Dithyrambos: Geschichte einer Gattung 9783666251979, 3525251971, 9783525251973

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Dithyrambos: Geschichte einer Gattung
 9783666251979, 3525251971, 9783525251973

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HYPOMNEMATA 98

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Christian Habicht Hugh Lloyd-Jones/Günther Patzig

HEFT 98

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

BERNHARD ZIMMERMANN

Dithyrambos Geschichte einer Gattung

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortlicher Herausgeber: Albrecht Dihle

Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Zimmermann, Bernhard: Dithyrambos : Geschichte einer Gattung / Bernhard Zimmermann. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1992 (Hypomnemata ; H. 98) Zugl.: Konstanz, Univ., Habil.-Schr., 1989 ISBN 3-525-25197-1 NE: CT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992 Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die in einigen Teilen überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich im Wintersemester 1988/9 der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz vorgelegt habe. Das Manuskript der Druckfassung wurde im März 1991 abgeschlossen. An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die durch ihre Kritik und ihre Hinweise zu dieses Buches beigetragen haben. H.-J. Newiger hat das Entstehen der Arbeit mit kritischem Interesse verfolgt und gefördert. Ihm möchte ich an dieser Stelle in besonderer Weise danken. M. Fuhrmann, F. Graf, G. Ieranö, E. Krummen, G.A. Privitera und W. Schuller verdanke ich viele Anregungen und Hinweise. F. Geisser, L. Gemelli und R.E. Harder schließlich haben mich bei der Erstellung der vorliegenden Fassung sowohl beim Korrekturenlesen als auch bei der kritischen Durchsicht tatkräftig unterstützt. Den Herausgebern, besonders A. Dihle und H. Lloyd-Jones, sowie dem Verlag danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die HYPOMNEMATA.

Bernhard Zimmermann

Inhalt 1.

EINLEITUNG

2.

ARCHILOCHOS UND DER DITHYRAMBOS IM 7. JAHRHUNDERT

3.

TYRANNIS UND DITHYRAMBOS IM 6. JAHRHUNDERT V. CHR.

3.1. Periandros von Korinth und Arion 3.2. Kleisthenes von Sikyon und die τραγικοί χοροί 3.3. Die Kultur- und Religionspolitik des Peisistratos von Athen 4.

DITHYRAMBOS UND DEMOKRATIE

4.1. Politische Funktion des Dithyrambos 4.2. Lasos und Simonides

9 19 24

24 30 32 35

35 39

5.

PIND ARS DITHYRAMBEN

41

5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6.

Dithyrambos 1 (Fr. 70a M.) Dithyrambos 2 (Fr. 70b, *249, 81 M.) Dithyrambos 3 und 4 (Fr. 70c, d M.), kleinereBruchstücke Die Dithyramben für Athen Die metrische Komposition der Pindarischen Dithyramben Zusammenfassung:

41 44 50 53 55 61

6.

BAKCHYLIDES

6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7. 6.8. 6.9.

Einleitung Dithyrambos 1: Die Antenoriden oder Helenas Rückforderung Dithyrambos 2: Herakles Dithyrambos 3: Die Kinder oder Theseus Dithyrambos 4: Theseus Dithyrambos 5: Ιο Dithyrambos 6: Idas Die metrische Komposition der Dithyramben des Bakchylides Zusammenfassung

64

7.

DER NEUE DITHYRAMBOS

117

7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5.

Einleitung Stil und Form des Neuen Dithyrambos Musikalische Innovationen im Neuen Dithyrambos Mimesis und Dithyrambos Dionysoskult und Dithyrambos

117 118 122 127 129

64 66 70 77 95 101 104 106 113

7.6. Drama und Dithyrambos am Ende des 5. Jahrhunderts

133

8.

RÜCKBLICK UND AUSBLICK

137

LITERATURVERZEICHNIS REGISTER

158

148

Abkürzungen EGF M. PCG PMG Sn.-M. Sutton TrGF

West

Epicorum Graecorum Fragmenta, ed. M. Davies, Göttingen 1988. Pindari carmina cum fragmentis. Pars Π: Fragmenta, ed. H. Maehler, Leipzig 1989. Poetae Comici Graeci, edd. R. Kassel et C. Austin, Berlin / New York 1983ff. Poetae Melici Graeci, ed. D.L. Page, Oxford 1962. Bacchylidis carmina et fragmenta. Post B. Snell ed. H. Maehler, Leipzig 101970. Dithyrambographi Graeci, collegit D.F. Sutton, Hildesheim / München /Zürich 1989. Tragicorum Graecorum Fragmenta. Vol. I: Didascaliae etc., tragici minores, edd. B. Snell / R. Kannicht, Göttingen 21986. Vol. IV: Sophocles, ed. S. Radt, Göttingen 1977. Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati, Vol. I, ed. M.L. West, Oxford 21989.

