingriff darstelle, wies – wie bereits dargestellt – auch die Fraktion der FDP hin und schlug daher vor, die Vorschrift so zu ändern, dass der Versicherte, falls er die Datenweitergabe nicht wünscht, die Behandlung selbst zahlt.442 Hierin läge eine mildere, aber gleich wirksame Möglichkeit sicherzustellen, „dass die gesetzlichen Krankenkassen im Regelfall nicht ohne ihr Wissen für Leistungen in Anspruch genommen werden, die sich als Folge einer ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings ergeben“. Unabhängig von dem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten sieht Bernzen die Verfahrensvorschrift des § 294a Abs. 2 SGB V wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot nach Art. 3 Abs. 1 GG als verfassungswidrig an. Dies ergebe sich zum einen daraus, „dass die Mitteilungspflicht des neuen § 294a Abs. 2 SGB V das Schicksal der gleichheitswidrig definierten und in Bezug genommenen Sachverhalte des § 52 Abs. 2 SGB V teilen muss“.443 Zum anderen finde sich „keine Antwort auf die Frage, warum etwa Anhaltspunkte für das leistungsausschließende Vorliegen einer vorsätzlich herbeigeführten Krankheit dann nicht auch mitteilungspflichtig sein sollen“, meint Bernzen.444 Der im parlamentarischen Verfahren diskutierte Gesetzentwurf sah die Mitteilungspflicht nach § 294a Abs. 2 SGB V zunächst auch für Fälle des § 52 Abs. 1 SGB V vor.445 Zwischen den Leistungsbeschränkungen nach § 52 Abs. 1 und Abs. 2 SGB V lassen sich jedoch wesentliche Unterschiede ausmachen, die eine ärztliche Mitteilungspflicht nur in Fällen des § 52 Abs. 2 SGB V sachlich begründen könnten. Während beispielsweise § 52 Abs. 1 SGB V Fälle solidarwidrigen Verhaltens des Versicherten sanktioniert, definiert Absatz 2 bestimmte Risiken als systemfremd ohne eine Verhaltensbewer-

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Siehe hierzu und zum Folgenden den von der Fraktion der FDP im Gesetzgebungsverfahren des Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingebrachten Änderungsantrag und dessen Begründung in BT-Drs. 16/8525, S. 90 f. 443 Bernzen, MedR 2008, 549 (551). „Wenn schon der Leistungsausschluss in den von § 52 Abs. 2 SGB V betroffenen Einzelfällen gleichheitswidrig ist, so ist es ebenso eine daran anknüpfende Mitteilungspflicht, die infolge der Verweisungstechnik für die sonst möglichen Formen der body modification gerade nicht gilt“, schreibt Bernzen an gleicher Stelle (Hervorhebung aus dem Originaltext). Zur Verfassungswidrigkeit des § 52 Abs. 2 SGB V wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot siehe im nachfolgenden Abschnitt D. II. 444 Bernzen, MedR 2008, 549 (551). 445 Vgl. BT-Drs. 16/7439, S. 31. Die Änderung begründete der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages damit, dass es sich „um eine rechtstechnische Änderung und Klarstellung des Gewollten“ handele; siehe BT-Drs. 16/8525, S. 106. Schneider, in: Krauskopf, Soziale KV, § 294a Rn. 17, meint, die Konstellationen nach § 52 Abs. 1 SGB V „dürften selbst bei ärztlicher Mitteilung von Verdachtsmomenten schwierig durch die KK zu beweisen und ohnehin selten sein“.

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tung vorzunehmen.446 Im Gegensatz zum Absatz 1 haben die Krankenkassen in Fällen des Absatzes 2 auch kein Entschließungsermessen und sind somit zur Leistungsbeschränkung verpflichtet. Im Vergleich zu § 52 Abs. 1 SGB V ist im Übrigen für die Beurteilung der Voraussetzungen des Absatzes 2 die ärztliche Einschätzung in erhöhtem Maße ausschlaggebend, nämlich nicht nur bei der Frage des Kausalzusammenhangs, sondern insbesondere bei der Frage, ob ausgehend von der zuvor im konkreten Einzelfall bestandenen Krankheitslage eine ästhetische Operation medizinisch indiziert war. Im Ergebnis verdichten sich die Anhaltspunkte, die eine Verfassungswidrigkeit des § 294a Abs. 2 SGB V nahelegen.447 Eine eingehende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der ärztlichen Mitteilungspflicht setzt jedoch eine detailliertere Untersuchung insbesondere auch von möglichen alternativen Verfahrensregelungen voraus, die im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen kann und mit Blick auf die nachfolgenden Untersuchungsergebnisse zur Verfassungsmäßigkeit der Bezugsvorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V auch nicht angezeigt ist.

D. Verfassungsmäßigkeit des § 52 Abs. 2 SGB V Die Vorschrift müsste vom Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz beschlossen worden und unter Beachtung der grundgesetzlichen Vorgaben für ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sein. § 52 Abs. 2 SGB V grenzt bestimmte Risiken, die bislang vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst waren, von dem sozialversicherungsrechtlich abzudeckenden, allgemeinen Erkrankungsrisiko als systemfremd ab und überlässt sie zumindest teilweise der Eigenverantwortung des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V.448 Für solche sozialversicherungsrechtlichen Regelungen weist Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dem Bund die Gesetzgebungskompetenz im Wege der konkurrierenden Gesetzgebung zu.449 Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V wurde mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG)450 zum 1. April 446

Siehe hierzu Ausführungen im vorherigen Abschnitt B. II. 3. Ungeprüft bleibt insbesondere die Frage, wie der mit der Vorschrift verbundene Eingriff in die ärztliche Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG zu bewerten ist. Reimer/ Merold, SGb 2008, 713 (715), meinen hierzu: „Es handelt sich um eine Berufsausübungsregelung, die in sich vor Art. 12 Abs. 1 GG Bestand haben dürfte.“ 448 Siehe hierzu Ausführungen in diesem Kapitel unter B. II. 3. Grundlegend zur Eigenverantwortung im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB V, die sich in Abgrenzung zur Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkassen ergibt, siehe im 2. Teil, Kapitel 2, B. 449 Zu den die Sozialversicherung kennzeichnenden, konstitutiven und indiziellen Strukturmerkmalen siehe im 1. Teil, Kapitel 2. 450 GKV-WSG vom 26. 3. 2007, BGBl. I S. 378, 386. Zum Inkrafttreten siehe Art. 46 I GKV-WSG. 447

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2007 in das SGB V eingefügt. Der Wortlaut der Norm geht zurück auf den Gesetzentwurf vom 24. 10. 2006,451 den die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in den Bundestag eingebracht haben. Der Bundestag hat das GKV-WSG mit Zustimmung des Bundesrates beschlossen.452 Vor dem Hintergrund eines sehr kurzfristig durch die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in die Beratungen des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages eingebrachten, umfangreichen Änderungspaketes bemängelt Sodan453 die Ordnungsmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens des GKV-WSG und sieht hierin einen Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt. Der hier gegenständliche § 52 Abs. 2 SGB V ist jedoch von diesem Einwand nicht betroffen, da dessen Entwurf im Laufe des Gesetzgebungsverfahren des GKV-WSG keine Änderung erfahren hat.454 Geändert wurde die Vorschrift im Zuge des Pflege-Weiterentwicklungs-gesetzes zum 1. Juli 2008455; mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist insoweit von einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren auszugehen. In materieller Hinsicht entspricht die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V der Verfassung, wenn sie nicht gegen Grundrechte verstößt und im Übrigen mit den in Art. 20 GG verankerten Grundsätzen vereinbar ist.

451 BT-Drs. 16/3100, S. 12. Ein gleich lautender Gesetzentwurf wurde von der Bundesregierung parallel dem Bundesrat gemäß Art. 76 Abs. 2 GG zugeleitet, siehe BT-Drs. 16/3950, S. 7. 452 Siehe BGBl. I S. 378. 453 Sodan, NJW 2007, 1313 (1313 f.); ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 17 ff. siehe dort auch Ausführungen und Nachweise zu dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Parlamentsvorbehalt bzw. der Wesentlichkeitstheorie. Die Wesentlichkeitstheorie verpflichte – schreibt Sodan – „nicht nur zu einem formalen Parlamentsbeschluss, sondern auch dazu, den Parlamentariern einen der Komplexität der jeweiligen Regelungsmaterie angemessenen und ausreichenden Zeitraum zu einer Meinungsbildung zur Verfügung zu stellen“. Dass es aufgrund der kurzfristigen, umfangreichen Änderungen des Gesetzentwurfs den Abgeordneten praktisch kaum möglich war, die Gesetzeswirkungen zu überblicken, rügte auch der Abgeordnete Friedrich Merz, vgl. Zitat seiner Erklärung bei Sodan, NJW 2007, 1313 (1314); ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 18. Auch Huster, in: 1. Deutscher Sozialgerichtstag, 49 (60), stellt fest, dass die Wirkungen zahlreicher sinnvoller Ansätze des GKV-WSG schon aufgrund des hektischen Gesetzgebungsverfahrens nicht ausdiskutiert werden konnten. 454 Siehe hierzu die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 31. 1. 2007, BT-Drs. 16/4200, S. 25, sowie den Beschluss des Bundesrates vom 2. 2. 2007, BR-Drs. 75/07, S. 11 f. Vgl. auch Reyels, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPKSGB V, § 52 Rn. 6. Die Änderungsanträge der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nach denen diese Neuregelung zu streichen war, bzw. auf sie verzichtet werden sollte, wurden im federführenden Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages abgelehnt, siehe BT-Drs. 16/4247, S. 11 f., 19 f. 455 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. 5. 2008, BGBl. I S. 874, 899. Siehe auch Erläuterung zu Beginn dieses Kapitels.

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I. Verstoß gegen Freiheitsrechte Die Kostenbeteiligung des gesetzlich Krankenversicherten bei Behandlungen von Krankheiten, die er sich durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen hat, sowie die Versagung oder Rückforderung des Krankengeldes in diesen Fällen könnte den Betroffenen ungerechtfertigt in seinen grundrechtlich geschützten Freiheitsbereichen beeinträchtigen. 1. Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG Neben der klassischen Ausprägung als Abwehrrecht456 gegen den Staat folgt aus Art. 2 Abs. 2 GG die objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen und zu fördern.457 Für den Gesetzgeber ergeben sich daraus jedoch kaum konkrete Vorgaben, vielmehr hat er bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht einen weiten Gestaltungsspielraum.458 „Der mit einer solchen Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch ist jedoch im Hinblick auf die den zuständigen staatlichen Stellen einzuräumende weite Gestaltungsfreiheit bei der Erfüllung der Schutzpflichten nur darauf gerichtet, daß die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechts trifft, die nicht völlig ungeeignet oder völlig unzulänglich sind“, entschied das Bundesverfassungsgericht.459 Fraglich ist 456

Zum Schutzbereich siehe bspw. BVerfGE 56, 54 (73); 79, 174 (201 f.); 88, 203 (251); Sodan, NZS 2003, 393 (394); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 17 ff., 55 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 141 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 25 ff. Zum abwehrrechtlichen Charakter des Grundrechts siehe z. B. Vießmann, VSSR 2010, 105 (131 ff.); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 18 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 42 ff. 457 Zur Schutzpflichtfunktion des Art. 2 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164 f.); 49, 89 (132, 141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 77, 170 (214); 77, 381 (402 f.); 79, 174 (201 f.); 85, 191 (212); 88, 203 (251); 90, 145 (195); 115, 118 (152); 115, 320 (346); Vießmann, VSSR 2010, 105 (134 ff.); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlichrechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 9; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 24 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 76 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 91; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 81. Die Verletzung dieser Schutzpflichten bedeutet gleichsam eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; vgl. BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (201 f.); Vießmann, VSSR 2010, 105 (134 f.). Zur dogmatischen Herleitung von Schutzpflichten der öffentlichen Gewalt aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG siehe Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 41 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 2 Rn. 190. 458 BVerfGE 56, 54 (80 ff.); 77, 170 (215, 229 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.); 96, 56 (64); Vießmann, VSSR 2010, 105 (135); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 89; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 92; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 78, 86 ff. 459 BVerfG, NJW 1997, 3085 (3085). Siehe auch BVerfGE 56, 54 (80 f.); 77, 170 (215); 77, 381 (405); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.); Vießmann, VSSR 2010, 105 (135); Hänlein, SGb 2003, 301 (304); Sodan, NZS 2003, 393 (394); ders., in: Sodan, GG, Art. 2 Rn. 24; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 94.

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daher, inwieweit sich aus Art. 2 Abs. 2 GG überhaupt subjektive Ansprüche auf medizinische Leistungen ergeben können. Nach Auffassung von Jarass und Kunig ist mit diesem Grundrecht „kein eigenständiger Anspruch auf eine medizinische Mindestversorgung“ verbunden.460 Brockmann und Ullrich461 meinen, in der Gesamtschau des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip lässt sich „eine staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines sogenannten medizinischen Existenzminimums herleiten“; „ob und in welchem Umfang dieses einen subjektiven Anspruch des Bürgers auf einen medizinischen Versorgungsumfang begründet“, sei aber fraglich. Umfasst sei jedenfalls in Fällen einer lebensbedrohlichen Situation ein „Mindestbestand an Hilfen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Krankenbehandlung“.462 In der Literatur wird weitgehend angenommen,463 dass sich in Fällen, in denen die nackte Existenz des Betroffenen gefährdet ist, aus der Schutzpflicht des Staates ein Anspruch auf Erhaltung der notwendigen Lebensbedingungen ergibt. Das Bundesverfassungsgericht erkannte einen solchen Leistungsanspruch jüngst bei einer lebensbedrohenden und regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit an.464 Die verfassungsrechtliche Grenze ist jedoch nur dann verletzt, wenn dem Betroffenen in einer lebensbedrohlichen Situation der Zugang zu Gesundheitsleistungen verwehrt ist und die notwendige medizinische Versorgung nicht in anderer Form, beispielsweise durch eigene Zahlung, sichergestellt werden kann.465 Der Staat ist insbesondere nicht zum Erhalt des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtet; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verlangt lediglich, dass überhaupt ein System zur Sicherstellung des medizinischen Existenzminimums bzw. eine auffangende Infra-

460 Zitat aus Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 93. Vgl. auch Kunig, in: v. Münch/ Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 60. 461 Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (345). 462 Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (346 f.). Zu Inhalt und Umfang dieses Anspruchs siehe grundlegend Neumann, NZS 2006, 393 (394 ff.). Auf die Schwierigkeit ein medizinisches Existenzminimum zu beschreiben und insbesondere die damit verbundenen Gleichheitsprobleme weist auch Hänlein, SGb 2003, 301 (305) hin. 463 Neumann, NZS 2006, 393 (393 f.); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 45, 94; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 224; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rn. 212, 231; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 96; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 60; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 9 f., 26. Zur Herleitung des Anspruchs aus Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip siehe auch BVerfGE 40, 121 (133); 82, 60 (85); Neumann, NZS 2006, 393 (393 f.); Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 I Rn. 121; Sommermann, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 120 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 124; Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 158. 464 BVerfGE 115, 25 (49). 465 Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (348). Neumann, NZS 2006, 393 (394) schreibt: „Das Recht auf Gewährung des medizinischen Existenzminimums entsteht, wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen“.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

struktur gesundheitlicher Mindestversorgung vorgehalten wird.466 Grundsätzlich besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die gesetzlichen Krankenkassen auf die Gewährung konkreter Gesundheitsleistungen oder einer optimalen medizinischen Versorgung.467 Der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung darf mittels Leistungsausschlüssen und Zuzahlungen begrenzt werden, sofern dies dem Betroffenen finanziell zugemutet werden kann.468 Das Bundesverfassungsgericht habe, so Vießmann, „wiederholt entschieden, dass bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen sind, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind“.469 Der sachliche Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sei aber auf jeden Fall berührt, „wenn sich ein Versicherter gegen die Versagung einer Leistung der Krankenbehandlung wendet“.470 Nach der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V wird dem betroffenen Versicherten jedoch nicht die eventuell lebensnotwendige Krankenbehandlung an sich vorbehalten. Gegenständlich ist hier lediglich die im Nachgang zu der erforderlichen Krankenbehandlung eingreifende Kostenbeteiligung, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Betroffenen erfolgt.471 Mit der Regelung ist somit eine Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen nicht verbunden, sodass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht beeinträchtigt ist.472 2. Eigentumsschutz gemäß Art. 14 Abs. 1 GG Die mit § 52 Abs. 2 SGB V verbundene Beschränkung des Anspruchs auf Krankenbehandlung und auf Krankengeld könnte Art. 14 Abs. 1 GG verletzen, sofern diese Ansprüche gegen die Krankenkasse zunächst als schutzfähige Eigentumspositionen anzuerkennen sind. Dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterfallen grundsätzlich „alle konkreten, vermögenswerten Rechtspositionen, die 466

Vießmann, VSSR 2010, 105 (137); Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (347); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 96; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 46. 467 BVerfGE 115, 25 (44, 46); BVerfG, NJW 1997, 3085 (3085); BVerfG, NJW 1998, 1775 (1776); Vießmann, VSSR 2010, 105 (135, 137); Sodan, NZS 2003, 393 (394); ders., in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 60 f.; ders., in: Sodan, GG, Art. 2 Rn. 24; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 26; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 45; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 225; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 II Rn. 96; Prehn, NZS 2010, 260 (265). Siehe hierzu auch Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, C. IV. 3. 468 BVerfGE 115, 25 (46); 70, 1 (30); Vießmann, VSSR 2010, 105 (138). Siehe hierzu auch Ausführungen im 2. Teil, Kapitel 2, C. IV. 3. 469 Vießmann, VSSR 2010, 105 (138) mit Verweis auf BVerfGE 89, 365 (376). 470 Vießmann, VSSR 2010, 105 (131). 471 Zum Auswahlermessen bezüglich des Umfangs der Kostenbeteiligung bzw. Krankengeldversagung oder -rückforderung siehe in diesem Kapitel, A. IV. 472 So auch Prehn, NZS 2010, 260 (265); Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 11.

