Die Bibelepik der lateinischen Spätantike: Formgeschichte einer erbaulichen Gattung [1] 9783770511167, 3770511166

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Die Bibelepik der lateinischen Spätantike: Formgeschichte einer erbaulichen Gattung [1]
 9783770511167, 3770511166

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THEORIE

UND GESCHICHTE

DIE BIBELEPIK

DER LITERATUR UND DER SCHONEN

KÜNSTE

DER LATEINISCHEN SPKTANTIKE

Texte und Abhandlungen

FORMGESCHICHTE

EINER GATTUNG Band 1

Herausgegeben von

von

MAX IMDAHL · WOLFGANG ISER · HANS ROBERT JA USS WOLFGANG PREISEND ANZ· JURIJ STRIEDTER

Band 37 · 1975

ERBAULICHEN

REINHART

WILHELM

FINK

HERZOG

VERLAG

MÜNCHEN

MANFRED

FUHRMANN

zum 23.6.1975

ISBN 3-7705-1116-6

© 1975 Wilhelm Fink Verlag, Münd1en Satz und Druck: Druckerei Am Fisd1m.1rkt, Konsnnz Budibindearbeiten: Großbuchbinderei Monheim, Monheim Ais HJ.billtationsschrifl der Universität Konstanz gedruckt mit Unterstützung der Deutschen FonchungsgemeinsdtaA::

INHALT

VORBEMERKUNG

Zur Bibeldichtung der lateinischen Spätantike legt der Verfasser hiermit eine allgemeine Einführung und einen ersten, im wesentlichen das 4. Jahrhundert n. Ch. umfassenden Teil vor. Diese Teile wurden im Winter 1971/72 von der Philosophischen Fakultät der Universitlit Konstanz als Habilitationsschrift angenommen. Sie sind seitdem erheblich erweitert und überarbeitet worden. Den zweiten, die spätantike Entwicklung der Gattung abschließenden Teil hofft der Verfasser in kurzem Abstand folgen lassen zu können. Er muß den Leser bitten, bis dahin das Fehlen der Indices in Kauf zu nehmen. Mit der vorstehenden Zueignung verbindet der Verfasser auch die zu Dank verpflichtende Erinnerung an den Kreis der Konstanzer Literaturwissenschaftler; dies gilt in besonderem Maße fi.ir die Herausgeber dieser Reihe. Zu danken ist der Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Geduld des Verlages, der selbstlosen Mühe, die Frau M. Bastian und Frau K. Seydel auf das Manuskript verwandten, endlich meinem Vater und den Herren Dr. H. Hofmann und Dr. G. Berger für das Mitlesen der Korrekturen. Bielefeld, im Oktober 197 4 Reinhart Herzog

EINFÜHRUNG

I. Kanon und überlieferter Bestand der spätantiken Bibeldichtung . . . . . . . . . . . . . .

..

1. Der Traditionszusammenhang der europäischen Bibeldichtung . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kanon der lateinischen Bibeldichtungen der Spätantike . . . . . . . . . . . . a) Die kanonischen Epiker . . . . . . . b) Vom Kanon ausgeschiedene oder deformiene Werke ........... . c) Außer kanonische Pseudepigra pha d) Verschollene Bibeldichtung . . .

II. Spätantike Bibeldichtung als Gattungsrezeption

XV

. XVI

. XIX . XIX . XXIII . XXV

. XXXII . XXXIII

1. Die Gattungsfrage der Bibeldichtung und ihre

rezeptionsästhetische Beantwortung

. . . .

2. Die spätantike und frühmittelalterliche Wirkungspräsenz der Bibeldichtung . . . . . . . a) Abschließende Bemerkungen zur überlieferungsgeschichte . . . . . . . . b) Die Wirkungspräsenz der Bibeldichtung in der Spätantike I: Das Problem des Publikums . . c) Die Wirkungspräsenz der Bibeldichtung in der Spätantike II: Die Reflexion der Autoren ca) Juvencus . . . cb) Proba cc) Sedulius. Arator cd) Cl. Marius Victorius. Avitus. Dracontius

. XXXIII .XXXVII .XXXVII . XL

. XLV . XLV

.XLIX .LII . LIV

II. Die paraphrastische Bibeldichtung

III. Die Forschungssituation . . . . . . . . . . . . . LX Exkurs: Die Abgrenzung der neuzeitlichen Bibelepik von der poetischen paraphrasis . . . . . . . . . . LXVI

1. Die Rezeption der epischen Technik in den paraphrastischen Dichtungen

IV. Zur formgeschichtlichen Methode der Untersuchung . . LXXIII

ERSTER

TEIL:

Die Anfänge des 4. Jh. und die Destruktion des antiken Epos A. Der Cento Probae. Maro mutatus in melius Biographisch-Bibliographisches . . . . . I. Die Centonentechnik als Rezeptionsmodell

3 3 4

1. Die Regeln des Ausonius

4

2. Die Möglichkeiten der Centonentechnik

7

II. Der Cento Probae

. . . .

15 15 26

2. Die Rezeption der Bibel a) Die paraphrastischen Schwerpunkte des Cento Probae . . . . . . . . . . . b) Die erbauliche Motivierung des Cento Probae

36

I. Epische Paraphrase und Epos

2. Die Bibelrezeption der paraphrastischen Dichtungen . . . . . . . . . . . . a) Bibelübersetzung und Bibelparaphrase. Das Problem der Romanisierung b) Hermeneutische Riegel ..... . c) Entjudaisierung . . . . . . . . d) Entjudaisierung als Christianisierung e) Schichten der Christianisierung f) Das erbauliche Relief fa) Applanierung und Relieferung fb) Ansätze zu Meditationsformen fc) Erbauliche Durchdringung der Handlung fd) Ardor inexpletus. Emotionalität und Objektivierung des Erbaulichen . . . .

99 100 106 106 109 111

113 116 124 124 130 140 145

14

1. Die Rezeption Vergils a) Szenische Gliederung b) überszenische Evozierung

B. Die Paraphrasen des Juvencus und des lateinischen Heptateuchdichters. Ornamenta terrestria linguae Biographisch-Bibliographisches . .

. . . . .

36 46 52 52 60

1. Zur Ableitung der Bibelepik aus der rhetorischen paraphrasis

60

2. Die Bibelepik und das nachvergilische Epos. Ein Vergleich paraphrastischer Erzählformen a) Der Tod des Anchises b) Der Tod des Hamilkar .. c) Der Tod des Täufers . . . Exkurs: Dichten als Mithandeln

69 69 76 86 97

. . . . .

155

I. Zusammenfassung: Das Gattungsproblem der entstehenden Bibeldichtung . . . . . .

155

C. Die Bibeldichtung am Ende des 4. Jh.

II. Die Voraussetzungen der lateinischen Bibeldichtung ............. .

162

1. Die lateinische Poesie der Epoche 280-370

162

2. Die Auffassungen von der Möglichkeit christlicher Dichtung in der lateinischen Kirche ' Hieronymus und Augustin

167

3. Bibel und Poesie vor dem Auftreten der lateinischen Bibeldichtung . . . . . . a) Die literarische Offenheit der alt-lateinischen Bibel .............. . b) Die literarische Vermittlung der Bibel als Problem der christlichen Epikerimitation III. Ausblick: Der fragmentarische J ohannespanegyrikus des Paulinus v. Nola . . . . . . . . . . . . .

179 179 185 212

Zwei wichtige Bücher zur Spätantike Heinrich Marti: Übersetzer der Augustin-Zeit Interpretation von Selbstzeugnissen (Studia et Tcstimonia 14). 328 S. Ln. DM 98,-. Inhalt: Vorwort. Teil 1: I. Einleitung - Das Problem des Übersetzens heute - Das übersetzen in der Antike - Die jüdisch-griechische Diaspora - Die Römer und das übersetzen in der Rhetorik - »Römische Literatur in griechischer Übersetzung« - Die Sprachenfrage in der frühchristlichen Kirche - Das Ende der Zweisprachigkeit und Augustin. II. Zeugnisse - Außere Umstände - Umwelt - Materielle Grundlagen Gesundheit - Hilfsmittel und Auskunfl:spersonen - Technik des Arbeitsgangs bis zur Publikation - Voraussetzungen der literarischen Arbeit: Unzuverlässigkeit der Texttradition - Zustand der Vorlagen - Interpolationen und Fälschungen der Vorlagen - Philologie eine Christenpflicht - Zweck des Übersetzens - Das Publikum und seine Bedürfnisse Tendenzen der Übersetzer - Prinzipien des Übersetzens - verbum de verbo/sensus de sensu - cacozelia/euphonia - nova verba/circumloqui fideliter/ornate - Anhang: Eine moderne Beurteilung der ,fides interpretationis< - Selbständigkeit der Übersetzer - Grenzfälle - Außerungen zum Gegensatz Übersetzer/Verfasser - Sprach- und Traditionsbewußtsein der Übersetzer - Quellsprache - Zielsprache - Literarische Tradition. III. Schlußwort - Die Dokumentation - Die Hauptgedanken - Abhängigkeit und Selbständigkeit der Übersetzer-Zeugnisse Die Wertung des Übersetzens. Teil 2: Testimonia 1-90. Anhang: Abkürzungen - Literaturverzeichnis - Namen- und Sachregister - Stellenregister.

Eckard König: Augustinus philosophus Christlicher Glaube und philosophisches Denken in den Frühschriften Augustins. 168 S. Ln. DM 36,-. »Die Untersuchung greift ein viel diskutiertes Thema der AugustinInterpretation auf, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von christlichem Glauben und philosophischem Denken. Dabei verliert sich die Darstellung nicht in der Erörterung allgemeiner Probleme. Die Untersuchung Königs löst die alte Streitfrage nach dem philosophischen oder christlichen Ansatz in Augustins Frühschriften zu Gunsten eines bestimmenden Platonismus.« (Theologische Revue)

EINFÜHRUNG

Primus enim docili distinguens ordine carmen maiestatis optts metri canit arte ltwencus, hinc qttoque conspirni radiavit lingua Seduli, paucaqtte perstrinxit florente Orientius ore, martyribusque piis sacra haec donaria mittens pmdens prudenter Prudentius immolat actus, stemmate corde fide pollens Paulimts et arte versibus explirnit Martini dogma magistri, sortis apostolicae quae gesta vocantur et Sacra PoesisPflügers< mit seinen beiden Gefährten, dem ,Fleißigen, und dem >KlugenPersönlichkeitsverwirklichung< u. a.) die für jeden geschichtlichen Zusammenhang benötigte teleologische Linie (, Vorbereitung, Fortschritt, Erfüllung, Dekadenz, Reaktion, Nachleben, Renaissance< u. a.) stiften zu können. Andererseits zeigt eine Folge Juvencus, Cynewulf, Otfried, Petrus Riga, Vida einen nicht nur stofflich bedingten geschichtlichen Formzusammenhang, der mit der chronologischen Reihe nur interferiert: der Gesichtspunkt der Wirkungsästhetik verleiht ihm die historischen Objekten eigene Konsistenz und epochale Begrenzung - Konsistenz und epochale Begrenzung einmal durch die von Juvencus bis Vida gleichbleibende Publikumsforderung an den Autor (Erbauung am sakralen Text), zum anderen durch die vollständig durchgespielten Einlösungsmöglichkeiten dieser Publikumserwartung in gleichbleibender Orientierung an einer Gattung, am römischen Epos (Kopie und Verwandlung bei Juvencus, Kontrastexperimente der mittelalterlichen Werke, erneute Annäherung bei Vida). Diese vorläufigen, vorerst nur versichernden Bemerkungen machen deutlich, daß die vorliegende Untersuchung, ihren Gegenstand als den epochal begrenzten Ablauf einer durch die Responsion von konstanten Erwartungen und einander beeinflussenden Werkantworten hervorgebrachten literarischen Reihe begreifend, an der Möglichkeit der Gattungsgeschichte festhält, indem sie sich der vornehmlich von Ja u s s formulierten rezeptionsästhetischen Methode 118 bedient. Ein 117 Allgemeines hierzu bei H. R. Ja u s s, in: Literaturgesch. als Provokation der Literawrwissenschafi, in: Literawrgesch. als Provokation, Frankfurt 1970, 150 ff. 1180. (Anm. 117), 168 ff. Die Methode ist von Ja us s auch im Zusammenhang mit dem Problem des (mittelalterlichen) Epos entwickelt worden; vgl. Epos und Roman - eine vergl. Betrachtung an Texten d. 12. Jh., Nachr. d.

XXXVI

entsprechender, die Methode freilich im Bereich christlicher Literaturformen abwandelnder Entwurf für die spätantiken Anfänge der Bibeldichtung wird im folgenden skizziert. Die nachfolgenden Teile haben ihn in der Detailarbeit am Text zu verifizieren.

2. Die spätantike und frühmittelalterliche Wirkungspräsenz der Bibeldichtung a) Abschließende Bemerkungen zur Ü berlieferungsgeschichte

Ausgangspunkt, wie bei jeder antiken Literaturgruppe, muß die überlieferungsgeschichte sein; die überliefenmgssituation ist der erste dem modernen Betrachter objektiv wgängliche Rezeptionshorizont. Wie die nach diesem Gesichtspunkt gegebene Bestandsaufnahme (o. XIX ff.) gezeigt hat, ist sie dies im Fall der spätantiken Bibeldichtung in einer besonderen Weise. Der Bestand selbst wurde in einem spätantik-karolingischen Prozeß der Kanonisierung und Ausgrenzung beschnitten, das Wissen von den Autoren z. T. in metaphorische Inbegriffe, z. T. in die Anonymität verdrängt, die durch Einformung in einen theologischen Prosakanon überlagert wurde, die Werkeinheit in mehreren Fällen zerrissen und neu komponiert. Dieser Prozeß hat die Überlieferung bestimmt, er hat den Filter für jede weitere Wirkung der Gruppe bis zum 19. Jh. gebildet. Seine Energie mag nach der ganzen Skala der Auswirkungen noch einmal an der Bibeldichtung des Dracontius zusammengefaßt werden (vgl. o. XXIV): Aufspaltung des Werks, Neubearbeitung und deren Kanonisierung; außerkanonische Wirkungsgeschichte des Gesamtwerks, dessen Einformung in Pseudepigraphie. Nun sind erhebliche Eingriffe in den Bestand, die auf Kanonisierung und Neuordnung beruhen, in der antiken Literatur nichts Auffallendes (man mag - beispielsweise - den byzantinischen Kanon griechischer Tragiker, man mag auch die griechische Anthologie vergleichen), auch das Problem der Pseudepigraphie ist verbreitet (etwa in der Epistolographie und der Fachschriftstellerei). Was jedoch der vorliegenden Überlieferung einen extremen Platz gibt, ist das Zusammentreffen mehrerer Faktoren: a) die Erscheinung der poetisch-prosaGießener Hochschulges. 31, 1962, 77, Brunetto Latini als allegorischer Dichter, in: Formenwandel (Festschr. P. Böckmann), Hamburg 1964, 47 ff. u. Litt. mediev. et theorie des genres, Poetique 1 (1970), 79 ff.

XXXVII

ischen >Bibelndes< Lesers einer Epoche, ohne Erhebungen über die Differenzierung in mögliche Publika vorzunehmen. Diese scheint jedoch für die Zeit um 800 kaum erreichbar zu sein. Immerhin gibt es die folgenden Indizien: die karolingische Aneignung ist nicht einsinnige Rezeption, sondern sekundäre (parasitäre) Produktion; zwischen das (kompilierte) Werk und den (vom

XXXVIII

Kompilator intendierten) Leser (offizieller Adressat der Hof, »Karl«, zur Vermittlung an die lectio und ruminatio der Schrift in den Klöstern nach der benediktinischen Regel) 119 schaltet sich ein Leser-Vermittler als Exzerptor und Kompilator, also als Transformator des Literarischen ins Theologische. Hiermit ist ein primäres (begrenztes) und ein vom ursprünglichen Werk getrenntes sekundäres Publikum - das nicht als >literarischesprivate< ruminatio bezeichnet offenbar eine nicht didaktisch-vermittelnde Haltung zum Text, ein »Wiederkäuen«, ein poetisches Nachvollziehen des Sakralen - man kann es als Andachtsbedürfnis bezeichnen, seine Einlösung als Erbauung. Dieser Erwartungshorizont und nicht die präsupponierte Kontinuität einer Gattung dürfte die Bibeldichtung ans Mittelalter weitervermittelt haben. Nun ist - mit Recht - einzuwenden, daß sich in der karolingischen überlieferungssituation bereits eine entfernte Wirkungspräsenz der Bibelepik anzeigt; diese Situation ist mit der vom rezeptionsästhetischen Modell vornehmlich beschriebenen aktuellen Relation Werkerwartung (-forderung) eines Publikums ~ Erscheinen des Werks als Einlösung oder Modifikation der Erwartung~ Verarbeitung durch das Publikum nicht vollständig zu erfassen. Es ist nötig, nach einem dem Zeitpunkt der Werkentstehung näherkommenden Wirkungshorizont zu fragen.

119

Vgl. zu dieser speziellen Lektüreform

J. L e cl er q,

L' amour des lett-

res et l' amo1:r de Die 11, Paris 1957, 22 ff.

XXXIX

b) Die Wirkungspräsenz der Bibeldichtung in der Spätantike I: Das Problem des Publikums Beim Zurückgehen in die Spätantike zeigt sich jedoch, daß - abgesehen von Pseudepigraphie und Werkzerschlagung - die Züge des als Einheit zu betrachtenden spätantik-karolingischen Rezeptionsprozesses schon früh einsetzen: die Kanonisierung einzelner Werke beginnt vor 400 (Aufnahme des Juvencus in die Literaturliste des Hieronymus), ebenso die Ausscheidung abgelehnter Werke (Proba im Urteil des Hieronymus und des pseudogelasianischen Dekrets); auch das Absinken in die Anonymität ist bereits in der Spätantike vorzufinden (vgl. o. XXVIII). Also bereits die Entstehung und Entwicklung der spätantiken Bibeldichtung wird von nicht nur urteilenden, sondern energisch die Überlieferung bestimmenden Reaktionen begleitet. Nun ist aber die Erfassung der spätantiken Leser der Bibeldichtung, ihrer Erwartungen und ihres modus recipiendi noch schwieriger als für die karolingische Epoche. Vereinzelte Zeugnisse aus einem Zeitraum von ca. 300 Jahren vermögen allenfalls disparate und zufällige Reaktionen wiederzugeben. Jedoch spiegeln sich auch in ihnen die unterschiedlich interessierten Publika und der komplexe Erwartungshorizont der späteren Zeit wider. Keine der faßbaren Reaktionen geschieht aus dem Horizont eines am Richtpunkt des antiken Epos messenden, ja überhaupt eines für ästhetisch autonome Poesie prädisponierten Publikums. Lob und Ablehnung erfolgen nicht innerhalb eines literarischen Raumes, sie sind in ihren durchschlagenden Folgen, Kanonisierung und Ausscheidung, vielmehr erst dadurch verständlich, daß sie sich als Reaktionen einer Lesererwartung deuten lassen, die von der Bibeldichtung allererst Zugang zum sakralen Text, sodann dessen zureichende und dogmatisch einwandfreie Exegese, zugleich aber eine das eigene Andachtsbedürfnis gegenüber dem Saleralen erfüllende effektvolle Wiederholung des Vertrauten forderte. Zur Begründung werden die z. T. schon berührten Zeugnisse über die Aufnahme der Bibeldichtungen in der Spätantike zusammengestellt. 1. Hieronymus lobt Juvencus, weil er das NT paene ad verbttm transferens wiedergegeben habe 120, also als frühen und geglückten Versuch einer lateinischen Bibelversion; er verstand den poetischen Ort des Werks lediglich als ein sub metri leges mittere 121 • Ähnlich auch das Decret11m pseudogelasianum: die >Evangelien< als laboriosum opits non 120Vgl. u. 60. XL

121 Vgl. u. 61.

spernimus sed miramur. Hiermit ist das Bemühen um treue Bibelwiedergabe gemeint; v. Dobschütz hat gezeigt, daß der Platz, an den diese Liste das Werk stellt, es als eine nicht apokryphe Bibelversion ausweisen will1 22. 2. Eugenius hat De laudibus dei des Dracontius nicht nur streng auf ein biblisches Sujet (Hexaemeron) beschränkt, sondern es auch, als libellos multis hactenus erroribits involutos (V o 11m er 27), dogmatisch überarbeitet 123.- Hinter der Ablehnung der Alethia 124 ist auch ihr semipelagianischer Charakter zu vermuten. 3. Die einschneidendste spätantike Reaktion auf Bibeldichtung ist zweifellos der Auftrag, den der (kirchlich höher als der Dichter gestellte) Adressat des Carmen Paschale, Macedonius, nach Lektüre des Werkes an Sedulius richtete: er möge die Dichtung in Prosa neu bearbeiten (2. Epist. ad Maced.) - was der Verfasser tat. Man hat in diesem Faktum zumeist das eigene, mißbilligende Urteil über die Gattung bestätigt gefunden oder auch das Verlangen des Adressaten als Fiktion eines eitlen Literaten verstehen wollen. Hierbei sollte man sich nicht beruhigen, zumal diese Doppelbearbeitung sakralen Stoffs im Mittelalter Tradition geworden ist. Es läßt sich vielmehr in einer Analyse der Zweitbearbeitung, des Opus Paschale, zeigen, wohin nach deren neuen Akzenten die Forderung an den Dichter ging: Vollständigkeit der Bibelwiedergabe (es wird nachgetragen) und vor allem eingehende Kommentierung (es werden neue Exegesen eingeflochten, wobei auf weite Strecken durch Einschaltung des unveränderten (Prosa-)Bibeltexts vor die (Prosa-)Perikopen der Charakter einer Paraphrase vor dem eines Bibelkommentars gänzlich zurücktritt). Die Bibeldichtung selbst galt nicht etwa als mißglückt (schon im pseudogelasianischen Dekret: insigni laude praeferimus 125 ), sondern offenbar als ergänzungsbedürftig; das exegetische Bedürfnis überlagerte das poetische Werkangebot126.

122 (o. A.45) 282 f. 123Vgl. o. XXIV. 124 Vgl. o. XXIII. 12s (o. A.45) 281. 126Die hier gegebene Erklärung für die Prosabearbeitung des C. P. wird im zweiten Teil der Untersuchung ausführlicher begründet werden. Es sei bereits darauf verwiesen, daß die Actits Apostolorum des Arator aus der Spaltung des sedulianischen Werks die formale Konsequenz gezogen haben: Arator stellt jeder Perikope des poetischen Kommentars einen gekürzten Vulgatatext voran: die Bibeldichtung ist nun gänzlich in die Form des Kommentars integriert worden; das biblische Geschehen selbst erscheint in dieser meditativen Poesie nicht mehr.

XLI

4. Die Tatsache, daß das Carmen Paschale trotz der Prosabearbeitung zur erfolgreichsten Bibeldichtung der Spätantike wurde, bezeugten das Vorhandensein ästhetisch interessierter christlicher Leser. Während das einzige Juvencuszitat bei Hieronymus 127 noch eine der wenigen auslegenden Zusätze des Dichters zum Bibeltext bctriffi, ihn also als exegetische Autorität allegiert, weist die an Zitaten ablesbare Wirkungspräsenz der Bibelepik seit dem Ende des 5. Jh. auf ein anderes Bediirfnis. Die Anführungen aus Juvencus, Prudentius und besonders Sedulius seit Cassiodor 128 zeigen eine sichtbare Befriedigung dieses Publikums an der Poetisierung selbst, an imitativer, ekphrastischer, rhetorisch durchgearbeiteter, kurz: iiber das Vertraute luxurierender Wiederholung der Bibel (eines der ersten Beispiele: Cassiodors bewundernde Anführung (poeta veritatis) von C. P. 2,168 lignee, ligna rogas, surdis clamare videris 129• Die publikumswirksamsten Bibeldichter der Spätantike, Sedulius und Arator, sind zugleich die den Bibeltext am manieristischsten aufblähenden Vertreter des genre; für Arator ist eine von Beifall und häufigen Wiederholungen von Glanzpartien in die Länge gezogene öffentlich-kirchliche Rezitation i.iberliefert130, Die hier zusammengestellten Zeugnisse lassen sachlich-theologische Publikumsforderungen, aber auch andächtige Erwartungen ästhetischen Charakters erkennen. Anders als um 800 sind die Rezeptionsbedingungen beider ,Publika, (einmal vorausgesetzt, daß sie sich aus diesen Zeugnissen extrapolieren lassen): in der Spätantike stehen die auf kanonisch-sichtende und dogmatische Lektüre gerichteten (offenbar bereits ,offiziellen,) Leser einem Publikum mit freiem noch nicht theologisch vermitteltem Zugang zu den Dichtungen zur Seite. Als eine didaktisch-belletristische Alternative hat erst der Bearbeiter des Dracontius, Eugenius, beide Typen miteinander in Relation gesetzt: er übernehme jene Verse seiner Vorlage, in denen aiit m11lceat11r doctus, aut indoctus doceatur 131• Das sprechendste Zeugnis über die Ablehnung der Bibeldichtung als Epos liegt in der Ausscheidung Probas aus dem Kreis kirchlichkanonischer Autoren vor. Proba wird von Hieronymus eben deshalb 127Vgl. u. 52. 128Sie bedürfen, insbesondere für die mittelalterliche Zeit, einer Untersuchung, deren Ergebnis eine zutreffende Einschätzung des Phänomens der mittelalterlichen ,Renaissancensäkularen< Epik lassen noch keinen Verständnisraum für die Bibeldichtung als literarische Gattung. Die Aufnahme der Bibeldichtung seit der Zeit ihrer Entstehung ist also jener der karolingischen Zeit sehr ähnlich. Das Zurückgehen von der überlieferungssituation zu den Reaktionen der Spätantike zeigt sogar, was die schwindende Konstanz der Werkform betriffi, überraschende Parallelen: Juvencus als Bibelübersetzung, die auf Wunsch des Adressaten veranlaßte prosaische Bearbeitung des Carmen Paschale, damit erstmals die einem Werk zugemutete Doppelung von Poesie und Kommentar - hier zeichnen sich bereits die Elemente der Wigbodrezeption ab 134 • Es kann eingewandt werden, daß auch die Zeugnisse dieses zweiten Rezeptionshorizonts nicht die eigentliche spätantike Wirkungspräsenz der Bibeldichtung vor Augen stellen. Die Frage ist, ob die kirchlichen, z. T. (wie im pseudogelasianischen Dekret) offiziellen Charakter tragenden Reaktionen gegenüber der literarischen Befriedigung anderer Kreise durch die Bibeldichtung relevant sind. Stellen vielleicht die zwei-

132Vgl. epist. 53,7: quasi non legerimus H omerocentones et Vergiliocen• tones ac non sie etiam M aronem sine Christo possim11s dicere Christiammi .. . p11erilia s1mt haec .. .; vgl. Cento Probae v. 23: Vergilium cecinisse loquar .. . m1mera Christi. Hierzu u. L f. und 211. 133Ad voillntatem suam scripwram trahere repugnantem. 134 In engem Zusammenhang mit dieser spätantik-karolingischen Kontinuität ist die Tradition der Sedulius folgenden poetisch-prosaischenWerkverdoppelungen in der Hagiographie zu sehen, für die eine Darstellung noch aussteht; diese Doppelbearbeitungen (z. B. bei Becla,Alkuin, Candidus, Walter v. Speyer) schließen den Hauptteil dessen ein, was zwischen 700 und 1000 an lateinischer Epik verfaßt wurde.

XLIII

fellos vorliegenden theologisch begründeten Eingriffe, Verformungen und Umdeutungen Grenzen dar, denen sich ein in schulmäßiger Kontinuität seit der Antike aufrechterhaltener pagan-christlicher Lehrbetrieb der Spätantike ständig gegenübersah? Ist ein derart rhetorisch orientiertes literarisches Vergnügen als >Andacht< zu bezeichnen und nicht mehr literarisch-immanent zu deuten? Anders ausgedrückt: sind die vorhandenen Zeugnisse für das Publikum der Bibeldichtungen wirklich repräsentativ? Zumindest ergeben sie kein einheitliches Bild. Ausschließlich theologischen Stellungnahmen tritt bereits die literarische Fortune einzelner Werke, eine Disposition des gläubigen Publikums für eine ästhetisch anspruchsvolle Darbietung des Sakralen zur Seite. Für das Gattungsproblem laufen diese Erwägungen in der Frage zusammen, ob nicht doch - unter ungünstigen Rezeptionsbedingungen (Ablehnung durch die Orthodoxie) - der christliche Stoff der paganen Literaturtradition in der Form traditioneller Epen akkommodiert wurde, die auch als solche verstanden wurden. Nun läßt sich für die Bibeldichtung ein dritter, noch weiter an die Werke heran verlagerter Horizont der spätantiken Wirkungspräsenz greifen: die den Werken eingefügten, gewöhnlich in Proömien, Prosabriefen oder metrisch abgesetzten Präfationen vorangestellten Selbstaussagen der Bibeldichter, die in ihren poetologischen Reflexionen über die von der Antike her geläufigen Dedikations-, Proömien- und Sphragisformen hinausgehen. Das Phänomen ist der gesamten altchristlichen (auch der griechischen 135), der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Poesie eigen und in mehreren Beispielen von der Forschung auf seinen topischen Gehalt und seine christliche Metamorphose untersucht worden 136. Eine Gesamtdeutung steht aus; immerhin wird man rezeptionsästhetisch von vornherein den Grund solcher poetologischen Selbstaussagen in einer starken Distanz zwischen Publikumserwartung und vorgelegtem Werk sehen dürfen. Die Rechtfertigungen, das Anführen von Berufungsinstanzen, das starke Vordrängen geistlich gewendeter Topen beweisen durch ihre Existenz, daß der Dichter erwarten mußte, auf Leser zu stoßen, die sein Werk mißdeuteten. Die Selbstreflexionen in 135 Ausgebildetstes Beispiel: die sog. Protheoria zur Psalterparaphrasc des Ps.-Apollinaris v. Laodikeia (vgl. den Text mit Kommentierung bei J. Go1e g a, (u. 62), 25 ff.). 136 Für Spätantike u. MA ist von den Arbeiten Cu r t i u s' und Th r a e des auszugehen; fi.ir die frühe Neuzeit vgl. u. LXVII. (Hier harrt jedoch noch ein unübersehbares Material in Proömien und Dedikationsbriefen der Auswertung.)