1. Einleitung Von den drei dionysischen, an den Großen Dionysien zu Athen aufgeführten Gattungen Tragödie, Komödie und Dithyrambos ist der Dithyrambos ohne Zweifel diejenige, die sich - jedenfalls in den letzten Jahrzehnten - der geringsten Aufmerksamkeit von seiten der Forschung erfreuen konnte. Dies mag daher rühren, daß von der unvorstellbar großen Zahl von Dithyramben, die allein für attische Feste seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. bis ins ausgehende 2. Jahrhundert n. Chr. verfaßt wurden, nur kärgliche Reste erhalten sind, so daß es nicht besonders lohnend erscheinen mochte, sich mit diesem Genre zu befassen. Selbst die Entdeckung des Bakchylides am Ende des 19. Jahrhunderts änderte nicht viel an dieser Lage, da einerseits der keische Dichter nach der anfänglichen Euphorie über den Fund aus dem Schatten seines thebanischen Rivalen auch nach 2400 Jahren nicht heraustreten sollte, andrerseits die Dithyramben des Bakchylides von der Forschung kaum unter der Fragestellung der Gattungsgeschichte, sondern eher unter sprachlichen und erzähltechnischen Gesichtspunkten behandelt wurden. Die Geringschätzung, die dem Dithyrambos widerfuhr und widerfährt, ist um so erstaunlicher, als dieses chorlyrische Genre im demokratischen Athen des 5. Jahrhunderts die Polis-Gattung par excellence war und in der Polis eine eminent wichtige politische, religiöse, soziale und erzieherische Funktion ausübte. Zudem bietet gerade der Dithyrambos die Möglichkeit, die Geschichte einer chorlyrischen Gattung vom 7. bis ins 4. Jahrhundert hinein zu verfolgen und die Entwicklungen und Wandlungen nachzuzeichnen, die sie teils infolge der politischen und religiösen Veränderungen in der Polis, teils unter dem Einfluß anderer Gattungen, besonders der Tragödie und des kitharodischen Nomos, durchlief. Die mangelnde Beachtung, die der Dithyrambos fand, ist hauptsächlich in der kritischen Rezeption begründet, die gerade den Werken der sogenannten jungattischen Dithyrambiker, der musikalischen und poetischen Avantgarde des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts, in der Alten Komödie - Pherekrates und Aristophanes sind an erster Stelle zu nennen - und bei Piaton und Aristoteles zuteil wurde. Während Aristoteles in der Poetik die Eigenheiten des Neuen Dithyrambos eher unter theater- und aufführungstechnischen Gesichtspunkten kritisch durchleuchtet, 1 unterziehen die Komiker 2 und Piaton 3 die Werke der zeitgenössischen Dithyrambiker einer grundsätzlichen Kritik: Da die Avantgarde mit Form und Inhalt der traditionellen chorlyrischen Gattung spiele, mißachte und zerstöre sie die 1

Vor allem 1454a30f. (zum Threnos des Odysseus in der Skylla des Timotheos, der ein Beispiel für das Unziemliche und Unpassende ist) und 1461b30-32 (zur übertriebenen Mimesis in der Skylla). Zur Stellung des Dithyrambos in der Poetik vgl. die Arbeiten von TIECHE (1916), KOLLER (1962) und zuletzt HALLIWELL (1986) 256. 2 7 7 (mit Anm. 37), HALLIWELL (1987) 78-84. 189.

2

Pherekrates Fr. 155 PCG, Aristoph. Av. 904ff. 1372ff.; vgl. dazu RESTANI ( 1 9 8 3 ) , BARKER (1984) 93ff. 124ff.

3

Resp. 397a 1 -b2, Legg. 700a7ff.

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Einleitung

erzieherische Aufgabe, die gerade dem Dithyrambos als der Gattung der Bürger Athens zufalle. 4 Der Ansatzpunkt für diese Kritik ist ohne weiteres einsichtig, wenn man bedenkt, welch große Zahl von Choreuten alljährlich für Dithyrambenaufführungen in Athen benötigt wurden: allein für die Großen Dionysien, ohne all die anderen Feste in die Rechnung miteinzubeziehen, 500 Knaben und 500 Männer. Aus der kritischen Haltung heraus, die Piaton gegenüber dem Dithyrambos seiner Zeit einnimmt, kann man erklären, warum der Philosoph 'Dithyrambos' und 'dithyrambisch' auch im übertragenen Sinne zur Bezeichnung von Schwulst, von gewagten und hochfliegenden, aber leeren Wortschöpfungen verwendet, die die Dichter - ohne Verständnis für das rechte Maß in ihrer Kunst - in bakchischem Taumel schaffen. 5 Aristoteles auf der einen und die Komiker sowie Piaton auf der anderen Seite bestimmen die Rezeption des griechischen Dithyrambos bis in die Gegenwart hinein. Indem Aristoteles in der Poetik (Kap. 4, 1449a9ff.) den Dithyrambos als eine Vorstufe der Tragödie betrachtet, legt er den Ausgangspunkt für eine Unzahl von Arbeiten, die sich mit den Ursprungsfragen der Tragödie befassen. 6 In all diesen Untersuchungen richtet sich allerdings das Interesse nicht auf Probleme der Gattung Dithyrambos an sich; vielmehr betrachtet man in der Nachfolge des Stagiriten den Dithyrambos als eine Vorstufe der Tragödie und benutzt die spärlichen erhaltenen Texte und Nachrichten als Steinbruch, um das Telos, die Tragödie, in ihren Ursprüngen zu rekonstruieren. Piatons Urteil über die Dithyramben seiner Zeit hingegen, vor allem seine Aussage, die Dithyrambiker schafften ihre Wortgebilde in bakchischem Taumel, sowie die übertragene Verwendung von 'Dithyrambos' und 'dithyrambisch' sollten zusammen mit Horazens Charakterisierung der Dithyramben Pindars als reißender Strom kühner Wortschöpfungen in freien R h y t h m e n 7 das Dithyrambenverständnis der folgenden Jahrhunderte, 4