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dem Einzelnen als Ausschließlichkeitsrechte zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet sind“.473 Davon können auch subjektive Rechte öffentlichrechtlicher Natur umfasst sein.474 Den Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen erkennt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung an, wenn es sich um eine „vermögenswerte Rechtsposition“ handelt, „die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist“, „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz dient“.475 Auf dieser Grundlage wurden gesetzliche Rentenversicherungsansprüche, Rentenanwartschaften476, Arbeitslosengeldansprü-

473 Sodan, in: Sodan, GG, Art. 14 Rn. 8. Siehe auch BVerfGE 78, 58 (71); 105, 17 (30); 105, 252 (277); 112, 93 (107); Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 12. 474 BVerfGE 53, 257 (289); 72, 175 (193 ff.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 11; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 129; Berkemann, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 14 Rn. 163 ff.; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 20. 475 Zitat aus der insoweit grundlegenden Entscheidung in BVerfGE 69, 272 (272, 300). Zuvor entschied das Bundesverfassungsgericht nur über den Eigentumsschutz rentenversicherungsrechtlicher Positionen, die nach einer Anwartschaftszeit zum Vollrecht erstarken können; vgl. BVerfGE 53, 257 (289 ff.); 58, 81 (109); 64, 87 (97). Seit 1985 ist der Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen ständige Rechtsprechung, siehe BVerfGE 70, 101 (110 ff.); 72, 9 (18 ff.); 75, 78 (96 f.); 76, 220 (235); 92, 365 (405); 100, 1 (32 f.). Siehe hierzu auch v. Brünneck, JZ 1990, 992 (992 ff.); Sodan, NZS 2003, 393 (394); ders., NZS 2005, 561 (562 f.); ders., in: Sodan, GG, Art. 14 Rn. 13 ff.; ders., Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 256; Neumann, NZS 1998, 401 (401 f.); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 41 ff.; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 129, 149; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 124 ff.; Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 59 ff.; Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 26; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 11 f.; Berkemann, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 14 Rn. 167 ff. Gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wendet Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 182, ein, dass öffentlich-rechtliche Positionen einer eigenen Funktionsgesetzlichkeit folgen, was sich im Ergebnis daran zeige, „dass dieses Eigentum nicht halten kann, was es verspricht“. „Rechtspositionen, auf die man sich nicht verlassen kann, weil in ihnen von vornherein die Möglichkeit von Änderungen angelegt ist, sind eben kein Eigentum“, schreibt Depenheuer. Kritisch äußert sich auch Bieback, Verfassungsrechtlicher Schutz gegen Abbau und Umstrukturierung von Sozialleistungen, S. 12 ff., indem er schreibt, dass „diese Rechtsprechung die Besonderheiten und Sachstruktur des Sozialrechts und seiner Änderungen nicht hinreichend differenziert aufgreift, ja negiert und gar zu zerstören droht“(S. 24); sie führe „zu dem paradoxen Ergebnis, daß die Garantie der Sozialversicherungsleistungen durch Art. 14 GG selbst ein Schritt zur Veränderung des angeblich garantierten Gegenstandes ist“(S. 26). 476 BVerfGE 58, 81 (109); 95, 143 (160); 100, 1 (32 f.); 117, 272 (292); 122, 151 (180 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 12; Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 65; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 137. Zu Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten BVerfGE 75, 78 (96 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 12; Papier, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 14 Rn. 151; ders., in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 47.

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che477 und entsprechende Anwartschaften der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt. Speziell für Ansprüche gesetzlich Krankenversicherter gegen ihre Krankenkasse wurde die Frage des Eigentumsschutzes bislang aber weder vom Bundesverfassungsgericht noch vom Bundessozialgericht beantwortet478 und ist daher im Folgenden anhand der verfassungsgerichtlichen Voraussetzungen zu untersuchen. a) Krankenversicherungsansprüche als dem Versicherten privatnützig zugeordnete Rechtspositionen Zunächst müsste es sich bei den Ansprüchen auf Krankenbehandlung und Krankengeld um vermögenswerte Rechtspositionen handeln, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet sind. Privatnützig zugeordnet ist eine Rechtsposition dann, wenn „sie als Grundlage privater Initiative und im eigenverantwortlichen Interesse von Nutzen sein“ soll und „der Berechtigte davon ausgehen kann, daß es sich um seine, ihm ausschließlich zustehende Rechtsposition handelt“.479 „Denn nur in solchen Fällen kann die notwendige Äquivalenz von Sacheigentum und öffentlich-rechtlicher Vermögensposition begründet werden“, schreibt Eykmann.480 Ausgeschlossen ist die Gleichstellung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung mit der Position eines Eigentümers, wenn die Leistung im Ermessen des Versicherungsträgers steht.481 Der Anspruch des erkrankten Versicherten auf Krankenbehandlung gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist eine Pflichtleistung der Krankenkasse, die dem Versicherten nutzen soll, und sei ihm daher privatnützig zugeordnet, meinen u. a. Sodan und Eykmann.482 Anderer Ansicht sind Brockmann und Ullrich, da der Versicherte 477

BVerfGE 72, 9 (18 ff.); 74, 203 (213); 92, 365 (405). Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 12; Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 65; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 152; ders., in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 49, 67. 478 BVerfGE 97, 378 (385); BSGE 69, 76 (77); Vießmann, VSSR 2010, 105 (114); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 20; Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 34. Bezüglich des Krankengeldanspruchs befürwortete das Bundessozialgericht einen Eigentumsschutz siehe BSG, SGb 1992, 508 (510 f.). 479 BVerfGE 69, 272 (300 f.) (Hervorhebungen aus dem Originaltext). Siehe bspw. auch BVerfGE 53, 257 (289 f.); Vießmann, VSSR 2010, 105 (117). 480 Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 21 m. w. N. 481 BVerfGE 63, 152 (174); 69, 272 (301); BSGE 50, 149 (150); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 21; Sodan, in: Sodan, GG, Art. 14 Rn. 13; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 159; ders., in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 58; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 11. 482 Sodan, NZS 2003, 393 (394); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 21. Siehe auch Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 67.

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„wegen des regelmäßig fehlenden Einflusses auf die Entstehung von behandlungsbedürftigen Erkrankungen und damit auf die Anspruchsentstehung keine aktuellen oder zukünftig ernsthaft in Betracht zu ziehenden Verfügungsmöglichkeiten über einen Eigentumsgegenstand“ habe.483 Bezüglich Rentenzahlungsansprüchen und Rentenanwartschaften hatte das Bundesverfassungsgericht aber darauf hingewiesen, dass auch „solche Positionen nicht inhaltlich frei vom Versicherten ausgestaltet werden“ könnten; gleichwohl entspräche „die Position des Berechtigten auch unter dem Gesichtspunkt grundsätzlicher Verfügungsbefugnis derjenigen des Eigentümers“; private Vermögensrechte unterlägen ebenso derartigen Einschränkungen, „ohne daß deswegen deren verfassungsrechtlicher Schutz in Zweifel gezogen würde“.484 Von den eigentumsfähigen Rechtspositionen seien aber diejenigen zu unterscheiden – so das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle485 – „auf die nach der jeweiligen Gesetzeslage lediglich eine Aussicht besteht, die anders als eine Anwartschaft nicht allein durch Erfüllung weiterer Voraussetzungen, etwa des Ablaufs einer Wartezeit und des Eintritts des Versicherungsfalls, zum Vollrecht erstarken kann“. Vor diesem Hintergrund verneinte das Bundesverfassungsgericht die privatnützige Zuordnung des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente, da diese Leistung „nicht mit Ablauf der Wartezeit und Eintritt des Versicherungsfalls zum Vollrecht“ erstarkt, sondern vielmehr unter der weiteren Voraussetzung stehe, „daß der Versicherte zu diesem Zeitpunkt in gültiger Ehe lebt“.486 Der Krankenbehandlungsanspruch steht dem Versicherten unmittelbar vom Beginn des Versicherungsverhältnisses an zu, die Erfüllung einer Anwartschaftszeit im renten- oder arbeitslosenversicherungsrechtlichen Sinne sowie einer Wartezeit ist somit nicht vorausgesetzt. Der Versicherte hat jedoch nicht nur die bloße Aussicht auf diesen Anspruch, sondern vielmehr die Gewissheit, dass ihm bei Eintritt einer Erkrankung die Krankenbehandlung, die notwendig ist, um diese Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern, zusteht. Auch Vießmann meint, dass die Voraussehbarkeit des KrankenbehandlungsanEykmann weist an gleicher Stelle darauf hin, dass der Umstand, dass es sich bei den Ansprüchen auf Krankenbehandlung um Sach- oder Dienstleistungsansprüche und nicht Geldleistungsansprüche handelt, für die Frage des Eigentumsschutzes irrelevant sei. Vgl. hierzu auch Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 159; ders., in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 58. Anderer Ansicht ist Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 34, da das Entstehen des Anspruchs vom Eintritt des Krankheitsfalls abhinge, und im Übrigen gegen den Eigentumsschutz auch das Sachleistungsprinzip spräche. 483 Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (351). 484 BVerfGE 53, 257 (291). Anderer Ansicht ist Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 184, der das Merkmal der ausschließlich privatnützigen Zuordnung als „eine sachlich leere, verfassungsrechtlich formale Hülle“ ansieht, da dem Sozialversicherten keinerlei originären Eigentümerbefugnisse zustünden bzw. die Ansprüche nicht zu seiner Disposition stünden. 485 BVerfGE 69, 272 (301). 486 BVerfGE 97, 271 (284).

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spruchs dem Grunde nach ausreicht, auch wenn unklar sei, wann und in welchem Ausmaß der Anspruch besteht.487 Dennoch verneint Vießmann das Merkmal der privatnützigen Zuordnung von Ansprüchen auf Krankenbehandlung, da „der Leistungsanspruch in der gesetzlichen Krankenversicherung von Gesetzes wegen nicht bestimmt gestaltet und auch nicht bestimmt gestaltbar ist“, es sich lediglich um einen Anspruchsrahmen handele bzw. um einen konkretisierungsbedürftigen Leistungsanspruch, der sich erst unter Berücksichtigung einer konkreten medizinischen Diagnose- und Indikationsstellung ergibt.488 „Die zur Vollrechtsentstehung notwendigen Zwischenschritte erweisen sich als so dominierend, dass das Gesetz dem Versicherten kein Eigentumsrecht bezogen auf eine konkrete Behandlung zu vermitteln vermag“, schreibt Vießmann.489 Andererseits könne „auch der gesetzliche Rahmen als solcher mangels privatnütziger Zuordnung keinen Eigentumsschutz genießen“, da Privatnützigkeit „einen gewissen substantiellen Gehalt“ erfordere, „was wiederum ein Mindestmaß an Konkretheit und Bestimmtheit der in Frage stehenden Position voraussetzt“. Diese Argumentation Vießmanns wirft weitergehenden Untersuchungsbedarf auf. Sie kann aber jedenfalls nicht die privatnützige Zuordnung des Anspruchs auf Krankengeld gemäß § 44 Abs. 1 SGB V in Zweifel ziehen, da die Krankenkasse dem Versicherten das Krankengeld nach den Vorschriften der §§ 44 bis 51 SGB V bei Eintritt einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung auszuzahlen hat. b) Nicht unerhebliche Eigenleistungen Den krankenversicherungsrechtlichen Ansprüchen müssten zudem nicht unerhebliche Eigenleistungen des Versicherten zugrunde liegen. Der sozialversicherungsrechtliche Eigentumsschutz beruhe wesentlich darauf – so das Bundesverfassungsgericht –, „daß die in Betracht kommende Rechtsposition durch die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten, wie diese vor allem in den einkommensbezogenen Eigenleistungen Ausdruck findet, mitbestimmt ist“.490 In Bezug auf den Kranken487

Vießmann, VSSR 2010, 105 (119). Vießmann, VSSR 2010, 105 (119 ff.). Zum „Anspruchsrahmen“ siehe im 2. Teil, Kapitel 2, C. II. Der Inhalt des Krankenbehandlungsanspruchs gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ergibt sich nach Maßgabe der konkretisierenden Vorschriften der §§ 27a ff. SGB V und den einschlägigen, nach § 92 SGB V erlassenen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Verbindlichkeit erlangt der Anspruch erst durch die Feststellungen eines Leistungserbringers. 489 Dieses und die folgenden Zitate aus Vießmann, VSSR 2010, 105 (121) (Hervorhebung aus dem Originaltext). 490 BVerfGE 69, 272 (301). Siehe auch BVerfGE 116, 96 (122); 117, 272 (294). Anderer Ansicht ist Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 183, der das Kriterium der Eigenleistung – ebenso wie insgesamt die Annahme des Eigentumsschutzes sozialversicherungsrechtlicher Positionen ablehnt – als faktisch nicht gegeben ansieht. Sozialversicherungsrechtliche Ansprüche entbehrten „mangels Anwartschaftsdeckung – anders als andere eigentumsgeschützte Vermögenswerte – eines realen wirtschaftlichen Substrates“. 488

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behandlungsanspruch äußern Brockmann und Ullrich insofern Bedenken, da diese Rechtsposition nicht „als Äquivalent einer zuvor erbrachten Leistung anzusehen ist“.491 Das Fehlen der individuellen Äquivalenz zwischen Beitragszahlung und Krankenbehandlungsleistung ist jedoch unerheblich; ein solches Äquivalenzverhältnis besteht beispielsweise häufig auch nicht beim Arbeitslosengeld,492 außerdem knüpfe der Krankenbehandlungsanspruch naturgemäß an die gegenwärtigen medizinischen Notwendigkeiten an.493 Eine den Eigentumsschutz begründende Eigenleistung ist aber dann auszuschließen, wenn die Ansprüche auf lediglich einseitiger staatlicher Gewährung beruhen und als Ausdruck staatlicher Fürsorge eingeräumt werden.494 Unschädlich ist es aber, „wenn die Rechtsposition auch oder überwiegend auf staatlicher Gewährleistung beruht“.495 Je höher aber „der einem Anspruch zugrunde liegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker“ trete „der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor“, formulierte das Bundesverfassungsgericht.496 Der Umfang der Eigenleistung sei „vor allem für die Frage wesentlich, inwieweit der Gesetzgeber Inhalt und Schranken einer unter die Eigentumsgarantie fallenden Position regeln kann“.497 Die krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche erwirbt der Versicherte durch seine Beitragsleistung, wozu auch der vom Arbeitgeber für den Versicherten geleistete Beitragsanteil zählt.498 Während den Ansprüchen der beitragszahlenden gesetzlich Krankenversicherten somit nicht unerhebliche Eigenleistungen zugrunde liegen, beruhen die Ansprüche auf Krankenbehandlung von beitragsfreien Famili-

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Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (352). Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 152 mit Verweis auf BVerfGE 72, 9 (19); 74, 9 (25); 74, 203 (213). Papier weist an gleicher Stelle darauf hin, dass es vielmehr entscheidend sei, „dass die Gesamtleistung des Arbeitslosengeldes oft weniger durch eigene und vom Arbeitgeber für den Berechtigten geleistete Beiträge, sondern durch die solidarisch von allen Versicherten aufgebrachten Gesamtbeiträge bestimmt wird“. 493 So Vießmann, VSSR 2010, 105 (116, 118). 494 BVerfGE 53, 257 (292); 69, 272 (302); 116, 96 (122); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 150; ders., in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 46; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 22. 495 BVerfGE 69, 272 (301). Siehe auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 11. 496 BVerfGE 53, 257 (292); 58, 81 (112). 497 BVerfGE 69, 272 (301). Siehe auch BVerfGE 58, 81 (112); 116, 96 (122); 117, 272 (294); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 14 Rn. 33. 498 BVerfGE 69, 272 (302); BSGE 86, 262 (266 f.); Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 65; Sodan, in: Sodan, GG, Art. 14 Rn. 14; Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 68; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 11; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 141; Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 250 f.; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 128 ff. 492

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enversicherten nicht auf einer für den Eigentumsschutz ihrer Ansprüche erforderlichen Eigenleistung.499 c) Existenzsicherung Für die Begründung des Eigentumsschutzes krankenversicherungsrechtlicher Ansprüche ist es weiterhin erforderlich, dass diese der Sicherung seiner Existenz dienen.500 Damit ist der Eigentumsschutz denjenigen sozialversicherungsrechtlichen Positionen vorbehalten, die „für den Berechtigten von solcher Bedeutung sind, daß ihr Fortfall oder ihre Einschränkung die freiheitssichernde Funktion der Eigentumsgarantie wesentlich berühren würde“.501 Das Bundesverfassungsgericht schreibt weiter:502 „Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob ein Grundrechtsträger nach seinem Vermögensstand individuell mehr oder weniger auf den Bezug einer sozialversicherungsrechtlichen Leistung angewiesen ist. Es geht vielmehr um die objektive Feststellung, ob eine öffentlich-rechtliche Leistung ihrer Zielsetzung nach der Existenzsicherung der Berechtigten zu dienen bestimmt ist. Nicht das Bedürfnis des Einzelnen, sondern der Umstand ist entscheidend, daß eine Position der großen Mehrzahl der Staatsbürger zur existenziellen Sicherung dient.“ Als besonderes Indiz für den existenzsichernden Charakter einer Sozialversicherungsleistung gilt deren Lohnersatzfunktion,503 die auch das Krankengeld erfüllt. Eykmann und Vießmann meinen, dass auch der Anspruch auf Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 SGB V der Existenzsicherung der Versicherten diene.504 Bezogen auf die konkrete Be499 Vießmann, VSSR 2010, 105 (116); Sodan, NZS 2003, 393 (394 f.). Bzgl. der Hinterbliebenenrenten siehe die vergleichbare Argumentation BVerfGE 97, 271 (285); hierzu ausführlich Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 68 ff. Familienversicherte können nach § 10 SGB V Ehegatten, Lebenspartner, Kinder und Kindeskinder sein, wenn sie unter anderem nicht selbst versicherungspflichtig oder freiwillig versichert sind, keiner hauptberuflichen selbständigen Tätigkeit nachgehen und ein bestimmtes Gesamteinkommen nicht überschreiten. Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V haben Familienversicherte keinen Anspruch auf Krankengeld. 500 Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 72 f., 185, sieht das Kriterium der Existenzsicherung als unvereinbar mit der Dogmatik des verfassungsrechtlichen Eigentums an und meint, „der liberale Garantiegehalt wird mit der sozialen Zielsetzung Existenzsicherung angereichert und tendenziell (z)ersetzt“ (Hervorhebung aus dem Originaltext). Zweifel an dem Kriterium der Existenzsicherung äußert auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 12 m. w. N. 501 Zitat aus BVerfGE 69, 272 (304). Siehe auch Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 22. 502 BVerfGE 69, 272 (303 f.). Siehe auch BVerfGE 53, 257 (290); 72, 9 (21). Sodan, NZS 2003, 393 (395); ders., in: Sodan, GG, Art. 14 Rn. 14; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 150; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 22. 503 BVerfGE 72, 9 (20); 76, 220 (237); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 22; Berkemann, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 14 Rn. 191. 504 Vießmann, VSSR 2010, 105 (114); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 22 f.

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handlung mit Zahnersatz sieht Sodan das Merkmal des Existenzsicherungscharakters als nicht gegeben an.505 Vießmann hält diese Differenzierung für grundsätzlich zulässig, meint jedoch, dass „der Existenzsicherungsgedanke aber nicht erst dann bejaht werden“ dürfe, „wenn es tatsächlich um Leib und Leben geht“.506 „Das Gut Gesundheit wird allgemein und auch vom Grundgesetz schon weit im Vorfeld dessen als existentiell betrachtet“, führt Vießmann aus. Von daher werde „der Eigentumscharakter nur selten daran scheitern, dass es an dem existenzsichernden Charakter fehle, zumal per Gesetz (§ 12 SGB V) die Leistungen der Krankenbehandlung von vornherein auf das Notwendige beschränkt und Luxusbehandlungen damit ausgeschlossen sind“. d) Fazit Die verfassungsgerichtlichen Kriterien sind zumindest für den Anspruch auf Krankengeld der beitragszahlenden Versicherten erfüllt. Hinsichtlich des Krankenbehandlungsanspruchs ist der Eigentumsschutz jedenfalls bei der beitragsfreien Familienversicherung zu verneinen. Wie bereits deutlich wurde, ist die Frage des Eigentumsschutzes krankenversicherungsrechtlicher Ansprüche in der Literatur umstritten.507 Die zum Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen in Bezug auf Versichertenrenten und das Arbeitslosengeld entwickelten Voraussetzungen würden nicht zum Bereich der Ansprüche auf medizinische Versorgung passen, meint beispielsweise Hänlein.508 „Wenn man vom Krankengeld absieht“ – hier könne man das anders sehen – , „lässt sich deshalb bereits im Ansatz von eigentumsähnlichen Positionen nicht sprechen“, schreibt Hänlein. Nach Voelzke träfen die verfassungsgerichtlichen Kriterien lediglich auf den bereits zuerkannten Krankengeldanspruch zu.509 Hinsichtlich eines möglichen künftigen Krankengeldanspruchs vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bestehe jedoch eine „signifikante Ab505 Sodan, NZS 2003, 393 (395). Dem schließt sich Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 58 an. 506 Vießmann, VSSR 2010, 105 (115 f.); dieses und die folgenden Zitate auf S. 116 (Hervorhebungen aus dem Originaltext). 507 Während sich Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 159; ders., in: v. Maydell/ Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 58; Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 67; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 123 für einen Eigentumsschutz krankenversicherungsrechtlicher Positionen aussprechen, wird dies von anderen ganz oder teilweise abgelehnt, siehe z. B. Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (350); Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 182 ff.; Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 34; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 25; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 11; ablehnend bzgl. des Krankenbehandlungsanspruchs Vießmann, VSSR 2010, 105 (121); Hänlein, SGb 2003, 301 (304); Eigentumsschutz nur für den bereits zuerkannten Krankengeldanspruch vertritt Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 251. 508 Zu diesem und zum folgenden Zitat siehe Hänlein, SGb 2003, 301 (304). 509 Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 250 mit Verweis auf BSG, SGb 1992, 508 (510 f.).

