Dialog und Begegnung: Impulse für das Gespräch zwischen Christentum und Islam [1 ed.] 9783788732691, 9783788731519

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Dialog und Begegnung: Impulse für das Gespräch zwischen Christentum und Islam [1 ed.]
 9783788732691, 9783788731519

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Dirk Chr. Siedler (Hg.)

Dialog und Begegnung Impulse für das Gespräch zwischen Christentum und Islam

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3269-1  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Inhalt

Dirk Chr. Siedler Einleitung............................................................................................9 I Protestantismus und Dialog Manfred Kock In der Wahrheit bleiben, damit der Dialog gelingt Predigt über die I. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934............................................................................................15 Hamideh Mohagheghi »Als könne der Staat die totale Ordnung menschlichen Lebens werden« Die Barmer Theologische Erklärung aus islamischer Sicht ............21 Ulrich Dehn Dialog quo vadis? Evangelische Positionen zum Islam .................................................35 Beate Sträter Reformation und Islam – ganz anders und doch überraschend aktuell ........................................................................49 II Begründungsansätze des Dialogs Horst Kannemann Verheißung für den anderen Theologische Gesichtspunkte des Miteinanders von Juden, Christen und Muslimen ...................................................................59 Wolfgang Welsch Rolle und Veränderungen der Religion im gegenwärtigen Übergang zu transkulturellen Gesellschaften .................................85

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Inhalt

Dirk Chr. Siedler »Schöpferischer Dialog« und »universale Offenbarung« Interreligiöser Dialog im Anschluss an Paul Tillich ..................... 112 Ralf Lange-Sonntag Gibt es Religion jenseits der Kultur? Zum Verhältnis von Interkulturalität und Interreligiosität ........ 143 III Über das Verstehen des Korans und islamische Theologie Andreas Ismael Mohr Was ist der Koran? Volkstümliche Auffassungen von Muslimen, der Welt der Gelehrten und die Sichtweise der Arabistik – Thesen« ......... 149 Andreas Goetze »Verstehst du auch, was du da liest?« Koran-Deutungen im Kontext salafistischer Strömungen im Islam .......................................................................................... 154 Hureyre Kam Die Theodizee-Problematik aus der Perspektive der islamischen Theologie.............................................................. 179 Aaron Langenfeld Kritik der Erlösung Neue Perspektiven für den anthropologischen Diskurs von Christen und Muslimen ......................................................... 191 IV Gegenwartsfragen und Projekte André Ritter Religiöse und kulturelle Vielfalt als Herausforderung in Europa ........................................................................................ 205 Nigar Yardim / Wolf-Dieter Just Welchen Beitrag können Religionen zum Frieden leisten? ......... 217 Dirk Chr. Siedler Friedrich Rückert – deutschnational und Orientalist Eine Lied-Meditation ..................................................................... 233

Inhalt

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Thomas Dreessen »Wir schaffen das!« – aber wie, Frau Merkel? Der Dienst »Trees for life« für Eltern, Gemeinden, Schulen, Städten (Aufruf des Soester Forums) ............................................236 Rabeya Müller Voraussetzungen des Dialogs Eine islamische Perspektive ...........................................................257 Thomas Zippert Pluralitätsoffen, diversitätsfreundlich und kommunikativ – aus guten Gründen Wie sich die Diakonie den Herausforderungen wachsender Pluralität öffnen kann ....................................................................261 Fabian Köhler Wie eine evangelikale Organisation Christen zur meistverfolgten Glaubensgruppe machte ......................................294 Dirk Chr. Siedler Jesus – »Wort der Wahrheit« und »Wort des Lebens« Eine Weihnachtspredigt über 1. Johannes 1,1–4 und Sure Maryam 19:30–34a ................................................................300 Autorinnen und Autoren ...............................................................305

Dirk Chr. Siedler

Einleitung

Die Kirchen in Deutschland beteiligen sich seit einem halben Jahrhundert am Gespräch zwischen Christen und Muslimen. Er hat bisher mehrere Phasen durchlaufen, und ganz unterschiedliche Akteure haben in dieser Zeit daran teilgenommen: Kirchengemeinden, Moschee-Vereine, muslimische Dachverbände, Lehrerinnen und Lehrer, Schulen, Islam-Foren, Theologische Fakultäten, Islamwissenschaftler und seit bald zehn Jahren auch die ersten in Deutschland ausgebildeten islamischen Theologinnen und Theologen … Christlich-islamischer Dialog ist vielgestaltig. Das zeigt schon diese Aufzählung einiger Akteure. Diese Liste könnte noch erweitert werden: Landeskirchen, Synoden, die Evangelische Kirche in Deutschland, die katholische Kirche mit ihren Bistümern, IslamBeauftragte usw. Dialog geschieht nicht nur in Deutschland, sondern steht in einem globalen Kontext, sodass auch Stellungnahmen muslimisch geprägter Länder zu berücksichtigen wären. Von daher muss sich dieser Band auf »Impulse zum Dialog« beschränken. Trotz aller Fragmentarität beschreiben die hier zusammengeführten Aufsätze dennoch eine große Bandbreite von Aspekten, die für den Dialog wichtig sind. Die Aufsätze sind in vier Rubriken unterteilt. Die Beiträge des ersten Kapitels Protestantismus und Dialog reflektieren die spezifisch evangelischen Voraussetzungen des Dialogs und setzen bei der Barmer Theologischen Erklärung an, über die der damalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Kock, anlässlich ihres 70jährigen Jubiläums auf einer christlich-islamischen Tagung in Wuppertal-Barmen gepredigt hat. Auf dieser Tagung zum Thema Jesus Christus, das eine Wort Gottes – Barmen I und der Dialog mit dem Islam legte Hamideh Mohagheghi – inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn – die Barmer Theologische Erklärung aus muslimischer Sicht aus. Zur Reflexion der evangelischen Perspektive gehört auch die Darstellung und Erörterung einiger wesentlicher evangelischer Stellungnahmen, die der Hamburger Missionswissenschaftler Ulrich Dehn vorgenommen

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hat. Noch weiter greift Beate Sträter zurück, die das zum Reformationsjubiläum erschienene Impuls-Papier Reformation und Islam vorstellt. Dieser Text ist 2016 von der Konferenz für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlicht worden. Die zweite Rubrik Begründungen des Dialogs stellt ganz unterschiedliche Begründungszusammenhänge zur Diskussion oder untersucht bedeutsame Aspekte, die bei einer Begründung des Dialogs zu berücksichtigen wären. Den Anfang macht der Aufsatz des 2009 verstorbenen Pfarrers Horst Kannemann, der den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen aus den ihnen grundlegenden Texten und der Auslegungsliteratur aller drei Religionen fundiert. In einer so nicht wahrgenommenen Weise hat er insbesondere jüdische und muslimische Exegeten miteinander ins Gespräch gebracht. So erinnert er an den orthodoxen Rabbiner David Rosen (geb. 1951), der darauf hingewiesen hat, dass die Bibel von der göttlichen Gegenwart in der Welt spreche und uns lehre, dass die Begegnung mit dem Anderen letztlich eine Begegnung mit dem Göttlichen darstelle. Wir machen diesen Aufsatz in diesem Band ebenso wieder zugänglich wie den Beitrag des Jenaer Philosophen Wolfgang Welsch, der den traditionellen Kultur-Begriff hinterfragt und die transkulturellen Prozesse innerhalb der Gesellschaft darstellt. Sein Konzept der Transkulturalität lässt sich dabei auch auf die Religionen anwenden, die die Grenzen nationaler Kulturen überwinden. Außerdem seien Gläubige – zumindest der westlichen Welt – inzwischen »Doppelgläubige« geworden: Sie verbinden einen religiösen und einen säkularen Glauben miteinander. An das Modell der Transkulturalität kann Dirk Chr. Siedler anknüpfen, wenn er Paul Tillichs Entwicklung seiner Religionstheologie aufzeigt, die einen »schöpferischen Dialog« zwischen den Religionen begründet. Ralf Lange-Sonntag hinterfragt in seinem Beitrag die Zuordnung von Interreligiosität und Interkulturalität. Im dritten Kapitel Über das Verstehen des Korans und islamische Theologie wird in zwei Beiträgen dargestellt, wie heute der Koran wissenschaftlich ausgelegt wird. Der Arabist Andreas Ismael Mohr fasst thesenartig die verschiedenen Verstehensmodelle des Korans zusammen. Andreas Goetze nimmt das Erstarken salafistischer Strömungen im Islam zum Anlass, um detailliert das traditionelle islamische Koran-Verständnis darzustellen und dem salafistischen Schriftverständnis gegenüberzustellen. Schließlich deutet er Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung der Koran-Auslegung an. Hureyre Kam bringt muslimische Theodizee-Vorstellungen bei alMāturīdī (gest. 10. Jh.) mit der aufklärerischen Theodizee-Debatte

Einleitung

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europäischer Philosophie-Geschichte ins Gespräch. al-Māturīdī vertrat die herausfordernde Auffassung, dass gerade die Existenz des Bösen ein Beweis der Existenz des einen Gottes sei. Aaron Langenfeld wiederum widmet sich der Soteriologie (Erlösungslehre) und stellt neuere Entwicklungen in christlicher und muslimischer Theologie dar. Dieses Buch wird abgeschlossen mit einem Kapitel zu Gegenwartsfragen und Projekten des Dialogs. André Ritter skizziert die Herausforderungen, die sich aufgrund der religiösen und kulturellen Pluralität in Europa gegenwärtig stellen. Die Duisburger Theologin und Pädagogin Nigar Yardim und Wolf-Dieter Just haben in einem dialogisch aufgebauten Aufsatz die Frage erörtert welchen Beitrag die Religionen zum Frieden leisten können. In einer kleinen LiedMeditation ruft Dirk Chr. Siedler in Erinnerung, dass sich Friedrich Rückert vom deutschnationalen Dichter zum Orientalisten entwickeln konnte, der mit viel Hingabe die erste dichterische KoranÜbersetzung in deutscher Sprache schuf (und auch ein Adventslied, das in das Evangelische Gesangbuch Eingang gefunden hat). Von konkreten Dialog-Projekten sind die beiden folgenden Beiträge geprägt: Thomas Dreessen greift die Aussage von Angela Merkel auf »Wir schaffen das« und fragt nach dem Wie. Er beschreibt den Dienst »Trees for life«, zu dem das Soester Forum Eltern, Schulen und Kirchengemeinden aufgerufen hat. Rabeya Müller berichtet aus der Arbeit einer Jugendgruppe, die sechs Grundvoraussetzungen des Dialogs erarbeitet hat. Thomas Zippert sieht die diakonische Arbeit der Werke und Einrichtungen vor großen Herausforderungen angesichts der Pluralisierung unserer Gesellschaft. Er fragt nach den Konsequenzen, die die zunehmende Diversität der Mitarbeitenden und auch Klienten für das Selbstverständnis diakonischer Organisationen haben wird. Immer wieder lesen wir Meldungen darüber, dass Christen zur meistverfolgten Glaubensgruppe in der Welt gehören: Wie kann das eigentlich zuverlässig erhoben werden? Wie kann Verfolgung überhaupt definiert werden gegenüber Ausgrenzung und Diskriminierung? Fabian Köhler ist diesen Fragen nachgegangen und zeigt die Beliebigkeit dieser Erhebungen. Der Band schließt mit einer Weihnachtspredigt: Der 1. JohannesBrief nennt Jesus das »Wort des Lebens« und der Koran bezeichnet ihn als das »Wort der Wahrheit«. An Weihnachten wird Gottes Wort mitten unter uns gegenwärtig. In seiner Predigt lotet Dirk Chr. Siedler die Parallelen und Unterschiede der Geburtsgeschichte Jesu in Bibel und Koran aus.

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Dieser Überblick der einzelnen Beiträge deutet die Vielgestaltigkeit der Debatte und Projekte des interreligiösen Gespräches an. Manchmal hat man den Eindruck, als ob ein konstruktiver Dialog heute gar nicht mehr möglich wäre, als ob die Zeichen nur noch auf Abgrenzung stünden und unsere Gesellschaft von einem breiten Graben des Unverständnisses gespalten würde. Das scheint mir auch eine mediale Suggestion zu sein. An vielen Orten gibt es ein lebendiges Miteinander und gelingende Begegnungen – oft seit Jahrzehnten, in den letzten Jahren vielfach gefördert durch staatliche Integrations- und Anti-Rassismus-Programme. Sie gewinnen nur nicht so leicht öffentliche Aufmerksamkeit wie Konflikte, die es auch gibt, insbesondere ein Erstarken nationalistischer und neonazistischer Auffassungen, deren Propaganda – wie schon oft gezeigt – weniger auf Fakten beruht als vielmehr Gefühle und Vorurteile schürt. Die in diesem Band versammelten Beiträge setzen dagegen Einblicke in die gegenwärtige breite Debatte zum Dialog insbesondere in der evangelischen Kirche, verschiedene – theologische und philosophische – Ansatzpunkte zur Begründung des Dialogs. Andere Beiträge bieten Einsichten in gegenwärtige islamisch-theologische Forschungsarbeiten und schließlich werden Fragen unserer Zeit erörtert und konkrete Projekte vorgestellt. Damit bieten die Beiträge zwar keinen vollständigen, aber sehr wohl einen umfassenden Überblick über den Stand insbesondere des christlich-islamischen Gesprächs heute.

I Protestantismus und Dialog

Manfred Kock

In der Wahrheit bleiben, damit der Dialog gelingt Predigt über die I. These der Barmer Theologischen Erklärung von 19341 I. »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich.« (Johannes 14,6) »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür, so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden.« (Johannes 10,1.9) »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.« (Barmer Theologische Erklärung, 1. Artikel) II. Liebe Gemeinde! »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.« So lautet der erste Hauptsatz der ersten These der Theologischen Erklärung von Barmen. Er fasst die reformatorische Entdeckung zusammen und ist zugleich Abgrenzung zum Verrat der Deutschen Christen. Jesus Christus ist die Wahrheit, die Halt gibt und Trost – auch dann, wenn wir selbst gar nichts mehr zu erwarten haben. In dieser Wahrheit eröffnet sich die Freiheit der Kinder Gottes, die uns geschenkt ist. Wir kommen heraus aus dem Teufelskreis der Erstveröffentlichung in: Dirk Chr. Siedler / Annette de Fallois / Jörgen Klußmann (Hg.), (K)eine Chance für den Dialog? Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft, Berlin 2007, 83–88.

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Selbstrechtfertigung, der Schuld und der Schuldzuweisung, der Angst und der Gewalt. »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes ...« Keine andere Quelle, keine anderen Mächte und Ereignisse, Gestalten und Wahrheiten sind daneben als Gottes Offenbarung anzuerkennen. Wir haben für unseren Glauben allein das Wort vom gekreuzigten und lebendigen Jesus Christus. Er ist der einzig wahre und Leben schaffende Weg! III. Drei Fragen werden uns Christen gestellt, wenn wir Jesus so im Mittelpunkt sehen. Die erste Frage lautet: Ist es nicht anmaßend, zu behaupten, Jesus sei das eine Wort Gottes, neben dem nichts anderes gilt, was den Zugang zu Gott erschließen könnte? Die so fragen, räumen ein, in der Nazizeit habe man das wohl so sagen müssen, weil die damalige Ideologie offensichtlich religiöse Machtansprüche vertrat – mit verbrecherischen Zielen. Inzwischen aber wisse man, wie vielfältig und tiefgründig andere Weltreligionen sind; wie ernsthaft ihre Anhänger ihren Glauben leben! Deren Wahrheitsansprüche dürfe man heute doch nicht bestreiten. Zu antworten ist: Der christliche Anspruch auf Wahrheit in der Barmer Erklärung ist nicht als Abgrenzung zu den Weltreligionen formuliert. Die Barmer Erklärung ist zunächst ein deutliches Wort an die christliche Kirche selbst. Sie warnt vor der Gefahr, eigene Gottesbilder vor den Christus zu rücken. Unser Land ist zwar von christlicher Tradition geprägt worden, dennoch sind wir in der Versuchung, uns auf die Götter dieser Welt zu verlassen: auf Geld und Prestige, auf Macht und Eitelkeit. Diese Ersatz-Götter unserer Zeit locken zur Anbetung mit Habgier und Egoismus, mit Kälte und Gleichgültigkeit. Sie spalten die ganze Welt. Wer angesichts dieser Realität den Christus als das eine Wort Gottes erkennt, findet zur wichtigsten Form der Kritik, nämlich zur Selbstkritik, ohne die keine ernsthafte christliche Kritik an den Religionen möglich ist. Wir wissen, dass Jesus sich allen Menschen zuwendet. Das stärkt unsere Achtung gegenüber anderen Religionen und denen, die ihren Glauben ernst nehmen.

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Die Achtung vor dem ernsten Glauben anderer hilft uns, nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zu erkennen. Das ist deshalb so wichtig, weil Verständigung mit anders Glaubenden nur gelingt, wenn wir den eigenen Standort kennen und ihn deutlich benennen können. Das ist für die Zukunft unseres Landes so ungemein wichtig, damit wir auch in der nächsten Generation in Frieden miteinander leben können. Mit oberflächlicher Gleichgültigkeit in den Fragen des Glaubens wird der drohende Fundamentalismus in unseren Religionen nicht verhindert. Die zweite Frage lautet: Ist der christliche Absolutheitsanspruch nicht überholt? Hat er angesichts der Vielfalt unserer Welt, angesichts der Fülle von geistigen Angeboten nicht längst seine Kraft verloren? Darauf ist zu antworten: Die Kraft der Christusbotschaft erweist sich gerade nicht, wenn sie sich auf starke Truppen stützt. Das Beispiel der ersten Christengemeinden zeigt: Sie haben dann ihre stärksten Glaubensimpulse erhalten, wenn ihre Sache äußerlich am Ende zu sein schien. Damals im Römischen Reich, in den Städten und Dörfern Kleinasiens, in Griechenland und in Rom selber begegneten die Christen einer Staatsmacht, die totale Unterordnung forderte. Jeder musste seine Knie beugen vor der Gottheit, die sich im Kaiser repräsentierte. Daran wurde die Zuverlässigkeit der Staatsbürger gemessen. Wer sich weigerte, die Knie vor dem Bild des Kaisers zu beugen, wurde verfolgt und getötet. Gerade unter diesem Druck sahen Christen den Himmel offen. Johannes, der Seher, bekennt im Buch der Offenbarung Christus als den, der das All in Händen hält. Gerade der, den man am Kreuz ermordet hatte, den sieht er in der strahlenden Welt Gottes. Der keinen Ort hatte, wohin er sein Haupt legen sollte, hält die Sterne des Alls in den Händen. Solche Sicht aus Zeiten äußerster Bedrängnis kommt uns vielleicht überschwänglich vor. Es ist aber gerade das Leid, das den Blick öffnet für die Herrlichkeit Gottes. Wir wünschen uns solche Leidenszeit nicht herbei. Aber wir sollten ein Gespür entwickeln für die Leiden unserer Gegenwart. Dann werden auch wir offen für solche Gottesschau. – Lassen wir uns ein auf das Leid der Mütter und Kinder, der jungen Männer und Mädchen in Afrika, die unter der AIDSKatastrophe zugrunde gehen! – Lassen wir uns ein auf das Leid der Alten, der Frauen und der Kinder, die erschossen oder von Minen zerfetzt werden, weil Waffenhändler ihre Geschäfte machen! – Lassen wir uns ein auf das Leid der Fremden (und

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Ausländer) in unserem Land, die wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Sprache bedroht, geschlagen und getötet werden! – Lassen wir uns ein auf das Leid derer, die bei Naturkatastrophen ihre Angehörigen und ihre Existenzgrundlagen verloren haben. – Lassen wir uns auch ein auf das Leid der jungen Leute, die sich zu Gewalttaten hinreißen lassen! Sie haben kein Selbstgefühl entwickeln können, darum brauchen sie Sündenböcke, um ihren Hass abzureagieren. Wenn wir in ihnen allen das Leid des Gekreuzigten erkennen, und wenn wir teilhaben am Leid in dieser Welt, werden wir das Bild des Gekreuzigten deutlicher als den einzigen Trost im Leben und im Sterben sehen. Die dritte Frage lautet: Jesus, der Einzige – was hat er uns eigentlich zu bieten? Ist seine Botschaft, die wir zu hören und der wir »im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben«, mit ihrem Anspruch nicht überholt? Hierauf Antwort zu finden ist am schwierigsten. Denn das Leiden dieser Welt führen wir uns wohl vor Augen. Wir erkennen vielleicht auch den Christus darin. Aber was müsste alles getan werden! Allein sind wir oft zu schwach und werden schnell entmutigt. Zudem sind wir mit unserem Lebensstil schuldhaft in die Elendsstrukturen verwickelt. Selbst die jugendlichen Gewalttäter, die jüdische Friedhöfe schänden oder Moscheen beschmieren und anzünden, sind ja unsere Kinder und Enkel. Statt sich mit dem Leid zu konfrontieren, suchen Menschen heute nach Trost. Viele fühlen sich, als würden ihnen alle Kräfte des Körpers und des Geistes ausgesaugt. Von der Botschaft des Gekreuzigten müsste eher Entspannung ausgehen, sagen sie, eher Freude am Leben, als sich ständig das Elend vor Augen zu führen. Viele wollen der Last der Verantwortung für kommende Generationen entrinnen. Sie wollen lieber jetzt befreit leben und wollen jetzt genießen. Eine Religion, die sofortige Erlösung anbietet, käme vermutlich heute besser an. Der Weg Jesu aber ist mühselig. – Er hat seine Nachfolgerinnen und Nachfolger aufgefordert, das Kreuz auf sich zu nehmen. Andererseits hat er auch versprochen, seine Last sei leicht. Wer sich wirklich einlässt auf dieses »eine Wort Gottes«, den Christus, auf seinen Trost und seine Weisungen, kann erleben, was viele erleben: Befreiung von Bedrängnis und Verzweiflung. Was so anstrengend wirkt, kann auch befreiend sein. Viele erleben, wenn sie zu helfen versuchen, eine große Befriedigung. Die Freude

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eines einzigen Kindes, das Hilfe erfährt, spiegelt zurück auf die, die geholfen haben. Die kleinen Schritte der Hilfe sind wie die Funken des Lichtes, die das Dunkel erträglich machen. Wer sich auf Jesus einlässt, kann erleben, wie die eigene Hoffnungslosigkeit überwunden wird. Der Absolutheitsanspruch, der zunächst ausgrenzend scheint, ist in Wahrheit ein großzügiges Angebot, das allen gilt. Wenn wir Christen IHN als das eine Wort Gottes bezeichnen, dann eröffnet das Räume für alle anderen. Jesus sagt: Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Bei Gott ist Platz für alle. Niemand muss zu einem Wettlauf um Gottes Gunst antreten zulasten anderer. Keine Religion erreicht dadurch Gottes Nähe, dass sie andere verdrängt. »Du bist der Christus«, d.h., du bist das Eine Wort der göttlichen Liebe, das diese Welt rettet. Das soll in unserer Kirche lebendig sein, dann ist alles genug. IV. Wie aber kann das Zusammenleben im Lande gelingen, wenn wir Christen den Wahrheitsanspruch Jesu nicht nur nicht aufgeben, sondern ihn anderen auch bezeugen? Hilfe und Unterstützung ist die Religionsfreiheit, die in der Verfassung unseres Staates verankert ist. Religionsfreiheit ist nicht nur das Recht des Individuums auf eigenen Glauben, sondern auch die Freiheit, Religion gemeinschaftlich ausüben zu können. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst sind in die Garantie der Religionsfreiheit aufgenommen. Die Verfassung und die Rechtsprechung in Deutschland haben dieses in klarer und unmissverständlicher Weise herausgestellt. Erfahrungen aus der Geschichte unserer Kirche und unseres Landes, die wir zu ganz wesentlichen Teilen der Reformation und der Auseinandersetzung mit der Aufklärung verdanken, haben wir in die Gespräche mit anderen Religionen, das sind in unserem Land vor allem die Muslime, einzubringen und in ihren kulturellen und rechtlichen Konsequenzen von denen, die hier leben wollen, auch einzufordern. Inzwischen leben etwa 15 Millionen Muslime in Europa; in Deutschland sind es mehr als drei Millionen. Der Dialog ist der einzige vorstellbare Weg in die Zukunft. Wir haben in unserem Land keine Alternative zum Aufbau einer Kultur des Zusammenlebens. Wir benutzen für die theologische Dimension des religiösen Zusammenlebens und Austausches gerne den Begriff der »Konvivenz«. Die Frage ist, wie dieses Zusammenleben konkret zu gestalten ist und wie ein Dialog geführt werden kann. Ein Zusammenle-

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ben, das mehr als ein Nebeneinanderleben ist, hat auch zur Voraussetzung, dass die Religionen sich selbst ernst nehmen und ihre Wahrheitsansprüche nicht aufgeben. Allerdings wissen viele, die im christlichen Kulturkreis aufgewachsen sind, viel zu wenig über ihre geistige Herkunft. Ebenso mangelt es weitgehend an ausreichenden Kenntnissen über andere Religionen. Die Achtung vor dem Glauben anderer erfordert aber die Bereitschaft, deren Glauben kennenzulernen, Gemeinsamkeiten herauszufinden und zugleich auch Fremdartiges und für uns Unverständliches zu akzeptieren. Trotz der Anstrengungen auch der Kirchen in den zurückliegenden Jahrzehnten, über die in Deutschland anwesenden anderen Religionen zu informieren, sind hier große Defizite zu verzeichnen. Ebenso ist umgekehrt davon auszugehen, dass Muslime in Deutschland ausreichend Informationen über den christlichen Glauben haben müssen, um ihrerseits Missverständnisse zu vermeiden und unsere Grundüberzeugungen zu verstehen. Zusätzlich müssen Grundsätze unserer Verfassung im Gespräch mit dem Islam zur Sprache kommen. Dazu gehören die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und die Befürwortung der organisatorischen Trennung von Kirche und Staat. In unserem Land ist in der Partnerschaft von Staat und Kirche ein bewährtes Modell gefunden, das der Freiheit des Glaubens dient und zugleich der Gesellschaft Nutzen bringt. Dazu gehört ferner, dass die Freiheit des Einzelnen immer mit der Bereitschaft zur Verantwortung verbunden sein muss. Die Gleichstellung von Männern und Frauen darf nicht bestritten werden. Christus, der die Wahrheit ist und die Freiheit schenkt, wird seine Kirche weiter tragen. Gerade in dieser Zeit, in der Menschen unterschiedlicher Religionen sich enger und häufiger begegnen als je zuvor. Christus ist die Mitte der Heiligen Schrift und die Mitte unseres Kirchenverständnisses. Seine Botschaft bietet das Entscheidende: 1. Christus gibt uns ein realistisches Menschenbild. Er kennt die Versäumnisse und die abgründigen Irrwege. Wir müssen nichts vertuschen. 2. Niemand ist auf sich allein gestellt. Auch wenn bisweilen die Gemeinden kleiner geworden sind und verzagen, mindestens einer bleibt, zu dem wir sprechen können – Christus. 3. Die Finsternis hat nicht das letzte Wort, in dieser Welt nicht, in jedem einzelnen Menschenleben nicht. Das Leben wird stärker sein als der Tod.

Hamideh Mohagheghi

»Als könne der Staat die totale Ordnung menschlichen Lebens werden« Die Barmer Theologische Erklärung aus islamischer Sicht1 1 Vorbemerkung Die Barmer Theologische Erklärung ist nach meinem Verständnis in einem historisch-politischen Kontext entstanden, in dem es notwendig erschien, über den Glauben in Beziehung zu den politischen Ereignissen Zeugnis abzulegen. Karl Barth reagierte und setzte damit ein Signal, als er aufgefordert wurde, seine Vorlesungen mit einem Hitlergruß zu beginnen. Der Aufbau des Dokuments ist die Bestätigung seiner Bedeutung für den Widerstand gegen Despoten: Jede These beginnt mit Zitaten aus der Bibel, die kurz kommentiert werden. Am Schluss der These verwirft sie der »falsche Lehre« und lehnt sie endgültig ab. Sie ist ein wichtiges und mutiges Dokument gegen die Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke. Somit ist sie nicht nur ein theologisches und religiöses Bekenntnis, sondern ein Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Wenn auch keine Aussagen in der Erklärung die Absicht aufzeigen, sich gegen das NaziRegime zu stellen, setzt sie Zeichen für Widerstand und Ablehnung. Auch die Aussagen der Unterzeichner und ihre Kommentare, dass dieses Dokument nicht als »eine politische Manifestation des Widerstandes« und nicht primär an die Öffentlichkeit gerichtet, sondern ein innerkirchliches Bekenntnis sei, kann nicht an der politischen Wirkung der Erklärung zweifeln lassen. Die Frage ist, aus welchem Grund beabsichtigte die Kirche, diese Erklärung als ein »innerkirchliches Bekenntnis« und nicht als eine öffentliche und klare Zeichensetzung zu verstehen. Liegt es nicht im Verantwortungsbereich der gläubigen Menschen, sich individuell und gemeinschaftlich gegen die Ungerechtigkeiten und das Verbrechen gegen die Menschheit zu erheben? Was hinderte die Unterzeichner dieses Dokuments, in ihm mit aller Klarheit gegen die Entwicklung der Nazi-Verbrechen Position zu beziehen? Es ist Erstveröffentlichung in: Dirk Chr. Siedler / Annette de Fallois / Jörgen Klußmann (Hg.), (K)eine Chance für den Dialog? Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft, Berlin 2007, 89–100. Der Aufsatz wurde geringfügig überarbeitet. 1

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sicherlich nicht immer klug und effektiv, eine öffentliche Widerstandsposition einzunehmen, um die Mächtigen von ihrem verbrecherischen Vorhaben abzubringen. Wäre aber nicht der Zeitpunkt 1934 angebracht, um Schlimmeres zu verhindern? Sah die Kirche dies nicht als ihre Aufgabe oder hatte sie keine Möglichkeit, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen? Im Christentum spricht man von einer Trennung zwischen Staat und Religion, bekanntlich ist der »Kaiser« zuständig für die weltlichen und die Kirche für die religiösen Angelegenheiten. Ob eine wirkliche Trennung zwischen diesen beiden Bereichen gewollt und möglich ist, zeigt die Realität in Deutschland. Die Vertreter der Kirchen melden sich zu Wort zu den gesellschaftspolitischen Anliegen. Sie sind Mitglieder in unterschiedlichen staatlichen Gremien, das ›Wort zum Sonntag‹ hat einen prominenten Platz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen usw. Der Glaube ist die Quelle, aus der auch ein säkularer Staat schöpfen muss. Religion prägt die Haltung und Einstellung der Menschen und ist eine Lebensweise, die das Denken und Tun lenkt und nicht nur die Beziehung zu Gott ordnet, sondern auch alle Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft. Die Religiosität ist Verantwortung und Verpflichtung, sich für eine Welt einzusetzen, in der die Menschen in Würde leben und handeln können. Eine Welt, in der die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen garantiert ist und jeder sich selbst verpflichtet, in Solidarität und Verbundenheit mit anderen zu leben. Die weltliche Aufgabe des Menschen als Statthalter ist es, sich für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen und diese zu pflegen. Die Religionen haben das Potenzial, dies zu fordern und zu fördern. Eine fehl gedeutete Religiosität hat aber auch die Macht, die Menschen zu verleiten und sie in die Gegenrichtung zu lenken. Daher gehört das Ringen mit dem Glauben zu den Aufgaben der Gläubigen, die aus Liebe zum Glauben ihn reflektieren und ständig bemüht sind, extreme Erscheinungsformen zu erörtern und zurückzuweisen. Gottesdienst besteht nicht ausschließlich darin, zu gewissen Zeiten zu beten und bestimmte Rituale durchzuführen, sondern jeder Dienst an der Menschheit, an der Natur und an der Schöpfung ist Gottesdienst. Es ist eine gottesdienstliche Handlung, sich aufmerksam und bedacht um Mitmenschen zu kümmern. Die Verbrechen in der Menschheitsgeschichte könnten größtenteils verhindert werden, wenn es Menschen gibt, die sie mit Entschiedenheit zurückweisen und sich aktiv dagegen wehren. Alle Religionen warnen vor egozentrischen Lebensformen und vertreten das Wohl der Gemeinschaft als Ziel. Die Solidarität und Ethik des Helfens sind elementare Bestandteile der Religionen. Verbrechen, Ungerechtigkeit und tyrannisches Verhalten werden