XLIV

ihren meist dem Werk lose angefügten Formen sind also nicht mehr nur die antiken, der Gattungsidentifikation und der Abhebung von den Vorgängern dienenden Portale; sie versuchen allererst, eine Verständnisebene zwischen Autor und Publikum neu zu fundieren. Sie geben damit wichtige Hinweise auf den ursprünglichen Wirkungshorizont. Im folgenden beschränkt sich die Untersuchung auf die Selbstaussagen der Bibeldichter, und zwar insofern sie das Gattungsproblem (Epos) berühren.

c) Die Wirkungspräsenz der Bibeldichtung in der Spätantike II: Die Refiexion der Autoren ca) ]uvencus Juvencus konfrontiert in seinem Proömium 137 sein Werk mit älteren Epen (Homer und Vergil v. 9 f.): mihi carmen erit Christi vitalia gesta (v. 19) - zugleich epischer Anspruch und Kontrast zum antiken Epos. Denn Juvencus distanziert sich zugleich von der herkömmlichen Gattung insgesamt: die früheren Epen verfälschten alte Geschichte (veterum gestis hominum mendacia nectunt v. 16), seine Dichtung entbehre solcher Verfälschung (v. 20). Hier ist eine inhaltlich argumentierende Dialektik der Gattungsrezeption zu beobachten; das eigene Werk stellt sich in den Traditionszusammenhang, indem es behauptet, ihn durch sein einzigartiges Thema aufzuheben. Aber die Distanz erscheint bei näherem Zusehen nicht nur als überbietung. Der Dichter versucht nämlich, sein Werk außerhalb der Tradition neu zu definieren. Er gibt die >Evangelien< nicht etwa als das ,eigentliche,, gereinigte, etwa historische Epos aus 138 - offenbar involviert für ihn das Epos als solches bereits das mendacium, verstanden als (euhemeristisch interpretierte) Mytho-

Zur Begründung dieser Bezeichnung (gegenüber der herkömmlichen als Präfatio) u. 68. Kurze Interpretationen bei Er mini (u. 3), 145, van der Na t (u. 6376), 25 f., eingehender bei W i t k e (u. LXXII), 199 ff. 138 Etwa in Anknüpfung an die Position Lukans und die an sie anknüpfende Gattungsdiskussion (vgl. u. 83). Bedeutsam für die Destruktion der antiken Epik in der Spätantike ist es, daß sich gerade das einzige noch lebende Genre paganer Epik, die Panegyrik, ebenfalls auf seine >historischeWahrheit, im Gegensatz zu den Lügen der Mythologie zu berufen pflegt (vgl. vor allem Claudians Proömium zu De bello Getico); die Konsequenz ist hier nicht die Eliminierung, sondern die ständige überbietung der Mythologie. 137

XLV

logie und merveilleux epique -, sondern sucht es im Epilog (4,804 f.) als etwas Neues zu umschreiben: die divina !ex habe in seinen Versen den Schmuck menschlichen Ausdrucks ( ornamenta terrestria ling1tae) angenommen. Hiermit bleiben die Konturen zwischen Bibel (Vorlage), dem Sinn des eigenen Werkes und der >überwundenen< Großform paganer Poesie (Epos), genauer gesagt: der Spielraum zwischen den ornamenta seiner Poetisierung und den mendacia der herkömmlichen Gattung zunächst offen. Mit ihm auch die Gattungsfrage. Der Text, so scheint es, gibt für den direkten Zugriff keine weitere Auskunft auf die Frage, für welche Bedürfnisse der Dichter schrieb (ob für eine traditionell-literarisch orientierte oder eine der poetischen Tradition fremde, gläubig disponierte Leserschaft) und wessen Vorbehalte diese Reflexionen ausräumen sollten (ob die Verachtung der literarisch Gebildeten gegen den christlichen Stoff oder das Mißtrauen der Gläubigen gegen die Poesie selbst). Doch es muß nicht bei einem beide Möglichkeiten in Betracht ziehenden non liquet bleiben, das an diesem Punkt die rezeptionsästhetische Frage aufgäbe und sich der Toposgenealogie oder der werkimmanenten Betrachtung zuwendete. Zunächst mag zum Vergleich das Pendant zu dieser Reflexion in der Geschichte der Bibeldichtung herangezogen werden, die erste neuzeitliche Begründung der Gattung als Epos in den Discorsi dell' Arte Poetica des Tasso139, Tasso hat in seinem ersten Discorso zun,ichst die Möglichkeit einer Epik überhaupt nur mehr in der Wahl geistlicher Themen proklamiert, wobei der als Richtpunkt aller Poesie eingeführte Begriff des verisimile theologisch verstanden wird: nur wirklich Geglaubtes könne noch ein veri simile enthalten140; das mythologische Epos scheidet damit aus. Diese Position stellt wie bei Juvencus - Tasso differiert von seinem Vorgänger hier nur durch seine aristotelische Begrifflichkeit - vor das Problem der Gattungskontinuität zur Antike, wie es durch die Auseinandersetzung zwischen >romantischem, und ,antikem, Epos akut geworden war. Da Tasso sich nun für die epische Tradition mit ihren überlieferten Formen, insbesondere der supranaturalen Maschinerie ( meraviglio )141 entscheidet, sich selbst als Epiker begreift142, ergibt sich eine entscheidende Differenz zu Juvencus in der Themenwahl. Unter den drei möglichen geistlichen Stoffkreisen, die Tasso nennt143 - Bibel, außerkanonische heilige Historien, moderne religiös ge-

139 Ed. G i u s t i, Firenze 1875. Die Discorsi de[ poema eroico erbringen zu dem hier behandelten Problem nichts Neues. 140 12f. 141 Die Transposition des meraviglio ins geistliche Epos ermöglicht nach Tasso die Einführung einer genuin christlichen Form, des miracolo, ins Epos (14). 143 15 f. 142 13 f.

XLVI

bundene Geschehnisse - scheidet für ihn die Bibel aus: non ardisca il nostro epico di stender la mano, ma le lassi agli uomini pii nella lor pura e semplice veritd, perque in esse il fingere non e licito. Wer aber die Bibel gleichwohl poetisch behandele, poeta non sarebbe, 1na istorico144. Mit den letzten Worten wird die antike Lukankritik (die Tasso kannte145) aufgenommen; zwischen der (antiken) Gattung und der (unliterarischen) Andacht bleibt bei Tasso kein Verständnis mehr für die spätantike Poetisierung des heiligen Texts; will das geistliche Epos Epos sein, hat es die kanonischen Texte zu vermeiden; die Dichtung ist als solche Sachwalterin des Fiktionalen und die Bibel als solche ein vemm, historirnm; zwischen der Literatur und dem Sakralen haben sich keine Übergangszonen mehr zulassende Grenzen konstituiert. Die Analyse dieser Abgrenzung, unter der es der neuzeitlichen geistlichen Dichtung gelang, sich als Epos zu verstehen146 und unter der die Praxis der Bibelepik im 17. Jh. mit der Ausnahme Tassos und Miltons zu so permanenter Erfolglosigkeit verurteilt war, macht die Position des sich außerhalb der Gattungstradition stellenden Juvencus deutlich, sie erhellt aber auch die historische Bedingtheit des auf diesem Kompromiß zwischen Bildung und Religion ruhenden klassischromantischen Mißverhältnisses zur Bibeldichtung: eben an dem Ort, an dem die Neuzeit ihre scharfen Grenzen zwischen Glauben und ästhetischem Horizont zog, hatten sich in Spätantike und Mittelalter die authentischen, nicht in antike Form und christlichen Stoff auseinanderzudividierenden christlichen Gattungen konstituiert. - Hinter den Reflexionen Tassos und Juvencus' stehen zwei historisch bedingte Rezeptionsformen der Antike einander gegenüber: die Repristination einer als historisch fern gesehenen und als Vorbild bewältigten und die Destruktion einer als zeitgenössisch gesehenen und im Kontrast bewältigten Gattung 147,

Aber auch Juvencus selbst gibt in dem Hauptgedanken seines Proömiums eine Antwort. Hier wird der Vorgang der Poetisiemng selbst mit den theologischen Begriffen der guten Werke und der Erlösung identifiziert; die Öffnung der !ex divina fiir den ornatus wird nicht als Literaturwerk, sondern als Erbau1mgsvorgang proklamiert. Die Kern-

144 16. 145 Vgl. u. 86158, 146 Die Ablehnung der Bibel als Thema des geistlichen Epos findet sich noch bei Klopstock, allerdings modifiziert: sie gilt streng nur för die »Offenbarung«, insbesondere die Evangelien, die Behandlung der atl. Geschichten ist »noch in einer Art Weltlichkeit erlaubt« (Von der heyligen Poesie = Vorrede zur Ausgabe des Messias, Halle 1760, zit. nach: Werke ergänzt in drei Bänden, 2. Erg.-Bd., Stuttgart 1839, S. 177). Hier zeigt sich die Einwirkung der beginnenden Bibelkritik (vgl. u. LXIX). 147 Vgl. zu diesem Horizontwechsel und der dmch ihn begründeten Eigenständigkeit der spätantiken Epoche M. Fuhrmann, D. lat. Lit. d. Spiitantike. Ein literarhist. Beitrag z. Kontinuitätsproblem. Ant. u. Abend!. 13 (1967), 56 ff.

XLVII

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sätze dieses Programms finden sich in v. 17 f. und v. 21 f.; auf sie hin ist der scheinbar von der Realität der antiken Poesie ausgehende Beginn des Proömiums (v. 1-14) komponiert. In v. 1-5 wird die generelle Vergänglichkeit der Welt, auch Roms 148, im als Ekpyrosis verstandenen Weltende (v. 5) 149 dargelegt; innerhalb des saeculum aber daure lange (in tempora longa v. 17) das Nachleben durch Poesie (v. 6-10), am längsten (aeternae similis v. 12) der Ruhm der Poeten selbst (v. 11-14 ). Diese Erörterung dient jedoch nicht etwa dazu, die Vorbilder zu nennen, deren literarische Oberbietung das eigene Werk darstellen soll, sondern ist als Kontrast zum eigenen, nicht mehr literarisch verstandenen Vorhaben vorangestellt worden: a) dem Ruhm der Poeten (v. 11 ff.) wird ein eigener »ewiger Ruhm« (aeternae in saecula laudis immortale derns v. 17 f.) entgegengestellt, den dem Dichter sein »fester Glaube« (v. 17) eintragen wird; dieser Vorgang sei als Lohn für gute Werke (meritum rependere v. 18) zu verstehen 150• Damit liegt eine erste Verschiebung des Poetologischen ins Religiöse vor; der >Ruhm nach dem Ende der Welt< - noch ein Kontrastbegriff zur Literatur wird durch Glauben und Verdienst garantiert - Begriffe, die bereits aus dem ästhetischen Bereich herausspringen 151• Noch deutlicher wird die Motivation der Bibelbearbeitung aus gläubigen Antrieben, wenn Juvencus nach der Themenangabe (v. 19 f.) auch den Ausgangspunkt von der generellen Vergänglichkeit (v. 1 ff.) aufnimmt (v. 21 ff.): nicht nur sein Werk und Ruhm sei der Ekpyrosis enthoben - das Werk selbst werde vielleicht sogar ihn selbst vor der Verdammnis erlösen (hoc etenim forsan me subtrahet igni v. 22). Das Verdienst durch das Werk erscheint hier zur Erlösung durch das Werk gesteigert, ohne daß diese Steigerung sich noch auf einen literarischen Kontrastbegriff reduzieren ließe. Die Poetisierung wird als geistlicher Dienst am Wort, als Heilsmi ttel, also als Erbauung (vgl. o. XXXIX) begriffen. Es sind folglich

148 Vielleicht in Anlehnung an die Formulierung Georg. 3, 284 und Aen. 10,467 in Kontamination mit Hor. epist. 1,18,71. 149 Vgl. zur christlichen Tradition der Vorstellung W. Lenz, RAC 1 (1950), 515 f. 150 Richtig hat de W i t (u. 53 12) z. St. gesehen, daß es sich in v. 17 nicht um Gen. obj. abhängig von fides handelt (so übersetzte Knapp i t s c h (u. 53 11); jedoch kann dann certa fides nach den abhängigen Verben tribuere und rependere nicht einfach als »Erwartung«, »Zuversicht« aufgefaßt werden. Vgl. auch den Index bei Hans so n (538), s. v. fides. 151 Die Verschiebung wird deutlicher, wenn man die Rezeption des Horazwortes c 3,30 1, bei Hier. epist. 108,33 vergleicht.

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nur mehr Begriffe wie »Glaubensstärke«, »Furcht Gottes« (auf der Seite des Poeten), »Gnade« und »Friede Gottes« (auf der Seite seines Inspirators 152), mit denen Juvencus die Bedingungen seiner Poesie zu umschreiben imstande ist. Das Proömium zu den ,Evangelien< proklamiert zum erstenmal eine geistliche Gattung, die literarische Betätigung nur nichtliterarisch begründete, zur Literatur nur ein heteronomes Verhältnis fand. Die erbauliche Motivation der Bibelpoesie ist seit Juvencus für seine spätantiken Nachfolger verbindlich gewesen 153 • Ihre Reflexionen suchen vor allem das offen gebliebene Verhältnis zwischen christlicher Poetisierung und seinem Kontrastpunkt, dem Epos, näher zu bestimmen. cb) Proba

Proba setzt das Programm des Juvencus bereits voraus; sie baut seine Begrifflichkeit aus. Auch das Heilsgeschenk des einzelnen Sakraments kann nun zur poetologischen Begründung veranlassen: die Darstellung der Taufe Jesu mündet (in einer autobiographischen exclamatio) in den Dank für die Errettung in der eigenen Taufe, einen zur Poesie verpflichtenden Dank (v. 415-428, vgl. u. 47 ff.). Vor allem hat Proba als erste 154 das Arsenal theologisch-literarischer Begriffe auch durch Negatives erweitert, durch die »Sünde« = außergeistliche literarische Tätigkeit (vgl. v. 8 confiteor, scripsi, nämlich ein zeitgenössisches (panegyrisches?) Epos 154a, ferner v. 47). Hier kündigt sich eine auf Jahrhunderte Tradition bildende Identifikation an, deren Kenntnis zur Vermeidung autobiographischer Fehldeutungen in der christlichen Poesie nötig ist, die jedoch nicht einfach als >Topos< registriert werden sollte - sie erschließt nämlich einen weiteren Aspekt der Beziehung des Bibeldichters zum Publikum. Wird die Sünde >gestanden< (wie in v. 1-8), so erweitert diese Selbstkritik zumindest unsere Kenntnis von der früheren literarischen Tätigkeit der Autoren. Proba, Sedulius (im 1. Brief an Macedonius) und Arator (im Brief an Parthenius v. 41) werden als durchaus innerhalb des pagan-christ!ichen Literaturbetriebs Vgl. 4,802-806. Als mittelalterliche Abwandlung vgl. Poet. lat. acv. Car. 3,1 568. 154 Hiermit ist angedeutet, daß der Vf. für Commodian, bei dem die genannte Identifikation den Kern der poetologischen Reflexion bildet, Anhänger der Spätdatierung ist, wie sie zuletzt von P. Courcelle, Bist. des grandes invasions germaniq11es, Paris 1964 3, 319 ff., begründet wurde. 154a Hierzu u. 3. 152

153

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der Spätantike ausgebildete Autoren sichtbar; und diese Tatsache bedarf der Rechtfertigung vor den - nunmehr als Gläubigen sichtbar werdenden - Lesern der Bibelpoesie 155.Vor diesen Lesern andererseits kann Bearbeitung der Bibel, wie im Epilog des Juvencus, so auch bei Proba, nur als Wiederholung des bereits vertrauten Sakralen verständlich gemacht werden: rem nulli obscuram repetens ab origine pergam (v. 24). Hinter den Selbstaussagen wird bereits bei Proba die äußerst prekäre Lage des sich der Bibeldichtung zuwendenden spätantiken Poeten sichtbar: die Poetisierung kann vor dem massiv gläubigen Horizont eines möglichen Publikums nur als das Verhältnis des Publikums selbst zur Bibel eingeführt werden. Diese Begründung wird mit zunehmendem literarischen Eigengewicht der Gattung durch Projektion literarischer Form auf die Bibel selbst - nicht etwa auf das antike Gattungsspektrum! - zu stützen gesucht. Schon Proba beruft sich auf ihre »seligen Vorbilder« (imitata beatos v. 20) - ein erster, bisher übersehener Ansatz der besonders von Hieronymus ausgearbeiteten biblizistischen Fundierung der Literatur156. Die von Juvencus ausgeklammerte Frage der Rezeptionsgrenze gegenüber dem Kontrapunkt, dem Epos, hat Proba kühn und hier auf scharfen Widerstand stoßend 157 beantwortet. Während Juvencus der Bibel gegenüber nur den ornatus der höchsten Gattung für angemessen hält, vereinnahmt Proba die ganze Gattung in ihrem Hauptvertreter: Vergilium cecinisse loquar pia munera Christi (v. 23) - nicht etwa die Bibeldichtung als Epos (sondern als Cento), aber der klassische Epiker als Christ! - Die Lösungen des 4. Jh., >Evangelien< oder ,VergilpietistischenHäfen und Küsten< (biblische Perikopen) nur ,von ferne gegrüßtApostelgeschichte< die Konsequenz aus dem Schicksal des sedulianischen Werks gezogen und die Bearbeitung seines Themas 173gänzlich auf Kommentierung, nicht mehr Bibelwiedergabe beschnitten: prosaische Korollarien repräsentieren einen durchlaufenden sakralen Text; ihm folgen jeweils poetische Exegesen 174.

cd) Cl. Marius Victorius. Avitus. Dracontius Die grundsätzliche Lösung von der Identifikation der Dichtung mit dem biblischen Text, damit die Freiheit der Bibeldichtung zur Umstellung und Auswahl, hat seit dem Zeitgenossen des Sedulius, Marius Claudius Victorius, auch die alttestamentliche Dichtung praktiziert. Die Reflexionsleistung ihrer Vertreter betriffl: vor allem die inhaltliche Abgrenzimg gegenüber dem paganen Epos, insbesondere die Frage des merveilleux epique.

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172Die Identität Werk Erlösung wird nun vollends auf Details der innerliterarischen Relation Autor-Leser appliziert: der Leser reicht (durch seine wohlwollende Aufnahme des Werks) dem niedersinkenden Dichter die Hand (sc. wie Jesus dem sinkenden Petrus, vgl. das Vorbild bei Prud. C. Symm. praef. 2. und die parallele Applikation bei Ennod. opusc. 6,26 u. c. 1,7, 77 f.). Die gläubige Begründung der Literatur ist zur exegetischen Applikation der Bibel auf Poetologisches geworden. 173Es ist bereits unter einem rein literarischen Aspekt gewählt worden. In der epist. ad Parthenium schildert der Dichter unter Aufnahme des Parallelismus Weide Literatur seine Situation bei der Auswahl des biblischen Stoffs: er hätte sich in biblischen Hymnen (v. 73), einer Genesisdichtung (v. 74), auch in der Zusammenfassung sich entsprechender Stellen aus AT und NT (v. 75 f., gemeint sind Typologien) versuchen können. Hiermit werden zweifellos schon existierende Werke der christ!id1enDichtung und der Bibeldichtung insbesondere gekennzeichnet. Arator entsdiließt sich nach diesem überblick zu den noch nicht bearbeiteten Actus (v. 77 f.). Arator ist, wie die von ihm v. 45 ff. genannten Ambrosius, Sidonius und (der sonst unbekannte) Decentius bezeugen, die christlicheDichtung bereits als Tradition gegenwärtig. 174Genau umschrieben in der epist ad Vigilium v. 20 ff.:

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historiamque sequens carmina vera loquar: alternis reserabo modis quod littera pandit (Prosa) et res si qua mihi mystica corde datttr (Poesie).

LIV

a) Marius Claudius Victorius hat sich die Abweichung von der Bibelreproduktion nach der Darstellung des Hexaemeron gestattet 175, das Problem also durch das Postulat qualitativer Unterschiede im sakralen Text zu lösen gesucht. Als Motiv dieses kühnen Eingriffs erklärt sich die Selbstdarstellung des Werks - einzig in der spätantiken Bibeldichtungals Lehrepos in der dem antiken Stilgesetz dieser Epenform folgenden precatio am Beginn des Werks1 76. In der Alethia hat dieses Selbstverständnis nicht nur zur Umarbeitung des Vorlagetextes, sondern - wiederum einzig in der spätantiken Gattung - zur Selbständigkeit epischer Erfindungen gegenüber der Verbindlichkeit der Schrift geführt. Bis zur Vertreibung aus dem Paradies, so erklärt der Dichter im Proömium des zweiten Buchs, habe er den biblischen Bericht entsprechend der Glaubensverbindlichkeit wiedergegeben ( ut sincera fides potuit); nzmc hominum mores et iam mortalia versu ingressum fas sit veris miscere poetam.

(2,4 f.) Es bleibt nicht beim Programm. Die Alethia verformt die Geschichte der Adamiten zur Lukrez ausschreibenden Kulturgeschichte (2,90ff.) und überbrückt den biblischen Zusammenhang durch Reihung antiker Zeugnisse (3,99 ff.) - sie hat die Form eines biblischen Lehrepos erreicht. b) Die Kühnheit dieser Literarisierung wurde, wie erwähnt 177, ähnlich der Lösung des Cento Probae von der kirchlichen Tradition abgelehnt. Das Problem blieb jedoch bestehen und ist von A vitus in dem Widmungsbrief seiner Spiritalis historiae gesta an Apollinaris 178, der eindringlichsten Reflexion seit Juvencus, erneut diskutiert worden. Ausgangspunkt ist charakteristischerweise wieder die mögliche Kritik, es seien bei genereller Beachtung der biblischen Abfolge auch andere (biblische) Materien exkursartig eingeflochten worden: qui (sc. libelli) licet nominibus propriis titulisque respondeant et alias tarnen causas inventa materiae opportunitate perstring1mt - das Problem der Alethia. Avitus antwortet mit drei Überlegungen: 1. der Gattung könne nur Genüge tun ( aptus esse poemati queat ), wer neben den poetischen Grunderfordernissen (metri lex, vgl. die Charakterisierung der >Evangelien< durch Juvencus und Hieronymus 179) vor allem das GlaubensVgl. Aleth. 1,144ff. 176Vgl. vor allem v. 102ff. Andererseits fehlt die Subsumtion dieser Antikisierung der Bibel unter gläubige Kategorien nicht, vgl. v. 116 u. 119 ff. 111 O. XXIII. 178 Ed. P e i per, 201 f. 179 0. XL f. 11s

LV

bekenntnis (fidei lex) wahre. Mit dieser erneuten Beschreibung der Gattung als einer Form des gläubigen Ausdrucks verbindet sich erstmals eine Begrenzung der seit Proba zu beobachtenden Literarisierungsdynamik: 2. jedes merveilleux epique, sowohl der Rückgriff auf Mythologie180wie auch jede fiktionale Abweichung vom Bibeltext 181, sei unstatthaft; als Begründung dient ein Rückschluß vom Lektüreverbot derartiger loci in heidnischer Epik auf die Praxis im eigenen Werk. 3. Avitus sieht sich nun vor die Frage (in Form einer möglichen - die Kritik der modernen Literaturgeschichte antizipierenden! - Kritik der saeculares) gestellt, ob dann die Bibeldichtung nicht nur ein schlechter Kompromiß mit der Poesie (Epik) überhaupt sei (imperitiae aut ignaviae dabunt). Antwort: plus arduum quam frnctuosum opus aggressi182 diese Position weicht wiederum ins Nicht-mehr-Literarische aus: divinam ·lange discrevimus ab humana existimatione censuram. Indem die >Wirkung< des Werkes in den Bereich der Theologie transponiert wird, wird Gott zum eigentlichen >LeserPanegyrik< (laudes, praeconia v. 736 f.) dichten - und panegy-

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Verba illa vel nomina.

181Licentia mentiendi (mit Zitat von Hor. A. P. 9); Avitus deklariert hierauf, ganz im Sinne des >EvangelienRegeln der Kunst< (formula laudis v. 738) gar nicht möglich; diese verfahre nämlich nach einem zeitlichen Schema (von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, temporibus tribus ire solet v. 739), Gott aber sei so nicht zu fassen. Wieder ein Ausweichen von einer antiken Kontrastform ins Nicht-mehr-Literarische. 2. Nun sei ja, wenn nicht Panegyrik, so der einfach und vollständig reproduzierende Bericht des Paraphrasten denkbar (si laudator abest, narrator plemts adesset v. 741), jedoch: eine die Bibel wirklich erschöpfende Nacherzählung in der Form metrischer Dichtung könne es nicht geben (v. 742). 3. Was genüge, sei >Zitterndes Herz< und ,Gebet unter Tränen< (v. 743 f.). Wie bei Avitus mündet die Reflexion wieder in gläubige Kategorien. - Auch hier bestimmt die faktische Abgrenzung das Werk selbst: das Problem der Bibelpräsenz aus dem Horizont eines panegyrisch Dichtenden wird nicht mehr durch Paraphrase184 oder reine (kommentierende oder zyklisch ordnende) Exegese gelöst, sondern in der Verarbeitung nach dogmatischen Themen (hier: de ira et clementia dei, vgl. 1, 1 ff.), der die biblische Vorlage, zu einzelnen Exempeln aufgelöst, zugeordnet wird - ein erstes Beispiel christlic/J-dida!etischerBibelpoesie. Im Selbstverständnis der spätantiken Gattung hat sich hiermit eine deutliche Wandlung seit Juvencus vollzogen. Die Identifikation des eigenen Werks mit der Bibel, in der mit der im 4. Jh. entstehenden Bibeldichtung das Gattungsproblem noch verdeckt blieb, erscheint nun nicht mehr möglich; die Literarisierungsdynamik, dazu die Einführung der christlich-exegetischen Technik in die Dichtung, haben das Bewußtsein geschärft, daß das eigene Werk nicht mehr die Bibel >istersetzendenLehrepik< habhaft zu werden 200 geht - mit Ausnahme der Alethia (vgl. o. LV) - nicht an, vielmehr zeigt ein Vergleich mit den sich tatsächlich in die Tradition der antiken Lehrdichtung stellenden Werken (etwa des Prudentius, des Orientius oder des Autors adversus Marcionem), daß die bibelpoetische Anwendung der Typologie (Avitus) und Allegorese (Sedulius, Arator) eine eigene meditative, den Kategorien des Narrativen und Didaktischen inkommensurable Darstellungsweise entwickelt. Jede Subsumtion unter der antiken Gattungspoetik entnommene Begriffe führt hier zu verkürzenden oder

199 Vgl. Fuhrmann (o. XLVII147), 76, der die These historisch expliziert und die Dialektik der Kontrafaktur umrissen hat: einer Phase der kulturellen Erholung bis zur Mitte des 4. Jh. (73 f.) folgt auf christlicher Seite jene des Experimentierens und der Gattungskontrafakturen (76), endlich jene der offiziell christlichen Mischkultur. - Hierzu u. 161. 200 Vgl. u. LXXI. LXIII

r irreführenden Nomenklaturen 201. »Die vergilisierende Bibelepik ... ist im Raum der spätantiken lateinischen Literatur sui generis gewiß auch Pseudoform antiker Muster, aber mehr noch Nötigung zu neuer Struktur« (H. Kuhn)2° 2. Nun hat der Aspekt der Gattungskontinuität, besonders in der älteren Forschung, nicht zufällig meist die Konsequenz, daß diese Formenvielfalt meist nur als Abweichung von der Gattungsverbindlichkeit,. und zwar mit wertendem Unterton (Dekadenz, Sich-Vergreifen, Verfälschen) registriert wird. Es hieße die Forschungssituation nur halb referieren, würde diese inhärente Ablehnung unterschlagen. Sie hat nicht nur die Bearbeitung der altchristlichen Literatur blockiert, sondern weist, zumal in den tralatizischen Formulierungen der Handbücher, genau auf jenes Kompromiß zurück, in dem die klassizistischromantische Ksthetik die Scheidung zwischen Literatur und Glauben vollzog. Aus dem Kreis der von angewiderter Verachtung203 bis zur Entschuldigung des Herausgebers eines Bibeldichters über die Zeitvergeudung204 reichenden Urteile seien hier nur einige deutlich auf die zugrundeliegende Asthetik weisende Wertungen gereiht: a) die römische Epik erscheint in der Bibelepik mißverstanden, verunstaltet oder in sanfl:e Dekadenz überführt205; b) verletzt erscheint die (unliterarische) Einfachheit der Schrill:, die nur in der Innerlichkeit des Gefühls erfaßt werden kann 206 ; da somit

201 Vgl. die Verlegenheitsbezeichnungen in der lexikalischen Aufarbeitung spätantiker christlich-hexametrischer Poesie im Artikel ,Epos< (o. XV 3 ) Th r a e des ; es dürfl:e z.B. auch dem Leser der Dichtungen des Avitus und Dracontius Mühe bereiten, ohne Nachschlagen zu erraten, welcher der beiden Dichter sich hinter den Rubriken »elegisch-hymnische Umdichtung« und »dramatisch-lyrische Umdichtung« (1030) verbirgt. 202 Gattungsprobleme der mhd. Literatur (o. A.79) 23. 203 So etwa A. Puech, Prndence, Paris 1888, 20: »entierement mediocre, froid et plat au dela de toute mesure« (zu Juvencus); A. Zingerle (u. 1242 ), 494: »lächerliches Zeichen einer impotenten Dichtung« (zu Proba). 204 Vgl. Eudociae ... reliquiae ed. A. Lud wich, Leipzig 1897, V. 205 Vgl. Schanz-Hosius-Krüger, passim zu den einzelnen Autoren, vor allem die Zusammenfassung 636: »nur eine Nachblüte«, demgegenüber »krafl:volle Neubildungen in völkischem Sprachgewande« des MA.; M. L. W. Laistner, Thought and Letters in Western Europe 550-900, London 19572, Lett. lat. crist., Roma 19632, 52; S. Gennaro, Da 53; M. Pellegrino, Claudiano a Merobaude, Catania 1958, 38 ff. 206 Verletzt wird die nuda e casta venusta (U. Ses in i, Poesia e musica nella latinitd cristiana dal 3. al 10. sec., Torino 1949, 36), die touchante simLe livre de la Gf:nese dans la poesie latine a11 5eme plicite (St. Gamber, siecle, Paris 1899, VII) der Schrill:; vgl. hierzu vor allem M. P e 11e g r in o, LXIV

weder Originalität in der Pflege der antiken Gattung207 noch Echtheit des christlichen Ausdrucks20S gegeben sind, ist das Resultat völliges Mißlingen209, Dieser in Anbetracht der säkularen Tradition der Bibeldichtung paradoxe Richtspruch - »das Bibelepos ist während seiner ganzen Lebenszeit - von Juvencus bis Klopstock - eine innerlich ... unwahre Gattung gewesen« 210, läßt gerade durch das Unisono, mit dem er bis heute von den unterschiedlichsten literaturwissenschafl:lichen Richtungen vorgebracht wird 211, auf die Tiefe schließen, in der das spätantike Phfoomen den neuzeitlichen Ausgleich zwischen Literatur und Religion irritierte. Das offene Problem der Gattungskontinuität hat dazu geführt, daß die Forschung speziell an dem Hauptstratum europäischer Bibeldichtung, der bibeltreuen Metrifizierung in der Tradition des Juvencus, eine Theorie der rhetorischen Deszendenz der Bibeldichtung (ParaphraseTheorie) entwickelte. Diese hat nun eine gut erschließbare neuzeitliche

Religion et pof:sie dans le christianisme antique, Rev. Hist. Phil. Re!. 41 (1961) 396 ff. - Zur Vorbereitung dieser Bibelästhetik in der Epostheorie Tassos s.o. XLVI f. 207 Mangelnde Originalität: Lais t n er, 313; mangelnde poetische Fähigkeit: G. Krüger, 7. 208 Unechtheit des christlichen Gefühls: D. Romano, Studi Draconziani, Palermo 1959, 58 f.; M. Pellegrino, 122; Hudson-Williams, 21. 209 Sesini, 36; Romano, 60. 210 Curtius, 457. 211 E. Staiger: »Im Christentum scheint ein wahrhafl: episches Epos nicht mehr möglich zu sein« (Grnndbegriffe der Poetik, Zürich 19615, 135); R. Heinz e : »Ein allmächtiger Gott ... ist zur Person eines epischen Gedichts gänzlich unbrauchbar« (u. 70107), E. Auerbach: das frühe christliche MA »hatte weder eine Tragödie noch ein großes Epos« (u. 18476), (u. 6066), 149), Curtius: »hybrid« (457); »hybrid« auch bei J. Golega 1 und van der Nat (u. 6376), 61; Süß: »Attentat auf den Geist der Geschichte« (u. 107219),20. Die Zähigkeit der traditionellen Abwertung Hißt sich besonders dann ermessen, wenn sie, wie bei Th r a e de, Argumente erschließt, die einer neuen, gesellschafl:lichprogressiven Ästhetik entstammen. Die Gattung ist ihm deshalb »fatal«, weil an ihr deutlich wird, wie die Literaturfeindlichkeit der Kirche (die so »in die Nachbarschall: totalitärer Philosophie gerät«) die Poesie zur »Sakralisierung der Literatur« gezwungen habe (Studien, 21.45); in der Bibeldichtung habe die christliche Literatur den Preis für die Kontinuität zur Antike erlegt, nämlich den Verlust der gesellschafl:lichen(antih,iretischen und liturgischen) Aktualität (80). Die ästhetische Defizienz hat sich hier zur soziologischen gewandelt.