Deutlich kommt Piatons Kritik in Legg. 700a7ff. zum Vorschein. In einem Überblick über die Musikgeschichte werden zwei Phasen voneinander abgesetzt: 1. die Phase der traditionellen Musik der 'guten alten Zeit', in der die einzelnen Gattungen deutlich voneinander getrennt waren und jede ihren festumrissenen Funktionsbereich hatte (700a9 тотс); 2. die Phase der musikalischen Avantgarde, die ohne Rücksicht auf Tradition, Gattungsgrenzen und Funktionsbereiche aus dem Bestreben heraus, dem Publikum zu gefallen, alles durcheinander bringt (700d3 ιτροιο'ντος· του χρόνου); vgl. dazu BARKER (1984) 156ff.; zum erzieherischen Aspekt von Musik und Dichtung vgl. vor allem den Agon der Wolken (besonders 916ff.) und der Frösche (1006ff.) des Aristophanes.

5

Zu Dithyrambos und dithyrambisch vgl. Plato, Crat. 409bl2-c3, Phaedr. 241e2; zum bakchischen Taumel der Avantgardisten vgl. Legg. 700d5f. Vgl. vor allem den Forschungsbericht von PRIVITERA (1958) 9-13 und PATZER (1962) 49ff. 90ff. Carmen 4, 2,10-12: Seu per audacis nova dithyrambos / verba devolvit numerisque ferlur / lege solutis. Das Bild der Dichtung - zumal dionysischer - als eines reißenden Stromes findet sich schon bei Aristoph. Eq. 526-528 (von Kratinos). Aristophanes überträgt ein Gleichnis aus der llias (11, 492-495), das die Kampfeskraft des Aias

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7

Einleitung

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insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts, entscheidend prägen: Das wohl interessanteste Zeugnis für die Dithyrambenrezeption des 18. Jahrhunderts findet sich in Herders Abhandlung Von der griechischen Literatur in Deutschland im Abschnitt Pindar und der Dithyrambensänger,8 Herder entwirft eine Gattungsgeschichte des Dithyrambos in drei Stufen: Die Wurzeln der Gattung sieht er in der Trunkenheit, die einen ungezähmten Tanz, eine rohe Musik und einen rohen Gesang hervorgebracht habe, der zu Ehren eines der ältesten Götter vorgetragen worden sei. 9 In einem ersten Schritt sei dieser Ur-Dithyrambos durch die Religion gezähmt worden. "Entsprungen unter berauschten Tänzen des Volks führte man ihn in die Tempel, um ihn zu zähmen. Sein Inhalt, seine Sprache, Silbenmaß, Bearbeitung, Musik, Deklamation, alles zeugt von der Zeit, die ihn hervorgebracht hat." 10 In einer zweiten Phase der Entwicklung habe sich die Sprache von den dithyrambischen Freiheiten entfernt. "Das wahre διθυραμβώδες· war also vorbei, und man suchte es nachzuahmen." 11 Diese mittlere, klassische Epoche des Dithyrambos, 12 wohl die Zeit des Pindar und Simonides, sei abgelöst worden von der Endphase, der Zeit des Neuen Dithyrambos. "Nachher aber trieben die folgenden die Kühnheit immer höher, um ihre Vorgänger übertreffen zu können." 13 Neben dieser Gattungsgeschichte, deren dreigliedriges Entwicklungsschema dieser und anderen Studien zum Dithyrambos z u g r u n d e l i e g t , 1 4 bietet Herders Schrift auch eine Erklärung des Dithyrambischen, die auf Piatons und Horazens Dithyrambenverständnis beruht. Das Dithyrambische drücke sich in allen drei Komponenten der Dichtung aus: in der dithyrambischen Sprache, "die in Worten neu, kühn und unförmlich, in Konstruktion verflochten und unregelmäßig war: eine Sprache, wie sie vor ihrer Ausbildung ist." 15 "So auch das Silbenmaß: Gesetzlos, wie ihr Tanz und die Töne ihrer Sprache; aber notwendig desto polymetrischer, tönender und abwechselnder. So auch die Musik: Die phrygische Musik, die rasend machte." 16

8

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15 16

beschreibt, auf die Kraft der Dichtungen des Kratinos. Die Beschreibung der metrischen Form als lege solutis ist leicht einsehbar, wenn man sich eine Komposition w i e Pindar Fr. 75 M. vor Augen hält. HERDER (1767) 323-345 (mit Gaiers Kommentar, S.1125ff.). Die Abhandlung ist Teil der Schrift Über die neuere deutsche Literatur II. HERDER (1767) 326. HERDER (1767) 327; der Einfluß von Horaz, Carmen 4, 2, 10-12 zum Stil und Metrum (siehe oben Anm. 7) ist unverkennbar. HERDER (1767) 327; hier dürfte Piatons Dithyrambenkritik und seine übertragene Verwendung von Dithyrambos und dithyrambisch zugrunde liegen. HERDER (1767) 329. HERDER (1767) 329. S o auch LUETCKE (1829) 29ff„ PICKARD-CAMBRIDGE (1927), PRIVITERA (1958, 1972, 1979). HERDER (1767) 328. HERDER (1767) 328f.