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als Sünde bezeichnet. Die ausdrückliche Haltung der Religionen gegen derartige Taten ist wichtiger Bestandteil der Erziehung. Zugleich stehen alle Religionen in der Gefahr, instrumentalisiert und pervertiert zu werden, wenn die Menschen die Religion zur Verwirklichung ihrer eigenen Interessen missbrauchen. Während die Barmer Theologische Erklärung den Zweck ihrer Zeit erfüllte, die Kirche vor der Einflussnahme des Nazi-Regimes zu bewahren und auch in ihrer Wirkungsgeschichte die Menschen ermutigte, sich zu erheben, ist zu überlegen, welche Bedeutung ihr Bekenntnis heute haben kann und wo sie eine Unterstützung ist, und ob sie im Dialog zwischen Christen und Muslimen eine konstruktive Rolle spielen kann.In einigen Aspekten besteht Diskussionsbedarf, um Missverständnisse auszuräumen. Meine Überlegungen setzen die Barmer Theologische Erklärung in eine Beziehung zum christlich-muslimischen Dialog und zeigen, in welchen Punkten mir eine theologische Annäherung nicht möglich scheint und welche Aspekte als eine gemeinsame Basis für ein Zusammenleben von Christen und Muslimen herangezogen werden können. Im Dialog ist es unentbehrlich, offen und ehrlich über die Differenzen zu sprechen, das Selbstverständnis der anderen wahrzunehmen, die Unterschiede zu erschließen und sie womöglich fruchtbar für eigene Theologie zu machen. Ebenso wichtig ist es aber auch, mit Respekt und Anerkennung stehen zu lassen worin die Differenzen zu groß sind. Das Ziel des Dialoges kann nicht eine Vereinheitlichung der Religionen sein. Jede Religion hat ihre Besonderheiten und Einzigartigkeiten, die zu pflegen und zu bewahren sind. 2 Erste These »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« (Joh 14,6) »Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden.« (Joh 10,1.9) Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

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Die erste These beinhaltet eine wichtige theologische Differenz zwischen Christen und Muslimen, die in den beiden Religionen zu strittigen Diskussionen über die Christologie führen kann. Die Aussage im Johannes-Evangelium im 14. Kapitel »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich« ist Anspruch und zugleich eine Verpflichtung mit zentraler Bedeutung für die Christen. Die Christen werden in die Pflicht genommen, den Weg Jesu zu gehen und seinem Beispiel in ihrem Leben zu folgen. Als Anspruch kann sie Probleme hervorrufen und Verhaltens- und Handlungsweisen legitimieren, die meines Erachtens nicht im Sinne der Lehre von Jesus sein können: Die Gläubigen aller Religionen können für sich den Anspruch erheben, den eigenen Weg als den richtigen zu bezeichnen. Es ist nicht unrecht, wenn man von der eigenen Religion in diesem Sinne überzeugt ist, im Gegenteil verleiht diese Überzeugung Beständigkeit und ist eine wichtige Grundlage für die Religiosität. Der Anspruch wird zum Problem, wenn man den eigenen Weg als den einzig richtigen und für alle verbindlichen versteht und die anderen als nicht würdig für die uneingeschränkte Gnade und Barmherzigkeit Gottes erklärt. Wenn der zweite Satz »niemand kommt zum Vater denn durch mich« in diesem Sinne verstanden wird, wie es die Formulierung aussagt, dann bedeutet dies für mich: Jemand, der nicht im christlichen Verständnis an Jesus Christus glaubt, hat keinen Zugang zu Gott. So schließt diese Aussage die Mehrheit der Menschen aus und schränkt die Gnade Gottes und seine Erreichbarkeit eindringlich ein. Gott wird vereinnahmt und reserviert für eine bestimmte Gruppe, nämlich die Christen. Diese Auffassung kann dazu verleiten, dass man den eigenen Weg als einzig wahren Weg versteht, der zur Wahrheit führt. Diese Wahrnehmung kann dahin führen, sich selbst als Auserwählten zu verstehen. Dann ist es folgerichtig, die Lebensaufgabe darin zu sehen, den Anderen mit allen Mitteln zum »rechten Weg« zu führen. Wir wissen, dass diese Annahme zu Überlegenheitsansprüchen geführt und großes Unheil in der Menschheitsgeschichte angerichtet hat. Mag sein, dass Ausschließung und Abgrenzung gegenüber anderen für die Stärkung des Selbstbewusstseins in besonderen Situationen unvermeidbar sind. Wenn sie aber ein Bestandteil der Religion werden, der die Bekämpfung und gar Ausrottung der Anderen legitimiert, ist dies nicht zu tolerieren und darf in keiner Weise geduldet werden. Die Ausschließung wird verstärkt durch den folgenden Satz »Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand

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durch mich eingeht, der wird selig werden.« Wir sprechen heute vom Dialog der Religionen und von der Annäherung und vom Verständnis füreinander. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen immer näher zueinander rücken und das Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Religionen nicht mehr vermeidbar ist. Wie ist ein Dialog mit Dieben, Mördern und Unseligen möglich? Kann es einen Dialog in gleicher Augenhöhe geben, wenn die anderen, die nicht an Jesus als Sohn Gottes, sondern als Auserwählten Gottes glauben, als Menschen betrachtet werden, denen man nicht trauen kann, denn Diebe und Mörder sind keine vertrauenswürdigen Menschen! Sind diese Aussagen nicht ein Hindernis, den Anderen als gleichwertigen Menschen anzusehen? Wenn dies die Kernaussagen des Christentums sind, würden sie nicht für einen Christen theologische Bedenken verursachen, auf andere zuzugehen und sich mit ihnen auf der gleichen Ebene zu sehen? Geht von dieser Aussage nicht ein Überlegenheitsgefühl aus, das in Begegnungen mit anderen immer wieder zum Vorschein kommen kann? Für die Muslime ist Jesus ein herausragender Prophet und Verkünder der göttlichen Lehre. Er wird im Koran als ein Wort Gottes bezeichnet, nicht »das eine Wort Gottes«. Darin liegt der Unterschied: Er ist ein besonderer Mensch, einzigartig und verfügt über Fähigkeiten, die ihn auszeichnen, er ist ein großer und bedeutender Auserwählter Gottes neben weiteren Auserwählten. Sie alle waren einzigartig und ihre Lehren waren alle Wegweiser für die Menschheit. Jesus wurde durch das Wort Gottes erzeugt und wurde vom Heiligen Geist in besonderer Weise unterstützt (Koran Sure 4:171). Er wurde ermächtigt, Kranke zu heilen und Wunder zu vollbringen. Er erhielt von Gott eine Offenbarung, die als »Weisheit und Licht für die Menschheit« gilt (Koran Sure 5:46). Die Gesandten und Propheten im Islam waren keine Übermenschen, sondern von Gott Auserwählte. Sie waren vor allem Menschen, die sich mitten in der Gemeinschaft für Gerechtigkeit und Frieden einsetzten. Sie waren alle Gottes Geschöpfe und seine Diener, sie stehen im Koran gleich nebeneinander ohne eine Wertung in der Ranghöhe. Daher kann die Aussage »das eine Wort Gottes« in der ersten These als Herabstufung der anderen Propheten und Auserwählten Gottes verstanden werden. Könnte diese These nicht gerade im Jahr 1934 als eine Bestätigung instrumentalisiert werden, dass man doch zu »besseren Menschen« gehört? Die Verwerfung in dieser These akzentuiert, dass kein anderes Wort als Wort Gottes für die Kirche verbindlich ist. Sie wehrt alle Mächte ab, die versuchen, die Kirche für sich zu vereinnahmen.

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Der Mensch hat den Hang zur Selbstherrlichkeit und Willkür, die für die Menschheit Leid und Desaster bringt. Hierfür wurden im Laufe der Geschichte die Religionen für die Legitimierung der menschlichen Taten instrumentalisiert. Es ist ein wichtiger Auftrag, unaufhörlich zu betonen, dass die Menschen ihre Gräueltaten eben nicht im Namen Gottes begehen und die Religionen keine Legitimation für diese Verbrechen liefern. Es liegt in der Verantwortung der Gläubigen der jeweiligen Religion, die Religionen vor derartigem Missbrauch zu bewahren. Zugleich müssen die Elemente in den Religionen ehrlich benannt werden, die solch einen Missbrauch ermöglichen. 3 Zweite These »Jesus Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heilung und zur Erlösung.« (1. Kor 1,30) Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gäbe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heilung durch ihn bedürfen. Die Erlösung durch den Tod Jesu am Kreuz ist ein Diskussionsschwerpunkt im theologischen Diskurs zwischen Christen und Muslimen. Für Muslime ist die Vorstellung der Menschwerdung Gottes, um das Leid der Menschen zu erfahren, fremd. Auch die Vorstellung, dass Jesus durch Leid und Tod am Kreuz die Menschen von ihren Sünden befreit und erlöst hat, stößt auf Unverständnis. Im islamischen Verständnis ist Gott der wissende Schöpfer, der die kleinsten Einzelheiten der physischen und psychischen Zustände seiner Geschöpfe kennt. Er steht ihnen nah und Sein Geist schenkt Leben in jedem Einzelnen, und somit ist er der ständige Begleiter in allen Lebensbereichen. Seine umfassende Kenntnis und Sein Wissen gehören zu Seinen Attributen; er bedarf es nicht, nach menschlichem Verständnis »physisch« zu erleben, wie der Mensch leidet. Die Vermenschlichung Gottes, wie sie die Muslime im Christentum wahrnehmen, ist eine essentielle Trennlinie zwischen Christentum und Islam. Im islamischen Verständnis ist es dem Menschen nicht möglich, das Wesen Gottes zu erfassen; dies

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liegt jenseits der menschlichen Möglichkeiten. Daher können die Muslime das Bild Jesu als Gott in der Gestalt eines Menschen am Kreuz und ebenso auch die herrschende Auffassung, dass Gott durch Selbstopferung die Menschen von ihren Sünden befreit hat, nicht mittragen. Damit wird Gott personifiziert, er bekommt ein Gesicht und eine Gestalt und wird bildhaft dargestellt, insgesamt also auf die menschliche Sinneswahrnehmung reduziert. An dieser Stelle ist ein Grundsatz im Dialog zu erwähnen: Ein gelungener Dialog zeigt die Grenzen, die die Religionen voneinander unterscheiden. Es ist erforderlich, diese Grenzen zu erkennen, auszuhalten und mit Achtung gewähren zu lassen. Die Menschen können nicht durch die Interpretation ihrer jeweils eigenen Religion den Anspruch erheben, die Wahrheit Gottes vollständig erkannt zu haben. Die Erlösung ist im Islam durch Gnade und Barmherzigkeit Gottes und die eigene Handlungs- und Verhaltensweise zu erreichen. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich, und es sind seine bewussten und aus freiem Willen durchgeführten Taten, die ihn der Erlösung näher bringen oder ihn auch von ihr entfernen. Die Hoffnung auf die Gnade Gottes ist unbeschreiblich groß, so dass der Mensch sich direkt an Gott wendet und um Vergebung für sein Fehlverhalten bittet. Niemand kann die »Sünden« der anderen auf sich nehmen und niemand ist berechtigt, die Entscheidung zu treffen, die nur Gott zugeschrieben ist, nämlich die Sünden zu vergeben. Jeder Mensch wird frei von »Sünden« geboren und bleibt »sündenfrei«, bis er mündig ist, bewusst und frei handeln kann. Jedes Individuum trägt mit Gnade und Zuspruch Gottes und der Kraft der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten die Verantwortung für das, was er denkt und tut. Die zweite These in der Barmer Theologischen Erklärung ist meines Erachtens eine klare Absage an Bindungen zu anderen »Herren« und Mächten außer Gott und Jesus. Wenn auch die Aufhebung der Autorität der Nazi-Machthaber nicht ausdrücklich in der Erklärung genannt wird, ist diese These eine klare Absage und kann Mut und Zuversicht schenken, sich dagegen zu stellen. Sie kann ein wichtiges Dokument des Widerstandes sein und die Aufgabe erfüllen, die die Religionen in diesem Bereich zu erfüllen haben. Durch die Bindung und Hingabe zu einem einzigen Gott wird der Mensch befreit von anderen Bindungen, die ihn verleiten. Wenn diese Bindung an Gott in unserer Zeit auch verdrängt wird oder gar vergessen ist, bleibt sie doch ein wichtiger Bestandteil des Lebens und eine positive Antriebskraft der menschlichen Hand-

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lungsweise. Gerade in unserer Zeit ist es wichtig, dass die Religionen die Kraft dieser Bindung besonders herausstellen und die Menschen ermutigen, ihr Urbedürfnis nach einer Beziehung zu einer höheren Kraft, die allen weltlichen Mächten zugrunde liegt, zu bekunden. 4 Dritte These »Lasst uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.« (Eph 4,15–16) Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte. Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen. Die Gemeinschaft hat in allen Religionen eine wichtige Stellung. Sie beeinflusst die Identitätsbildung, nimmt den Menschen auf, gibt ihm Sicherheit und Geborgenheit. In ihr lebt und wirkt der Mensch und lernt, nicht nur den individuellen Interessen nachzugehen, sondern diese auch zurückzustellen, wenn sie das allgemeine Wohl der Gemeinschaft beeinträchtigen. Der Mensch braucht die Gemeinschaft, sonst verfällt er in Einsamkeit, Isolation und eine egozentrische Lebensweise ohne Bindungen, die ihn auf seinem Lebensweg unterstützen. Die Gemeinschaft kann aber auch zum Hindernis für die menschliche Entwicklung werden, wenn sie mit Dogmen und unzumutbaren Regeln nicht zulässt, dass der Mensch als Individuum den eigenen Lebensweg beschreitet. Besonders die religiösen Gemeinschaften können diesbezüglich ein Verhängnis werden, wenn sie durch Autorität und Strenge statt Liebe und Hingabe den Menschen in die Gemeinschaft einbinden. Es ist eine wichtige Aufgabe, dass die religiöse Gemeinschaft tatsächlich Trost bietet und eine Weisung ist. Dafür müssen die essentiellen religiösen Werte in der Gestaltung der Gemeinschaft Einfluss haben, zugleich müssen sie dem

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Menschen die Möglichkeit verschaffen, innige Zuwendung durch Erfahren und Erleben zu finden. Die Personen, die die Gemeinschaft zusammenführen, haben eine große Verantwortung, der sie durch ihre Handlungen gerecht werden müssen; sie gelten als »Vorbilder«, auf sie schauen die Menschen mit großer Erwartung. Der wahre Glaube schenkt der Gemeinschaft die Kraft, die sie für ihr Handeln und Wirken benötigt. Ein Glaube, der die Menschen verbindet, sie in Liebe und Achtsamkeit vereinigt. In dieser Gemeinschaft stehen nicht die uneingeschränkten Freiheiten der Einzelnen im Mittelpunkt, sondern das Wohlergehen aller ist die Grundlage der Handlungsweise der Einzelnen. Die Menschen sorgen für einander und sind wachsam für die Nöte der anderen. Die Verwerfung in dieser These verstehe ich als eine Absage an eine Ordnung, die die Kirche vereinnahmen will. Die Kirche verteidigt ihre Werte gegenüber der weltlichen Herrschaft und verkündet ein selbständiges Agieren. Die Frage ist, ob damit die Kirche sich jeglichem politischen Diskurs verschließt oder es als ihre Aufgabe sieht einzuwirken, wenn die Herrschenden die ethischen und prinzipiellen Werte der Gemeinschaft vernachlässigen oder sie systematisch aushöhlen. Liegt das Intervenieren im Bereich der kirchlichen Verantwortlichkeit, wenn die weltliche Macht von Tyrannen und Despoten ausgeübt wird? 5 Vierte These »Ihr wisst, dass die weltlichen Fürsten herrschen, und die Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch; sondern so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener.« (Mt 20,25– 26) Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, vom Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen. Der Inhalt dieser These ist, außer seiner Bedeutung für die kirchlichen Ämter, indirekt an die Machthaber gerichtet und ist eine Ermahnung, die Herrschaft als einen Dienst und nicht als ein Privileg zu sehen. In der Entstehungszeit dieser Erklärung ist dies ein politisches Signal, nicht die Herrschaft für die Sicherung und Erweiterung der Macht zu verwenden, sondern im Dienste der Menschen.

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Der Herrschende hat einen Auftrag und eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, und diese ist verpflichtet, sich an die Bestimmungen des Herrschenden zu halten, solange er selbst sich an die Gesetze und Regeln hält und nicht seine Macht und Vorzüge missbraucht. In einer Gemeinschaft ist es von enormer Bedeutung, dass sich unterschiedliche Kompetenzen gegenseitig unterstützen und durch gerechte und zweckdienliche Aufgabenteilungen das Zusammenleben gestalten. Das Volk vertraut den Herrschenden seine Angelegenheiten an, gewährt ihnen die Freiheit, im Sinne der Interessen des Allgemeinwohls zu handeln, und erwartet, dass sie ihre Aufgabe in bestmöglicher Form erfüllen. Darüber hinaus sind in dieser These die religiösen Führer im Christentum, die Inhaber der kirchlichen Ämter, ausdrücklich ermahnt, nur im Dienste der Menschen zu handeln. Die Menschheitsgeschichte bietet zahlreiche Beispiele an Gräueltaten, die unmittelbar oder indirekt durch die religiösen Führer, insbesondere wenn sie politische Macht beansprucht haben, verursacht sind. Die religiösen Persönlichkeiten können einen wichtigen Beitrag leisten und den Extremismus jeglicher Art aufhalten, wenn sie ihre Ächtung und Abweisung deutlich und öffentlich kundtun. Der Dienst an der Menschheit gilt im Islam als Gottesdienst, und diesen hat nicht nur der Herrscher zu leisten, sondern auch die einzelnen Menschen in der Gemeinschaft. Die Lebens- und Handlungsweise jedes Einzelnen hat positive oder negative Folgen für alle Mitgeschöpfe. Daher liegt die Intention der religiösen Lebensweise darin, bewusst und bedacht zu handeln und die Konsequenzen der Taten langfristig zu überdenken. Die kurzfristig gewinnbringenden Handlungen, die das Leben der Menschen und die Schöpfung beeinträchtigen, sind im religiösen Verständnis nicht vertretbar. Jeder Dienst an der Menschheit ist ein Gottesdienst, ob diese vom Staat oder von den Einzelnen ausgeführt wird. Die falsche Lehre in dieser These verstehe ich als Positionierung einer Macht, die die Kirche in Anspruch nehmen will und die Kirche davor warnt, sich selbst fremd zu werden und die eigentliche Aufgabe aus machtpolitischen Interessen zu vergessen. 6 Fünfte These »Fürchtet Gott, ehret den König.« (1. Petr 2,17) Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht

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und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden. Die Unterscheidung zwischen der Beziehung des Menschen zu Gott und zum Staat wird in dieser These hervorgehoben. Der Staat hat die Aufgabe und die Macht, durch das Gewalt-Monopol das Zusammenleben innerhalb und außerhalb des Staates zu regeln. Im Satz »Fürchtet Gott und ehret Kaiser!« ist sowohl eine klare Unterscheidung als auch eine Verbindung zwischen Gott und »Kaiser« festzustellen. Ehrfurcht vor Gott befähigt den Menschen, in Demut und zugleich zuversichtlich die Verantwortung bewusst wahrzunehmen und entsprechend auszuführen. »Die göttliche Anordnung« überlässt mit der Formulierung »menschliche Einsicht und menschliches Vermögen« einen Raum, in dem der Staat Gewalt androht und ausübt, um Recht und Frieden herzustellen. In dieser These wird verdeutlicht, dass das weltliche Recht und nicht die Religion herrschen sollte. Die Kirche erinnert zwar an das Reich Gottes, sie hat aber nicht die Aufgabe, dieses Reich auf der Welt zu errichten. Der Staat hat nicht die Aufgabe, für das Heil und die Erlösung der Menschen zu sorgen, und er hat auch nicht die Aufgabe, die Glaubensinhalte und Rituale zu definieren, die die Aufgaben der Kirche sind. Die Unterscheidung zwischen den Wirkungsbereichen der Kirche und des Staates und die Betonung, dass die Kirche nicht zu »einem Organ des Staates werden« sollte, wehrt die Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Kirche und damit des Glaubens ab. Wird die Religion zur Staatsideologie, kann eine Art Absolutismus entstehen, der die Grundrechte der Menschen missachtet und sie zu untergeordneten Bürgern macht, die keine freien Handlungsmöglichkeiten haben. Die Frage ist, in welcher Beziehung Staat und Religion zu einander stehen. Kann zwischen den Wirkungsbereichen eine erkennbare Grenze gezogen werden, wenn beide das Leben des Menschen und seine Beziehungen gestalten und regeln?

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»Kirche erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.« Mit diesem Satz erinnert und ermahnt die Kirche, und damit wirkt sie auf den Staat ein. Sie erinnert die Regierenden sowie die Regierten, welche Verantwortung sie für die Schöpfung und die Gestaltung des Gemeinschaftslebens tragen. Die Regierenden sollen nicht aus Eigennutz und Selbstherrlichkeit handeln, sondern sich allein für das Wohlergehen der Regierten einsetzen, die ihrerseits treu und solidarisch mitwirken müssen. In der Staatsführung sind Werte und Normen notwendig, und die Religion kann sie anbieten und in diesem Sinne eine sinnvolle Orientierung sein und eine beratende Funktion haben. Dafür braucht der Staat Quellen, die er selbst nicht hat. Gott traut den Menschen zu, Statthalter auf Erden zu sein. Damit verfügt der Mensch über die Fähigkeiten, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Der Glaube gibt dem Menschen die Kraft und unterstützt ihn, seine Fähigkeiten zu entfalten und sie zum Einsatz zu bringen. Die Freiheit ist Grundlage hierfür. Die Religionsfreiheit und freie Ausübung der Religiosität kann ein Staat garantieren, der sich selbst nicht zu einer Religion exklusiv bekennt und die rechtliche Gleichheit der Religionen garantieren kann. 7 Sechste These »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« (Mt 28,20) »Gottes Wort ist nicht gebunden.« (2. Tim 2,9) Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eignen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen. Das Wort Gottes ist gebunden an Barmherzigkeit und Weisheit Gottes und darf nicht durch menschliches Denken und Handeln relativiert werden. Der Mensch muss dieses Wort mit Hilfe seiner Vernunft und im Vertrauen zu Gott verstehen und in seinem Denken und Handeln einwirken lassen. Die Gültigkeit des Wortes bis »an der Welt Ende« erfordert, dieses Wort stets erneut zu erschließen und seine Aktualität für neue Lebensrealitäten zu erfassen.

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Die Ausrichtung des Auftrages der Kirche »an alle Völker« beinhaltet den Missionsauftrag des Christentums, der im Laufe der Geschichte unterschiedliche Wege eingeschlagen hat und nicht immer das Prinzip »Nächstenliebe« als Grundlage hatte. Der Auftrag, die anderen einzuladen und ihnen den Zugang zur Gnade Gottes zu ermöglichen, ist mit unterschiedlichen Intentionen vorhanden. Im Christentum und Islam ist er mannigfaltig geprägt und leider von den Menschen auch so verstanden worden, dass dies mit Gewalt möglich sei. Die Aufarbeitung der Geschichte kann einen selbstkritischen Blick verschaffen, welches Unheil Mission bzw. Einladung zeitweise angerichtet haben. Sie haben auch als Vorwand gedient, Herrschafts- und Machtgebiete zu erweitern. Für diesen Zweck wurden sie ein Mittel der Unterdrückung und Vernichtung der anderen Traditionen und Kulturen. Es ist ein Unterschied, zu verkünden, dass der bezeugte Gott alle in ihren eigenen Traditionen liebt, oder ob man sagt, dass diese Liebe ausschließlich nur denjenigen gewährt ist, die in einer bestimmten Religion verwurzelt sind oder bereit sind, sich darin einzugliedern. Wenn dies eine Voraussetzung und Bedingung für das Angenommensein in Gottes Liebe wird, kann es zu einem erheblichen Hindernis werden, die anderen in ihrem »Anderssein« anzuerkennen und zu respektieren. Die Verwerfung in dieser These bezeugt wiederholt die Souveränität des Wortes Gottes und weist darauf hin, dass der Mensch nicht den eigennützigen Wünschen und Plänen zu folgen hat, sondern im Dienste Gottes seine Verantwortung gegenüber anderen zu erfüllen hat. 8 Anregungen für die heutigen Begegnungen und den Dialog zwischen Christen und Muslimen in Deutschland Eine wichtige Voraussetzung für den Dialog ist die Standhaftigkeit im eigenen Glauben und die Verbundenheit mit ihm. Erst wenn der Mensch einen festen Standpunkt hat, kann er mutig und offen den anderen gegenübertreten und die Bereitschaft haben, mit ihnen über den Glauben zu sprechen. Aus diesem Grund ist die Barmer Theologische Erklärung wichtig. Die christlichen Glaubensprinzipien werden deutlich formuliert und das Selbstverständnis der Menschen christlichen Glaubens dargestellt. Der Dialog ist auch die Möglichkeit, durch Austausch und Gespräch mit anderen auf die kritischen Standpunkte aufmerksam zu werden und zu versuchen, sie zu erklären oder auch zu verändern, wenn die Kritik angebracht ist.

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Wichtig ist auch im Dialog, dass man nicht in Versuchung kommt, sich selbst zu verleugnen, um den anderen einen Gefallen zu tun. Denn der Zweck des Dialoges ist es, den Anderen kennenzulernen, die Gemeinsamkeiten zu entdecken und sie als Grundlage der Zusammenarbeit zu betrachten. Der Dialog über die Unterschiede ist ebenfalls von enormer Bedeutung, weil es sein könnte, dass die Theologie der anderen eine Entdeckungsreise in die eigene Theologie ermöglicht. In Begegnung und Dialog kann auch geübt werden, mit Empathie und Geduld die Besonderheiten der anderen kennenzulernen, zu verstehen, aber auch auszuhalten. Eine wichtige Prämisse für den Dialog ist das Zuhören und mit allen Sinnen den Glauben der anderen zu erleben. Die historische Bedeutung der Barmer Theologischen Erklärung als Widerstand gegen das Nazi-Regime ist groß und kann ein Beispiel sein, in welcher Form Religionsgemeinschaften Widerstand leisten können. Der Dialog mit den Muslimen ist sicherlich nicht das Ziel dieser Erklärung gewesen. Es ist zu überlegen, ob sie heute etwas für den Dialog bieten kann. In diesem Aufsatz habe ich versucht, eingebettet in dieser Erklärung die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Christentum und Islam zu erörtern. Sie beinhaltet auch Positionen, die in der Gestaltung der Gesellschaft von Bedeutung sind und von Muslimen mitgetragen und mitverantwortet werden können. In diesem Sinne kann sie eine geeignete Grundlage für die Partizipation in der Gestaltung der Gesellschaft sein.

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Dialog quo vadis? Evangelische Positionen zum Islam1

1 Vorbemerkung Für Johannes von Damaskus war unbestreitbar, dass der Islam eine christliche Häresie sei, nachdem Muhammad sich von einem arianischen Mönch hätte dazu beeinflussen lassen, die Gottheit Jesu zu leugnen. Er konnte, schon von Johannes, mit den Argumenten widerlegt werden, die man den Arianern oder Nestorianern entgegenhielt. Auf dieser Linie liegt die Rezeption des Islams und des Korans bis in das 18. Jahrhundert hinein. Auch Luther konnte, als er den Koran wohl 1542 erstmalig in lateinischer Übersetzung im Original zur Kenntnis nehmen konnte, nur sein Urteil bestätigt finden, dass er in seinen Lehren irre, also christlich-häretisch sei, und »welch faul schendlich buch« er sei.2 Luthers Ansichten über die Türken sind weithin bekannt. Erst der katholische Theologe Johann Adam Möhler (1796–1838) entdeckte zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Koran als eigenständige religiöse Urkunde und bescheinigte ihm eine Spiritualität sui generis. Wer weiterhin Muhammad für einen Betrüger und falschen Propheten halte, werde die Entstehung des Korans nicht erklären können. 1830 schreibt er: »Viele Millionen Menschen nähren und pflegen aus dem Koran ein achtungswertes religiös sittliches Leben und man glaube nicht, daß sie aus einer leeren Quelle schöpfen.«3 Erst im Gefolge dieser Anerkennung des Korans und des Islams als einer wirklich anderen Form der Spiritualität konnte auch ein Dialog blühen. Aus diesem Grunde sehe ich die Versuche etwa von Karl-Heinz Ohlig4, in An-

Erstveröffentlichung in: Dirk Chr. Siedler / Annette de Fallois / Jörgen Klußmann (Hg.), (K)eine Chance für den Dialog? Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft, Berlin 2007, 89–100. Der Aufsatz wurde aktualisiert und erweitert. 2 Martin Luther, Vom kriege widder die türcken, 121,31–122,2., zitiert in: Ludwig Hagemann, Christentum contra Islam, Darmstadt 1999, 92. 3 Zitiert in: Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München 22000, 17. 4 Karl-Heinz Ohlig, Weltreligion Islam. Eine Einführung, Mainz/Luzern 2000; Karl-Heinz Ohlig / Gerd-Rüdiger Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005. 1

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lehnung an die Thesen von Christoph Luxenberg5 die Entstehung des Korans wieder viel stärker auf syrisch-aramäisch-christliche Wurzeln zurückzuführen, als eine versteckte Rückbiegung in das alte Missverständnis, eigentlich sei der Islam doch im Grunde nur ein anderer christlicher Weg, und in der Tendenz sehe ich diese Versuche eher als dialogbehindernd. Denn ich vermute, am Anfang gelungener Begegnung steht der Respekt vor der Andersheit eines Weges, die Anerkennung einer wirklich anderen Art von Gotteserfahrung. Oft jedoch ist eher das Problem des anderen Extrems zu beobachten: die Charakterisierung des Islams als götzenanbetende arabische Stammes-Religion, die den mekkanischen Mondgott Allah zum Verehrungsgegenstand macht, oder die Behauptung, der Islam stelle in erster Linie eine politische Ideologie dar, die entsprechend das Christentum nicht zu einer Begegnung auf gleicher Augenhöhe herausfordere, sondern die vielmehr auf der Ebene des zivilgesellschaftlichen Diskurses bzw. der Beobachtung durch die Verfassungsschutzämter anzusiedeln sei. Ich möchte jedoch, um nicht ein allzu weites Feld beackern zu müssen, meine Überlegungen auf die seriöseren und einer rationalen Argumentation zugänglichen Positionen beschränken, die wir aus dem Bereich der Landeskirchen bzw. der EKD kennen, und einige Themen und Positionen markieren. 2 Wie führt die evangelische Kirche den Dialog? Broschüren wie »Moslems in der Bundesrepublik« (1974) und »Muslime, unsere Nachbarn« (1977) und ihre hohen Auflagen zeigen, dass der Bedarf von Information früh gespürt wurde, auch zu einer Zeit, als noch weit unter einer Million Muslime in Deutschland lebten. »Zusammenleben mit Muslimen – Eine Handreichung«, so lautet der Titel einer Veröffentlichung der EKD vom Februar 1980. Sie erschien zu einer Zeit, zu der in der damaligen Bundesrepublik ca. 1,5 Mio. Muslime lebten, davon etwa 1,25 Mio. Türken, der öffentliche Diskurs wurde noch im Jargon »Vorurteile gegenüber Gastarbeitern abbauen« geführt, und so konnte diese vom Kirchlichen Außenamt in Frankfurt durch einen Ausschuss erstellte Handreichung sehr unaufgeregt über die muslimischen Nachbarn informieren. Was aus der Sicht einer gegenwärtigen Diskussionslage vermisst werden könnte, sind einerseits die Behandlungen »heißer Eisen« wie das Verhältnis Staat – Religion, die Frage Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, o.O. 22004. 5

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des Kopftuchs, der Status von Frauen, das Recht auf Konversion vom Islam weg u.ä., andererseits aber auch theologische Auseinandersetzungen jeglicher Art. Die Handreichung steht ganz im Zeichen einer ethnographisch-kulturellen Hermeneutik des Anderen und will um Verständnis werben, indem sie das Andere nach bestem Wissen und Gewissen erklärt, nicht ohne, wenn auch gutgemeint, auf so manches Klischee über den orientalischen Menschen zurückzugreifen und auf das, was heute in der Ethnologie und Kommunikationsforschung als Orientalismus bzw. essentialisierend bezeichnet wird. Muslime waren in beratender Funktion einbezogen. Dieser Einbezug kam später allenfalls nur noch punktuell oder unterschwellig zum Tragen, insbesondere aus Anlass der Herausgabe der Handreichung fast gleichen Namens im Jahre 2000 war die unzureichende Kooperation mit Muslimen eine wesentliche Kritik.6 Bis heute gut benutzbar und nach wie vor bemerkenswert frei von der litaneiartigen Rezitation der mutmaßlichen »Problemfelder« ist das Buch »Was jeder vom Islam wissen muss«,7 entstanden aus einer Faltblattserie seit 1982 unter der Federführung eines Arbeitskreises der VELKD, das in die gemeinsame Verantwortung der EKD und der VELKD übernommen wurde. Dieses Buch, das mit der Fülle seiner gut aufgearbeiteten Informationen bereits eine Art »kleines Handbuch« darstellt, bietet erstmalig auch eine kurze theologische Auseinandersetzung, die Christentum und Islam wie auch das Judentum in einer gemeinsamen theologischen Tradition sieht. Im Duktus des Zweiten Vatikanums und von Äußerungen aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen wird der gemeinsame Glaube zu ein- und demselben Gott bekannt, eine Position, die, wenn auch ein gutes Stück versteckter formuliert, auch in der Handreichung von 2000 zu finden ist.8 Überhaupt können diese beiden Bücher in einem Zusammenhang gesehen werden, das eine fußt auf dem anderen, welches gelesen werden will, bevor dieses ganz zum Zuge kommen kann. In den 1980er und frühen 1990er Jahren waren die Grundlagen und die Stimmung für eine würdige und faire Begegnung von evangelischen Christen und Muslimen bei uns vorhanden, die gefühlten Realitäten in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil wurden brisanter, aber prägten noch nicht die Atmosphäre des öffentlichen Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen. Eine Handreichung des Rates der EKD, Gütersloh 2000. 7 VELKD/EKD (Hg.), Was jeder vom Islam wissen muss, Gütersloh 82011 (1. Auflage 1990). 8 Vgl. Was jeder vom Islam wissen muss, Gütersloh 51996, 216; Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland, a.a.O., 25–27. 6