LXV

Vorgeschichte. Sie sei hier exkursartig skizziert, weil sie es gestattet, an einem Punkt die Ursachen dict Absterbens der spätantik-barocken Form als die ästhetischen Vorauss;tzungen der Forschungssituation zu identifizieren. Exkurs: Die Abgrenzung der neuzeitlichen Bibelepik von der poetischen ,parn:phrasis, Die Verwendung des rhetorischen Terminus paraphrasis für die freie Bearbeitung des Bibeltexts findet sich m. W. zuerst 1516 im Titel für die lateinische Prosafassung, die Erasmus seiner Edition des griechischen Urtexts des NT beigefügt hat (vgl. zu diesem Unternehmen W. Schwarz, Principles and problems of biblical translation, Cambr. 1955, 127ff.). >1:araphrase< wird die bearbeitete Bibel zu dem Zeitpunkt, zu dem zum erstenmal der Urtext als die >eigentliche< Bibel philologisch ans Licht gestellt wir?:- zunächst nur für die Gebildeten212, Der ausführlich aus der neu rez1p1erten rhetorischen Technik begründete Terminus setzt sich dann in dem Maße durch, in dem die nationalsprachlichen Übersetzungen der Bibel sich verbreiten213. Während so der Humanismus seit der Mitte des 16. Jh. angesichts des Faktums >Urtext< und Übersetzung die Tradition der metrischen Bibelumsetzung als eine rhetorische Übung begreift214, wird diese Deutung von einer anderen Seite bestätigt: durch die zunehmende Ablösung einer sich bewußt der antiken Gattung Epos einformenden Bibelepik aus dem Strom der spätantik-mittelalterlichen Poetisierungen. Dieser Vorgang, der der spätantiken Destruktion der antiken Epik spiegelbild~ich re_spondiert215, i~t durch komparatistische Spezialuntersuchungen zur Bibelepik der neulate1-

212 Erasmus hat - trotz eines starken andächtigen ornatus in seiner lateinischen Bearbeitung - die Identität dieser >Paraphrase< mit dem neu herausgegebenen Urtext noch nicht als Problem empfunden; die philologische Methode steht noch neben der mittelalterlichen Tradition der Bibelbearbeitung. Nach Erasmus sollte die >Paraphrase< für den des Griechischen nicht Mächtigen durchaus den Charakter der Bibel selbst tragen, ähnlich wie die mittelalterlichen Bilderbibeln und Plenarien für den des Lesens Unkundigen (vgl. L. W. Spitz, The religious renaissance of the German lmmanists, Cambr./ Mass. 1963, 219). Erasmus hat sich übrigens zur Verteidigung seiner Edition auf Juvencus berufen ( epist. 456, 83 ff. von 1516). 213 Ein früher Beleg sind Luthers fortlaufende Bemerkungen zu Eobans ihm gewidmeten Gradualpsalm und weiteren 16 Psalmen (Nürnberg 1530), die der Edition beigedruckt sind. Zur Umdichtung von Ps. 126 bemerkt Luther ausdrücklich, er billige hier die von der Rhetorik der paraphrasis (im Gegensatz zur interpretatio) erlaubte Freiheit in der Bibelwiedergabe (B 5). 214 Vgl. die Paraphrasen-Theorie bei R. Ascham (Schoolmaster, vgl. u. 6482), 215 Diese reziproken Vorgänge nahm die o. XXXVI angedeutete epochale Begrenzung der Gattung Bibeldichtung zum Kriterium.

LXVI

nischen216, italienischen217, französischen218 und englischen219 Literatur sehr gut sichtbar geworden220. Er setzt ein als Verwandlung der noch spätantiken Themen in den poetologischen Reflexionen geistlicher Dichtungen des Frühhumanismus221 zur meist in Präfationen abgehandelten, alsbald aristotelisierenden Vindizierung des Epos für den sakralen Stoff222, die oben (XL VI f.) an dem exemplarischen Fall Tassos besprochen wurde. Er läßt sich sodann an einer immer stärkeren Abdrängung traditioneller Bibclpoetisierungen aus dem Rang der anspruchsvollen (nämlich epischen) Poesie in die Massenliteratur des meist nur in Meßkatalogen Greifbaren verfolgen. Die von Sa y c e und Kurt h in Anhängen zusammengestellten Kataloge französischer und englischer Bibeldichtungen zwischen 1580 und 1660 zeigen die gegenläufige Bewegung dieses Vorgangs: Episierung der Bibel in einer Vielfalt von Experimenten mit dem Formenrepertoire des antiken Epos (die Unbefangenheit dieser Rezeption, die erst das Problem des merveilleux chretien stellte, steht in charakteristischem Kontrast zu den Beschränkungen der spätantiken Parallele) und auf der anderen Seite die zunehmende Isolierung der exegetischen Formen der spätantik-mittelalterlichen Tradition223 zu einer Subliteratur der >ErbauungsFlöte< oder dem >Altar< des Optatianus Porphyrius (ed. Kluge 33ff.) der Inhalt ist gegenüber dem formalen Gelingen nebensächlich.

Soweit die Theorie des Ausonius. Sie entspricht bereits in bemerkenswerter Weise der modernen Haltung zur Centonendichtung, die die Literaturgeschichte durchweg als ein Dekadenzprodukt dem Interesse des Lesers an Kuriosem anheimgestellt hat. Ein Skandalon aber wurde dieser Haltung die Existenz christlicher Centonen. Man findet bis heute 23 gegenüber keinem anderen spätantiken Dichter so mühsam ihr Befremden zügelnde Herausgeber und Literaturhistoriker wie beim christlichen Cento. Offenbar störte diese Form besonders eklatant den Ausgleich zwischen humanistischem Klassizismus und Christentum, wie ihn die Forschung des 19. Jh. übernahm: dem literarisch normativ verstandenen klassischen Altertum konnte in der spätantiken Literatur nur ein rein inhaltlicher, ja weitgehend als außerliterarisches, spezifisch formfeindliches Gefühl verstandener Glaube zur Seite treten 24. Man versteht, daß 23 Zuletzt D. S. Wiesen, Minucius Felix and the bible, Hermes 99 (1971 ), 84 24 Vgl. oben LXIV f. Wie der überblick 0. De 1e pi er r es (Centoniana. Encyclopedie du Centon, Miscell. of the Philobiblical Society London 10-11 (1866-1868), 9-190 und 317-505) zeigt, ist auch in der Beurteilung des Cento die europäische Romantik die bestimmende Zäsur gewesen. Die Gattung wurde bis zum ausgehenden Barock gepflegt (der Inhalt reicht vom Sakralen bis zum politischen Pamphlet) und fand schließlich bei den klassischen Philologen (besonders in den appendices zu frühen Editionen lateinischer Dichter) Zuflucht. Noch die oben 4 angeführten Arbeiten von Borgen und Ha s e n b a I g fügen eigene Produktionen an und kennen die gesamte Tradition seit der Spätantike. Erst als Romantik und Historismus die Originalität des Kunstwerks sowie seine unwiederholbare Historizität propagiert hatten und der literarhistorische Positivismus des späten 19. Jh. von ihren Voraussetzungen aus sich der Centonentradition von neuem zuwandte, bildete sich die gängige Mißachtung der Form aus (vgl. Schanz - Ho s i u s, 219: »der ästhetische Sinn wird nicht selten verletzt, die biblischen Dinge erhalten ein Gewand, das nicht zu ihnen paßt« und G. Bar d y, La litt. grecque ehret., Paris 1928, 163: »chef d'oeuvre de mauvais gout« - beide Urteile repräsentativ für den herrschenden Tenor). Selbst wo die heutige Forschung sich von diesen ästhetischen Voraussetzungen freigemacht hat, werden die ausonischen Regeln oft nur zur Kenntnis genommen und nicht an den Werken überprüft; die poetischen Möglichkeiten des Cento werden unterschätzt, so noch W. Schmid, Tityrus Christianus, RhMus 96 (1953), 1026 und 155135, der ihm nur eine mechanisch-äußerliche Rezeption zutraut, differenzierter K. Th r a e de, Studien (o. XVII9), 2522. 6

die in diesen Ausgleich eingeschlossene Abwertung der christlich-lateinischen Poesie am Cento größeren Anstoß als etwa an der Hymnodik oder am Bibelepos des Avitus nehmen mußte; denn hier dringen Epos und Evangelium direkt ineinander, schienen also Jesu Verkündigung und die höchste poetische Gattung durch ihre Vermischung in exemplarischer Weise herabgewürdigt zu sein.

2. Die Möglichkeiten der Centonentechnik Nun scheint die Theorie des Cento, wie sie Ausonius entwickelt, auf den ersten Blick die Dichotomie dieses Verständnisses - christlicher Cento = vergilische Form und biblischer Inhalt - zu bestätigen. Denn der Cento stellt sich nach dieser Theorie poetologisch als ein integrales Rezeptionsmodell formaler Natur dar, das eine totale inhaltliche Lizenz ermöglicht. Anders ausgedrückt: das sich als rein formal deklarierende Nachdichten (Cento als Vergil) wird, wie die Erörterungen des Ausonius zeigen, perfektionistischen Regeln unterworfen, die die vollkommene Neutralisierung des ursprünglichen Sinnes sichern sollen. Angestrebt wird nicht eine Neuformung des vergilischen Inhalts, der Motive und der epischen Technik des Klassikers (Vergil als Cento), die eine extreme Spielart der in den verschiedensten Gattungen der Spätantike gepflegten Imitation darstellen würde, sondern eine Freisetzung der vergilischen Ausdruckswelt zur Paraphrase neuer Themen, die beliebig gewählt werden können. Zur Erläuterung dieser Differenz empfiehlt es sich, die Technik der Vergilneutralisierung im Cento im Vergleich mit der traditionellen Vergilimitation im lateinischen Epos an einem Beispiel zu kennzeichnen. Die Entlehnungen der imitatio - sie seien hier nur in den wichtigsten Vergleichstypen aufgezählt 25 - können Rezeption des einmal gefundenen poetischen Paradigmas für eine Situation, aber auch für die poetische Struktur des ganzen Werkes sein, der Form nach von der Anspielung bis zum Ausschreiben reichen, oder - für die Traditionsbildung und das Selbstverständnis der römischen und christlichen Dichter wichtig - den Charakter eines Zitats aufweisen, das Autorität bekräftigt oder einen Kontrast setzt 26 -, stets werden sie als bedeutungsintensive Elemente 25 Vgl. die ausführlichere Erörterung unten 185 ff. 26 Vgl. Seneca, suas. 3,7 (über Ovid): quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non subripiendi causa, sed palam mutitandi, hoc artimo ut vellet agnosci.

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versteckt oder programmatisch in einem grundsätzlich neutralen, weil autonomen Kontext plaziert. Sie sind Intarsien vergleichbar, die erst durch die Einpassung in ein zugleich fremdes und relativ gleichförmiges Material ihre traditionsbildende Funktion als Struktur-, Zeichen- und Schmuckelement erfüllen. Erst die ausschließliche Reihung von Intarsien ergäbe die musivische Struktur, wie sie dem Cento eigen ist: im Unterschied zur Intarsie der Imitation vermag die musivische Partikel nicht mehr ihren ursprünglichen Sinn zu vermitteln, sondern erhält erst durch die Einformung in dit Kette ihrer Nachbarn eine partielle Bedeutung. Man vergleiche zur Erläuterung etwa die folgenden Vergilrezeptionen:

Carmen de resurr. 164 ff. (ed. Waszink 78): magnanimi ittvenes, pueri innuptaeque puellae defunctique senes animis viventibus adstant, infantttmque gemens resonat vagitibus orbis.

Ausonius, cento nupt. 68 ff. (ed. Schenk! 143) at chorus aequalis, pueri innuptaeque puellae versibus incomptis ludunt et carmina dirnnt: o digno coniuncta viro, gratissima coniiix ...

Der Verfasser des Gedichts über die Auferstehung hat Vergil in der Art der traditionellen Imitation rezipiert; das eingelegte Gewebe aus dem 6. Buch der Aeneis 27 wahrt als Intarsie seine ursprüngliche Bedeutung; es soll, wie so oft in der christlichen Dichtung 28, der Masse der Toten (hier in der Auferstehungsszene) Kontur und Individualität verleihen. Das innerhalb der Intarsie Unpassende wird koupiert und ersetzt29, auch kann sie durch Passendes aus anderen Parteien des gleichen vergilischen Kontexts angereichert werden 30 ; das so erreichte Konzentrat leistet als handlungsgelöste Enumeration den gewünschten Effekt bildlicher Fülle. So stark sich dieses dichte Imitationsgewebe dem Ein-

Vgl. Verg. Aen. 6,306 f. und 6,426 f. Vgl. P. Courcelle, Les peres de l'eglise devant !es enfers virgiliens, Arch. d'Hist. Doctr. et litt. du Moyen-Age 30 (1955) 18. 29 Verg. Aen. 6,306 f. lautet: defunctaque corpora vita magnanimum heroum, pueri ... 30 So wird Aen. 6,426 f. syntaktisch vage assoziiert: auditae voces vagitus et ingens inf antt1mq11eanimae flentes.

druck des Cento nähert, so deutlich ist der Unterschied, sieht man auf die semantische Konstanz. In der Rezeption des Ausonius verliert die Junktur pueri innuptaeque puellae ihren Sinn als Bezeichnung einer Gruppe aus dem Tartarus und wird zum vorgeprägten poetischen Element, zur musivischen Partikel neutralisiert. Der Bedeutungsschwund ist in diesem Fall erheblich, denn auf dem prägnant gebrauchten innuptae lag die ganze Sentimentalität, die Vergil den zu früh Gestorbenen zollt; im Sinnzusammenhang des Ausonius aber bezeichnet die Junktur eine Gruppe von Hochzeitsgästen, die an einer bestimmten Stelle der Feierlichkeiten auftreten, eben die noch Unverheirateten. Der Idealfall des restlosen Aufgehens scheint Ausonius hier geglückt zu sein. Gleichwohl handelt es sich um eine Ausnahme. Das wird deutlich, wenn am Beispiel dieser Stelle überprüft wird, welche Sinnverschiebung den einzelnen Partikeln widerfährt: Es bezeichneten ursprünglich: 68 at chorns aequalis: 69 versibus incomptis 69 et carmina dirnnt: 70 o digno conitmcta 70 gratissima coniux:

Den neuen Sinn im Cento nuptialis stiftet ersichtlich erst das Element aus den Eklogen, dessen ursprünglicher Bedeutungshorizont 31 rezipiert wird. Dieser Bedeutungshorizont überformt und neutralisiert dann auch die versus incompti und die carmina - sie können nun als Feszenninen verstanden werden. Und diese Eindeutigkeit vermag erst die beiden Elemente in v. 68 - beide bei Vergil eine konträre Gefühlslage bezeichnend - zu integrieren. Die Konsistenzbildung im Cento erfolgt also durch die Rezeption von Leitreminiszenzen, deren semantische Ausstrahlung einen Hof von Neutralisierungen ergibt. Betrachtet man nun die Verwendung der gleichen Junktur pueri innuptaeqtte pttellae z.B. im Bäckercento 32 , dann wird vollends fraglich, ob man überhaupt noch von Integration nach dem Modell des Ausonius sprechen kann: Conclamant rapitmtque foris onerantque canistris rmdique conveniunt pueri inmiptaeque puellae

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28

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Klage der Dryaden über Eurydike Georg. 4,460 lr1d11nt:die altitalischen Bacchenfeste Georg. 2,386 Reigentänze der Seligen in der Unterwelt Aen. 6,645 viro: das ironische Epithalamium des Damon Ecl. 8,32 die Anrede Junos durch Jupiter Aen. 10,607

(v. 10f.)

31 32

Unter Fortfall der vergilischcn Ironie! Anth. Lat. (Riese) 1,12 (1894), Nr. 7. 9

Offenbar will der Verfasser den Auflauf der Jugend bei der Ausgabe des frischen Backwerks ausdrücken 33 ; das Attribut innuptae ist hierbei ein scherzhaft in Kauf genommener inhaltlicher Überschuß aus dem Modell - dies aber ist ein charakteristisches Phänomen auch der normalen Imitation 34 • Konsequent durchbrochen aber finden wir die ausonische Regel aliena ne interluceant in dem beträchtlichen Bestand an Centonendichtung, der die Darstellung des Obszönen pflegt. So schon bei dem Vorbild aller Späteren, dem Schlußteil des Cento nuptialis 35, vollends bei seinem berühmtesten, ihm technisch wohl überlegenen Nachfolger, dem Cento Gallus des Caelius Capilupus 36 • Hier wird der vergilische Überschuß bei der Paraphrase eines neuen Stoffes nicht nur in Kauf genommen, sondern bewußt und ständig als Kontrast genutzt, oder - um die bekannte Terminologie zu gebrauchen - es treten sich nicht mehr nur Form und Inhalt, sondern Inhalt und Inhalt gegenüber. Die Folge ist, daß der paraphrastische Charakter des Cento zugunsten seines metaphorischen zurücktritt. Zur Erläuterung: man vergleiche die Koitusschilderung bei Ausonius und Capilupus. Die Rezeption von Junkturen z. B., die ursprüngliche Schlachtszenen transponieren, will deren Sinn nicht etwa neutralisieren, sondern bewahren: Vergil muß zum ästhetischen Genuß, ja überhaupt zum erotischen Verständnis eines Ausdrucks wie illa mamt moriens telum trahit, ossa sed inter altius ad vivum persedit vulnere mucro37 evoziert werden. Eine solche Prägung hat sowohl eine Vergil umdeutende ( nicht reproduzierende) wie das Gemeinte andeutende ( nicht paraphrasierende) Funktion - das ausonisch-klassizistische Modell vermag mit seinen Begriffen von Form und Inhalt diesen Rezeptionstyp nicht zu erfassen. Der Cento etabliert hier in Wahrheit eine autonome, exe-

Vgl. Ermini, 42. Vgl. die Analyse des exemplarischen Falles Ov. am. 1,15,25 f. Lucr. 5,92ff. bei Löfstedt, Reminiscence and Imitation. Same Problems in Latin Lit., Eranos 47 (1949), 149; hieran anknüpfend und die Beurteilung von Ovids Vergilimitation durch den älteren Seneca (oben 726) erörternd Lamacchia, 198. 35 Ed.Sehen k 1145 f. (>immintttioÜberschuß< des Modells, der nicht beschreibt, aber als Metapher um so zweideutiger wird. Parodistischen Charakter tragen - abgesehen von der eigentlichen Vergilparodie außerhalb der Centonen50 - ebenfalls einzelne Stücke des Codex Salmasianus, der damit beide Formen repräsentiert: der schon erwähnte Bäckercento 51, der Cento de alea 52 und eine Imitation des Ausonius, der Cento n11ptialis des Luxurius 53,

48 Vgl. Lama c chi a, 208: »situazioni nuove, ma analoghe« Petronius, satyr. 132,11 50 Es sei hier angemerkt, daß im Gegensatz zur Rezeption der neuzeitlichen Klassiker die antike Vergilparodie nur in wenigen Trümmern bekannt ist, andererseits die Neuzeit nicht den parodistischen Cento kannte, was sicher mit der abnehmenden mnemotechnischen Fähigkeit zusammenhängt: wichtigste Voraussetzung eines jeden Cento ist ein auf das Auswendiglernen der Klassiker gestellter Schulbetrieb. Bei Schiller z.B. gehen die gängigen (heute bereits absterbenden) Umdeutungen ohne Änderung des Wortlauts nicht über den Einzelvers hinaus, und selbst die humanistisch Gebildeten konnten die antiken Klassiker seit dem 18. Jh. nur mehr travestieren (so B 1um au er s Vergiltravestie 1783). Das beweist, daß die Begriffe parodistischer Cento und Parodie deutlich zu sondern sind. Parodie erscheint inhaltlich definiert als die verulkende Verfremdung des Normativen, die nach verschiedenen Kategorien der Änderung (Travestie, Pasticcio), aber auch ohne Änderung der Vorlage, durch Hyponoia (wie im parodistischen Cento), ablaufen kann. Demgegenüber gehört der Cento mit dem Zitat und dem Plagiat in eine formale Begriffsreihe, die verschiedene Ausmaße der Reproduzierung bezeichnet; in ihr als einer Figur der identischen Wiederholung erst vermag Metaphorik zu entstehen, die nicht unbedingt parodistisch angelegt sein muß. Vgl. W. He m p e I, Parodie, Travestie u. Pasticcio, Germ.-Rom. Monatsschr. 46 (1965), 150ff. 51 Vgl. o. 9 52 B.-R.,Nr.8 53 B.-R.,Nr.18 49

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II. Der Cento

Probae

Unter den übrigen Vertretern der Gattung hebt sich Probas Bibelcento nicht nur durch seine außergewöhnliche Länge, sondern auch durch seinen ausgewogenen Aufbau hervor, der die traditionelle Gliederung eines größeren Epos nachzuvollziehen sucht. Bereits diese Tatsache weist ihn im Gegensatz zu dem Technopägnion des Ausonius als ein Produkt mit literarische1r1Anspruch und eigenen Intentionen aus. Proba beginnt - noch ohne die Centonentechnik anzuwenden - mit einem allgemeinen Proömium (v. 1-28), einer eingehenden poetologischen Reflexion, die den cento christianus begründen will 54 • War dort (v. 10 f.) der deus omnipotens zur Inspiration um Ausgießung des Heiligen Geistes angerufen worden 55 , so steht am Anfang des eigentlichen Cento eine invocatio (v. 29-34) an Gottvater (pater 29) und Sohn (tuque ades ... nate 31 f.). Die Anrufung beider Gottespersonen in dieser invocatio, insbesondere die Betonung der Präsenz Christi im alten und neuen Bund (v. 34) soll offensichtlich AT und NT verklammern; das im allgemeinen Proömium gegebene Thema pia munera Christi (v. 23) wird nun als Titel einer einheitlichen Dichtung über die gesamte Schrift deutlich 56 • An diese Verklammerung sich anschließend 57 geht die

invocatio in ein spezielles Proömium zum AT (v. 35-55) über. Ihm korrespondiert das Binnenproömium zum NT (v. 333-345). Das Werk schließt mit einer precatio an Christus und einer Wendung an den Gatten (v. 689-694). Auch der eigentliche Körper der Dichtung unterliegt dem Bemühen um Episierung; er ist in ausgewählte Szenen gegliedert, deren Gewicht sich in AT und NT die Waage häl tSS. Welchen Hintergrund hat eine solche Übertragung des Cento ins literarisch Ernsthafte und zugleich ins Ernsthafte des biblischen Sujets? An Stelle literarhistorischer Ableitungen und religionsgeschichtlicher Vermutungen hat die formgeschichtliche Analyse das Wort. Als Ausgangspunkt diene im folgenden die Geschichte vom Seewandeln Christi (Mt 14, 22-32, vgl. Mc 6, 45-51 und Joh 6, 16-21):

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540 Zur Interpretation vgl. o. XLIX ff. Septemplicis ora resolve spirit11s. Auch die Vergilprägungen v. 25 ff. ( Aen. 6, 726ff.; zur Bedeutung dieser Rezeption u. 204) sowie v. 21 zeigen die Verbindung des allgemeinen Proömiums (im Gegensatz zum Centoproömium v. 29-34) mit der dritten trinitarischen Person. 56 0 p e lt übersieht diese (trinitarische) Verklammerung und bestreitet deshalb eine einheitliche Komposition des Werks (10924); da das Thema »nur« pia m1mera Christi laute und das Werk mit zwei Proömien beginne, sei der ad. Teil wahrscheinlich erst nachträglich vorgesetzt worden. Die Verklammerung verbindet auch das Proömium des NT mit der invocatio: v. 34 (iam nova progenies, omnis q11em credidit aetas) korrespondiert v. 334 und v. 343 (seraq11eterrifici cecinernnt omina vates ). 57 V. 34 schließt mit nam an, und in v. 35 heißt es, Moses als vester (Gottvaters und des Sohnes) M11saeus habe der Welt Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges bekanntgegeben. - V. 36 war von Schenk! (524) in Verkennung der Centonentechnik der Eigennamenumdeutung (vgl. u. 27) so verstanden worden, daß sich Proba hier die Heiden anredend (vester) auf Musaeus beruft; die hsl. Bezeugungen Mosettm oder Moyse11m seien spätere Interpretation. Daß Moses und sein Schöpfungsbericht als Kontrastfigur gemeint sein könne, erwägt Cacioli (2411), d~l: jedoch vester nicht zu erklären vermag. Vester aber ist noch immer Anrede der beiden Gottespersonen: »euer«, näm54

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inde ubi prima fides pelago, tranquilla per alta dedurnnt socii naves atque arte magistra hie alius latum f unda transverberat amnem alta petens, pelagoque alius trahit umida lina. postquam altum tenuere rates nec iam ampli11sullae ocrnrrttnt terrae, crebris micat ignibus aether, erip.frmt subito nubes caelumque diemque, cons11rg11ntventi et fiuctus ad sidera tollurtt. at sociis subita gelidus f ormidine sanguis diriguit: cecidere animi rnnctique repente pontum adspectabant fientes - vox omnibus una spemque metumque inter dubii, sett vivere credant sive extrema pati, leti discrime parvo, qualia multa mari nautae patiuntur in alto. ecce deus magno misceri mummre pontum emissamque hiemen sens.it, cui rnmma potestas; par levibus ventis et fulminis ocior alis prona petit maria et pelago dernrrit aperto, nec longo distat rnrstt praeeunte carina. agnosrnnt lange regem dextramque potentem nudati socii et magno clamore sal11tant. postq11am altos tetigit fiucttts et ad aeqttora venit id vero horrendttm ac vistt mirabile f erri s11bs.id11nt undae, remo ttt lttctamen abesset,

lieh der biblische Kontrast - >Musaeus< hat gegenüber der orphischen die biblische Kosmogonie (vgl. v. 38-45) geschaffen; es liegt die gleiche Identität wie in der als Vergil die Bibel erzählenden Dichterin (v. 23) vor, verstärkt hier durch die Namenassimilation. 58 Vgl. die Zusammenstellung bei Er mini (59) und O p e 1t, 108 f.

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,..... 555 collectasqtte f11gat n11bes graditurq11e per aeq11or iam medium necd11m f/11ct11latera ardua tinxit; at media socios incedens nave per ipsos ipse gubernaclo rector subit, ipse magister. intrem11it mafrts, gem11it sub pondere wmba, 560 vela cadunt, p11ppiq11edeus consedit in alta, et tandem laeti notae adverttm'tlir harenac.

1. Die Rezeption Vergils a) Szenische Gliederung

Proba isoliert die biblische Perikope. Das Wandeln Jesu auf dem See, in der urchristlichen Tradition zunächst als das Naturwunder einer Gottesepiphanie ausgebildet 59 , war von Mc auf den Aspekt der » Unverständigkeit der Ji.inger« (s. Mc 6,52) hin komponiert worden, Mt schließt (14, 28-31) die das Wunder reduplizierende Petruslegende an. Alle Berichte motivieren die Abwesenheit Jesu aus der Ankni.ipfung an das vorhergehende Speisenwunder (rudimentär Joh 6, 15, am umständlichsten Mt 14, 22 f.). Proba hingegen setzt nach der Perikope vom reichen Ji.ingling (v. 505-530) - die in allen Evangelien erst nach dem Seewandeln berichtet wird - neu ein; diese Abfolge und die den biblischen Bericht umgestaltenden Elemente H 53160 und v. 561 schließen eine selbständige Szene ab; diese Formeln sind als Rahmensti.icke anzusehen, die den biblischen Zusammenhang zerschlagen. Dazu i.iberschießen v. 532-534 die biblische Vorlage, indem sie die überfahrt der Ji.inger als Fischzug darstellen. Ermöglicht wird diese Veränderung durch die Kontamination mit den in den Evangelien erzählten Fischzi.igen61; ihr Zweck ist die Ausweitung der bloßen Ortsveränderung des Evangeliums zum Seesti.ick. Zum epischen Seesti.ick,wie wir hinzufügen können: die Einstimmung vom Abwarten des gi.instigen Wetters (531) i.iber das Hinabziehen der Schiffe ins Wasser und das allmähliche Auslaufen der Fischer aus den Fli.issen (!) auf das hohe Meer, bis das

Vgl. Mc 6,49 und Mt 14,26, dazu Bul tmann, o. LXXIII, 231. Die Feinstruktur des Cento erfordert das Zitieren nach Versteilen, die bei Proba im allgemeinen durch die drei Hexameterzäsuren begrenzt sind (hier mit T, P und H bezeichnet); steht die Sigle vor der Verszahl, ist der vergilische Versteil vor der Zäsur, im anderen Fall der nach der Zäsur von Proba ausgehoben worden. 61 Lc 5,1 ff., Joh 21,1 ff. 59

Land außer Sicht ist (532-536 ), konzentriert den Leser auf den hereinbrechenden Seesturm, der als traditionell epische Szene aus den geringen Andeutungen der Bibel entwickelt wird (536-545). Auch Proba sucht also die Dichtung Vergils nicht als bloßes Material von Junkturen technisch bruchlos in einem neuen, neutralen Sinngefi.ige aufgehen zu lassen (Theorie des Ausonius) - so wenig sie andererseits die Durchschlagskraft des vergilischen Sinngefüges als Folie eines metaphorischen Kontrasts ausnutzt (wie der obszöne Cento). Vielmehr ist die biblische Szene eigens auf die Bewahrung einer urspriinglich vergilischen Szene als epischer Analogie zugeschnitten worden. Diese im paganen Cento uni.ibliche Art der Adaptation entwickelt die Technik der Leitreminiszenz weiter. Denn auch die erstrebte szenische Nachformung soll nicht durch ein möglichst breites Spektrum der ausgehobenen Seesturm-Analogien des Modells zur artistischen Perfektion des ausonischen Cento, zum Eindruck eines Mosaiks gebracht werden. Deutlich beschränkt Proba die einschlägigen Vergilstellen auf ein Minimum, so daß der Eindruck des Musivischen gegeni.iber dem der evozierenden Intarsie schwindet. Der Leser assoziiert nämlich durch die Häufung urspri.inglich szenengleicher Partikeln eine bestimmte Passage, den Seesturm des ersten Buchs der Aeneis, der in v. 536 P, 537, 538 P, 542, P 543, 545 T, H 546 und H 555 Verwendung findet. Eine solche Streuung von Leitreminiszenzen unterstreicht innerhalb des musivischen Gefi.iges62vermöge des Identifikationseffekts mit einer bestimmten Vergilstelle für den Leser der Spätantike die szenenbildende Tendenz; sie ermöglicht, gleichsam als sti.itzendes Geri.ist, die epische Isolierung einer biblischen Geschichte. Also die Bibel als Vergil? Bedeutet die solcherart inhaltlich gesteigerte Vergilrezeption die Rezeption der Bibel als vergilische Szene? Die Konsequenz wäre eine Selektion des biblischen Berichts nach den Möglichkeiten inhaltlicher Analogien, d. h. eine äußerst sporadische und vor allem punktuelle Bildreihung - eine punktuelle und bildliche Abfolge deshalb, weil der biblische Erzählzusammenhang schlechthin keine konsistente Analogie mit demjenigen Vergils hat. Das strukturelle Problem eines in diesem Ausmaß inhaltlich rezipierenden Cento wird an dem umfangreichsten Beispiel dieser Gattung, dem Bibelcento des Alexander Rosa e u s (Vergilii evangelisantis Christiados ll. XIII,

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62 Erst um das Leitgewebe gruppiert finden sich motivgleiche Partikeln aus anderen vergilischen Passagen: aus dem Sturm des dritten Buchs der Aeneis (v. 535, P 536, 541, T 560) und aus der stürmischen Seefahrt nach Sizilien des fünften Buchs (P 538, 561). 17

zuerst Amsterdam 1638; über Entstehung, Umarbeitung und Verbreitung vt!. De 1e pi er r e (o. 624, 302 ff.) deutlich. Der Aeneiseingang bis v. 34 war in der neulateinischen Epik zu einem strukturellen Stereotyp geworden, auf den sich der Aufbau eines primären Epos immer wieder stützte. So z. B. bei Ulrich B o 11in g er, Moseidos ll. IX, Tübingen 1608: arma virnmque cano, Phariis qui primus ab oris in terram vertens Canaae de nomine dictam per varios casus Erythreae per aequora dttxit ... Longe ille in vasto temptts iactatus eremo ... vix e conspecttt Phariam liquere Raemsam (Beginn der einlässigen Handlung) ...