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weichung vom Leitbild der Rentenanwartschaften, die in der gesamten Zeit vom Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung bis zum Eintritt des Versicherungsfalls erworben werden und die Maßstab für die Bemessung des individuellen Leistungsanspruchs sind“.510 Krankengeld könne direkt mit Beginn des Versicherungsverhältnisses beansprucht werden, sodass die gesetzliche Krankenversicherung als offenes Sozialversicherungssystem anzusehen sei und „Eingriffe in das Leistungssystem lediglich Inhaltsänderungen des Eigentums sind“. „Der Gesetzgeber wäre allenfalls gehindert, laufende Leistungsfälle in eine Neuregelung einzubeziehen“, schlussfolgert Voelzke.511 Eykmann, die die verfassungsgerichtlichen Anforderungen insgesamt als positiv erfüllt ansieht, spricht sich dennoch gegen einen Eigentumsschutz der krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche aus.512 Zum einen garantiere das in der gesetzlichen Krankenversicherung herrschende Leistungsprinzip – anders als in der Rentenversicherung – keine zu den Beiträgen äquivalente Gegenleistung, abgesehen vom Krankengeld. Zum anderen gehe es „in der Krankenversicherung immer nur um den gegenwärtig abzusichernden Schutz“, nur um ein „Wirtschaften für den Augenblick“.513 Es würden „also keine Eigenleistungen angespart, die in ihrer Substanz durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt werden müssen“. „Wegen der immanenten Akzessorietät zwischen Bestand des Versicherungsverhältnisses und Leistungsanspruch des Versicherten kann ein überschießender Eigentumsschutz im Sinne einer Fortbestandsgarantie oder einer Garantie für die gegenwärtigen Versicherungsbedingungen grundsätzlich nicht in Betracht kommen“, meint Eykmann abschließend.514 Nach alledem ist festzustellen, dass zumindest hinsichtlich des Krankenbehandlungsanspruchs wesentliche Bedenken gegen die Annahme eines Eigentumsschutzes sprechen. Eine abschließende Beurteilung der Frage des Eigentumsschutzes der Ansprüche auf Krankenbehandlung und auf Krankengeld bedarf jedoch einer intensiveren Untersuchung, die für die Zwecke dieser Arbeit nicht erforderlich erscheint. Unterfielen die Ansprüche zumindest teilweise der Eigentumsgarantie, wäre das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG auch nur dann verletzt, wenn die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V nicht eine zulässige Eigentumsbeschränkung darstellen würde. Eingriffe in das grundrechtliche Eigentumsrecht sind Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG oder Enteignungen, die den 510 Zu diesem und zum folgenden Zitat siehe Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 251 (Hervorhebung aus dem Originaltext). 511 Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 251. 512 Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 23. 513 Diese und die folgenden Zitate bei Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 24. 514 Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 25 (Hervorhebung aus dem Originaltext).

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Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG gerecht werden müssen. Während die Enteignung den Entzug einer konkret-individuellen, verselbstständigten Rechtsposition bedeutet,515 ist die Inhalts- und Schrankenbestimmung eine „generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum im Sinne der Verfassung zu verstehen sind“ und damit „auf die Normierung objektiv-rechtlicher Vorschriften gerichtet, die den Inhalt des Eigentumsrechts vom Inkrafttreten des Gesetzes an für die Zukunft bestimmen“.516 Der entzogene Eigentumsanteil ist im Bereich des Sozialrechts regelmäßig nicht rechtlich abtrennbar von der verbliebenen Leistung und kann daher nicht selbstständig im Sinne einer Enteignung betrachtet werden; es handelt sich somit in der Regel um Inhalts- und Schrankenbestimmungen.517 Nach der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V wird in den dort genannten Fällen der Anspruch auf Krankenbehandlung in angemessener Höhe beschränkt und der Anspruch auf Krankengeld ganz oder teilweise versagt. § 52 Abs. 2 SGB V entzieht also nicht individuelle, krankenversicherungsrechtliche Leistungsansprüche, sondern ändert lediglich den Umfang dieser Ansprüche bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen und stellt daher – die Eigentumsqualität dieser Ansprüche angenommen – eine Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Derartige Regelungen sind nur „zulässig, wenn sie durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sind“.518 Der Gesetzgeber „muß sich am Wohl der Allgemeinheit orientieren, das nicht nur Grund, sondern auch Grenze für die Beschränkung des Eigentümers ist“.519 Wegen des „ausgeprägten sozialen Bezugs“ sozialversicherungsrechtlicher Positionen spricht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber dabei eine weite Gestaltungsfreiheit zu, insbesondere „für Regelungen, die dazu dienen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit“ des Sozialversicherungssystems „im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern oder

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BVerfGE 70, 191 (199 f.); 72, 66 (76); 100, 226 (240). BVerfGE 52, 1 (27) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Siehe auch BVerfGE 58, 300 (330); 72, 66 (76). 517 So auch die Begründung von Neumann, NZS 1998, 401 (403). Zum gleichen Ergebnis kommen auch Berkemann, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 14 Rn. 498; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 25; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 11. 518 BVerfGE 97, 378 (385); wortgleich bspw. in BVerfGE 58, 81 (121); 72, 9 (23); 76, 220 (238); 95, 143 (161). Siehe auch BVerfGE 70, 101 (111); 75, 78 (97); 122, 151 (180 f.); BSGE 54, 293 (296); Sodan, NZS 2005, 561 (563); ders., Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 259; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 55; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 38. 519 BVerfGE 50, 290 (339 f.). Siehe auch BVerfGE 58, 137 (147 f.); 68, 361 (368); Neumann, NZS 1998, 401 (404); Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 259; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 225. 516

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen“.520 Es gilt ein sogenannter „abgestufter Eigentumsschutz“; das bedeutet, dass sich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verkleinert, je höher die Eigenleistung und damit der personale Bezug zur sozialversicherungsrechtlichen Rechtsposition ist.521 „Jenseits eines besonders geschützten Eigentumskerns, der durch den personalen Bezug des Anteils eigener Leistung des Versicherten begründet wird, wird dem Gesetzgeber ein Regelungsspielraum zugebilligt, der letztlich nicht begrenzter ist als derjenige Rahmen, der dem außerhalb der Eigentumsgarantie operierenden Gesetzgeber eröffnet ist“, schreibt Papier und führt fort: „Die Eingriffs- oder Regelungsschranken, die das Bundesverfassungsgericht hier aufstellt, sind keine eigentumsspezifischen, sondern letztlich die allgemeinen, auch ohne den Eigentumsschutz geltenden, rechtsstaatlichen Grenzen“.522 Die krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche stehen dem erkrankten Versicherten unmittelbar ab Versicherungsbeginn zur Verfügung, sodass der personale Bezug aufgrund der Eigenleistungen des Versicherten gering ist und den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum nicht verengen kann.523 Der Eigentumsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG kann sozialversicherungsrechtliche Anpassungen und Umgestaltungen nicht ausschließen.524 Anderenfalls würde eine „Selbstbindung 520 BVerfGE 74, 203 (214). Siehe auch BVerfGE 50, 290 (339 f.); 53, 257 (293); 76, 220 (239); BSGE 54, 293 (296); Merten, in: Schulin (Hrsg.), HS-KV, § 5 Rn. 70; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 55. Zum weiten Gestaltungsspielraum siehe auch BVerfGE 53, 257 (293); 97, 378 (388); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 65; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 138; ders., in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 42; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 25; Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 11. 521 BVerfGE 53, 257 (293); 58, 81 (112 ff.); 117, 272 (294); Sodan, NZS 2005, 561 (564); Neumann, NZS 1998, 401 (404); v. Brünneck, JZ 1990, 992 (995). Ausführlich hierzu bzgl. gesetzlicher Rentenansprüche siehe Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 194 ff. 522 Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 54. Siehe auch ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 138 sowie v. Brünneck, JZ 1990, 992 (994 f.); Neumann, NZS 1998, 401 (403 f.); Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 387. 523 Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 34 schreibt hierzu: „Da in der Krankenversicherung für die Ansprüche keine Ansparungen erbracht werden, sondern die Versicherungsverhältnisse sich kurzfristig konkretisieren, wäre hier der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum noch wesentlich größer als bei den Renten.“ Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 131 formuliert: „Wegen des starken Gegenwartsbezug der Krankenversicherung sind dem Gesetzgeber durch Art. 14 GG keine sonderlich hohen Hürden errichtet. Daher ist ein Rückgriff auf die Maßstäbe, die das BVerfG für die Umgestaltung von sozialversicherungsrechtlichen Positionen entwickelt hat, in den meisten Fällen nicht erforderlich.“ 524 BVerfGE 117, 272 (293); Jaeger, NZS 2003, 225 (227); Sodan, NZS 2003, 393 (396); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 53. Bezogen auf krankenversicherungsrechtliche Leistungskürzungen vertreten dies Berkemann, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 14 Rn. 498; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 25.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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des sozialrechtlichen Gesetzgebers“ entstehen, „die mit der Staatszielbestimmung der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) und der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) unvereinbar wäre“.525 Die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V würde also krankenversicherungsrechtliche Ansprüche – deren Eigentumsqualität unterstellt – zulässig im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG beschränken, wenn sie den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen, insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit526 und des Vertrauensschutzes527 gerecht wird. Ob die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V diese Grundsätze ausreichend wahrt, wird im folgenden Abschnitt eingehend geprüft.

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Zitat aus Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 53. Siehe auch Sodan, NZS 2003, 393 (396). 526 Dabei hat der Gesetzgeber einen erheblichen Beurteilungs- und Prognosespielraum, insbesondere bei der Feststellung der Geeignetheit und insofern auch Erforderlichkeit der in Rede stehenden Maßnahme; vgl. BVerfGE 53, 257 (293); 72, 9 (23); 103, 293 (307); 104, 337 (347 f.); 110, 141 (157); Sodan, NZS 2005, 561 (563); ders., in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 64 f.; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 70; Neumann, NZS 1998, 401 (404); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 38; Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 60; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 138. Siehe auch im nachfolgenden Abschnitt 3. c). 527 Der Vertrauensschutzgrundsatz ist grundsätzlich im Rechtsstaatsprinzip verankert, siehe hierzu im nachfolgenden Abschnitt 3. b). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dieser Grundsatz hinsichtlich eigentumsrechtlich geschützter Positionen bzw. im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG eine eigene Ausprägung; siehe z. B. BVerfGE 53, 257 (309); 58, 81 (120 f.); 70, 101 (114); 71, 1 (11 f.); 76, 220 (244); 117, 272 (294). Vgl. auch v. Brünneck, JZ 1990, 992 (995), der ebenfalls allgemein vertritt, dass der Vertrauensschutzgrundsatz im Kontext mit Art. 14 Abs. 1 GG weiter reiche als der allgemeine rechtsstaatliche Vertrauensschutz. So auch Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 228; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 123. Ausführlich hierzu siehe Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 146 ff., 269. Anderer Ansicht ist Neumann, NZS 1998, 401 (407 f.), der meint, die „Ausprägung, die der Vertrauensschutz in Art. 14 erfahren hat, läuft auf eine Verkürzung dieses rechtsstaatlichen Grundsatzes hinaus“ und angesichts der insoweit uneinheitlichen Verfassungsrechtsprechung für die Herausnahme des Vertrauensschutzes aus Art. 14 GG plädiert. In Bezug auf sozialversicherungsrechtliche Positionen sieht Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 62, den „Vertrauensschutz auch bei ihrer Anerkennung als Eigentum“ als eingeschränkt an, „da ihre Höhe in erhebl. Umfang auf Rahmenbedingungen beruht, deren Gestaltung und Berücksichtigung dem Gesetzgeber schon aus Gründen der Finanzverfassung überlassen bleiben muß“. SchmidtAßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 34 f., meint, das Vertrauensschutzprinzip bringe „kaum zusätzliche Verfestigungen“, „unabhängig davon, ob man es in Art. 14 Abs. 1 GG integriert oder als eigenständig behandelt“.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

3. Allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG Das in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne.528 Art. 2 Abs. 1 GG ist aufgrund dieser weiten Interpretation subsidiär gegenüber den speziellen Freiheitsgrundrechten, und daher nur dann anzuwenden, wenn und soweit im konkreten Fall kein spezielles Freiheitsgrundrecht betroffen ist.529 Hinsichtlich der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V bleibt ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu prüfen, da der Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG zumindest beim Krankenbehandlungsanspruch nicht ohne Weiteres angenommen werden kann und in jedem Fall bei beitragsfreien Familienversicherten verneint werden muss. Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG wird somit zumindest nicht vollständig verdrängt. Ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit setzt voraus, dass diese Freiheit des Einzelnen, etwas zu tun oder zu unterlassen, in irgendeiner Weise reduziert oder beeinträchtigt wird. Die Freiheit des Einzelnen, eine der in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Maßnahmen an sich vornehmen zu lassen,530 wird aber nicht unmittelbar und allein dadurch beeinträchtigt, dass ihm im Fall einer Folgeerkrankung eine Leistung der Krankenbehandlung nicht gewährt bzw. er an den Kosten für eine von ihm in Anspruch genommene Leistung beteiligt wird.531 Im Zusammenhang mit der Neuordnung der Hinterbliebenenrente entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG berührt ist, „wenn der Gesetzgeber einerseits durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflichten in einem öffentlichrechtlichen Verband der Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich einengt (…), andererseits dem Versicherten gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen dieses Verbandes wesentlich vermindert“.532 Davon ausgehend meint Voelzke, „ein unzulässiger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der Versicherten könnte sich insbesondere unter dem Gesichtspunkt ergeben, dass die Versicherten kraft Gesetzes der Versicherungspflicht unterliegen und zu Beitragszahlungen herangezogen werden, sie aber trotz der von ihnen im Hinblick auf die Pflichtversicherung geleisteten Beiträge 528

So die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts erstmals 1957 in dem sogenannten Elfes-Urteil und seitdem in ständiger Rechtsprechung, siehe Nachweise hierzu in Fn. 3 im 2. Teil. 529 Sodan, NZS 2003, 393 (395); ders., in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 102; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 12; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 21; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 2; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 120. 530 Zur im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Freiheit wunscherfüllende Maßnahmen oder Maßnahmen des Enhancements an sich vornehmen zu lassen, siehe in diesem Teil, Kapitel 1, C. 531 So auch Vießmann, VSSR 2010, 105 (122). 532 BVerfGE 97, 271 (286).

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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keinen adäquaten Versicherungsschutz erhalten“.533 Der freiheitsbeschränkende Charakter krankenversicherungsrechtlicher Leistungsbeschränkungen ergibt sich somit aufgrund der Versicherungspflicht nach § 5 SGB V. Daher ist bei den mit der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V verbundenen Beschränkungen krankenversicherungsrechtlicher Ansprüche – sofern diese nicht dem Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG unterliegen – von einer Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit der betroffenen Versicherten auszugehen. Unter Berücksichtigung der entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung, die ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt werden,534 ist eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG durch die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V sowohl bei beitragszahlenden als auch familienversicherten Krankenversicherten anzunehmen. Die allgemeine Handlungsfreiheit wird aber gemäß Art. 2 Abs. 1, 2. Halbsatz GG nur geschützt, soweit nicht die Rechte anderer verletzt werden und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen wird. Dabei ist „der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne der allgemeinen Rechtsordnung zu interpretieren, zu der alle formell und materiell mit der Verfassung vereinbaren Rechtsnormen gehören“.535 Zu prüfen ist somit, inwieweit die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V mit der Verfassung vereinbar bzw. Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist. a) Wahrung des Sozialstaatsprinzips Das soziale Staatsziel nach Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG ist – eingebunden in die Prinzipien der Republik, der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaates – auf die Schaffung sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit gerichtet.536 Dabei ist es durch Unbestimmbarkeit und Interpretationsoffenheit gekennzeichnet, sodass sich konkrete Schlussfolgerungen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit krankenversicherungsrechtlicher Regelungen oder gar sozialversi533 Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, S. 252. Siehe hierzu auch Prehn, NZS 2010, 260 (265), nach der es der durch die Sozialversicherung als Pflichtversicherung erfolgende Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG erfordere, dass eine Unverhältnismäßigkeit zwischen Beitrag und Leistung nicht eintrete. Auch Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 26 f., nimmt bei Leistungskürzungen in der GKV als Pflichtversicherung einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit an. 534 BVerfGE 97, 271 (285 f.). 535 So die Formulierung bei Sodan, NZS 2003, 393 (396). Vgl. hierzu auch BVerfGE 6, 32 (37 f.); 26, 1 (7); 50, 256 (262); 70, 1 (25); 80, 137 (153); 96, 375 (397 f.); 97, 271 (286); 103, 197 (215); 104, 337 (346); 111, 54 (81 f.); 113, 88 (103); Sodan, in: Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 103; Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 122; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 2 Rn. 22; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 12, 39; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 17. 536 Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlich im 1. Teil, Kapitel 4, A. I. 4.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

cherungsrechtliche Bestandsgarantien nicht aus dem Sozialstaatsprinzip für sich genommen ableiten lassen.537 Nach dem Bundesverfassungsgericht sei es aber „mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen“.538 Ein hiermit vergleichbarer Fall liegt jedoch nicht vor; zwar ist die Leistungsbeschränkung des § 52 Abs. 2 SGB V auch in Fällen lebensbedrohlicher Erkrankungen anwendbar, Regelungsinhalt ist aber nicht der Entzug der Krankenbehandlungsleistung an sich, sondern die nachträgliche Kostenbeteiligung des behandelten Versicherten unter Berücksichtigung u. a. seiner ökonomischsozialen Lage. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass der Gesetzgeber „im Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz der Freiheit des Einzelnen und den Anforderungen einer sozialstaatlichen Ordnung“ eine weite Gestaltungsfreiheit hat539 und dem Grundgesetz weder eine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystems noch bestimmter Versicherungsleistungen zu entnehmen ist.540 Daher ist der Gesetzgeber „grundsätzlich befugt, auch in das Leistungsgefüge der Sozialversicherung ordnend einzugreifen“.541 Sozialversicherungsrechtliche Erscheinungsform des Sozialstaatsprinzips ist das Solidarprinzip,542 das zwar als Rechtsprinzip des einfachen Sozialversicherungsrechts bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung sozialversicherungsrechtlicher Regelungen heranzuziehen ist, den Gesetzgeber aber nicht verfassungsrechtlich bindet. Das Solidarprinzip bedingt den Ausschluss der Folgen solidarwidrigen 537