12

Einleitung

Dieses Verständnis von 'Dithyrambos' und 'dithyrambisch' scheint auch in den Schriften von Friedrich und August Wilhelm Schlegel durch: Friedrich Schlegel verwendet 'dithyrambisch' zur Bezeichnung einer Stilform, die "panegyrische" und "mythische" Elemente vereine und von starken Gefühlen getragen sei.17 Als gelungenes Beispiel für einen modernen Dithyrambos, der diesen Stilkategorien genügt, bezeichnet er Goethes Dithyrambe.18 Wie sehr sich F. Schlegel mit dem Problem des Dithyrambischen in der Literatur beschäftigte, zeigt ein Blick in die Fragmente zur Poesie und Literatur,19 Interessant ist, daß er in seiner Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798) mit Nachdruck die Verankerung des Dithyrambos in der Polis, insbesondere in Athen, betont und damit den Weg zu einer historisch orientierten, funktionsgeschichtlichen Untersuchung des Dithyrambos weist. 20 Sowohl Friedrich als auch August Wilhelm Schlegel befaßten sich in ihren Schriften jedoch nicht nur mit dem allgemeinen Charakter des Dithyrambischen als einer ästhetischen Kategorie, sondern stellten auch die Frage nach der Form und den Strukturen des Dithyrambos. 21 Besonders aufschlußreich ist eine Passage aus A.W. Schlegels Lyrische Poesie der Alten, in der er die Nachrichten über die metrische Form des Dithyrambos, insbesondere die Stelle aus Horazens Ode (4, 2, 10-12), einer kritischen Prüfung unterzieht.22 "Die gewöhnliche Vorstellung vom Dithyrambus ist, daß es ein Gedicht zum Lobe des Bacchus gewesen. Dies scheint allerdings häufig Gegenstand der Dithyramben gewesen zu sein, doch beschränken sie sich darauf nicht, und ihr Wesen scheint in enthusiastischem Taumel bestanden zu haben, der in der Gesetzlosigkeit noch kunstmäßig gebildet wurde. Über die dem Dithyrambus eigentümlichen Formen sind wir sehr im Dunkeln: um zu etwas 17

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22

In den Athenäums-Fragmenten (Nr. 165) zu Piatons Stil (SCHLEGEL, 1798, 119): "In Plato finden sich alle reinen Arten der griechischen Prosa in klassischer Individualität unvermischt, und oft schneidend nebeneinander: die logische, die physische, die mimische, die panegyrische, und die mythische. Die mimische ist die Grundlage und das allgemeine Element: die andern kommen oft nur episodisch vor. Dann hat er noch eine ihm besonders eigne Art, worin er am meisten Plato ist, die dithyrambische. Man könnte sie eine Mischung der mythischen, und panegyrischen nennen, wenn sie nicht auch etwas von dem gedrängten und einfach Würdigen der physischen hätte." SCHLEGEL (1808) 132: "In der Dithyrambe /.../ ist der Gegensatz der mit Klarheit besonnenen und der bakchisch begeisterten Dichter mit starken Farben dargestellt". Von einem ähnlichen dithyrambischen Ton in Schlegels Sinne ist z.B. auch Goethes Unter diesen Lorbeerbüschen oder Wandrers Sturmlied getragen. SCHLEGEL (1799) 246ff. SCHLEGEL (1798) 97: "Der Dithyrambos vollends konnte als Urbild vollkommener Freiheit nur für ein demokratisches Volk seinen vollen Sinn haben." Das "Urbild vollkommener Freiheit" scheint ein Nachhall von Herders Dithyrambenverständnis zu sein. F. SCHLEGEL vor allem in der Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798) und in den Fragmenten zu Poesie und Literatur II (1799). SCHLEGEL (1802) 203.