Oder in raffinierterer Form Paulus D i d y m u s (losephiados ll. VIII, Leipzig 1581): arma virumque cano, qui primus Hebronis ab oris migrans Isacidum de stirpe Canopica venit litora - mult11m odiis fratrum hie iactatus iniquis largus opum et meriti paterno e sanguine gentem inferretque deum, populi gens unde sacrati. Christe, mih.i ca11sasnumera, cur ... Hierauf folgt eine heilsgeschichtliche Erklärung über das Wirken des Teufels in der Welt, abgeschlossen durch tantae molis erit dici, manere beatum. vix ad conspectum genitoris (sc. Jakobs; Beginn der einlässigen Handlung) ... Konsequent zur Verbindung des heilsgeschichtlichen Rahmens mit dem Erfordernis eines episch-anschaulichen Einsatzes der Genesis-Nachdichtung gesteigert wird diese strukturelle Rezeption in den Poemata Sacra auf das Jahr 1583 der Akademie Ingolstadt ( de corpore Christi I.). Das Proömium wird zur abstrakt-symbolischen Einführung verwendet: Manna drnmque cano, superum qui primus ab oris exul in h1mc mrmdum venit carnemque subivit multum ille in terr.is iactatus ... Musa, causas memora ... quodve dolens pater aeternus tot volvere casus ... divem subolem tot adire Labores ... tantaene animis caelestibus .irae?

Noch der Sündenfall wird in die Reflexion einbezogen, nicht erzählt; erst mit dem Sprung auf eine Beratung zwischen Gottvater und Sohn nach dem Sündenfall (panditur interea domus omnipotentis Olympi, Aen. 10,1) erreicht der Poet das episch-primäre Niveau. Die Tendenz dieser Strukturrezeption zielt auf eine möglichst weit durchgehaltene Metaphorisierung, die den allegorischen Charakter des Cento vgl. o. 12) hervorhebt. In Rosa e u s' Christiade werden zusätzlich die persönlichen Verse des Aeneisproömiums adaptiert (ille ego ... Aegypto egresrns: Aufnahme der alten Sündenmetapher); Rosa e u s formuliert dann

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das heilsgeschichtliche Thema: caeli qui prim11s ab oris virgznzs m laetae gremium desce1tdit et orbem terramm ... profugus Chanaeaque venit litora. Nicht nur Juno wird zum Teufel (Pluto), das Ziel der Reise ist nicht mehr inferre, sondern evertere deos Lat.ii, gem1s omne L,timmz; auch Karthago (urbs antiqua fuit) wird, an seinem vcrgilischcn Ort, als civitas terrena (Babel) eingeführt, und v. 34 vix e conspectu patriae felicis in altum vela dabant maesti basiert auf der tradierten Metapher Meer~sündige Welt. Rosaeus hat nach einem theologischen Konzept gedichtet; sein Cento entnimmt der biblischen Vorlage sporadische Bilder, die Vergilmetaphorik und Bibeltypologie zusammentreffen lassen. Die durch die rezipierte vergilische Struktur erreichte primär-epische Ebene ist zumeist nur noch zwischen allegorisierter Antike, Personifikationen und ihren allegorischen Handlungen möglich. Der Bibelccnto und die vergilnahen Bibelepen der Neuzeit münden sehr ähnlich dem spätlateinischen paraphrastischen Epos (vgl. u. 97 und 138) in die Psychomachie. Sie ist in der Geschichte der Rezeption des Aeneiseingangs erreicht bei Johann Brei den b ach (Militia Christiana, Düsseldorf 1560), in der Teufel und Laster das Proömium besetzt halten: arma ducemque c,mo, q11ib11s 1mdique media rmmdi quassa f remunt ...

Auch Proba hat die Reihung ausgewählter Szenen einer kontinuierlichen Nachdichtung vorgezogen. Die Auswahl und Verknüpfung der biblischen Szenen ist jedoch noch nicht von theologischen Gesichtspunkten bestimmt; theologisch hat es mit dem erwähnten Hinweis auf die biblisch-heilsgeschichtliche Einheit der Schrift in der Person Christi, dem allgemeinsten Abhub dogmatischer Verbindlichkeit im 4. Jh., sein Bewenden. Noch ist die christlich-allegorische Exegese nicht in die poetische Technik eingegangen. Ober die Gruppierung der Proömien hinaus ergeben sich aus diesem Konzept keine kompositorischen Konsequenzen; alt- und neutestamentliche Ereignisse verweisen nicht aufeinander und bewirken keine Umstellung oder Einblendungen. Im Unterschied zu den neulateinischen Bibelepen zielen der spätantike Bibelcento (wie die zeitgenössische hexametrische Paraphrase) nicht auf die strukturelle Rezeption des primären Epos. Die Szenen haben so untereinander keine andere Verbindung als die der reinen Abfolge nach dem biblischen Bericht. Das offenbart besonders die Komposition des AT. Hier bot mit dem celestial cycle 63 von

63 Der in der angelsächsischen Forschung geläufige Begriff bezeichnet gut den von Bibeldichtern wegen seiner szenischen Geschlossenheit immer wieder gewählten Stoffkreis, der - wie bei Milton - durch Vorschau und Bericht die gesamte Heilsgeschichte einzuschließen vermag (vgl. N. Fr y e, Anatomy of criticism, Princeton 1957, 198 und das bereits erwähnte Werk von W. Kirkc o n n e 11, The celestial cycle (o. LXVII224).

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der Schöpfung bis zur Austreibung aus dem Paradies die biblische Abfolge zugleich eine szenische Einheit. Nach deren Ende hängen die herausgegriffenen Episoden vom Brudermord Kains und der Sintflut durch nichts anderes mehr als ihren sukzessiven Charakter zusammen, und ihre Wiedergabe läßt das Streben nach szenischer Modellierung ldarer als Bemühen um eine nur mechanische Episierung der Bibel erkennen. Proba sieht sich nämlich veranlaßt, um die zur Szenenbildung unerläßliche Handlungseinheit eines Epos zu suggerieren, die konventionelle Maschinerie der epischen Zeitangaben auf die Abfolge des biblischen Berichts zu verpflanzen. Zuerst in v. 278 (interea magnum sol cirrnmvertitur annum), dann in v. 303 (nec longum in medio tempus) und durchgehend im NT. Das gehäufte Auftreten solcher Angaben in v. 300 P, P 429, P 505, T 562, 580, 600, 607, 657, illusioniert immer wieder die Einheit und Gliederung einer epischen Handlung, die geflissentlich an das Geschehen von außen herangetragen wird. Die Zeitangaben, mechanisch gesetzt und damit ihrem Sitz im Leben entfremdet, zeigen die Tendenz zu autonomer Wucherung. So genügt in v. 657 die biblische Angabe »als der Tag begann« (Mt 28,1 par.), eine der Erscheinung des Auferstehenden fremde Idyllik der morgendlichen Szene zu entwickeln (ecce autem primi volttcrnm sub rnlmine c,mtus: Aeneas zu Gast bei Euander)64, in v. 580 gibt die Tatsache des »Abend«-Mahls Anlaß zu der Aufnahme eines ähnlichen epischen Vcrsatzstückes65, Selbst die Passionsgeschichte ist nicht etwa wie der Beginn der Genesis als szenische Großform komponiert, sondern aus den gleichen Grlinden in eine Morgen- und eine Mittagsszene zerlegt worden (v. 600 und 607) 66,

Man begegnet mit solchen epischen Traditionselementen einem Mittel, das in den Bibeldichtungen, die eine eigene Gliederung aus heilsgeschichtlich-typologischer Konzeption nicht kennen, immer wieder auftreten wird: als epischeLeerstellen haben sie einmal die Funktion, in der Paraphrase den Ausfall des schwer Wiederzugebenden zu überdecken,

64 Offensichtlich der för die Situation einschlägige locus imitationis; vgl. Prud. cath. 1,13 f. Die Imitatio überschießt hier scheinbar ebenfalls das allegorisch - Notwendige, jedoch wird dieser Bildüberschuß, typisch för das zugleich imitative und metaphorische Komponieren des Prudentius, v. 29 zur Erweiterung der Allegorie benutzt (um den imitativcn Aspekt zu ergänzen. Vf., D. allegor. Dichtkunst des P., o. LXxv2ss, 60. 65 Dcvexo interea proprior fit Vesper Olympo ( Aen. 8 280). 66 Die jeweils einen ganzen Vers einnehmenden Elemente folgen so rasch aufeinander, daß das Bemühen um Episierung die Handlung überhastet.

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vor allem aber, die reine Abfolge des biblischen Berichts durch Raffung oder gar Betonung der Gleichzeitigkeit 67 in die Bedeutsamkeit des epischen Handlungskontinuums zu überführen. So dient v. 303 dazu, die Zeit zwischen Kains Brudermord und der Sintflut - und damit die episch schwer zu bewältigenden Genealogien - aufzuzehren. In der Abendmahlszene hingegen entspricht v. 590 das abschließende Rahmenstück (v. 599 f.) haec ita f atus contirnit seramque dedit per membra q11ietem: indem Proba Jesus auch am Abend seiner Gefangennahme nicht um den wohlverdienten Schlaf kommen läßt, rundet sie die Abendszene ab und kann zum Verhör vor dem Hohen Rat Aurora aus dem Meer steigen lassen - gegenüber dem Fortfall der gesamten Gethsemaneszene wird eine bruchlose Einheit suggeriert.

Das Auf wuchern dieser immer wieder reflexartig aufgenommenen Traditionsform erzeugt ein Phänomen, das man am besten als ,affektierte Eile des Paraphrasten< kennzeichnen kann 68. Denn wo - wie in der rein rezeptiven Paraphrase - der Zeitablauf als solcher zur epischen Handlungseinheit erhoben werden muß, d. h. wo die Gebundenheit an die reine Abfolge des Vorgegebenen eine inhaltlich akzentuierende, z. B. umstellende Komposition ausschließt, wirken die als die einzigen epischen Zäsuren ständig gebrauchten Zeitangaben als ein so starkes Relief, daß der Eindruck der überhastung entsteht. Floskeln wie haud mora continuo (v. 124), sie ait et dicto citi11s(v. 197), nec longum in medio tempus (v. 220) hatten im früheren Epos eine überschaubare Handlung gerafft; sie werden nun generalisiert und lassen sich formgeschichtlich als bloße Signale des Bemühens um Episierung beschreiben 69 - in ihnen erschöpf!: sich bei Proba die Rezeption der formalen Technik des antiken Epos. Darüber hinaus hat der Centonendichter zur Abgrenzung szenischer Einheiten die Möglichkeit, die Streu11ngvon Leitreminiszenzen zu handhaben, wie an der Seeszene analysiert wurde. Freilich weist der Cento Probae sehr viel differenziertere Spielarten von der mechanischen bis zur kunstvoll kontrastierenden Anspielung (Evozierung) auf:

67 Vgl. V. 429 P. 68 Vgl. zum Parallelphänomen bei Tryphiodor (v. 3ff.) S. Koster, Antike Epostheorien, Wiesbaden 1970, 157. 69 Formgeschichtlich bezeichnend ist v. 607 f. Hier gewinnt die ihrer vergilischen Handlungsfunktion entfremdete Tageszeitangabe so/ medium caeli conscenderat igneus orbem gegenüber dem folgenden Raffungselement mm rnbito eine unpassende Ruhe: die äußerlich gesetzten Handlungsscharniere erhalten ein Eigenleben (hierzu Weiteres u. 103).

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1. Inhaltlich unbezogene Leitreminiszenz: So werden die Abschnitte der Passionsgeschichte noch über die erwähnte Schematisierung der Tagesabschnitte hinaus durch jeweils vorgesetzte Verse aus dem vierten Buch der Aene.is vom Verhör bis zur Flucht der Jünger als Szene verklammert: 600: Oceano interea surgens Aurora reliquit .. . 625: interea magno misceri murmure caelum .. . 638: diff ugirmt comites et nocte teguntttr opaca. Diese Verse sind in dieser Abfolge der Jagdszene in Karthago entnommen (Aen. 4, 129, 160, 123 70); es wird nicht der Inhalt der (völlig heterogenen) Vergilszene, sondern lediglich ihr Handlungsaufbau evoziert.

2. Auch die inhaltliche Evozierung durch eine Leitremeniszenz kann in formaler Weise szenische Einheiten umreißen. Das Ein- und Aussetzen dieser Reminiszenz verklammert durch die Assoziation der vergilischen Episode an sich inhaltlich fremde biblische Handlungselemente zu einer neuen Gruppierung. So überlappt in der Passionsgeschichte die Streuung von Elementen aus der Sinonepisode der Aeneis (Buch 2) 71 den Einschnitt in v. 608 und unterstreicht noch die erwähnte Verklammerung durch die Vorsatzstücke aus dem vierten Buch der Aeneis. Auch die gehäuften Anspielungen an die Camillaszene (Aeneis Buch 11)72 bewirken eine der Bibel fremde Einheit zwischen der Flucht nach Kgypten und der Kindheitsgeschichte. Proba hatte bei der Flucht Mariens mit dem Kinde die Flucht des Metabus mit Camilla assoziiert und auch bei der Umschreibung von Lc 14,4 (Jesu Frühreife und Berühmtheit) ungeachtet des verschiedenen Geschlechts Jesus mit den Zügen der Gestalt Camillas versehen. Ein in doppelter Beziehung aufschlußreiches Vorgehen: einmal wird der von der Leitreminiszenz evozierte Handlungsaufbau zur Handlungsfolge der Bibel, doch bewältigt diese Transponierung hier nicht nur die verschiedenen Phasen einer Geschichte, sondern vereinigt verschiedene Perikopen; zum anderen zeigt die Abfolge der Camillareminiszenzen mit aller Deutlichkeit, wie wenig mechanisch Proba den Vergiltext zu assoziieren vermag. V. 373-376 entstammen der Kindheitsgeschichte Camillas im elften Buch der Aeneis, v. 384-386 dem Auftreten Camillas in der Heerschau des siebenten Buchs der Aeneis. Proba ordnet das biblische Geschehen nicht einfach einer anderen, vergilischen Szene, sondern einer vergilischen Gestalt zu.

3. Die eigentlich inhaltliche Vergilrezeption, wie sie in der Szene auf dem See Genezareth vorlag, geschieht in der Konfrontation mit einer analogen Szene des Modells. Gestreute Leitreminiszenzen evozieren einen Inbegriff des epischen Darstellens und helfen dadurch, eine episch-biblische Szene zu konstituieren. - Von Evozierung kann daher 70 71 72

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(Juno plant mit Venus den Ablauf). Vgl. v. 604 P, T 606,609 H, 612 P. Vgl. v. H 373, P 374, 376, 384, 385, H 386.

nur in den Fällen gesprochen werden, in denen die Durchschlagskraft des ursprünglichen Sinnes nicht nur - ein technischer Mangel - als Überschuß in Kauf genommen, sondern als dem Leser gegenwärtige Folie des neuen Sinnes bewahrt, z. T. herausgestellt wird. Proba weicht der Evozierung nicht aus; sie erweitert sie über die Praxis der paganen Autoren 73hinaus in eigenen Formen. a) Der bloß in Kauf genommene Überschuß vergilischer Prägungen ist bei Proba selten; er ist auf Junkturen des Typs tardi costas agitator aselli (v. 562 H) beschränkt, in denen auch das funktionslos gewordene Attribut um eines benötigten Ausdrucks (»Esel«) willen rezipiert wird. Aber was zunächst funktionsloser Überschuß zu sein scheint, ist manchmal bereits Evozierung. So wirkt in v. 116 f. (pingue solum primis extemplo a mensibus anni) die Zeitangabe bei der Erschaffung des Menschen wenig sinnvoll 74. Indessen wird das Motiv dieser Entlehnung deutlich, wenn man im ursprünglichen Kontext der Georgica unmittelbar vorher von der Erschaffung des Menschen durch Deukalion reden hört 75. Proba hat offensichtlich die gesamte Stelle evozieren wollen, deren vollständige Transponierung Bibeltreue und Centonentechnik ausschlossen. Der Überschuß ist also als Signal rezipiert; er verliert weitgehend die paraphrastische Funktion zugunsten der des Verweises. b) Als typische Beispiele der durch analoge Situationen veranlaßten Nachbildungen mögen die Sintflut (v. 307-312), der Gang zum Tempel (v. 566-577) und die Darstellung der Hölle in der Bergpredigt (v. 475 bis 487) dienen. In der Sintflutszene sucht Proba in v. 308 P und 309 die einzige Stelle des vergilischen oeuvre auf, die eine Sintflut umschreibt und dabei auch den gewünschten Terminus diluvium nennt - freilich nur in indirekter Weise76, Dies Anschlagen des Themas durch die Nennung der einzigen vergilischen Analogie - auch um den Preis der syntaktischen Veränderung - kann dann durch kleinere musivische Elemente ausgeführt werden, die keine unmittelbare Beziehung zum Geschehen haben, aber durch die Leitreminiszenz überformt werden: v. 310 aktualisiert einen Vergleich zur Handlung, in v. 311 wird ein Aspekt des Herbststurms isoliert, und v. 312, ursprünglich ein Bild der Tierpest, ist der (204ff.) zur Medea des Hosidius Geta. 73 Vgl. die Analyse Lamacchias 74 Vgl. Witke (o. LXXII), 198: »grotesque result« der Centonentechnik.

Der Vers bezeichnete Georg. 1,64 die Frühjahrsbestellung. 75 Vgl. Georg. 1,61 ff. 76 Als Bekräftigung eines Schwurs; daher wird die Verwandlung Indikativ nötig.

in den

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Überschwemmung bereits sehr fern. Im ganzen liegt hier eine der Szene auf dem See Genezareth ähnliche Form vor. Gegenüber dem Verfahren der musivisch ergänzten Leitreminiszenz wird in der Tempelszene die vergilische Leitreminiszenz als bildlicher Rahmen für die Handlung verwendet. Proba zeichnet den Tempel in Jerusalem als den hölzernen Rathaus-Tempel der Latiner 77 • Die Assoziation dieses Bildes verleiht der Szene das Konkrete, vermag aber nicht in Handlung überzugehen 78. Wenn Probas Jesus in der Bergpredigt die Hölle beschwört, so hat dies, wie O p e 1t gezeigt hat7 9 , nur sehr geringen Anhalt in der Bibel und entspricht der Rezeption des vergilischen Inferno durch das Christentum. Die Gewalt dieser traditionellen, weit verbreiteten Idcntifikation80 führt bei Proba fast zur Auflösung der Centonentechnik. In v. 475 bis 482 werden zwei Stellen des 6. Buchs der Aeneis, die Aufzählung der Sünder (Aen. 6, 608 ff.) und der Läuterungsvorgang vor der Rückkehr ins Elysium (Aen. 6,739 ff.), en bloc übernommen und nur durc,\ eine Technik der Schüttelung dem Gebot der musivischen Zersplitterung unterworfen: in v. 475-479 wird die Reproduzierung Vergils (Bestrafung der Sünder) nur durch eine den logischen Zusammenhang unterstreichende Handlungsintarsie (v. 478) durchbrochen 81, in v. 480-487 (Läuterung) wird sie an der Stelle abgebrochen (v. 482) 82, an der Vergil den Aufstieg der gereinigten Seelen ins Elysium 83- der christlichen Vergilrezeption stets ein Stein des Anstoßes 84- schildert. Proba hat also die bei Vergil gesd1iedenen Kategorien der unreinen Seelen (ewig Verdammte und Läuterungsfähige) kontaminiert und die vergilische Unterwelt rigoros zum Inferno isoliert; die Lösung aus dem Sitz im Leben bedeutet hier eine Verdüsterung 85. Dieser Eindrud-: wird ab v. 483 77 Vgl. v. 567,569, P 570 und 577 ~ Aen. 7, 170ff. 78 Vgl. den Versuch, in v. 571 zur eigentlichen Handlung der biblischen Geschichte'überzugehen: Jesus besichtigt den Tempel wie Aeneas das Heiligtum in Karthago. 79 112ff. 80 Vgl. die übersieht bei Courcelle, Les peres ... (o. 828). 81 Die Versfolge Aen. 6, 608 ff. wird hier zu v. 610, H 611; 608 H, 609 ( Aen. 4, 385), H 614, 611 H. 82 Aen. 6, 739ff. wird zu v. 739 H, P 740,741 P, 742. 83 Vgl. E. Norden, P. Verg. Maro. Aeneis Buch 6, Darmstadt 19574, 28. 84 Cour c e lle, 45-57 hat die Diskussion der Kirchenväter über die Stelle ausführlich referiert. 85 Zum analogen Vorgehen des Prudentius (hamart. 824 ff.) vgl. Epos (o. XV3), 1035. Thraedc, 24

durch weitere Fragmente des 6. Buchs, auch durch die Umdeutung einer Georgikastelle 86verstärkt. In der zuletzt erörterten Szene, der ersten Höllenschilderung der d1ristlichen Poesie, geht die Vergilevozierung insofern über das bisher vertraute Prinzip der Analogie hinaus, als die theologisch vorgegebene Bölle durch die entsprechende heidnische Vorstellung in ihren Details allererst besetzt wurde. An einer derart ausgebildeten inhaltlichen Aneignung stellt sich der Rezeptionsprozeß des christlichen Cento besonders gut in seiner doppelten Auswirkung dar. Ist einmal die Analogie Bölle Unterwelt akzeptiert und hat die Überformung der geringen biblischen Bildansätze durch Antikes begonnen, so beginnt alsbald die theologische Gebundenheit der Vorstellung (z.B. Ewigkeit der Höllenstrafe) mit der reinen Bildlichkeit zu kontrastieren und auf sie umdeutend zurückzuwirken; dabei werden einerseits die unreinen Seelen zu ausschließlich Verdammten, ursprünglich der Purifikation zugehörige Details werden zu Aspekten der Strafe, andererseits vereinzelt sich die Götter- und Dämonenmaschinerie auf die Gestalt des Tcufels 87. Die Verstärkung der Vergilevozierung mündet bereits im Cento in die Kontrastrezeption 88•

~

Analoge Nachbildung unter deutlicher Hervorkehrung dieses Kontrasts allerdings ohne Deformierung des antiken Substrats; der Cento koupiert hier das Unpassende - liegt im Cento nur noch bei den Übertragungen des Antik-Göttlichen auf Christus vor, so bei der Anteilnahme der Natur an Jesu Tod89 und der Himmelfahrt90. Mt. 27,45. 51-53 werden die Finsternis, das Zerreißen des Tempelvorhangs, das Erdbeben und die Auferstehung der Toten erwähnt. Proba hat die Wirkung vom Tod des Divus Caesar auf die Natur aus dem 1. Buch der Georgica als Leitreminiszenz über die Szene gestreut 91. Die Anordnung ist so gewählt, daß die mit der Bibel ganz unvereinbaren portenta 92 koupiert werden. Andererseits soll die Streuung keineswegs eine Paraphrase leisten; die wirklich charakteristischen Ereignisse des NT (Erdbeben und Auferstehung) werden vielmehr auch hier

86 Vgl. Georg. 1,248 (Polarnacht). 87 Vgl. Norden, 29ff. und Thraede, Epos, 1036. 88 Kontrastrezeption stellt sich an diesem Beispiel also als eine umdeutende Reaktion auf eine bereits akzeptierte Rezeption dar; sie setzt einen bereits bestehenden Fundus antik-biblischer Bildlichkeit voraus. Zur Abgrenzung des Terminus im Rahmen der Imitationstechnik u. 201. 89 V. 625-637. 90 V. 682-688. 91 V. 627, 632 P, 633, 637. 92 Georg. 1,470-488. 25

durch geschickt kombinierte phrastische Entbehrlichkeit trastcharakter (Christus ~ gleichen Kontrasteffekt auf Sammlung von Stellen vor, und Erde verkehren 94.

musivische Elemente umschrieben 93. Die parader Leitreminiszenz verstärkt somit ihren KonCaesar). - Die Himmelfahrt Jesu erzielt den eine andere Weise. Es liegt hier eine musivische an denen Götter und Helden zwischen Himmel

b) Ü berszenische Evozierimg

Entschließt man sich, Proba trotz der herrschenden Beurteilung des Cento in der Erwartung zu lesen, daß sie »wie jeder andere Dichter« 95 bestimmte kompositorische Ideen befolgt, so bemerkt man bald die Sonderstellung des alttestamentlichen Teils. Seine geschlossene Komposition ist von O p e 1t bemerkt und als ein Zeichen größerer Reife und Meisterschaft der Dichterin gegenüber dem übrigen Werk gewertet worden96.Unterzieht man sich der Mühe, diesem Eindruck nicht gleich Vermutungen zur Entstehungsgeschichte des \'v'erks folgen zu lassen97 , sondern das seit Schenk 1s Vorarbeiten im Testimonienapparat seiner Ausgabe noch nicht ausgewertete vergilische Material zu prüfen, so stellt man fest, daß diese Geschlossenheit durch eine überszenische, das gesamte AT umfassende Anwendung der Leitreminiszenztechnik erreicht wird. Vom Proömium des AT bis zur Sintflutszene (v. 35-306) findet sich eine permanente Streuung der Stellen, an denen Vergil seine Kosmologie und den Mythos von den Weltaltern darstellt. Die Leitreminiszenzen entstammen (nach der Herkunft geordnet): Aen. 6, 719-751 (kosmologische Begründung der Seelenwanderungslehre), Georg. 1, 121-159 (Auswirkungen der Zeitalterfolge auf die Landwirtschaft),

93 V. 626 T (Unterwelt ~ Finsternis), 628, 629 (Wintersturm~ Erdbeben), 631 T, P 632, 634, 635 (Versammlung der Schatten vor Orpheus und Höhle des Cacus ~ Öffnung der Gräber). 94 V. 682 P (Herabkunft [!] Apollos), 683 P (Auffahrt Neptuns nach der Intervention in Buch 1), 684 (Verschwinden des Anchises nach der Botschaft an Aeneas), 685 T, 686 (Apotheose des Dardanus). Noch die Schlußbemerkung (687 f.) stammt aus dem gleichen Sinnzusammenhang (Jahresfest des Herculcs). 95 Opelt, 107. 96 109. 97 Vgl. oben 1456.

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Georg. 2, 323-342 (der Frühling als Abbild der goldenen Zeit),

Ecl. 6, 31-40 (die Kosmologie im Lied des gefangenen Silen). Hinzu treten einzelne musivische Stücke aus verwandtem Kontext 98 • Vermerkt man sich die ausgehobenen Partien jeweils im Vergiltext, so konstatiert man, daß Proba manche dieser Stellen nahezu vollständig ausgeschrieben und sie vor allem an den Kernpunkten des biblischen Berichts placiert hat. Das Resultat ist eine tiefgreifende Verwandlung der biblischen Welt. Proba hatte im Proömium zum AT mit v. 39 die Haltung des Vergil Lukrez (-Epikur) gegenüber reproduziert; der Anruf felix qtti potuit rerum cognoscere causas bezeichnet nun Moses als Kosmologen und begrenzt das AT auf das Thema fabrica mundi und Urzeit der Welt 99 • Daß indessen gerade die Übernahme der Haltung des Vergil gegenüber Lukrez, der ausdri.ickliche Hinweis auf die verbindliche und bereits fixierte Schöpfungs-»Dichtung«, unterstrichen durch die namentliche Identifizierung des Moses als Musaeus 100, dem Centonendichter eine größere Gestaltungsfreiheit gegenüber dem Bibeltext gestattet, erweist die Nachdichtung des Hexaemeron ab v. 56. Proba setzt mit dem Gen 1, 1 sehr analogen und in der christlichen Tradition bereits vor Proba hervorgehobenen Anfangsvers der Kosmologie des 6. Buchs des Aeneis ein 1° 1, koupiert ihn aber nicht am Versende, sondern zitiert die Stelle weiter bis zur Mitte des folgenden Verses; angeschlossen werden zwei an sich blasse Partikeln, die aber der gleichen Stelle entstammen 102 • Der Verzicht auf die Koupierung nach v. 56, also der Verzicht auf eine musivische Centonenparaphrase, bedeutet auch den Verzicht auf die biblische Handlungsstrnktur: bereits

98 Georg. 1,350 ff. (Wetterzeichen), Aen. 6,638 ff. (Landschaft im Elysium), Aen. 8,319 ff. (Saturnisches Zeitalter in Italien). 99 Vgl. v. 43 f. Die Junktur wird bei Aug. civ. dei 7, 9, 30 auf Gott überEpos, 1010. tragen; vgl. Thraede, 100 Musaeum ante omnes (Aen. 6,667); sie hat eine Parallele in dem fragmentarisch aufgefundenen Evangelienepos des Severus (10, 15). Proba wiederholt hier den Kunstgriff des Hosidius Geta, einen Eigennamen in den Cento zu transponieren (vgl. Medea v. 191: Media (Persien) fert tristes sucos: die Giftmischerin Medea). 101 Aen. 6,724f; zu seiner christlichen Rezeption vgl. Courcelle, 40ff.; vgl. auch u. 205. 102 V. 57 H (aus dem kosmologischen Lied des Jopas vor Dido Aen. 1,740ff.; zur Beziehung dieser Passage zu der Forderung nach einem ,lukreziD. Lied des Kitharoden schen< Lehrepos in Georg. 2,475ff. vgl. W. Kranz, v. Jaffa, RhM 96 (1953), 30 ff.) und P 58 (Wetterzeichen Georg. 1,351 ff.).