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Diskurses. Auch hatte das Genre des Islam-Skandaljournalismus noch nicht Raum gegriffen. Populärwissenschaftliche Informationsveröffentlichungen kamen auf den Markt, wie auch in erster Auflage 1983 das Werk »Der Islam in der Gegenwart« von Werner Ende und Udo Steinbach. 1987 erschien erstmalig die wissenschaftlich verantwortbare und gut lesbare Koran-Übersetzung von Adel Khoury.9 Im Geiste dieser frühen Offenheit ist auch das erstmals 1988 erschienene EMW-Arbeitsheft »Die Begegnung von Christen und Muslimen« zu sehen, das neben einer kleinen Einführung zur Begegnungssituation in erster Linie didaktisches Material für Schule und Erwachsenenbildung bietet. Die Einstellung von muslimischen Erzieherinnen in evangelischen Kindergärten, Beteiligung von muslimischen Eltern in Entscheidungsgremien, ggfs. das Zur-Verfügung-Stellen von Gebetsräumen durch Kirchengemeinden, möglicherweise von Kirchengebäuden, die nicht mehr genutzt werden, diese Anliegen trägt die Broschüre vor und wünscht auch, dass Christen sich zu Fürsprechern eines gleichberechtigten Vorkommens von Muslimen in der deutschen Gesellschaft machen mögen. Manche dieser Anliegen sind von der Wirklichkeit überholt worden z.B. durch die Schaffung von zahlreichen gut sichtbaren oder auch verborgenen Moscheen und Gebetsräumen, manche sind unter den Bedingungen einer verschärften Dialog-Atmosphäre verblichen. Das Anliegen, als Christen zu Fürsprechern der Rechte der Muslime in der deutschen Gesellschaft zu werden, wird heute von IslamKritikern ironisiert: Es widerspreche unseren eigenen Interessen in einer Zeit, in der das Christentum um seinen eigenen Einfluss zu fürchten habe.10 Der aufgeschlossene Grundton, den wir in dem EMW-Heft und bis tief in die 1990er Jahre hinein finden, ist noch nicht dem kulturalistischen Versuch gewichen, in Deutschland lebende Muslime haftbar zu machen für Zustände in ihren Herkunftsländern, und sie als Muslime zu identifizieren mit sozio-kulturellen Eigentümlichkeiten ihrer Heimat-Kulturen. Diese letztere Tendenz nahm interessanterweise zu in Zeiten, in denen sich unsere muslimischen Nachbarn zunehmend mentalitär und biographisch von ihren »Herkunftsländern« entfernten, insbesondere die Angehörigen der hier Werner Ende / Udo Steinbach (Hg.), Der Islam in der Gegenwart, München 1984 (3. Auflage 2005); Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 1987. 10 So u.a. Ursula Spuler-Stegemann, ... denn sie wissen, was sie tun – Zum Verhältnis der Muslime in Deutschland zu den christlichen Kirchen, in: dies. (Hg.), Feindbild Christentum im Islam, Freiburg i.Br. 2004, 173–183, 178. 9

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geborenen »zweiten Generation«, die deshalb auch diese DiskursDynamik mit wachsendem Unverständnis beobachten mussten. 3 Wer ist die evangelische Kirche? Wir leben mit der Tatsache, dass die evangelische Kirche nicht mit einer Stimme spricht und von dem Recht Gebrauch macht, heute etwas anderes zu sagen als gestern. Dies führte zum einen dazu, dass heute und hier veröffentlichte Äußerungen sich morgen und dort anders anhören können, es führte weiterhin dazu, dass im Jahre 1997 die Lausanner Bewegung / Deutscher Zweig der Fertigstellung der in Arbeit befindlichen neuen EKD-Handreichung zuvorkam mit der Veröffentlichung ihrer Schrift »Christlicher Glaube und Islam«. Zahlreiche Einsichten und Empfehlungen aus EMWoder EKD-Äußerungen werden hier ausdrücklich konterkariert, von der Einstellung muslimischer Erzieherinnen in evangelische Kindergärten und der Überlassung von kirchlichen Räumen an muslimische Gruppen wird abgeraten, ebenso von der Schließung christlich-muslimischer Ehen: Der Islam betrachte die Ehe »grundsätzlich nicht als lebenslanges Treueverhältnis«.11 Die Unvereinbarkeit von Christentum und Islam wird zusammengefasst: »Aufgrund dieser zentralen Unterschiede ist offensichtlich, dass der Glaube an den von der Heiligen Schrift bezeugten einen allmächtigen Schöpfer und Vater Jesu Christi nicht mit der Unterwerfung unter den vom Koran gemeinten Gott vereinbar ist« (13). Ob hier auf Grenzgängerei zwischen Christentum und Islam angespielt ist oder das Thema der Selbigkeit oder Nicht-Selbigkeit Gottes gemeint ist, sei jetzt dahingestellt. Heinz Klautke bemerkt zu Recht: »… die Darstellung des Zusammenlebens und der dabei geübten Haltungen ist von unterschwelligen Ablehnungen und Vorbehalten durchzogen«.12 Einen gewissen Gipfelpunkt stellt folgender Satz dar: »Christen werden in der Verantwortung vor Gott dem Schöpfer dem sozialen Frieden in der Gesellschaft große Bedeutung beimessen und alles ihnen Mögliche dafür tun. Sozialer Friede ist aber kein ›letzter Wert‹ für das ewige Heil der Menschen. Deshalb hat

Christlicher Glaube und Islam. Erklärung der Lausanner Bewegung, Deutscher Zweig in Verbindung mit der Deutschen Evangelischen Allianz und der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste in der EKD, Stuttgart 1997, 26f. 12 Heinz Klautke, Islam-Handreichung der EKD: Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland, in: Ulrich Dehn / Klaus Hock (Hg.), Jenseits der Festungsmauern (FS Olaf Schumann), Neuendettelsau 2003, 260–280, Zitat: 262. 11

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die Verkündigung des Evangeliums an Muslime grundsätzlich Vorrang vor der Sicherung des sozialen Friedens« (29).13 Die Erklärung leitete immerhin einen Trend ein, der sicherlich zu begrüßen ist: die Stärkung eines christlichen Profils als Ausgangspunkt für den Dialog, der auch erst dann ein Dialog wird, wenn er Identitäten in die ehrliche Begegnung miteinander bringt. Diese Rationale stand grundsätzlich auch im Hintergrund der Handreichung, die die EKD endlich im September 2000 an die Öffentlichkeit geben konnte. Immer wieder war moniert worden, dass die Stärke muslimischer Gesprächspartner gerade darin bestand, authentisch und profiliert zu argumentieren, während die christlichen Dialog-Freunde tendenziell eher die Rundungen als die Ecken zu betonen schienen – ein Vorwurf, der auch zum Klischee gerann und zumal das Problem hintanstellt, dass die innerchristliche, besonders die innerevangelische Verständigung bei weitem nicht so weit ist, dass sie das eine geronnene christliche Grundverständnis in die zeugnishafte Begegnung einbringen könnte. Insbesondere das Stichwort »Trinität« als Chiffre der Unterscheidung bedarf mehr denn je der theologischen Aktualisierung, die über die altkirchlichen Auseinandersetzungen hinausdenken müsste. Damit ist eine große Schwierigkeit bezeichnet, die den Protestantismus in seiner Positionierung gegenüber dem Islam hemmt. 4 Optionen und Positionen: Der eine Gott, das Gebet Ich rufe einige Marksteine in Erinnerung. Nicht nur das Zweite Vatikanische Konzil, nicht nur der Ökumenische Rat der Kirchen, auch einige Landeskirchen und die EKD haben sich zur Selbigkeit des einen Gottes der Christen und Muslime und auch der Juden bekannt. »Zwischen Gott und Gottesbildern ist zu unterscheiden. Auch wenn Menschen und Religionen verschieden von Gott reden, schafft die Vielzahl von Gottesbildern und Religionen keine Vielzahl von Göttern. Gott ist nach christlichem Bekenntnis einer und einzig (Dtn 6,4.5; Mk 12,28). Neben ihm gibt es keine anderen Götter. Es ist ein Gott, der an Christen und Muslimen, ja an allen Dieser Abschnitt ist in der derzeitigen Online-Version des Textes geändert worden: »Christen werden in der Verantwortung vor Gott dem Schöpfer dem sozialen Frieden in der Gesellschaft große Bedeutung beimessen und alles ihnen Mögliche dafür tun. Noch wichtiger ist ihnen aber das ewige Heil des Menschen. Deshalb können sie auf die Verkündigung des Evangeliums an Muslime nicht verzichten, auch wenn dies möglicherweise als Störung des sozialen Friedens empfunden wird« (www.ead.de/arbeitskreise/islam/christlicher-glaube-und-islam.html, Abschnitt 3.1.3., gelesen am 23.11.2016).

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Menschen handelt, auch wenn sie ihn verschieden verstehen und verehren, ihn ignorieren oder ablehnen«. Es heißt weiter: »Wird ernst genommen, daß Gott Schöpfer und Herr der ganzen Welt ist, dann muß auch sein Handeln an und in den anderen Religionen akzeptiert werden«, nachzulesen in der Orientierungshilfe »Christen und Muslime nebeneinander vor dem einen Gott – Zur Frage gemeinsamen Betens« der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1997.14 Bemerkenswert an diesem Text ist, dass die Argumente um die Selbigkeit des einen Gottes sich nicht auf die Eigenansprüche der betenden Christen und Muslime beziehen, sondern strikt aus dem christlich-theologischen Fundus, aus der Gotteslehre heraus sprechen: Es handelt sich also nicht um eine captatio benevolentiae gegenüber den muslimischen Gesprächspartnern: Gott selbst kann nur als der eine geglaubt werden, der sich sowohl an Christen wie auch an Muslimen und allen anderen erweist, damit aber auch unterschiedliche Erfahrungen auslöst. Für dieses Denken wird zu Recht auf die Studie »Religionen, Religiosität und christlicher Glaube« (1991) verwiesen, die von hier aus allgemein die Beziehungsklärung zu den anderen Religionen vornimmt. So heißt es noch einmal dezidiert: »Christen und Muslime stehen zwar vor demselben, dem einen Gott, zusammen mit den Juden – es gibt nur ihn« (36), der Text fährt aber fort mit dem Hinweis, dass in Anbetracht der unterschiedlichen Gotteserfahrungen keine gemeinsam verantworteten gottesdienstlichen Handlungen möglich seien, sondern der jeweils andere nur im Status des stillen Gastes anwesend sein könne. Dies würde bei wechselweiser Aktivität zum multireligiösen anstelle des interreligiösen Gebets führen, wobei wir uns in einen Bereich von Unterscheidungen begeben, die im Diskurs leichter und feingliedriger zu zeichnen sind als in den Situationen realer Begegnungen. So weist die theologische Einleitung der kürzlich vom EMW veröffentlichten Orientierungshilfe darauf hin, dass »aus einem ›Andächtig-zugegen-sein‹ bei dem Gebet der Andersgläubigen ein ›In-das-Gebet-hineingenommen-werden‹ werden kann«. Über das Eingehen oder Nichteingehen dieses Risikos jedoch könne niemand für andere entscheiden.15 Jedoch ist hier neben der Option für den einen und selben Gott ein anderer Markstein bezeichnet: die Befürwortung multireligiöser Gebete anstelle von interreligiösen, auch dies eine Position, die sich durch die neuere Geschichte der evangelischen Stellungnahmen hindurchzieht.

Düsseldorf 1997, S. 23f. EMW/NMZ (Hg.), Christlich-islamische Andachten und Gottesdienste – Eine Orientierungshilfe, Hamburg März 2005, 10.

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5 Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland (2000) Die Geschichte evangelischer Positionen zum Islam, bis hierher und selektiv wahrgenommen, zeigt also durchaus Gradlinigkeiten und Orientierungsmöglichkeiten. Jedoch verschärfte sich zunehmend der öffentliche Diskurs zum Islam, die muslimische Bevölkerung wurde stärker sichtbar durch die Gründung der Dachverbände und ihre öffentlichen Artikulationen, und die EKD sah sich zunehmend unter dem Druck, nicht mehr Pionier zu diesem Thema zu sein, sondern innerkirchliche Flügel miteinander zu vermitteln. Nach der Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung einer IslamHandreichung 1992 gingen volle acht Jahre ins Land, bevor nach fast beispiellosen Korrekturvorgängen zwischen dem Rat der EKD und der Kommission am 11.9.2000 die Schrift der Öffentlichkeit übergeben werden konnte.16 In der Tradition früherer Äußerungen steht hier die evangelisch-christliche Selbstvergewisserung im Vordergrund, und auch die Grundaussage des Glaubens an den einen und einzigen Gott wird durchgehalten, wenn auch in gewundenen Formulierungen. Muslime, so heißt es, bekennen sich, wenn sie zu Christen werden, zu keinem anderen Gott als dem, der auf Arabisch allah heißt, auch wenn ihnen nun durch Jesus Christus und den Heiligen Geist ein neues Gottesverhältnis eröffnet werde (26). Die Handreichung ist gewiss, dass sowohl die Gebete der Muslime als auch die von uns Christen vom dreieinen Gott erhört werden (45).17 In der schließlich höchst umstrittenen Frage der Einstellung von muslimischen Erzieherinnen in evangelischen Kindergärten konnte sich der Text im Unterschied zu der Schrift von 1980 nur noch zu orientierenden Formulierungen durchringen, die die Verantwortung an die einzelnen Träger weitergibt (75). Neben der Grund-Tendenz, dem Zusammenleben mit Muslimen im Kontext der Bundesrepublik für Christen eine konstruktive Grundlage zu bieten, ist die Handreichung in einem ausführlichen Abschnitt zum Toleranz-Gebot von dem unterschwelligen Verständnis getragen, die Anerkennung des demokratischen Staatswesens stelle im Prinzip für Muslime ein Problem dar. Die Scharia wird offenbar pauschal als ein mit dem Grundgesetz nicht vereinbares Korpus begriffen, ja als ein Gebilde, das überhaupt mit einer Staatsverfassung in Kompatibilität treten möchte (47f). Muslimische Gesprächspartner wurden in der ersten Phase der Kommission eingeladen und um Korrekturen und Kommentare Vgl. Anm. 5; zum Entstehungsprozess und zur allgemeinen Würdigung Klautke, Islam-Handreichung der EKD (Anm. 12). 17 Vgl. auch Andreas Renz / Stephan Leimgruber, Christen und Muslime – Was sie verbindet, was sie unterscheidet, München 2004, 97–99. 16

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gebeten, ihrem Anliegen, kontinuierlich mitzuwirken, wurde nicht stattgegeben. Dies wurde begründet mit der hermeneutischen Vorgabe, es gehe darum, eine evangelische Selbstklärung vorzunehmen, die sich an innerkirchliche Adressaten richte. Sicherlich hätten die Muslime auch nicht die Absicht gehabt, in die theologische Orientierung des ersten großen Abschnitts einzugreifen, ein anderes wäre es gewesen, ihnen die Sachaussagen zum Islam abschließend zur prüfenden Kenntnis zu geben. 6 Evangelische Standort-Verwirrungen Allein die Tatsache, dass die Erklärung der Lausanner Bewegung und die EKD-Handreichung fast in Konkurrenz zueinander im Abstand von drei Jahren erschienen,18 zeigt an, dass sich die innerkirchliche Diskurs-Lage, aber auch das gesamtgesellschaftliche Klima zum Thema Islam deutlich gegenüber den siebziger und achtziger Jahren geändert hatten. Die Evangelische Allianz, die ursprünglich auch in die EKD-Kommission integriert war, hatte den Islam als ein wichtiges Thema entdeckt und widmet ihm seit einigen Jahren ein Institut, der Pressedienst idea enthält fast täglich eine Meldung zum Islam, jedoch selektiert in einer Weise, die nicht zur Förderung des Dialogs gedacht sein kann.19 Die Terror-Anschläge des 11. September 2001 und die unermüdliche Beschwörung dessen, dass nichts mehr so sei wie vorher, haben die protestantische Positionierung nicht erleichtert. Das Stichwort des »naiven« oder »blauäugigen Dialogs«20 zwang diejenigen, die nach wie vor mit Aufgeschlossenheit und Hörbereitschaft die Begegnungen aufrechterhalten wollten, in die Defensive. Ein weithin wahrgenommener Spiegel-Artikel vom Dezember 2001 unter dem Titel »Der verlogene Dialog« markierte diese Stimmung trefflich und heizte sie im von vielen gewünschten Maße weiter auf. Mancher erstaunte Beobachter mag ins Grübeln darüber gekommen sein, was der an vielen Orten auf unterschiedlichsten Ebenen bis dahin erfreulich vertrauensvoll geführte Dialog mit muslimischen Gesprächspartnern einerseits und die Terror-Anschläge in den USA Die Erklärung »Christlicher Glaube und Islam« konnte rein optisch auch das Missverständnis veranlassen, aus der EKD zu stammen. 19 Vgl. hierzu Lothar Bauerochse, Ein gefährliches Zerrbild – Wie »idea« über den Islam berichtet, in: unterwegs 2/2000, 27–29. 20 Johannes Kandel, »Lieber blauäugig als blind«? Anmerkungen zum »Dialog« mit dem Islam, in: Materialdienst der EZW 5/2003, 176–183; Ulrich Dehn, Wie naiv ist unser Dialog? Anmerkungen zu Johannes Kandel: »Lieber blauäugig als blind«?, in: Materialdienst der EZW 6/2003, 228–231. 18

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und an anderen Orten andererseits miteinander zu tun haben mochten oder wie der Gang der Geschichte hätte anders verlaufen können, hätte der Dialog anders ausgesehen. Aber die Zeit seit dem 11.9.2001 ist nicht die Zeit der rational nachvollziehbaren Verknüpfungen gewesen, in der innerkirchlichen Diskussion zum Thema Islam so wenig wie in der amerikanischen Außenpolitik. Die Kopftuch-Debatte tat das ihre dazu, die Diskussionslage zum Islam vollends zu irrationalisieren und in Stellvertreter-Konflikte hinein zu stilisieren. Von dieser Versuchung blieben auch viele und ranghohe Stimmen der evangelischen Kirche nicht verschont, während es der Deutschen Bischofskonferenz in dieser Zeit gelang, die sehr informative und leidenschaftslos abwägende Arbeitshilfe »Christen und Muslime in Deutschland« zu veröffentlichen.21 7 Von Klarheit und guter Nachbarschaft (2006) zum EKD-Grundlagentext in Zeiten religiöser Vielfalt (2015) Bereits sechs Jahre nach der Handreichung »Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland« erschien 2006 erneut ein EKD-Text, der u.a. die neue Lage nach dem 11.9.2001 als Anlass für eine erneute Äußerung zum Thema geltend machte.22 Neben einem Katalog von zehn »Kriterien« »für die Planung und Auswertung von interreligiöser Zusammenarbeit, insbesondere Dialogen zwischen Christen und Muslimen«,23 der eine große Offenheit gegenüber den muslimischen Gesprächspartnern atmet und Begegnungen auf »gleicher Augenhöhe« befürwortet, wird an anderen Stellen der Handreichung diese Offenheit ausdrücklich eingeschränkt: Theologisch werden frühere Aussagen implizit zurückgenommen, die die Selbigkeit des einen Gottes suggerieren konnten. Vielmehr heißt es nun: »Die Feststellung des ›Glaubens an den einen Gott‹ trägt nicht sehr weit«, sowie: »Ihr Herz werden Christen […] schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren«.24 Ferner wird Skepsis angemeldet zur Beteiligung an Gebetsveranstaltungen, sofern sie den Charakter interreligiöser Gebete haben, und auch Beteiligungen an multireligiösem Gebet werden nicht pauschal befürwortet, sondern von-Fallzu-Fall-Entscheidungen anempfohlen. Denkbar jedoch wäre eine DBK (Hg.), Christen und Muslime in Deutschland (= Arbeitshilfen Nr. 172), Bonn, 23.09.2003. 22 Klarheit und gute Nachbarschaft – Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der EKD, Hannover 2006. 23 A.a.O., 112f. 24 A.a.O., 19. 21

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»andächtige«, also offenbar schweigende Teilnahme an Gebetsveranstaltungen der jeweils anderen.25 In der 2003 erschienenen EKDSchrift »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen« war sogar ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass Christen »nicht guten Gewissens an der religiösen Praxis einer anderen Religion teilnehmen« könnten. Die Handreichung von 2006 lässt vermuten, dass eine Integration der Argumente aus dem evangelikalen Bereich angestrebt war, zugleich tritt hier die theologische Argumentation sehr deutlich hinter der zivilgesellschaftlichen und juristischen zurück. Von Muslimen wird eingefordert, anschlussfähig an die Friedfertigkeit des Christentums, an Demokratiefähigkeit und konstruktives gesellschaftliches Engagement zu werden. Die Handreichung führte an zahlreichen Stellen zu Verstimmungen, zu einem zeitweisen Abbruch des Dialogs zwischen der EKD und muslimischen Verbänden und zu einer ein Jahr später erscheinenden gebündelten Kritik in Gestalt einer Aufsatzsammlung.26 Die 2015 veröffentlichte Schrift »Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive« kann in diesem Sinne als der Versuch einer partiellen Schadensbegrenzung betrachtet werden. Das Thema des Betens mit anderen wird im Anschluss an Überlegungen zu den Stichworten Gast und Gastgeber27 behandelt und damit in den Horizont einer zugewandten Offenheit gestellt. Der Grundlagen-Text erwähnt eine Reihe von möglichen Veranstaltungskonstellationen multi- und interreligiöser Art und kommt zu dem Vorschlag, neben dem Nacheinander- und Nebeneinanderbeten auch die »Sprachwelt der Psalmen« als eine mögliche Gemeinsamkeit zu nutzen.28 Zur Frage desselben oder nicht-selben Gottes bleibt der Text distanziert: »Darum bleibt die Auffassung, alle drei glaubten an denselben Gott, eine Abstraktion, die von allem absieht, worauf es Judentum, Islam und Christentum konkret ankommt. Leere Abstraktionen helfen nicht weiter.«29 In religionstheologischer Hinsicht bleibt der Text einem moderaten Exklusivismus verhaftet und argumentiert immer wieder gegen mutmaßliche Positionen eines – wie der Leser nur vermuten kann – religionstheologischen Pluralismus, so dass manches offen bleibt und an anderen Stellen zu diskutieren sein wird. A.a.O., 116f. Jürgen Micksch (Hg.), Evangelisch aus fundamentalem Grund. Wie sich die EKD gegen den Islam profiliert, Frankfurt a.M. 2007. 27 Vgl. Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015, 50–52. 28 A.a.O., 53. 29 A.a.O., 64f. 25 26

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Der Text zeigt sich jedoch in vielen Einzelfragen, die sich in einer religiös und kulturell pluralen und vielfältigen Gesellschaft stellen, für zeitgemäße Lösungen aufgeschlossen.30 8 Bleibende Schwierigkeiten Die Schwierigkeiten des Protestantismus, sich eindeutig auch theologisch zum Islam zu positionieren, haben auch etwas mit seinem Gegenstand zu tun. »Als komplexe, vielgestaltige und auch widerspruchsvolle religiöse Lebenswelt entzieht sich der Islam immer wieder den Systematisierungen und läßt sich nie als ganzer auf den Begriff und unter ein Urteil bringen. Sich mit ihm und seiner Beziehung zum Christentum auseinanderzusetzen verlangt eine Auswahl von Perspektiven und Zugängen«, so der katholische Theologe Hans Zirker.31 Diese Komplexität wahrzunehmen und gefühlte, von den Medien erzeugte Realitäten unterscheiden zu können von dem, was die muslimische Wirklichkeit an Facetten zu bieten hat, wäre eine Kompetenz einer die Geistesgeschichte der Aufklärung für sich in Anspruch nehmenden westlichen Kirche zumal dann, wenn sie unablässig »dem Islam« eine aufklärerische Reifungsgeschichte anempfiehlt. Allerdings hatte selbst der große Ernst Bloch einstmals in seinem »Prinzip Hoffnung« geschrieben: »Islam, Ergebung wurde die Religion Mohammeds genannt, jedoch das Bekenntnis dieser Ergebung war hier wie nirgends scharfer Dschihad, heiliger Krieg. … Religion ist Ergebung in Allahs Willen, doch eben als kriegerischer Fanatismus der Ergebung«,32 und Helmut Thielicke meinte zu wissen, dass »der Islam durch seine theoretische Identifizierung von Religion und Politik« keinen ernsthaften Spielraum für Dialog kenne, sondern »nur die Alternative Konformismus und Unterwerfung«.33

Vgl. Ulrich Dehn, Differenzhermeneutik oder Inselmentalität? Anmerkungen zum EKD-Text »Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive« (Juni 2015), in: Interkulturelle Theologie Heft 4/2015, 420–423. 31 Hans Zirker, Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen, Düsseldorf 1993, 12. 32 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main 1959, 1506f. Blochs Charakterisierung richtete sich allerdings nicht nur an den Islam, sondern allgemein an monotheistische Religionen und wirkt in gewisser Hinsicht wie eine Vorwegnahme der Schlussfolgerungen Jan Assmanns (Moses der Ägypter, München 1998; Herrschaft und Heil, Darmstadt 2000; Die Mosaische Unterscheidung, München 2003). 33 Helmut Thielicke, Theologie des Geistes (Der evangelische Glaube. Grundzüge der Dogmatik III), Tübingen 1978, 502, zitiert in Zirker, Islam, a.a.O., 225f. 30

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Der Protestantismus hat sich traditionell mit etwas mehr Verve als der Katholizismus auf die Aufklärung berufen, die bekanntlich eine Geistesbewegung gegen die Kirche war. Elisabeth von Thadden erinnert daran, dass eine der Tugenden, die wir von der Aufklärung lernen können, sei, »sich in die Perspektive des anderen zu versetzen, seine Überzeugung als eine gleichrangige zu verstehen«, ohne dass deshalb andere Wahrheitsansprüche emotional nachvollzogen werden müssen. In Lessings »Nathan« geht es bekanntlich nicht nur darum, die gleiche Würde anderer Wahrheitsansprüche anzuerkennen. Die tiefen Verbindungen und Verknüpfungen sind wahrzunehmen, die es verbieten, allzu scharfe menschliche Grenzen zu ziehen, selbst wenn die Profile und Identitäten des Glaubens bestehen bleiben.34 Die Einsicht in die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lehrt, dass »die Befürwortung der Moderne und deren Ablehnung sozial und regional verschieden ausgeprägt« sind.35 Wer Ehrenmorde als islamisches Phänomen anprangert,36 vergisst, dass sie im christlichen Nordmittelmeerraum noch vor wenigen Jahrzehnten weit verbreitet waren, Zwangsverheiratungen, auch »arrangierte« Hochzeiten genannt, sind ein in asiatischen und afrikanischen Kulturen bekanntes Phänomen und auch dem alten ländlichen oder adligen Europa nicht fremd. Eine Kulturgeschichte des Kopftuchs würde an dieser Stelle auch erhellende Einsichten vermitteln. Aufklärung ist, bevor sie zu einer Forderung an andere wird, eine eigene Bringeschuld. 9 Abschließende Wünsche Abschließend sind Empfehlungen aussprechen, wie der Protestantismus seine Schwierigkeiten in der Positionsfindung gegenüber dem Islam dialogisch überwinden könnte:

34 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998; Karl-Josef Kuschel, Lessings »Nathan der Weise« als Grundlage einer Friedenserziehung heute, in: WCRP Informationen Nr. 61/2002, 4–17. 35 Elisabeth von Thadden, »Tolerant aus Glauben« – Referat zur Einführung in das Schwerpunktthema (EKD-Synode November 2005, Berlin), in: epd-Dokumentation 48/2005, 13–22, 15. 36 Immerhin im gleichen Atemzug erwähnte Hermann Gröhe Ehrenmorde und Islamismus in seinem Votum vor der gleichen EKD-Synode (»Tolerant aus Glauben« – Einbringungsrede zum Kundgebungsentwurf, in: epd-Dokumentation 48/2005, 9–13, 11).

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1. Traditionstreue: Es wäre zu wünschen, dass Positionen und theologische Grundlagen, die in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet und artikuliert wurden, nicht zurückgenommen, sondern jetzt umso mutiger vorgetragen werden. Dazu gehört das Bekenntnis zu dem einen und selben Gott, der Einsatz für gemeinsame Gebete und für islamischen Religionsunterricht u.a. 2. Theologischer Dialog: Juden, Christen und Muslime stehen in einer Traditionsgemeinschaft und können dies für fruchtbare Gespräche nutzen, die sowohl dem Eruieren von Gemeinsamkeiten als auch dem deutlichen Profilieren von Unterschieden dienen. Mit einer vorschnellen Harmonisierung ist niemandem gedient, so wie bereits deutliche theologische Profil-Unterschiede zwischen Christentum und Judentum bei gemeinsamer Benutzung der hebräischen Bibel bestehen. 3. Muslime als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe ernstnehmen: Unter Bedingungen der Asymmetrie von Religionsgemeinschaften kann es für die Integration des Islams in Deutschland nur sinnvoll sein, ihn gleichberechtigt in die Öffentlichkeit hineinzuholen und am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Wenn die Kirchen sich zu fast jedem Thema in den Medien äußern, sollten auch muslimische Verbandsvertreter ihre Stimme hörbar machen zu Themen der allgemeinen öffentlichen Debatte, nicht nur dann, wenn sie unmittelbar in ihren religiösen Belangen betroffen sind. 4. Zugleich hat der Protestantismus (ebenso wie der Islam) das Recht und die Aufgabe, vertrauensvolle Begegnungssituationen auch für die Thematisierung von Problemen zu nutzen. Dies sollte jedoch nicht aufgrund einer pauschalen Hermeneutik des Verdachts, sondern orientiert an konkreten Vorkommnissen passieren, die benannt und bearbeitet werden können, und grundsätzlich auf Gegenseitigkeit beruhen. 5. Der Protestantismus soll einen guten Begegnungsstil pflegen, der von Höflichkeit und Hörfähigkeit geprägt ist. Ich wünsche mir das Ablegen des umgekehrten Fundamentalismus, der die Muslime zu behaften versucht bei dem, was sie entgegen ihren eigenen Beteuerungen »eigentlich« vom Koran her doch meinen müssten.

Beate Sträter

Reformation und Islam – ganz anders und doch überraschend aktuell

Das Reformationsjubiläum 2017 und die Themen-Jahre im Rahmen der Reformationsdekade haben ein Nachdenken und Forschen in viele Richtungen angestoßen. Eine durchgängige Frage ist dabei, welche Bedeutungen die reformatorischen Entdeckungen und ihre Umsetzung in der damaligen Zeit für uns heute haben. Klar ist, dass sich Begriffe und Vorstellungen nicht bruchlos auf unsere heutige Zeit übertragen lassen. Doch wenn es nicht allein bei einer wirkungsgeschichtlichen Betrachtungsweise bleiben soll, sondern daraus eine Erkenntnis für unsere aktuellen Fragen gewonnen werden soll, wird es immer auch um das Vergleichbare, Aktuelle der reformatorischen Einsichten gehen. Das Verhältnis Luthers und der Theologen der reformierten Tradition zum Judentum ist dabei seit vielen Jahren ein intensiv erforschtes Feld. Auch anlässlich des Reformationsjubiläums erschienen hierzu neue Stellungnahmen.1 Initiiert durch die Erfahrung des Holocaust fragten Theologen nach den Wurzeln des Antisemitismus und des kirchlichen Anti-Judaismus in der reformatorischen Tradition. Relativ schmal stellt sich die Forschungslage dar, wenn es um das Verhältnis zum Islam geht. Hier sind die Migration muslimischer Bevölkerung nach Europa in den letzten Jahrzehnten und der aus dem Zusammenleben mit Muslimen erwachsene christlich-muslimische Dialog Anlass gewesen, den Blick auch in dieser Hinsicht auf die theologischen Traditionen zu richten. Dabei wurde deutlich, wie die politische Situation der damaligen Zeit, insbesondere die Bedrohung Mitteleuropas durch die Eroberungszüge des Osmanischen Reichs, tiefe Spuren in der kollektiven Erinnerung hinterlassen haben, die bis heute erkennbar sind. Im Rahmen des Themenjahrs »Reformation und Toleranz« 2013 stellte die Konferenz für Islamfragen der EKD ein Papier zur Diskussion, das sich mit diesen Fragen beschäftigt. Die Endfassung Kundgebung der Synode der EKD vom 11. November 2015: Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum, unter: www.ekd.de. Achim Detmers, Antijudaismus bei reformierten Reformatoren, Eine Herausforderung für reformierte Theologie, September 2015, www.reformiertinfo.de/14729-0-4-14.html, abgerufen am 22.02.2017.