Einleitung

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hierin zu kommen, müßten die wenigen Fragmente zusammengestellt und genau untersucht werden. Nach einer Stelle des Horaz (Od. IV, 2) könnte man glauben, sie hätten gar kein bestimmtes Silbenmaß gehabt. Diese Meinung hat nach Klopstock eine Menge lyrische Mißgeburten hervorgebracht, deren Verfasser durch Abwerfung aller metrischen Fesseln dithyrambisch zu werden und die Leser von ihrer ganz grenzenlosen Begeisterung zu überreden hofften. Allein jene Angabe ist wohl nur so zu verstehen, daß keine bestimmte Wiederkehr in ihnen war; die einzelnen Verse werden allerdings nach Zusammensetzung und Folge der Rhythmen in denselben den allgemeinen Gesetzen der Metrik gemäß gewesen sein, wie sich schon daraus schließen läßt, daß sie von Musik begleitet wurden, und man weiß, daß in aller griechischen Musik der Rhythmus herrschend war; ja, der Dithyrambus war auch musikalisch besonders charakterisiert. Für die Römer ging dies verloren, da sie die griechischen Lyriker schon so wie wir ohne Musik lasen; und ich möchte mit Horazens Äußerung eine Stelle des Cicero verbinden, wo er sagt: von der Musik entblößt, ließen sich Pindars Silbenmaße nicht von einer numerosen Prosa unterscheiden." Die ausführliche Darstellung des Dithyrambenverständnisses der Brüder Schlegel war notwendig, um den Wert der wohl ersten Gesamtdarstellung zum griechischen Dithyrambos aus der Feder eines Philologen zu würdigen: Der Hegel-Schüler F.G.L.A. Luetcke behandelte in seiner Berliner Dissertation mit dem Titel De Graecorum dithyrambis et poetis dithyrambicis (1829) die Geschichte der Gattung. In seiner Einleitung setzt er sich ausführlich mit Friedrich Schlegel und dessen Einteilung der griechischen Dichtkunst in vier Klassen auseinander (S.l-3): in die ionische, äolische, dorische und attische, die je nach dem Genius des jeweiligen griechischen Stammes verschiedene lyrische Werke hervorbringe - die attische Natur eben den Dithyrambos. 23 Luetcke will in seiner Untersuchung jedoch nicht den romantischen Weg über den Volkscharakter einschlagen, sondern mit philologischer Methode untersuchen, durch welche Merkmale sich der Dithyrambos von anderen chorlyrischen Genera wie Epinikien, Paianen usw. unterscheidet. Er legt damit den Grundstein für jede weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem griechischen Dithyrambos. Im folgenden entwirft er wie Herder - eine dreistufige Entwicklungsgeschichte des Dithyrambos (besonders S.29ff.), bespricht die Stoffe (S.34-37), die metrische Form der Fragmente (S.38-49) und die Musik der Dithyramben (S.49-63). Im zweiten 23

LUETCKE (1829) lf. geht auf die Vierteilung ein, die F. Schlegel in der Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798) vornimmt. SCHLEGEL (100) unterteilt die Hauptgattungen der lyrischen Kunst folgendermaßen: "bei den Joniern die rhythmische, bei den Äoliem die melische, bei den Dörfern die chorische, bei den Athenern die dithyrambische; und die Natur der Dichtart entspricht der Eigenheit des Volkes, bei dem sie heimisch war." In seiner Schrift Von den Schulen der griechischen Poesie (1794) 2 unterscheidet Schlegel ebenfalls vier Richtungen, er ersetzt allerdings die äolische durch die alexandrinische. - Welchen enormen wissenschaftlichen Fortschritt Luetckes Schrift darstellt, macht ein Blick in die Arbeit Schreibers (1806) deutlich. Auch Härtung in seiner Darstellung aus dem Jahre 1846 kommt nicht über Luetckes Ergebnisse hinaus.

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Einleitung

Kapitel geht er dann die einzelnen Dithyrambiker durch und überprüft kritisch die Nachrichten über ihr Leben und Wirken (S.63-94). 24 Durch Luetckes Arbeit wurde eine Vielzahl von Untersuchungen angeregt, die Einzelprobleme, die Luetcke nur angeschnitten hatte, im Detail behandelten.25 Die Forschungsergebnisse des 19. Jahrhunderts wurden durch die Arbeiten von Wilamowitz, in denen er direkt oder beiläufig sich mit dem Dithyrambos befaßt, 26 und vor allem durch den ausgewogenen RE-Artikel Dithyrambos von O. Crusius verarbeitet und dadurch - wie im Falle Luetckes - häufig verdrängt.27 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Dithyrambos am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde durch zwei Faktoren entscheidend geprägt: Zum einen durch Nietzsches Geburt der Tragödie (1871), weniger durch seine Dionysos-Dithyramben,28 zum anderen durch den Fund der Gedichte des Bakchylides29 und der Perser des Timotheos. 30 Nietzsche brachte in seiner Geburt der Tragödie mit Nachdruck wieder die Ursprungsfrage in die Diskussion - allerdings nicht im Sinne einer historischen, sondern eher einer anthropologischen Fragestellung. Er sieht die Tragödie als das Telos der beiden Grundkonstanten künstlerischen Schaffens, des Dionysischen und Apollinischen an, die, "in immer neuen

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Bis auf PRIVITERA (1958) 1-3 scheint die Forschung Luetckes Arbeit vergessen zu haben. Ein Überblick über die Forschung des 19. Jahrhunderts findet sich bei PRIVITERA (1958) 3. Man befaßte sich hauptsächlich mit den einzelnen Dithyrambikern, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Homonymie; zu Philoxenos vgl. die Arbeiten von WYTTENBACH (1821), BERGLEIN (1843), KLINGENDER (1845); zu Melanippides vgl. SCHEIBEL (1848/1853), ROHDE (1901); zu den Stoffen der Dithyrambiker vgl. SCHEIBEL (1862). Zu nennen ist vor allem der erste Band des Kommentars zum Euripideischen Herakles, die Einleitung in die griechische Tragödie (1895), wo Wilamowitz auf S.64ff. eine knappe Gattungsgeschichte des Dithyrambos entwirft - allerdings in der Nachfolge des Aristoteles unter dem Aspekt der Vorstufe der Tragödie (S.64 : "Die Tragödie stammt von den Sängern des Dithyrambos"). Zum dithyrambischen Stil des PratinasFragments findet sich Anregendes in Sappho und Simonides (1913). Im Pindar-Buch (1922) werden der Athener-Dithyrambos (S.272-274) und der Kerberos (341-348) behandelt und die anderen Fragmente kurz gestreift; mit Bakchylides setzte sich WILAMOWITZ in der Rezension von Kenyons editio princeps auseinander (1898b) und in seiner kurzen Darstellung Bakchylides (1898a). Die überlieferungsgeschichtlichen Probleme sowie das Problem der Homonymie sind aufgearbeitet in der Textgeschichte (1900, S.85-88 zum Deipnon des Philoxenos); zu Timotheos siehe unten Anm. 30. Zu Luetcke vgl. CRUSIUS (1903) 1203: "die älteren Arbeiten verwertend, noch heute brauchbar". CRUSIUS (1903) 1230 attackiert im Schlußwort seines Artikels die Wirkung von Nietzsches Dithyrambenverständnis: "Das moderne Publikum denkt bei dem Begriff (sc. Dithyrambos) wohl mehr an den neuesten Dionysospropheten und seine 'Dionysosdithyramben', als an die Antike." Ed. princeps KENYON (1897). Ed. princeps WILAMOWITZ (1903).