So bspw. auch Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 33; Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (344) m. w. N. 538 BVerfGE 115, 25 (49). 539 BVerfGE 113, 167 (215). Siehe auch BVerfGE 10, 354 (370 f.); 29, 221 (235); 44, 70 (89); 53, 313 (326); Sodan, NZS 2003, 393 (396); Prehn, NZS 2010, 260 (265). 540 BVerfGE 18, 257 (267); 29, 221 (236); 39, 302 (314 f.); 77, 340 (344); 113, 167 (219). Vgl. auch Brockmann/Ullrich, VSSR 2009, 339 (342 ff.); Pitschas, VSSR 1998, 253 (260); Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 16. Siehe hierzu bereits im 2. Teil, Kapitel 2, C. IV. 3. 541 BVerfGE 97, 271 (286). Pitschas, VSSR 1998, 253 (259 f.), meint, dass die Rücknahme staatlicher Gesundheitsverantwortung im Sinne der Verantwortungssubsidiarität des Staates vielmehr geboten sei. Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (714), weisen darauf hin, dass dabei aber eine Überforderung des Versicherten vermieden werden müsse, „da anderenfalls die an der Leistungsfähigkeit orientierte gemeinsame Bedarfsdeckung als Kennzeichen von Sozialversicherung nicht mehr gewährleistet wäre“. 542 Siehe Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, Abschnitte A. II., B. und C.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Verhaltens und ist darüber hinaus gekennzeichnet durch den Verzicht auf eine Risikodifferenzierung. Die ursachenbezogene Leistungsbeschränkung in § 52 Abs. 2 SGB V regelt – wie in diesem Kapitel unter B. untersucht und festgestellt – keine Fälle solidarwidrigen Verhaltens, sondern nimmt vielmehr bestimmte systemfremde Gesundheitsgefahren zumindest teilweise aus der Fremdverantwortung der Krankenkasse aus und überlässt diese der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten. Das Solidarprinzip spricht zwar grundsätzlich gegen eine solche Risikoherausnahme, schließt aber nicht zwingend eine Berücksichtigung individueller Risiken des Versicherten aus. Verfassungsrechtliche Relevanz erlangt diese Frage jedoch erst mit Blick auf den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.543 Festzuhalten ist, dass jedenfalls das verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V nicht entgegen steht. b) Wahrung des Vertrauensschutzprinzips Die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V könnte als Fall der unechten Rückwirkung unzulässig sein und somit gegen die rechtsstaatlichen Anforderungen des Vertrauensschutzes544 verstoßen. Eine Regelung weist dann eine unechte Rückwirkung auf, wenn sie „auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet“545 oder wenn eine Norm den Eintritt künftiger Rechtsfolgen „von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig macht“.546 „Gesetzliche

543 Siehe hierzu im 1. Teil, Kapitel 4, C. Zur Prüfung, ob § 52 Abs. 2 SGB V insofern gleichheitswidrig ist, siehe im nachfolgenden Abschnitt II. 544 Zum Vertrauensschutzprinzip bzw. Rückwirkungsverbot und dessen Verankerung im Rechtsstaatsprinzip siehe BVerfGE 40, 65 (75 f.); 74, 129 (152 ff.); 97, 271 (286); Sodan, NZS 2005, 561 (564); Neumann, NZS 1998, 401 (407 f.); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 41; Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 27; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 67; Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 140 ff. 545 BVerfGE 69, 272 (309). Siehe auch BVerfGE 24, 220 (229 f.); 25, 142 (154); 30, 392 (402); 43, 242 (286); 63, 312 (328 f.); 79, 29 (45 f.); 95, 64 (86); 101, 239 (263); 103, 392 (403); 123, 186 (257); Vießmann, VSSR 2010, 105 (130); Sodan, NZS 2003, 393 (397); ders., NZS 2005, 561 (564 f.); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 126; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 69. Hingegen haben Regelungen eine echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreifen, oder wenn ihr Anwendungsbeginn auf einen Zeitpunkt vor Inkrafttreten der Regelung festgelegt ist. Derartige Regelungen sind grundsätzlich wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip nichtig; vgl. BVerfGE 11, 139 (145 f.); 24, 220 (229); 31, 222 (225); 95, 64 (86); 101, 239 (263); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 125; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 68, 70 ff. 546 BVerfGE 72, 200 (242) (Hervorhebung aus dem Originaltext). Diese Rückwirkung, die der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts als tatbestandliche Rückanknüpfung bezeichnet, bezieht sich auf den sachlichen Anwendungsbereich der Norm; vgl. auch BVerfGE

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Verschlechterungen bei den Leistungen der Krankenbehandlung entfalten regelmäßig unechte Rückwirkung“, meint Vießmann und erläutert hierzu: „es wird mit Wirkung für die Zukunft in ein öffentlich-rechtliches Versicherungsverhältnis, also in ein Dauerrechtsverhältnis, eingegriffen und dieses für den Versicherten im Verhältnis zum status ante nachteilig gestaltet“.547 Hingegen vertritt Sodan548, dass der Versicherte aufgrund der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch ein Umlageverfahren „mit seinen Beiträgen nur zur Sicherung eines aktuellen, überschaubaren Zeitraumes“ beitrage und „nicht etwa langfristig in seine Zukunft“ investiere. Bei der Leistungsbeschränkung des § 52 Abs. 2 SGB V, die mit Inkrafttreten der Vorschrift zum 1. April 2007 anwendbar wurde, ist jedoch insofern eine unechte Rückwirkung denkbar, als dass die medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, die Tätowierung oder das Piercing, durch das oder die der leistungsbeschränkte Versicherungsfall verursacht wird, bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm vorgenommen sein konnte. Damit sind Anwendungsfälle des § 52 Abs. 2 SGB V denkbar, die für den Versicherten ungünstige Rechtsfolgen an Umstände knüpfen, die vor Inkrafttreten der Norm liegen. Derartige Fälle unechter Rückwirkung sind jedoch grundsätzlich zulässig.549 Die Verfassung gewährt keinen generellen Schutz vor nachteiligen Veränderungen der geltenden Rechtslage; sie schützt nicht die bloße Erwartung des Betroffenen, dass eine für ihn günstige Rechtslage fortbestehen wird.550 Das nach dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit geschützte Vertrauen des Bürgers ist aber enttäuscht, „wenn das Gesetz einen entwertenden Eingriff vornimmt, mit dem der Berechtigte nicht zu rechnen brauchte, den er also bei seinen Dispositionen nicht berücksichtigen konnte“.551 Der Versicherte konnte nicht wissen, dass eine Regelung eingeführt wird, nach der im Erkrankungsfall infolge einer in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Maßnahmen die Krankenkasse eine Kostenbeteiligung und Krankengeldversagung vorsieht. Diese möglichen künftigen Kosten hat derjenige, der eine solche Maßnahme an sich vornehmen ließ, nicht berücksichtigen können, indem er sich beispielsweise privat gegen dieses Risiko versichert hätte. Dieser Vertrauenstatbestand führt aber nur dann zur Unzulässigkeit der unechten Rückwirkung des § 52 Abs. 2 SGB V bzw. zur Verfassungswidrigkeit der Regelung, wenn „die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen

97, 67 (79); 105, 17 (37 f.); 109, 133 (181); Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 141 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 69. 547 Vießmann, VSSR 2010, 105 (130). 548 Sodan, NZS 2003, 393 (397). So auch Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 28. 549 BVerfGE 43, 291 (391); 63, 152 (175); 69, 272 (309); 74, 129 (155); 123, 186 (257). 550 BVerfGE 14, 288 (299); 38, 61 (83); 48, 403 (416); 68, 193 (222); 105, 17 (40); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 126. 551 BVerfGE 69, 272 (309). Siehe auch BVerfGE 51, 356 (363); 63, 152 (175); 109, 133 (181).

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteigt“.552 Das ist dann der Fall, wenn die „vom Gesetzgeber angeordnete Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen“.553 Dabei könne sich der Einzelne, so das Bundesverfassungsgericht, „gegenüber gesetzlichen Änderungen dann nicht auf sein Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung berufen, wenn dieses Vertrauen unter Berücksichtigung der gesamten Umstände billigerweise eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber nicht beanspruchen kann“.554 „Gerade in der Sozialversicherung“ müsse der Gesetzgeber, so Papier, „die Möglichkeit behalten, aus Gründen des Allgemeinwohls, insbesondere wegen gesellschafts-, sozial- und finanzpolitischer Veränderungen und zur Wahrung der Belastbarkeitsgrenzen der Solidargemeinschaft, das geltende Recht zu ändern“.555 Die tatbestandliche Anknüpfung des § 52 Abs. 2 SGB V an eine möglicherweise vor Inkrafttreten vorgenommene Maßnahme ist zunächst geeignet, um die systemfremden Gesundheitsgefahren, die sich in der Folge derartiger Maßnahmen wunscherfüllender Medizin verwirklichen, zumindest teilweise der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu überlassen.556 Eine Eingrenzung der Regelung auf medizinisch nicht indizierte Maßnahmen, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens vorgenommen wurden, würde die praktische Anwendung der Leistungsbeschränkung erheblich erschweren, da die leistungsbeschränkende Krankenkasse den Zeitpunkt der Maßnahme erforschen und nachweisen müsste.557 Somit erscheint die Rückwirkung auch erforderlich. Die Bestandsinteressen des Versicherten stehen dem gesetzgeberischen Anliegen gegenüber, systemfremde Gesundheitsrisiken zumindest teilweise aus der Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenversicherung herauszunehmen und die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten entsprechend zu ent552 BVerfGE 40, 65 (76). Siehe auch BVerfGE 30, 250 (268); 36, 73 (82); 43, 291 (391); 48, 403 (416); 50, 386 (395); 51, 356 (363); 63, 312 (329 f.); 64, 87 (104); 72, 175 (196); 76, 256 (356); 101, 239 (263); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 127. 553 BVerfGE 95, 64 (86). Siehe auch BVerfGE 101, 239 (263); 103, 392 (403); Vießmann, VSSR 2010, 105 (131). 554 BVerfGE 69, 272 (310). Siehe auch BVerfGE 14, 288 (330); 24, 220 (230); 51, 356 (363). 555 Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 132. Siehe auch BVerfGE 24, 220 (230); 51, 356 (363). Vießmann, VSSR 2010, 105 (131), meint, angesichts des großen Gestaltungsspielraums des Sozialgesetzgebers „wird bei Gesetzesänderungen, die das Leistungsspektrum beschneiden, das Vertrauensschutzprinzip nur äußerst selten verletzt sein“. 556 Zum Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V siehe zusammenfassend in diesem Kapitel unter B. III. 557 Die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 52 Abs. 2 SGB V liegt bei der Krankenkasse; vgl. Nachweise in Fn. 321 in diesem Teil.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

lasten. Der Versicherte, der in der Absicht handelte, seinen Körper und damit das in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Gut zu verändern, kann nicht beanspruchen, dass die Solidargemeinschaft, die das Risiko der Krankheit als Wechselfall des Lebens absichert, auch bei Verwirklichung eines solchen außerhalb der allgemeinen Lebensführung gesetzten Gesundheitsrisikos eintritt. Zu berücksichtigen ist auch, dass der betroffene Versicherte nur in angemessener Höhe an den Krankenbehandlungskosten beteiligt wird und auch das Krankengeld unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation ganz oder teilweise versagt wird.558 Insofern ist die Einwirkung auf das geschützte Vertrauen des Versicherten, volle Leistungen auch in den in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Fällen zu erhalten, abgemildert. In der Interessenabwägung verdient somit das mit § 52 Abs. 2 SGB V verfolgte gesetzgeberische Anliegen den Vorrang vor dem Vertrauensschaden des Versicherten. Folglich handelt es sich bei der Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V nicht um einen Fall unzulässiger, unechter Rückwirkung, sodass die Regelung nicht gegen die rechtsstaatlichen Anforderungen des Vertrauensschutzes verstößt. c) Verhältnismäßigkeit des § 52 Abs. 2 SGB V ? Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V müsste zudem den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.559 Das bedeutet, die Regelung muss für einen mit ihr verfolgten legitimen Zweck des Allgemeininteresses geeignet, erforderlich und angemessen sein.560 Die legitimen Zwecke des Gemeinwohls kann der parlamentarische Gesetzgeber frei bestimmen, solange sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind.561 Mit § 52 Abs. 2 SGB V will der Gesetzgeber bestimmte systemfremde Gesundheitsgefahren zumindest teilweise aus der Fremdverantwortung der 558

Siehe hierzu in diesem Kapitel unter A. IV. Dabei ist auch darauf zu achten, dass der Lebensunterhalt des Versicherten und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen gesichert bleibt, ohne auf nachrangige Sozialleistungen, wie beispielsweise solche zur Grundsicherung, angewiesen zu sein. 559 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der auch als Übermaßverbot bezeichnet wird, gehört zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG; siehe BVerfGE 19, 342 (348 f.); 23, 127 (133); 61, 126 (134); 69, 1 (35); 76, 1 (50); 92, 277 (326); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 41; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 107; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 146; Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 60 ff.; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 65. Zum Streit über die Rechtsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes siehe zusammenfassend Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 108. 560 BVerfGE 61, 126 (134); 76, 1 (50 f.); 97, 271 (286); 105, 17 (34 ff.); 109, 133 (157 ff.); 110, 141 (157, 164 f.); Papier, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 3 Rn. 122; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 41; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 110 ff.; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 149 ff.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 314; Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 62 ff.; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 67 ff. 561 Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 63; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 149; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 111; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 20 Rn. 314.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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gesetzlichen Krankenkasse herausnehmen und der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V überlassen.562 Die Auflistung in § 52 Abs. 2 SGB V erfasst sämtliche medizinischen, instrumentellen Eingriffe in den menschlichen Körper, die der subjektiven Zielrichtung des Patienten folgen, sein äußeres Erscheinungsbild entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren, und vergleichbare nicht-medizinische Eingriffe sowie Piercings und Tätowierungen.563 Derartige Maßnahmen wunscherfüllender Medizin und des Enhancements, die in den letzten Jahren zugenommen haben,564 nimmt der Versicherte in erster Linie in der Absicht vor, seinen Körper zu verändern, ohne dass dies medizinischen Heilzwecken dient.565 Es handelt sich hierbei um Gesundheitsrisiken, die nicht auf Wechselfälle des Lebens oder die allgemeine Lebensführung des Versicherten zurückzuführen und insofern von den in der Sozialversicherung typischerweise abzudeckenden Risiken566 zu unterscheiden sind. Mit der zumindest teilweisen Herausnahme derartiger Risiken verfolgt der Gesetzgeber letztlich das legitime Ziel die gesetzliche Krankenversicherung entsprechend ihres Wesens als Sozialversicherung den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Zur Beschränkung des sozialversicherten Erkrankungsrisikos auf die Gefahren, die die allgemeine Lebensführung mit sich bringt, ist der Gesetzgeber auch mit Blick auf die Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflichten derjenigen Versicherten, die derartige wunscherfüllende Maßnahmen nicht an sich vornehmen lassen, angehalten. Die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V ist geeignet, diese Zielsetzung zu erfüllen. „Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt“, formuliert das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung.567 Bei der Beurteilung dessen hat der Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs- und Prognosespielraum.568 Nach § 52 562 Der Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V ist in diesem Kapitel unter B. ausführlich untersucht und in B. III. zusammenfassend festgehalten. 563 Siehe in diesem Kapitel unter A. II. 564 Siehe hierzu in diesem Teil, Kapitel 1, A. I. 1. sowie II. und III. 565 Siehe zu dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Enhancement und Wunschmedizin die im vorherigen Kapitel 1 dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellten Definitionen. Enhancement umfasst danach im Unterschied zur Wunschmedizin auch solche Maßnahmen – wie z. B. Tätowierungen und Piercings –, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden. 566 Siehe im 1. Teil, Kapitel 2, B. V. 567 BVerfGE 103, 293 (307); 115, 276 (308); 116, 202 (224). Siehe auch BVerfGE 30, 292 (316); 109, 279 (336); 110, 141 (164); 117, 163 (188 f.); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 150; Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 64; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 67; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 112; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 314. 568 BVerfGE 25, 1 (12 f.); 103, 293 (307); 104, 337 (347 f.); 105, 17 (34); 109, 133 (157); 110, 141 (157 f.); 110, 177 (194); 115, 276 (308); 116, 202 (224); Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 122; Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 64; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 70.

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Abs. 2 SGB V haben Versicherte, die infolge einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercing erkrankt sind, einen angemessenen Anteil an den Krankenbehandlungskosten zu tragen und keinen oder nur einen verminderten Anspruch auf Krankengeld. Verwirklicht sich das mit der wunscherfüllenden medizinischen Maßnahme gesetzte Gesundheitsrisiko trägt der betroffene Versicherte dieses bzw. dessen finanziellen Folgen also zumindest teilweise selbst. Die Fremdverantwortung seiner Krankenkasse und damit der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten ist insofern beschränkt und die Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V besteht. Fraglich ist, ob die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V auch erforderlich ist, um derartige systemfremde Risiken der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen. Dies ist der Fall, „wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können“.569 Ein milderes, aber ebenso effektives Mittel zur Erreichung des gewünschten Erfolges darf also nicht ersichtlich sein.570 Gemäß § 52 Abs. 2 SGB V wird das mit der wunscherfüllenden medizinischen Maßnahme gesetzte Gesundheitsrisiko erst dann der Eigenverantwortung des Versicherten überlassen, wenn sich dieses Risiko verwirklicht hat. Der betroffene Versicherte sieht sich in seiner Erkrankungssituation einer für ihn vorher nicht abschätzbaren Kostenforderung und einer fehlenden oder verminderten Entgeltersatzleistung ausgesetzt. Der Bundesverband der Deutschen Chirurgen warf im Gesetzgebungsverfahren die Frage auf, wie „es sich bei schwerwiegenden, teilweise lebensbedrohlichen und damit unweigerlich die Finanzkraft des Einzelnen übersteigenden Komplikationen – wie ein Narkosezwischenfall, eine Sepsis oder Massenblutung“ verhielte.571 Zwar sieht die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V einen Überforderungsschutz572 des erkrankten Versicherten vor, dennoch würde eine bereits vorher eingreifende, für den Versicherten absehbare Zahlungspflicht einen milderen Eingriff in seine Handlungsfreiheit bedeuten. Anstatt der nachträglichen und unberechenbaren Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V wäre die Erhebung eines bei bzw. vor der 569

BVerfGE 30, 292 (316). Siehe auch BVerfGE 77, 84 (109); 105, 17 (36); 113, 167 (252). BVerfGE 81, 70 (90); 88, 145 (164); 100, 313 (375); 110, 141 (164); 116, 202 (225); 117, 163 (189); 120, 274 (321); Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 65; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 68; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 314; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 152; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 113. 571 Dies fragt der Bundesverband der Deutschen Chirurgen (BDC) in einem Brief an den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags, zitiert nach Zykla-Menhorn, Deutsches Ärzteblatt 2008, B1332 (B1332). 572 Der erkrankte Versicherte wird in angemessener Höhe an den Krankenbehandlungskosten beteiligt wird und das Krankengeld wird unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation ganz oder teilweise versagt. Dabei ist auch darauf zu achten, dass der Lebensunterhalt des Versicherten und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen gesichert bleibt, ohne auf nachrangige Sozialleistungen, wie beispielsweise solche zur Grundsicherung, angewiesen zu sein. Siehe hierzu in diesem Kapitel unter A. IV. 570