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der erste Schöpfungstag bringt so bei Proba die Gestirne (Gen 1, 14) hervor, die sogleich apostrophiert werden - das biblische »Licht« (Gen 1, 3) braucht nun nicht mehr erschaffen zu werden. A.hnlich verschiebt das nächste Auftreten dieser Leitreminiszenz in v. 71-75 den Schwerpunkt der biblischen Erzählung; Gen 1, 14 wird hier nochmals vertieft und dient als Ausgangspunkt einer weitgehend von der Bibel gelösten Dichtung von den Jahreszeiten: in v. 71 läßt Proba Gott die Sterne ordnen und benennen (ursprünglich von den Menschen in der goldenen Zeit gesagt), hierauf werden die Wetterzeichen aus dem 1. Buch der Georgica durch Einfügung von Georg. 1,258 (v. 72) auf die Jahreszeiten bezogen, die in v. 75-79 mit den Farben der Georgica geschildert werden. Die Verwendung der Leitreminiszenz von v. 56 an hat also zur Folge gehabt, daß Proba bis v. 81 alle Meteorologica und Lumina des vierten biblischen ,Tages, vor dem ersten Schöpfungs-,Tag, (vgl. v. 82) hat entstehen lassen-eine logischere Anordnung, die die Sonne zu einem ersten Tag erst aufgehen läßt, als sie erschaffen ist und vor diesem Zeitpunkt nur die Vorgänge an Unbelebtem einführt: die Scheidung zwischen Licht und Finsternis (v. 60-66) und die Einsetzung der »Feste zwischen den Wassern« (Gen 1, 6) 103. Der erste und zweite biblische ,Tag, werden der Erschaffung der Himmelslichter nachgeordnet 104und z. T. den Bildern der Leitreminiszenzen eingeformt. Ganz analog zu dem Verfahren in v. 56f. benutzt Proba in v. 84f. einen Zug aus der Kosmologie von Ecl. 6 nicht nur zur Paraphrase von Gen 1, 9 f., sondern leitet durch ihn in v. 85 bereits zur Schilderung der Meerestiere (v. 86 ff.) über, gliedert also wieder das biblisch Spätere (hier Gen. 1, 20 f.) in einen neuen Zusammenhang ein. Und ähnlich wirkt die erneute Aufnahme der Frühlingsstelle aus Georg. in v. 92 ff. und 96: im ersten Fall wird die Erschaffung der Pflanzen, im zweiten die Erschaffung der Vögel auf einen eigenen Tag festgelegt. Nun hat diese Streutechnik nicht nur die Neugliederung des Hexa-

103Denn als Wiedergabe von Gen 1,6 ist wohl v. 8Of. zu verstehen; Proba hat sich den in der Hexaemeronliteratur viel diskutierten Passus (» Wasser Claudius über den Himmeln«) - vgl. die übersieht bei P.F.Hovingh, Marius Victor. La priere et /es vers 1-170 ed. et comm., Groningen 1955, 108 f. - offenbar nur als einen die Erde befruchtenden Regen des Himmels vorstellen können; der zu heidnische Zwischenvers Georg. 2,326 ist nach v. 80 koupiert worden. 104 Vgl. das erklärend-zurückgreifende nam v. 60. 28

emeron 105bewirkt, sondern in der bekannten, hier aber wesentlich tiefergreifenden Weise Vergil evoziert. Die kosmologische Abfolge wird nämlich zunehmend durch die ständige Verwendung vor allem der Georgicareminiszenzen in den Hintergrund gedrängt, und die Darstellung gerät zu einer idyllisch-ruralen Intensivierung der Schöpfungsgeschichte, zunächst in v. 72-79, dann in der erwähnten Umdeutung v. 80 f., sehr deutlich in v. 92-94 und 96-98. Ein Überschuß der Evozierung liegt in v. 94 vor: bereits die gesamte Schöpfung ist hier das mit den Idealvorstellungen der Georgica umschriebene Paradies. Die eigentliche Einsetzung ins Paradies (139 ff.1°6 , 188 ff.) vermag dann dieses goldene Zeitalter qualitativ nicht mehr zu überbieten; Proba wählt, um einen Wechsel zu akzentuieren, hierfür ein musivisches Gefüge, in dem sich Entlehnungen aus dem Elysium des 6. Buches 107, aus dem Garten der Venus des 1. Buches der Aeneis 10s - die erste mir bekannte Transponierung des antiken hort11s ins Christlich-Paradiesische-, der laudes ltaliae 109, der Bienenwelt aus den Georgica und der bukolischen Ideallandschaft110 mischen. Ganz folgerichtig zielt in diesem Rahmen das Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, auf die Erhaltung der divini gloria ruris (v. 156) 111, und die Versuchung durch die Schlange transponiert einen falschen landwirtschaftlichen Rat (vgl. v. 153). Ist die ideale Landschaft der Georgica durch das Paradies evoziert worden, so wird auch der Verlust des Paradieses zum Fall aus der goldenen Zeit in die Mühe des Landlebens umgeformt. Gott sprichtv. 253 ff. die Verfluchung Adams mit den Worten Georg. 1, 121 ff. aus; die bis

105Proba hat durch die Einführung eines Vor-Tages (v. 56-81 = Gen 1,1. 6-8. 14-18) Raum für eine großzügige Einteilung der anderen Tage gewonnen: 1. Tag= Gen 1,9f. 2Of. (Fische), 2. Tag= Gen 1,11 f., 3. Tag= Gen 1,20 f. (Vögel), 4. Tag = Gen 1,24f. In v. 107 kommt sie in deutliche Verlegenheit gegenüber der nicht erreichten biblisch-verbindlichen Siebenzahl und sucht durch die Formel iamque dies alterque dies processit auszugleichen. 106 Vgl. aber zur weitergehenden Evozierung dieser Stelle u. 32. 107 In v. 140, 159 f., 168, 183-185 (im Munde der Schlange). 108 In v. 161 f. 109 In v. 163. 110 In v. 165-167. 111Proba setzt mit diesen Rezeptionen die Voraussetzung einer christlichen Bukolik; die hier erreichte, nur knapp angedeutete Identifikation läßt nach einigen Jahrzehnten den Motivreichtum emporwuchern, wie ihn W. Schmid (o. 624) dargestellt hat. Zur Umwandlung der Junktur divini gloria rnris bei Juvencus 193; vgl. zum Gesamtkomplex bei Prudentius Sa 1v a t o r e, Studi Prudenziani, Roma 1958, 94 ff. 29

v. 260 reichende, in v. 256 f. durch Eklogenverse angereicherte Schüttelung dieser Vergilreproduzierung 112konkretisiert Gen 3, 17-19 und soll, wie besonders die lediglich nachklappende Verfluchung Evas zeigt113, als Inbegriff des Falles gelten, ja sie wird überhaupt jedem Abfall der Menschheit von Gott substituiert. Das erweist die Geschichte von Kain und Abel: in v. 290 wendet sich Gott nicht mehr strafend an Kain, vielmehr verflüchtigt sich die biblische Kontingenz vor der Aufnahme der gleichen Georgicareminiszenz (v. 290-298 aus der Stelle Georg. 1, 129-150) - wieder in der Schi.ittelung, die eine en bloc übernommene Stelle dem Gesetz des Cento äußerlich einpaßt, sie in Wirklichkeit aber durch ihre Ausdehnung reproduziert-zur allgemeinen Dekadenz der (nachsaturnischen) Zeitalterfolge. Gott handelt nicht mehr wie im AT mit den Menschen, sondern verändert die Natur: die Schlangen erhalten ihr Gift, die Natur wird böse, der Wein versiegt in den Flüssen. Hier erscheint die Leitreminiszenz als Mittel der Überformung aufs äußerste übersteigert: in der Partie v. 290-306 ist ein Anhaltspunkt im biblischen Bericht gänzlich verschwunden, die Leitreminiszenz wird zur Reproduzierung, Vergil ersetzt die Bibel. Und dies nicht mehr nur in der Überblendung einer biblischen Handlung durch eine vergilische Szene; ab v. 299 wird die gesamte biblische Geschichte von Kain bis zur Sintflut aufgezehrt durch die Weitererzählung des vergilischen Zusammenhangs, dessen donec (v. 99) einen völlig anderen Geschichtssinn vermittelt als etwa Gen 6, 55 ff. Kann man hier überhaupt noch von einer Evozierung sprechen, die die Bibel szenisch gliedern soll? Die massive und thematische Reproduktion des Modells bewirkt vielmehr eine partielle Transponierung des AT in eine vergilische Zeitalterdichtung eigener Prägung. Proba hat deutlich versucht, der Zeitalterfolge eine der Bibel gegenüber eigene Gliederung zu verleihen. Trotz des allgemeinen Fluchs v. 252 ff. vermag sich Adam nach v. 276 f. noch von den Früchten des Waldes und von Kräutern zu ernähren. Die Adamiten treiben erstmals Landwirtschaft, eine noch erfol"reiche und sogar kunstvolle Landwirtschaft (cf. v. 282 f.: Aufnahme der° Frühlingsreminiszenz, v. 283 f.: Rebbau durch Okulieren). Nach Kains Tat erst wird sie zum Laborimprobus, setzt die Verschlechterung der Natur ein. Zwischen Kains Tat und der Sintflut endlich erscheint mit dem eisernen Zeitalter der Exzeß der menschlichen Laster, jetzt entschwindet Justitia von der Erde, die Menschen verhärten sich gegeneinander, und es kommt zum Kampf aller gegen alle. - Man wird in dieser Partie das Be-

112 113

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Zur Technik der Schüttelung vgl. o. 24. Vgl. V. 263 ff.

streben erblicken, die einzelnen Elemente der vergilischen Konzeption nachzuzeichnen (cf. z.B. Georg. 1,147 ff.: vor der Landbebauung. - aber nach der saturnischen Zeit - haben sich die Menschen noch von den immer knapper werdenden wilden Früchten ernährt) -, insgesamt hat Proba die vorgegebenen Elemente zu einer neuen Gesamtschau verbunden.

Diese Transponierung stellt sich nicht mehr nur als Zerschlagung des biblischen Berichts dar, sie ist auch mehr als eine szenische Umgruppierung oder als die Überformung durch bewußtes Evozieren. Mit der Ersetzung der biblischen Geschichte durch die vergilische Zeitalterfolge hat Proba sich weit von der Paraphrase entfernt; die Streuung von Leitreminiszenzen nähert sich einer kaum durch die Schütteltechnik verhüllten Reproduzierung; das biblische Sujet scheint schlechthin Rezeptionsfolie zu sein, die ein ungehemmtes Einströmen der antik-~ergilischen Weltsicht ermöglicht und inhaltlich von dieser aufgezehrt wird. Mit einer derart dichten Wiederholung des klassischen Modells scheint der Sinn des Centonenzitats an ein Ende geführt und zugleich die Grenze einer biblisch-paraphrastischen Dichtung markiert zu sein 114• Doch hat Proba die Technik der Leitreminiszenz noch in einer weiteren, jetzt den Heilshorizont der Bibel und damit den gesamten Cento umgreifenden Evozierungskette abgewandelt. Dies geschieht, kurz gesagt, durch die ständig geübte Spiritualisierung der Aeneis und ihres imperialen Sinnes. Die Tatsache, daß neben der Transponierung der bukolisch und elysisch angereicherten Idyllik der Georgica auf das biblische Paradies (einschließlich des Paradise Lost im AT) die Rezeption des spiritualisierten Sinnes der Aeneis auf das Paradise Lost und Regained der gesamten Heilsgeschichte von Proba zum ersten Mal vorgenommen wird, ist bisher nicht bemerkt worden. Das wird dadurch verständlich, daß Proba auf diese Rezeption nicht mehr durch massive Sequenzen von Leitreminiszenzen hinweist, sondern vor allem an drei heilsgeschichtlich entscheidenden Punkten der Bibel imperiale Verheißungen der Aeneis eingeschoben hat. Naturgemäß ist eine Sonderung solcher Evozierungen vom bloßen Überschuß der Centonenparaphrase schwieriger als bei den breit übernommenen Leitreminiszenzen. Doch gewährt die spezielle Form des Cento ein sicheres Kriterium: Spiritualisierende Vergilcvozierung liegt mit Sicherheit nur dort vor, wo 1) über das paraphrastisch Nötige hinausgegangen wird, ohn: da~, wie der Umfang dieser Zusätze erweist, mangelhafte Centonentech111k die Ursache wäre, 2) wo - im Gegensatz zur analogen Leitreminiszenz - ein biblischer Anhaltspunkt völlig fehlt.

114

Zum Problem vgl. o. 17.

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a) In v. 113 paraphrasiert die Verheißung Jupiters an Venus (Aen. 1,236) noch genau das Motiv Gottes bei der Erschaffung des Menschen Gen 1, 26; hier kann keine Rede von Evozierung sein. Vor der Einsetzung ins Paradies aber läßt Proba Gott eine feierlich eingeleitete 115 Rede an Adam und Eva halten, in der er verkündet (v. 139 ff.): vivite feliees, interque nitentia rnlta 140 fortunatorum nemomm sedesque beatas haee domus, haee patria est, requies ea eerta labornm; hie ego nee metas remm nee tempora pono: imperium sine fine dedi, multosque per annos non rastros patietur humus, non vinea f aleem ...

In v. 143 hat Proba die imperiale Verheißung Jupiters (Aen. 1, 276 f.) auf die christliche Verheißung ausgelegt und mit dieser Deutung des längst rhetorisch gebrauchten Verses auf Jahrhunderte Schule gemacht 116. Darüber hinaus sind in v. 141 zwei Deutungen auf Italien sichtbar, die Proba keineswegs mechanisch, sondern in präziser Rezeption des vergilischen Zusammenhangs von Prophetie und Erfüllung miteinander verbunden hat: H141 wird von Aeneas bei der Erfüllimg des Tisch-Prodigiums ausgerufen (Aen. 7, 122), dessen Prophetie durch Celaeno Helenus kommentiert und mit einer zweiten Prophetie sowie der Verheißung 141 H (Aen. 3,393) begleitet hatte. Man beachte von diesem Gesichtspunkt her - der Cento versucht in einem Ausdruck die Spannung der Aeneishandlung zu erfassen - den Überschuß der Stelle über die biblische Vorlage. Proba läßt Gott eine seine biblischen Äußerungen verändernde Rede halten, in der sowohl die imperiale Verheißung wie die Bezeichnung des Paradieses als das verheißene Italien weit über den Rahmen des AT hinausweist: das imperium sine fine steht zu dem alttestamentlichen Paradies in Widerspruch und kann nur die nie ganz verlorene Möglichkeit des ewigen Lebens als Ziel der

115 Die Einleitung von Jupiters Rede im Götterrat (Aen. 10,101 ff.) muß in ihrer christlichen Rezeption den einen Gott isolieren; daher werden die ersten Daktylen in v. 103 koupiert. Andererseits übernimmt Proba die (bibelfremde) andächtige Stille der Natur. 116 Vgl. die Diskussion der Stellen bei K. H. Sc h e 1k 1e, Vergil in der Deutung Augustins, Stuttgart 1939, 65 ff. und P. Cour c e 11e, Les exegeses ehret. de la 4eme eglog11e,Rev. Et. Anc. 59 (1957), 304 (nach ihm ist Quodvultdeus (?), de promiss. et praediet. dei 5,13,13 von Proba angeregt worden); vgl. ferner Thraede, Epos, 1037. 1040, J. 0. Reta, Imperium sine fine dedi, Nuovo Didask. 13 (1963), 83 ff. u. Vf., D. allegor. Dieht!mnst des Prud., 118.

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Heilsgeschichte meinen; ebenso erhält die Bezeichnung requies ea certa laborum nicht bei der Einsetzung ins alttestamentliche Paradies, sondern erst als ewiges Leben unter dem Horizont der Erlösung ihren Sinn. Hier wird die bisher übersehene Kunst Probas sichtbar. Der Überschuß über die Paraphrase der Bibel ist nicht Ungeschicklichkeit der musivischen Technik des Cento, sondern eröffnet den bewußt allegorisierten vergilischen Sinnhorizont; Proba erreicht hier die oben117 gekennzeichnete Kunst eines Cento, der durch iiberschießende Evozierung das M adelt als Metapher (Allegorie) deutet. Die Spannung der Aeneis zwischen alter und neuer Heimat, zwischen mühevoller Irrfahrt und Imperium, wird, an theologisch bedeutsamer Stelle plaziert, zur Spannung zwischen Paradise Lost und Paradise Regained, zwischen Gewißheit der Heilsmöglichkeit und dem mühevollen Streben nach dem Heil. So verweist das alttestamentliche Paradies in der Dichtung Probas ebenso über sich hinaus wie eine vergilische Szene im Sinnhorizont der Aeneis mehr ,bedeutet< als sich selbst. Die zuerst von M eh m e 1 im Vergleich Vergils mit der griechischen und der spätantiken Epik aufgestellte These, Vergil stehe mit der bei ihm vorwaltenden Durchdringung der Handlung durch bedeutungshaltige, jenseits des Handlungskontinuums aufeinander verweisende Szenen am Anfang einer Entwicklung, die in der Spätantike mit der Aufzehrung der epischen Handlung überhaupt ihre Vollendung finde 11S, bestätigt die vorliegende Untersuchung: Proba hat gegenüber einer bloßen Wiedergabe der biblischen Handlung gerade diesen Verweisungszusammenhang innerhalb des vergilischen oeuvre erkannt und rezipiert. Die symbolischen Verweisungen der Aeneis ermöglichen die Erweiterung der Bibelparaphrase wr heilsgeschichtlichen Dichtung. In der vorliegenden Stelle ist die imperiale Verheißung eingerahmt von der Beschreibung des Paradieses mit der i.iblichen Georgica-Leitreminiszenz (v. 139f.) und einer Entlehnung aus der 4. Ekloge (v.144). In dieser Verbindung erhält die Hexaemeron-Idyllik über die Zeitalterfolge hinaus erst ihren heilsgeschichtlichen Sinn: goldene Zeit und Mi.ihe des Landlebens (Garten Eden und Fall) entsprechen der ewigen Heimat Italiens und den labores der Irrfahrt (Paradies der Erlösung und irdisches Leben).

10. 12. Vgl. F. M eh m e 1, Vergil Vgl. auch u. S. 164. 117

118

11. Apolloni11s

Rhodius, Hamburg 1940, 100 ff.

33

b) Auf diese Verklammerung, die Rezeption des Sinnhorizonts der Aeneis, weist am Ende der Dichtung noch einmal Christus in einer Abschiedsrede hin - wieder von jedem Anhaltspunkt in der Bibel gelöst: accipite ergo animis: quae vos a stirpe parentum 670 prima tulit telltts, eadem vos ubere laeto accipiet ...

Hier wird die Deutung Apollos auf Italien als Heimat des Dardanus (Aen. 3, 94f.) rezipiert, die sich Aen. 7, 206ff. erfüllt. In dieser nahezu typologischen Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung geschehen in der Aeneis die Mißverständnisse (beginnend mit der Ausdeutung dieser Propheterie auf Kreta, cf. 3, 103 ff.) und Irrfahrten; sie bildet den zyklischen Sinn der Aeneis (Rückkehr zur antiqua mater 119). Eben diesen typologischen Sinn hat Proba als den der christlichen Heilsgeschichte ausdrücken wollen, ihn allegorisiert sie deutlich als Rückkehr ins verlorene Paradies 120• Dabei wird die stirps parentum exegetisch geschickt auf das erste Menschenpaar gedeutet 121• Unterstrichen wird die Beziehung auf die erste imperiale Verheißung zudem durch die einleitende Formel P 669, die dem gleichen Zusammenhang wie v. 137ff. angehört. c) Der Verheißung bei der Einsetzung ins Paradies und der Verheißung in der Abschiedsrede Christi entspricht als dritter Höhepunkt des Cento die Verleihung des imperialen Auftrages an Christus nach seiner Taufe durch Gottvater v. 403 ff. Das NT weiß nur von den Worten oG-r6,ecr-rt~ o u\6, p.ou6 a·1a1:11-r6,, 2~ 'Ps606x11cra (Mt. 3, 17 par.). Bei Proba 119 Hierzu zuletzt W. S u erbau m, Aeneas zwischen Troja u. Rom, Poetica 1 (1967), 180f. und G. E. Duckworth, The »Old« and the »New« in Virgil's Aeneis. Tue Poetic Tradition, ed. C. A. A 11e n u. H. T. R o w e 11, Baltimore 1968, 71 f. (fast realprophetische symbolische Beziehung zwischen Buch 2 und 8) 120 Auf die Verwandtschaft zwischen der Nacharbeitung homerischer Szenen bei Vergil und dessen Deutung durch die christliche Interpretation hat D. Äneis u. Homer, Göttingen 1964, hingewiesen. M. L. G. N. Knauer, C 1a r k es Kritik (Gnomon 37 (1965) 690) an K n au er s Anwendung des Typologiebegriffs auf christliche und pagane Erscheinungen (Vergil suche Typen im Vorgänger, das NT bilde sich als Typ des AT ab) unterschätzt die Verwandtschaft beider Ausdrucksformen, vornehmlich aber ihr Zusammenwachsen in der Spätantike (vgl. Vf., Metapher - Exegese - Mythos, Terror u. Spiel, Poetik u. Hermeneutik Bd. 4, München 1971, 174 ff., 609; vgl. auch die Bemerkungen von J. Fon taine, Latom. 26 (1967), 282). 121 In Verkennung dieser Vergilallegorese vermutet Opelt (111) eine Anspielung auf die Auferstehung(?) der Jünger.

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erhält Christus den römischen Auftrag zur Weltherrschaft: der durch Koupierung ins allgemein Heilsgeschichtliche gedeuteten Stelle Aen. 6, 851 122 wird eine chiastisch geordnete Schüttelung von Entlehnungen aus der Verkündigung des Faunus an seinen Sohn Latinus vorangestellt (cf. Aen. 7, 97.l00f.). In den durch dieseUmdeutungen fixierten Sinnhorizontfügen sichim Cento Probae zahlreiche Stellen ein, in denen verschiedene Situationen der Aeneis widergespiegelt werden. Ich nenne nur diejenigen, die sich nach dem Kriterium der Abweichung vom Bibeltext sicher123 vom Centonenmosaik abheben. Die imperiale Sendung Christi wird noch einmal in v. 344 f. (am Ende des Proömiums zum NT) und v. 348 aufgenommen. Der Fall aus dem Paradies wird in einem reflektierenden Zusatz zur Bibel v. 170 f. als UnterP 171) - aber gang Trojas durch Helenas Schuld umschrieben (H 172 auch das Ende des heilsgeschichtlichen Zyklus, das Jüngste Gericht, ist in diesem Sinne » Untergang Trojas« (P 500). In diesem Rahmen können die Gefährten gegenüber Aeneas, aber auch Aeneas gegenüber den Göttern durchweg zu den Jüngern gegenüber Christus werden. Ich nenne als besonderen Überschuß über das biblische Substrat v. 515 ( eripe me his invicte malis); hier wird die Anfrage des reichen Jünglings zum Flehen des toten Palinur um Hilfe 124 und v. 638-647, die frei in den biblischen Ablauf eingeschaltete Szene des klagenden Petrus, in der die Haltung Didos zu Aeneas (640 f., 645 T), die des verzweifelten Aeneas vor dem Apolloorakel (644), aber auch die des Anchises und der Creusa gegenüber Aeneas beim Auszug aus Troja (646) verschmolzen werden 125, endlich besonders die Abschiedsrede Christi (v. 663 ff.).

~

Die Beziehung auf die vergilischen Irrfahrten überschießt die Bibel bei der Jüngerberufung in v. 458: die Jünger, so heißt es dort, wollen sich von Jesus übers Meer in alle Länder führen lassen. Dieser Überschuß wird noch größer, wenn Christus nach seiner Auferstehung eine große Fort fällt Aen. 6,851 H: Romane, memento. Der Übergang zu der Bibel analogen Detailrezeptionen ist fließend. So dienen z.B. in der Seesturmszene H 540 und P 543 der szenisch-psychologischen Ausführung, geben aber auch - für den Leser mit der Vergilkenntnis der Spätantike zweifellos erkennbar - mit ihrer Anspielung auf die schaurigsten Gefahren aus der Irrfahrt der Aenaden (v. 539 f.: Harpyien, v. 543: Scylla und Charybdis) der überfahrt auf dem See Genezareth einen generalisierenden Hintergrund - eine Generalisierung, die der stark von der detailnahen Umgebung abstechende v. 544 noch unterstreicht. 124 Also nicht erst ein »Fündlein des Cyprian« (Thraede, Epos, 1037). 125 Diese Arbeitsweise ist der Homerrezeption Vergils (Aufsplitterung von Personen, verschiedene Szenen evozierende Zitatenkombination) sehr ähnlich; vgl. Knauer, 332ff. 122

123

35

r

Zahl »neuer Gefährten« vorfindet (wie Aeneas nach dem Verlust Creusas), von denen die Bibel nichts weiß 126 und deren Ermahnung (v. 665) den zur »Ausfahrt« drängenden Aeneas 127 wiederholt. Wieder hat die Abweichung von der Bibel die Funktion eines exegetisch genutzten Überschusses: zweifelsfrei legt Proba die vergilischen Elemente auf einen missionarisch-kirchengeschichtlichen Sinn hin aus, sprengt also hier die Grenzen der neutestamentlichen Handlung. Die ständige Wiederholung hat das Modell Aeneis zur Metapher, ja zur Allegorie des Christlichen werden lassen - die nur exegetisch lösbaren Bibelüberschüsse erweisen, daß Proba auch die Technik der metaphorischen Identidit, wie sie am obszönen Cento beobachtet wurde, beherrscht und zu einem Rezeptionsmedium entwickelt, das die symbolische Spannung des vergilischen Werks erfassen und zu eigenen kompositorischen Schwerpunkten formen kann. 2. Die Rezeption der Bibel a) Die paraphrastischen Schwerp1mkte des Cento Probae

Die Untersuchung der Vergilrezeption muß Proba eine erhebliche Kunstfertigkeit in der Detail- und Gesamtkomposition des Cento, die Beherrschung eines differenzierten Instrumentariums in der Wiederholung des Modells attestieren. Die Effekte einer ausgebildeten Leitreminiszenztechnik vollziehen die Bibel in exemplarischen, episch geformten Szenen nach und lassen kraft einer ausgesprochen kompositorischen Fähigkeit der Dichterin - eines spezifisch römischen Talents übrigens zum Abteilen und Ausgleichen von Massen - den klassischen Epiker die Bibel gliedern; das reicht von abgezirkelten epischen Rahmungen bis zur Einfühlung in die Architektonik der Aeneis und die Spannung ihrer Symbolik. Aber fast scheint nach einem solchen Ergebnis das Phänomen eines christlichen Cento in der Mitte des vierten Jahrhunderts noch schwerer erklärbar. Man erwartet weder von dem Spiel des Cento, noch von einer Bibeldichtung, noch von einer Epoche vor Paulinus von Nola und Prudentius eine derartige Raffinesse in der Rezeption der Antike oder, anders ausgedrückt, eine derartige Freiheit im Umgang mit der Bibel. Letzteres vor allem; die Schrift wird nur desultorisch behandelt, das Ausgewählte nach szenischen Analogien ge126 127

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Die Stelle entstammt dem gleichen Umkreis ( Aen. 2,796 ff.) wie v. 458. Vgl. die Leitreminiszenz in v. 661 ff.

formt, ja auf weite Strecken durch eine sich dem Ausschreiben nähernde Reproduzierung der vergilischen Kosmologie eingeformt, endlich durch Vergilexegese an entscheidenden Stellen in einer von der Typologie Troja-Rom erborgten Heilsgeschichte verankert. Die zu Beginn gestellte Frage nach dem Hintergrund einer solchen christlichen Dichtung (o. 15) muß wiederholt werden. Hintergrund meint dabei im Sinne der formgeschichtlichen Methode eine Veranlassung zu derartiger Rezeption innerhalb der Entwicklung christlicher Ausdrucksformen; sie am Text abzulesen versprach ja die von der Theologie ausgebildete Methode. Und sie vermag das auch hier zu leisten. Wenn nämlich die Explizierung der Centonentechnik bisher eposimmanent blieb, so deshalb, weil zwar die Relation Vergil-Cento Probae durch die Untersuchung ihrer Bedeutung, ja ihres epischen Sitzes im Leben entfremdeter, in die Anonymität neuer Konsistenz wandernder Formelemente zur Frage stand, nicht aber die Relation Bibel-Cento Probae. Wenn von ,Centonenparaphrase< im Gegensatz zu den Techniken der Vergilevozierung geredet wurde, war stillschweigend die prinzipielle Kongruenz von Bibel und Probas Bibeldichtung vorausgesetzt 128 • Das aber wird, gerade angesichts der überraschenden Offenheit der Bibelwiedergabe gegeni.iber vergilischen Inhalten, kaum zutreffen. Eher ist zu erwarten, daß Abweichungen von der Bibel in ihren religiösen Gründen die Einformungen ins vergilische Werk allererst erklären. Vergil, Bibel und Bibeldichtung bezeichnen stets die Punkte eines hermeneutischen Dreiecks, die auch Relationen innerhalb der christlichen Ausdruckswelt, zwischen der Bibel und ihrer Wiedergabe, abzumessen erlauben. Zur Untersuchung steht m. a. W. die paraphrastische Seite des Werks; sie gibt den Maßstab, an dem eine Bibelrezeption abzulesen ist. Wenden wir uns nochmals der Wiedergabe von Mt 14,22-32 (o. 15f.) zu. In der gesamten Szene, besonders ab v. 547, tritt neben die mit Leitreminiszenzen operierende Rückführung der Bibel auf vergilische Analogien auch die zu Beginn erörterte ,ausonische< Centonentechnik, welche die Vergilpartikeln neutralisiert und in einen musivisch-indifferenten Sinnzusammenhang einfügt. In dieser Weise finden sich in v. 547 P, 548, 549 H, 557, 558 und P 559 Fragmente aus den Kampfspielen des fünften Buchs der Aeneis:

128 So - mit Ausnahme O p e 1t s - auch allgemein in der Forschung, zuletzt bei Cacioli (o. 310).

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547 P: 548 : 549 H: 557 : 558 : P 559 :

Nisus beim Wettlauf Beim Bootsrennen Beim Bootsrennen Beim Bootsrennen Beim Bootsrennen Schießenauf den am Mast angebundenen Vogel

Jesu Lauf über das Meer Jesu Lauf über das Meer J esu Lauf über das Meer Jesu Eintritt in das Schiff Jesu Eintritt in das Schiff Erzittern der Masten vor Jesu Gegenwart

Der Vergleich mit der Streuung der Leitelemente aus dem Seesturm Aen. 1, 81 ff. (o. 17) ist instruktiv. Hier sollen die ebenfalls aus einem zusammenhängenden Text entnommenen Stücke nicht mehr die vergilische Szene evozieren. Proba hat sich gleichsam in einem Passus festgesetzt und beutet ihn mnemotechnisch aus. Dieser Passus aber wird nicht als epische Modellszene wertvoll; die Konzentration liegt auf einer möglichst restlosen Erfassung des biblischen Geschehens. Deutlich wird dies an den Neutralisierungen des ursprünglichen Sinnes und der semantischen Neubesetzung: v. 548 z. B. ist das bei Vergil vorausgesetzte Fahren auf dem Schiff (Aen. 5,212), v. 558 der Umstand, daß Gyas den eigentlichen magister des Schiffes aus Wut ins Meer gestürzt hatte (Aen. 5, 176), ausgeschieden worden. Deutlicher noch wird dieses Bemühen um eine angemessene Paraphrase in der inhaltlichen Wiederholung v. 552-556. Proba genügt offensichtlich noch nicht die in v. 548 gelungene Umschreibung des Wandelns auf dem Wasser; in v. 552, 555 H und 556 gebraucht sie Einschlüsse aus der Polyphem-Episode Aen. 3,662 ff. V. 555 H erhält durch die Umgebung seinen neuen Sinn (per = ,über,), ebenso v. 556, der Kernpunkt des artistischen Bemühens, an dem mit der Übertragung des Unholds auf Jesus vollends der nicht mehr analoge (Seesturm) und nicht mehr kontrastierende (Hercules ~ Jesus) Charakter der rein auf die Bibelparaphrase gerichteten Centonentechnik erhellt. In diese musivische Streuung sind kleinere Partikeln eingeschlossen, die nun ganz die Funktion erratischer Mosaiksteine besitzen: so 559P (Aeneas im Nachen Charons) und 560 T (Somnus senkt sich auf Palinur)129. Auch hier erscheint also die ausonische Praxis (semantische Ausstrahlung einer unverändert übernommenen Kernprägung; vgl. o. 9) zu einer Streutechnik weiterentwickelt, verursacht offensichtlich durch die gegenüber einem Hochzeitscarmen erheblich größere Schwierigkeit, Handlungswechsel und Handlungsdetail 130 eines vorgegebenen Texts 129Lediglich als syntaktische Muster aus dem gleichen Ursprungsort sind v. 549 H und P 554 anzusehen. 130 Mt 14,22-32 schließt den vom Cento nicht leicht zu bewältigenden 38

nachzuvollziehen. Der Bibelcento bedeutet eine gesteigerte Herausforderung an den Paraphrasten. Aus ihr sind auch einzelne Verstöße gegen ausonische Regeln zu erklären. Mißt man die Seesturmszene lediglich an den von Ausonius formulierten Regeln, so ergibt sich der Eindruck einer nicht eben perfekten Einpassung: 1. Die Vergilpartikeln überschreiten in 533 f. mit zwei einander folgenden Versen (Ausonius: ineptum) den geforderten Umfang, 2. ebenfalls unregelmäßig ist der aus drei Partikeln zusammengesetzte v. 551 131, 3. außergewöhnlich häufig wird das vorgegebene Material zum Zwecke der syntaktischen Einpassung verändert: neben kleineren Abschleifungen und Ersetzungen vom Typ cunctisque c1mctique (v. 540) verändern andere die vergilische Diktion ihrem Sinn nach; so lautete ursprünglich v. 533: iam verberat amnem, 536: apparent terrae, 541: portum adspectabant flentes; 4. die syntaktische Transparenz glückt nicht stets 132. Diesen Eindruck bestätigt eine Prüfung des gesamten Cento. Auf 666 Centoverse fallen 113, in denen kleine syntaktische Modifikationen 133, z. B. Tempus- und Moduswechsel, Wechsel oder Fortfall der Kopula u. a. m. unterlaufen - ein hoher Anteil im Vergleich mit der Praxis der heidnischen Centonen höheren Niveaus 134 • Hinzu treten die tieferen

~

Handlungswechsel von den Jüngern im Schiff zu dem vom Gebet kommenden, den See betretenden Jesus ein. Proba hat hier geschickt die szenische Leitreminiszenz des Seesturms aus dem ersten Buch der Aeneis (o. 17) genutzt: ab v. 545 wird Jesus wie Neptun bei Vergil auf den Sturm aufmerksam, wobei der Name des Gottes koupiert und durch eine generalisierende Formel rni summa potestas (v. 546 H) ersetzt wird - und greift ein: der vergilische Handlungswechsel stiftet auch den biblischen. Es handelt sich um eine Vorstufe zur Verklammerung verschiedener biblischer Szenen durch den vergilischen Handlungsablauf (vgl. o. 22). 131 Erst Hasen b a 1g (7 f.) hat eine solche Zusammensetzung für regelmäßig erklärt. 132 Einzelanalysen bei Ca c i o 1i, 232 ff. Neben diesen sind C' s Untersuchungen zu einigen Neutralisierungen wertvoll, die von ihm jedoch als ,,forzature« verstanden werden; das typologisch-erbauliche Experiment der Dichtung wird noch nicht gesehen. 133Beispiele bei Ca c i o 1i, 190 134 Diese Differenz hat schon M. L. R i c c i, M otivi ed espressione bibliche nel cent. verg. >De ecclesiametrischen< Buchs Hiob auf Ps.Cyprian; vgl.Eh w a 1d s Aldhelmedition (MGH AA15, 63 f.). 24 De metris et enigmatibus 115 (Eh w a 1d 157 f.). 25 De metr. et enigm. 9 (Eh w a 1d 80). 26 De arte metr. 1,17. 27 Exod. 507-521. 28 Ed. Traube in: P(oet.) L(at. Aev. Carol.) 3,2 266.