Einleitung

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aufeinanderfolgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd, das hellenische Wesen beherrscht haben" und schließlich "das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe" hervorgebracht haben. 3 1 Mit dieser Rekonstruktion der Genese der Gattung Tragödie aus anthropologischen Grundkonstanten kann man Nietzsches Schrift in die Tradition von Herders und Schlegels Dithyrambosverständnis stellen. An die Stelle des Dithyrambischen, das Herder verwendet, um die poetische Kreativität im Taumel und Rausch zu bezeichnen, setzt Nietzsche das Prinzip des Dionysischen. 32 Während Nietzsches Grundprinzipien künstlerischer Tätigkeit die Dichter der folgenden Generation anregten - vor allem Thomas Mann ist zu nennen 33 - und bei den klassischen Philologen eher auf Ablehnung stießen, erhielt die Dithyrambos-Forschung durch die beiden Neufunde, Bakchylides und Timotheos, kurzfristig Auftrieb: In der editio princeps der Perser (1903) gibt Wilamowitz eine groß angelegte Einordnung des Nomos in die Tendenzen und Strömungen der Literatur des ausgehenden 5. Jahrhunderts v. Chr. 34 Die Wiederentdeckung des Bakchylides sollte, obwohl in dem Papyrus mehrere als Dithyramben klassifizierte Gedichte stehen, die Dithyrambos-Forschung nicht in dem Maße beleben, wie man hätte erwarten können. Man konzentrierte sich vor allem auf die Frage, ob die von den alexandrinischen Herausgebern unter die Dithyramben subsumierten Gedichte tatsächlich Dithyramben seien - eine Frage, die durch den besonderen Charakter der Bakchylideischen Dithyramben, insbesondere aufgrund ihres undionysischen Charakters und aufgrund des Fehlens von Hinweisen auf den Anlaß der Aufführung angeregt wurde. Bei der Untersuchung, welche Gedichte Dithyramben seien und welche nicht, pflegte man seit Kenyon (1897) im großen und ganzen rein werkimmanent vorzugehen, obwohl man mit dieser Methode eigentlich nicht weiter als die Alexandriner kommen konnte. 35 31 32 33

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NIETZSCHE (1871) 35. NIETZSCHE (1871) 24f.; vgl. damit Herders Urdithyrambos, HERDER (1767) 326. Man denke an den Einbruch des Dionysischen in die apollinische Welt Aschenbachs im Tod in Venedig. Thomas Mann selbst sieht sein Frühwerk als stark von Nietzsche, Schopenhauer und Wagner geprägt an; vgl. Betrachtungen eines Unpolitischen (zitiert nach der Gesamtausgabe, Reden und Aufsätze Bd.4, Frankfurt 1960,91): "Die Sache war die, daß, während in Buddenbrooks nur der Schopenhauer-Wagner'sche Einfluß, der ethisch-pessimistische und der episch-musikalische, sich hatte geltend machen können, in Tonio Kröger das Nietzsche'sche Bildungselement zum Durchbruch kam, das fortan vorherrschend bleiben sollte. Der dithyrambisch-konservative Lebensbegriff des lyrischen Philosophen und seine Verteidigung gegen den moralistisch-nihilistischen Geist, gegen die Literatur' war in dem Erlebnis und Gefühl, das die Novelle gestaltete, zur erotischen Ironie geworden." Vgl. auch a.O. 94 zum Problem des "literarischen Geistes" und zum Dithyrambischen. W I L A M O W I T Z ( 1 9 0 3 ) 80ff. 105. Unter metrischen Gesichtspunkten bespricht Wilamowitz Fragmente des Neuen Dithyrambos in Isyllos von Epidauros (1886). Eine Ausnahme unter den durch Bakchylides angeregten Dithyrambos-Studien stellt die kurze Untersuchung Schmids dar (1901); er entwirft eine knappe Gattungsgeschichte vor allem unter dem Gesichtspunkt, warum der Dithyrambos seinen dionysischen