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wurde im Sommer 2016 veröffentlicht, nachdem die Rückläufe und die Ergebnisse von fachlicher Beratung und Studientagen eingearbeitet wurden. Dieser Text erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will einen Impuls geben, der hoffentlich aufgegriffen wird. Im Vorwort äußert Petra Bosse-Huber, ÖkumeneBischöfin der EKD, die Hoffnung, dass der Impuls des Textes auch im Rahmen der akademischen Theologie Aufnahme und Resonanz findet und ergänzende Forschung anstößt.2 1 Unterschiedliche Kontexte bedenken Blicken wir heute auf das Zeitalter der Reformation als den Kontext, aus dem heraus Luther und andere Reformatoren ihr Verhältnis zum Islam, oder wie es damals hieß, zu den »Türken« beschrieben, so wird sehr schnell deutlich, wie unterschiedlich grundlegende gesellschaftliche Konzepte des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit gewertet und verstanden wurden. Hierauf geht das erste Kapitel des Textes ein (2. Glaubensvielfalt zur Zeit der Reformation und heute). Angefangen bei dem Begriff der Toleranz, wird bereits deutlich, wie unterschiedlich der Begriff heute und damals verstanden wurde. »Die Reformatoren hatten zunächst Freiheit und Akzeptanz des Bekenntnisses für sich selbst eingefordert.«3 Dies bedeutet nicht, dass in Ländern, in denen sich die Reformation durchsetzt, Andersgläubigen Toleranz gewährt wurde. Es kamen jedoch in der Auseinandersetzung mit der Frage auch einige Aspekte in den Blick, die unbekannt oder in Westeuropa marginal sind: Das Königreich PolenLitauen gewährte im 16. Jahrhundert als einziges Territorium Religionsfreiheit nicht nur für Christen unterschiedlicher Konfession, sondern auch Juden und Muslimen.4 In seltenen Fällen haben Lutheraner die Freiheit des Bekenntnisses durch Andersgläubige gewährt bekommen, z.B. im heutigen Ungarn und in Siebenbürgen unter den Osmanen. Diese Beispiele gelebter Toleranz im Osten Europas verdienen sicher eine weitergehende Beschäftigung und Forschung. Im Vergleich zur politischen und gesellschaftlichen Situation im 16. Jahrhundert ist in unseren heutigen Gesellschaften die Religionsfreiheit ein in der Verfassung garantiertes Grundrecht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Zusammenleben in den modernen, Reformation und Islam, 6. Der vollständige Text ist im Internet unter folgender Adresse zu finden: www.ekd.de/download/reformation_und_islam.pdf. 3 Reformation und Islam, 9. 4 Hier wird Bezug genommen auf die Konföderation von Warschau, 1573. 2

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von Globalisierung und Migration betroffenen Gesellschaften spannungsfrei wäre. Ängste und Vorbehalte speisen sich dabei auch aus Bildern und Vorurteilen, die eine lange Geschichte haben. Welche Spuren hiervon auch in der reformatorischen Tradition unserer Kirche ihre Wurzeln haben, wird im dritten Teil des Textes (3. Reformatorische Sichtweisen auf den Islam) in Bezug auf Luther, die lutherischen Bekenntnisschriften und die reformierten Reformatoren untersucht. 2 Wie äußern sich die Reformatoren zum Islam? Zur Zeit der Reformation sind durchaus verschiedene Akzentuierungen erkennbar, wenn es um die Bewertung und den Umgang mit den Muslimen und ihrem Glauben geht. In einem ersten Teil beschäftigt sich der Text ausführlich mit Martin Luthers Sicht auf den Islam, es folgen Äußerungen in den lutherischen Bekenntnisschriften und Stimmen aus der reformierten Tradition. Hierzu werden zahlreiche Zitate zur Illustration des damaligen Denkens angeführt, die den Geist der Zeit lebendig werden lassen. Für Luther und seine Zeitgenossen war die Auseinandersetzung mit dem Islam entscheidend durch die Bedrohung West-Europas durch die osmanischen Eroberungen und ihr Vordringen nach Südost- und West-Europa geprägt. Es ging also an erster Stelle nicht um eine theoretische Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben, sondern um eine Deutung dieser Bedrohung. Für Luther wie für viele andere Menschen der damaligen Zeit war diese Deutung eines historischen und politischen Ereignisses untrennbar mit einer theologischen Deutung verbunden. In seiner Schrift »widder die Türcken« aus dem Jahr 1529, also zur Zeit der Belagerung Wiens durch die Osmanen, fragt Luther danach, was die Christen angesichts dieser Gefahr tun sollen. Deutlich wird hierbei ein apokalyptisches Verständnis der Bedrohung, das Luther mit einer entsprechenden Auslegung des Daniel-Buches verbindet. Zeigt sich in der Bedrohung durch die Türken das Anbrechen der Endzeit, ist deshalb in erster Linie der Glaube der Christen herausgefordert. Sie sollen sich zu aller erst an dem zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses orientierten, der Christen von allen anderen unterscheidet: »Denn an dem artickel liegt dein leben und seligkeit«.5 Diese streng christologische Orientierung ist für Luther der einzige Weg, des »Tuercken Krieges« zu begegnen, der eine Prüfung Gottes ist. »Er ist Gottes rute und des Teuffels diener, das hat keinen 5

Reformation und Islam, 12, WA 30 II, S. 185f.

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Zweifel«. Aus diesem Grund kann auch militärische Gegenwehr, wie ein Kreuzzug nicht helfen, vielmehr sollten die Christen Buße tun und sich auf das wahre Evangelium besinnen.6 Nicht zufällig entstand im selben Jahr auch der Kleine Katechismus. Eine theologische Auseinandersetzung mit dem Islam als Religion findet sich erst in Luthers letzten Lebensjahren. 1542 las er den Koran in der lateinischen Übersetzung von Robert Ketton und gab in der Folge mehrere Bücher heraus, die sich mit dem Islam befassen. Berühmt wurde vor allem sein Vorwort der ersten gedruckten Koran-Ausgabe von Theodor Bibliander. So setzte Luther sich gegenüber dem Rat der Stadt Basel dafür ein, dass der »Alcoran« gedruckt und veröffentlicht werden kann. In seiner Begründung legt er seine Absicht dar: Durch das Bekanntwerden des Korans wird den Türken der größte Schaden zugefügt, da sich zeigt, dass es ein Buch voller Lügen, Fabeln und allerlei Gräuel ist, die bei jedem vernünftigen Menschen nur Abscheu erzeugen können. Deshalb, so Luther, wollen die Türken auch nicht, dass der Koran in andere Sprachen übersetzt wird.7 Auch wenn in der muslimischen Frömmigkeit, ihrer asketischen und bescheidenen Lebensführung und der Haltung gegenüber Frauen einschließlich ihrer Verschleierung (!) durchaus Positives zu sehen ist, so ist das doch nur eine Äußerlichkeit, von der Christen sich nicht darüber täuschen lassen sollen, dass es sich hier um eine Sammlung aller bisherigen christlichen Irrlehren handelt. Ihren Gipfel haben diese im Koran enthaltenen Irrlehren für Luther darin, dass das Entscheidende fehlt: »die Lehre von Christus, vom Sohn Gottes, von der Trinität, von der Sünde, vom Kreuz, von der Auferstehung, von der Vergebung allein aus Gnade, vom Gericht und vieles mehr.«8 Die wenigen Äußerungen zum Islam in den lutherischen Bekenntnisschriften sind weniger stark vom apokalyptischen und dämonisieren Ton bestimmt wie bei Luther selbst, greifen allerdings seine Argumentation auf. Zum einen werden Muslime als Häretiker bezeichnet (CA 1). Neben einer durchgängigen christozentrischen Apologetik findet sich der Vorwurf der Werkgerechtigkeit an verschiedenen Stellen. Der Islam wird dabei nicht wie eine eigene Religion betrachtet, sondern allein zum eigenen christlichen Glauben in Beziehung gesetzt und als eine unter verschiedenen Häresien betrachtet. Ge6 7 8

A.a.O., 13, vom kriege widder die Türcken, WA 30 II, S. 116. A.a.O., 14. A.a.O., 15.

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nauso wenig, wie sich ein rein weltlicher Blick auf die Geschichte schon durchgesetzt hatte, gab es ein Konzept von Religion im übergeordneten Sinn. Dieses entstand erst ab dem 18. Jahrhundert.9 In ihrer Beurteilung des Islams als einer Häresie finden sich bei den Reformierten viele Überschneidungen zur lutherischen Perspektive. Sie lehnten auch einen Kreuzzug als militärische Gegenmaßnahme zur osmanischen Bedrohung ab. Deutliche Überschneidungen finden sich z.B. bei Heinrich Bullinger, der 1567 eine Schrift mit dem Titel »Die Türken« veröffentlichte. Auch er verurteilt am Islam die fehlende Christologie und sieht in der geforderten Frömmigkeitspraxis einen Ausdruck von Werkgerechtigkeit. Polygamie, die Vorstellung vom Paradies und die Stellung zur Gewalt, die ihn an die Täufer in Münster erinnern, kritisiert er scharf. Das, was am muslimischen Lebenswandel positiv erscheint, verweist eher auf den schlechten Zustand der Christenheit, die zudem über dogmatische Fragen zerstritten ist. Die osmanische Bedrohung ist auch deshalb ein Werkzeug Gottes zur Prüfung und Bestrafung der Christen.10 Trotz dieser offensichtlichen Übereinstimmungen sind im reformierten Kontext einige entscheidende Unterschiede zu entdecken. Anders als Luther setzt sich Calvin mit dem Islam in Kommentaren, Predigten und Vorlesungen theologisch auseinander. Mohammed ist für ihn ein Apostat und der Islam eine Häresie, weil er Anspruch auf eine eigene göttliche Offenbarung erhebt. Diese, so Calvin, kann es aber außerhalb der Bibel nicht geben. Auch die islamische Ablehnung der zentralen christologischen Glaubenssätze macht den häretischen Charakter des Islams aus. Dabei lehnt er den Islam nicht aus moralisch-ethischen Gründen, wie z.B. Bullinger, sondern allein aus theologisch-dogmatischen Erwägungen ab. Auch in der Deutung der osmanischen Bedrohung unterscheidet sich Calvin von vielen anderen Zeitgenossen: So vermeidet er in seiner Auslegung des Daniel-Buches jede apokalyptische Sicht, sondern sieht in darin geschilderten Ereignissen ausschließlich historische Fakten. Indem Calvin sich in erster Linie theologisch mit dem Islam auseinandersetzt, vermeidet er eine moralische Abwertung oder Verzeichnung von Muslimen als Feinde. In einer Predigt spricht er sogar von den Türken als unserem Fleisch. »Und unser Herr Jesus zeigt auch klar, dass wir eine Nähe zu denen haben, die uns fremd erscheinen, wie bei der Person, die er uns seitens des Samaritaners vorschlägt.«11 9 10 11

Ebd. A.a.O., 18. A.a.O., 20.

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Diese Haltung, die Dialog und Toleranz ermöglicht, wird zudem von einem anderen Akzent im reformierten Kontext unterstützt, der vor allem mit Theodor Bibliander verbunden ist. Er studierte intensiv das Arabische und legte mit seiner kommentierten KoranÜbersetzung ein Werk vor, das trotz apologetischer Absicht die vielfachen Bezüge zwischen Koran und Bibel zeigt. Dahinter steht auch das Bemühen, die Vorstellungen des Anderen kennen und verstehen zu lernen. Schließlich gab es in den Gebieten Polen-Litauen unter reformierten Christen die Erfahrung gelebter Toleranz im Zusammenleben mit Muslimen, während Luther und andere Reformatoren keine persönlichen Berührungspunkte mit Muslimen hatten, sondern sie allein als Bedrohung wahrnahmen. 3 Reformatorische Einsichten im Gespräch mit Muslimen Im 4. Kapitel des Textes werden die zentralen reformatorischen Einsichten mit der heutigen Situation ins Gespräch gebracht. Orientierung sind hier die fünf soli: Solus Christus, sola gratia, solo verbo, sola scriptura und sola fide. Zur Kontextualisierung dieser bis heute für den Protestantismus prägenden Grundgedanken ist es wichtig zu wissen, dass diese Sätze in erster Linie in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu der damaligen dominierenden Lehre und Praxis der römischkatholischen Kirche formuliert wurden. Deshalb wird besondere Sorgfalt angemahnt, diese Formulierungen in ihrem Kontext zu verstehen und nicht bruchlos auf heutige Fragestellungen zu übertragen, da sowohl der historische als auch der sich bis dahin entwickelte theologische Kontext ein anderer ist. Insbesondere das solus Christus ist in einer religiös pluralen Gesellschaft interpretationsbedürftig. Hier wird auf die EKD-Schrift »Rechtfertigung und Freiheit« verwiesen, die dazu vermerkt: »Die Herausforderung besteht darin, von Christus zu sprechen, aber so, dass dabei nicht der Glaube des anderen abgewertet oder für unwahr erklärt wird. So wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube. Dies darf auf beiden Seiten des Gesprächs anerkannt werden.«12

12 A.a.O., 25, zitiert aus: Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der EKD, Gütersloh 2014, 28. Der vollständige Text auf www.ekd.de.

Reformation und Islam – ganz anders und doch überraschend aktuell

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Auch die Wahrnehmung des Islams durch Luther und andere Reformatoren seiner Zeit kann so auf heute nicht übertragen werden, da sie in Spannung zu einem dialogischen Ansatz stehen. Diese begegnen dem muslimischen Glaubenszeugnis mit Respekt und Achtung, Feindbildern und Verzeichnungen sollen durch diese Haltung und durch die – persönliche – Begegnung abgebaut und verhindert werden. Zurückgewiesen wird hier auch eine pädagogisch-homiletische Instrumentalisierung des Islams als Inhalt von Bußpredigten, sei es als leuchtendes oder abschreckendes Beispiel.13 Dies schließt nicht aus, Positives oder Kritisches im anderen Glauben zu benennen, setzt aber eine ehrliche und tiefgehende Auseinandersetzung und eine nötige Differenzierung voraus. Vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Islamfeindlichkeit ist hier entschieden Position zu beziehen. Eine bruchlose Anknüpfung an die Argumentationsweise aus der Reformationszeit kann gerade in diesem Kontext nicht gelingen. Auch wenn die oben genannten fünf soli der Reformation nicht unreflektiert übertragen werden können, so bieten sie doch theologische Anknüpfungspunkte für den Dialog: Die Einsicht, dass Glaube keine Leistung ist, kann zu Respekt und Achtung anderer Glaubensvorstellungen führen. Allein aus Glauben – allein aus Gnade: Diese Erkenntnis regt zu einem vertieften Gespräch mit Muslimen über den Zusammenhang von Glauben, göttlicher Gnade und menschlichem Handeln an. Schließlich liegt in der Frage des Schriftverständnisses eine weitere Dimension für den Dialog über die je unterschiedliche Bedeutung des Wortes in Christentum und Islam und die Inhalte von Bibel und Koran. 4 Weiterfragen, weiterforschen, weiterdenken Der Entstehungsprozess des Textes war eine spannende Entdeckungsreise, die mit der Veröffentlichung eine Station erreicht hat, aber hoffentlich nicht zu Ende ist. Sehr bald fiel auf, dass sich der Text in einer ersten Fassung fast ausschließlich mit Luther beschäftigte und ein Blick auf die reformierte Tradition nötig war, wenn der Titel denn sachgerecht sein sollte. Dies brachte spannende Erkenntnisse zutage, auch wenn es hier sicher noch vieles zu erforschen gibt. Während im vierten Teil der Ausführungen die reformatorischen Erkenntnisse der fünf Soli zum Ausgangspunkt für den Dialog gemacht werden, fehlt hier 13

A.a.O., 25.

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noch ein entsprechendes Weiterdenken der reformierten Tradition, besonders wenn wir auf Calvins Herangehensweise schauen oder auch auf die Irenik reformierter Theologie der damaligen Zeit. Dies betrifft nicht nur die Schriften der reformierten Theologen der damaligen Zeit. Weitgehend unbekannt und unbeachtet ist bisher das Zusammenleben von Christen verschiedener Konfession, Muslimen und Juden in Gebieten Osteuropas im 16. Jahrhundert. Die sprachlich schwer zugänglichen Quellen mögen ein Hindernis sein, doch auch eine Sicht, die bisher vor allem Westeuropa in den Fokus der Aufmerksamkeit stellt, mag eine Ursache sein. Vor dem Hintergrund der aktuellen europäischen und weltpolitischen Entwicklungen ist es frappierend wahrzunehmen, wie auch heute die Rolle von Muslimen in politischen Konflikten undifferenziert und dämonisierend gewertet wird. Populistische Bewegungen in vielen Ländern Europas beschwören die Gefahr einer islamischen Eroberung von innen herauf und nutzen Ängste und Feindbilder zur eigenen Profilierung und zur Abschottung gegenüber religiösen Minderheiten und Schutzsuchenden. Debatten über angeblich dem europäischen Werte-Konsens unversöhnlich gegenüberstehende islamische Konzepte spalten die Gesellschaft und konstruieren in jedem muslimischen Menschen einen »Anderen«, der aufgrund seines Glaubens nicht dazu gehören kann. Schließlich wird den endzeitlichen, apokalyptischen Vorstellungen extremistischer, sich auf den Islam berufender Bewegungen Glauben geschenkt: Es werden nicht politische Dynamiken für die grausamen und beängstigenden Konflikte untersucht und die religiöse Rhetorik dadurch entzaubert, sondern – ganz im Duktus der Extremisten – die Religion des Islams wird als einfaches Erklärungsmuster für plausibel gehalten. Hier werden Bilder der kollektiven Erinnerung heraufbeschworen und zu neuem Leben erweckt. Auch wenn sich die – religiöse – Weltdeutung zur Zeit der Reformation deutlich von der unseren unterscheidet, so ist es umso erstaunlicher, wie lebendig und für viele Menschen überzeugend solche Deutungen in abgewandelter Form werden können. Frappierend ist schließlich auch die Erkenntnis, dass die schärfsten Kritiker des Islams zur Zeit der Reformation keine Muslime persönlich kannten, sondern von ihnen nur als kriegerische Bedrohung wussten. Die Sicht auf das Zeitalter der Reformation hält uns den Spiegel vor: Umso dringlicher ist es, auf Differenzierung zu drängen, Feindbilder zu dekonstruieren und alle Möglichkeiten der Begegnung und Kooperation mit Muslimen zu nutzen und zu fördern.

II Begründungsansätze des Dialogs

Horst Kannemann

Verheißung für den anderen Theologische Gesichtspunkte des Miteinanders von Juden, Christen und Muslimen1

Einst beredeten sich die, die den Ewigen fürchteten, miteinander. Der Ewige vernahm und hörte es, und es wurde verzeichnet im Buch des Gedächtnisses vor ihm für die, welche den Ewigen fürchteten und seinen Namen achteten. Maleachi 3,16 – Haftara für Schabbat ha-Gadol Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn mit den Prophezeiungen Wer aktuelle Entwicklungen im Verhältnis der jüdischen, christlichen und islamischen Glaubensgemeinschaften beobachtet, kann zwei gegenläufige Tendenzen zur gleichen Zeit wahrnehmen: Es gab und gibt in diesen Glaubensgemeinschaften große Bemühungen um Öffnung für den anderen, um besseres Verstehen und um den Dialog zu Glaubensinhalten wie zu gemeinsamen Anliegen. Aber gleichzeitig zeigen sich verstärkt Wünsche nach Profilierung der eigenen Identität mit einer Abgrenzung vom anderen. Solche Wünsche wollen den Dialog in die Schranken weisen, die die jeweils eigene Identitätsbestimmung setzt. Für den, der in dieser Lage nach einer Fundierung des Dialogs sucht, ist es hilfreich, zurückzuschauen in eine Zeit des Aufbruchs. Das macht die Anliegen und Möglichkeiten deutlicher, die die drei beteiligten Gemeinschaften einbringen. 1 Keine Glaubensidentität ohne den anderen – frühe Antworten auf das Zweite Vatikanische Konzil »Wem gehörst du an? Wo gehst du hin? Und wessen sind diese vor dir her?« Esau wird diese Fragen an seinen Zwillingsbruder Jakob richten. Jedenfalls erwartet das der Bruder, der sich von Esau bedroht sieht bis zur Vernichtung (Genesis 32,18). Erstveröffentlichung in: Dirk Chr. Siedler / Annette de Fallois / Jörgen Klußmann (Hg.), (K)eine Chance für den Dialog? Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft, Berlin 2007, 55–78.

1

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Für Joseph Ber Soloveitchik (1903–1993), in den USA als »The Rav« Autorität der jüdischen Modernen Orthodoxie, waren das im Jahre 1964 die Fragen, die Glaubensgemeinschaften aneinander richten: Welchem historischen Geschick bist du verpflichtet? Welcher Zukunft hast du dich geweiht? Was ist dein Ziel? Wer ist dein Gott? Wonach lebst du? Aber auch die auf Nutzen zielende Frage nach den vor Jakob herziehenden Geschenken: Was bringst du in diese Gesellschaft ein? Der Vortrag braucht nicht auszusprechen, was seine Hörerschaft weiß: Jakob ist Israel und Esau steht in der jüdischen Tradition für Edom, Rom und das Christentum. Israel kommt sehr weit auf Esau zu – aber es bleibt zugleich in einer Distanz, denn es gehört in einer einmaligen und einzigartigen Bundesgemeinschaft allein Gott. Ebenso ist Abraham zugleich »Fremder« und »Beisasse«: ein in Kanaan Lebender eigener Berufung und doch zugleich ein ganz beteiligter, verbündeter Bürger, der hier auch seine Grabstätte kauft (Genesis 23,4). Ebenso ist es schließlich schöpfungsgemäßes Geschick des Menschen, konfrontiert mit dem anderen wahrnehmenden Menschen, mit dem ebenfalls erkennenden Subjekt, was die Bibel von Mann und Frau sagt: Der andere wird ‘ezer kenegdô: Gegenüber und Hilfe, zugleich in der Fremdheit des Anderssein und in der Partnerschaft und Nähe des Aufeinander-Bezogenseins (Genesis 2,18).2 Der Vortrag des Rav ist geprägt von der durch alle Zeiten hindurch erfahrenen Verachtung gegenüber dem Judentum. Er spricht aus: Es kann fruchtbare ›Konfrontation‹ von Judenheit und Christenheit nur geben bei gleichem Recht und voller Religionsfreiheit. Jede Begegnung, in der die Minderheit Objekt der Beobachtung, des Urteils oder der Bewertung durch die Mehrheit wird, fällt hinter die biblisch an Mann und Frau beschriebene Begegnung zurück in ein Herrschaftsverhältnis von Subjekt und Objekt. Israel hat eine bleibende und unaufgebbare doppelte Identität. Es ist im NoahBund der gesamten von Gott gerufenen Menschheit verpflichtet und im Mose-Bund in einer einzigartigen Gottesbeziehung gebunden. So ist Israel sich selbst und allen anderen eine Warnung vor jeder assimilierenden, verallgemeinernden Form der Universalisierung. Eine solche Gemeinschaft distanziert sich von jeder Sicht, in der die eine Gemeinschaft nur der anderen den Weg bereitet, bevor sie abgelöst wird. In dieser konkreten Bestimmung war der Vortrag für die ›centrist orthodoxy‹ der Durchbruch zum Dialog – unbeschadet der Einschränkung, die die ›Soloveitchik-Linie‹ vollzieht, es dürfe nur ein Dialog geführt werden über den Beitrag der Gemeinschaften zur 2

Vgl. Joseph B. Soloveitchik.

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menschlichen Gesellschaft, nicht aber über ihren Glauben. Einige Schüler des Rav und ihm kritisch nahestehende Leser sind überzeugt, dass die Einschränkung seinen eigenen benannten Voraussetzungen und seiner eigenen Praxis nicht entspricht.3 Am 28. Oktober 1965 verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil die »Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen ›Nostra Aetate‹«. Sie spricht im letzten Artikel von einer Absage an Diskriminierung und Gewalt wegen »Rasse«, »Farbe«, Stand oder Religion, ordnet davor das Gemeinsame von Christen und Juden, und davor jeweils nach der geistlichen Nähe zur Kirche Islam, Hinduismus und Buddhismus sowie alle Völker zwischen Schöpfung und Vollendung. Die Erklärung nennt den »Stamm [...] Abrahams«, »alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach« und die Muslime, die sich mühen, auch den »verborgenen Ratschlüssen« Gottes »sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat«.4 Im Januar 1966 veröffentlichte Abraham Joshua Heschel (1907– 1972), der sich später dem Konservativen Judentum zuwandte, seine Antrittsvorlesung am Union Theological Seminary. Wie J.B. Soloveitchik spricht er als ein aus dem Feuer gerissenes Scheit, ein der Vernichtung gerade noch Entgangener. A.J. Heschel, der sich der ganz anderen ›ökumenischen Bewegung des Nihilismus‹ entgegenstellen will, stand dem Konzil durch Begegnungen im Vatikan als engagierter Gesprächspartner zur Verfügung. Seine Vorlesung widmet sich ebenfalls vor allem dem Dialog mit dem Christentum, bezieht aber im Schlussteil auch den Islam ein. Auch er betont: Israel, das Zeugnis für den Gott Abrahams und für das Licht der Mose-Tora, kann nicht ersetzt werden. Eine Welt ohne Israel wäre eine Welt ohne den Gott Israels. Andererseits sind für Juden mit Moshe ben Maimon (Rambam, Maimonides, 1135– 1204) Christentum und Islam als ›Teil von Gottes Erlösungsplan für alle Menschen‹ anzusehen. Nach Jacob Emden (1697–1776) bestehen sie jeweils als ›Gemeinschaft um des Himmels willen‹ und werden – anders als die Sabbatianer – ›bleiben bis zum Ende‹. Es ist Zur Diskussion vgl. aus der Dokumentation des Boston College Center for Christian-Jewish Learning www.bc.edu/research/cjl/meta-elements/texts/center/ conferences/soloveitchik etwa die Beiträge von Michael Wyschogrod und David Rosen sowie Marshall J. Breger, in: Studies in Christian-Jewish Relations 1, 2005–2006, 151–169. http://escholarship.bc.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1017 &context=scjr (10.04.2007). 4 In: Lexikon für Theologie und Kirche. 2. A. [Ergänzungsband], hg. Heinrich Suso Bechter u.a. II, Freiburg i.Br. 1967, 488–495. 3

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Aufgabe von Juden und Christen, trotz ihrer Unterschiede aus ihrer je eigenen Bindung eine religiöse Basis für den Dialog zu finden. Dieser wird auf moralischem und geistlichem Gebiet geführt. Glaube ist die erste Voraussetzung, der er entspringt. Dialog hat die Dimensionen der Lehre, des Glaubens, des Handelns und der transzendenten Bindung etwa in der Bundesgemeinschaft. Juden und Christen entdecken sich in ihrer ›Furcht‹ und ihrem ›Zittern‹, als gerufen zum Lob Gottes und zum notwendigen Tun. Zwischen ihnen sind die Begriffe der Geschwisterschaft angebracht, denn Kindschaft Gottes und Geschwisterschaft hängen nicht ab von ›Fleisch und Blut‹, sondern vom Hören auf den Vater und von der Tat seiner Ehre. Aber Christen und Juden sind auch verbunden durch die Botschaft der biblischen Propheten, wenn sie beide der Gefahr des Hochmuts absagen. Mit den Propheten stehen sie dazu: Religion ist ein Mittel, nicht das Ziel. Die Gleichsetzung von Religion und Gott ist Götzendienst. Gott will in diesem Äon eine Verschiedenheit der Religionen. Die letzte Wahrheit kann von menschlicher Sprache nicht angemessen ausgedrückt werden. Die eine Wahrheit, auch in Gestalt der Tora, kann Menschen nur in einer Vielfalt des Verstehens erreichen. So ist Glaube nie angekommen, sondern bleibt auf einem Pilgerweg. Anfang und Ende alles religiösen Denkens ist die Demut. Sie ist der Test des Glaubens. Es gibt keine Gewissheit ohne Buße. Mit den biblischen Propheten haben dabei die jüdischen Weisen auch Menschen anderer Religionen und Traditionen Gottesfurcht, Heiligkeit und Anteil am Heil zugesprochen.5 Als islamischer Partner nahm auch der Historiker Mohamed Talbi auf das Zweite Vatikanische Konzil hin intensiv die Chance des Gesprächs auf. Sein früher Beitrag »Islam und Dialog«6 geht auf einen Vortrag in Rom zurück und wurde erstmals 1972 in seiner tunesischen Heimat in französischer Sprache veröffentlicht. Auch er drückt die Einsicht aus: »Es gibt nur eine Wahrheit, aber unsere Fähigkeiten zu verstehen, sind zahlreich« (20). Kein »Glaube an Gott hat heute eine andere Wahl, als das Wagnis des Dialogs zu riskieren« (25). Dialog bewirkt für Muslime die Neubelebung ihres Glaubens, denn das ewige Wort Gottes ist »immer und überall hörbar, gegenwärtig und beständig neu«. Es muss »unaufhörlich durch immer neues Infragestellen realisiert werden, [...] mit den Ohren von heute« gehört werden. Ist es nicht die natürliche Berufung einer Religion, fortwährend in der Krise zu sein, der »Spannung 5 6

Vgl. Abraham Joshua Heschel. Vgl. Mohamed Talbi, Dialog.