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veteri et novo testamento. Wie das in St. Riquier für prosodische Übungszwecke angelegte Florileg 29erweist, ist unter dem atl. Teil dieses Werkes30 die Heptateuchdichtung zu verstehen. In diesem Florileg - und mit vier Zitaten auch in den wenige Jahre zuvor zusammengestellten exempla diversorum auctorum 31 - ist nun die Dichtung (und zwar in Zitaten auch aus den verlorenen Teilen des AT32) in prosodische Sammlungen eingegangen. Und bezeichnenderweise beginnt hierbei der Prozeß der Zuschreibung an bekannte Autoren: der Exzerptor 33, der durchgängig - oft irrig - die Quellen am Rand verzeichnete, war offenbar bestrebt, hierbei auch die Anonymitäten zu beseitigen; wie arbiträr er dabei vorging, zeigt die Zuschreibung von Heptateuchfragmenten an Fortunat, Prosper und Ovid. Das Florileg tendiert vor allem zu »Alchimus« ~ »Alcuinus«, der bekannten Verballhornung von Alcimus A vitus, offenbar als des Inbegriffs alttestamentlicher Epik. Andere Bibliothekskataloge spiegeln seitkarolingischer Zeit diese Zersplitterung: »Alchimus« in den Katalogen von Bobbio34 und Cluny 35, »Cyprianus« im Lorscher Katalog 36 • Es ist für die Beurteilung der erst im 9. Jh. beginnenden hsl. Überlieferung entscheidend, diese Entwicklung zu berücksichtigen. Der Heptateuchdichter ist von Anfang an nicht in den Kanon der christlich-

29 MGH PL 3,2 279ff. 30 Nr. 25 bezeidmet nicht Proba, wie P e i per (Cyprianausgabe,

IV) vermutet, denn Proba ist bereits im gleichen Katalog unter Nr. 18 aufgeführt: vgl. Traube, 267. Der ntl. Teil ist nicht mit den uns bekannten Autoren zu identifizieren (Juvencus und Sedulius sind ebenfalls unter Nr. 15 und 16 aufgeführt). 31 Ed. H. Keil, Halle 1872 und E. Chatelain, Rev. d. Philol. 7 (1883), 65 ff. 32 Zusammenstellung zuerst in der Cyprianedition P e i per s, 209 f., dann bei Traube P L 3,2 789. (Angemerkt sei, daß der in den exempla diversorum a11ctorum exzerpierte Vers rtec tamen est virt11s, ni deteriora ref11tans (Nr. 170 Keil), der von Traube (789) als ungeklärten Ursprungs deklariert wurde und so in die Nähe der >CyprianRückwendungRömertums< unter dem Prinzipat interpretiert, man versuchte zudem, Rückschlüsse auf die Weltanschauung und Psychologie der Autoren zu ziehen. Diese Arbeiten haben, wie deren letzte (0. Schönberge r, Zum Weltbild d. drei Epileer nach L11can, Helikon 5 (1965), 123 ff.) zeigt, eine Grenze erreicht, an der Betrachtungen über das >Ehrliche< (Lukan), die ,Welt der Melancholie< (Valerius Flaccus), das >Grauen< (Statius) und das >Reaktionäre< (Silius) ins Kulinarisch-Folgenlose münden. - Andererseits haben die formalen Untersuchungen seit F. M eh m e I s Valerius Flacrns (Hamburg 1934) die neue, ,unepische< Erzählha!tung seit Lukan mit Gewinn untersucht. M c h m e I s Interpretationen entwickelten das Prinzip der >isolierten BilderEvangelienEvangelienerobert< werden müssen; hieraus und aus dem didaktischen Einschlag der römischen Tradition9 erkläre sich auch das Schwanken der Lateiner zwischen starrem Rigorismus und beflissenem Bemühen um Ersatz 10. 2. Einigkeit herrscht über den Zusammenhang von Verfall und Wiederbelebung der paganen Literatur- und Schultradition mit dem Aufkommen christlicher Poesie in konstantinischer Zeit. Heute wird zumeist die Möglichkeit einer >naturwüchsig< christlichen Poesie verneint11, das Einsetzen der antikisierenden kirchlichen Poesie auf den Prozeß des sozialen Wandels in der christlichen Gemeinde, auf die kulturelle Überfremdung in der Zeit nach dem Toleranzedikt zurückgeführt12, die pagane poetische Tradition also als fester Wert vorausgesetzt - daß die Praxis des herkömmlichen lateinischen Epos seit längerer Zeit abgeschlossen war, wird selten gestreiB:13• Unerklärt bleibt auch durch den sozialen Wandel in der Gemeinde die nach der längeren Entwicklung einer christlich-lateinischen Prosa plötzlich einsetzende Bemühung um die Poesie: »literary energy is not a fixed quantity which must burst forth to write poetry, if prose is no longer the audience's chief need«14. W i t k e (LXXII), 152. 10 Antike Kulttirkämpfe (LXII), 605 ff., ähnlich Th r a e de, Epos, 997ff. 11 Vgl. W i t k e, 147: »it seems best to view this v~ry absence from the field of poetry as a mark differentiating the Christian religion from the state cu!t ... « Anders Mohrmann (LXXII) 1, 152f.: das Christentum habe der Poesie nicht fremd gegenübergestanden, sondern sei zunächst von der Rhetorik abgestoßen gewesen, seit der konstantinischen Zeit von den Gebildeten korrumpiert worden. Von der Auseinandersetzung mit dieser These ausgehend hat Thraede (JbAC 4 [1961], 109) den Einsatz der antikisierenden Poesie nach 300 als kirchlicher Poesie von einer vielfältigen, verschollenen und überlagerten, weil großenteils häretischen (und antihäretischen) Tradition spezifisch altchristlicher, der Gemeinde gegenüber >aktueller< Poesie abgesetzt; auch bei ihm bedeutet die konstantinische Epoche einen bedenklichen Bruch (vgl. JbAC 5 [1962], 12816); vgl. hierzu o. Lxv211. 12 Vgl. z.B. Ermini (38), 143ff., van der Nat, 1Off., Wirke, 147. 13 Vgl. jedoch Fuhrmann (XLVII147), 68ff., der gegenüber der Katastrophe der heidnisch-lateinischen Literatur im 3. Jh. die Kontinuität der christlichen Prosa seit dem 3. Jh. betont, und besonders W i t k e, 148 f. 14 Witke, 148. 9

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3. Thraede, van der Nat und Fuhrmann haben den meist global als Auseinandersetzung Antike-Christentum gesehenen Prozeß nach seinen literarischen Epochen zu differenzieren gesucht und für den Bereich der Poesie die Eigenart des 4. Jh. zwischen der Zeit Diokletians und Julians erkannt. Auch die Entwicklung in der Prosa von den Panegyrikern gegen die Jahrhundertwende bis zu Donat und Marius Victorinus wird hier als Erholungs- und Sammlungsphase, allerdings noch ohne wesentliches literarisches Eigengewicht, charakterisiert, wie denn überhaupt die Epoche 280-370, die den Auftakt der kirchlichen Poesie erlebt, in diesen Untersuchungen eher als Latenzund Einübungsperiode, noch nicht als traditionsbildend erscheint15. Dieser Stand der Diskussion in der Forschung gibt nach der Mannig-

15 Vgl. van der Na t, 16. 20. 26 Zäusur um 370; Programm und Aufstieg der christlichen Dichtung erst bei Paulinus von Nola. Fuhrmann (72 ff.) unterscheidet für die pagane Literatur eine Erholungsphase (bis Julian), sodann eine militant pagane, antiquarisch und philologisch konzentrierte Periode, in die andererseits auch die Blüte der christlich-spätantiken, durch Experimentierfreudigkeit und die Christianisierung der Inhalte sämtlicher literarischer Gattungen ausgezeichneten Literatur falle (75 f.), gefolgt von der Phase des Kompromisses und einer pagan-christlichen Mischliteratur. Die Anfäng_e der kirchlichen Dichtung treten bei dieser Differenzierung etwas in den Hmtergrund (»schüchterne Anfänge in diokletianisch-konstantinischer Zeit«; die Entstehung der christlichen Poesie nach ihrer Formenvielfa!t wird vornehmlich im reuvre des Prudentius und Paulinus erblickt [75 f.]). Th r a e de (am ausführlichsten Studien [o. XVII9], 22-27) statuiert eine Zusammenhang und Tradition bildende christliche Poesie erst um 400, seit Paulin und Prudentius; erst die vergleichbare Motivierung und Rechtfertigung des Dichtens haben nach ihm diesen Zusammenhang geschaffen und hingen nicht zuletzt von der Erneuerung auch der paganen Poesie am Ende des 4. Jh. ab. Juvencus' >Evangelien< und der Cento Probae werden zwar in ihrer Eigenart gegenüber diesen späteren Werken gesehen, aber von ihnen scharf, teilweise unzutreffend abgegrenzt: 1) in der Tradition der Poetologie (vgl. o. LXXI u. Vf .. Gnom. 39 [1967], 631), 2) in der Chronologie und Wirkungsgeschichte zwJSChen 330 und 390 gebe es keine datierbare christlich-lateinische Poesie (Proba!), und Juvencus sei vor Sedulius nicht bekannt und imitiert gewesen (wiederholt bei Sm o 1a k [XXXIIII03], 19; vgl. o. XL u. L156 und u. 214 ff.), 3) in der Charakterisierung der Eposrezeption des Juvencus und der Proba als (im Gegensatz zu Prudentius) problemloser panegyrischer Epik und imitatio Vergilii und Konkurrenz zur heidnischen Epik; hierbei wird zeitgenössische pagane Epik als Vergleichspunkt vorausgesetzt. Die christlich-poetischen Formen des frühen 4. Jh. sieht Th r a e de im ganzen als von der rhetorischen Schultradition ermöglichte Einübung in eine Konkurrenz zur paganen Poesie an, deren Formen dann zum Ende des 4. Jh. auf die neue poetische Praxis der Christen zurückwirkte (vgl. JbAC 4 [1961], 112). 161

faltigkeit seiner Erklärungsversuche dazu Anlaß, das Problem am Fall der frühen Bibeldichtung noch einmal durchzugehen. Die Untersuchung wird im folgenden in erheblichem Umfang an die Ergebnisse der patristischen Forschung zur Entstehung der christlichen Kunstprosa, zur Stellung der einzelnen Autoren zur paganen Bildung und besonders zu den verschiedenen \Vegen der Klassikerimitation anknüpfen können; dies Material, befragt man es auf Ursache und Wirkungspräsenz der Bibeldichtung, ergibt im Anschluß an die oben versuchte Werkanalyse ein recht einheitliches Bild.

II. Die Voraussetzungen der lateinischen Bibeldichtung 1. Die lateinische Poesie in der Epoche 280-370

Einheitlich äußerte sich, wie referiert wurde, die Forschung zur Besonderheit der literarischen Epoche von ca. 280-370, der die frühe Bibeldichtung angehört. Sucht man dieser Besonderheit habhaft zu werden, so verschärft sich noch das Gattungsproblem. Man kann zwischen dem Fragment der Cynegetica und der Mosella des Ausonius eine Werkgeneration zusammenfassen, die in ihrer kachektischen Reduktion auf Form und Technik, dem Zurücktreten der Autorenpersönlichkeit bis zur Verpuppung, in ihrer zugleich spielerischen und exegetischen Tendenz einen fremdartig anmutenden Anfang der spätantiken Poesie setzt und in manchem an die verspäteten Nachzügler des 6. und 7. Jh. erinnert. Die Figuren des Porfyrius, die >Evangelien< des Juvencus, Ekphrasen und metrischen Formalien des Tiberianus, Reposianus und anderer Poeten der Anthologie, der Wunderbericht in den Laudes domini, Vergil als Bibel bei Proba und als Feszenninen bei Ausonius, vor allem des letzteren nugae und katalogmäßig rubrizierende Produkte (Tageslauf, Fasten, Kaiser, Professoren, Heroen, ludus septem sapientum) stehen in enger Verwandtschaft beisammen. Die Cynegetica bezeichnen in diesem Zusammenhang einen Anfangs- und Endpunkt. In ihrem sehr ausgedehnten Proömium nimmt gleichsam das antike Epos Abschied; die auf über 30 Verse geratene recusatio läßt, die ,Evangelien< des Juvencus in eigentümlicher Weise vorbereitend - omnis et antiqtta vulgata est fabula saecli (v. 47) -, alle greifbaren mythologischen Stoffe als abgedroschen Revue passieren. 162

und auch der in der Entwicklung des lateinischen Epenproömiums ausgeformte Konnex des Themas mit dem Verweis auf das panegyrische maius opus hat noch einmal eingehende Verarbeitung gefunden. Doch scheinen auch bei Juvencus die Elemente dieser ausgeuferten Proömientopik durch das fremde Kleid der neuen poetologischen Reflexion durch: die Auseinandersetzung mit der bestehenden Tradition wird ins Grundsätzliche der profanen Archegeten Homer und Vergil gesteigert, der Rekurs auf das eigene Thema (vgl. cyneg. 48 ff. me ... ) wird persönlich-ethisch radikalisiert, der panegyrische Part als peroratio an den den Schluß gerückt und religiös überformt (4, 802 ff.) 16• Probas reuiger Verweis auf ihren Plan eines zeitgeschichtlichen Epos im Proömium ist dann die gerade Umkehrung des panegyrischen Versprechens eines maius opus, und die Wahl des Themas wird jetzt vor den Gang einer religiösen Autobiographie zu stellen gesu..:ht. So endet mit dem Einschnitt um 370 die Geschichte des Epenproömiums der lateinischen Tradition seit den Georgika; das Auftreten der metrisch getrennten Praefatio (vgl. o. 68 102) ist inhaltlich vorbereitet. - Andererseits gehört die M osella, die am Ende dieser Epoche als erste Dichtung größeren Formats und stofflich selbständig erscheinen könnte, nach der umfangreichen und in überraschender Weise der Leitreminiszenztechnik Probas vergleichbaren Vergilnachbildung 17 ersichtlich zur Periode des frühen 4. Jh.; sie markiert als epische Spezialität wie der ihr strukturell nahestehende 18 Nachfolger, das poetische iter des Rutilius Namatianus, das Ende eines Weges, den die Praxis des 4. Jh. den christlich nicht Engagierten noch zu eröffnen in der Lage war. Der beobachtete Neuansatz der hexametrischen Poesie bei Claudian und Prudentius setzt hier eine deutliche Zäsur; er ruht bei Claudian, wie Ca m er o n zeigte 19, auf der lebendig gebliebenen Tradition des griechischen mythologischen und Zeitepos des 4. Jh. und zeitigte eine über Merobaudes und Sidonius fortwirkende Tradition - bis zum 12. Jh. die einzige Möglichkeit nicht

16 Th r a e de weist richtig darauf hin, daß die >höfischeperoratio< sich nur noch bei dem Zeitgenossen des Juvencus, dem Autor der Laudes domini ebenfalls auf Konstantin bezogen - findet (Epos, 1018, vgl. JbAC 4 [1961], 113); vgl. auch Porfyr. 2, 27 f. 17 Vgl. M. R. Posana, Reminiscenze di poeti latini n. Mosel!a di A., SIFC 34 (1962) 31ff. und W. Görler, Vergilzitate in A's Mosella, Hermes 97 (1969), 94 ff. 18 Vgl. zu seiner ofl: musivischen Technik W. Schmid, Studi Castiglioni, Milano 1960, 879 ff. 19 Vgl. o. 68.

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sakraler Epik; der Experimentator Prudentius entwickelt neu das christliche (apologetische und dogmatische) Lehrgedicht und das allegorische Epos - seinerseits in beiden Formen eine breite spätantik-mittelalterliche Tradition eröffnend. Nicht nur das neuartige Portal der Präfationen sondert diese Werke von der antiken Gattung, sondern auch die veränderte narrative Struktur, die nur mehr Motive und stark reduzierte strukturelle Elemente des alten Epos zu rezipieren erlaubt, bei Claudian insbesondere die in das griechische Zeitepos integrierte Göttermaschinerie 20 , und in dieser narrativen Reduktion wird am besten das Ausmaß der Verwandlung des Epos bis zum Ende des 4. Jh. sichtbar, über die hinweg eine kontinuierliche Anknüpfung an die alte Gattung nicht mehr möglich war 21 • Der unverwechselbare Zug der Werkgeneration des frühen 4. Jh. läßt sich gut in der Charakterisierung der zeitgenössischen Reduktion der historiographischen Formen zur (christlichen) Chronik durch Momigliano zusammenfassen: »it concerns with the pattern rather than with the detail« 22 • Antike Form, antiker Inhalt und antike Autorenindividualität scheinen aus ihren Rollen geglitten und beliebig, ja amorph geworden zu sein. Das Arbiträre der Themen bei charakteristischem Vordrängen des Formalen ist auffallend (Biblisches und Obszönes im Cento). Das Stoffliche, seiner alten Formzugehörigkeit entkleidet, wird nach Reihen und Rubriken assortiert und pedantisch reproduziert; Bildungsgut (Ausonius) wie Dogma (Juvencus) werden nur in paraphrastischer Form poetisch zugänglich. In den lyrischen Formen und bei Porfyrius gewinnt die Form eine eigene, vom Inhalt ganz abgeschnittene Bedeutsamkeit, die sie der

Vgl. Cameron, 253ff. Vgl. die Beobachtungen A. K. CI a r k es, Claudian and the A11g11stinian comt of Milan, Augustinian. 13 (1968), 127: die »naive« Oberflächenstruktur der narrativen Übergangstechnik, das summierende interea etc. bei Juvencus, werde auch von der Technik der Bildreihung bei Claudian nicht mehr in Frage gestellt (besonders sichtbar in de raptu Pros.), sondern sei ein Niederschlag der neuen Formtendenz hexametrischer Poesie. Die Persistenz der bei J uvencus sichtbar werdenden Ablösung vom alten lateinischen Epos bei Claudian zeigt sich auch an den Stellen, an denen Claudian zu panegyrischen Zwecken noch einmal die alte Form des Epenproömiums variiert: die recusatio bewegt sich auf der gleichen, prinzipiell Mythos und mythologischer Dichtung feindlichen Linie der Reflexion wie in den ,Evangelien< (vgl. de bell. Get. 1 ff. und in R11f. 1, 1 ff.). 22 A. Mo m i g I i an o, The conflict between paganism and christianity in the 4th cellt., London 1963, 83. 20 21

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konkreten Poesie vergleichbar macht. Die alten Wirklichkeiten des Mythos und des Epos endlich sind nur mehr in der Exegese präsent (De ave Phoenice, Cento Probae). Nach ihrem Inhalt, nach pondtts und gravitas, müßte eigentlich die Dichtung nach Homer und Vergil - qttos posteritts aevum tulit - schweigen, so läßt Kaiser Konstantin in seinem Brief an Porfyrius verlauten 23 , doch habe, besonders nach Wiederkehr des temporum favor für die Kunst, auch der stihts levior die Möglichkeit, Anerkennung zu finden. Poesie manifestiere sich in der Beherrschung der lex metris statttta, die zu Helikon und Parnaß führe und bei deren Meistcrung auxilia divina notwendig werden. Wer gar den antiqua iura der Versform neue hinzufüge, wie Porfyrius, sei des kaiserlichen Lobes würdig. Diese offiziöse Kennzeichnung der poetischen Aufgabe, deren große Nähe zum Schluß der ,Evangelien< hervorzuheben ist 24 , paßt aufs beste zu den vorliegenden Werken der Zeit. Dieses geschlossene Bild verschärft nun aber in der Tat die eingangs dieses Teils der Untersuchung gestellte Gattungsfrage. Die starke Zäsur um 370 läßt die These von einer Erholungsphase, von einer die Epoche um 400 kontinuierlich vorbereitenden Einübungsepoche, als wenig angemessen erscheinen. Man kann kaum vertreten, daß sie ,,should be seen as a part of renewal of Latin and Greek capacity for poetry« 25 • Der Unterschied zwischen griechischem und lateinischem Bereich ist unübersehbar: während seit 300 der Osten tatsächlich einen Aufschwung gerade der hexametrischen Poesie erlebt, der mit Claudian für die west-

23 Porf. ed K I u g e, 39 ff.; besprochen bei H. Dörr i es, D. Selbstzeugnisse Kaiser Konstantins, Göttingen 1954, 127 f. 24 Die gratia Christi (803) verhilft dazu, daß Juvencus seine ganz formal charakterisierte, freilich bis aufs äußerste radikalisierte Aufgabe meisterte: durchs Versmaß seinem Stoff einen Schmuck zu geben - allerdings einem Stoff, der nur andächtig überhöht und daher mit dem Vergilkontrast divinae gloria legis (hierzu u. 193) umschreibbar ist und der Versifizierung daher den Charakter eines Übersetzens in menschliche Sprache überhaupt (805) gibt; ebenso formal und fast die Worte Konstantins gebrauchend hat dann Hieronymus (epist. 70, 5, 3) das Unternehmen der >Evangelien< erwähnt. Entsprechend dem konstantinischen Restaurationsprogramm (temporum f avor) wird die göttliche Hilfe nochmals (806) als pax Christi mit der pax saecli und dem Konstantinspreis parallelisiert. Und endlich ist auch die Stellung des Dichters zur epischen Tradition der des Kaisers verblüffend nahe: auch bei Juvencus sind Homer und Vergil zu Inbegriffen der Poesie geworden, die, dum saecla volabunt (>praef.< 12), keine fama mehr übertreffen werde (Juvencus vergeistigt daher diese fama, vgl. o. XL VIII). 2s W i t k e, 151.

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liehe Literatur frud1tbar wird, muß die Charakterisierung der ersten Phase des 4. Jh. im Westen in die Feststellung münden, daß hier eine Endphase poetischer Praxis vorliegt, die mit den Formspielereien der poetae novelli (die durchgehende Tradition liegt besonders bei Ausonius zutage), dem Cento des Hosidius Geta und der Paraphrase z.B. des Serenus beginnt. Die Bibelpoetisierung insbesondere hat in dieser Werkgruppe keineswegs eine exponierte Stellung. Die gesamte erhaltene 26 Poesie von Nemesian bis Ausonius kennt, das muß hervorgehoben werden, keinen erkennbaren oder gar dezidierten Paganen; die spätantike Poesie tritt an ihrem Beginn als von christlichen Literaten geprägte Praxis auf. Innerhalb der Gruppe gehören aber gerade die Bibeldichtungen des Juvencus und der Proba gegenüber den selbständig erzählenden und auf die künftige hagiographische Poesie verweisenden Laudes domini und dem geschickten Versuch der christlichen Mythendeutung (De a·ve Phoenice) zu den formal rückwärts gewandten Erscheinungen. - Es ist nicht möglich, den Einsatz der lateinischen Bibeldichtung aus einer faßbaren Erneuerung der lateinischen Poesie oder aus direkter Auseinandersetzung mit dem lateinischen Epos zu erklären - die Form, derer sich die ersten Bibeldichtungen bedienten, stand seit langer Zeit bereit oder sie allein nad1 ihrem schon bei Juvencus und Proba gegenüber dem konstantinischen Manifest radikalisierten Programm als spezifisch christlich zu erklären - die ,Evangelien< und die vergilische Bibel sind ihrer reduzierten, die inhaltliche Autonomie verpuppenden Form nach Werke ihrer Zeit. Das Phänomen der Bibelpoetisierung kann nur aus der Entwiddung der christlichen Prosa und aus dem christlichen Poesieverständnis der Spätantike seine Erklärung finden. Dieses Fazit stellt sich noch klarer dar, wenn man sid1 die entscheidendste, obzwar meist übersehene 27 Besonderheit der entstehenden christlichen Dichtung vergegenwärtigt: die Bibeldichtung ist nach Proba 70 Jahre lang, bis zu Sedulius, in keinem datierbaren Werk mehr gepflegt worden; trotz der am Beginn der Experimentierphase um 390 stehenden Aufrufe zur

26 Daß das aufkommende Staatskirchentum heidnische Poesie verdrängt habe - wie W i t k e, 149 anzudeuten scheint - ist gerade im 4. Jh. angesichts des Inhalts der erhaltenen Werke unbelegbar. 27 Thraede (Studien 20) konstatiert das Faktum; vgl. aber Witke (der allerdings wie Thraede Proba in diesem Zusammenhang übersieht), 148: »one wonders why the experiment was not repeated«.

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Bibeldichtung bei Damasus 28 und Paulinus von Nola 29 ist die Form, wie sie in den anspruchsvollen Programmen gefordert und inauguriert worden war, offenbar als Sackgasse empfunden worden. In der Blütezeit der altd1rist!ichen Poesie ist die Bibeldichtung nicht praktiziert worden 3°.

2. Die Auffassungen von der Möglichkeit christlicher Dichtrmg in der lateinischen Kirche bis Hieronymus und Augustin Die erste Frage zur Aufhellung dieses Gattungsproblems ist die nach dem Verhältnis der kirchlid1-lateinischen Kreise zur erhaltenen lateinischen Bibeldichtung, generell zur Möglichkeit weiterhin und christlich zu praktizierender Poesie. Der wirkungsgeschichtliche Rückgang von der Überlieferung der vorkarolingischen nnd karolingischen Zeit in die Spätantike war ja dadurch so erschwert (vgl. Einleitung o. XLff.), daß die Beurteilung der Bibeldichtung und ihre Wirkungspräsenz vor Cassiodor außerordentlich spärlich war, ja sich außerhalb der Kommunikation Autor-Adressat eigentlich auf die Bemerkungen des Hieronymus zu Proba und Juvencus beschränkte - ein angesichts des großen Bestandes dieser Werkgruppe bis zum 6. Jh. merkwürdiger Befund. Er wurde deshalb nicht auffällig, weil die Forschung bisher zum einen produktionsästhetisch interessiert war, zum anderen eher dem in der alten Kirche ausgiebig erörterten Gegensatz von Bildung und (sc. paganer) Poesie und Christentum in ihren Untersuchungen folgte 31 , endlich, weil die christlichen Produkte selbst ja eben jene der Spätantike 28 Vgl. Damas. epigr. 3 (ed. Ihm), beginnend mit einem vergilianisierenden Kontrast, der dem koupierenden Rezeptionstyp bei Proba und (z.B.) Prud. (psychom. 1) angehört: Tityre tll fido rewbans sub tegmine Christi. 29 Vgl. u. 222. 30 Die Nachricht bei Gennadius (66 Richardson), Prudentius habe ein poetisches Hexaemeron gedichtet, ist kaum verläßlich; gerade Prudenti~s hat in seinem vielfältigen ceuvre die Bibeldichtung gleichsam ausgespart, mdem er sie dogmatisch (im Lehrgedicht) und vor allem exegetisch (in den Hymnen) in autonome Formen integrierte. 31 Das reichste Stellenmaterial noch bei H. Fuchs, Bildung, RAC 2 (1954), 346ff.; vgl. im übrigen die u. genannten Einzelstudien Marrous, Eiswirths und Hagendahls. Eine Wende zeigt sich erst bei J. Font a in e, Aspects et problemes de la prose d' art latine ait Jeme siecle, Torino 1968; hier wird der Versuch unternommen, die stilistischen Folgen einer an die Bibel gebundenen literarischen Betätigung darzustellen.

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gemeinsamen Formelemente aufwiesen, die ihre Bezeichnung als christliche Poesie entweder als nichtssagend und widersprüchlich erscheinen oder nur nach dem christlichen Anspruch der einzelnen Dichter und dem Stoff der Werke angezeigt sein ließ 32. Indessen: auch die programmatisch christlich sein wollende Poesie betätigt sich bis zum Ende des 5. Jh. merkwürdig unbeachtet von der übrigen kirchlichen Literatur. Prüft man etwa, wann sich eigentlich die Auffassung von Literatur nach den uns vorliegenden Zeugnissen in die Kategorien pagane Poesie und Prosa, christliche Poesie und Prosa differenziert hat, so muß man bis Sidonius Apollinaris heruntergehen. Die entstehende Bibeldichttmg ist zunächst, entsprechend ihrem Programm und der in ihrer erba11lichen Tendenz eingelösten Erwartung der Leser, nicht als der antilun Dichtung kommensurable Poesie verstanden und beachtet worden. Als Endpunkt dieser Phase kann, wie erwähnt, Sidonius Apollinaris gelten. Seine .i\ußerung über die christliche Literatur weist sich noch als Formulierungsversuch eines Neuen aus. Epist. 4, 11, 6 spricht Sidonius noch additiv von triplex bibliotheca (sc. Attica, Romanei und Christiana) - der Bildungsschnitzer des Trimalchio (vgl. sat. 48, 4) ist hier zur Wirklichkeit geworden. Epist. 2, 9, 4 führt eine Lektürcstunde in einer Gutsbibliothek vor. Poesie und Prosa der Heiden (Horaz und Varro) werden Poesie und Prosa der Christen (Prudentius und Augustinus) gegenübergestellt. Bezeichnend ist die für die Heiden zunächst gewählte Bezeichnung ,lateinische Literatur< (laticire eloquium), die dann erst apologetisch zugunsten einer ihr zugehörigen christlich-lateinischen Literatur relativiert wird (dicendi parilitcis in cciusis disparib11s).

Die zu diesem Selbstverständnis führende Entwicklung ist man den in der Forschung hinlänglich diskutierten wechselnden Positionen gegenüber der paganen Literatur seit Laktanz in Parallele zu setzen versucht, doch gerade für diese Positionen stellt sich bis zum Anfang des 5. Jh. das Problem einer christlichen Poesie kaum. 1. Die Möglichkeit und Wünschbarkeit christlich-literarischer Betätigung spricht zuerst Laktanz aus, a) unter Verweis auf die bereits bestehende Tradition christlich-lateinischer Prosa und ihre mangelnde Wirkung auf die gebildeten Paganen (inst. 5,1,21), b) indem die Ver32 Ohne Aussagewert und das Programm der christlichen Poeten extrapolierend ist die Bezeichnung nach Th r a e de (besonders Studien, 21 ff.). Dichter Bereits Ge ff c k e n hatte zwischen der Gruppe spätantik-neutraler und einer Gruppe von Rigoristen nach Programm und Stoffauswahl unter(Ad galli cantum [o. 1593]), 83 schieden (vgl. o. LXIJ123). - Fuhrmann mißt das Christliche an Stoff und Engagement.