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Einleitung

Die Dithyrambos-Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts wurde durch Pickard-Cambridge in Dithyramb, tragedy, and comedy (1927) aufgearbeitet und zusammengefaßt. Die Geschichte der Gattung wird in drei Phasen unterteilt: in die Periode von Archilochos bis Pindar, in die Zeit des klassischen Dithyrambos (Pindar und Bakchylides) und die des Neuen Dithyrambos mit einem Ausblick bis in die römische Zeit hinein. In The dramatic festivals of Athens (1953) ergänzte Pickard-Cambridge diesen literaturgeschichtlichen Überblick durch die Darstellung des institutionellen Hintergrunds einer Dithyrambenaufführung.36 Neue Impulse erhielt die Dithyrambos-Forschung seit den 50er Jahren durch historische und funktionsgeschichtlich orientierte Untersuchungen. Vor allem G.A. Privitera hat in mehreren Arbeiten zu einem besseren Verständnis des Dithyrambos im Zusammenhang mit der Religions- und Kulturpolitik der Tyrannen und der attischen Demokratie beigetragen. 37 Einen dezidiert funktionsgeschichtlichen Ansatz vertritt Reinhold Merkelbach in einer Arbeit zum Theseus des Bakchylides (1973). In seinen einleitenden Worten umreißt Merkelbach in aller Klarheit die methodische Prämisse, unter der Chorlyrik interpretiert werden muß. "Ein griechischer Chorlyriker hat immer im Auftrag und für eine spezielle Situation gedichtet: man kann sein Gedicht nur dann richtig verstehen, wenn es gelingt, sich die Situation einigermaßen klar zu machen." 38 Aufgenommen wurde Merkelbachs Ansatz neuerdings von G. Ieranö in seinen Interpretationen von Bakchylides 17 und 18.39 Überhaupt ist in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an den kleineren chorlyrischen Gattungen wie Paian, Partheneion usw. zu beobachten, wobei besonders nach der Funktion der Gedichte gefragt wird.40

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Inhalt ablegte und zu einer Art "Heroenballade" (26) wurde. Die Ursache hierfür sieht er in der Religionspolitik der Tyrannen, durch die die neue Mischform des "Heroendithyrambos" entstanden sei. Auf S.75ff. der 2.erweiterten Auflage (1988) zum Dithyrambikeragon. In den Rang eines 'Handbuchs' geriet zu Unrecht die Dissertation Schönewolfs zum jungattischen Dithyrambos (1938); vgl. Priviteras berechtigte Kritik (1958) 23f. Zur Kultur- und Religionspolitik des Peisistratos und seiner Söhne in La so ( 1 9 6 5 ) , zur Beziehung des Dithyrambos zum Dionysoskult in Dioniso ( 1 9 7 0 ) ; zur Gattungsgeschichte vgl. PRIVITERA (1972, 1979 und 1988), zu den Ursprungsfragen PRIVITERA (1957 und 1988); bereits in seinem Forschungsbericht (1958) 24f. gibt Privitera in einem Katalog von möglichen Aspekten, unter denen der griechische Dithyrambos untersucht werden sollte, sein historisch-funktionsgeschichtlich orientiertes Dithyrambosverständnis zu erkennen. MERKELBACH (1973b) 56. IERANO (1987 und 1989); ein Buch Ieranös zum Dithyrambos ist angekündigt (Edizioni QuattroVenti, Urbino). S o C A L A M E (1977a und 1977b); zum Paian vgl. PRIVITERA (1972a). D a s neuerwachte Interesse an den genera minora findet seinen Ausdruck auch in neuen Ausgaben und Kommentaren: zu Pindars Paianen BONA ( 1 9 8 8 ) , zu Pindars Dithyramben VAN DER WEIDEN (angekündigt), zu den Dithyramben des Bakchylides MAEHLER (angekündigt). Eine Zuammenstellung der Dithyrambiker liegt vor von SUTTON (1989); vgl. außerdem die Arbeiten von DEL CORNO (1974), LONGONI (1976) und CANNATA FERA (1980). NESSELRATH (1990) 241ff. bespricht ausführlich

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So soll im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit in der Nachfolge von Privitera und Merkelbach die Frage nach der Funktion der Gattung Dithyrambos in der jeweiligen Phase ihrer Entwicklung stehen. Dabei soll 'Gattung' in einem historischen, funktionsgeschichtlich verstandenen Sinn verstanden werden als ein auf sozialen, religiösen und politischen Funktionen beruhendes System, das einen präzisen Sitz im Leben der jeweiligen Gesellschaft hat. 41 Dieser 'Sitz im Leben' sind das Fest, für das der Dichter im Auftrag ein Chorlied verfaßte, und damit die vielfältigen Funktionen, die das Lied im Fest ausüben kann. 4 2 Der Anlaß, das Götterfest, und die Aufführungsform, Gesang und Tanz eines Chores unter Flötenbegleitung, sowie die Erwartung des Auftraggebers und der Festgemeinde sind die Voraussetzungen, nach denen sich der Dichter eines Dithyrambos richten mußte. 43 Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, vor dem Hintergrund dieser institutionellen Rahmenbedingungen den Weg des Dithyrambos von seiner ersten Erwähnung bei Archilochos (Fr. 120 West), vom einfachen Kultlied zu Ehren des Dionysos, 44 über Arions Tätigkeit als Dithyrambendichter am Hof des Tyrannen Periandros von Korinth und über die Etablierung des Dithyrambos in Athen durch Lasos von Hermione bis in die Zeit des sogenannten jungattischen oder Neuen Dithyrambos im ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhundert zu verfolgen und zu beobachten, wie unter dem Einfluß politischer und gesellschaftlicher Änderungen, also unter dem Einfluß der veränderten institutionellen Rahmenbedingungen, der Dithyrambos sich ebenfalls in Form und Inhalt wandelte. Außerdem soll untersucht werden, wie die Einbindung des Dithyrambos in die Großen Dionysien zu Athen das