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Durchführung der wunscherfüllenden medizinischen Maßnahme versicherungstechnisch berechneten Beitragszuschlags als milderes Mittel denkbar.573 Auf diese Weise könnte gleichermaßen die gesetzgeberische Zielsetzung, die Fremdverantwortung der Krankenkasse für derartige systemfremde Gesundheitsrisiken zu beschränken und damit insoweit die Eigenverantwortung des Versicherten vorzusehen, verfolgt werden. Aufgrund des Beurteilungs- und Prognosevorrangs574 des Gesetzgebers ist das Merkmal der Erforderlichkeit aber nur dann zu verneinen, „wenn bei dem als Alternative vorgeschlagenen geringeren Eingriff in jeder Hinsicht eindeutig feststeht, dass er einen bestimmten Zweck sachlich gleichwertig erreicht“.575 „Es ist vornehmlich Sache des Gesetzgebers, auf der Grundlage seiner wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Gebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will“, schreibt das Bundesverfassungsgericht.576 Die Erhebung eines Beitragszuschlags577 erscheint zwar als eine mit Blick auf den Normzweck gleichwertig geeignete Alternative zur Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V. Insbesondere aufgrund der vielfältigen Aspekte der praktischen Umsetzung und unter Berücksichtigung des Beurteilungsvorrangs des Gesetzgebers kann dies aber aus Sicht der Judikative nicht eindeutig festgestellt werden, sodass hier weiter zu prüfen ist, inwieweit § 52 Abs. 2 SGB V verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt, dass eine „Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe ergibt, daß die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt ist, also die Betroffenen nicht übermäßig belastet sind“.578 Die Verhältnismäßigkeit in diesem Sinne, die auch als Angemessenheit oder Proportionalität bezeichnet wird, setzt also voraus, dass die Beeinträchtigung der betroffenen Versicherten durch die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V nicht außer Verhältnis oder in unangemessenem Verhältnis zu dem gesetzgeberischen Ziel steht, die mit wunschmedizinischen Maßnahmen verbundenen Gesundheitsrisiken aus der Fremdverant573 Hinsichtlich möglicher Leistungsausschlüsse bei bestimmten Krankheitsursachen sieht Eykmann, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentlich-rechtlichen Gewährleistungen im Gesundheitswesen, S. 29, 33, 38, einen Risikozuschlag „als mildere Variante“ an, der „aber insbesondere mit Blick auf die Freiheitsrechte ebenfalls nicht ganz unbedenklich“ sei. 574 BVerfGE 102, 197 (218); 104, 337 (347 f.); 110, 177 (195); 115, 276 (309); 116, 202 (225); 120, 274 (321). 575 BVerfGE 105, 17 (36). Siehe auch BVerfGE 25, 1 (19 f.); 30, 292 (319); 77, 84 (109 ff.); 102, 197 (218); 113, 167 (252); 117, 163 (189); Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 114; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 153. 576 BVerfGE 113, 167 (252). Siehe auch BVerfGE 103, 293 (307); 115, 276 (308); 116, 202 (224). 577 Siehe hierzu im folgenden Kapitel. 578 BVerfGE 101, 331 (350). Siehe auch BVerfGE 81, 70 (92); 100, 313 (375 f.); 102, 197 (220); 118, 168 (195); 120, 274 (321 f.); Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 66; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 154; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 117.

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wortung der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten herauszunehmen und der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen. Verfolgt jemand das Ziel, seinen Körper entsprechend seinen eigenen Idealvorstellungen zu perfektionieren, und zahlt insofern die teilweise recht hohen Kosten wunschmedizinischer Maßnahmen selbst,579 ist es ihm grundsätzlich auch zumutbar, das damit gesetzte Erkrankungsrisiko in Eigenverantwortung zu tragen. Problematisch ist jedoch, dass die Krankenbehandlungskosten sowie der eventuelle Einkommensausfall für den betroffenen Versicherten völlig unberechenbar sind, sodass der infolge einer in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Maßnahme Erkrankte durch die Leistungsbeschränkung in eine für ihn unvorhersehbare finanzielle Situation gebracht wird. Insbesondere beim Eintreten massiver Erkrankungen erscheint die nachträgliche und in ihrem Umfang für den Versicherten unvorhersehbare Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V unzumutbar. Dies gilt vor allem mit Blick auf den Gesetzeszweck, der gerade nicht darin besteht, solidarwidriges Verhalten zu sanktionieren, sondern lediglich systemfremde Risiken zumindest teilweise aus dem Versicherungsschutz herauszunehmen. Dem könnte entgegengehalten werden, dass es demjenigen, der eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing an sich vornehmen lässt, natürlich freisteht, sich privat gegen das Risiko, infolge dieser Maßnahme zu erkranken und nach § 52 Abs. 2 SGB V in seinen krankenversicherungsrechtlichen Leistungen beschränkt zu sein, zu versichern. Beispielsweise weist Schulin darauf hin, dass die negativen Folgen einer krankenversicherungsrechtlichen Leistungsbeschränkung durch private Zusatzversicherungen ausgeglichen werden könnten.580 Faktisch ist es dem Betroffenen aber regelmäßig unmöglich, sich privat gegen diese Risken zu versichern, denn er erfährt erst bei der Behandlung der Folgeerkrankung,581 dass er gemäß § 52 579

Siehe hierzu in diesem Teil, Kapitel 1, D., insbesondere Fn. 279. Schulin, VSSR 1997, 43 (51 f.). 581 Gemäß § 294a Abs. 2 SGB V haben Vertragsärzte und Krankenhäuser nach § 108 SGB V den Krankenkassen bei Anhaltspunkten für einen Versicherungsfall im Sinne des § 52 Abs. 2 SGB V eine Mitteilung zu machen und gleichsam die Versicherten über diese Meldung zu informieren. Siehe hierzu in diesem Kapitel im Abschnitt C. II. Zwar hat der Arzt, der eine nicht indizierte ästhetische Operation durchführt, seinen Patienten auch über die möglichen wirtschaftlichen Folgen dieser Behandlung, wie u. a. auch mögliche Folgebehandlungskosten und die insofern beschränkte Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse aufzuklären; siehe hierzu in diesem Teil, Kapitel 1, D. und Kapitel 2, C. I. Zweifelhaft ist, inwieweit Ärzte sowie die Personen, die Tätowierungen und Piercings vornehmen, sich dieser zivilrechtlichen Aufklärungspflicht überhaupt bewusst sind und ihr auch nachkommen; Teichner/Schröder, MedR 2009, 586 (590); Jansen, ZaeFQ 2006, 655 (656). Die gesetzlichen Krankenkassen jedenfalls trifft keine explizite Pflicht ihre Versicherten über die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V aufzuklären. Bernzen, MedR 2008, 549 (552) schreibt, es finde sich „gar kein geregelter Gedanke“ dazu, „dass der Versicherte vorab überhaupt auf die neuen Bestimmungen hinzuweisen sei“. Die Krankenkassen sind lediglich allgemein gemäß §§ 13 und 14 SGB I i. V. m. § 21 Abs. 2 SGB I dazu verpflichtet, die Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung aufzuklären und bei Bedarf zu beraten. Allgemeine Informationen zur Leistungsbeschränkung 580

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Abs. 2 SGB V an den Kosten dieser Behandlung beteiligt wird, und dass er keinen oder nur einen verminderten Anspruch auf Krankengeld hat. Im Ergebnis ist somit die nachträgliche und für den betroffenen Versicherten in ihrem Umfang unvorhersehbare Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel, bestimmte systemfremde Gesundheitsrisiken zumindest teilweise der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen, jedenfalls nicht angemessen und missachtet daher den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. d) Wahrung des Gebotes der Normenklarheit Die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V könnte zudem hinsichtlich des rechtsstaatlichen Gebots der Normenklarheit bzw. Bestimmtheit582 mit der Verfassung unvereinbar sein. Das allgemeine Bestimmtheitsgebot verpflichtet den Gesetzgeber, Vorschriften so klar zu fassen, dass „die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können“.583 Der Gesetzgeber ist aber nicht gezwungen, „den Tatbestand mit genau erfaßbaren Maßstäben zu umschreiben“.584 Er kann vielmehr unbestimmte bzw. auslegungsbedürftige und -fähige Rechtsbegriffe verwenden.585 „Die Notwendigkeit der Auslegung einer gesetzlichen Begriffsbestimmung nimmt ihr noch nicht die Bestimmtheit, die der Rechtsstaat von einem Gesetz fordert“, so das Bundesverfassungsgericht586 und erläutert diesbezüglich: „der Gesetzgeber muß sich abstrakter und unbestimmter Formulierungen bedienen können, um die Verwaltungsbehörden in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben, den besonderen Umständen des einzelnen Falles und den schnell wechselnden Situationen des Lebens gerecht zu werden“587. Tatbestandliche Voraussetzung des § 52 Abs. 2 bei Krankheiten infolge von Schönheitsoperationen lassen sich aber beispielsweise auf den Internetseiten großer Krankenkassen kaum finden. Dies stellte auch Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 173, fest. 582 BVerfGE 17, 306 (313 f.); 31, 255 (264); 35, 382 (400); 49, 168 (181); 56, 1 (12); 78, 205 (212); 84, 133 (149); 87, 234 (263); 89, 69 (84); 93, 213 (238); 103, 21 (33); 108, 186 (234 f.); 111, 54 (82); Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 59; Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 55; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I Rn. 41; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 129 ff. 583 BVerfGE 78, 205 (212). Siehe auch BVerfGE 17, 306 (314); 21, 73 (79); 31, 255 (264); 56, 1 (12); 87, 234 (263); 37, 132 (142); 108, 186 (235); 120, 274 (316); Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1 Rn. 59. 584 BVerfGE 84, 133 (149). Siehe auch BVerfGE 49, 168 (181); 78, 205 (212); 87, 234 (263). 585 BVerfGE 31, 255 (264); 37, 132 (142); 49, 168 (181); 56, 1 (12); 78, 214 (226); 87, 234 (263); 92, 262 (272); 103, 21 (33); Leisner, in: Sodan, GG, Art. 20 Rn. 55; Roellecke, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 20 Rn. 85; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 133. 586 BVerfGE 78, 205 (212). Siehe auch BVerfGE 17, 306 (314); 31, 255 (264); 87, 234 (263). 587 BVerfGE 56, 1 (12).

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

SGB V ist u. a. eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn aus ärztlicher Sicht ausgehend von der zuvor im konkreten Einzelfall bestandenen Krankheitslage kein Grund besteht, der die Durchführung der Operation ausreichend rechtfertigt.588 Die ausführliche Untersuchung des Begriffs medizinische Indikation hat jedoch gezeigt, dass dessen Bedeutungsgehalt sowohl unter Medizinern als auch Juristen, insbesondere im Zusammenhang mit Schönheitsoperationen, unterschiedlich verstanden wird und insofern für die Anwendung des § 52 Abs. 2 SGB V eine gewisse Rechtsunsicherheit birgt.589 Fraglich ist, ob aufgrund der mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der medizinischen Indikation verbundenen Rechtsunsicherheit bereits eine verfassungswidrige Unbestimmtheit der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB Veinhergeht. Das Ausmaß der verfassungsrechtlich erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht allgemein festlegen, sondern „hängt vielmehr von der Eigenart des geregelten Sachverhalts ab, insbesondere auch davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist“.590 Der Gesetzgeber ist demnach „gehalten, seine Vorschriften so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“.591 Das Bundesverfassungsgericht stellt darüber hinaus klar, dass grundsätzlich „nur ausnahmsweise wegen Unbestimmtheit der Verstoß eines Gesetzes gegen rechtsstaatliche Grundsätze festgestellt werden“ könne, wobei „es u. U. entscheidend auf die Folgen“ ankäme, „die im sozialen Leben und im Rechtsverkehr von der Unbestimmtheit abhängen“.592 Bei der mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der medizinischen Indikation verbundenen Rechtsunsicherheit handelt es sich nicht um eine so schwerwiegende Unklarheit, dass die Betroffenen den grundsätzlichen Anwendungsbereich der Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V nicht erkennen könnten. Die Auswirkungen der Begriffsunklarheit sind auch insofern begrenzt, als dass diese tatbestandliche Voraussetzung aus ärztlicher Sicht und unter Berücksichtigung des jeweiligen Stands der medizinischen Wissenschaft zu beurteilen ist. Die dadurch bedingten Auslegungsschwierigkeiten folgen aus der Verschiedenheit ästhetischer Operationen sowie Krankheitssituationen und sind insofern im Rahmen einer gesetzlichen Regelung ohnehin nicht gänzlich vermeidbar. Die mit der tatbestandlichen Voraussetzung des Nichtbestehens einer medizinischen Indikation einhergehende Rechtsunsicherheit führt somit nicht bereits zu einer verfassungswidrigen Unbestimmtheit der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V. 588

Siehe in diesem Kapitel, A. II. Siehe in diesem Teil, Kapitel 1 unter B. III. 590 BVerfGE 56, 1 (12). Siehe auch BVerfGE 108, 186 (235); 89, 69 (84 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 135. 591 BVerfGE 93, 213 (238). Siehe auch BVerfGE 59, 104 (114); 78, 205 (212); 87, 234 (263); 89, 69 (84). 592 BVerfGE 17, 67 (82). Vgl. auch BVerfGE 59, 36 (52); Roellecke, in: Umbach/Clemens, GG I, Art. 20 Rn. 81. 589

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Festzuhalten ist, dass die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt und daher nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist und folglich einen Eingriff in Freiheitsrechte des Betroffenen auch nicht rechtfertigen kann. II. Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgebot Darüber hinaus könnte § 52 Abs. 2 SGB V gegen das Gebot der Gleichbehandlung bzw. das Verbot der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Dies setzt zunächst voraus, dass aufgrund der Regelung wesentlich Gleiches ungleich593 behandelt wird. Eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bedeutet, dass eine Person oder ein Sachverhalt auf eine bestimmte Weise rechtlich behandelt wird, eine andere Person oder ein anderer Sachverhalt auf andere Weise rechtlich behandelt wird und beide Personen oder Sachverhalte miteinander vergleichbar sind.594 Eine solche Vergleichbarkeit bedarf eines Bezugspunkts als gemeinsamen Oberbegriff. Die hier zu prüfende Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V sieht eine Leistungsbeschränkung für erkrankte Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung vor, wenn die Erkrankung auf bestimmte vom Betroffenen gesetzte Gesundheitsrisiken zurückzuführen ist. Leistungsrechtlich unberücksichtigt bleibt hingegen, wenn gesetzlich Krankenversicherte zwar dieselben Gesundheitsrisiken eingehen, sich diese aber nicht verwirklichen. Zudem werden andere gesetzlich Krankenversicherte, die unter Umständen ihre Gesundheit in anderer Weise gefährdet haben, im Fall einer daraus resultierenden Erkrankung nicht in ihrem Leistungsanspruch beschränkt. Außerdem sind die Betroffenen nach § 52 Abs. 2 SGB V in ihren Leistungen zu beschränken, während bei nach § 52 Abs. 1 SGB V leistungsbeschränkten verhaltensbedingten Erkrankungen die Betroffenen eine mildere Rechtsfolge trifft. § 52 Abs. 2 SGB V birgt daher eine Ungleichbehandlung gesetzlich Krankenversicherter unter verschiedenen Aspekten. Gemeinsamer Bezugspunkt ist zum einen die Vornahme einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings bei einem gesetzlich Krankenversicherten. Erkrankt er infolgedessen, greift die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V, erkrankt er nicht, bleibt der Umstand, dass er dieses Gesundheitsrisiko eingegangen ist, unberücksichtigt. Differenzierungskriterium ist dabei die Inanspruchnahme von Krankenversicherungsleistungen bei Verwirklichung dieses Gesundheitsrisikos bzw. der Eintritt einer Folgeerkrankung. Weiterer gemeinsamer Bezugspunkt ist der Eintritt des Versicherungsfalls der Erkrankung, die auf das Verhalten des gesetzlich Krankenversicherten zurückzuführen ist. Differenzierungskriterium ist insoweit das gesetzte Gesundheitsrisiko einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings, das sich verwirklicht haben muss. Mit § 52 Abs. 2 SGB V geht daher eine 593 594

BVerfGE 1, 14 (16, 52); 49, 148 (165); 113, 167 (214). Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 11 Rn. 467; Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 9 f.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Ungleichbehandlung erkrankter gesetzlich Krankenversicherter einher, da nur bestimmte selbst gesetzte Gesundheitsrisiken zu einer Leistungsbeschränkung führen und andere nicht. Darüber hinaus besteht eine Vergleichbarkeit zu anderen nach § 52 Abs. 1 SGB V verhaltensbedingt erkrankten Versicherten, die in ihren krankenversicherungsrechtlichen Leistungen beschränkt werden. In dieser Vergleichsgruppe ist angesichts der unterschiedlichen Härte der Rechtsfolgen eine Ungleichbehandlung auszumachen. Die mit § 52 Abs. 2 SGB V verbundenen Ungleichbehandlungen gesetzlich Krankenversicherter könnten jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Zur Beurteilung der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen hat das Bundesverfassungsgericht zunächst die sogenannte Willkürformel595 aufgestellt, wonach eine Ungleichbehandlung bereits dann gerechtfertigt bzw. als willkürfrei zu akzeptieren ist, wenn sich nur irgendein sachlicher Grund dafür anführen lässt. Strengere Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen stellte das Bundesverfassungsgericht aber mit der sogenannten neuen Formel auf, wonach Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist, wenn zwischen den Vergleichsgruppen „keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.596 Die Ungleichbehandlung muss einem legitimen Zweck bzw. einem mit der Verfassung zu vereinbarenden Differenzierungsziel dienen und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sein sowie in einem angemessenen Verhältnis zum Ziel bzw. rechtfertigenden Grund stehen. Das bedeutet, der Grund für die Ungleichbehandlung muss höher wiegen als das Interesse der ungleich behandelten Gruppe. Die Frage, welche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Einzelfall zu stellen ist, macht das Bundesverfassungsgericht davon abhängig, wie intensiv die Ungleichbehandlung die Betroffenen beeinträchtigt. Demnach unterliege der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personen regelmäßig der strengen Bindung, die aber nicht auf personenbezogene Differenzierungen beschränkt sei, sondern vielmehr auch dann gelte, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten indirekt die Ungleichbehandlung von Personen bewirke.597 Letzteres ist hier der Fall; § 52 Abs. 2 SGB V 595 BVerfGE 1, 14 (16 f., 52); 23, 98 (106 f.); 50, 142 (162); 55, 72 (90); 91, 389 (401); 107, 27 (46); 113, 167 (214); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 14. Das Gleichheitsgebot nach Art. 3 Abs. 1 GG wird insofern auch als Willkürverbot bezeichnet. Dies geht im Wesentlichen auf folgende Feststellung in BVerfGE 1, 14 (16, 52) zurück, dass der Gleichheitssatz verbiete, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln. 596 Hierzu und zum Folgenden siehe BVerfGE 55, 72 (88); 60, 123 (133 f.); 82, 126 (146); 105, 73 (110); 107, 133 (141); 111, 115 (137); 112, 50 (67); 113, 167 (215); 117, 316 (325); 121, 317 (369); 126, 29 (47 f.); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 14; Sachs, JuS 1997, 124 (125 ff.); Ipsen, Staatsrecht II, § 19 Rn. 807 ff. Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 11 Rn. 473, weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Staat jedoch frei sei, derartige Unterschiede erst zu schaffen. 597 BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22 f.); 95, 267 (316); 99, 367 (388); 110, 274 (291); 121, 317 (369 f.).