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und ihrer Überwindung«, die sich dabei ergeben (26)? Das den Islam bewegende »Geheimnis des Konkretwerdens des Wortes Gottes, das wesenseins mit dem göttlichen Sein ist – also ewig – und dennoch herabgekommen (tanzîl) in die Welt der Zufälligkeit und des Irdischen«, ist nicht weniger schwierig als das ihm im christlichen Glauben entsprechende Geheimnis der Menschwerdung Christi und der Erlösung (24). Obwohl M. Talbi eine solche theologische Parallele nicht scheut, sieht auch er – weniger strikt als J.B. Soloveitchik – für den Beginn des Dialogs größere Chancen bei praktischen als bei theologischen Fragen. Nach Sura An-Nahl 16:125 und Al-‘Ankabût 29:46 sind sowohl Dialog als auch Mission Pflicht der Muslime. Die Pflichten lassen sich vereinen »mit dem Respekt vor dem anderen Menschen und den anderen Konfessionen« (4). Dialog ist dabei keine »Kunst des Kompromisses«. Er »verlangt von jedem, ganz [er] selbst zu sein, ohne Streitsucht, aber auch ohne Nachgiebigkeit« (12). Koexistenz ist »die Zusammenarbeit ohne Selbstaufgabe, ohne Verzicht auf die eigene Überzeugung« (13). Entscheidende Antwort auf Nostra Aetate ist die Einsicht: Die dialogische Haltung setzt eine theologische Erneuerung voraus, die dem anderen nicht im Vorhinein das Heil bestreitet. Der Islam behauptet zwar mit Sura Âl-‘Imrân 3:81– 89 »ohne Zweideutigkeit die Universalität seines Wegs zum Heil und lädt alle Menschen dazu ein« (18). Dennoch stellen Korangelehrte von Abû Hâmîd al-Ghazzâlî (1058–1111) zu Muhammad ‘Abdûh (1849–1909) und Rashîd Ridâ (1865–1935) klar: Für Sura Al-Baqara 2:62 werden alle, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, vor Gott nicht traurig sein. Hier fordert der Koran keine Anerkennung des Prophetentums Muhammads (15). Gott kann nicht verwehrt werden, in seiner Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe den Rahmen einer Gemeinschaft zu überschreiten. »Nur außerhalb eines aufrichtigen, glaubenden Herzens« führt solche Einsicht zum Risiko einer Relativierung aller Religionen (19). Vertreter eines missionarischen Islams aufgrund von Sura AnNahl 16:125 war auch Syed Zainul Abedin (1928–1993). Er wurde im noch ungeteilten Indien geboren, lebte vor allem in den USA und gründete 1979 in London das Institute of Muslim Minority Affairs. Er formulierte in einem Beitrag von 1991 die Notwendigkeit, dass Christen und Muslime – bei vorrangigem Beibehalten ihrer religiösen Identität – einander auf religiöse Weise ›in gleicher Würde und Achtung‹ anerkennen. So können sie ein Ziel verfolgen, das die gegenseitige Bestätigung ihrer religiösen Legitimität verlangt. Gegenseitiges Vertrauen kann nur gefördert werden,

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wenn beide verlässlich wissen, dass sie den anderen nicht unter einem noch so gut gemeinten Zweck oder Muster sehen. Den Schritt des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Dialog sieht S.Z. Abedin dabei ›als einen der bedeutendsten Marksteine der Religionsgeschichte der Welt‹ an. Die dialogische Antwort auf ihn ist islamisch in dreifacher Weise begründet: 1. Für den Islam hat der Mensch als Mensch gleiche Würde. 2. Der eine Gott sendet eine einzige Botschaft durch alle Propheten an alle Völker und der Koran ist eine »Bestätigung« (Sura Yûnus 10:36), keine Bestreitung der vorangegangenen Offenbarungen. 3. Schließlich ist Hilfe unter Menschen nach Sura Âl-‘Imrân 3:110 Glaubenspflicht und Glaubensvoraussetzung für den Islam, für die »beste Gemeinschaft«. Da der Islam festhält, dass niemand für einen anderen glauben und vor Gott stehen kann, ist deutlich, dass da‘wa, die Mission, zwar die Aufgabe von Menschen ist, dass aber die Bekehrung, das Gewinnen des Herzens, allein Gottes Bereich ist. Die muslimische Verantwortung endet mit dem Bringen der Botschaft. Bekehrung kann nicht das feststellbare oder messbare Ziel der da‘wa sein. Zur Praxis und Apologetik auch der islamischen Religionsgemeinschaft kommt es kritisch darauf an: Gott garantiert zur Unterscheidung (al-furqân7) zwischen Gutem und Bösen allein den Koran in seiner Unversehrtheit, keinesfalls ein Verhalten von Glaubenden. S.Z. Abedin stellt es als vorbildlich für Muslime dar, wie das Christentum in der Neuzeit seine Kräfte der Kulturkritik und Aufklärung entwickelt hat, vermisst aber auf christlicher Seite die missionstheologische Klarheit, die seiner Einsicht entspricht.8 2 Den anderen mit Gott erkennen – die Aufgabe des Dialogs Die ausgewählten, sich mehrfach inhaltlich begegnenden jüdischen und islamischen Stimmen einer bis auf M. Talbi bereits abgetretenen Generation benennen Grundlagen des Dialogs. Diesen Stimmen ist bewusst: Tragfähig kann nur ein Dialog zwischen eigenständigen Gemeinschaften sein, der jeder beteiligten Gemeinschaft geboten ist aus den Quellen ihres eigenen Glaubens und der von ihr selbst nicht nur pragmatisch, sondern als Vollzug und Gebot ihres Glaubens begründet wird. Das bedeutet, dass jeder Partner den anderen anerkennt: als Glaubensgemeinschaft – also Vgl. Sura Al-Furqân 25:1; außerdem 2:53;21:48 (zur Offenbarung durch Mose und Aaron); 2:185; 3:4; 8:29.41. Nach Theodor Nöldeke / Friedrich Schwally, Geschichte des Qorâns I. 2. A. 1909, Nachdruck Hildesheim 1961, 34, bedeutete das Wort im Aramäischen des Targum Befreiung, Erlösung. 8 Vgl. Syed Z. Abedin. 7

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darin mir gleich –, aber als eine andere Glaubensgemeinschaft, die aus eigenem Recht besteht. Gott erkennt die andere Gemeinschaft an. Er hat eine Verheißung für sie wie für mich. Und ich kann aus meiner Wurzel den anderen in seinem Anderssein bejahen. Jede Gemeinschaft hat so für die andere Gemeinschaft einen Platz im eigenen Glauben. Doch sie vereinnahmt die andere nicht in einem Schema, das dieser als fremdes aufgelegt wird, etwa im Schema der Vorläuferrolle,9 die von der Erfüllung abgelöst und überboten wird. Umgekehrt nehmen wir wahr: Was wir glauben, hat Auswirkungen für das Leben der anderen. Gottes Wort ruft uns auch in dieser Hinsicht zur Selbstprüfung. Dies stellt in der Tat die Neigung in Frage, Absolutheit für sich selbst zu behaupten. Es setzt in Beziehung zum anderen, weil ich mit meiner Gemeinschaft Gott diene und mich so nicht mit Gott verwechseln kann. Es fordert mich vielmehr heraus zu der gelebten Praxis, dass ich nur mit dem anderen den freien, dankbaren Dienst an Gottes Geschöpfen leben kann.10 Juden, Christen und Muslime bringen in ihrem Glauben gemeinsam und auf je eigene Weise die Voraussetzungen für ein solches Verständnis mit. Denn alle drei vernehmen Gott in seinem Wort. Er spricht zu ihnen und ruft sie zur Antwort durch Gebet und Leben. Im Hören auf das Wort Gottes erfahren sich alle drei in unterschiedlicher Weise insbesondere als Kinder Abrahams und als Erben der Zusage, die Abraham empfing. Israel, die jüdische Gemeinschaft, bringt die Unterscheidung der Bundesschlüsse Gottes mit. Es ist im Schöpfungs- und Noah-Bund vor Gott allem Leben verpflichtet und empfängt zugleich im MoseBund eine unverwechselbar eigene Erwählung durch Gott. Israel weiß, dass das Heil aller Völker mit der Tora verknüpft ist, dass Gott aber nicht alle Völker ruft, Teil Israels zu werden. Wenn Israel die Tora lehrt, wird es daran erinnert, dass es kein Lehren ohne Lernen gibt. Das Wissen dieses Volkes von seinem Ursprung im Auszug aus der Fremdheitserfahrung der Sklaverei verweist es schon durch die Bibel hindurch an alle Fremden. Die christliche Ökumene bringt das Wissen mit: Sie hat ihre Wurzel nicht in sich selbst. Sie ist so nicht erste Empfängerin der Verheißung, von der sie lebt. Sie ist vielmehr Miterbin mit Israel. Sie 9 Ahmed Shafaat, in: Islam in a World of Diverse Faiths, ed. Dan CohnSherbok, Houndsmill/Basingstoke, Hampshire 1990, 188–200, 189f, verweist für ein Verhältnis von preparation und confirmation unter den Propheten auf KoranStellen, die nur von dem zweiten genannten Element sprechen. 10 »The dialogue is more than but never less than a mutual recognition of each other’s religious legitimacy« (David Novak, Jewish-Christian Dialogue, New York / Oxford 1989, 56).

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folgt dem Messias Israels als Heiland der Welt und empfängt das Wort Gottes als zuerst durch die Schriften Israels bezeugt. Sie kann daher ihren Glauben und ihre Sendung recht verstanden nur als Teilhaberin im Bund mit Israel leben. Ihre Zugehörigkeit zum gekreuzigten und noch in Herrlichkeit erwarteten Jesus Christus verweist an unter Fremdheit und Diskriminierung Leidende und erinnert sie daran, dass sie selbst auf dem Weg ist. Die islamische ’umma bringt das Zeugnis mit: Der eine Gott hat durch alle Propheten die eine Botschaft bereits zuvor Gemeinschaften gegeben. Die ’umma hat die Einheit der bestätigenden Botschaft empfangen in Erfahrung und Wissen von der Vielheit. Sie ist besonders nachdrücklich gerufen, die Einheit gegen alle Separation zu leben. Die Erfahrung der Fremdheit, die Abraham, Jesus und alle Propheten machten, kennt sie als ihre eigene Urerfahrung in der Einsamkeit und Verfolgung des Propheten Muhammad in Vaterhaus, Verwandtschaft und Vaterstadt. 3 Identität und Orientierung suchen – Entwicklungen im evangelischen Deutschland In Deutschland haben sich die evangelischen Kirchen und die institutionelle Gestalt ihrer Gemeinschaft, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), durch Erarbeitungen auf unterschiedlicher Ebene den Fragen des Dialogs von Juden, Christen und Muslimen gestellt. Die Entwicklung der Stellungnahmen gibt dabei Beispiel für die eingangs genannte Beobachtung: Es steht neu zur Debatte, ob die Identität des christlichen Glaubens durch Dialog wächst und an Erkennbarkeit gewinnt oder ob im Gegenteil dem Bedürfnis zu folgen ist, Identität durch Abgrenzung zu profilieren. Seit den Deutschen Evangelischen Kirchentagen von 1961 an, der ersten von drei vom Rat der EKD herausgegebenen Studien »Christen und Juden« im Jahr 1975 und dem Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland im Jahr 1980 haben sich fast alle Gliedkirchen auf synodaler oder kirchenleitenden Ebene mit ihrer christlichen Identität im Verhältnis zu Israel auseinandergesetzt. Nur zwei weitere Kirchen folgen dabei mit ihren Formulierungen der im rheinischen Text entscheidenden Einsicht, »daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist« (These 4 [4]).11 Im Unterschied zum Zweiten VatiDie Evangelisch-reformierte Kirche und die Evangelische Kirche der Pfalz (die statt des Bundes von der »Verheißungsgeschichte« spricht); vgl. Wolfgang Kraus, in: »... um Seines NAMENs willen«, hg. Katja Kriener / Johann Michael Schmidt, Neukirchen-Vluyn 2005, 12–25.

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kanischen Konzil bezieht keine dieser Erklärungen das Verhältnis zum Islam ein. Erstmals haben nun 2004 und 2006 drei Landessynoden eigene Stellungnahmen zum christlich-islamischen Dialog vorgelegt. Die lippische Synode betont, Glaube befürchte nicht »Eigenes aufzugeben« und könne deshalb »Dialog verwirklichen, der den Partner in seinem Anderssein ernst nimmt«.12 Die in intensiverem Prozess erarbeitete Sicht der nordelbischen Landessynode begründet diesen Dialog im »Gebot der Nächstenliebe« und der kirchlichen »Verantwortung gegenüber der Gesellschaft«, sowie mit der »Möglichkeit, sowohl den Glauben unserer muslimischen Nachbarinnen und Nachbarn besser zu verstehen, als auch zu unserem christlichen Glauben neue Zugänge zu gewinnen und uns der eigenen Identität zu vergewissern«.13 Die württembergische Synode zitiert das Bibelwort »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht ...« zusammen mit der Weisung »Suchet der Stadt Bestes«.14 Ein Feld, auf dem sich die Kirche fast täglich der Auseinandersetzung mit anderen Religionsgemeinschaften stellt, ist der schulische Religionsunterricht. 1994 reihte sich die EKD unter dem Thema »Identität und Verständigung« in die hier vorgestellten Stimmen des Glaubens zum Dialog ein. Sie betont vom Religionsunterricht: »Seine theologische Identität und seine ökumenische Offenheit haben ein und dieselbe Wurzel.« Dass evangelische Identität und Offenheit so voneinander untrennbar sind wie zwei Stämme aus einer Wurzel, beruht auf Grundanschauungen der Reformation: Glaube ist Gottes Werk. Das ist die Begründung der Glaubensfreiheit. Menschliche Beurteilungen des Glaubens können sie nicht berühren. Das Wort Gottes, das den Glauben weckt, muss jederzeit neu verkündet werden. Das schließt unerlässlich die neue Interpretation, das Verständlichmachen für jede Gegenwart ein. Die Kirche erkennt sich als ein Geschöpf des Wortes Gottes, aber gerade so verwechselt sie sich nicht mit dem Wort Gottes. In ihrer konkreten Existenz und gelebten Ausformung des Glaubens ist sie zugleich »fehlbares geschichtliches Werk des Menschen«. Das Bekenntnis Lippische Landeskirche: Gemeinsames finden – Verschiedenes achten, Detmold 2004, 7. 13 In guter Nachbarschaft. Dokumentation der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche zum Thema »Christlich-islamischer Dialog« im Februar 2006, hg. Hans-Christoph Goßmann, Hamburg 2006, 83. 14 Miteinander leben lernen. Evangelische Christen und Muslime in Württemberg. Erklärung der 13. Landessynode vom 14. Juli 2006, hg. Evangelisches Medienhaus GmbH, Stuttgart 2006, 4. 12

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ist zuerst die an Gott gerichtete Antwort auf die Verkündigung.15 Bekennen drückt im Aufeinanderprallen von Überzeugungen die Gültigkeit von Glaubenserfahrungen aus, aber Formen des Wahrheitsanspruchs, die offen oder verdeckt Macht behaupten, würden seinem Wesen widersprechen. Die Grundsätze der Religionsgemeinschaft, mit denen der erteilte Religionsunterricht nach Artikel 7 (3) Grundgesetz übereinzustimmen hat, bedeuten für die evangelische Kirche, dass sie sich in der genannten Weise »unter Gott beugt und ihm allein in Jesus Christus die Ehre gibt«.16 Am 11. September 2000 legte die EKD nach Abschluss eines mühsamen Weges eine Handreichung »Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland«17 vor. Sie bezieht sich mit Zitaten und durchgehenden Stichworten auf die Denkschrift »Identität und Verständigung« und deren Konzept. Für die Handreichung gehört »dialogische Existenz [...] zu den Triebkräften des christlichen Bekenntnisses«. »Die Begegnung mit Andersgläubigen ist« für sie »im Kirchesein selbst verankert und findet ihre Grundlegung in Jesus Christus«. Der Text will »Grund und Art der Begegnung« mit anderen Religionen »im Herzen des christlichen Glaubens selbst« ansiedeln und tut dies in einer auf das islamische Glaubenszeugnis bezogenen lebendigen Auslegung der trinitarischen Lehre. Christen werden gegenüber Muslimen »glaubwürdigere Zeugen und Dialogpartner« sein, je stärker die Begegnung mit diesen sie an das erste Gebot erinnert, damit auch an die Katechismus-Erklärung Martin Luthers (1483–1546): »Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott« (23–26). 2003 legte die Kammer für Theologie der EKD »Theologische Leitlinien« unter dem Titel »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen« vor. Vorwort und Text verweisen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 und darauf, dass das Verhalten der Angehörigen der »anderen Religionen [...] in unserer Gesellschaft als fremdartig wahrgenommen wird«. Nach der Gottvergessenheit der säkularen Gesellschaft trete »Christen und Gemeinden [...] nun auch noch eine konzentrierte religiöse Infragestellung ihres Glaubens gegenüber« (5). Die bisherigen Veröffentlichungen Auch für Juden und Muslime gilt, dass der erste Ort ihres Glaubenszeugnisses das Gebet ist. 16 Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1994, 61–65, Zitate 61.62.63. 17 Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen. Eine Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2000. 15

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»Christen und Juden« sowie »Zusammenleben mit Muslimen« »bedürfen einer sie ergänzenden, sich auf die Fundamente richtenden Perspektive«, um »den Gemeinden mit Orientierungen in diesem Verhältnis zu helfen« (7). Die theologischen Aussagen kommen dabei ohne die in drei Studien »Christen und Juden« benannten gemeinsamen Wurzeln des einen Gottes, der Schrift, des Volkes Gottes, des Gottesdienstes, der Gerechtigkeit und Liebe, der Geschichte und Vollendung aus. Ebenso verzichten sie auf die Erwähnung der Bundsetzungen Gottes, der bleibenden Erwählung Israels und der im Dialog gewonnenen Einsichten, die die Studien erarbeitet hatten. Der Glaube begrüßt nun ausschließlich noch »das Dasein jedes Geschöpfes Gottes und damit auch das Dasein jedes Menschen einer anderen Religion« (12). Im Übrigen nimmt die Christenheit Religionen deshalb »in der Atmosphäre des Evangeliums« wahr, weil Gott »sich seine Geliebten nicht durch die menschlichen Religionen wegnehmen« lässt. Die »Gestalten der praktischen Frömmigkeit von Menschen anderer Religionen [...] sind ja faktisch Ausdruck einer anderen Gotteserfahrung und eines anderen umfassenden Verständnisses der Wirklichkeit« (18). »Die bleibend schmerzende Urform« des Gegensatzes »zu anderen Religionen [...] ist die Ablehnung Jesu Christi als [...] Ereignis der Wahrheit im Judentum« (14).18 Auch 2006 möchte der Rat der EKD mit seiner Handreichung »Klarheit und gute Nachbarschaft« noch einmal gegenüber der vorangegangenen Handreichung »Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland« und nun unter Aufnahme der genannten Leitlinien »im Hinblick auf das spezifisch evangelische Profil einer Theologie, die sich dem Islam zuwendet, weitere Akzente« setzen (12). Denn es sind »weitergehende und vertiefende Orientierungen notwendig« (Vorwort, 8). Die genannten weiteren Akzente bestehen offenbar darin, dass der Text sich zum »absolute[n] Wahrheitsanspruch einer Religion« bekennt. Die Kirche kann nicht »die Wahrheit Gottes relativieren [...] Das bedeutet aber: Während Christen andere Menschen zu der Anerkennung der Wahrheit des dreieinigen Gottes werbend einladen, präsentieren andere Religionen einen anderen Entwurf ihrer Gotteserfahrung und Gottesverehrung. Gott duldet das, indem er den Religionen, die seiner Zuwendung zu uns Menschen in Jesus Christus widersprechen, Raum und Zeit gibt, um seine Liebe kennen zu lernen [...] Wahre Toleranz gedeiht nach evangelischer Bezeugung nur im Vertrauen auf die konkrete Wahrheit Gottes« (16f). M. Luthers genannte Katechismus-Erklärung wird erneut zitiert, jetzt jedoch mit der inhaltlich nicht weiter 18

EKD-Text 77, hg. Kirchenamt der EKD, Hannover 2003.

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erläuterten Feststellung: Christen werden ihr Herz »schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren« (19).19 Der Aufbau der beiden letztgenannten Texte zeigt: Ihr wesentliches Interesse sind Anfragen an Muslime auf dem Hintergrund beklagter Mängel in der gesellschaftlichen Integration. Wieweit die Anfragen eine hilfreiche Reaktion auf die Erschütterung durch den internationalen Terrorismus sind, wird nicht erörtert. Die damit verbundenen Versuche, evangelisches Profil zu erweisen, gehen aber hinter die für Dialog notwendige Grundentscheidung zurück, den anderen in seinem Anderssein zu bejahen. Die bleibende »Urform« der Überwindung von zerstörenden Gegensätzen liegt gerade darin, dass schon Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) das mehrheitliche und »schmerzende« jüdische Nein zum Christus Jesus bejahen konnte.20 Die »wahre Toleranz« an das eigene Bekenntnis zu binden sowie einen in den genannten Texten sonst nicht erhobenen21 absoluten Wahrheitsanspruch nun an die eigene Gemeinschaft zu binden, verlässt dieselben Entscheidungen. M. Luthers mutig gewagte Formulierung, dass Vertrauen und Glaube sowohl Gott ›machen‹ und ›konstituieren‹ als auch das Idol, den Abgott,22 kann zurückfallen auf den, der sie gegen andere richtet. 2005 jährte sich zum 40. Mal die Veröffentlichung der Erklärung Nostra Aetate. Jüdischer Redner bei der Feier des Jubiläums im Vatikan war der orthodoxe Rabbiner David Rosen, Mitglied des American Jewish Committee in Jerusalem. Die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit folgten dem neuen Versuch, Identität durch Abweisung des anderen zu stärken, nicht. Sie machten 2007 einen seiner Vorträge in deutscher Sprache zugänglich. D. Rosen distanziert sich von der Vor-Moderne, die Dialog ablehnt, »da es sowieso nur eine Wahrheit gebe, in deren Besitz man selbst sei«, ebenso von der verbreiteten kulturellen Arroganz der Moderne, »zu behaupten, wir seien im Kern alle gleich« und vom postmodernistischen Ansatz, es »sei ein interreligiöser Dialog unmögKlarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der EKD. EKD-Text 86, hg. Kirchenamt der EKD, Hannover o.J. [2006]. 20 »Der Jude hält die Christusfrage offen« (Dietrich Bonhoeffer, Werke 6, München 1992, 95). 21 Nach den theologischen Leitlinien sind Christen davon entlastet, einen solchen Anspruch zu erheben. Ihre Lehre und ihr Leben sind nur »der Versuch, der Erfahrung der Wahrheit Gottes menschlich zu entsprechen« (s. Anm. 16, S. 14f, Zitat: S. 15). 22 »facere et constituere« (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 7. A. Göttingen 1976, 560). 19

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lich, weil die Beteiligten niemals die gleiche Sprache sprechen«. Stattdessen erneuert D. Rosen die Aufgabe, »uns gegenseitig im Lichte unseres je eigenen religiösen Erbes und unserer je eigenen religiösen Lehre zu betrachten«. Lernen heißt »fähig sein, unsere Verschiedenheit sowohl zu würdigen als auch von ihr zu lernen«. Es bedarf zugleich »theologischer Demut« und »Hoffnung«. Die Aufgabe für beide Gemeinschaften heißt sogar, »nicht nur davon auszugehen, dass es einen göttlichen Plan und Zweck in unserer Komplementarität gibt, sondern auch zu verstehen, was Gott uns damit sagen will!« Denn die Bibel spricht von der göttlichen Gegenwart in der Welt und »lehrt uns, dass die Begegnung mit dem Anderen letztlich eine Begegnung mit dem Göttlichen darstellt«.23 4 Verheißung für den anderen – Hinweise aus den Schriften Das auf hohem theologischem Niveau geführte Religionsgespräch am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nutzte als gemeinsame Sprache aller drei Gemeinschaften die aristotelische Philosophie. Es ist implizit und explizit bereits ausgesprochen: Heute gründet die Aufgabe, die eigene Identität gerade in der Wahrnehmung der Identität des anderen neu zu finden, in Bibel und Koran. Damit ist allen Gemeinschaften die kritische, unterscheidende Aufgabe der Auslegung gegeben.24 Es entspricht den Schriften, dass die Gemeinschaften sich als heutige Voraussetzung die Anerkennung der Menschenrechte setzen gemeinsam mit dem Recht der Gesellschaften, in denen sie leben. Sie können nicht den Einsatz aufgeben, 23 David Rosen, Learning From Each Other – A Jewish Perspective, in: International Council of Christians and Jews: Jewish-Christian Relations, www.jcrelations.net/en/? id=2369 (12. April 2007); deutsch: Voneinander lernen – Gedanken aus jüdischer Sicht, in: Redet Wahrheit. Sacharja 8,16, Themenheft 2007, hg. Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit – Deutscher Koordinierungsrat e.V., 36–38. 24 Aussagen und Deutung der Schriften sind: Die Tora ist »nicht im Himmel« (Deuteronomium 30,12; vgl. Römer 10,6–8). Die Tora ist im Himmel (vgl. Mischna Sanhedrin X 1). Die Tora »ist nicht im Himmel«, sie »ist bereits vom Berge Sinaj her verliehen worden« (b Baba Mezia 59b; Ziel dieser Aussage ist, dass die Halakha, die gültige Auslegung und mündliche Tora, auf Erden geschieht; vgl. Jonathan Sacks, The Dignity of Difference. Revised Edition, London / New York 2003, 66). Der Koran ist vom Herrn der Welten herabgesandt, vom vertrauenswürdigen Geist dem Propheten ins Herz gegeben, in deutlicher arabischer Sprache und ist bereits in den Schriften der Früheren (vgl. Sura Ash-Shu’arâ’ 26:192–196). Der Koran ist nicht Gott. Er ist göttliches Wort in menschlicher Sprache, zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort herabgesandt und für menschliche Untersuchung offen (vgl. M. Talbi, in: ders. / Maurice Bucaille, Réflexions sur le Coran, Paris 1989, 48f.). Er ist in Wahrheit herabgesandt, aber nur Gott entscheidet zwischen dem, worin seine Diener uneins sind (vgl. Sura Az-Zumar 39:2.41.46).

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Rechtsgleichheit und Überwindung der Herrschafts- und Gewaltverhältnisse umzusetzen. Auch den Nihilismus sah schon A.J. Heschel unter den Feinden, für die Gottes Verheißung keine Auferstehung kennt. Er schließt den heute ebenfalls globalen Terrorismus ein. Aus christlicher Sicht ist es lohnend, auf die Schriften zu verweisen, aber auch auf jüdische und islamische Stimmen ihrer Auslegung. Die christliche theologische Debatte wird an dieser Stelle nicht entfaltet. Alle Verweise können nur selektiv sein. Sie wollen die unterschiedliche Sendung der Gemeinschaften wahrnehmen mit Hilfe der biblischen Unterscheidung und Zuordnung der Bundesschlüsse.25 4.1 Die Tora und Israel – Licht der Völker Mit dem Wort »So sollt ihr von allen Völkern mein Eigentum sein; denn mein ist die ganze Erde« (Exodus 19,5) nimmt Israel nach Mischna Berakhot 2,2 zuerst das Joch des Himmelreiches auf, nämlich das Zeugnis vom einen Gott in der Heiligung seines Namens, daraufhin dann auch das Joch der Tora. Dieser Mose-Bund aber bestätigt den Abraham- und den Noah-Bund. Jede neue Bundeszusage wird ebenfalls die ergangenen bewahren, aufrichten und vollenden, nicht aber aufheben oder ablösen. 4.1.1 Der Noah-Bund und die Tora Gott hat mit dem gottesfürchtigen Noah und seiner Familie einen Bund geschlossen »zwischen Gott und allem lebenden Wesen und in allem Fleisch, das auf der Erde ist« (Genesis 9,16, vgl. 1–17). »Der Bund soll Zeichen für eine neue Welt sein, die ein Segen werden wird«.26 Diese gesegnete Welt aber ist für die biblische Urgeschichte (Genesis 1–11) keine »universale menschliche Ordnung«, in der »eine einzige Tradition für jedermann verbindlich sein sollte«. Biblisches Denken leitet vielmehr an, »Pluralismus, Vielfalt und Unterschied höher zu schätzen als Einförmigkeit und Gleichheit und [...] die Einmaligkeit von verschiedenartigen Gemeinschaften zu respektieren«.27 Während die Turmbauer von Babel den ersten totalitären Staat errichten wollen, schafft der eine Gott auf Differenziert entfaltet bei Bertold Klappert, in: ders., Miterben der Verheißung, Neukirchen-Vluyn 2000, 348–370; und in: Treue zur Tradition als Aufbruch in die Moderne, hg. Werner Licharz / Wieland Zademach, Waltrop 2005, 188–263. 26 Ernst Ludwig Ehrlich, in: Noah – Allianz unter dem Regenbogen?, hg. Ulrich Dehn, EZW-Texte 163, 2002, 3–4, 4. 27 Suzanne Last Stone, in: Ökumenische Rundschau 52, 2003, 296–318, 301.308. 25

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Erden Vielheit. So sehr Israel sich selbst als Einheit sieht, muss es doch selbst – wie die ganze Menschheit – nach der Auslegung von Naftali Zvi Yehudah Berlin (Netziv, 1817–1893) Raum für Vielheit bieten.28 Auch nach der Erwählung im Sinai-Bund lebt Israel mit Angehörigen anderer Völker zusammen, später als Minderheit unter anderen. Diese Minderheit kann ihre Umgebung anerkennen und den Grundsatz beachten: »Das Staatsgesetz [ist] das Gesetz« (b Baba Bathra 54b) – das Gesetz des Staates, in dem Juden leben. Sie entwickelt ihre Auslegung der mündlichen Tora über Jahrtausende unter dem Druck von Spaltung, Missionsbemühung, Diskriminierung und Gewalt, kommt aber ihrerseits nicht zur Verwerfung, sondern zu der Einsicht: »Menschen aus der Völkerwelt sind nicht der ganzen Tora unterworfen, sondern allein den sieben Noachidischen Geboten«.29 Das Judentum kennt eine theologische Nachbarschaft und eine von der Zugehörigkeit zu Israel unabhängige Gerechtigkeit von Menschen der Völker. Die Gerechten aus den Völkern haben Anteil an der kommenden Welt.30 Ein Beitritt in die jüdische Gemeinschaft wird von ihnen nicht erwartet. Muslime und Christen sind keine Götzendiener. Ihre Gemeinschaften sind für Yehuda Ha-Levi (1075–1141) sogar nur »Vorbereitung und Einleitung für den zu erwartenden Messias [...] Wenn sie ihn aber anerkennen, dann wird alles ein Baum. Dann werden sie den Ursprung verehren, den sie vordem gering geachtet hatten«.31 In der christlich-jüdischen Begegnung haben selbst durch Zeiten der Diskriminierung hindurch immer wieder jüdische Stimmen Christen gewürdigt. Für Jon Douglas Levenson sind Christen eine besondere Gruppe von Kindern Noahs, da ihr Glaube, insofern er ›auf den Gott Israels gerichtet ist [...] eine abrahamische Dimension

28 Vgl. J. Sacks, A Clash of Civilizations?, www.chiefrabbi.org/dd/A_clash_of_ civilisations.pdf (29.10.2004), 59–61; A.J. Heschel, ed. F.E. Talmage, 353, legt Genesis 11,1–9 ähnlich aus. Dem entspricht die umfassende exegetische Untersuchung von Christoph Uehlinger, Weltreich und »eine Rede«, Fribourg/Göttingen 1990; ders., in: Bibel und Kirche 58, 2003, 37–42; vgl. Magdalene L. Frettlöh, Theologie des Segens, 3. A. Gütersloh 1999, 291f. 29 Volker Haarmann, in: Trumah 13, 2003, 155–173, 168. 30 Tosefta Sanhedrin 13,2 (nach Psalm 9,18); b Sanhedrin 105a; vgl. b Avoda Zara 64b. Moshe ben Maimon, Mishne Tora, Melakhim 8,11, geht darüber hinaus, Gerechte aus den Völkern allein aus dem Noah-Bund zu verstehen, indem er die Wahrung der noachidischen Gesetze mit einer anerkennenden Beziehung zur Tora verbindet. 31 Das Buch Al-Chazarî, hg. Hartwig Hirschfeld, (EA 1885) Wiesbaden 2000, 214.