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mittlung der christlichen Botschaft als ,wahre Philosophie< in die ciceronische Spannung Philosophie-Rhetorik eingeformt wird und damit die Rhetorik ihr theoretisches Heimatrecht erhält (Anfang des 1. Buchs)33. Diese Einformung - der aber bei Laktanz keine Einformung in literarische genera, so auch kein Anspruch des Christentums auf wahre Dichtung zur Seite tritt - und die Durchmusterung der älteren (prosaischen) Literatur stellt sehr merklich das für die Folgezeit bestimmende Problem der Bibel und ihrer Vermittlung. Nitor sermonis (1,1, 10) wird zum Vortrag der christlichen Philosophie ja deshalb so erforderlich, weil die Schrift (divina) fuco carent, ihre »Erläuterungsschriften« ( qui ea interpretantur) also nicht nur die Grundschrift zu vermitteln, sondern sich zugleich um das Vermittlungsniveau der Literatur zu bemühen haben. Hier zum erstenmal in der lateinischen Tradition führen die literarische Herkunft des Apologeten und das von ihm intendierte neue Publikum der gebildeten Paganen zur zuvor nicht explizit gewordenen Differenzierung zwischen Schrift und Schrift-Literatur, zugleich zum historischen Bewußtsein bisheriger christlicher Literatur. Wie in der gesamten spätantiken Entwicklung bleibt jedoch das Problem der interpretes, der christlichen Literatur, das sich mit dem Literaturanspruch und damit dem Ausgrenzen der Bibel aus dem Bezirk des Literarischen ergab, global und vage - soweit es theoretisch formuliert wurde. Bei Laktanz tritt eine Differenzierung dieser Literatur lediglich nach den Rhetorik-Kriterien (wirksam - unwirksam) ein. 2. Bis in die achtziger Jahre des 4. Jh. gibt es vergleichbare Erörterungen nicht. Die zeitgenössische christliche Poesie wird nicht reflektiert, und in dem stilistischen Programm des Hilarius (vgl. u. 182f.) führt die Inspirationstheorie ( der Verki.indiger der christlichen Botschaft als organum dei) eher zurück zur Identifizierung von christlicher Literatur und Schrift. · 3. Ab ca. 380, mit den einschlägigen Erörterungen des Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Paulinus wird die Haltung des Christen zur Poesie diskutiert. Diese Erörterungen sind unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zur paganen Bildung schon oft analysiert worden; auf das Problem einer originär christlichen Poesie befragt, erweisen sie, daß die Diskussion keineswegs, entsprechend dem kurzen überblick über die altchristliche Prosa bei Laktanz, an die vorliegende christliche Dichtung - De ave Phoenice, Evangelia, lattdes domini, Cento Probae 33 Vgl. hierzu L. AI f o n s i, C11lt11rvor< und ,unter< der Rezeptionsschwelle des Christlichen gegenüber der paganen Epik. Diese Kennzeichnung aber operiert mit problematischen Kategorien: inwiefern setzt dieser Strom einer ungebrochenen Bildungskontinuität sowie einer ungebrochenen Übung im poetischen Handwerk besonders bei den späten poetischen Vertretern bereits eine abgeschlossene und damit problemlos gewordene inhaltliche Auseinandersetzung voraus und ist damit als sekundär zu betrachten'(vgl. u. unter Typ Nr. 5 und 7c)? - Fallen jedenfalls die unter 1. genannten Erscheinungen weitgehend unter die gewöhnlich als ,unbewußte Imitation, oder ,abgegriffene Klischees< rubrizierte Klasse, so beginnt mit der Stufe der sich inhaltlich, aber unter verschiedenen Zitatformen mit der antiken Epik auseinandersetzenden Rezeption die spezifisch christliche Poesieimitation. 2. Poesiezitate als Beweiselemente. a) negativ (antipagan). Dieser apologetische Grundtyp erscheint, wie auch im griechischen Osten, von Anfang an nicht selten als volle und namentliche Zitierung ohne Rücksicht auf den Prosakontext. Klassische Poesie steht für pagane Mythologie; der vorherrschende Typ rezipiert also zugleich die Tradition der Mythen-

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Aen. 7,458 f. und Ju. 221f. (hierzu o. 109); unter 112 Vgl. G 928 f. Juven. 6,273. Schüttelung des Zitats f 11. 683 113 Eine Grundtechnik stellt die Ausbeutung von Bildassoziationen zum Aufbau eines Handlungsablaufs dar; vgl. die Zusammenfügung von Aktionsmustern zum Begriff ,Löwe, bei Jo. 547 ff. Aen. 9,53 und o. 153. 114 Vgl. N 688 115 So akzentuiert tumido delitigat ore (Hor. A. P. 94) G. 644 den Lärm der Sodomiter vor Lots Herberge. 116 Noch beim HD ist etwa der somm1s inriguus (G. 34).

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kritik. Hierzu ist die Stellensammlung Th r a e de s117heranzuziehen 118,Als sekundäre apologetische Form ist die Ausweitung der Kritik ins Moralische anzusehen (fortgeschrittener Typ: der Angriff auf Aeneas' pietas bei Lact. inst. 5,10, 20 f.; Vollzitat). Den Abschluß dieser Form bilden die Negativzitate klassischer Poesie in der asketischen Phase des Hieronymusl 19. Sie haben die apologetische Funktion weitgehend verloren. b) positiv (Poesiezitate als antipaganes Argument) (Epos, 1006ff.) dargestellt hat, trägt die AusWie vor allem Thraede einandersetzung mit dem lateinischen Epos von vornherein eine Ambivalenz; Teile der epischen Tradition, besonders Lukrez, werden als Berufungsinstanz jenseits des Mythologischen, ja gegen den Mythos akzeptiert. Die römischen Besonderheiten in der Gattungsgeschichte des Epos haben also eine Rezeption der Epiker als testes gefördert, die sich spätestens seit Laktanz mit der die Dichter als auslegungsfähige, autoritative Texte behandelnden philosophischen (euhemeristischen oder platonisierenden) paganen Wirkungsgeschichte des Epos traf, wie sie etwa bei Macrobius und Martianus Capella greifbar wird. Das Argumentieren mit der epischen Tradition gegen die Paganen knüpfte in breitem Umfang an Lukrez an120; vgl. inst. 1,9, 32; 1,16, 32 u. ö.121 - Der inhaltlich positive Rezeptionstyp unter Absehen von der Mythoskritik findet sich lediglich bei Tertullian (Apol. 25,16)122, c) Die Dialektik der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den paganen

117 Epos, 1007. 118 Bezeichnend ist, daß wie in der griechischen Apologetik die Konfrontation der poetischen Inhalte mit der ,richtig, erzählenden Bibel zunächst vermieden wird; Bibel und Mythos stehen in der apologetischen Auseinandersetzung zunächst nicht in einem gemeinsamen Horizont (vgl. Ver f., Meta, pher - Exegese - Mythos (o. 34120), 164 ff. Erst Laktanz führt diese Form georg. 2,340). ein (vgl. inst. 2,10, 16 The latin fathers, 303ff. 119 Vgl. Hagendahl, 120 Eine erste Vorstufe ist das Seneca saepe noster Tertullians ( de anima 20) und dessen indirekte Zustimmung zu Lukrez de anima 5. über Kautelen Methods, 115f.; vgl. Lact. inst. bei Zitaten dieses Typs vgl. Hagendahl, 5,13, 16. Epos, 1008. Eine gute Analyse gibt Philippe, 121 Vgl. Thraede, LHcrece dans la theologie ehret. dtt 3eme siecle, Rev. de l'hist. des rel. 1895, 284ff. und 1896, 125ff. Zur Form bei Augustin: Schelkle, 10. Die Meisterschaft in der Konfrontation der verschiedenen Traditionen des römischen Epos zum Zwecke der Mythenkritik erreicht Prud. C. Symm.; vgl. A. Sa 1v a t o re, StHdi prud., Napoli 1958, 31ff. 122 Hier wird die Kette der Rezeptionen von Aen. 1,279 (vgl. o. 32116) noch ganz unproblematisch - eröffnet. Tertullian ist in mancher Hinsicht als ein Sonderfall vor der Rezeptionsschwelle inhaltlicher Auseinandersetzung anzusehen; vgl. z.B. die vor Prudentius nicht mehr erreichte. unmittelbare Rezeption patriotischer loci wie Aen. 1,14 und 3,415 in de pallio 1. - Römische Poesie als antiquarischer Beleg bleibt ebenfalls ein neutraler Sonderfall; vgl. Tert. de spect. 19 und Lact. inst. 3,8, 10.

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Poeten hat eine wenig beachtete Folge, die formale Veränderuno- der Rezeption. Das Zitieren weist eine zunehmende Persistenz der For~ulierungen, gerade auch der abgelehnten Mythologica, auf. Der Vorgang beginnt un~cheinbar mit einem Phänomen, das man als ironischen oder negativen >Emschluß, des Abgelehnten bezeichnen könnte, Typ: Jupiter aeq11tts (Aen. 10,450) bei Tert. ad nat. 2,13, ähnlich Arnob. 4,35 illa proles ]ovis (!"fercules) vera pro/es Jovis Aen. 8,301123.Negativer Typ: die Rezeption des Emschlusses et soror et conitmx (von Juno, Aen. 1,46); zu ihr Schelkle 59, eine ausführlichere Form bei Arnob. 3,30. - Diese mitgefi.i.hrt~n .Formulierungen tendieren zur Luxuriernng und Neutralisierung, wie sie sich schon bei Tertullian (ad nat. 2,13 Georg. 1,15ff. und ad nat. 15,1 f.) abzeichnen. 3. Die grundsätzliche Ambivalenz in der Bewertung der römisch-epischen Tradition hat ihrer inhaltlichen Rezeption seit den Anfängen der lateinischen Apologetik alle Möglichkeiten offen gelassen. Folgenreich - und zwar besonders für Möglichkeit und Form einer christlichen Poesie folgenreich - wird der Ansatz einer formalen Eigengesetzlichkeit, wie er sich unter 2c) abzuzeichnen begann. Die Frage ist nun unter welchen Verformungen poetische Textelemente in der christlichen' Prosa rezipiert werden konnten und unter welchen Bedingungen sie auf christliche, insbesondere biblische Formulierungen und Konzeptionen zurückzuwirken in der Lage waren. a) Haben die klassischen Zitate zunächst als Einschlüsse des nicht Akzeptierten, als stehengelassene Fremdkörper Eingang gefunden, so kann ein erster Schritt ihrer inhaltlichen Bewältigung in der Korrektur, sei es in Form der Koupiemng, sei es in Form der ersetzenden Vberblendzmg, bestehen124. Korrigierende Rezeptionen hat Th r a e de (Epos, 1011 f., unter >Interpolationen,) zusammengestellt; hierher gehören vor allem die programmatischen Korrekturen vom Typ Christe graves hominttm semper miserate labores (psych. 1), ebenso Paul. No!. c. 4,1 (~ Aen. 6,276) und die Formulierung divinae gloria legis bei Juvencus (4,804, hierzu o. 29 und 165; diese Prägung ging der geistlichen Bukolik Probas voraus; vgl. C. P. 156 u. o. 29) - offenbar erschien die einschneidendste Form der R ~zeption, die Textmanipulation, für das ideologische Portal der christlichen Dichtung besonders geeignet. Die Technik der überblendung125, aber a:1ch die b~sonders im Cento Probae gepflegte der Koupierung126 konvergieren i.ibngens mit einer lange geübten Praxis der ämulativen Traditions-

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123 Das Stilmittel wird noch von Prudentius geschätzt; so fordert Laurentius auf dem Rost den Richter auf nachzusehen, quid ttms Vulcan11s ardens (Hor. c. 1,4, 8) egerit (per. 2,403 f.). 124 ~benso verläuft der Rezeptionsvorgang in der griechischen Apologetik; vgl. die Interpretation von Clemens Alex. protr. 1 bei Ver f., Metapher Exegese - Mythos, 164 ff. 125 Vgl. im Bereich der frühen Bibeldichtung Juvenc. 2,98 ~ Aen. 4,295 Aen. 1,10, zu Proba o. 30, 40f. und E. 214 126 Vgl. o. 37ff.

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vergewisserung in der paganen Pocsie127; die christliche Imitation läßt sich hier - wie die Aufnahme des traditionellen Epenproömiums bei Juvencus und Proba (o. 163) - als eine radikalisierte Form der paganen Rezeptivität auffassen. b) Unauffälliger beschleunigt sich ein Vorgang, der sich in den unter 2c) genannten Beispielen ankündigte: die zunehmende Integration größerer mythologischer Textelemente. Diese beginnen bei Laktanz über den bei Tertullian erreichten Umfang hinaus den Kontext zu überschießen und nähern sich dem ornatus. Typ: (Io) quae ut iram lunonis effugeret, ut erat iam saet.is obsita, iam bos (Aen. 7,790), ... (inst. 1,11, 20)128. Das Stehenlassen der :.fextelemente begfo;tet - und erklärt z. T. - eine zunehmende Georg. 2,325: die Neutralisierung des Inhalts; vgl. Lact. inst. 1,5, 19 mythische Auffassung des fallenden Regens wird schon unausdrücklich auf dem Niveau der physikalisch-allegorischen Exegese rezipiert. Die konservierten Textelernente sind nun durch die Isolierung des Zitierens locker, zur sprachlichen Vorprägung reduzierbar und damit wie im Cento gegenüber dem Bedeutungszusammenhang des ursprünglichen Kontexts verschiebbar geworden. Typ: ( Libcr) delatus enim Cretam rnm semiviro comitatu ( Acn. 4,215) ... - der auf Paris bezogene Passus des Modells wird einem anderen Zusammenhang eingefügt (inst. 1,10, 9). Die Form der Anspielung (oben unter 1a)) hat mit dieser Entwicklung eine Eigengesetzlichkeit gewonnen, die seit Laktanz ohne umfangreiches Ausheben durch eine Art Erkennungssignal, eine Devise, die Evokation einer mythologischen Figur, eines ganzen Sinnzusammenhangs ermöglicht. Vgl. inst. 1,17, 15 und Aug. civ. dei 3,31; zu umfangreicheren Formen Hagenda h 1, The latin fathers, 205 f.129 4. Bereitet der Typ 36) in seiner den Text stehenlassenden Entwicklung den Cento Probae in mancher Hinsicht vor, so ist mit dem Typ 3a) inhaltlich bereits eine Stufe erreicht, die von der Forschung durchweg als das Kernstück der christlichen Klassikerrezeption angesehen wird: die Usurpation der Texte. Sie schließt Identifikation und Kontrast, in ihrer Wirkung auch die Umformung christlicher Konzeptionen ein. Gegenüber den vorgenannten Typen ist das unterscheidende Kennzeichen, daß die rezipierten Textelemente selbst nicht mehr der Veränderung bedürfen. a) Eine erste Stufe wird durch die Identifikation des poetischen Zitats mit

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Vgl. Keudel, 158. 128 Laktanz kennt bereits das 2-Zeilen-Vollzitat dieses Typs; vgl. inst. Aen. 7,133; inst. 1,16, 12 Ovid. met. 1,173 f.; inst. 1,21,40 1,15, 12 Ovid. fast. 4,207 f. (Geburt des Jupiter). 129 Vgl. die Analyse dieses Phänomens bei Proba o. 23 ff. und für die pagane Poesie bei K e u de 1, 151 ff. Das entsprechende Korrelat, die ebenfalls den Cento Probae vorbereitenden Nester von Leitreminiszenzen aus einem Aen. 7,767. Kontext, treten ebenfalls seit Laktanz auf; vgl. inst. 1,17, 15 774 ff. Die Präsenz des evozierten Hintergrunds bei den christlichen Poeten läßt sich an Juvenc. 3,693 f. erkennen: die vergilisierende Paraphrase vom >Arbeiten im Weinberg< (695) hat den Überschuß vitis mihi portio maior semiputata iacet (vgl. ecl. 2,70) assoziiert. Vgl. auch 4,104 f. 121

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der intendierten Aussage erreicht; diese Identität ist stets die der Metapher und damit die der Exegese - eine Grundform rezeptiven Verhaltens, die z. B. auch bei der Integration des AT ins Christentum und in der exegetischen Entwicklung dieser Identifikationen, der Geschichte der altchristlichen Bibelauslegung, zu beobachten ist. - Identifikation kann zunächst an das >positive< Erbe des römischen Epos, etwa an die antireligiöse Philosophie anschließen, so in dem Christuspreis ~ Epikurpreis im Anschluß an Lukrez bei Laktanz (inst. 6,24 ff.; hierzu mit Parallelstellen Th r a e de, Epos, 1010; Hagendahl, The fotin fathers, 388f.; Gennaro130), sodann an den Romgedanken etwa in der Tradition von Aen. 1,279. Die Rezeption dieser Stelle (vgl. Literatur zu ihr o. 32116) zeigt die Entfaltung eines solchen Identifikationsvorgangs: noch vor der Rezeptionsschwelle steht Tertullian (s. o. unter 26)); der polemisch-apologetischen Auseinandersetzung mit dem Anspruch des imperiiim sine fine folgt dann die Aneignung als Exegese, interpretatio christiana, mit wechselnden Deutungszielen etwa bei Prudentius und Sedulius; auch apologetische Regression ist, wie das Beispiel Augustins zeigt, nach wie vor denkbarl31. b) Die interpretierende Identifizierung mit mythologischen Textelementen ist nur in seltenen Fällen als echte Kontrastrezeption (die den Ansatz unter 2c) weiterführt) möglich; vgl. zu diesem Typ Thraede, Epos 1036 ff.132, Komplizierter ist die Usurpation der Götterprädikate, z. T. auch der Gottesnamen. Sie zeigt eine deutliche Grenze gegenüber den Möglichkeiten der frühen Neuzeit. Die Aufnahme der Allmachtsprädikationen Aen. 10,100f.; vgl. die ist unproblematisch (Typ: Aug. enchir, 3,11 Stellen bei Thraede, 1011133). Der Cento Probae kannte eine Gruppe nur z. T. mit Koupierungen operierender Identifikationen Jesu oder der Jünger mit antiken Heroen, insbesondere der Auffahrt des Herkules mit Jesu Auferstehung 134,Der Gottesname kann jedoch auch als für sich sprechender Kontrast in solchen Usurpationen stehengelassen werden; vgl. zur Übernahme von Jupiter bei Augustin Schelkle, 13ff. Die Identifikation

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130 II classicismo di Lattanzio nel De ave Phoen., MSLCA 9 (1959), 6. 131 Die wechselnden Positionen werden am übersichtlichsten bei Schelkle, 65ff. dargestellt. 132 Hierzu sind die Bemerkungen über eine restriktive Anwendung des Terminus Kontrastimitation u. A.163 zu vergleichen. - Auch die kontrastive (ironische) Identifikation begegnet in der paganen Poesie als eine beliebte Technik; die beste Besprechung solcher Formen jetzt bei L. Thompson / R. T. B ruer e (o. 18792), 133 Vgl. ferner Aug. civ. dei 7,30; hier werden Stellen gesammelt. Streben nach imitativer Vielfalt ist für diesen Typ auch bei Juvencus festzustellen; vgl. die Lucanirnitation, 2,134. Auch Handlungselemente können in dieser Aen. 5,727; eng verwandt, aber techWeise rezipiert werden; vgl. E. 370 Aen. 4,693 ff. nisch raffinierter Prud. per. 9,85 ff. Aen. 8,287 ff. und epist. 134 Vgl. o. 2694, ähnlich Hier. epist. 77,11,9 130,7, 12 Aen. 3,435 f. Vgl. für Juvencus 3,331 Aen. 8,531 (Pallas Jesus).

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von altus Apollo (Aen. 10,875) mit Christus bei Aug. de ord. 1,4, 10 geschieht in der Diskussion mit Licentius um die Möglichkeiten einer mythologischen Dichtung135. Die Grenze eines solchen Kontrasttyps bis zum Ende des Mittelalters ist etwa mit dem arguten Giovc crocifisso Dantes ( Purg. 6,118 f.) bezeichnet. Der ständige Gebrauch von Olympus und tonans seit Juvencus führte nämlich noch nicht zur Integration mythologischer Narrativität, etwa der in den frühneuzeitlichen Epen anzutreffende Übernahme des Olymps und der Göttermaschinerie auf die Trinität und den Aktionen zwischen Gottheit, Engeln und Menschen136. c) Die Rückwirkung einer Identifizierung breiten Umfangs auf christliche • Konzeptionen ist an der beka,mten und am Beispiel des Cento Probae gestreiften Entwicklung einer christlichen Höllenvorstellung im Zusammenhang mit der antiken Unterweltskonzeption zu erkennenl37, Ein Ansatz ist in der Identifikation des vergilischen Turnus mit dem Teufel Lact. inst. 2, 8, 2 ~ Aen. 11,361 gegeben138. Laktanz vollzieht auch erstmals die Verbindung des aus biblischen Bildansätzen (der engen Pforte und des breiten Weges; vgl. Mt 7,15 ff.) bereits zur Andeutung einer Höllenvorstellung entwickelten 2-Wege-Bilds mit der antiken Parallele aus Vergils 6. Buch der Aeneis139. Die zweite große Umformung oder allererst Besetzung einer christlichen Konzeption durch die Bildlichkeit des antiken Epos ist die Identifizierung

der biblischen Paradiesvorstellung mit der bukolischen Tradition seit Laktanz, wie sie von W. Schmid dargestellt wurde. Ebenfalls W. Schmid hat die - weitgehend schon vergeistigende - Integration elegischerotischer Elemente in den amor dei der Spätantike angedeutet140. 5. Die sich in den Formen von 3 b) ankündigende Konvergenz mit den ämulativen Techniken der paganen Imitation, der Korrektur, der freisetzenden Verschiebbarkeit und der Neutralisierung vollendet sich nach dem durch die Usurpierung epischer Tradition erreichten Schritt. Insbesondere mit der Neutralisierung des Vorgeprägten aus seinem Kontext - sie erscheint nicht selten in der das Zuendekommen der römischen Gattung begleitenden Akwalisiernng des in Gleichnissen und anderen epischen Spezialformen Fixierten141 - liegt nun ein zur sprachlichen Verfügbarkeit reduziertes metrisches Ausdrucksinstrumentarium vor, dessen Handhabung christlich bestimmte Bedenken grundsätzlich nicht mehr einschränken. Typ: Lact. inst. 3,27,10: ut eam (sc. virtutem) passet intueri, qttae sese a caeli regionibus ostentabat (Lucr. 1,64); die Lukrezstelle bezog sich auf die drohende Menschheitsplage der religio, Laktanz aber neutralisiert sie, nicht mehr an ihrer apologetischen Nutzung interessiert, und bezieht sie auf die virttts. Beispiele aus der Bibeldichtung, die jeweils die Nähe zu dem entsprechenden Imitationstyp in der paganen Poesie, doch auch die schon unter 1) beobachtete stärkere Tendenz zur semantischen Reduktion aufweisen: Juvenc. 4,754); Fortfall der I turn vero manifesta fides (Aen. 2,309 Ironie142; II veternm monumenta priorum (Aen. 3,102), bei Proba (v. 35) noch sinngleich rezipiert, wird von Juvencus 4,708 zu ,Gräbern< umgedeutet (und so noch im Severusfragment 10,83 übernommen)1 43; III tabe peresos (Aen, 6,442 vom amor) wird Juvenc. 1,440, ,wörtlich genommen< (Aktualisierung der Metapher), zur Krankheitsbeschreibung144; IV Der Extremfall einer doppelten Neutralisierung liegt /11.178 vor. Eripit a femine gladium, quem veste tegebat ist Kontamination aus Aen. 10,788 und Aen. 6,406; die Kontamination ist ihrerseits in den Centones nuptiales des Ausonius (immin. 10,15) und Luxurius als erotische Umdeutung erreicht worden; sie wird nun wieder freigesetzt.

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135 Hierzu o. 171 ff. Vgl. Licentius in Aug. epist. 26, v. 32 ff. Bezeichnend ist das Schwanken der hsl. Überlieferung gegenüber der Stelle (Sc h e I k e, 98 f.). Hieronymus hat bei der Rezeption des gleichen locus die Überblendung alttts Jesus für erforderlich gehalten (adv. Ruf. 1,5). 136 Vgl. die Grenzfälle der >Evangelien, regia caeli ,Himmelreich< und certissima pro/es ,SohnEvangelien,, 1,685 ff. - er sprengt mit 5 die Paraphrase überschießenden Versen die Norm dieser Dichtung und hat die Kommentatoren rätseln lassen (ein Probestück dessen, was er als ,freier< Epiker hätte leisten können: Arevalo z. St.; bloßer ornatus: Marold (. 5313), 335; ein verschollener Bibelkommentar: Nestler (o. 5316), 53) - ist erst in einer die Usurpation des Laktanz wiederholenden, und zwar gemessen an ihrer paraphrastischen Intensität wohl direkt an diesen anknüpfenden Vergilrezeption möglich. Die innerchristliche Ausformung des 2-Wege-Bildes (vgl. Ver f., D. alleg. Dichtkunst, 143) ist nun durch die Festlegung des Weges der Verdammnis auf die ,linke< Seite und die anschauliche Detaillierung des Bildes angereichert worden; die nächste umfangreiche poetische Ausführung findet sich bei Prud. hamart. 789 ff.

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140 Vgl. o. 624. Vgl. die Entsprechungen im Bereich der frühen Bibeldichtung o. 29 und 152. Auch hier zeigt sich die enge Verbindung zwischen Laktanz und der entstehenden Bibeldichtung. Claudian, 298. 141 Vgl. o. LI, 23, 43,109,145. Vgl. Cameron, 142 Vgl. zu diesem besonders in der intensiven Centonenparaphrase auftretenden Typ o. 9 u. 41 f. 143 Vgl. die reduktive Rezeption von Aen. 5,49 f. auf den christlichen Sonntag E. 773. 144 Diese Aktualisierungen können wie im Cento (vgl. o. 23) zu scharfen Kontrasten gegenüber dem ursprünglichen Kontext führen: Jesu Rufen vor Lazarus' Grab rezipiert den brüllenden Lärm der Charybdis (Juvenc. 4,391).

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6. Der mit 4. und 5. erreichte Stand schließt eine erste Phase der christlichen Eposrezeption ab - er markiert das Neue der eigentlich spätantiken Imitation. Denn die identifizierende Integration ist nicht als eine finale Stufe der Auseinandersetzung anzusehen; vielmehr birgt sie alle fi.ir Spätantike und Mittelalter wichtig gewordenen Formmöglichkeiten der Imitation. Usurpation durch Identifikation ist, wie dargelegt, stets Exegese, Dichterexegese, die nicht nur mit ihrer paganen Entsprechung interferiert, sondern seit der Wende vom 3. zum 4. Jh. im Bereich der christlichen Vergildeutung ein Ausmaß erreicht, das die zu dieser Zeit im lateinischen Westen betriebene Bibelexegese in den Schatten stellt. Die christliche Rezeption Vergils als auszulegender Autorität, die sich seit Laktanz ausbreitet und schon an Konstantins Hof Verwendung findet, ihren Höhepunkt vor Maffeo Vegio in der interpretatio christiana der 4. Ekloge erreicht und noch Augustin beeinflußt145, ja die Diskussion um die Möglichkeit einer christlichen Poesie einleitete (vgl. o. 170), ist neben anderen besonders von Cour c e 11e untersucht worden 146. Laktanz hat den Einsatz der christlichen Vergilexegese noch mit Kautelen vom Typ Maro non lange afitit a veritate (inst. 1,5, 11) begleitet147. Doch beweist die Praxis seiner Vergilauslegung (Typ: inst. 7,24, 11), daß hier ein sakraler Text in der gleichen dichten, sich dem Cento nähernden Perikopenform kommentiert wird wie die Schrift in der Bibelexegese, entsprechend dem hermeneutischen Motto ignota illis superstruem11s (inst. 6,2, 17). In der poetischen Praxis der Christen hat, wie die Untersuchung zeigte, der Cento Probae die Nachfolge Laktanzens in dieser Hinsicht angetreten, indem er auf weite Strekken unter dem Gesichtspunkt der Vergilnähe ausgewählte biblische Szenen auf die kosmologischen, aber auch die imperialen Ideen des Klassikers auslegte148. Sehr selten nur läßt sich dieser Typ aber bei Juvencus vermuten149. 7. a) Usurpierte Identität mit der epischen Autorität bewirkt jedoch nicht nur die öfter untersuchte, weil auffälligere und von der Kirche angegriffene Exegese der rezipierten Textelemente. Weniger bekannt ist die zweifellos von dem eben genannten Typ abhängige Exegese der Bibel durch eine als poetisches Zitat formulierte Auslegung (s. u. unter 8.), noch weniger die während der Phase der frühen Bibeldichtung vorherrschende Funktion dieses Typs, die Festlegung des Bibeltexts durch Imitation auf ein bestimmtes Textverständnis angesichts der im lateinischen Westen noch weithin feh-

145 Vgl. die gegenüber der kritischen Haltung des Hieronymus die Position von Laktanz und Proba aufnehmende Kußerung Augustins (In epist. ad 19ff.; Hagendahl, The latin fathers, 189f.; Rom. 3), ferner Schelkle, A. B o 1h u i s, Vergilius' vierde ecloga in de oratio Constantini, Amsterdam 1950. 146 Vgl. o. 32116und 328. L. and the golden age, 147 Zu Laktanz' Vergilexegese jetzt L. J. Swift, AJPh 79 (1968), 153 ff. 148 Vgl.o.26ff. 149 Vgl. 1,457 Aen. 4,275 f. (Paradies verheißenes Italien).

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!enden Schriftkommentierung. Diese Festlegung kann auf eine sakramentale Deutung oder eine bestimmte dogmatische Fixierung zielen15o. b) Mit diesem Typ verwandt, aber weit über die bibelexegetische Funktion hinausgreifend, vollzieht sich ein Prozeß der Vergeistigung, in dem epische Bilder, ausgehend von der direkten und problemlosen Rezeption - etwa aus dem Bereich der naturalis historia -, unter ständigen Verwebungen mit der biblischen Bildlichkeit spiritualisiert werden, endlich in eine sekundäre, die Spiritualisierung nicht mehr verratende Natürlichkeit übergehen. Typ: die Spiritualisierung der Biene: bei Laktanz ist die Rezeption der vergilischen Bienenwelt (Georg. 4,155 ff.; Aen. 4,402 f.) noch ein überschießend zitierter Beieg aus der naturalis historia (epit. inst. 7,11); spiritualisiert und zugleich stark amplifiziert151; ausgehoben wird fast die gesamte Bienenstelle aus den Georgica - wird sie von Ambrosius (hex. 5,21, 67 ff.)152.Im Bereich der Bibeldichtung konstatierte die Untersuchung eine solche Spiritualisierung für die Bukolik und die Lichtmetaphorik153. - Auch die Spiritualisierung setzt zuweilen die zerschlagende Neutralisierung des ursprünglichen Sinnzusammenhangs voraus. Aen. 9,347 ff. ensem ... recepitl purpureum, vomit ille animam wird Ps.-Lact. de pass. dom. 75 f. zur anima purpurea. c) Ebenfalls nicht auf die Exegese reduzierbar - und offenbar die Spiritualisienmgsformen wesentlich mittragend - sind Eposrezeptionen, die als Signale der Erbaulichkeit im Bereich der frühen Bibeldichtung erkennbar waren154. Auch in der Prosa sind sie nur schwer vom reinen ornatus, etwa den unter 1. erwähnten Typen, abzuheben155. Die sicher als erbaulich erkennbare Imitation vom sentimentalen und objektiv-akribischen Typ ist in der christlich-lateinischen Prosa ebenfalls seit Laktanz präsent; der Typ erscheint in größerem Ausmaß nicht zufällig in der Schrift de mortibus perserntomm, die erbauliche Stiltendenzen der frühchristlichen Märtyrerdarstellung aufnimmt156 und insbesondere in der Intensität des andächtigen Ekels und der grausigen Akribie dem ardor irtexpletus der frühen Bibeldichtung präludiert. Typ: die intensive Grausamkeit des Christen-

1so Vgl. o. 42, 118, 121. 151 Bei diesem Typ tritt häufig die amplificatio e negativo als Vorstufe zur Spiritualisierung auf, ähnlich im Epithalamium des Paulinus von Nola; vgl. Ambras. de Joseph 7,39: vacca, non illa (ecl. 4,21) ... 152 Vgl. L. AI fo n s i, L'ecphrasis ambros. del' libro delle api verg., VetChr. 2 (1965), 129ff. Die Endstufe (die Spiritualisierung beginnt zu verblassen) kündigt sich bei Aug. de virgin. 1,8, 40 an. 153 Vgl. o. 152 f., 153 f., ferner Juvenc. 4,470 (,NachtErnteobjektive< Form des ardor inexpleti,s lassen sich vermuten bei Lact. inst. 5,5; 5,9, 4 ( ~ Aen. 2,355 ff.); epit. inst. 13,5 ( georg. 1,289 f.). 156 Vgl. o. 185. Vgl. zur erbaulichen Bildlichkeit der christlichen Prosa vor ihrer rezeptiven Offnung zur Antike vor allem Cypr. epist. 37,2, 2 mit der Analyse von Font a in e (o. 16731), 172 f.