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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macht die leistungsrechtliche Berücksichtigung eines durch den gesetzlich Krankenversicherten selbst begründeten Gesundheitsrisikos von der Art des Gesundheitsrisikos und vom Eintritt einer Folgeerkrankung abhängig. Anknüpfungspunkt ist daher zunächst ein bestimmtes Verhalten des Versicherten. Bei solchen lediglich verhaltensbezogenen Differenzierungen hinge „das Maß der Bindung davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird“, so das Bundesverfassungsgericht.598 Zudem seien „dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers um so engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann“. Der unterschiedliche Bindungsmaßstab entspricht der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums,599 der gerade auch im Sozialversicherungsrecht besonders ausgeprägt ist.600 Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V differenziert – wie bereits erläutert – nach der Art des Gesundheitsrisikos und knüpft zudem an die Inanspruchnahme von Krankenversicherungsleistungen bei Eintritt einer daraus resultierenden Erkrankung an. Die Differenzierungskriterien sind daher sachverhaltsbezogen und führen nur mittelbar zu einer Ungleichbehandlung von Personen. Die von der Leistungsbeschränkung Betroffenen sind die genannten Gesundheitsrisiken selbst aufgrund ihres eigenen Verhaltens und Willens eingegangen, wenn sie auch deren Verwirklichung bzw. den Eintritt einer Folgeerkrankung nicht beeinflussen konnten. Mit Blick auf den freiheitsbeschränkenden Charakter krankenversicherungsrechtlicher Leistungsbeschränkungen, der sich in Anbetracht der Versicherungspflicht nach § 5 SGB V ergibt, sind die mit § 52 Abs. 2 SGB V verbundenen Ungleichbehandlungen gesetzlich Krankenversicherter jedoch an dem strengeren Maßstab der neuen Formel zu messen.601 Zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlungen bedarf es somit eines sachlichen Grundes bzw. eines Unterschieds zwischen den Vergleichsgruppen, der so gewichtig ist, dass er die ungleiche Behandlung rechtfertigt. Die mit § 52 Abs. 2 SGB V einhergehenden Ungleichbehandlungen sind verfassungsrechtlich nur dann zu akzeptieren, wenn sie einem legitimen Zweck dienen und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind und in einem angemessenen Verhältnis zum Ziel stehen.

598 Dieses und das folgende Zitat aus BVerfGE 88, 87 (96) und wortgleich in BVerfGE 89, 15 (22 f.); 95, 267 (316 f.). Siehe hierzu auch BVerfGE 60, 123 (134); 82, 126 (146); 99, 367 (388); 107, 133 (141); 111, 160 (169); 122, 39 (52); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 15. 599 BVerfGE 88, 87 (96 f.); 89, 15 (23); 95, 267 (317); 99, 367 (389). 600 BVerfGE 49, 148 (165); 60, 123 (134); 113, 167 (215); 122, 151 (174); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 19; Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 11 Rn. 478. 601 Ähnlich auch BVerfGE 97, 271 (290 f.). Siehe zu dem mit § 52 Abs. 2 SGB V verbundenen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit im vorherigen Abschnitt I. 3.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

1. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Vergleich zu nicht erkrankten Versicherten, die dasselbe Gesundheitsrisiko eingegangen sind § 52 Abs. 2 SGB V birgt, wie bereits aufgezeigt, eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu denjenigen gesetzlich Krankenversicherten, die ebenfalls eines der genannten, systemfremden Gesundheitsrisiken eingegangen sind, infolgedessen jedoch nicht erkrankten. Der Gesetzgeber verfolgt damit das legitime Ziel, die Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse bei systemfremden Gesundheitsrisiken zu beschränken und insoweit die Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V einzufordern.602 Als Differenzierungskriterium hat der Gesetzgeber nicht das Eingehen des systemfremden Gesundheitsrisikos, sondern – ähnlich der Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 1 SGB V – die Inanspruchnahme der Solidargemeinschaft gesetzlich Krankenversicherter bei dessen Verwirklichung bzw. beim Eintritt einer Folgeerkrankung gewählt. Das Differenzierungskriterium ist zur Erreichung des legitimen gesetzgeberischen Ziels geeignet. Der für die Ungleichbehandlung entscheidende Umstand, dass der Versicherte krankenversicherungsrechtliche Leistungen überhaupt in Anspruch nimmt, stellt einen so gewichtigen Unterschied innerhalb der Vergleichsgruppe dar, dass dieses Differenzierungskriterium unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens auch erforderlich und angemessen erscheint.603 Somit ist diese mit § 52 Abs. 2 SGB V einhergehende Ungleichbehandlung gerechtfertigt. 2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen verhaltensbedingt erkrankten Versicherten, deren krankenversicherungsrechtliche Leistungen nicht beschränkt werden Nach § 52 Abs. 2 SGB V werden diejenigen erkrankten gesetzlich Krankenversicherten, deren Erkrankung auf eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zurückzuführen ist, im Vergleich zu denjenigen erkrankten gesetzlich Krankenversicherten rechtlich nachteilig behandelt, deren Erkrankung auf anderen, selbst gesetzten Gesundheitsrisiken beruht. Der Gesetzgeber nimmt damit die mit den in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Maßnahmen verbundenen Gesundheitsgefahren zumindest teilweise aus der Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse heraus und überlässt sie der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V.604 Kruse stellt die 602 Der Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V ist in diesem Kapitel unter B. ausführlich untersucht und in B. III. zusammenfassend festgehalten. 603 Davon zu trennen ist die Frage der Verhältnismäßigkeit der Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V insgesamt, die entsprechend der Prüfung im vorherigen Abschnitt I. 3. c) verneint werden muss. 604 Siehe in diesem Kapitel, B. III.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Frage, ob dadurch „nicht bereits in einer zu verallgemeinernden Weise auf gesundheitsschädliche Lebensführung reagiert“ werde, und warum „dann andere Verhaltensweisen wie etwa Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, extrem gesundheitsgefährdende Ernährungsweise“ nicht einer Leistungsbeschränkung unterliegen, „und ob in der Differenzierung bereits eine Verletzung des Schutzbereichs von Art. 3 GG zu sehen ist“.605 Auch Eberbach wirft die Frage nach belastbaren Differenzierungskriterien auf, die dem Maßstab des Gleichheitsgebots genügen.606 „Wenn der eigenverantwortliche Entschluß der genügende Grund ist, dem Betroffenen gesundheitliche Folgekosten aufzubürden, ist jede Grenzziehung gegenüber weiteren vergleichbaren, aber doch nicht sanktionierten Handlungen Willkür“, schreibt Eberbach.607 Nach Reimer und Merold werfe § 52 Abs. 2 SGB V verfassungsrechtliche Bedenken auf, „weil, verglichen mit anderen verhaltensbedingten Krankheitskosten, keine erhebliche Last für die Solidargemeinschaft“ entstehe.608 Das mit § 52 Abs. 2 SGB V verfolgte Differenzierungsziel besteht jedoch in erster Linie nicht darin, Krankheitskosten zu reduzieren, die verhaltensbedingt entstehen bzw. lediglich auf dem eigenen Entschluss des Versicherten beruhen. Vielmehr besteht der Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V darin, bestimmte, systemfremde Gesundheitsgefahren zumindest teilweise aus der Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse herauszunehmen und der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu überlassen.609 Zwar widerspricht eine solche Risikoherausnahme grundsätzlich dem sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzip als einer vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit und löst daher insbesondere mit Blick auf Gleichheitserwägungen eine Begründungs- und Rechtfertigungspflicht des Gesetzgebers aus.610 Ein direkter Verstoß des § 52 Abs. 2 SGB V gegen das Solidarprinzip konnte jedoch in Anbetracht der speziellen Eigenart der gegenständlichen Gesundheitsrisiken nicht festgestellt werden.611 Die in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Maßnahmen gehören dem Bereich 605 Kruse, in: Kruse/Hänlein (Hrsg.), LPK-SGB V, § 52 Rn. 12. Ähnlich z. B. Wiesing, ZfmE 2006, 139 (150). 606 Eberbach, MedR 2008, 325 (333 f.). 607 Eberbach, MedR 2008, 325 (333 f.). 608 Reimer/Merold, SGb 2008, 713 (716). 609 Der Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V ist in diesem Kapitel unter B. ausführlich untersucht und in B. III. zusammenfassend festgehalten. 610 Siehe hierzu die Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, C. Wie im 1. Teil, Kapitel 4 in den Abschnitten A. II. und B. festgestellt, verlangt das Solidarprinzip, dass die bei den gesetzlich Krankenversicherten bestehenden ungleichen Risiken nach sozialen Gesichtspunkten ausgeglichen werden, sich die Krankenversicherungsbeiträge somit grundsätzlich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht an der Erkrankungswahrscheinlichkeit des Einzelnen orientieren. Kennzeichnend für das Solidarprinzip ist damit der Verzicht auf eine Risikodifferenzierung bei der Beitragsbemessung und der darin mitschwingende grundsätzliche Respekt vor der Lebensführung des Versicherten. Diese Vorgaben stehen aber nicht zwingend jeglicher Berücksichtigung des individuellen Risikos des Versicherten entgegen. 611 Vgl. die Prüfung in diesem Kapitel unter B., wonach zwar die mit der Vorschrift verbundene Durchbrechung des Finalprinzips und damit des Solidarprinzips nicht durch die So-

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

der Wunschmedizin bzw. des Enhancements an. Diese Maßnahmen haben nach dem hier entwickelten Verständnis612 gemeinsam, dass sie aus medizinischer Sicht nicht überwiegend medizinischen Heilzwecken dienen, sondern in erster Linie der Absicht des Patienten folgen, den eigenen Körper – das in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Gut – zu verändern. Diese Gesundheitsrisiken sind im Unterschied zu anderen Gesundheitsrisiken nicht durch die Wechselfälle des Lebens oder die allgemeine Lebensführung des Versicherten begründet und haben insofern eine andere Qualität als die in der Sozialversicherung typischerweise abzudeckenden Risiken.613 Es handelt sich somit um in der gesetzlichen Krankenversicherung systemfremde Gesundheitsrisiken.614 Mit der zumindest teilweisen Herausnahme derartiger Risiken verfolgt der Gesetzgeber letztlich das legitime Ziel die gesetzliche Krankenversicherung entsprechend ihres Wesens als Sozialversicherung den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Zur Beschränkung des sozialversicherten Erkrankungsrisikos auf die Gefahren, die die allgemeine Lebensführung mit sich bringt, ist der Gesetzgeber auch mit Blick auf die Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflichten derjenigen Versicherten, die derartige wunscherfüllende Maßnahmen nicht an sich vornehmen lassen, angehalten. Der Gesetzgeber müsste mit den in § 52 Abs. 2 SGB Vaufgelisteten Maßnahmen geeignete Differenzierungskriterien ausgewählt haben, um das Ziel zu erreichen, derartige systemfremde Risiken der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen. Die Auflistung in § 52 Abs. 2 SGB V erfasst sämtliche medizinischen, instrumentellen Eingriffe in den menschlichen Körper, die der subjektiven Zielrichtung des Patienten folgen, sein äußeres Erscheinungsbild entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren, und vergleichbare nicht-medizinische Eingriffe sowie Piercings und Tätowierungen.615 Die genannten Maßnahmen gehören – wie bereits erwähnt – dem Bereich der Wunschmedizin bzw. des Enhancements an und dienen aus medizinischer Sicht nicht überwiegend medizinischen Heilzwecken, sondern folgen in erster Linie der Absicht des Patienten, den eigenen Körper oder die eigenen Körperfunktionen zu verändern. Diese Willensrichtung den eigenen Körper als das in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Gut zu verändern, ist der Aspekt, aufgrund dessen die in § 52 Abs. 2 SGB V aufgelisteten Maßnahmen im Unterschied zu anderen verhaltensbedingten Gesundheitsrisiken in der gesetzlichen lidarwidrigkeit des hier gegenständlichen Versichertenverhaltens bedingt ist, ein direkter Verstoß gegen das Solidarprinzip aber aufgrund der Systemwidrigkeit dieser Gesundheitsrisiken nicht angenommen werden kann. 612 Siehe zu dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Enhancement und Wunschmedizin die im vorherigen Kapitel 1 dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellten Definitionen. Enhancement umfasst danach im Unterschied zur Wunschmedizin auch solche Maßnahmen – wie z. B. Tätowierungen und Piercings –, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden. 613 Siehe im 1. Teil, Kapitel 2, B. V. 614 Siehe hierzu ausführlich in diesem Kapitel unter B. II. 3. 615 Siehe in diesem Kapitel unter A. II.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Krankenversicherung systemfremd sind. Jedoch benennt die Vorschrift lediglich einen Teil der Maßnahmen, die dem Bereich der Wunschmedizin bzw. des Enhancements zuzuordnen sind. Mit Tätowierungen und Piercings vergleichbare Maßnahmen des Enhancements sind beispielsweise das Hinzufügen von Gewebeschnitten (cutting), verzierenden Brandnarben (branding), Zungenspaltungen (tongue cutting), subkutane Implantate (subdermals), extreme Gewebedehnungen oder auch das verbreitete Ohrlochstechen.616 Aufgrund der Konzeption als Ausnahmevorschrift kommt insoweit aber eine analoge Anwendung des § 52 Abs. 2 SGB V nicht in Betracht.617 Außerdem beschränkt sich die Auflistung in § 52 Abs. 2 SGB V auf Eingriffe, die das äußere Erscheinungsbild betreffen, und ist insofern vom Bereich des Neuro-Enhancements618, bei dem es um eine körperliche, geistige oder mentale Funktionenverbesserung geht, abzugrenzen. Die Eingrenzung der Leistungsbeschränkung auf bestimmte Maßnahmen der Wunschmedizin bzw. des Enhancements wurde insbesondere mit Blick auf das Gleichheitsgebot kritisiert. Während der Anwendungsbereich des § 52 Abs. 2 SGB V in seiner ursprünglichen Fassung weitere mit Tätowierungen und Piercings vergleichbare Maßnahmen des Enhancements mit einschloss, beschränkte der Gesetzgeber die Vorschrift durch Streichung der Wörter Maßnahme wie zum Beispiel eine auf die explizit genannten Maßnahmen.619 Im Gesetzgebungsverfahren sah die Fraktion DIE LINKE. diese „Beschränkung auf drei von prinzipiell vielen möglichen, vergleichbaren Ursachen“ als willkürlich an.620 Huster schreibt hierzu beispielsweise:621 „Man kann darauf nur noch sarkastisch reagieren: Was soll denn das nun völlig willkürliche Herausgreifen von ästhetischen Operationen, Tattoos und Piercings vor dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen? Vielleicht das bildungsbürgerliche Vorurteil der Bundestagsabgeordneten, dass seit Adolph Loos’ Streitschrift Ornament und Verbrechen irgendwie zusammengehören und derartige Unterschichtenverzierungen – anders als etwa Perlenohrringe – sanktioniert gehö616 Siehe zu den neben Tätowierungen und Piercings gleichermaßen dem Bereich des Enhancements unterfallenden Körpermodifikationen im vorherigen Kapitel 1, A. II. Da diese Körpermodifikationen häufig nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden, können sie nicht generell dem Bereich der Wunschmedizin zugeordnet werden und sind insbesondere von den operativen Verfahren zu unterscheiden. 617 Prehn, NZS 2010, 260 (264 ff.); Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 175. Siehe auch in diesem Kapitel zu Beginn des Abschnitts A. 618 Siehe hierzu im vorherigen Kapitel 1, A. III. 619 Die Änderung erfolgte zum 1. Juli 2008 – gut ein Jahr nach Inkrafttreten des § 52 Abs. 2 SGB V – durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (PflegeWeiterentwicklungsgesetz) vom 28. 5. 2008, BGBl. I S. 874. Zur gemeinsamen Typologie der Maßnahmen, die § 52 Abs. 2 SGB V in seiner ursprünglichen Fassung unterfielen, siehe in diesem Kapitel, B. II. 1. 620 Vgl. Begründung des Änderungsantrags der Fraktion DIE LINKE. zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V zu streichen, in BT-Drs. 16/8525, S. 90. 621 Huster, JZ 2008, 859 (865).

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

ren? Eine hübsche Idee: die ästhetische Erziehung des Menschen mit den Mitteln des Krankenversicherungsrechts.“ Wienke meint, indem der Gesetzgeber den Anwendungsbereich auf die genannten Maßnahmen beschränkte, schaffe er „grundlos eine Diskriminierung, die unter Berücksichtigung der auch in Bezug auf die handelnden Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu beachtende Verfassungsnorm des Artikels 3 Abs. 1 des Grundgesetzes zu bedenken ist“.622 Anstelle des in der offenen Regelung erkennbaren Zwecks, „das erhöhte Risiko einer Erkrankung infolge eines medizinisch nicht indizierten Eingriffs allgemein in den Verantwortungsbereich des Einzelnen einzuordnen,“ trete „eine willkürliche Inanspruchnahme der Versicherten bei ganz konkreten Maßnahmen“, wobei der Gesetzgeber übersehe, „dass die von ihm spezifisch genannten Maßnahmen bei weitem das Spektrum des modernen Schönheitskultes nicht abdecken“, führt Wienke an gleicher Stelle weiter aus. Gleiches werde willkürlich ungleich behandelt, stellt Wienke fest und bezieht sich dabei auf Maßnahmen des Enhancements wie z. B. cutting, branding, tongue cutting, subdermals, die sich nicht als ästhetische Operationen oder Piercings auffassen ließen, dem aber gleichstünden.623 Aus diesen Gründen kommt auch Bernzen zu dem Schluss, dass § 52 Abs. 2 SGB V „unausweichlich zu einer willkürlichen Zuschreibung von Leistungsausschlüssen innerhalb vollends vergleichbarer Lebenssachverhalte“ führe, „so dass er im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG keinen Bestand haben kann“.624 In der Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V sieht gleichermaßen die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht „eine Diskriminierung dieser Versicherten und damit einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG“ und empfiehlt daher eine Änderung dieser Norm.625 Höfling schreibt, „§ 52 Abs. 2 SGB V dürfte indes verfassungswidrig sein“; „die mehr oder weniger willkürliche Begrenzung der Inanspruchnahme der Versicherten auf drei ausgewählte Maßnahmen der sog. wunscherfüllenden Medizin stellt sich wohl als nicht rechtfertigungsfähige Diskriminierung und damit als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes dar“.626 Ebenfalls meint Lang, „die Begrenzung auf einige wenige Phänomene, die unter dem Schlagwort wunscherfüllende Medizin zusammengefasst werden,“ sei „verfassungsrechtlich schwer haltbar“;627 es leuchte „jedenfalls zumindest mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG kaum ein, warum nur bei den im Gesetz aufgezählten, nicht aber bei anderen Maßnahmen der durchaus vielgestaltigen Pa622 Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 174. 623 Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden. Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 175. Zu den hier beispielhaft genannten Maßnahmen siehe Erläuterungen im vorherigen Kapitel 1, A. II. 624 Bernzen, MedR 2008, 549 (551). 625 Vgl. die Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der wunscherfüllenden Medizin der DGMR (zur Erläuterung siehe Fn. 18 in diesem Teil), in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 180 f. 626 Höfling, ZEFQ 2009, 286 (291). 627 Dieses und das folgende Zitat aus Lang, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 8 (Hervorhebung aus dem Originaltext).