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widerspiegelt‹.32 Der Frage darf nicht ausgewichen werden, ob das Entsprechende nicht auch vom Islam zu sagen ist. 4.1.2 Der Abraham-Bund und die Tora Die eine aus der Menschheit erwählte Abraham-Familie wird für die Bibel zu den Müttern und Vätern Israels, zum Volk der Verheißung Gottes, deren Perspektive alle Familien des Erdbodens einschließt. Für Jonathan Magonet ist Abraham der »Vater eines ganz bestimmten Volkes und zugleich das Urbild einer universalen Menschheit«.33 Abraham, in der Bibel der Segen in Person (Genesis 12,2), ist zudem auch der »Vater eines Gewimmels von Völkern« (Genesis 17,4). Auch Nachbarfamilien, Verwandte empfangen Verheißung und Segen in großer Nähe zum Bund mit dem Volk Gottes. Abrahams Familienangehörige vollziehen als Fremde im Land in weitgehendem Maße Konvivenz und Dialog ohne trennenden religiösen Gegensatz unter den Verwandten. Abraham steht für die Wahrung des Bundes (Exodus 32,13–14). Doch kennt die Hebräische Bibel auch die mögliche Kritik an einer Berufung auf Abraham. Bereits der Prophet Ezechiel vollzieht sie gegenüber Nichtdeportierten, im Land Verbliebenen (Ezechiel 33,24). Für die Mehrheit der Rabbinen, die sich dabei auf einen Vers (Genesis 26,5) beruft, hat Abraham gleichsam als orthodoxer Jude die schriftliche und mündliche Tora gehalten.34 Doch gibt es zugleich Stimmen, nach denen sich seine Gebotstreue auf die noachidischen Gebote bezog, oder auch eine Stimme, die seinen Glauben in den Mittelpunkt stellt.35 4.1.3 Der bestätigte und erneuerte Bund Der in den prophetischen Schriften (2. Samuel 23,5; 2. Chronik 13,5; 21,7; Jesaja 55,3; Jeremia 33,18–22) und im Psalm 89 (4.29.35.40) wörtlich ausgesprochene Bundesschluss Gottes mit David als König und mit Levi als Priester sagt Israel ewigen Bestand zu. Die Prophetie Israels verheißt dem Gottesvolk: »Bald wird mein Heil kommen und meine Gerechtigkeit sich offenbaren« (Jesaja 56,1). Sie hat also den Mut, in Zeiten eines beschwerlichen NeubeVgl. Jon D. Levenson, in: The Idea of Biblical Interpretation, ed. Hindy Najman / Judith H. Newman, Leiden/Boston MA 2004, 5–29, 34. 33 Jonathan Magonet, in: ders., Die subversive Kraft der Bibel, Gütersloh 1998, 35–59, 58. 34 Vgl. Raschis Pentateuchkommentar, hg. Selig Bamberger, 4. A. Basel 1994, z.St. 35 Vgl. b Yoma 28b; J.D. Levenson [Anm. 31], 23.30.33 nennt einerseits Raschis Enkel Samuel ben Meir, andererseits die Mekilta des Rabbi Ishmael Beshallach, 7. 32

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ginns Gott ganz nah in seinem Volk und in seiner Schöpfung zu erwarten und gleichzeitig ihn ganz offenbar zu erwarten. Gottes Gemeinschaftsgerechtigkeit offenbart sich, zentraler Inhalt des Abraham-Bunds (vgl. Genesis 18,19) wie des Mose-Bunds vom Sinai (vgl. Deuteronomium 6,25). In der Ausgießung des Geistes sagt prophetisches Wort einen neuen Bund zu. Er bedeutet eine Neuschöpfung des Menschen im Bund, ein nicht aufhebbares Gottesverhältnis und eine unüberholbare Zukunft (Jeremia 31,31–34, vgl. Ezechiel 36).36 Psalmenfrömmigkeit und jüdische Erneuerungen leben aus entsprechend erfahrener Gewissheit. Gerade als Juda und Israel unterzugehen drohen, nimmt die prophetische Sicht – kritisch für das Gottesvolk – wahr, wie alle Völker im Namen ihres Gottes wandeln (Micha 4,5). Der Gott Israels steht in einer Beziehung zu den Völkern (Amos 9,7) und sein Name ist bei allen groß (Maleachi 1,11). Die Zukunft des Reiches Gottes schließt ein: Alle Völker werden auf die Weisung Gottes vom Zion hören. Sie werden mit einer Stimme den einen Gott Israels verehren. So beziehen sie sich auf den Mose-Bund für Israel und vollziehen ihrerseits Noah-Bund und Abraham-Bund (Jesaja 2,1–4 u.a.; Zefanja 3,9; Sacharja 14,9).37 4.2 Das Neue Testament und der Leib Christi aus den Völkern 4.2.1 Noahs Kinder und Gerechte aus den Völkern Die Unterscheidung der Bundessschlüsse erinnert Christen daran, dass sie als Kinder Noahs dem Bund zwischen Gott und allem lebenden Wesen angehören, den Gott durch seine Strafgerichte hindurch bewahrt. Das warnt sie vor dem Irrweg, den Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) benannt hat: »Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen.«38 Das Neue Testament nennt in der Begegnung mit einem Gottesfürchtigen die Erfahrung aus dem Geist, »dass Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm« (Apostelgeschichte 10,35). Gleichzeitig hält dieselbe neutestamentliche Schrift in der anderen Herausforderung, bei erfahrener Bedrohung von Wahrheit und Leben zum Bekenntnis zu stehen, von Jesus Christus fest: »In keinem anderen ist das Heil« (4,12). Vgl. Werner H. Schmidt, in: Ernten, was man sät, hg. Dwight R. Daniels / Uwe Gleßmer / Martin Rösel, Neukirchen-Vluyn 1991, 161–181, 180f. 37 Vgl. M. Wyschogrod, in: Das Reden vom einen Gott bei Juden und Christen, hg. Clemens Thoma / Michael Wyschogrod, Bern / Frankfurt a.M. / New York 1984, 29–48. 38 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, II.1. 36

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4.2.2 Abraham, Israel und die Völker Paulus erfährt auf der Grundlage des Abraham-Bunds, wie Menschen aus dem Gewimmel von Völkern tatsächlich Anteil gewinnen an der Verheißung und dem Segen. »Mit dem gläubigen Abraham« (Galater 3,9) sind Juden, die dem Glauben Abrahams folgen (Römer 4,12) und an den Christus Jesus Glaubende aus den Völkern (Römer 4,11; Galater 3,29) »Abrahams Kinder«. Sie empfangen die Verheißung (Römer 4,13; Galater 3,29), den Segen (Galater 3,9.14), den Geist (Galater 3,14) und als Kinder ein Erbe (Römer 4,13; Galater 3,18.29). Die Evangelien und Paulus vollziehen ebenso die prophetische Kritik an der Berufung auf die Abrahams- und Isaakskindschaft (Matthäus 3,9; Lukas 3,8; Johannes 8,33–41; Römer 9,6–13). Auch Paulus betont mit Genesis 15,6 – unter der Gefahr des Missbrauchs – einen biblischen Vers für sein Abrahambild. Es ist das Bild dessen, dem allein sein Glaube von Gott zur Gerechtigkeit angerechnet wird – vor der Gabe der Tora und ohne sie. Zugleich kennt aber auch das Neue Testament mit dem Jakobusbrief (2,14–26) eine Sicht, die dem jüdischen Abrahambild näher steht.39 4.2.3 Israels Sinai-Bund, der Christus Jesus und die erwartete Gottesherrschaft Das Aposteldekret der Apostelgeschichte (15,19–21.28f; 21,25), greift für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in einer messianischen Völkergemeinde auf die Bestimmungen für die in Israel lebenden »Fremden« (Leviticus 17–18) zurück.40 Im Horizont des Davids- und Levi-Bundes und des erneuerten Bundes steht Jesu zeichenhafter Weg mit der Tempelreinigung, mit seiner Bezugnahme auf den Menschensohn als Repräsentanten Israels und des Gottesreiches und mit der vorweggenommenen Mahlgemeinschaft am Zion. Im selben Horizont steht auch die Erfahrung der Geistausgießung auf die judenchristliche Gemeinde am Zion zum Fest der Gabe der Tora. Die christliche Gemeinde reiht sich ein in das biblische Beziehungsverhältnis von Israel und den Völkern. Sie tut das mit ihrem Christus-Bekenntnis, mit ihrer Aufnahme der Tora in Bergpredigt und Liebesgebot, im Hören auf die Tora des Geistes (Römer 8,2) und die Tora des Christus (Galater 6,2) und mit ihrer Aufnahme der Psalmen und der prophetischen Schriften.41 Vgl. D.J. Levenson [Anm. 32], 28f. Vgl. Klaus Müller, Tora für die Völker, Berlin 1994, 137–174. 41 Vgl. Bertold Klappert, in: ders. u.a., Jesusbekenntnis und Christusnachfolge, München 1992, 65–95; Matthias Loerbroks, Weisung vom Zion, Berlin 2000. 39 40

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Der Jude Paulus ist überzeugt von Israels Empfang der Bundesschlüsse. Vielleicht nach einem Lernweg seit 1. Thessalonicher 2,14–16 steht er zu der Erwartung, die später auch die Mischna zum Ausdruck bringt: »Ganz Israel wird gerettet werden« (vgl. Römer 9,1–5; 11,26; Mischna Sanhedrin XI 1). Er ringt mit dem Rätsel, dass Israel mehrheitlich nicht Jesus annimmt, der doch für ihn als Messias Israels der Heiland der Welt ist. Er hält dabei fest: Alle Völker werden zum Zion kommen, um dem Gott Israels zu dienen. Dazu ist seine eigene messianische Völker-Mission ein Beitrag. 4.3 Der Koran und die bezeugende Gemeinschaft der Mitte42 Sura Al-Ahzâb 33:7 lautet in der Übertragung von Ibn Rassoul: »Und dann gingen Wir mit den Propheten den Bund (mîthâqahum) ein und mit dir und mit Noah und Abraham und Moses und mit Jesus, dem Sohn der Maria. Und Wir gingen mit ihnen einen gewaltigen Bund (mîthâqan ghalîza) ein, auf daß er die Wahrhaftigen nach ihrer Wahrhaftigkeit befrage.« Unter den unterschiedlichen Reihenfolgen, in denen der Koran Propheten und Gesandte nennt, kann er die biblische Reihenfolge zusammenbringen mit dem Begriff der Verpflichtung, des Beschlusses, des Bundes. Das Verb y-th-q heißt beim ältesten Vorkommen in Sura Al-Fajr 89:26 festbinden, fesseln, eine Bedeutung, die auch als Herkunft für den biblischen berît (Verpflichtung, Bund) diskutiert wurde. Die insgesamt 37 Vorkommen verschiedener Formen von mîthâq sind sonst in großer Mehrzahl substantivisch und der Bibel entsprechend sowohl von Beziehungen unter Menschen gebraucht wie von Beziehungen zu Gott. In einem solchen mîthâq, der von Menschen gebrochen werden kann, steht Gott außer mit den Propheten auch mit der islamischen Gemeinschaft (Sura AlMâ’ida 5:7), mit Israel (5:12f; vgl. 2:83f), mit der Christenheit (5:14), mit allen Schrift-Empfängern (Âl-‘Imrân 3:187; 7:169) oder mit Menschen ohne Nennung einer Zugehörigkeit (Ar-Ra‘d 13:20.25). Auch der etwas häufigere und bis heute mehr alltagssprachliche Begriff ‘ahd für Bund, Entscheidung wird für den Bund Gottes verwendet, so für den Bund mit Abraham (Al-Baqara 2:124). Das Verhältnis von Schöpfung und Bund wird auch von jüdischer und christlicher Theologie bleibend erörtert. Ebenso ist bei der Auslegung des Korans zu diskutieren: Wie weit werden beim sehr verbreiteten Verständnis des Islams als einer zeitlosen Botschaft

42

Vgl. Sura Al-Baqara 2:143.

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und Philosophie des Seins43 wichtige geschichtlich-worthafte Anteile des Korans übergangen? 4.3.1 Der freie Mensch in der Schöpfung Die ältesten Offenbarungen des Korans prägt: Die Welt in Reichtum und Vielfalt enthält Zeichen Gottes. Wie für S.L. Stone als Jüdin entspricht auch für die muslimische Autorin Halima Krausen »der Einheit Gottes« die »Vielfalt in der Schöpfung, speziell der Menschheit ([...] auch in den religiösen Ansichten und Ausdrucksformen), die uns ermöglicht, [...] mit Respekt und Verständnis miteinander umzugehen und womöglich ein Vertrauen zu entwickeln, das unerlässlich ist, wenn wir unsere gemeinsame Verantwortung für diese eine Welt erfüllen wollen«.44 Die Menschheit ist aus einem Wesen erschaffen. Aus oder mit ihm ist dessen Partner erschaffen, damit viele Männer und Frauen sich daraus verbreiten (Sura An-Nisâ’ 4:1; vgl. Al-A‘râf 7:189). Die gesamte Schöpfung ist in Paaren geschaffen (Adh-Dhâriyât 51:49). Auch in der jenseitigen Welt soll keiner ohne seinen Gefährten sein (Al-Baquara 2:25).45 Die Menschen legen Rechenschaft vor Gott ab. Der Koran stellt einen Urvertrag vor. Bei der Entstehung menschlicher Nachkommenschaft fragt Gott den Menschen: »Bin ich nicht euer Herr?« So können sie ihr freies Ja bezeugen und sind bereits auf den Tag der Auferstehung vorbereitet (Sura Al-A‘râf 7:172; vgl. 36:60f: ‘ahd). Hier ist die Freiheit geradezu »die Berufung des Menschen selbst«. M. Talbi sieht sie als »die Religionsfreiheit«. Der Mensch ist bereit, von Gott die amâna anzunehmen, das Treuhänderamt, so sehr das auch »frevelhaft und unverständig« erscheint (Sura Al-Ahzâb 33:72). Es entspricht der Schöpfung und Berufung des Menschen, auf Gott gerichtet zu sein als hanîf, als aus innerstem Wesen Glau43 Betont von Christian W. Troll, in: CIBEDO-Beiträge 1/2006, 9–15, mit einer Tendenz, das christliche Verständnis als Synthese zu sehen, die Gegensätze des jüdischen und islamischen aufhebe. Gedanken, die Anliegen des hier vorgelegten Beitrags entsprechen, deutet Halima Krausen an, indem sie nach einem Verweis auf die Schöpfung mit der Erwählung Adams und Noahs, der Familie Abrahams und der Familie ‘Imrâns (vgl. Sura Âl‘Imrân 3:33f) von einem »Ansatz zu einer Theologie der Religionen« spricht mit den Schritten der Einheit Gottes, des Prophetentums und der Begegnung mit Gott und Seinem Gericht (in: Ernst Ludwig Ehrlich [s.o. Anm. 26], 19–29, hier: 24f.). 44 H. Krausen, ebd. 45 Vgl. 3:15; 4:57; 13:23; 36:54–56; 37:21f; 43:69f, jeweils mit dem Wort zauj; zum ganzen Abschnitt vgl. Amina Wadud-Muhsin, Qur’an and Woman, Kuala Lumpur 1992, 17–28; 54–57. Auch A. Wadud geht nicht davon aus, dass nur Musliminnen und Muslime in der jenseitigen Gottesgemeinschaft sind, auch nicht davon, dass Paare rein muslimisch oder rein christlich gebildet werden.

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bender. Die rechte Religion entspricht Gottes Schöpfung (Sura ArRûm 30:30). Der Mensch ist »Treuhänder der Souveränität«, die bei Gott liegt. »Die Freiheit des Menschen ist nach dem religiösen Verständnis in dem Auftrag der Statthalterschaft Gottes begründet«.46 Der ideale islamische Staat wird nach der Überzeugung, die M. Talbi und Smail Balic (1920–2002) vertreten, als »Nomokratie« vom Gesetz regiert.47 Das islamische Recht kennt die Grundsätze der Billigkeit und der Erleichterung für den Menschen. Es nimmt das Recht der Völker als Brauch (‘urf) und Gewohnheitsrecht (‘âda) auf. Zahlreiche Worte des Korans erkennen: Glaubende der Völker, die Recht tun, Güte und Glauben leben, sind von Gott angenommen.48 Gott erwartet von Juden, Christen und Sabäern »Glauben« – nämlich an Gott und den Jüngsten Tag – und »Gutes tun« (Sura AlBaqara 2:62). 4.3.2 Die Religion Abrahams Frühe koranische Offenbarungen beziehen sich auf die »früheren Blätter« (suhûf) des Abraham und Mose (Sura Al-Ghâshiya 87:18– 19), offensichtlich in Mekka nicht unbekannt. Abraham verkündet nicht Gericht, wie es die anderen Propheten tun. Wie Muhammad ist er auch nicht zu einem bestimmten Volk gesandt. Auch die jüdische Haggada und der Koran entsprechen mit ihrem Abrahambild einem Vers der hebräischen Bibel, denn nach Josua 24,2 verließ Abraham die Welt der Götzen und folgte dem Einen. Abraham, der mit seinen Nachkommen und den Nachkommen Israels Rechtgeleitete und Erwählte (Sura Al-Baqara 2:130; Âl-‘Imrân 3:33–34; Maryam 19:58), ist eine ’umma (Sura An-Nahl 16:120). Er ist also in seiner Person die neue Gemeinschaft in der Welt. Muhammad ruft als Prophet Mekka zur Umkehr. Seine Botschaft bestärkt gerade nicht die stolze Abstammung Mekkas von Abraham.49 Er kann erst in Medina als Apostel des einen Gottes eine Gemeinschaft aufbauen. Dort bekommen Abraham und Ismael als Gründer des Heiligtums ihre Bedeutung und der Islam ist »die ReM. Talbi, in: Freiheit der Religion, hg. Johannes Schwartländer, Mainz 1993, 242–260, 252–260; Zitate S. 252; vgl. S. 260; Smail Balic, in: ders.: Islam für Europa, Köln/Weimar/Wien 2001, 21–28, Zitat 22. 47 Vgl. M. Talbi, a.a.O.., 397–399; Smail Balic, a.a.O., 59–67, 66. 48 Vgl. 2:112; 3:113–115; 4:122.124f; 5:65; 49:13. Unter den Gemeinschaften, die sich nicht dem Islam anschließen, werden Gruppen von der Mehrheit unterschieden, die »besonnen sind«: 15:66. 49 Vgl. Willem A. Bijlefeld, in: The Muslim World LXXII, 1982, 81–94, 93f. 46

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ligionsgemeinschaft eures Vaters Abraham« (Sura Al-Hajj 22:78: millata abîkum Ibrâhîma). 4.3.3 Die Herabsendung des Korans und die anderen Wege und Richtungen Wie Paulus kämpft der Prophet und Gesandte Muhammad mit der Erfahrung, dass die älteren Glaubensgemeinschaften der Botschaft mehrheitlich nicht folgen. Es bestehen Spaltungen und Streit, obwohl es ein und derselbe Gott ist und eine Botschaft durch alle Propheten bestätigt wurde. Nachdem zuvor Offenbarungen äußerten, dass Gott die Entscheidung nur für eine Frist aufgeschoben hat (Sura Ash-Shûra 42:14; Al-An‘âm 6:25), werden in der Sura AlMâ’ida (5) mehrere Wege anerkannt: »Für jeden unter euch haben wir Richtung (shir‘a) und Weg (minhâj) geschaffen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch er will euch in dem, was er euch gegeben hat, prüfen. So wetteifert um die guten Dinge! Zu Gott kehrt ihr allesamt zurück. Da tut er euch kund, worüber ihr stets uneins gewesen seid« (5:48). Bei diesem Wort bleibt es allerdings nicht. Bestimmte jüdische und christliche Lehren sind nicht tragbar und die Abrahamgefolgschaft distanziert sich von den anderen: »Abraham war weder Jude noch Christ, sondern hanîf, Muslim (= gottergeben). Er gehörte nicht zu denen, die Gott Partner beigeben« (Sura Âl-‘Imrân 3:67).50 Die Auslegung steht vor der Frage, was gilt. Ist die bereits genannte Anerkennung derer in allen Gemeinschaften, die glauben und recht tun, aufgehoben? Für eine Mehrheit islamischer Auslegung ist sie in der Tat aufgehoben durch die Offenbarung: »Wer nach einer anderen Religion als dem Islam [...] trachtet, von dem wird sie nicht angenommen werden« (Sura Âl-‘Imrân 3:85). Für diese Sicht sind so durch den Koran »alle vorausgegangenen Bücher Gottes [...] automatisch aufgehoben«.51 Doch hat schon der frühe Exeget und Historiker Abû Ja‘far Muhammad ibn Jarîr at-Tabarî (839–922/923 n.Chr.) klargestellt: Es werden nur Rechtsverpflichtungen aufgehoben und außer Kraft gesetzt, keine Zusagen Gottes.52 Nach den bereits erwähnten Einsichten von M. ‘Abduh und R. Ridâ bis zu dem ägyptischen Juristen Muhammad ‘Imâra besteht die koranische Zusage ausdrücklich auch nach erfolgter Verkündigung des Islams, da sich der Koran Vgl. Fazlur Rahman (1919–1988), in: The Muslim World LXXII, 1982, 1–13, 1–5. Sayyid Abu-l-A’la Maududi (1903–1979), Weltanschauung und Leben im Islam, München 1414/1994, 115; ähnlich Yakub Zaki, in: Islam in a World of Diverse Faiths [Anm. 9], 41–54, 50f. 52 Nach Abdulaziz Sachedina, in: Concilium (D) 30, 1994, 60–265, 262. 50 51

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positiv über Juden und Christen äußert.53 Oder es ist zu erwägen, dass mit Islam »alle Religionen [gemeint sind], die sich seit Adam, dem ersten Menschen und Propheten, an die Offenbarung anlehnen«.54 Der Koran betrachtet sich »nicht als die Schrift [...] welche die jüdisch-christliche Offenbarung außer Kraft setzt«.55 Er »bestätigt alle früheren Offenbarungsschriften, [...] vor allem die Tora und das Evangelium«.56 Er kritisiert, dass Menschen die Botschaft »verrückt« haben (Sura Al-Mâ’ida 5:13). So setzt er sich kritisch auseinander etwa mit denjenigen Erfahrungen mit Christen und den Teilen ihrer Lehre, die ihm nicht vertretbar sind. Er bezeichnet dabei die christologisch-trinitarische Lehre als Übertreibung (AnNisâ’ 4:171), wahrt also im Vergleich zur Sprache der Ablehnung des Polytheismus eine Nähe. Die Kritik kann keine Rücknahme der Zusagen und Offenbarungen Gottes erzwingen. Alle Begriffe des Überholens, der Ablösung, der Rücknahme, der Außerkraftsetzung, der Aufhebung, der Annullierung, mit denen islamische Auslegung auch an christliche Aussagen zum Judentum anknüpft, sind zu hinterfragen. Sura Al-Mâ’ida (5:46.48) ergänzt das Wort bestätigen (musaddiq) mit Gewissheit geben (muhaymin), einem Ausdruck von der Treue Gottes, der biblischem Sprachgebrauch nahe steht. 4.3.4 Kennt der Islam das Anliegen von David- und Levi-Bund und die neue Zusage der Zukunft Gottes? Wie den Gottes-Bund mit Israel kennt der Koran auch die Landgabe an Israel und gebraucht dazu ebenso wie die Bibel einmal die Bezeichnung ›Heiliges Land‹ (vgl. Sacharja 2,12; Sura Al-Mâ’ida 5:21). Er benutzt hierzu den Wortstamm, der nicht für den islamischen abgetrennten Bezirk oder den ehrwürdigen Koran verwendet wird, sondern der dem biblischen Wort für das Heilige entspricht, wie es ausgehend vom Allerheiligsten und dem Tempel bestimmt wird. Der Wortstamm gibt der Stadt Al-Quds (Jerusalem) ihren

Vgl. Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 1990, 282–290; M. Talbi, Dialog, 15–19; A.T. Khoury / Ludwig Hagemann, Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime, Altenberge 1986, 183. 54 Yasar Nuri Öztürk, 400 Fragen zum Islam. 400 Antworten, Düsseldorf 2000, 11. 55 A. Sachedina [Anm. 52], 264; für M. Talbi, Dialog, 19, verwirft Gott nicht, »die in aller Aufrichtigkeit und im guten Glauben [...] andere Wege nehmen, um ihr Heil zu erlangen«. 56 A.T. Khoury, in: Der Koran [Anm. 53] 6, zu 5,48. 53

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Namen. Weitere Stellen sprechen vom ›gesegneten Land‹.57 A.J. Heschel kann Erinnerungen an die praktisch-politisch vollzogene Anerkennung dieser Landgabe vor dem modernen Konflikt nennen. Das frühe Wissen um die göttliche Erwählung dieses Ortes ist erkennbar: Er ist die »erste der beiden Gebetsrichtungen [vgl. Sura Al-Baqara 2:142–150], zweite der beiden Kultstätten, dritter nach den beiden Heiligen Bezirken«. Der Prophet erlebte hier nach der durch Sura Al-Isrâ’ 17:1 angedeuteten Nachtreise seine Himmelreise. Die hier errichtete muslimische Gebetsstätte ersetzte nicht wie in Damaskus die bestehende und zentral gelegene christliche. In islamischer Gebetsrichtung gesehen liegt sie parallel zur Grabeskirche. Sie vollzieht mit dieser den Grundriss des Tempels Israels nach. Ein Teil der Überlieferung sieht hier den Ort der Bindung des Sohnes Abrahams. Sura Al-Hadîd 57:13 als Gotteswort und die ›Kette Salomos‹ im so genannten ›Kettendom‹ als Zeichen der Frömmigkeit bezeugen jeweils: Es handelt sich um einen Ort der Entscheidung und des Erbarmens Gottes.58 Die Botschaft, die der Islam empfängt, ist eine Gabe des »heiligen Geistes« (Sura An-Nahl 16:102), oder des »vertrauenswürdigen Geistes« (Ash-Shu‘arâ’ 26:193). Der heilige Geist hat Jesus bestimmt (Al-Baqara 2:87.253; Al-Mâ’ida 5:110) und Jesus ist von Gottes Geist (An-Nisâ’ 4:171). »Mission«, »Heilsweg« und sich realisierende Gottesherrschaft findet der Islam in der ’umma der Glaubenden als einer geistlichen Gemeinschaft, die die ganze Menschheit meint, hervorgerufen durch das Wort und vereint im Gebet.59 So wie es für Juden und Christen eine Herausforderung des Glaubens ist, den Koran als Gabe des Geistes Gottes und Wort Gottes anzunehmen, ist es für Muslime eine Herausforderung, nicht schon den bestehenden Islam allein als die Vollendung anzusehen, sondern sich selbst zusammen mit anderen in das bleibend Israel verheißene Gottesreich einzureihen. 5 Alltag und Ziel Die Hinweise auf die Schriften machen deutlich: Die Minderheitenreligion Judentum und die Mehrheitsreligionen Christentum und 17:1; 21:71.81; 34:18; 7:137; zur Landgabe vergleiche außerdem 10:93. Vgl. A.J. Heschel, Israel – Echo der Ewigkeit, Neukirchen-Vluyn 1988, 106– 109; Andreas Feldtkeller, Die ›Mutter der Kirchen‹ im ›Haus des Islam‹, Erlangen 1998, 28–93, Zitat 51; Georg Röwekamp, Jerusalem, Freiburg i.Br. 1997, 105–114; zur Bindung des Sohne Abrahams: Reuven Firestone, Journeys in Holy Lands, Albany NY 1990, 107–151. 59 M. Talbi, in: Hören auf sein Wort, hg. Andreas Bsteh, Mödling 1992, 119–150. 57 58

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Islam stehen nicht in symmetrischen Beziehungen zueinander. Vielmehr setzen sie einander voraus. Jede Gemeinschaft, die die Offenbarung vor einer anderen empfangen hat, erlebt die nachfolgende gern als Kränkung. Die nachfolgende ist für sie kein notwendiger Weg mehr, denn für jede Gemeinschaft ist Gott genug. Dennoch kann die frühere Gemeinschaft anerkennen: Auch die neue gibt das Zeugnis weiter vom einen Gott Israels und von der Weisung der Gerechtigkeit unter allen Völkern. Und alle drei sind überzeugt, dass vor Gott ein zeitliches Vor- und Nacheinander nicht das Entscheidende ist. Die nachfolgende Gemeinschaft glaubt gern, aus dem Wort, das sie vernimmt, schon alles über die vorangegangenen zu wissen. Ein unbegreifliches Rätsel ist es für den Apostel Paulus und den rasûl Muhammad, dass die Gemeinschaften, die die Offenbarung empfangen haben, sich mehrheitlich der neuen, vollendenden Geisterfahrung verschließen. Glaubende, die ihrem Zeugnis folgen, brauchen trotz der von beiden gegebenen Antworten schon weit über ein Jahrtausend für die Erkenntnis: Wir selbst können nicht sein ohne Gottes Wort an die, die uns jetzt anders erscheinen. Wir können es nicht sein bis in die Auslegung des Wortes, das wir hören, und bis in unsere gottesdienstliche Gemeinschaft. Wir können selbst nicht unserem Weg folgen ohne den lebendigen Weg, den diese anderen bis heute gehen. Denn die andere Gemeinschaft empfängt auch heute ohne Vorbehalt Gottes Erwählung und Sendung zu ihrem Weg. Mahmoud Ayoub60, geboren im Libanon, dem kleinen Land der vielen Religionen, macht deutlich, wie schwierig, wenn nicht praktisch unmöglich es ist, die Aufgabe des Dialogs zu erreichen. Doch umso deutlicher bleibt er dabei, das ›Langzeitziel‹, die erkannte Aufgabe, zu formulieren: die gegenseitige Anerkennung der Legitimität und Authentizität der religiösen Tradition des anderen – der für sich selbst spricht – als göttlich inspirierter Glaube. Seine Gedanken nennen zuerst den Dialog des Lebens, in dem die Kinder dreier Abraham-Familien mit dem gemeinsamen abrahamischen, prophetischen Ethos und geistlichen Erbe den alltäglichen und gesellschaftlichen Problemen der veränderten modernen Welt begegnen. M. Ayoub verschmäht nicht den akademischen Dialog. Aber er wünscht ihn sich verwandelt auch in einen Dialog des Glaubens. In solchem Dialog teilen Frauen und Männer persönlichen Glauben auch durch Gottesdienst, geistliches Leben und den persönlichen Kampf mit und in Gott. Denn ihre Gemeinschaften sind auf dem Weg zu Gott, der ihr letztes Ziel ist. 60

Mahmoud Ayoub, in: The Muslim World 94, 2004, 313–403.

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Literatur Abedin, Syed Z[ainul], Believers and Promotion of Mutual Trust, in: Munawar Ahmad Anees / Syed Z[ainul] Abedin / Ziauddin Sardar, Christian-Muslim Relations. Yesterday, Today, Tomorrow, London 1991, 36–53. Heschel, Abraham Joshua, No Religion is an Island, in: Union Theological Seminary Quarterly Review 21, Nr. 2/1. 1966, 117–134; auch in: Disputation and Dialogue. Readings in the Jewish-Christian Encounter, ed. Frank Ephraim Talmage, New York 1975, 343–359; auch in: Christianity through Non-Christian Eyes, ed. Paul J. Griffiths, Maryknoll NY 1990, 26–40; auch in: No Religion is an Island: Abraham Joshua Heschel and Interreligious Dialogue, ed. Harold Kasimow / Byron L. Sherwin, Maryknoll NY 1991, 3–22; auch in: Abraham Joshua Heschel, Moral Grandeur and Spiritual Audacity: Essays, ed. Susannah Heschel, New York 1996, 233–250 (online: Alan Creak, University of Auckland, Department of Computer Science www.cs.auckland.ac. nz/~alan/chaplain/Heschel.html 27.03.2007). Rosen, David, Learning From Each Other – A Jewish Perspective, in: International Council of Christians and Jews: Jewish-Christian Relations www.jcrelations.net/en/?id=2369 (12.04.2007); deutsch: Voneinander lernen – Gedanken aus jüdischer Sicht, in: Redet Wahrheit. Sacharja 8, 16. Themenheft 2007, hg. Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit Deutscher Koordinierungsrat e.V., 36–38. Soloveitchik, Joseph B[er], Confrontation, in: Tradition. A Journal of Orthodox Thought 6, 1964, Nr. 2, 5–29; auch in: A Treasury of »Tradition«, ed. Norman Lamm / Walter S. Wurzburger, New York 1967, 55–78 (online: Boston College. Center for Christian-Jewish Learning www.bc.edu/research/cjl/meta-elements/texts/cjrelations/resources/ar ticles/soloveitchik 24.03.2007). Talbi, Mohamed, Islam und Dialog, in: Moslems und Christen – Partner?, hg. Michael Fitzgerald / Adel Th[eodor] Khoury / Werner Wanzura, Graz/Wien/Köln 1976, 143–177; leicht bearbeitet und gekürzt als: Muhammad Talbi: Islam und Dialog. CIBEDO-Dokumentation Nr. 10. 1981 (hiernach wird zitiert).

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Rolle und Veränderungen der Religion im gegenwärtigen Übergang zu transkulturellen Gesellschaften1 »Wenn wir an die Zukunft der Welt denken, so meinen wir immer den Ort, wo sie sein wird, wenn sie so weiter läuft, wie wir sie jetzt laufen sehen, und denken nicht, daß sie nicht gerade läuft, sondern in einer Kurve, und ihre Richtung sich konstant ändert.« Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen (1929)

Eine einfache Frage war für mich vor Jahren Anlass, das Konzept der Transkulturalität auszuarbeiten. Ich hatte den Eindruck, dass unsere geläufigen Kulturbegriffe auf ihren Gegenstand, die heutigen Kulturen, nicht mehr passen. Umgekehrt gesagt: Die zeitgenössischen Kulturen scheinen eine andere Verfassung angenommen zu haben, als unsere Vorstellung von Kultur noch immer behauptet oder suggeriert. Sollte diese Vermutung zutreffen, so gälte es, eine neue Konzeptualisierung von »Kultur« zu erarbeiten. Dies versuche ich unter dem Titel »Transkulturalität« (erstmals ausgearbeitet 1992, dann 1997, 1999 u.ö.). 1 Das moderne Kulturkonzept: Nationale Einzelkulturen 1.1 Vom traditionellen zum modernen Kulturbegriff Was kennzeichnet den herkömmlichen und noch immer weithin geläufigen Kulturbegriff? Er hat sich erst vergleichsweise spät gegen Ende des 17. Jahrhunderts herausgebildet. Vorher hatte sich der Ausdruck »Kultur« seit der Antike stets nur auf spezifische Tätigkeiten oder Bereiche bezogen. So sprach Cicero von der cultura animi, die Patristik propagierte die cultura Christianae religionis, Erstveröffentlichung in: Dirk Chr. Siedler (Hg.), Religionen in der Pluralität. Ihre Rolle in transkulturellen Gesellschaften. Wolfgang Welschs Ansatz in christlicher und islamischer Perspektive, Berlin 2003, 13–47.