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den Einfluß des Neuen Dithyrambos auf die Mittlere Komödie (siehe auch unten Kap. 8). Zu diesem Gattungsverständnis vgl. HEMPFER (1973) 110-114, JAUSS (1977) 349351. Vgl. CALAME (1974) 117f. 120 (zum Dithyrambos), außerdem HARVEY (1955) 172174 (zum Dithyrambos) und ROSSI (1971); zuletzt KRUMMEN (1990) 137: "Die dramatische Chorlyrik zeigt hinreichend, daß verschiedene Gattungsformen miteinander verbunden werden können, je nach erforderlicher Aussage, nach Kontext, Situation und Publikumserwartung (Gebet, Hymnus, Enkomion, Threnos etc.). Also genügt die Frage nach der übergreifenden Gattung nicht, vielmehr müssen die umgebende Aussageintention und -typologie ebenfalls berücksichtigt werden." Zur Fragwürdigkeit der Unterscheidung von Chorlyrik und monodischer Lyrik vgl. die Arbeiten von LEFKOWITZ (1988) und DAVIES (1988). Von der modernen Ethnologie wird dieses Geflecht von Funktionen unter dem Begriff der "cultural performance" zusammengefaßt. Durch vergleichende Forschungen wurde festgestellt, daß bei bestimmten, mit Theater- oder Choraufführungen verbundenen Anlässen die kulturelle Identität den Gesellschaftsmitgliedern sichtbar gemacht und damit überliefert wird. In der "cultural performance"stellt die Gesellschaft sich selbst dar und reflektiert über sich (MACALOON, 1984), und zwar in dem für Feste typischen Freiraum (TURNER, 1982). Zu den Spekulationen zur Bedeutung und zur Herkunft des Namens 'Dithyrambos' vgl. CRUSIUS (1903) 1204f„ DODDS (1960) 143, VERSNELL (1970) 16ff.

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Gesicht der Gattung prägte und veränderte, da ja an diesem Hauptfest der Polis neben Dithyramben Komödien und Tragödien aufgeführt wurden und somit eine gegenseitige Beeinflussung der drei dionysischen Gattungen im formalen und strukturellen, metrischen, musikalischen und inhaltlichen Bereich stattfand. 45 Im Mittelpunkt des vorliegendes Buches werden natürlich die Pindarischen und Bakchylideischen Dithyramben stehen. Bei ihrer Interpretation wird zu fragen sein, wie sich die Dithyramben dieser Dichter in ihr übriges chorlyrisches Oeuvre einreihen, durch welche Merkmale sie sich insbesondere von den Epinikien und Päanen unterscheiden und in welchen Punkten sie sich mit ihnen vergleichen lassen.

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Vgl. ZIMMERMANN (1989c).

2. Archilochos und der Dithyrambos im 7. Jahrhundert Zwei katalektische trochäische Tetrameter aus einem Gedicht des Archilochos (Fr. 120 West) sind das früheste Zeugnis, in dem der Name 'Dithyrambos' fällt: ώς Δ ι ω ν υ σ ο υ άνακτος· καλόν ζξάρξαι μέλος- / οιδα διθύραμβον οϊνω συγκεραυνωθείς- φρένας·. Die Interpretation der zwei Verse hängt in erster Linie v o n der Bedeutung des Infinitivs εξαρξαι ab. W i l a m o w i t z schreibt zu dem Fragment: "In ältester Zeit ist der Dithyrambos ein Lied, das der Zecher anstimmt, wenn er des Gottes voll ist." 1 Ursprünglich sei der Dithyrambos also ein Einzelgesang gewesen. 2 Dieser Erklärung, die für die Rekonstruktion der Gattungsgeschichte w e i t r e i c h e n d e F o l g e n hat, steht die Verwendung v o n έξαρχειν + Akkusativobjekt entgegen. In diesem Fall impliziert das Verb, w i e eine Überprüfung der Stellen zeigt, an denen έξάρχειν + Akkusativ vorliegt, 3 das Vorhandensein eines Chores. 4 Die zweifache Konstruktionsmöglichkeit - mit dem Genitiv oder Akkusativ -, die έ ξ ά ρ χ α ν aufweist, hat Konsequenzen für die Übersetzung und Erklärung des Archilochos-Fragments. Ist das Verb mit dem Genitiv verbunden, wird dadurch häufig ausgedrückt, daß sich jemand in einen bereits bestehenden Vorgang mit einer neuen Handlung einschaltet. 5

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WILAMOWITZ (1895) 64. WILAMOWITZ (1895) 64 Anm. 26; vgl. auch BAHNTJE (1900) 51: "διθύραμβος· ante Archilochum non invenitur, qua voce hoc loco unius hominis cantum significari apparet." Zur Diskussion des Fragments vgl. BOSSI (1990) 176-178. H y m n . Н о т . 2 7 , 17-19: ή γ € ΐ τ α ι ... έία'ρχουσα χορού?· αϊ δ' άμβροσίην ίίηρχεν θεοσίβώςπαιάνα ούν

Ιίΐοαι

έξηρχΕ αδοντεςέξα'ρχειν