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verfolgers mort. pers. 5,11, 5 ~ Kontamination von Aen. 11,646 und 2,368157, 8. Einen Abschluß der Imitation als Exegese bildet die Stabilisierung der Bibeldichtung als Vergildeutung, das Erklären des einen sakralen Textes durch den anderen entsprechend der auch bei Macrobius formulierten, dort Homer und Vergil harmonisierenden Hermeneutik (sat. 5,3, 16) quid enim suavius qttam dttos praecipuos vates a11direidem loquentes. Bibel und Poesie sind nun für ihr jeweils angemessenes Verständnis notwendige Komplemente158 geworden. Typ: die Verbindung von Mt 24,29 mit Aen. 2,694 bei Aug. civ. dei 20,24159, Die Kennzeichnung der biblischen Propheten durch das vergilische vat;;m praedicta priorttm im Cento Probae Aen. 4,464) hat wiederum ihr Vorbild bei Laktanz, der die bib(v. 334 lische Ankündigung des Weltuntergangs mit eben dieser Formel vergilianisiert (inst. 2,17, 2). 9. Am Ende wandert auch die imitative Rezeption in die literarische Topik ein. Die Exegese macht wie die Mythenakkommodation Claudians schließlich vor der Anspielung auf die eigene literarische Person halt. Diese literarische Poesieimitation ist ebenfalls zuerst bei Laktanz anzutreffen (mort. Aen. 6,625 f.). Ambrosius hat sie gepflegt160, Die raffinierpers. 16,2 testen Formen weisen die Präfationen des Hieronymus auf161,

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Die hier skizzierte Entfaltung der christlich-lateinischen Epikerimitation führt im wesentlichen die Phänomene auf, die auch in den Arbeiten Schmid s und Th r a e des erschienen 162. Sie stimmt mit der neue157 Vgl. mort. pers. 30,5 ~ Aen. 4,471; vgl. auch die Anspielung auf die Viehseuche in Noricum bei der Krankheit des Galerius 55,4 und die Darstellung seines Schmerzensgeschreis durch die Übertragung der vergilischen Laokoonszene 33,8. 158 Vgl. zu diesem Typ Hagendahl, The latin /athers, 300ff. und Thraede, Epos, 1012.1014. 159 Vgl. Aug. contr. ep.ist. Pelag. 1,1, 2 ~ Aen. 9,58 ff. Die Schilderung der formica, bei Ambrosius in vergilisch-biblischer Mischsprache (zu diesem Stil vgl. Marrou (o. 17034), 498 ff.) zeigt in den Parallelstellen bei Augustin (epist. 41,1) und Hieronymus (vit. Malch. 7) ihren erbaulichen Hintergrund. Meister in der Kunst biblisch-vergilischer Verschränkung in der la tcinischcn Spätantike ist wohl Ambrosius; vgl. zu ihm Cour c e 11e, Les exegeses ... , 305 und Th. Springer, Nature imagery in the works of St A., Washington 1931. Aen. 9,446 und 56 Aen. 6,883 (zu160 Vgl. z.B. de obittt Valent. 78 gleich spiritualisiert). 161 Vgl. In Ezech. 14 praef.: allegorisiert wird Aen. 5,588 f. (Daedalus' Labyrinth) auf den spirittts sanct11s, der in den Autor eintritt, flankiert - zu Zwecken der Exegese - nach der Centonentechnik von der Daedalusstelle Aen. 6,27 ff. Vgl. auch Hagen da h l, The latin fathers, 321. 162 Die Differenz liegt einmal in der Zusammenschau der Entwicklung in Prosa und Poesie, die parallellaufende, in der Terminologie zuweilen schwer einsehbare Rubrizierungen wie bei Thraede, Epos, 1006ff. (Prosa) und

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ren Forschung auch hinsichtlich einer allgemeinen Entwicklungstendenz von einfachen, antithetischen zu komplizierteren, integrierend-kontrastierenden163 und auf christliche Konzeptionen zurückwirkenden Formen überein - einer Entwicklungstendenz, die O p e 1t als ,,Säkularisierung und Banalisierung« gedeutet, als Wandlung von der apologetischen zur ästhetischen Imitation bezeichnet hat 164. Aber eben dieses ,ästhetische< Ergebnis des Rezeptionsprozesses stellt nach einem überblick vor die eigentlichen Probleme. Zu konstatieren ist zunächst, daß die meisten Imitationstypen seit dem Auftreten der christlich-lateinischen Prosa präsent sind, daß etwas Neues dann mit Laktanz erreicht wird, daß im übrigen die gesamte inhaltliche Entwicklung der Rezeption bereits in der ambivalenten Einstellung zum römischen Epos seit der frühen Apologetik beschlossen liegt. Sodann ist die gut sichtbare Dialektik des Gesamtvorgangs stärker als bisher geschehen zu vergegenwärtigen, ein Wechselspiel zwischen inhaltlichen Optionen und formalen Konsequenzen, der Eigengesetzlichkeit der Integrationsformen und der Nötigung zur inhaltlichen Erweiterung durch diese Integrationformen. Bilder zu Beginn des Prozesses (bis zum Ende des 4. Jh.) ein bereits innerhalb der paganen Tradition neutralisiertes Stratum von großer Mächtigkeit und, insbesondere für die poetische Technik, Verbindlichkeit die Grundlage der Rezeption, so führt die apologetische (kontrastive) Form des Zitierens (2a und b) schon bei Tertullian zur semantischen Abschattung der aufgenommenen Textelemente (2c), zur formal zunehmenden Dehnung der Grenzen des Zitatumfangs (Luxurierung). Zunehmende Entschärfung und ,positive< Auswahl der klassischen Stellen fördern - noch in der frühen Apologetik -

1035 ff. (Poesie) zu vermeiden sucht, zum andern in der Auffassung, daß der Prozeß ohne Mehrdeutigkeit nur an inhaltlichen Rezeptionsschritten meßbar ist, in deren Abfolge sich formale Möglichkeiten zuweilen wiederholen, dann in dem Ergebnis, daß trotz des von Anfang an vorhandenen Fächers verschiedener Rezeptionstypen nicht nur eine systematische, sondern in bestimmten Grenzen eine historische übersieht gegeben werden kann. Endlich werden die Wandlungen der Rezeption nach der Stufe des Typs 4) als eine Entwicklung exegetischer Formen begriffen. 163 Hingewiesen sei hier auf den gewöhnlich recht unscharfen Gebrauch des Begriffs Kontrastimitation (vgl. o. 195). Es würde sich empfehlen, diesen bereits eingebürgerten Begriff entweder nur für die scharf umrissene Erscheinung der kontrastierenden Identifizierung (meist durch Ironie) zu gebrauchen oder mit ihm sensu lato die Folgen einer das klassische Substrat umdeutenden Rückwirkung auf christliche Konzeptionen (vgl. o. 2588) zu bezeichnen. 164 I. O p e 1t, D. ehr. Spätantike u. Pindar, ByzForsch. 2 (1967), 296 ff.

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die Vorform der identifizierenden Integration, die korrigierende Textumformung und das ironisch-kontrastive Stehenlassen von Textelementen. Wiederum nötigt die formale Eigengesetzlichkeit dieses Verfahrens - und dies kann als der entscheidende, seit Laktanz sichtbar werdende Schritt innerhalb des Gesamtprozesses angesehen werden - zu einer inhaltlichen Konsequenz: zu Überschüssen, die Signalwirkung erhalten (Evokation) oder semantisch neu besetzt werden können (Neutralisierung). Jede Integration identisch reproduzierter Textelemente in einen neuen Sinnzusammenhang aber ist ein hermeneutischer Vorgang, dessen Horizont Metapher und Exegese bestimmen. Er kündigte sich in textexternen Kontrasten gegenüber dem Zitat (Ironie und vielsagendes Stehenlassen) an; offenkundig wird er als Epikerexegese (4). Von diesem Zeitpunkt an läuft der Vorgang in verschiedenen, bis zum 14. Jh. konstant bleibenden 165 Funktionsweisen der Imitation aus: a) in der weiteren Vergilexegese - Vergils als eines sakralen Texts auf christliche Konzeptionen (im Umfang begrenzt und offiziell gebremst), b) in der nun umfassenden und bis zum Einüben der Neulateiner in die Tradition der Klassikerprägungen endgültigen Neutralisierung und Freisetzung der Texte, c) hiermit eng zusammenhängend (vgl. 7c) in der ästhetischen, hier als erbaulich bezeichneten Funktion der poetischen Texte als eines andächtigen und spiritualisierenden Ausdrucksmediums (7b und c), d) in der Nutzung der Imitationsexegese für die andere, seit dem 4. Jh. im Westen verbreitete und um 400 auch theoretisch als Hauptform der christlichen Schriftstellerei deklarierte Exegese der Bibel: der seit Ambrosius immer wieder angestrebten Formulierung der Bibelauslegung als Vergilauslegung, einem Bemühen, das eine durchgehende Kette biblisch-vergilischer Bildlichkeit schuf, die erst durch das vorausgesetzte Deutungsziel verstehbar wird und so präzise die am Beispiel des obszönen Cento analysierte hermeneutische Situation einer exegetischen Sprache zwischen Deutung des Modells und Deutung des Dargestellten (vgl. o. l0f.) wiederholt, e) in der sich verfestigenden Rückwirkung des bildlichen Überschusses auf christliche Konzeptionen (Hölle, Paradies). Probleme stellt dieser Vorgang unter den folgenden Gesichtspunk-

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Die Vergilrezeption entwickelt erst wieder eine neue Dialektik, als ihre Exegese an die pagane Epikerdeutung, etwa in der Linie des Servius, Macrobius und Fulgentius, und damit die Nutzung Vergils als eines sakralen Texts anknüpfte und die kirchlich gezogenen Grenzen der Imitation in der christlichen Spätantike erheblich erweiterte.

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ten: 1. Wo liegen nach der von der Forschung gut dokumentierten ersten inhaltlichen (apologetischen) Rezeption die Antriebe für den zweiten Schritt, die im Umfang so starke identifizierende Integration seit dem Anfang des 4. Jh.? Mit anderen Worten: welches christliche Ausdrucksbedürfnis trieb nach der Phase der Auseinandersetzung zur textuellen Identifikation mit dem paganen Epos? 2. Nach wie vor ist der o. 179 behauptete Zusammenhang zwischen der Entstehung der Bibeldichtung und der Eposrezeption nicht hinreichend belegt. Die Typenübersicht hat allerdings deutlich gemacht, daß die Praxis der ,Evangelien< und des Cento Probae allenthalben an die bei Laktanz erreichte Stufe des Rezeptionsprozesses anknüpft, nach ihrem zeitlichen Auftreten also mit den Entwicklungsphasen der Eposrezeption zusammenhängen muß, ja es konnte Abhängigkeit in Einzelfällen von Laktanz vermutet werden 166• Ferner folgt die neue poetische Gattung der Entwicklung der Eposimitation bis zum Ende des 4. Jh. auch in einer anderen Hinsicht: der in der Untersuchung des öfteren konstatierten Abstinenz von der Bibelkommentierung 167.Auch dieTendenzderEposimitation scheint nach der Intensität der übernahmen einem bestimmten Funktionstyp aus der Prosa zu folgen, der Übernahme poetischer Texte zur Artikulierung andächtiger Bedürfnisse (also als Funktion psychischer und objektiver Erbaulichkeit), sowie dem Aufbau der durch solche Imitationen aufwuchernden Spiritualisierung. Doch eine solche Ableitung wäre z. T. unzutreffend, z. T. erklärte sie das Entscheidende noch nicht. Die Praxis der frühen Bibeldichtung weist ein breiteres Spektrum an Imitationstypen auf; Proba kennt auch die Vergilexegese, und die Kombination von biblischer und vergilischerTypologie; Juvencus' und des Heptateuchdichters Vergilzitate gehören doch in den meisten Fällen zum Typ 1, belegen lediglich das Fortbestehen der poetischhandwerklichen Tradition. Diese Tatsache zeigt an, daß die Hauptfrage unbeantwortet blieb: warum geschah Poesieimitation nun als Poesie? Und warum trat diese Poesie in den eigentümlichen Minimalformen der poetischen Tradition, wie sie Juvencus und Proba darbieten, in der epischen Paraphrase und im Cento, auf?

166 Nachzutragen ist hier die wahrscheinliche Abhängigkeit des Proömiums der ,Evangelien< von Laktanz; der Verweis auf die Ekpyrosis mit seinem Anklang an Ovid. met. 1,256 geht vermutlich auf Laktanzens Diskussion der Ekpyrosis nach den sibyllinischen Weissagungen mit Zitat eben dieser Ovidstelle de .ira dei 23,6 zurück. 167 Vgl. 179 ff., 121.

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Die Frage nach den Antrieben der identifizierenden Integration führt hier weiter. Die Typenübersicht allein läßt nämlich nicht erkennen, daß ein wesentlicher, weil traditionsbildender Anteil der I dentifikation mit dem Epos in der Wiedergabe des Bibeltextes durch poetische Textelemente bestand. Und diese Wiedergabe reicht bis in die Anfänge der >positiven, Auseinandersetzung mit dem römischen Epos (Typ 26). Sie setzt ein mit der traditionell gewordenen, immer wieder unter kennzeichnenden Nuancen abgewandelten Konfrontation von Gen 1,1 ff. und Aen. 6,724 ff. Die kürzlich von Wiesen gegebene Erörterung des Anfangs dieser Tradition bei Minucius Felixl68 hat zuerst auf die Funktion der Bibelwiedergabe durch Vergil und die Relevanz dieser Funktion für die christlich-lateinische Prosa hingewiesen. Minucius Felix führt in seiner pagane Philosophen und Poeten heranziehenden Beweisführung für die natürliche Offenbarung Gottes an die Heiden auch Vergil an (19,1 f.): Q11id Mant11an11sMaro? Nonne aperti11s, proximi11s, verius principio, ait, caelum ac terras et cetera mundi membra spirit11s intus alit et infusa mens agitat, .inde hominum perndumque gemts et quidquid aliud animalium? !dem alio loco mentem istam et spiritum drnm nominat. Haec enim verba sunt: dettm namque ire per omnes terrasque tracwsque maris caelumqtte profundum unde homines et perndes, zmde imber et ignes.

Die Voraussetzung dieser ersten christlichen Auseinandersetzung mit Vergil - die zugleich Vergil und Bibel parallelisiert - haben Cour c el 1e und Wiesen erläutert. Der pagane Hintergrund war mit der philosophischen (stoischen und platonischen) Interpretation der die \'v'elt durchströmenden mens aus der Seelenwanderungslehre Aen. 6,726 f. in Verbindung mit ecl. 3,60 gegeben, wie sie bei Servius in bttc. 3,60, ähnlich auch bei Macrobius 169 faßbar ist. An sie knüpfen die christlichen Schriftsteller bewußt an 170 • Andererseits war eine notwen168 Vgl. o. (623), Soff., auch iiber die Vorbereitung innerhalb der paganen Vergilnachwirkung seit dem 1. Jh. - Diese Traditionskette wurde bisher meist nur in ihren einzelnen Gliedern besprochen; vgl. Krause, Epos, 1013 (unter ,Konta142f. 179f.; Diederichs, 113.124; Thraede, minationnicht wie Orion< mag den Poeten dazu aufgefordert haben, verbunden mit der Imitation eines anderen, angemesseneren Aen. 7,810) einen ,christlichen< Stern, nämvergilisd1en locus (vgl. 3,103 lich den Jesus symbolisierenden Lucifer einzuführen. über dieses Zeugnis des Juvencus wiederum führen die Belege für die christliche Luzifersymbolik nicht zurück; es ist also denkbar, daß hier die Entstehung eines christlichen Symbols aus der Vergilrezeption greifbar wird. 177 Eine Abhängigkeit von Juvencus ist wiederum wahrscheinlich, wenn man das Problem Direktimitation des Klassikers gegen sekundäre Klassikerimitationen innerhalb der christlichen Spätantike aus den in der neueren Forschung vorgebrad1ten Gründen (vgl. besonders Th r a e de, Studien (o. XVII9), 13 ff.) generell im Sinne der innerchristlichen Traditionsbildung zu lösen geneigt ist. In diesem Fall kommt hinzu, daß Hieronymus gerade bei derartigen Parallelisierungen mit dem Bibeltext auch Proba heranzieht, sie aber nicht nennt (vgl. u. 211).

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bezweckt, wie erörtert, Paraphrase des Bibeltexts (Gen 1,1 f.). Dieses Paraphrasieren wird nun vor allem durch die Einführung von Prosascharnieren in das Zitat gefördert (ait; et cetera mundi membra; et quidquid aliud animalium); cetera mundi membra etwa schneidet die zur Genesis nicht passenden H 724 und 725 ab. Sie verändern also den Modelltext, während Proba, die diese Elemente weiterzitierte, den Bibeltext veränderte. Die Paraphrase tendiert durch Korrekturen und autonome Zusätze zur Auflösung des ursprünglichen Kontexts. - Die volle Kraft des apologetischen Beweises aber liegt nicht auf der Paraphrase, sondern auf der wörtlichen Wiederholung des Modelltexts, die noch ausdrücklich durch haec enim verba sunt angezeigt wird. Dieses Zitat aber geht nicht mehr willkürlich mit dem poetischen Text um; es sucht die metrische Form zu wahren und ist exakt nach den bei Ausonius formulierten Regeln des Cento arrangiert. Aus der Georgikastelle werden nur anderthalb Verse zitiert, dann wird ohne inhaltlichen Grund (Georg. 4,224 lautete: hinc pecudes armenta viros genus omne ferarum) ein entsprechender Vers aus Aen. 1,743 angefügt 178. Dieses Zitat paraphrasiert nicht mehr den Bibeltext; es wiederholt den Modelltext und legt den Bibeltext aus. Mit diesen bei Minucius noch nebeneinanderstehenden Verfahren ist präzise die Spannweite einer jeden Imitation umschrieben, wie sie bereits zu Beginn der Untersuchung am Beispiel der Centonentechnik bezeichnet wurde: sie beweo-btsich zwischen Auflösuno-b und Deutuno-b des Modells und dementsprechend zwischen Paraphrase und Exegese ihrer Gegenständel79, Offensichtlich liegt mit diesen Verfahren nicht eine formale Nebensächlichkeit innerhalb der Entwicklungsgeschichte der christlichen Eposimitation, wie sie oben skizziert wurde, vor. Beide Integrationsweisen setzen die Identifizierung voraus, und von ihnen führt die eine zur Exegese (Vergils und implizit - am Ende (Typ 8)) auch explizit - der Bibel), die andere zur intensiven Paraphrase. Nun hat Hagen da h 1 in einem grundlegenden Aufsatz auf das die christliche Prosa der Spätantike durchziehende Alternieren dieser beiden Integrationsweisen 178 Es ist ein Vers aus dem kosmologischen Gesang des Iopas, auf den auch Proba zur Darstellung der Schöpfung rekurriert (vgl. o. 27102). 179 Vgl. o. 12. Vgl. auch o. 33: der Extremfall in dieser hermeneutischen Relation, die Deutung des Modells als Deutung des Darstellungsobjekts und die Eta_blierung einer autonomen exegetischen Sprache, wird nicht zufällig ebenso m den arguten Formen der spiritualisierenden Bildlichkeit wie der des obszönen Cento erreicht - beides Formen des Petrarkismus avant la lettre. 208

und auf ihren paradigmatischen Charakter für die Ausbildung der spätantik-christlichen Gattungen hingewiesen 180. Die wörtlich zitierende, Vergil deutende Rezeption liegt besonders klar bei Laktanz zutage - man erkennt dies gut an der Aufnahme der Gen 1,1 ff. - Parallele inst. 1,5, 11 -; Laktanz läßt Überschüsse stehen, beläßt damit der paganen Epik einen autoritativ gesicherten Eigenwert als Text und damit als Poesie; mit ihm beginnt die Reihe der in der christlich-lateinischen Prosa inkorporierten (nach der Centonentechnik geschüttelten, en bloc oder in Leitreminiszenzen ausgehobenen) Poesie, deren Massierung zuweilen so wirkt, »that L's own exposition ist nothing than a soft accompaniment to these solos« 181. Als unbestrittener Meister der in dieser Auslegung beschlossenen Umdeutung der biblischen Vorlage dürfte nach der oben unternommenen Untersuchung Proba anzusehen sein, als letzter spätantiker Vertreter dieser Form wohl Aug. opus inperf. adv. Jul. 4,38: hier ist eine solche Reihe des Gegners in der Polemik Augustins erhalten geblieben. Und es ist kein Zufall, daß diese Form des Cento als Auslegung eines Modells in der Nähe der Häresie angesiedelt ist. Die Form selbst ist, schon im griechischen Bereich, häretischen Ursprungs. Ihr erstes Beispiel überliefert Irenäus (adv. haer. 1,9, 4) 182, einen von valentinianischen Gnostikern gefertigten Homercento, gegen dessen Verformung der biblischen Wahrheit er sich wendet. Diese Abwehr muß noch für Tertullian sehr aktuell gewesen sein, denn seine o. 4 14 angeführte Definition des Cento entspringt nicht etwa der Beschäftigung mit einem literarischen Kuriosum, sondern der Bekämpfung einer falschen Bibelexegese, die sich des Mittels der Parallelisierung mit einem zweiten >sakralen< Text bedient. Tertullian spricht dabei die schwierige hermeneutische Lage aus, in der sich die lateinische Gemeinde angesichts einer ungesicherten und schlechten Bibelversion und einer noch nicht dogmatisch abgesicherten Tradition der (griechischen) Bibelexegese befand: et utiqtte fecundior divina litteratura ad f acultatem cuiusq?te materiae (praescr. haer. 38) 1s3. 180 Methods of citation (o. 18898), 119ff. 181 Hagen da h 1, lvlethods, 120. Vgl. dazu etwa Lact. inst. 5,5. 182 Vgl. zu diesem Text J. Ca r c o pi n o, De Pythagore aux Apotres, Paris

o. J. (1956 ). Hagen da h 1 hat die Einführung von wörtlichen poetischen Zitaten in die Prosa der Apologeten mit Recht auf den Sonderfall der philosophischen und Fachschriften in der Antike, speziell auf Ciceros Praxis zurückgeführt; vgl. auch Wijkström (o. 6688), 9. 183 Vgl. de pudic. 16: für die Exegese doppelsinnige Stellen der Schrift sollten nicht zitiert werden. Vgl. in diesem Zusammenhang Cour c e 11e, Les exegeses, 307ff.; Wiesen, 88 f.

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Vor diesem Hintergrund bedeutete die Bindung der Bibel und Vergil identifizierenden Form an die Bibelparaphrase eine erhebliche Stabilisierung, eine Einschränkung der wilden und einen paganen Text sakralisierenden Bibelausdeutung. In der Domestizierung dieser Form, die Minucius Felix in der musivischen Form seiner Klassikerrezeption eingeleitet hatte, mußte ein Gewinn liegen, einmal angesichts der Vetus-Latina-Version, zum anderen angesichts der erst im 4. Jh. im lateinischen Westen voll rezipierten, erst zum Ende des 4. Jh. in der Origenes-Auseinandersetzung dogmatisch abgesicherten Bibelauslegung. - Diese zweite, paraphrastische Form löst den Text des Modells, vor allem auch seine metrische Form, auf; sie beläßt ihm damit keinen Eigenwert als Poesie mehr. Sie setzt sich nach Laktanz zunehmend durch; bereits Ambrosius ist, wie schon Juvencus, konsequenter Vertreter der die alte Poesie neutralisierenden und problemlos gewordenen Paraphrase. Und gerade die Centonenform Probas - die also keineswegs identisch ist mit dem Integrationstyp der Modellauslegung kennt die o. 38 als Centonenparaphrase gekennzeichnete intensive Form der Vergil freisetzenden Bibeldarstellung. Der Unterschied beider Formen innerhalb der von Proba vollständig genutzten Möglichkeiten der Centonentechnik sei an zwei hermeneutischen Formeln des Ausonius und des Macrobius verdeutlicht: Macrobius (sat. 6,1, 6): melius hie quam ubi natum est sonare miremur; Ausonius (vgl. o. 4): adoptiva quae srmt ut cognata videantur. Der ursprüngliche Kontext wird in der paraphrastischen Form zerschlagen und soll zu einer zweiten Natur werden - Vergil als Cento (Ausonius); in der exegetischen Form wird das Modell geklärt, verbessert - Cento als Vergil (Macrobius).

Die Bibel als >VergilEvangelien< Juvencus' Programm der ornamenta terrestria linguae -: die eigentümlichen Minimalformen der frühen Bibeldichtungen des 4. Jh., die das Gattungsproblem stellten, erweisen sich als imitative Großformen, Großformen, die nach der von Laktanz nacherzählten biblischen Geschichte inst. 4, 10 ff. der Einbettung in die Prosaform der Apologetik nicht mehr bedurften, die aber noch die grundlegende Alternative der Rezeption römischer Epik in der christlich-lateinischen Prosa repräsentieren. - Freilich liegt die Grenze zwischen den beiden imitativen >Gattungen< nicht zwischen Juvencus und Proba, sondern innerhalb des Cento Probae. Doch ist es nicht verwunderlich, daß der Zeitgenosse Hieronymus in seiner Verurteilung Probas und seinem Lob des Juvencus der paraphrastischen Leistung des Cento Gerechtigkeit widerfahren

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zu lassen nicht geneigt war. Er sah in seinem Verdikt (epist. 53; vgl. o. XLIII u. 175 'vor allem die nach wie vor lebendige Gefahr, die dem richtigen Bibelverständnis von seiten des sakralisierten Epikers drohte 184. Nun erst werden die zunächst arbiträr erscheinenden Wertungen des Hieronymus, wird auch seine unablässige Bemühung um den Aufbau einer kirchlichen Literatur unter dem Leitstern einer abgesicherten Exegese (vgl. o. 174) und die Herstellung einer anspruchsvollen und verbindlichen lateinischen Bibelversion verständlich. Die christliche Poesie, aus der Imitation entstanden, in ihren selbständigen Formen der Imitation entwachsen, durfte nicht den hermeneutischen Gefahren dieser Imitation verfallen; im übrigen war ihm wie seinen Zeitgenossen christliche Poesie als Gattung noch wenig festgelegt und nur als willkommener Beitrag zum Nachholbedarf an Bibelauslegung genehm (vgl. o. 174). Als Exeget wird von ihm denn auch Juvencus zitiert 185, und als Bibelübersetzer hat er ihn in seiner christlichen Literaturübersicht bewundert. In der Forschung ist ihm die Inkonsequenz vorgehalten worden, daß dem Tadel des Cento Probae seine eigene Praxis der Bibel und Vergil identifizierenden Funde gegenübersteht186, hat er doch gar eine Centonenkontamination Probas, ohne sie zu nennen, übernommen.1 87 • Doch ist die Inkonsequenz nur scheinbar. War die Klassikerrezeption nur Darstellungszweck, so war sie erwünscht; war ihr Zweck aber identische Wiederholung des Klassikers, so war sie abzulehnen.

184Die Gefahr droht nach Hieronymus nicht mehr von den Häretikern, sondern von den gebildeten Neuchristen - eine gegenüber Irenäus und Tertullian kirchengeschichtlich bezeichnende Verschiebung der Fronten. 185 In Mt 1,211; vgl. o. 175. Kennzeichnend ist die Würdigung der zitierten Typologie aus den ,EvangelienEvangelienUnterhaltung< der Leser durch Dichtung, sucht sichtlich der poetischen Tätigkeit als Erbauung begrifflich habhaft zu werden 217; sie wird in der Rechtfertigung des mittleren Stils in der erbaulichen Bibelästhetik des Augustin wiederkehren218. So klar hier Paulin sein poetologisches Programm auf einen Begriff zu bringen suchte, so schwierig mußte sich die Einlösung dieses Postulats einer poetischen Erbauung an der Bibel gestalten. Es ist, als hätte Paulin mit dem Johannesfragment sogleich vor Augen geführt, welche Sprengkraft die erbaulichen Formen besaßen. Die von Hieronymus, Augustin, Licentius und Paulin zur Zeit der Entstehung des Johannesfragments geführte Literaturdiskussion kam zu dem Ergebnis, daß die antiken Gattungen von christlicher Seite mit Kontrafakturen beantwortet und usurpiert werden sollten und könnten. Gewiß hat das Unternehmen, die gegen 400 sehr aktuelle panegyrische Gattung zu erobern - und Paulin war, wie das Lob der Zeitgenossen für seinen verlorenen Theodosiuspanegyrikus bezeugt, ein Meister dieser Form -, diesen Hintergrund. Die herkömmliche Gattung schien zugleich die Gliederung und die Begrenzung vor.zugeben, die einer Bibelnachdichtung bisher gefehlt hatten. Man ersieht dieses Ziel aus dem sorgfältig in 16 genannten panegyrischen Aufbau; auch hat Paulin versucht, das J ohannesthema als ein der antiken Literaturform zugängliches >mensch217 Ahnlich formuliert hat Paulin dieses Programm gegenüber Licentius; vgl. o. 17344. 218 Vgl. o. 177 f. 221

.. liches< Sujet abzusichern 219. Doch trog die Kongruenz zwischen Bibel und Panegyrik; sie trog nicht etwa wegen einer Unvereinbarkeit des Täuferlebens mit enkomiastischer Behandlung, sondern deshalb, weil die Erbauung an der Bibel eben nicht in die Richtung der antiken Gattung tendierte, sondern in die Richtung genuiner Meditationsformen. Paulin hat nach diesem Fragment Bibeldichtung nicht mehr praktiziert220. Doch hat er theoretisch an ihrer Möglichkeit und Dringlichkeit festgehalten und versucht, die angemessene Auswahl und Behandlung ihrer Sujets zu bestimmen. Dies geschah kurz nach der Entstehung des Johannesfragments in dem von der Forschung vielbesprochenen221 Joviusgedicht. Im Begleitbrief ( epist. 16) hatte Paulin nochmals seine heteronome Literaturtheorie des sacrificium ingenii (vgl. o. 173) formuliert. Doch war Jovi~s ein gewi~h~igererPartner als Licentius. Paulin erweist seinen philosop~1schen_ Amb1t1_onenReverenz; ihm gegenüber kann die Usurpation der antike~ Bildung m dem Programm, ut sis dei philosoph11s et dei vates (16,6) ihren Höhepunkt erreichen222, Der dem Brief angefügte poetische Protrcptikos fiir die Bibeldichtung als wahre ,philosophische< Dichtun" .. (c. 2?) - ~ar'.1ert 20-28 noch einmal die Erbauungspoetologie; und es ist" wahrschemlich, daß Paulin an dieser programmatischen Stelle auf den Vorläufer ~ieser Poetologie, das Proömium der ,Evangelien