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und in der Renaissance traten Erasmus und Thomas Morus für eine cultura ingenii (eine Kultur des erfinderischen Geistes) ein. Der Ausdruck »Kultur« kam Jahrhunderte lang nur in solchen Zusammensetzungen vor. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, bei dem Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf, wurde »Kultur« zu einem Kollektivsingular, der nun auf einmal sämtliche Tätigkeiten eines Volkes oder einer Gesellschaft – von alltäglichen Praktiken bis zu den Höhen von Wissenschaft und Kunst – umfassen sollte. Das ist für den modernen Kulturbegriff charakteristisch. Laut Pufendorf ist »Kultur« die Gesamtheit derjenigen Tätigkeiten, durch welche die Menschen ihr Leben als spezifisch menschliches gestalten – im Unterschied zu bloß tierischer Daseinsfristung (vgl. Pufendorf 2 1684, II 4). Und da diese Unterscheidung schon auf elementarer Ebene beginnt (bereits bei der Fortpflanzung, der Ernährung, dem Wahrnehmen etc.), ist verständlich, dass sich ein so ansetzender Kulturbegriff auf alles wird erstrecken können. Es dauerte dann freilich noch einmal circa einhundert Jahre, bis diese terminologische Neuerung auch zu einer veränderten Konzeption von Kultur insgesamt führte (vgl. Niedermann 1941; Perpeet 1984). Dies geschah durch Herder, und zwar in dessen 1784– 91 erschienenen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Herder 1989). Im Gefolge Herders erlangte dieses moderne Kulturverständnis bis in unsere Tage breite Wirksamkeit. 1.2 Grundzüge des modernen Kulturbegriffs 1.2.1 Noch immer wichtige Errungenschaften Nun meine ich mit meiner eingangs geäußerten Vermutung, dass der moderne Kulturbegriff auf die heutigen Phänomene nicht mehr passt, keineswegs, dass alle Elemente dieses modernen – exemplarisch also des Herderschen Kulturbegriffs – obsolet geworden seien. Beispielsweise halte ich die Orientierung primär an Lebensformen (wie man sie von Herder lernen konnte und durch Wittgenstein erneut vor Augen geführt bekam) statt einer Ausrichtung auf Bildungsgüter oder museumsdienliche Kulturleistungen noch immer für beherzigenswert. Damit hängt ein zweiter Vorteil dieses modernen Kulturbegriffs zusammen: Er schließt die »Alltagskultur« ganz selbstverständlich ein und ist gegen die spätere Gegenüberstellung von »hoher Kultur« und »niedriger Zivilisation« immun (vgl. Perpeet 1984, insbes. S. 369–78). Im Übrigen war Herders Konzept zu seiner Zeit durchaus fortschrittlich und emanzipatorisch – beispielsweise gegen das aufklä-

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rerische Kultur- und Geschichtsverständnis, das die Entwicklung der ganzen Menschheit auf einen einzigen Nenner zu bringen suchte – mit Europa als Maß. Gegen solch gesamtmenschheitliche Homogenisierung war Herders Konzept autonomer Einzelkulturen gerichtet, und Herder war einer der frühesten Kritiker eines Eurozentrismus und ein Anwalt randständiger Kulturen. 1.2.2 Problematische Seiten Aber auf der anderen Seite enthält das Herdersche Konzept auch Elemente, die sich zumindest retrospektiv als höchst problematisch erweisen. Ich nenne drei solcher Bestimmungsstücke, die für Herders Kulturbegriff konstitutiv waren und sich heute als obsolet erweisen: soziale Homogenisierung, ethnische Fundierung und interkulturelle Abgrenzung. Erstens soll eine Kultur das Leben des betreffenden Volkes im Ganzen wie im Einzelnen prägen und jede Handlung und jedes Objekt zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen: Das Konzept ist stark vereinheitlichend. Zweitens soll Kultur immer die Kultur eines Volkes sein; sie stellt – so drückt Herder das aus – »die Blüte« des Daseins eines Volkes dar: Das Konzept ist volksgebunden (Herder 1989, 571). Drittens ergibt sich daraus eine entschiedene Absetzung nach außen; jede Kultur soll, als Kultur eines Volkes, von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden und abgegrenzt sein: Das Konzept ist separatistisch. 1.2.3 Obsoletheit Diese drei Elemente des klassisch-modernen Kulturbegriffs sind mittlerweile unhaltbar geworden. Denn erstens sind moderne Gesellschaften in sich so hochgradig differenziert, dass Einheitlichkeit für sie weder mehr grundlegend noch überhaupt erreichbar ist. T.S. Eliots Neo-Herdersche Aussage von 1948, Kultur sei »die Gesamtform, in der ein Volk lebt – von der Geburt bis zum Grabe, vom Morgen bis in die Nacht und selbst im Schlaf« (Eliot 1967, 29), ist unter gegenwärtigen Bedingungen nur noch ein ideologisches Dekret. Wir verbringen unsere Lebensläufe, unsere Tage und gar unsere Nächte längst nicht mehr alle in der gleichen Weise. So einheitlich lebt man in der Moderne nicht mehr. Moderne Gesellschaften umfassen viele unterschiedliche Lebensformen. Sie sind zum einen vertikal differenziert: Die Lebensformen in einer Arbeitersiedlung, einem Villenviertel und der Alternativszene weisen kaum noch einen gemeinsamen kulturellen Nenner auf. Hinzu kommen horizontale Differenzierungen: Unterschiede von weiblicher und männlicher, heterosexueller, lesbischer oder schwuler Orientierung kön-

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nen drastische Abweichungen in den kulturellen Mustern und Lebensweisen nach sich ziehen. – So zeigt sich schon in diesem ersten Punkt die Inadäquanz des überlieferten Kulturkonzepts: Es vermag der inneren Komplexität moderner Gesellschaften nicht gerecht zu werden, sondern hat auf die interne Pluralisierung nur eine falsche Antwort: die eines Homogenisierungsgebots. Zweitens ist die ethnische Fundierung des klassischen Kulturbegriffs dubios: Herder stellte sich die Kulturen wie geschlossene Kugeln oder autonome Inseln vor, die mit der sprachlichen und territorialen Ausdehnung eines Volkes deckungsgleich sein sollten: »Jede Nation«, erklärte Herder, »hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (Herder 1967, 44f.). Aber spätestens in der Verkoppelung mit politischen Ansprüchen wird diese Vorstellung höchst problematisch. Denn da sich im Allgemeinen die sprachlich-kulturelle und die politisch-geographische Extension eines Volkes nicht decken, verleitet diese Kulturvorstellung dazu, eine solche Deckung real herzustellen. Nach außen geschieht dies durch Annexion, nach innen durch Säuberung. Kugelprämisse plus Reinheitsgebot bilden einen gefährlichen Sprengstoff. Wir alle kennen die bis in unsere Tage reichenden Beispiele. Drittens verlangt das Konzept eine klare Abgrenzung jeder Kultur gegen die anderen Kulturen. Herder sagt: »Alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, strebs an, mache mirs zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet; sie kann gar Verachtung und Ekel werden« (ebd.). Das moderne Kulturkonzept ist durch eine Doppelfigur von Konzentration auf das Eigene und Abwehr des Fremden charakterisiert, es ist ein Konzept innerer Homogenisierung und äußerer Abgrenzung. Zusammengefasst heißt dies: Das klassische Kulturmodell ist nicht nur deskriptiv inadäquat, sondern auch normativ gefährlich und unhaltbar. Wir brauchen ein anderes Kulturkonzept. Welches? 2 Die Konzepte der Multikulturalität und Interkulturalität 2.1 Multikulturalität Manche meinen, wir hätten längst ein passendes anderes Konzept: das der Multikulturalität. Und in der Tat: Indem der Multikulturalismus die Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen innerhalb ein und derselben Gesellschaft ins Auge fasst, scheint er dem Homogenisierungsdilemma nicht mehr ausgesetzt zu sein. Aber ich will zeigen, wie nachteilig auch dieses Konzept noch immer an die über-

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lieferte Kulturvorstellung gebunden bleibt. Der Unterschied ist nur, dass diese Vorstellung jetzt nicht mehr auf die Gesamtgesellschaft, wohl aber weiterhin auf die vielen Partialkulturen innerhalb derselben angewandt wird. Das Bild, das sich der Multikulturalismus von den Einzelkulturen macht, folgt noch immer dem gewohnten Modell: Man denkt die Einzelkulturen weiterhin als homogen und wohlabgegrenzt, also ganz im alten Stile Herders. Auf der Basis eines solchen Verständnisses aber lässt sich in Fragen der Toleranz, der Akzeptanz und der Konfliktvermeidung allenfalls ein Stillhalten auf Zeit, nicht aber eine wirkliche Verständigung oder eine Überschreitung der separierenden Schranken denken oder erreichen. Das Multikulturalitätskonzept hat vielmehr geradezu die Annahme und Hinnahme solcher Schranken zur Basis. Daher kann es – die Verhältnisse in den U.S.A. haben dies seit vielen Jahren gezeigt – sogar zur Rechtfertigung und verstärkten Berufung auf Abgrenzungen herhalten. Das Konzept droht, regressiven Tendenzen Vorschub zu leisten. Man folgt der Maxime, dass Kulturen eigen sein sollen – und das sind sie eben vor allem gegen andere Kulturen und gegen eine gemeinsame Kultur. »Back to the roots« lautet die Zauberformel oder »Nur Stämme werden überleben«. Eben darin schlägt die Erblast des antiquierten Kulturverständnisses durch. Kulturen, die im Prinzip als autonom und kugelartig aufgefasst sind, können einander letztlich nicht verstehen, sondern müssen sich, der Logik dieser Auffassung gemäß, voneinander absetzen, müssen einander ignorieren, verkennen, diffamieren und bekämpfen. Das hatte Herder durchaus hellsichtig zum Ausdruck gebracht, als er sagte, dass derlei Kugeln »sich [nur] stoßen« können (Herder 1967, 46). Das Problem also ist, dass das Multikulturalitätskonzept (bei allen guten Intentionen) begrifflich noch immer die Prämisse des alten Kulturbegriffs – die Unterstellung einer insel- oder kugelartigen Verfassung der Kulturen – mit sich fortschleppt. Solange man aber diese Prämisse teilt, werden die Konflikte zwischen derartigen Kulturen nicht lösbar sein, denn sie entspringen dieser Prämisse. 2.2 Interkulturalität Ein ähnliches Bedenken scheint mir gegenüber dem Konzept der Interkulturalität angezeigt (vgl. Wimmer 1989; Mall/Lohmar 1993). Bei allen guten Intentionen schleppt es auch begrifflich noch immer die Prämisse des alten Kulturbegriffs – die Unterstellung einer insel- oder kugelartigen Verfassung der Kulturen – mit sich fort. Sie bildet geradezu die Ausgangsvorstellung dieses Konzepts: Andere Kulturen sind anders, sind also schwer zu verstehen, man

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sollte sie darob aber nicht ignorieren, sondern einen interkulturellen Dialog zwischen ihnen zustande bringen. Nur: Ein solcher Dialog ist in dem Maße, wie diese Ausgangsvorstellung richtig ist, unmöglich. Denn je mehr die andere Kultur anders ist, desto mehr wird das Verstehen bloß ein scheinbares sein können und in Wahrheit Akte der Aneignung, der Umsetzung ins Eigene darstellen – also just das, was man nicht will. Wird man dieser fatalen Tendenz gewahr, so kurbelt man weitere, tiefere, gesteigerte Verstehensbemühungen (Forschungsprojekte, Kolloquien etc.) an, die jedoch an demselben Problem kranken: Prämissengemäß kann das Andere trotz allen gut gemeinten Bemühens letztlich doch immer nur nach dem eigenen Maßstab verstanden, also missverstanden werden. Dieser Erfolgsverhinderungs-Mechanismus, der der interkulturellen Hermeneutik eingebaut ist, garantiert, dass ihre Bemühungen unerschöpflich sind und dass die Branche daher dauernd Anlass hat, neue Stiftungsgelder einzutreiben – je vergifteter die Erfolgsaussichten, umso beständiger die Konjunktur. Das Interkulturalitätskonzept verfügt durch seinen ersten Zug – die Unterstellung einer ganz anderen, eigenartigen und homogenen Verfasstheit der anderen Kulturen – die Erfolgsunmöglichkeit all seiner weiteren, auf interkulturellen Dialog zielenden Schritte. Mit der These vom Eigencharakter der einzelnen Kulturen schafft man das Problem der schwierigen Koexistenz und strukturellen Kommunikationsunfähigkeit solcher Kulturen. Dieses wird also just auf der Basis des Interkulturalitätskonzepts nicht zu lösen sein. Ebenso wie das Multikulturalitätstheorem geht das Interkulturalitätstheorem nicht die eigentliche Problemwurzel an, sondern operiert auf einer nachträglichen Ebene, gleichsam kosmetisch. – Wenn schon, dann müsste man die multikulturellen wie die interkulturellen Fragen heute von vornherein anders, nämlich im Blick auf die gegenwärtige Durchdringung der Kulturen angehen. 2.3 Resümee Meine Kritik am traditionellen Konzept der Einzelkulturen sowie an den neueren Konzepten der Multi- und Interkulturalität lässt sich folgendermaßen resümieren: Wenn die heutigen Kulturen tatsächlich noch immer, wie diese Auffassungen unterstellen, inselartig und kugelhaft verfasst wären, dann könnte man die Schwierigkeiten ihrer Koexistenz und Kooperation weder loswerden noch lösen. Aber die Beschreibung heutiger Kulturen als Inseln bzw. Kugeln ist deskriptiv falsch und normativ irreführend. Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die Form der Homogenität und Sepa-

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riertheit, sondern sie durchdringen einander, sie sind weithin durch Mischungen gekennzeichnet. Diese neue Struktur suche ich durch den Terminus »Transkulturalität« zu fassen. Er soll darauf hinweisen, dass die heutigen kulturellen Determinanten über den herkömmlichen Kulturbegriff hinaus- und durch die alten Kulturabgrenzungen wie selbstverständlich hindurchgehen. Dabei zielt meine Verwendung des Terminus nicht, wie in einer älteren Tradition üblich, auf transkulturelle Invarianzen. Ich suche mit diesem Terminus vielmehr einer geschichtlichen Veränderung und der Verfassung heutiger Kulturen Rechnung zu tragen (ähnliche Perspektiven bei Hannertz 1992, 265; Serres 1991). 3 Transkulturalität 3.1 Makroebene: der veränderte Zuschnitt heutiger Kulturen Ich will die Idee der Transkulturalität im Folgenden unter fünf Aspekten erläutern. Sie lauten: externe Vernetzung der Kulturen, Hybridcharakter, Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz, transkulturelle Prägung der Individuen sowie Entkoppelung von kultureller und nationaler Identität. Später werde ich ergänzende Aspekte hinzufügen. 3.1.1 Externe Vernetzung der Kulturen Erstens wurde die alt-moderne, die homogenisierende und separierende Idee von Kultur faktisch durch die externe Vernetzung der Kulturen überholt. Zeitgenössische Kulturen sind denkbar stark miteinander verbunden und verflochten. Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Einzelkulturen von einst (der vorgeblichen Nationalkulturen), sondern überschreiten diese, finden sich ebenso in anderen Kulturen. Die Lebensform eines Ökonomen, eines Wissenschaftlers oder eines Journalisten ist nicht mehr einfach deutsch oder französisch, sondern europäisch oder global geprägt. Derlei Veränderungen sind eine Folge von Migrationsprozessen sowie von weltweiten Verkehrs- und Kommunikationssystemen, aber auch von ökonomischen Verbindungen und Abhängigkeiten. Hier spielen auch Fragen der Macht herein – und ebenso das Thema der Globalisierung, auf das ich später eingehen werde. Die Auswirkungen dieser Durchdringung betreffen selbst kulturelle Grundfragen. Heute treten vielfach die gleichen Problem- und Bewusstseinslagen in den angeblich so grundverschiedenen Kulturen auf – man denke etwa an die Menschenrechts-Diskussionen, an die feministische Bewegung oder an das ökologische Bewusstsein.

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Sie bilden mächtige Wirkfaktoren quer durch die Kulturen. Dem alten Kulturmodell und seiner Differenz-Fiktion zufolge wäre dergleichen ganz unmöglich – was umgekehrt die Obsoletheit dieses Modells belegt. 3.1.2 Hybridcharakter Zweitens sind zeitgenössische Kulturen generell durch Hybridisierung gekennzeichnet. Für jede einzelne Kultur sind tendenziell alle anderen Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden. Das gilt auf der Ebene der Bevölkerung, der Waren und der Information. Weltweit leben in der Mehrzahl der Länder auch Angehörige aller anderen Länder dieser Erde; immer mehr werden die gleichen Artikel – wie exotisch sie einst auch gewesen sein mögen – allerorten verfügbar; zudem machen die elektronischen Kommunikationstechniken alle Informationen von jedem Punkt aus identisch verfügbar. Und man täusche sich nicht: Diese Hereinnahme von Gehalten anderer Kulturen findet nicht bloß, wie unentwegt, aber allzu simpel beklagt wird, auf der Ebene von Coca Cola, McDonalds oder CNN statt, sondern sie betrifft sämtliche Dimensionen der Kultur, durchzieht Populärkultur und Hochkultur gleichermaßen. Von Anfang an hat sich die europäische Kunst des 20. Jahrhunderts durch außereuropäische Quellen inspirieren lassen – man denke etwa an Picasso und die afrikanische Plastik oder zuvor schon an Gauguin und Tahiti und später an Cage und das I Ging oder an Messiaen und Indien. Vollends die postmoderne Kunst ist eklatant transkulturell geworden. Zudem betrifft diese Hybridisierung heute die ganze Breite unserer Praktiken – von intellektuellen bis hin zu alltäglichen Vollzügen: Wer seinen rationalen Fähigkeiten aufhelfen will, betreibt auch Meditation, und unser Ernährungs- und Sexualverhalten hat vieles integriert, was früher als schlechthin exotisch galt. Man mag Heilverfahren als Exempel nehmen: Während in asiatischen Ländern die westliche Medizin vordringt, greifen wir immer mehr zu Yoga, Akupunktur oder Quigong. 3.1.3 Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz Infolge der zunehmenden Durchdringung der Kulturen gibt es nichts schlechthin Fremdes mehr. Alles ist in innerer oder äußerer Reichweite. Ebenso wenig gibt es noch schlechthin Eigenes. Authentizität ist weithin Folklore geworden, ist simulierte Eigenheit für andere, zu denen der Einheimische längst selber gehört. Die Rhetorik regionaler Kulturen ist hochgradig simulatorisch und ästhetisch; in der Substanz ist das allermeiste transkulturell be-

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stimmt. Das Regionalspezifische ist zunehmend nur noch Dekor, Oberfläche, ästhetische Inszenierung. Dies ist natürlich einer der Gründe für die heute festzustellende eminente Ausbreitung des Ästhetischen. – Man suche nur einmal einen Tiroler Skiort auf: Das Tirolerische existiert bloß noch als atmosphärische Inszenierung, als Ornament. Die Basisstrukturen hingegen – von den Liftanlagen bis zu den Toiletten – gleichen denen in französischen Skigebieten oder auf internationalen Flughäfen. Auch die Küche ist in bezeichnender Weise verändert: Was einem vorgesetzt wird, sieht zwar wie Tiroler Gröstl, Kasnocken oder Schupfnudeln aus und nennt sich auch so, aber es ist – den internationalen Standards entsprechend – drastisch kalorienreduziert. Kurzum: Die Erscheinung ist noch tirolerisch, in der Substanz aber ist alles verändert. Das angeblich Eigene und Urige ist nur noch Oberflächenanschein. Originalität existiert nur noch als ästhetische Inszenierung. Ich will zwei Beispiele anführen. Zum Potlatsch – diesem Ritual des Tausches und der Verschwendung bei den heutigen Nachfahren der Ureinwohner Nordamerikas – gehören inzwischen vor allem auch Supermarktwaren, Artikel der Telekommunikation und T-Shirts der renommierten Universitäten. Die Vertreter der indianischen Kultur halten es selbst für höchst fraglich, ob ihre Vorfahren in den heutigen Gebräuchen noch eine Fortsetzung der alten Rituale erkennen würden. Aber es stört sie nicht. Sie ergreifen das Fremde als Eigenes. Man sieht: Transkulturalität kann bis in die emphatischsten Identitätsrituale hineinreichen. Aber während diese First Nation People noch um die ursprünglich andere Herkunft der genannten Artikel wissen, scheint dies in Japan oft nicht mehr der Fall zu sein. Fremdes kann dort in der selbstverständlichsten Weise für Eigenes gehalten werden. Als ich in Begleitung von Freunden ein Speiserestaurant betrat, in dem alles genuin japanisch sein sollte, fragte ich sie, ob hier wirklich alles ganz japanisch sei, auch die Stühle, auf denen wir uns gerade niederließen. Sie schienen über die Frage erstaunt, fast verärgert und versicherten mir eilfertig, hier sei alles – auch diese Stühle – ganz japanisch. Aber ich kannte die Stühle: Es handelte sich um das Modell »Cab«, designt von Mario Bellini und hergestellt von Cassina in Mailand. – Nicht, dass europäische Güter sich hier finden, ist das Erstaunliche, sondern dass man sie für Produkte der eigenen Kultur hält, dass Fremdes und Eigenes ununterscheidbar geworden sind, bezeugt die faktische Transkulturalität. Prinzipiell gefasst heißt dies: Die Trennschärfe zwischen Eigenkultur und Fremdkultur ist dahin. In den Innenverhältnissen einer Kultur existieren heute ähnlich viele Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen. Das heißt nicht, dass es

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Eigenes und Fremdes gar nicht mehr gäbe. Aber deren Auffassung ist radikal zu verändern: weg von den nationalen Stereotypen hin zu individueller Eigenheit und Fremdheit. 3.2 Mikroebene 3.2.1 Transkulturelle Prägung der Individuen Dieser Punkt ist mir besonders wichtig: Transkulturalität dringt nicht nur auf der sozialen Makroebene, sondern ebenso auf der individuellen Mikroebene vor. Die meisten unter uns sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Wir sind kulturelle Mischlinge. Zeitgenössische Schriftsteller beispielsweise betonen, dass sie nicht durch eine Heimat, sondern durch Einflüsse verschiedener Herkünfte geprägt sind, etwa durch deutsche, französische, italienische, russische, süd- und nordamerikanische oder persische Literatur. Das gilt heute nicht nur für Vertreter der Hochkultur, sondern zunehmend für jedermann. Seit die Deutschen massenweise in heiße Länder reisen, hat sich, wie Studien zeigen, ihre Einstellung gegenüber früher für unerträglich gehaltenen heißen Sommertagen signifikant verändert; man genießt diese Tage auf einmal. Oder man spreche einmal mit Köchen ganz normaler Restaurants: Sie können einem erklären, wie sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre unser Geschmack verändert hat, wieviel an einst Exotischem heute ganz selbstverständlich für normal gilt. Oder man denke an die Jugend und deren Prägung durch Pop- und Musikkultur: Die Vorbilder lassen sich überhaupt nicht mehr national sortieren. So dringt Transkulturalität heute in der selbstverständlichsten Weise vor und bestimmt die kulturelle Identitätsbildung der Individuen. Die nachfolgenden Generationen werden vermutlich noch stärker transkulturell geprägt sein. Daher ist es ratsam, verstärkt das zu tun, was wohl schon immer sinnvoll war: Sich den Individuen zuzuwenden, ohne sie vorab national oder geographisch zu klassifizieren. Dann wird man feststellen, wie viel ein chinesischer mit einem brasilianischen Intellektuellen gemeinsam hat und wie sehr ein chinesischer Bauer einem in der Uckermark ähnelt. Noch einmal: Intrakulturell bestehen sehr ähnlich geartete und ähnlich viele Unterschiede wie interkulturell. 3.2.2 Entkoppelung von kultureller und nationaler Identität Eine kulturelle Identität solch vielfältiger, gemischter Art kann nicht mehr mit regionaler oder nationaler Identität gleichgesetzt werden. Die Unterscheidung von kultureller Identität einerseits

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und regionaler bzw. nationaler Identität andererseits wird elementar wichtig. Es ist zu einer muffigen Annahme geworden, dass die kulturelle Formation eines Individuums schlicht durch dessen Heimat oder Nationalität bzw. Staatszugehörigkeit bestimmt sein müsse. Die Unterstellung, dass jemand, der einen iranischen oder deutschen Pass besitzt, auch kulturell eindeutig ein Iraner oder Deutscher zu sein habe und dass er, wenn er das nicht ist, ein vaterlandsloser Geselle oder Vaterlandsverräter sei, ist so töricht wie gefährlich. Dagegen ist auf der Entklammerung von staatsbürgerlicher Identität und persönlich-kultureller Identität zu bestehen – zumal in Staaten, die, wie die unseren, die Freigabe der kulturellen Formation zu den Grundrechten zählen. Noch immer ist es zu sehr unser Habitus, bei »Kultur« gleichsam automatisch an »Nationalkultur« zu denken. Sagt man »Kultur«, so geht wie bei einem Bewegungsmelder gleich das Licht »Nation« an, und man blickt dann in diesem Licht auf »Kultur«. Wir haben, wenn wir von deutscher, französischer, japanischer, indischer etc. Kultur sprechen, in Wahrheit Staatsgeographien, also gar nicht eigentlich kulturelle, sondern politische Gebilde im Sinn. Eine Pointe der Entwicklung liegt aber gerade darin, dass sich politische und kulturelle Geographien nicht mehr decken. Es wäre an der Zeit, den genannten Bewegungsmelder abzuklemmen. Zusammengefasst: Die genuin kulturellen Determinanten sind heute – von der Makroebene der Gesellschaft bis zur Mikroebene der Individuen – zunehmend transkulturell geworden. Eine zeitgenössische Erörterung kultureller Fragen wird sich dieser Transkulturalität stellen müssen. Eine zusätzliche begriffliche Klarstellung mag angebracht sein. Die Transkulturalitätsdiagnose bezieht sich auf einen Übergang beziehungsweise eine Phase in einem Übergang. Sie ist eine temporäre Diagnose. Sie nimmt die alte Vorstellung von Einzelkulturen zum Ausgangspunkt, und sie behauptet, dass diese Vorstellung – auch wenn sie vielen immer noch als selbstverständlich erscheint – auf die meisten der heutigen Kulturen nicht mehr zutrifft. Im Unterschied dazu fasst sie eine gegenwärtige und künftige Verfassung der Kulturen ins Auge, die nicht mehr monokulturell, sondern transkulturell ist. Das Transkulturalitätskonzept sucht diese Veränderung begrifflich zu fassen. – Ein Punkt könnte dabei verwirrend erscheinen. Ist es nicht widersprüchlich, dass das Transkulturalitätskonzept, während es einerseits auf das Verschwinden der traditionellen Einzelkulturen hinweist, andererseits gleichwohl fortfährt, von »Kulturen« zu sprechen, ja in gewissem Sinn sogar das Fortdauern solcher Kulturen vorauszusetzen; denn wo sollten die transkulturellen Kombinierer, wenn es solche Kulturen nicht weiterhin gäbe, die Komponenten

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ihrer Mischungen hernehmen? Die Klarstellung fällt leicht. Der Übergangsprozess impliziert beide Momente: die fortdauernde Existenz von Einzelkulturen und den Übergang zu einer neuen, transkulturellen Form der Kulturen. Angesichts dieses Doppelcharakters des Übergangs ist es begrifflich korrekt und sogar notwendig, sich sowohl auf Einzelkulturen alter Art zu beziehen als auch von Transkulturalität zu sprechen. 4 Ergänzungen und Ausblicke Nach dieser generellen Darstellung will ich nun noch einige Details nachtragen und einen Ausblick geben. 4.1 Transkulturalität – schon in der Geschichte Erstens ist Transkulturalität historisch keineswegs völlig neu. Geschichtlich scheint sie vielmehr geradezu die Regel gewesen zu sein – ganz anders, als die vorgeblich historisch argumentierenden Anhänger der herkömmlichen Kulturvorstellung meinen, welche die Transkulturalität von Jahrhunderten übersehen, um statt dessen die erst im 19. Jahrhundert etablierte Fiktion homogener Nationalkulturen für verbindlich zu erklären. Carl Zuckmayer hat in »Des Teufels General« die geschichtliche Transkulturalität wundervoll beschrieben: »[...] stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammen-

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rinnen« (Zuckmayer 1978, 149). – Dies ist eine realistische Beschreibung der historischen Genese von Mitgliedern eines »Volkes«. Sie löst die Homogenitätsfiktion auf. Für jemanden, der die europäische Kunst- und Kulturgeschichte kennt, ist diese historische Transkulturalität ohnehin evident. Die Stile waren länder- und nationenübergreifend, und viele Künstler haben ihre besten Werke fern der Heimat geschaffen. Albrecht Dürer, der als exemplarisch deutscher Künstler gilt, ist erst in Italien er selbst geworden, und er musste Venedig ein zweites Mal aufsuchen, um ganz er selbst zu werden. Ähnliches gilt für andere Kulturen. Beispielsweise wäre es offenbar unmöglich, die japanische Kultur ohne Berücksichtigung ihrer Verflechtungen mit der chinesischen, koreanischen, indischen, hellenistischen und der modernen europäischen Kultur zu rekonstruieren. – Schon historisch trifft Edward Saids Feststellung zu: »Alle Kulturen sind hybrid; keine ist rein; keine ist identisch mit einem ›reinen‹ Volk; keine besteht aus einem homogenen Gewebe« (Said 1996, 24; vgl. Leppenies 1995, 62). 4.2 Kulturbegriffe als Wirkfaktoren bezüglich ihres Gegenstandes Ein weiterer Gesichtspunkt ist ins Auge zu fassen: In kulturellen Fragen ist eine völlig scharfe Trennung zwischen deskriptiven und normativen Aspekten nicht möglich. Kulturbegriffe sind stets mehr als bloß beschreibende Begriffe, sie haben – wie andere Selbstverständigungsbegriffe auch (beispielsweise »Identität«, »Person«, »Mensch«) – Einfluss auf ihren Gegenstand, verändern diesen. Unser Kulturverständnis ist auch ein Wirkfaktor in unserem Kulturleben. Sagt man uns – wie der alte Kulturbegriff es tat –, dass Kultur eine Homogenitätsveranstaltung zu sein habe, so werden wir uns entsprechend verhalten und die gebotenen Zwänge und Ausschlüsse praktizieren. Wir suchen der gestellten Aufgabe Genüge zu tun – und haben Erfolg damit. Sagt man uns (oder den Heranwachsenden) hingegen, dass Kultur gerade auch Fremdes einbeziehen und transkulturellen Komponenten gerecht werden müsse, dann werden wir oder sie diese Aufgabe in Angriff nehmen; und dann werden entsprechende Integrationsleistungen künftig zur realen Struktur der Kultur gehören. In diesem Sinn ist die »Realität« von Kultur immer auch eine Folge unserer Konzepte von Kultur. Daher sollte man sich der Verantwortung bewusst sein, die man mit der Propagierung von Kulturkonzepten übernimmt. Und daher sind kulturbegriffskritische Reflexionen, wie ich sie hier anstelle, zumindest von Zeit zu Zeit nötig. Niemand wird behaupten wollen,

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dass eine Veränderung der Begrifflichkeit eo ipso schon die Wirklichkeit verändere. Das wäre allzu einfacher Idealismus. Aber man sollte umgekehrt nicht übersehen, wie sehr die bewusste und unbewusste Wirksamkeit kultureller Begriffe die kulturelle Wirklichkeit mitprägt. Die subkutane und offiziöse Wirksamkeit des alten Kulturbegriffs – man meint, wie wenn das selbstverständlich wäre, oder erklärt gar ausdrücklich, Kultur habe homogen, national, etc. zu sein – trägt zu Separatismen und Partikularismen der obsoleten Sorte bei. Dagegen ist begriffliche Aufklärungsarbeit und die Entwicklung adäquaterer Konzepte geboten. 4.3 Kulturelle Anschluss- und Übergangsfähigkeit Das Konzept der Transkulturalität zielt auf ein vielmaschiges und integratives, nicht separatistisches und ausgrenzendes Verständnis von Kultur. Es favorisiert eine Kultur und Gesellschaft, deren pragmatische Leistungen nicht in Abgrenzung, sondern in Anschlüssen und Übergängen bestehen. Stets gibt es im Zusammentreffen mit anderen Lebensformen nicht nur Divergenzen, sondern auch Anschlussmöglichkeiten, und diese können entwickelt und erweitert werden, so dass sich eine gemeinsame Lebensform bildet, die auch Bestände einbegreift, die man früher nicht für anschlussfähig gehalten hätte. Solche Erweiterungen stellen heute eine vordringliche Aufgabe dar. Ein Beispiel: Diane Ravitch, eine amerikanische Kritikerin des Multikulturalismus, berichtet von einer schwarzen Läuferin, die in einem Interview sagte, ihr Vorbild sei Michail Baryschnikov; sie bewundere ihn, weil er ein großartiger Athlet sei. Diane Ravitch kommentiert dies folgendermaßen: Michail Baryschnikov »ist nicht schwarz; er ist keine Frau; er ist kein gebürtiger Amerikaner; er ist nicht einmal ein Läufer. Aber er inspiriert sie durch die Art, wie er seinen Körper trainiert und eingesetzt hat.« – Ravitch will auf Folgendes hinweisen: Dem separierenden Denken – bzw. der multikulturellen Doktrin einer cultural correctness – zufolge wäre die Vorbildwahl dieser Läuferin gleich mehrfach unmöglich. Legt man hingegen die Scheuklappen solchen Abgrenzungsdenkens ab, so ist sie ganz selbstverständlich möglich: »[...] wie engstirnig ist es doch zu glauben, daß Leute einzig durch Personen inspiriert werden könnten, die rassisch und ethnisch genau so sind wie sie.« (Ravitch 1990, 354) – Wir können die Enge monokultureller Ideen und Zwänge hinter uns lassen, wir können ein zunehmend transkulturelles Verständnis unserer selbst entwickeln. Ich bin zuversichtlich, dass die nächsten Generationen solche transkulturelle Formen der Kommunikation und Interaktion ausbilden werden.

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4.4 Interne und externe Transkulturalität Im Übrigen scheint, auf der Seite der Individuen, die Anerkennung der eigenen transkulturellen Binnenverfassung eine Bedingung dafür zu sein, auch mit äußerer, gesellschaftlicher Transkulturalität zurechtzukommen. Darauf wurde insbesondere von psychoanalytischer Seite hingewiesen. Hass gegenüber dem Fremden ist oftmals projizierter Selbsthass. Am Fremden lehnt man stellvertretend etwas ab, was man in sich selber trägt, aber nicht zulassen mag; das intern Verdrängte wird extern bekämpft. Julia Kristeva schreibt: »Der Fremde [ist] in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität [...] Wenn wir ihn in uns erkennen, verhindern wir, daß wir ihn [...] verabscheuen« (Kristeva 1990, 11). Sie nennt freilich auch eine Voraussetzung für dieses Erkennen des Fremden in einem selbst: »Die, die ihre Wurzeln niemals verloren haben, scheinen [...] keinem Wort zugänglich, das ihren Standpunkt relativieren könnte. [...] Das Ohr öffnet sich Einwänden nur, wenn der Körper den Boden unter den Füßen verliert. Um einen Mißklang zu hören, muß man leicht ins Straucheln gekommen, schwankend über einen Abgrund gegangen sein« (a.a.O., 26f.). Das klingt vielleicht dramatischer als es ist. Denn wer könnte heute noch so eingebildet sein, seine Wurzeln für die einzig möglichen zu halten? Nicht einmal, um seine eigenen Wurzeln zu schätzen, muss er das tun. Es ist gerade umgekehrt: Die Einsicht in die Spezifität dieser Wurzeln vermag deren besondere Schätzung zu begründen. Aber dann kann man sie nicht zugleich für die besten Wurzeln aller Menschen überhaupt ausgeben (nur dass die meisten anderen nicht das Glück hatten, diese Wurzeln in die Wiege gelegt zu bekommen). Die eigenen Wurzeln sind Wurzeln für einen selbst – nicht für jedermann. Andere können und mögen ihre Wurzeln in der gleichen Weise schätzen. Die Bevorzugung der eigenen Herkunft verlangt logisch zugleich die Anerkennung, nicht jedoch notwendig die Übernahme anderer Herkunftsmöglichkeiten. Das sollte man sich gerade in seinen schwachen Stunden klarmachen, in denen man Gefahr laufen mag, in die Falle von Exklusivitätsansprüchen zu geraten. Gegenüber derlei Versuchungen möchte ich an ein Erbe unserer Tradition erinnern: Im Griechischen bedeutete xenos sowohl der Fremde wie der Gastfreund. Mit anderen Worten: Fremde waren ganz selbstverständlich willkommen. – Wenn man sich schon auf die europäische Tradition beruft, dann bitte auch auf diese.