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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lette sog. body modifications (die z. T. weitaus gravierendere Gesundheitsrisiken bergen) die Kken zu Leistungskürzungen verpflichtet sein sollen“. Verfassungsrechtliche Bedenken aus diesen Gründen äußert beispielsweise auch Prehn.628 Eberbach geht mit seiner Kritik noch darüber hinaus, indem er auf den von § 52 Abs. 2 SGB V generell ausgeklammerten Bereich des Neuro-Enhancements629 Bezug nimmt. Der Gesetzgeber bewege „sich mit ästhetischen Operationen, Tätowierung und Piercing im wörtlichen Sinn nur an der Oberfläche des Problems – der äußeren Verschönerung“; „viel eher der vertieften kritischen Diskussion wären dagegen die Bereiche des Sport-Dopings sowie des Alltags-Dopings (oder LifestyleEnhancements) bedürftig gewesen, in welchen medikamentös mit womöglich schwerwiegenden Nebenfolgen die innere Verschönerung betrieben wird“, schreibt Eberbach.630 „Nach der jetzigen Gesetzeslage gilt im Fall von Krankheitsfolgen: Für Schönheit bezahlt man selbst, für Klugheit zahlen die anderen“, stellt Eberbach fest und fragt mit Blick auf das Gleichheitsgebot nach einer rechtlichen Begründung dafür.631 Gerade im Sozialversicherungsrecht ist aber ein besonders weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu beachten.632 Beispielsweise sind typisierende und generalisierende Regelungen von komplexen Massenerscheinungen im Sozialversicherungsrecht zulässig, sofern „die daraus resultierenden Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären, lediglich eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (…) sowie der tatsächliche Anknüpfungspunkt für die Typisierung im Normzweck angelegt ist“, erläutert Sodan.633 Vor diesem Hintergrund ist die mit § 52 Abs. 2 SGB V verbundene Differenzierung zum Bereich des Neuro-Enhancements634 verfassungsrechtlich zu akzeptieren. Die hierunter fallenden Maßnahmen haben im Vergleich zu denjenigen Eingriffen der Wunschmedizin oder des Enhancements, die das äußere Erscheinungsbild betreffen, typischerweise nur eine vorübergehende Wirkung bzw. manifestieren sich nicht zumindest für eine gewisse Dauer. Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung dieser Bereiche ist daher sachlich begründet. Hinsichtlich Maßnahmen des Neuro-Enhancements sind 628

Prehn, NZS 2010, 260 (265). Vgl. auch Krüger/Helml, GesR 2011, 584 (585, Fn. 8). Hierbei geht es nicht um die äußere Verschönerung, sondern um eine körperliche, geistige oder mentale Funktionenverbesserung, siehe hierzu im vorherigen Kapitel 1, A. III. 630 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 22. 631 Eberbach, Möglichkeiten und rechtliche Beurteilung der Verbesserung des Menschen – Ein Überblick, in: Wienke u. a., Die Verbesserung des Menschen, S. 22. 632 BVerfGE 49, 148 (165); 60, 123 (134); 113, 167 (215); 122, 151 (174); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 19; Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 11 Rn. 478. 633 Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 16 mit Verweis auf BVerfGE 100, 138 (174); 111, 115 (137). Siehe auch BVerfGE 88, 87 (96 f.); 99, 367 (389 f.); Prehn, NZS 2010, 260 (265); Noftz, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB V, § 52 Rn. 11. 634 Siehe hierzu im vorherigen Kapitel 1, A. III. Dabei geht es um eine körperliche, geistige oder mentale Funktionenverbesserung. 629

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Schwierigkeiten in der Praxis insbesondere bei der Abgrenzung zu medizinisch indizierten Maßnahmen oder bei der nachträglichen Feststellung derartiger Umstände denkbar. Es handelt sich um eine jüngere Entwicklung, sodass auch unklar ist, inwieweit es dem Gesetzgeber bislang möglich ist, sich zu diesen Fragen ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden. Jedenfalls ist in Anbetracht seines Gestaltungsspielraums die mit § 52 Abs. 2 SGB V verbundene Differenzierung zum Bereich des Neuro-Enhancements gerechtfertigt. Die Differenzierung zu den weiteren, mit Tätowierungen und Piercings vergleichbaren Körpermodifikationen kann jedoch sachlich nicht begründet werden und ist auch unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens nicht zu rechtfertigen. Hierzu schreibt Bernzen, „das Zugeständnis eines weiten Gestaltungsspielraumes“ müsse „in jedem Fall bezogen sein auf die Gewichtung sachlicher Differenzierungskriterien“, die aber „vorliegend nicht zu finden“ seien.635 Die Auflistung in § 52 Abs. 2 SGB V ist demnach nicht geeignet, gesetzlich Krankenversicherte entsprechend dem Differenzierungsziel, derartige systemfremde Gesundheitsrisiken zumindest teilweise der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen, ungleich zu behandeln. 3. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen verhaltensbedingt erkrankten Versicherten, deren krankenversicherungsrechtliche Leistungen gemäß § 52 Abs. 1 SGB V beschränkt werden Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V verpflichtet die Krankenkasse dazu, den Versicherten an den Behandlungskosten zu beteiligen und das Krankengeld zumindest teilweise zu versagen oder zurückzufordern. Hingegen sieht § 52 Abs. 1 SGB V vor, dass die Krankenkasse die Versicherten an den Kosten der krankenversicherungsrechtlichen Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer der Erkrankung versagen oder zurückfordern kann, wenn sie sich die Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen haben. Innerhalb dieser Vergleichsgruppe der verhaltensbedingt erkrankten Versicherten, deren krankenversicherungsrechtliche Leistungen beschränkt werden, bestehen aber wesentliche Unterschiede. Während § 52 Abs. 1 SGB V ein bestimmtes Versichertenverhalten als solidarwidrig qualifiziert, liegt in den Fällen des Absatzes 2 kein Schädigungswillen des Versicherten gegenüber der Solidargemeinschaft oder auch nur hinsichtlich des versicherten Gutes, seiner Gesundheit und damit kein sozialversicherungsrechtlicher Handlungsunwert vor.636 Ein subjektives Element, das auf den Eintritt einer Erkrankung gerichtet ist, wird also von § 52 Abs. 2 SGB V nicht vorausgesetzt. Der Rechtsgrund für die Ausweitung der Eigenverantwortung des 635 636

Bernzen, MedR 2008, 549 (551). Siehe hierzu eingehend in diesem Kapitel unter B. II. 2.

Kap. 2: Eigenverantwortung nach § 52 Abs. 2 SGB V

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Versicherten im Zuge des § 52 Abs. 2 SGB V ergibt sich vielmehr aus der Systemfremdheit der genannten Gesundheitsrisiken.637 Mit der Verwehrung des Entschließungsermessens der Krankenkassen in Fällen des § 52 Abs. 2 SGB V stellt der Gesetzgeber die Übernahme von Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V sicher. Die Beurteilung, inwieweit dies mit Blick auf das bei der leistungsrechtlichen Berücksichtigung solidarwidrigen Versichertenverhaltens nach § 52 Abs. 1 SGB V der Krankenkasse eingeräumte Entschließungsermessen erforderlich und angemessen ist, bleibt nicht zuletzt aufgrund der nur geringen Auswirkung dieser Ungleichbehandlung für die Betroffenen dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers überlassen. III. Fazit Die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V ist verfassungswidrig. Sie verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, da sie gesetzlich Krankenversicherte, die infolge einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, einer Tätowierung oder eines Piercings erkranken, im Vergleich zu denjenigen Versicherten, die infolge anderer, vergleichbarer Eingriffe der Wunschmedizin oder des Enhancements, die das äußere Erscheinungsbild betreffen, ungerechtfertigt benachteiligt. Außerdem verstößt die Regelung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und verletzt insofern die Freiheitsrechte des betroffenen Versicherten. Als nachträgliche, für den betroffenen Versicherten unberechenbare und unvorhersehbare Leistungsbeschränkung ist die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel, bestimmte systemfremde Gesundheitsrisiken zumindest teilweise der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen, jedenfalls nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Vorschrift ist daher nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann den mit ihr verbundenen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des betroffenen Versicherten nach Art. 2 Abs. 1 GG nicht rechtfertigen. Soweit die krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche als schutzfähige Eigentumspositionen anzuerkennen sind, würde die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V als unverhältnismäßige und daher unzulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG den spezielleren Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG verletzen und insofern die Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG als subsidiär verdrängen. Insbesondere hinsichtlich des Krankenbehandlungsanspruchs sprechen aber wesentliche Bedenken gegen die Annahme einer schutzfähigen Eigentumsposition, deren abschließende Beurteilung einer weitergehenden Untersuchung bedarf, die für die Zwecke dieser Arbeit nicht erforderlich war.

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Siehe in diesem Kapitel unter B. II 3.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

Kapitel 3

Gesetzgebungsvorschlag zur Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin in der gesetzlichen Krankenversicherung Um den der Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V zugrunde liegenden politischen Willen aufzugreifen, wird abschließend eine Regelungsmöglichkeit aufgezeigt, die den bei der bestehenden Regelung festgestellten, insbesondere verfassungsrechtlichen Defiziten Rechnung trägt. Das Normziel besteht entsprechend der Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V darin, Gesundheitsrisiken, die mit bestimmten Maßnahmen der Wunschmedizin und des Enhancements verbunden sind, als systemfremde Gesundheitsgefahren zumindest teilweise aus der Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkasse herauszunehmen und der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu überlassen.638 Da insoweit kein sozialversicherungsrechtlicher Handlungsunwert und kein subjektives Element, das auf den Eintritt einer Erkrankung gerichtet ist, vorliegt,639 ist eine entsprechende gesetzliche Regelung nicht unter die Überschrift Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden zu fassen. Anders als § 52 Abs. 1 SGB V, der ein bestimmtes Versichertenverhalten als solidarwidrig qualifiziert, hat der Versicherte in den hier zu regelnden Fällen keinen Schädigungswillen gegenüber der Solidargemeinschaft, sondern lediglich einen Veränderungswillen hinsichtlich seines Körpers. Die Regelung ist daher an anderer Stelle zu verorten, beispielsweise als neuer § 52a SGB V unter der Überschrift Berücksichtigung systemfremder Gesundheitsrisiken. Der bisherige § 52a SGB V wird zum § 52b SGB V. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen des allgemeinen Gleichheitsgebotes zu genügen, muss die gesetzliche Regelung Differenzierungskriterien wählen, die zur Erreichung des Normziels geeignet, erforderlich und angemessen sind. § 52 Abs. 2 SGB V erfasst sämtliche medizinischen, instrumentellen Eingriffe in den menschlichen Körper, die der subjektiven Zielrichtung des Patienten folgen, sein äußeres Erscheinungsbild entsprechend seines subjektiven Idealbilds zu perfektionieren, und vergleichbare Eingriffe durch „Nicht-Mediziner“ sowie Piercings und Tätowierungen.640 Diese Maßnahmen gehören dem Bereich der Wunschmedizin und des Enhancements an, beschränken sich aber auf Eingriffe, die das äußere Erscheinungsbild betreffen, und sind insofern vom Bereich des Neuro-Enhance-

638 Der Normzweck des § 52 Abs. 2 SGB V ist im vorherigen Kapitel 2 unter B. ausführlich untersucht und in B. III. zusammenfassend festgehalten. 639 Siehe hierzu eingehend im vorherigen Kapitel 2 unter B. II. 2. 640 Siehe in diesem Teil, Kapitel 2, A. II.

Kap. 3: Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin in der GKV

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ments641 abzugrenzen. Wie im vorherigen Kapitel unter D. II. 2. festgestellt, sind mit den in § 52 Abs. 2 SGB V genannten Maßnahmen andere, nicht erfasste Maßnahmen der Körpermodifikation derart vergleichbar, dass ein sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung nicht ersichtlich ist und die Auflistung ungeeignet ist, die mit dem Normziel einhergehende Ungleichbehandlung gesetzlich Krankenversicherter zu rechtfertigen. Praktische Probleme des § 52 Abs. 2 SGB V resultieren darüber hinaus aus dem in Bezug genommenen Kriterium der medizinischen Indikation.642 Um diese Probleme aufzulösen, sollte eine gesetzliche Regelung entsprechend den Kriterien, die den Bereich der Wunschmedizin bzw. des Enhancements charakterisieren, ausgestaltet werden. Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Wunschmedizin und Enhancement643 haben diese Maßnahmen gemeinsam, dass sie aus medizinischer Sicht nicht überwiegend eigenen oder – wie beispielsweise die Organspende – fremden medizinischen Heilzwecken dienen, sondern in erster Linie der Absicht des Patienten folgen, den eigenen Körper zu verändern bzw. – in Abgrenzung zum Bereich des Neuro-Enhancements – das körperliche Erscheinungsbild nicht nur vorübergehend zu verändern. Diese gezielte Willensrichtung, den eigenen Körper als das in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Gut zu verändern, ist der Aspekt, aufgrund dessen diese Maßnahmen im Unterschied zu anderen verhaltensbedingten Gesundheitsrisiken in der gesetzlichen Krankenversicherung systemfremd sind, und der somit eine entsprechende Differenzierung rechtfertigt. Eine gesetzliche Regelung hat daher auf Maßnahmen Bezug zu nehmen, die Eingriffe in den menschlichen Körper sind, die nicht eigenen oder fremden medizinischen Heilzwecken dienen, sondern in der Absicht des Patienten durchgeführt werden, seinen Körper nicht nur vorübergehend zu verändern. Dabei ist die Frage, ob der Eingriff medizinischen Heilzwecken dient oder nicht, unabhängig von der Absicht des Patienten, das heißt, ohne eine Verknüpfung überwiegender Heilzwecke mit einer in erster Linie verfolgten Absicht, vorauszusetzen. Um weitere unnötige Unsicherheiten in der Rechtsanwendung zu vermeiden, sollte im Gesetzestext das subjektive Element der Absicht nicht auf das äußere Erscheinungsbild und das vom Patienten verfolgte subjektive Idealbild bezogen werden. In der Praxis wird es für die Krankenkasse dennoch nur sehr selten möglich sein, die Absicht des Versicherten gerichtsfest nachzuweisen,644 sodass insoweit eine Vermutungsregelung für die Fälle 641 Dabei geht es um eine typischerweise vorübergehende körperliche, geistige oder mentale Funktionenverbesserung, siehe in diesem Teil, Kapitel 1, A. III. 642 Dass diese tatbestandliche Voraussetzung des § 52 Abs. 2 SGB V zur Rechtsunsicherheit in der praktischen Normanwendung führt, wurde in diesem Teil, Kapitel 2, A. II. sowie Kapitel 1 B. III. erläutert. 643 Siehe hierzu die in diesem Teil, Kapitel 1 dem Abschnitt A. unmittelbar vorangestellten Definitionen. Enhancement umfasst danach im Unterschied zur Wunschmedizin auch solche Maßnahmen – wie z. B. Tätowierungen und Piercings –, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden. Zur Abgrenzung zum Bereich der heilenden Medizin siehe in Kapitel 1, B. IV. 644 Entsprechend den allgemeinen Beweislastregeln trifft die Krankenkassen die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer ihr günstigen Rechtsnorm.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

zu empfehlen ist, in denen der Eingriff ungeeignet ist, dem Versicherten überhaupt gesundheitliche Vorteile zu bringen. Hat der Versicherte in einem solchen Fall mit dem Eingriff aber ein anderes Ziel verfolgt, bzw. ging es ihm nicht darum, seinen Körper nicht nur vorübergehend zu verändern, dann hat er dies nachzuweisen. Die krankenversicherungsrechtliche Berücksichtigung dieser systemfremden Gesundheitsrisiken muss zudem den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Der Gesetzgeber überlässt diese Risiken mit der bestehenden Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V erst dann der Eigenverantwortung des Versicherten, wenn sie sich verwirklicht haben und der Versicherte deswegen krankenversicherungsrechtliche Leistungen in Anspruch nimmt. Wie im vorherigen Kapitel unter D. I. 3 c) festgestellt, geht damit ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheitsrechte des Versicherten einher, obwohl es dem Versicherten, der ja auch die teilweise recht hohen Kosten wunschmedizinischer Maßnahmen selbst finanziert, grundsätzlich zumutbar ist, das damit gesetzte Erkrankungsrisiko in Eigenverantwortung zu tragen. Für den Betroffenen ist die Höhe der auf ihn in seiner Erkrankungssituation zukommenden Kostenforderung und der verminderten Entgeltersatzleistung nicht abschätzbar. Hinzu kommt, dass die gesetzlichen Krankenkassen nicht ausdrücklich dazu verpflichtet sind,645 ihre Versicherten zuvor über die Leistungsbeschränkung zu informieren, sodass der betroffene Versicherte regelmäßig durch die nachträgliche, für ihn unvorhersehbare Leistungsbeschränkung überrascht wird. Dem Versicherten, der eine wunschmedizinische Maßnahme durchführen lässt, wird somit faktisch die Möglichkeit genommen, sich rechtzeitig auf die Situation einzustellen, dass er infolge dieser Maßnahme erkrankt und in seinen krankenversicherungsrechtlichen Leistungen beschränkt ist. Eine gesetzliche Regelung, mit der systemfremde Gesundheitsrisiken krankenversicherungsrechtlich berücksichtigt werden sollen, müsste demzufolge zunächst die gesetzlichen Krankenkassen ausdrücklich zu einer rechtzeitigen, diesbezüglichen Information der Versicherten verpflichten. Die Versicherten hätten damit zumindest die Möglichkeit, die für sie unabsehbaren Folgen einer krankenversicherungsrechtlichen Leistungsbeschränkung durch private Zusatzversicherungen auszugleichen. Problematisch hieran erscheint, dass es der Krankenkasse in der Regel verborgen bleibt, wenn ein Versicherter die Durchführung eines Eingriffs aus dem Bereich der Wunschmedizin oder des Enhancements beabsichtigt, und insofern ihre Versicherten nur im Rahmen allgemeiner Informationen aufklären kann. Unklar ist, inwieweit derartige Informationen die betroffenen Versicherten tatsächlich erreichen, jedenfalls bleibt die Höhe der eventuell auf sie zukommenden Kosten für die Versicherten unvorhersehbar. Fraglich ist zudem, ob sich der informierte Versicherte, der eine solche Maßnahme durchführen lässt und in aller Regel fest darauf vertraut, dass er infol645

Die Krankenkassen sind lediglich allgemein gemäß §§ 13 und 14 SGB I i. V. m. § 21 Abs. 2 SGB I dazu verpflichtet, die Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung aufzuklären und bei Bedarf zu beraten. Eine Aufklärung über die bestehende Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V findet aber regelmäßig nicht statt; vgl. Ausführungen in Fn. 581 in diesem Teil.

Kap. 3: Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin in der GKV

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gedessen nicht erkranken wird, selbst um eine private Absicherung des Risikos, an der von ihm geplanten Maßnahme zu erkranken und in den krankenversicherungsrechtlichen Leistungen beschränkt zu sein, bemüht.646 Faktisch wäre somit der unverhältnismäßigen Situation, dass sich ein erkrankter Versicherter einer für ihn unvorhersehbaren und nicht abschätzbaren Kostenforderung und einer fehlenden oder verminderten Entgeltersatzleistung ausgesetzt sieht, regelmäßig nicht abgeholfen. Um die Übernahme von Eigenverantwortung bei systemfremden Gesundheitsrisiken durch den Versicherten sicherzustellen, würde vielmehr eine bereits vor Durchführung der Maßnahme absehbare und für den Versicherten einkalkulierbare Zahlungspflicht einen verhältnismäßigen Eingriff in seine Freiheitsrechte bedeuten. Voraussetzung dafür ist zunächst die Pflicht des Versicherten, seiner Krankenkasse mitzuteilen, dass er sich einem bestimmten Eingriff der Wunschmedizin oder des Enhancements unterziehen will, was natürlich ebenfalls die vorherige Information durch die Krankenkassen bedingt. Um das gesetzte Gesundheitsrisiko in Eigenverantwortung abzusichern, könnte der betroffene Versicherte verpflichtet werden, eine private Versicherung gegen dieses Erkrankungsrisiko abzuschließen.647 Problematisch ist jedoch, dass hier nicht bestimmte Leistungen aus der Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenversicherung herausgenommen, sondern Leistungen, die normalerweise vom krankenversicherungsrechtlichen Leistungsumfang umfasst sind, nur unter bestimmten Voraussetzungen der Eigenverantwortung des Versicherten überlassen werden sollen. Die insoweit erforderliche Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen der systemfremden Maßnahme und der eingetretenen Erkrankung ist in der Praxis nicht immer eindeutig festzustellen.648 Bestünde nun eine private Versicherung gegen das mit bestimmten Maßnahmen eingegangene Erkrankungsrisiko muss zwischen der Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenversicherung und derjenigen der privaten Zusatzversicherung abgegrenzt werden. Dies würde aller Voraussicht nach zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten führen und damit einen erheblichen Verwaltungsaufwand und hohes Prozesskostenrisiko für die gesetzlichen Krankenkassen bedeuten. Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie darauf zu reagieren wäre, wenn der Versicherte seiner Verpflichtung, eine private Versicherung abzuschließen, oder bereits seiner Mitteilungspflicht über die geplante Maßnahme nicht nachkommt. Derartigen Schwierigkeiten könnte durch eine Lösung innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung begegnet werden. Denkbar wäre die Erhebung eines bei bzw. vor der Durchführung der wunscherfüllenden Maßnahme versicherungstechnisch berechneten Beitragszu646 Ungesichert ist darüber hinaus der Zugang zu einer solchen privaten Risikoabsicherung, die jedenfalls im Zuge der gängigen privaten Zusatzkrankenversicherungen nicht angeboten werden. 647 Zur bedingten verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer privaten Pflichtversicherung mit Kontrahierungszwang siehe Sodan, NZS 2003, 393 (399 f.), der dies in Bezug auf die Versorgung mit Zahnersatz untersucht. 648 Siehe hierzu in diesem Teil, Kapitel 2, A. III.

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3. Teil: Eigenverantwortung und wunscherfüllende Medizin

schlags. Ein Kausalzusammenhang zwischen der systemfremden Maßnahme und der eingetretenen Erkrankung wäre grundsätzlich nicht mehr erforderlich, sodass Begutachtungsschwierigkeiten und -kosten vermieden würden und die Rechtsanwendungspraxis erheblich erleichtert wäre. Die in Bezug auf § 52 Abs. 2 SGB V bestehende vertragsärztliche Mitteilungspflicht gemäß § 294a Abs. 2 SGB V könnte dadurch abgemildert werden, dass der Arzt die Krankenkasse nicht über die bei seinem Patienten vorliegende Erkrankung infolge einer solchen Maßnahme informieren muss, sondern grundsätzlich die im Rahmen von ärztlichen Konsultationen erkannten systemfremden Maßnahmen meldet.649 Sollte der Versicherte seiner Mitteilungspflicht über diese Maßnahme nicht nachgekommen sein, kann die Krankenkasse einen entsprechenden Beitragszuschlag im Nachhinein erheben. Ein Beitragszuschlag innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung als eine für den Versicherten bereits vor Durchführung der Maßnahme absehbare und einkalkulierbare Zahlungspflicht wäre geeignet, erforderlich und angemessen, um systemfremde Gesundheitsrisiken der Eigenverantwortung des Versicherten zu überlassen. Die Erhebung eines Beitragszuschlags in der gesetzlichen Krankenversicherung widerspricht jedoch dem sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzip,650 das gerade durch den Verzicht auf eine Risikodifferenzierung bei der Beitragsbemessung gekennzeichnet ist. Damit ist aber eine Berücksichtigung individueller Risiken nicht zwingend ausgeschlossen. Außerdem bindet das Solidarprinzip nicht verfassungsrechtlich, sondern dient als Rechtsprinzip des einfachen Sozialversicherungsrechts als Leitlinie bei der Auslegung, Anwendung und Fortbildung der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen.651 Verstößt der Gesetzgeber gegen die Vorgaben des Solidarprinzips als einer vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit, hat er dies lediglich besonders zu begründen und zu rechtfertigen. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber frei, die rechtliche Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenversicherung zugunsten einer höheren Eigenverantwortung des Versicherten zurückzu649 Inwieweit damit die im vorherigen Kapitel 2 unter C. aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 294a Abs. 2 SGB V ausgeräumt werden können, bzw. inwieweit eine solche vertragsärztliche Mitteilungspflicht verfassungsmäßig wäre, kann vorliegend nicht eingehend untersucht werden. Fraglich ist in diesem Zusammenhang insbesondere, ob alternativ die Ärzte und Personen, die die hier in Rede stehenden Maßnahmen durchführen, zu einer Mitteilung an die Krankenkasse des Patienten verpflichtet werden können. Zu beachten ist dabei jedoch, dass derartige Maßnahmen beispielsweise auch im Ausland durchgeführt werden. Jedenfalls handeln hier nicht Leistungserbringer der gesetzlichen Krankenversicherung, sodass sich die Frage der gesetzlichen Verortung und damit der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für eine Mitteilungspflicht derjenigen Ärzte und Personen stellt, die Eingriffe der Wunschmedizin und des Enhancements durchführen. 650 Das Solidarprinzip verlangt, dass die bei den gesetzlich Krankenversicherten bestehenden ungleichen Risiken nach sozialen Gesichtspunkten ausgeglichen werden, sich die Krankenversicherungsbeiträge somit grundsätzlich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht an der Erkrankungswahrscheinlichkeit des Einzelnen orientieren. Siehe hierzu im 1. Teil, Kapitel 4, A. II. 651 Siehe hierzu und zum Folgenden die Ausführungen im 1. Teil, Kapitel 4, C.

Kap. 3: Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin in der GKV

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nehmen, sofern er – wie hier sichergestellt – verfassungsrechtlichen Maßstäben genügt.652 Fraglich ist allerdings, inwieweit die Abgrenzung der als systemfremd qualifizierten Gesundheitsrisiken zu solchen vom Versicherten im Rahmen seiner Lebensführung selbst gesetzten Gesundheitsrisiken einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden kann und nicht zwangsweise als Aufgabe des Solidarprinzips missverstanden wird. Derartige Fragen können nicht aus rechtswissenschaftlicher Sicht beantwortet werden, sondern müssen mit Blick auf ein gedeihliches Zusammenleben aller Gesellschaftsmitglieder diskutiert werden und sind den demokratischen Entscheidungsprozessen zu überlassen. Nach alledem könnte eine gesetzliche Regelung zur Berücksichtigung der Risiken wunscherfüllender Medizin im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung wie nachfolgend dargestellt lauten. Übergangsvorschriften zur Wahrung des Vertrauensschutzprinzips sind nicht erforderlich, sofern die Vorschrift erst mit ihrem Inkrafttreten anwendbar ist.653 § 52a654 Berücksichtigung systemfremder Gesundheitsrisiken (1) Versicherte, die in der Absicht, ihren Körper nicht nur vorübergehend zu verändern, einen Eingriff in ihren Körper durchführen lassen, der nicht eigenen oder fremden medizinischen Heilzwecken dient, haben dies ihrer Krankenkasse mitzuteilen und einen Beitragszuschlag nach Absatz 2 zu leisten. Die Absicht des Versicherten nach Satz 1 wird vermutet, wenn der Eingriff ungeeignet ist, dem Versicherten gesundheitliche Vorteile zu bringen. (2) Die Krankenkasse hat im Fall des Absatzes 1 Satz 1 einen Beitragszuschlag entsprechend des mit dem jeweiligen Eingriff verbundenen Gesundheitsrisikos festzusetzen und zu erheben.655 (3) Die Krankenkassen haben ihre Versicherten in geeigneter Weise über die Mitteilungspflicht nach Absatz 1 zu informieren.656

652

Vgl. im 2. Teil, Kapitel 2, C. IV 3. Siehe hierzu in diesem Teil, Kapitel 2, D. I. 3. b). 654 Der bisherige § 52a SGB V wird zum § 52b SGB V. 655 Gegebenenfalls sind weitere Regelungen, die die Geltendmachung und Abrechnung des Beitragszuschlags sowie mögliche Zahlungsversäumnisse des Versicherten betreffen, vorzusehen. Unter Umständen sind die Krankenkassen zum Erlass von Satzungsregelungen zu ermächtigen, um eine einheitliche Bemessung der Beitragszuschläge sicherzustellen. 656 Die Krankenkassen sind bereits allgemein gemäß §§ 13 und 14 SGB I i. V. m. § 21 Abs. 2 SGB I dazu verpflichtet, die Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung aufzuklären und bei Bedarf zu beraten. Um einer solchen Regelung mehr Durchsetzungskraft zu verleihen, steht es dem Gesetzgeber aber frei, eine konkrete Informationspflicht der Krankenkasse vorzusehen. 653

Vierter Teil

Zusammenfassende Thesen 1. Die verfassungsrechtlich gewährte Freiheit des Einzelnen setzt voraus, dass jeder die Risiken und Schicksalsschläge seines Lebens grundsätzlich in Eigenverantwortung trägt. Dieses Menschenbild ist die Grundlage der freiheitlichen Rechtsordnung, wie sie das Grundgesetz vorsieht. Eigenverantwortung ist keine rechtlich zugeschriebene Verantwortung, sondern vielmehr eine dem Recht vorgelagerte Annahme. 2. Eigenverantwortung ist eine besondere Verantwortungskonstellation, in der der Einzelne als Verantwortungsträger und gleichzeitig Verantwortungsinstanz die eigenen Lebensrisiken trägt, ohne dabei fremdbestimmte Verhaltensvorgaben beachten zu müssen. Eigenverantwortung ist damit eine neutrale Kategorie, die einer externen Bewertung nicht zugänglich ist. 3. Eigenverantwortung besteht, soweit nicht eine Fremdverantwortung greift. Die Rechtsordnung sieht eine Fremdzurechnung individueller Lebensrisiken unter anderem im Rahmen der Sozialversicherungen vor. 4. Der Sozialversicherte erwirbt durch seine Beitragszahlung den Versicherungsschutz bzw. die Fremdverantwortung des Sozialversicherungsträgers in dem Maße des gesetzlich bestimmten Leistungsumfangs. Dem sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzip zufolge besteht in diesem Rahmen die Eigenverantwortung des Versicherten in abgeschwächter bzw. modifizierter Form. Aufgrund der dem Solidarprinzip innewohnenden Gegenseitigkeit von Solidarität hat der Versicherte als Verantwortungsträger gegenüber der Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens zu beachten. 5. Hinsichtlich seines die eigenen, sozialversicherten Lebensrisiken beeinflussenden Verhaltens treffen den Sozialversicherten keine ihn rechtlich bindenden Pflichten. Soziale Lebensrisiken sind naturgemäß bis zu einem gewissen Grad nicht trennbar von dem Verhalten des Versicherten, das zumindest dann als solidarwidrig qualifiziert werden muss, wenn es final auf die Entstehung des Sozialleistungsanspruchs gerichtet ist bzw. einen Schädigungswillen gegenüber der Sozialversicherungsgemeinschaft erkennen lässt. Solidarwidriges Verhalten ist bezogen auf das jeweilige sozialversicherte Risiko bzw. die zu gewährende Sozialversicherungsleistung zu bestimmen. Hierzu bedarf es einer gesetzlichen

4. Teil: Zusammenfassende Thesen

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Regelung, nach der die Folgen dieses Verhaltens aus der rechtlichen Verantwortung des Sozialversicherungsträgers ausgenommen und der insoweit wieder voll auflebenden Eigenverantwortung des Versicherten überlassen sind. 6. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung findet sich dieses Verständnis von Eigenverantwortung wieder. In § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird der Begriff der Eigenverantwortung in Abgrenzung zur Fremdverantwortung der gesetzlichen Krankenkassen und somit in seiner originären, dem verfassungsrechtlichen Menschenbild geschuldeten Bedeutung verwandt. Hingegen definiert der mit Solidarität und Eigenverantwortung überschriebene § 1 Satz 2 SGB V den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens im Rahmen der bestehenden Fremdverantwortung der Krankenkasse. Diese um den Verantwortungsmaßstab des solidarverträglichen Verhaltens und die Solidargemeinschaft als Verantwortungsinstanz modifizierte Form der Eigenverantwortung nennt der Gesetzgeber Mitverantwortlichkeit. 7. Die Austarierung des Verhältnisses des krankenversicherungsrechtlichen Leistungsumfangs zur Eigenverantwortung des Versicherten mithilfe verschiedener Instrumente der Kostenbeteiligung wird kontrovers diskutiert. Es handelt sich in erster Linie um eine gesundheits- und sozialpolitische Frage, für die nur geringe rechtswissenschaftliche Vorgaben auszumachen sind. 8. Als solidarwidrig qualifiziert § 52 Abs. 1 SGB V bestimmte Fälle individuellen Verhaltens des Versicherten und überlässt deren Folgen zumindest teilweise seiner Eigenverantwortung. Reformbestrebungen, nach denen darüber hinaus Erkrankungen, die der Versicherte durch seine gesundheitsschädliche Lebensführung grob fahrlässig herbeiführt, durch Leistungsausschlüsse oder -beschränkungen sanktioniert werden sollen, sind aus den zum Ende des zweiten Teils dieser Arbeit zusammengefassten, insbesondere verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen abzulehnen. 9. Die Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V regelt keine Fälle solidarwidrigen Verhaltens und dient daher nicht der Ausgrenzung solidarschädlichen Verhaltens im Sinne der Eigenverantwortung bzw. Mitverantwortlichkeit nach § 1 Satz 2 SGB V. Die Vorschrift grenzt vielmehr Gesundheitsgefahren, die bestimmte Maßnahmen wunscherfüllender Medizin und des Enhancements1 mit sich bringen, von dem sozialversicherungsrechtlich abzudeckenden, mit der allgemeinen Lebensführung einhergehenden Erkrankungsrisiko ab. Aufgrund der 1 Nach dem hier entwickelten Verständnis von Wunschmedizin und Enhancement haben Maßnahmen aus diesen Bereichen gemeinsam, dass sie aus medizinischer Sicht nicht überwiegend medizinischen Heilzwecken dienen, sondern in erster Linie der Absicht des Patienten folgen, den eigenen Körper oder die eigenen Körperfunktionen zu verändern. Enhancement ist Oberbegriff und umfasst im Unterschied zur Wunschmedizin auch solche Maßnahmen, die nicht von Ärzten oder Angehörigen anderer Gesundheitsberufe vorgenommen werden.

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4. Teil: Zusammenfassende Thesen

Besonderheit, dass es dem Versicherten bei derartigen Maßnahmen gerade darauf ankommt, seinen Körper als das in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Gut zu verändern, qualifiziert die Regelung diese Gesundheitsrisiken als systemfremd und überlässt sie zumindest teilweise der Eigenverantwortung des betroffenen Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Mit dieser Ausweitung der Eigenverantwortung des Versicherten verfolgt der Gesetzgeber letztlich das legitime Ziel, die gesetzliche Krankenversicherung entsprechend ihres Wesens als Sozialversicherung den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Die Regelung des § 52 Abs. 2 SGB V ist jedoch gleichheitswidrig und als eine für den betroffenen Versicherten unvorhersehbare und nicht abschätzbare Leistungsbeschränkung unverhältnismäßig. 10. Um den der Leistungsbeschränkung nach § 52 Abs. 2 SGB V zugrunde liegenden politischen Willen aufzugreifen, wird zum Ende des dritten Teils dieser Arbeit eine Regelungsmöglichkeit aufgezeigt, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird. Zentrales Differenzierungskriterium ist die gezielte Willensrichtung des Versicherten, den eigenen Körper zu verändern. Die entworfene Gesetzesformulierung ist geeignet, der Regelung eine hohe Durchsetzungskraft in der Praxis zu verleihen. Der Vorschlag, einen Beitragszuschlag innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung zu erheben, und damit eine für den Versicherten bereits vor Durchführung der Maßnahme absehbare und einkalkulierbare Zahlungspflicht vorzusehen, ist nicht nur dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, sondern auch praktischen Erwägungen geschuldet. Der damit einhergehende Widerspruch zum sozialversicherungsrechtlichen Solidarprinzip ist aus verfassungsrechtlicher Sicht unbedenklich und bleibt der gesundheits- und sozialpolitischen Diskussion überlassen.

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Sachverzeichnis Äquivalenzprinzip 44 f., 49, 58 ff. Eigenverantwortung 92, 100 ff., 116, – des gesetzlich Krankenversicherten 144 ff. – des Sozialversicherten 143 f. Enhancement 203 ff., 223 f. Finalprinzip 189 ff., 261 Gattungsbegriff 29 f., 32 f. Gefahrengemeinschaftstheorie 47 Gleichheitsgebot 309 ff. Indikation, medizinische 223, 229 ff., 250 Individualität 79, 100 Klassenbegriff 31 f. Kostenbeteiligung 161 ff., 165 ff. Krankheit 183 ff., 222 ff., 228 f., 248 – als Versicherungsfall in der GKV 154 ff. Lifestyle-Medizin 205 Medizinische Behandlung 204 Medizinische Notwendigkeit 234 Mitverantwortlichkeit 148 ff. Moralisches Risiko, moral hazard 48, 128 f., 166 f. Naturalleistungsprinzip 158 ff. Neuro-Enhancement 205, 218 ff. Operation 210 f., 249 Prinzip, Rechtsprinzip 64 ff. Regel 64 ff. Rückwirkung, unechte 299 ff. Sachleistungsprinzip 158 ff. Schönheitsoperation 206 ff., 249 Selbstbehalt 161 f.

Selbstbeteiligung 161 ff., 166 ff. Solidarausgleich 88 Solidargemeinschaft 117 Solidarität 77 ff. Solidaritätsprinzip 76 f. Solidarprinzip 36, 75 ff., 85 ff., 129 ff. – Reziprozität 92 f. Solidarwidrigkeit 135, 182, 265 f. Sozial 82 Sozialer Ausgleich 89 ff. Sozialstaatsprinzip 82 ff., 297 f. Sozialversicherung 28 ff., 34 ff., 84 f. Subsidiarität 79 Subsidiaritätsprinzip 136 ff. Theorie der wesentlichen Bedingung 176, 186, 251 Typus, Typusbegriff 31 ff. Unternehmenstheorie 47 Verantwortung, Verantwortlichkeit 103 ff., 111 ff. – rechtliche 116 Verantwortungsgegenstand 107 f. Verantwortungsinstanz 109 f. Verantwortungsmaßstab 109 Verantwortungssubjekt, Verantwortungsträger 106 f. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 193, 276, 302 ff. Versicherung, private 118 ff. Versicherungsbegriff 45 ff. Versicherungsprinzip 44 ff., 66 ff., 126 ff. Vertrauensschutzprinzip 299 ff. Willkürformel 310 Wunscherfüllende Medizin, Wunschmedizin 200 ff., 205 ff., 222 ff. Zuzahlungen 163 ff. Zwangssolidarität 80 f.