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4.5 Akzentuierung von Lebensformen und Praktiken (Wittgenstein) In der kulturtheoretischen Reflexion ist heute eine doppelte Verschiebung des Begriffs der »Kultur« festzustellen: Bezüglich des Ganzen zu Transkulturalität, wie hier verfolgt; hinsichtlich des Einzelnen zur Akzentuierung von Praktiken und Lebensformen. Das letztere kann man kurz so ausdrücken: Grußverhalten und andere Kommunikationsformen werden für entscheidender erachtet als Gedichte oder Symphonien. Dahinter stehen Einsichten der Anthropologie und Ethnologie, ferner spielt die allgemeine Zuwendung zu pragmatischen Ansätzen eine Rolle – und gewiss auch, dass das Miteinanderzurechtkommen der Menschen heute (im Kleinen wie im Großen) zum vordringlichen Ziel geworden ist. In diesem Zusammenhang ist ein Anschluss an Wittgensteins Kulturbegriff besonders vielversprechend. Dieser ist von Grund auf pragmatisch angelegt. Wittgenstein zufolge kommt es darauf an, eine gemeinsame Lebenspraxis zu haben. All unser Tun – unser Denken, unser Sprechen, unser soziales Agieren – beruht auf einem Sockel geteilter Selbstverständlichkeiten. Heute erweist sich dieser Sockel – infolge der transkulturellen Durchdringungen – zunehmend als gemischt. Für kulturelle Interaktion kommt es nicht so sehr auf ein Verstehen anderer Menschen oder Kulturen, sondern auf Schnittmengen im Fundus der Selbstverständlichkeiten – der Handlungsweisen, Verkehrsformen, Gesellschaftsauffassungen, Leitbilder der Menschen – an. Verstehensleistungen sind, für sich genommen, nie ausreichend; einerseits drohen sie sich im bekannten hermeneutischen Selbstfesselungszirkel zu verfangen (das hypothetisch Andere erweist sich zumindest zum Teil als ein aneignungsdialektisch konstruiertes Anderes, wofür man dann durch weitere Verstehensbemühungen Abhilfe zu schaffen sucht, bei denen man sich jedoch nur weiter im Zirkel von vorgeblicher Andersheit und faktischer Aneignung bewegt); zudem zehren die Verstehensbemühungen notwendig selbst schon von Gemeinsamkeiten, während sie solche zu erzeugen vorgeben. Daher ist eine Verschiebung des Aufmerksamkeitsmusters geboten: weg von Verstehensfragen hin zu pragmatischen Gemeinsamkeiten. Gerade unter transkulturellen Bedingungen besteht immer eine gute Chance, solche Gemeinsamkeiten nützen zu können, denn die transkulturellen Muster weisen stets zumindest einige Verflechtungen, Überschneidungen und Übergänge auf, die Anschlüsse und Interaktionen ermöglichen. Daher ist eine transkultu-

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relle Kultur von ihrer ganzen Art her für neue Verbindungen und weitere Integrationsschritte offen. 4.6 Religion Ich komme nun zu der Frage der Religion und ihrer Rolle in Bezug auf das Transkulturalitätskonzept: Dabei sind unterschiedliche Aspekte zu unterscheiden. Ich beginne mit dem Aspekt einer – oft behaupteten – Wiederkehr der Religion. Das ist zwar auch ein Dauerthema im 20. Jahrhundert, aber im Moment ist davon verstärkt die Rede. So machen die extremen Postmodernen von einst wie Derrida jetzt Religionsseminare, und in französischen Buchläden findet man auf den Intellektuellen-Tischen fast nur noch Bücher über Religion. Das Thema hat also Konjunktur. Zunächst könnte man sagen: Genau weil die Welt so transkulturell, und das heißt so unübersichtlich geworden ist und viele Menschen daran leiden, weil also den Menschen die Orientierung in dieser immer komplexer werdenden Welt fehlt, schlägt die Stunde der Religion als eines Orientierungsgebers. Diese These hat etwas für sich; wie viel, ist noch auszuloten. Dass viele Menschen die gegenwärtige Situation als eine zunehmende Orientierungslosigkeit empfinden, scheint ein Faktum zu sein, auch wenn es sein könnte, dass sie es so empfinden, weil man ihnen einredet, dass es so sei. Solche Einredungsrhetorik funktioniert auch in der Moderne. Eine andere Konstante sind gegen die Orientierungslosigkeit ausgerufene Einheitsprogramme. Für manch einen ist die Religion ein Strohhalm, zu dem er greift, weil sie Orientierung verspricht, Identität und Klarheit gibt. Manche sagen, in den heutigen Kommunikationsprozessen komme die eigentliche Dimension des Menschen – die tiefen Fragen der Existenz, das Woher, Warum, Wohin – zu kurz, diese Fragen würden sozusagen in unserer Kultur nicht bedient. Die Religion knüpfe da an und biete Verständigung über Grundfragen. Auch deswegen habe Religion Konjunktur, weil diese Transkultur eben auch eine verflachte Kultur sei. Bei dem Punkt »Religion bietet Orientierung und Identität« will ich den Aspekt gesondert ansprechen, dass Religion in den meisten Fällen so etwas wie Gruppenidentität anbietet. Damit meine ich eine Identität, durch die man zu einer Gemeinde gehört, die dann als einzelne wieder Teil einer größeren Gemeinschaft sein kann. Man ist prinzipiell einer Gruppe zugehörig, die nicht national definiert ist. Das ist sehr interessant; man kann sich sozusagen in der Gemeinde in Duisburg aufgehoben fühlen, aber weiß sich zugleich als Mitglied einer Gemeinschaft, die es überall auf der Welt gibt. Ich kenne das von Mitgliedern der Christian Science, die relativ

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starke bzw. für unsere üblichen Verhältnisse sehr starke Auflagen befolgen. Aber diese Menschen wissen sich zugleich als mit Menschen der gleichen Glaubensrichtung in anderen Kontinenten zusammengehörig. Das ist eben nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer Nation, sondern schon zu so etwas wie einem internationalen Netzwerk. Dieser Identitäts-, Gruppen- oder Aufgehobenheitstypus, den die Religionen verkörpern, ist der Struktur nach ganz anders als der alte nationale. Damit ist er sehr viel eher schon transkulturell – womit ich näher an das Thema komme. Auch scheint mir unübersehbar, dass die Bewegung, die ich als Transkulturalisierung beschreibe, Einfluss oder Parallelen im ReDesign von Religionen hat. Beispielsweise scheint es mir so zu sein – wobei ich kein wirklicher Kenner bin –, dass sich die einzelnen Konfessionen und Religionen heutzutage mit den anderen Religionen nicht mehr bloß in abgrenzend-abwehrender Hinsicht, sondern eher so beschäftigen, dass man wissen will: »Was haben die, was wir nicht haben – oder zwar eigentlich haben, aber nicht genügend entwickelt haben, so dass die anderen uns vielleicht eine Hilfe sein könnten, Elemente, die wir in den Hintergrund gedrängt haben, wieder in den Vordergrund zu holen?« Auch ist mein Eindruck, dass selbst Religionen heutzutage stärker synkretistisch werden: Man orientiert sich auch an den Maßstäben dessen, was es sonst noch gibt, und hat das Bemühen, solche Werte auch innerhalb der eigenen Community zur Geltung zu bringen. Das ist anders als früher, wo, nach meiner historischen Kenntnis, das Bemühen immer umgekehrt war, nämlich genau zu zeigen: »Wir haben etwas, was die anderen nicht haben« – wo also der Blick auf die anderen negativ ausgerichtet war. Jetzt hingegen achtet man auf größere Gemeinsamkeiten und Verbindungsfähigkeiten. Man orientiert sich nicht mehr am Kugel-, sondern am Vernetzungsmodell. Denken Sie etwa auch an das Beispiel der Mischehen. Ich habe selber noch erlebt, wie dramatisch es sein konnte, ein Kind einer Mischehe zu sein; das ist heute dahin. Das kann man als Vorteil beschreiben: Man achtet nicht mehr auf das Unwichtige, sondern nur noch auf das Wichtige. Manche beschreiben es natürlich auch als Nachteil, als Schwachwerden der Religionen, als Profilverlust und dergleichen. Dazu später mehr. Schließlich habe ich den Eindruck, dass die Religion auch bei nichtreligiösen Menschen eine Art Wiederkehr hat: Viele säkulare Menschen bauen sich ihr eigenes Orientierungsmuster zusammen, indem sie Dinge aufgreifen, die sie für verwendbar halten – es ist wirklich eine Bastelei –; und die Religionen bieten tatsächlich manches, was brauchbar ist, insbesondere in ethischer oder moralischer Hinsicht. Man wird vielleicht die Jungfrauengeburt und derglei-

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chen nicht unmittelbar verwenden können, aber so manche der eher moralischen und nicht dogmatischen Sätze werden auch von nicht ausdrücklich religiösen Menschen aufgegriffen. Es gibt ein Interesse an Religion verstärkt auch bei den Menschen, die sich nicht innerhalb einer religiösen Gemeinschaft bewegen. Vor allem aber sind unsere Religionen längst Doppelreligionen geworden. Ich behaupte, dass niemand mehr – ich beziehe mich jetzt in der Hauptsache auf die westliche Welt – Religion so versteht und praktiziert, wie man das einst in den guten, alten, starken Zeiten getan hat. Die Gläubigen sind allesamt Doppelzüngige und Doppelgläubige geworden. Einerseits haben sie nämlich einen religiösen Glauben; aber sie haben daneben noch einen ganz anderen säkularen und zivilen Glauben. Sie haben die Glaubensartikel des Rechtsstaates. Wenn man von vor fünfhundert Jahren auf diese Situation blicken würde, schiene es einem geradezu unglaublich, was da eingetreten ist: Früher hatte man gemeint, die Religion sage einem alles – und heute meint man, die Religion darf mir alles sagen, was mir nicht von anderswoher, nämlich vom Rechtsstaat, von den Prinzipien der Religionsfreiheit, der Toleranz und der Respektierung der Menschenrechte her, schon gesagt ist. Im Konfliktfall sagen die Westler alle, die liberalistische Seite hat das erste Wort und die Religion hat sich zu fügen. Deswegen sind wir alle so wundervoll überzeugt, dass Fundamentalismus falsch ist, weil wir diesen Doppelglauben haben. Unser Basisglauben – so meine These – ist der Rechtsstaat, und die Religion hat, selbst bei – jedenfalls den meisten – Gläubigen, nach dessen Pfeife zu tanzen. Dieses Muster, dem wir folgen, deckt sich nicht ganz mit der üblichen Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem. Die Religion hat natürlich ihre öffentlichen Seiten, die auch genutzt werden; man fragt religiöse Gruppen in unserem politischen Leben, wenn es um Orientierungsfragen geht. Die religiösen Gruppen werden insofern genau so gefragt wie z.B. die Gewerkschaften, und sie nehmen das auch gerne in Anspruch. Aber es gäbe nie die Möglichkeit zu sagen, man müsse das politische Leben, unsere Grundordnung im Sinne einer der Religionen oder Konfessionen reformieren. Die Grundordnung steht stabil und garantiert Religionsfreiheit. Auf dieser Bühne des liberalen Rechtsstaats dürfen die Religionen dann tanzen, ihre Tanzstücke aufführen, aber die Hacken müssen so dimensioniert sein, dass sie die Bühne nicht beschädigen oder gar zerstören. Worauf ich damit hinweisen will: Alle Einwände und Argumentationen gegen Fundamentalismus beruhen auf dieser Grundannahme. Wenn jemand dieses liberale Axiom nicht teilt, wird man ihm entgegenhalten: »Pluralismus anzuerkennen ist die Voraussetzung von Diskussionen.« So hat

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man freilich auch – als Fundamentalist der eigenen Position – ein absolutes Dekret gesetzt: Ich dekretiere, wann Diskussion möglich ist, nämlich nur dann, wenn du meine liberalistische Position im Grunde teilst – vertrittst du eine andere, so kann ich mit dir nicht diskutieren! Man will heute also Ökumene und die Verträglichkeit der Religionen: Es gibt ja sehr vieles, was in diese Richtung geht, wie die Vorstellung vom Weltethos. Ebenso gibt es die Vorstellung, dass man irgendwie alle Religionen bruchlos ineinander überführen könne; wenn ich es recht verstehe, ist das Bemühen um Interreligiosität ein Versuch, dies zu praktizieren. Ich finde diesen Versuch lohnend. Aber ich will nur andeuten, wo ich Grenzen sehe: Man muss sich den Schärfen und Härten, den Unglaublichkeiten stellen – nicht nur dem, was wir als gute Menschen erwarten und schon akzeptiert haben. So fasziniert es mich immer noch, dass es etwas gibt, was man eine Religion ohne Gott nennt. Man rubriziert den Buddhismus als Religion – aber da gibt es gar keine Gottesvorstellung, die an irgendetwas, was wir unter Gott verstehen, einen Anschluss hat: Einen persönlichen Gott schon gar nicht und nicht einmal ein Substitut wie ein einziges Prinzip ist dort zu finden. Ebenso müsste man sich mit Naturreligionen auseinander setzen. Das ist ein ganz anderer Weg von Religion, der den uns vertrauten Offenbarungsreligionen von ihrem eigenen Design her unzugänglich ist. Schließlich müsste man sich mit Religionen auseinander setzen, die nicht an so etwas wie Schöpfung glauben. Ich finde es immer ein Wunder, wie wir das schaffen, einerseits diesen Schöpferglauben zu haben und andererseits die Evolutionstheorie. Ich meine, die Leute im späten 19. Jahrhundert haben schon gesehen, dass das eigentlich nicht zusammenpasst. Aber einmal angenommen, das ginge zusammen, so gäbe es immer noch ein andere Auffassung, die sagt: »Die Welt ist nicht geschaffen, nicht geworden. Schaut euch bloß die Schwierigkeiten an, die die Physiker haben, wenn sie so etwas wie den Big Bang konstruieren wollen, also einen Anfang der Welt, und sich dabei in Zeitantinomien verrennen. Die einzig sinnvolle Position ist doch zu sagen, die Welt ist ungeschaffen, sie hat keinen Anfang; die Welt ist ewig, genauer gesagt ungeworden.« Das ist die Position, die in dem, was man inzwischen das christliche Abendland nennt, über Jahrtausende gegolten hat: Alle antiken Philosophen haben so gedacht! Das Christentum freilich nicht – mit der Folge von Bücherverbrennungen und dem Verbot von Vertretern dieses Gedankens wie Aristoteles. Man müsste sich mit solchen uns ganz fremden Formen von Religion, auch pantheistischen, auseinander setzen, nicht nur mit den

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uns nahen Offenbarungsreligionen und dergleichen; ebenso mit dem mir aus meiner religiösen Enkulturation ganz überraschenden Verfahren anderer Kulturen, dass man zwei verschiedene Religionen haben kann, etwa eine für fröhliche und eine für traurige Anlässe. Ich will so etwas nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern auch in seiner Möglichkeit und Praktizierbarkeit verstehen. Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, hat mich der Religionsunterricht dazu gezwungen (wie ich dann dreißig Jahre später merkte), ein Postmoderner zu werden. Wir hatten einen fantastischen Religionsunterricht: Katholisch getauft und erzogen, bekamen wir Informationen über andere Religionen. Wir waren begeistert; ich habe das alles – und noch mehr – gelesen, und dann haben wir das diskutiert. Dann kam der Religionslehrer und hat eine Auslegung dessen gegeben, was wir da über Hinayana, Mahayana usw. gelernt hatten, nämlich: »Diese anderen Formen sind nicht falsch, da sie etwas Ähnliches haben wie das Unsere, Christliche oder Katholische«, d.h. wir müssen sie anerkennen, weil sie im Grunde so sind wie wir. Nur so ganz haben sie es nicht – also im Maße der Ähnlichkeit erkennen wir es an. Im Übrigen sei das verbindliche christliche Lehre, denn der Kirchenvater Tertullian habe uns ja das Wort gegeben von der anima naturaliter christiana, also: Die Seele des Menschen ist von Natur aus, in ihrem Kern, in ihrem innersten Design, christlich. Meine Gegenfrage war: Müsste man nicht im gleichen Sinne, also mit genau dem gleichen Recht dann auch sagen können, anima naturaliter buddhiniana, o.Ä.: Warum denn christiana? Besser gefällt mir dann doch die negative Theologie. So wie ich sie verstehe, vertritt sie seit dem Mittelalter den Gedanken: Was eigentlich die göttliche Dimension ist, können wir zwar einigermaßen ausbuchstabieren, aber nur so, dass – und jetzt kommt das Prinzip – die Differenz immer größer ist als die Identität oder die Nichtähnlichkeit größer ist als die Ähnlichkeit. Das heißt, dass man einen ganz starken Vorbehalt gegenüber den eigenen Ausformulierungen des religiösen Prinzips haben muss. Man weiß also in dieser Theologie, dass, wie immer wir es ausformulieren, wir es sehr ungenügend erfassen; so ungenügend, dass sozusagen mehr als die Hälfte nicht zutrifft. Diese Konzeption der negativen Theologie, denke ich, wäre eine, die es erlaubt, auch ganz andere Religionen wirklich als gleichberechtigt anzusehen; also nicht in das klassische Modell zu verfallen, wonach sie gut sind, sofern sie anschlussfähig sind oder Varianten unserer Geschichte darstellen, sondern zu sagen: Auch wir haben nur eine ganz ungenügende Auslegung des religiösen Prinzips, da sind andere, die genauso ungenügend wie unsere – aber nicht ungenügender! – sind. Daraus kann dann fol-

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gen, dass es mir gut tut, diese anderen Auslegungen kennen zu lernen, denn dann weiß ich doch mehr im Kreis der immer noch ungenügenden Auslegungen des religiösen Prinzips. 4.7 Transkulturalität = Uniformierung? Ich komme zu einem letzten und sehr wichtigen Punkt. Man könnte meinen, Transkulturalität sei gleichbedeutend mit Uniformierung. Solche Gleichförmigkeit aber widerstreitet unserer Überzeugung vom Wert kultureller Vielfalt. Wäre angesichts dieser Gefahr nicht ein Eintreten für kulturellen Artenschutz – statt eines Plädoyers für Transkulturalität – geboten? Sehen wir genauer hin: Bedeutet Transkulturalität tatsächlich Uniformierung? Keineswegs. Sie ist, so will ich nun zeigen, sogar innerlich mit der Erzeugung neuer Unterschiedlichkeit verbunden. Man muss nämlich zwei Aspekte unterscheiden. 4.7.1 Schwinden von kultureller Vielfalt alten Typs – aber neue Diversität transkultureller Formationen Erstens ist es in der Tat so, dass kulturelle Vielfalt im alten Sinn abnimmt. Die Kulturen von heute und morgen sind nicht mehr homogen, monolithisch, klar abgegrenzt (weder faktisch noch ihrem Selbstverständnis nach). Das macht gerade den Inhalt der Transkulturalitätsdiagnose aus. Aber selbst bezüglich dieser Uniformierung sollte man nicht nur grau sehen. Während sie einerseits zweifellos kulturelle Verluste nach sich zieht, stellt sich in ihrem Gefolge auch eine größere Kommunikabilität zwischen Menschen unterschiedlicher Herkünfte ein – insbesondere in der jüngeren Generation wird das sichtbar. Man versteht einander selbstverständlicher und kann im Alltag besser miteinander umgehen, als dies in irgendeiner früheren Generation der Fall war. Dies könnten Anzeichen der Bildung einer Weltinnengesellschaft sein. Möglicherweise führen diese Uniformierungsprozesse uns in die Nähe des alten Traums von der Family of Man und einer friedlichen Weltgesellschaft. Dafür könnte man sehr gut einige Verluste an kultureller Vielfalt in Kauf nehmen. Zweitens gilt es aber zu sehen, dass Transkulturalität keineswegs einfachhin Uniformierung bedeutet, sondern mit dem Hervortreten einer neuen Art von Vielfalt einhergeht. Man überlege nur einmal, wie die transkulturellen Identitätsbildungen zustande kommen. Unterschiedliche Gruppen oder Individuen greifen bei der Auswahl ihrer Identitätselemente auf unterschiedliche kulturelle Quellen zurück. Also wird schon das Inventar der entstehenden Identitäts-

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geflechte verschieden ausfallen. Da zudem sogar die gleichen Elemente, wenn man sie unterschiedlich kombiniert, verschiedene Strukturen ergeben, ist insgesamt mit einer beträchtlichen Unterschiedlichkeit dieser transkulturellen Identitätsmuster zu rechnen. Der neue, transkulturelle Mannigfaltigkeitsgrad ist kaum geringer als der traditionell-einzelkulturelle es war. Der Unterschied liegt nur darin, dass die Mannigfaltigkeit jetzt nicht mehr in einem (mosaikartigen) Nebeneinander von Monokulturen besteht, sondern sich aus dem Kontrast transkultureller Identitätsnetze (von Gruppen oder Individuen) ergibt, die nicht mehr durch nationale oder geographische Vorgaben definiert sind. Was den Mechanismus der Bildung transkultureller Identitäten angeht, liegt folgende Unterscheidung nahe: In einer ersten Phase, wo man noch von einer gewissen Existenz von Kulturen im alten Sinne ausgehen kann, werden die Elemente der neu entstehenden transkulturellen Netze von diesen älteren kulturellen Formationen her genommen. In einer nächsten Phase aber, in der die kulturellen Bildungen in sich schon transkulturell sein werden, wird das Weben neuer transkultureller Netze seine Fäden von diesen transkulturellen Formationen nehmen. Man wird dann zwar weiterhin eine Doppelung von Reservoirkulturen einerseits und neuen transkulturellen Netzen andererseits ins Auge zu fassen haben – aber die Reservoirkulturen werden ihrerseits schon transkulturell sein. Man kann die neue Situation so beschreiben: Gleiche oder ähnliche Identitätsnetze können an unterschiedlichen Orten dieser Welt auftreten; zugleich können an diesen Orten ganz andere Identitätsformen existieren. Beides wäre nach dem alten, monokulturellen Modell nicht möglich. Das zeigt noch einmal das Ausmaß der Veränderungen, die mit dem Übergang zu Transkulturalität verbunden sind. Zudem weist diese neue Art kultureller Vielfalt gegenüber der älteren einen großen Vorteil auf. Die transkulturellen Netze sind füreinander anschlussfähiger, als die herkömmlichen kulturellen Identitäten es je waren. Sie beinhalten jeweils Elemente, die auch in anderen Netzen vorkommen und somit Anknüpfungspunkte zwischen den diversen transkulturellen Formen bieten. Daher begünstigt der neue Typ von Unterschieden von seiner Struktur her eher Koexistenz als Konflikt. Die neuen, transkulturellen Identitäten sind von den alten Problemen der separatistischen Differenz frei. 4.7.2 Globalisierung? Abschließend möchte ich mein Transkulturalitätskonzept zum heute vieldiskutierten Konzept der Globalisierung ins Verhältnis set-

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zen: Das Globalisierungskonzept nimmt an, dass die Kulturen weltweit gleich werden. Globalisierung ist ein Konzept von Vereinheitlichung (nach westlichem Muster) – und von Vereinheitlichung allein. Diese Uniformierungsthese hat viele Evidenzen für sich. Dennoch übersieht das Globalisierungskonzept zwei Faktoren, welche seiner simplen Vereinheitlichungsdiagnose entgegenstehen: zum ersten das Wiedererstarken von Partikularismen; und zum zweiten die Neubildung transkultureller Unterschiede inmitten einer vordergründigen Uniformität. Zudem ist keineswegs sicher, dass die Globalisierungsprozesse richtig bestimmt sind, wenn man sie unilinear im Sinn einer Ausbreitung der westlichen Kultur beschreibt. Man müsste zugleich auf die Veränderungen achten, welche die Gehalte der Ausgangskultur bei der Aneignung erfahren. Stephen Greenblatt hat auf solche Ambiguitäten bei der »Assimilierung des Anderen« hingewiesen. Er erläutert dies beispielsweise an der Art, wie die Einwohner Balis mit Videotechnik in rituellen Zusammenhängen umgehen: »Wenn Fernsehen und Video einerseits [...] für den überaus durchdringenden Charakter kapitalistischer Märkte und Technologien zu sprechen schienen, [...] so schien andererseits die Balinesische Aneignung der jüngsten westlichen und japanischen Darstellungstechniken kulturell so eigenwillig und unverwüstlich zu sein, daß unklar war, wer hier eigentlich wen assimilierte« (Greenblatt 1991, 4). Die Figur ist übrigens alt: Während christliche Missionare in Afrika und anderswo häufig dachten, sie hätten die einheimische Bevölkerung »bekehrt«, hatten sich manche der solcherart »Bekehrten« die spirituellen Techniken des Christentums nur angeeignet, um sie in ihr heimisches Religionssystem zu integrieren (vgl. Burke 1998, 268f.). Ähnlich hat auch Ulf Hannerz darauf hingewiesen, dass die uniformen Trends einer »Weltkultur« rasch in nationale oder regionale Kulturprofile eingebunden werden und dabei eine beträchtliche Diversifikation und Umwandlung erfahren (Hannerz 1992, insbes. 264ff.). – »Verwestlichung« kann eine bloß westliche Vordergrundperspektive sein. 4.7.3 Partikularismen Angesichts des Wiedererstehens von Partikularismen weisen die Globalisierungstheoretiker gerne darauf hin, dass es sich dabei um eine Gegenreaktion auf die Globalisierungsprozesse handelt (vgl. Barber 1996; Robertson 1987). Das hat einiges für sich. Aber es bedeutet noch lange nicht, dass diese Tendenz deswegen schon – wie die Globalisierungstheoretiker meinen – vernachlässigt werden dürfte (bzw. dass man sie damit schon theoretisch abgedeckt hätte).

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Man sollte den Wunsch nach besonderer Identität ernst nehmen. Die Menschen setzen sich offenbar gegen ein Aufgehen im Einerlei globaler Uniformierung zur Wehr. Sie wollen nicht bloß universal oder global, sondern auch spezifisch und eigen sein. Sie möchten sich unterscheiden und in einer spezifischen Identität verankert wissen. Dieses Bedürfnis ist legitim. Wenn rabiate Aufklärungs-Universalisten in Partikularismen nur Rückschritt und Gefahr zu erkennen vermögen, so rührt das aus der Undifferenziertheit ihres eigenen Begriffs von Partikularismus her. Sie meinen, Partikularismus müsse immer Geschlossenheit verlangen und die Form eines Ausschließlichkeitsanpruchs haben – also jene gefahrbringende Form, die man zu Recht beargwöhnt. Aber de facto können sich Partikularismen auch ganz anders verstehen: nicht absolutistisch, sondern pragmatisch, nicht geschlossen, sondern offen, situativ empfehlenswert, ohne dass deswegen andere Wege ausgeschlossen oder gar verdammt würden. Gegen Partikularismen dieser Art ist (auch aus recht verstandener universalistischer Perspektive) nicht das mindeste einzuwenden – das Globalisierungskonzept aber hat für sie keinen Raum. Die partikulare Seite kann selbstverständlich noch immer durch die ethnische Zugehörigkeit oder durch die Gemeinschaft bestimmt sein, in der man aufwuchs. Nur muss sie das nicht mehr sein. Dieser klein scheinende Unterschied gibt den Ausschlag. Die Individuen können über ihre Zugehörigkeit zunehmend selbst entscheiden. Personen können ihre wirkliche Heimat weitab von ihrer ursprünglichen Heimat finden. Ubi bene, ibi patria, hieß dies im klassischen Latein. Oder, mit Horkheimer und Adorno: »Heimat ist das Entronnensein« (Horkheimer/Adorno 21984, 97). – Ich sage nicht, dass dies so sein müsste, dass man Heimat nur fernab von der ersten Heimat, den anfänglichen Wurzeln finden könne. Aber ich betone, dass dies ein möglicher und anerkennenswerter Fall ist. In gewissem Sinn ist auch die erste Heimat immer nur als zweite Heimat wirkliche Heimat, erst dann nämlich, wenn man sich (angesichts auch anderer Möglichkeiten) bewusst zu ihr entschieden, sie nachträglich eigens gewählt und bejaht hat. Nur dann ist »Heimat« keine naturwüchsige, sondern eine kulturelle und humane Kategorie. 4.7.4 Transkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede Anders als das Globalisierungskonzept weist das Transkulturalitätskonzept also darauf hin, dass sich inmitten der globalisierenden Uniformierungsprozesse zugleich neue kulturelle Unterschiede bilden. Sein Vorteil besteht, kurz gesagt, darin, dass es nicht ein-,

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sondern zweiäugig ist. Es macht nicht nur die aktuellen Vereinheitlichungsphänomene, sondern ebenso die Prozesse neuer Differenzbildung wahrnehmbar und verständlich. Es fasst die für die Gegenwart charakteristische Doppelfigur von Einheits- und Unterschiedsbildung ins Auge und vermag daher sowohl den globalisierenden wie den lokalisierenden Aspekten der Entwicklung Rechnung zu tragen. Beide werden aus der Logik der transkulturellen Prozesse begreifbar. Mir scheint, dass das Transkulturalitätskonzept gute Chancen hat, dem heutigen Weltzustand und seiner Komplexität gerecht zu werden. Aber ich weiß: Andere sehen das anders. Daher beschränke ich mich abschließend auf eine Empfehlung: Man möge dieses Konzept einmal wie eine Brille erproben. Vielleicht vermag man dann neue Dinge zu sehen und vertraute Dinge anders zu sehen. Dann wird mancher diese Brille aufbehalten, weil er merkt, dass er die Welt jetzt besser versteht. Literatur Barber, Benjamin, Jihad vs. McWorld, New York 1996. Burke, Peter, Eleganz und Haltung, Berlin 1998. Eliot, T.S., Beiträge zum Begriff der Kultur; in: ders., Essays I (Werke 2), Frankfurt a.M. 1967, 9–113. Hannerz, Ulf, Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992. Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Stuttgart 1992. – Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt a.M. 1989. Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 21984. Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.M. 1990. Lepenies, Wolf, Das Ende der Überheblichkeit; in: Die ZEIT, Nr. 48, 24.11.1995, 62. Mall, Ram Adhar / Lohmar, Dieter (Hg.), Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, Amsterdam 1993. Niedermann, Joseph, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941. Perpeet, Wilhelm, Kulturphilosophie um die Jahrhundertwende, in: Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. v. Helmut Brackert u. Fritz Wefelmeyer, Frankfurt a.M. 1984, 364–408. – Zur Wortbedeutung von »Kultur«, in: Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. von Helmut Brackert u. Fritz Wefelmeyer, Frankfurt a.M. 1984, 21–28.

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Ravitch, Diane, Multiculturalism. E Pluribus Plures, in: American Scholar, 1990, 337–354. Robertson, Roland, Globalization Theory and Civilizational Analysis; in: Comparative Civilizations Review 17, 1987, 20–30. Said, Edward W., Kultur und Identität – Europas Selbstfindung aus der Einverleibung der Welt; in: Lettre International 34, 1996, 21–25. Serres, Michel, Le Tiers-Instruit, Paris 1991. Welsch, Wolfgang, Transculturality: The Puzzling Form of Cultures Today; in: Mike Featherstone and Scott Lash (Ed.), Spaces of Culture: City – Nation – World, London 1999, 194–213. – Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen; in: Information Philosophie, Heft 2, 1992, 5–20. – Transkulturalität – Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen; in: Hybridkultur, hg. von Irmela Schneider u. Christian W. Thomsen, Köln 1997, 67– 90. – Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1996. Wimmer, Franz, Interkulturelle Philosophie, Wien 1989, Bd. 1. Zuckmayer, Carl, Des Teufels General, in: ders., Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1978, 93–231.

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»Schöpferischer Dialog« und »universale Offenbarung« Interreligiöser Dialog im Anschluss an Paul Tillich 1 Einleitung Religiöse und interreligiöse Fragestellungen bestimmen die öffentlichen Debatten so sehr, wie es in den letzten Jahrzehnten kaum zu erleben war. Allerdings hat sich die Diskussion auch politisch zugespitzt: Wurde vor 20 Jahren von der »Renaissance der Religion« gesprochen, muss man heute fast von einer »Renaissance des Fundamentalismus« sprechen. Im Islam ist er derzeit am sichtbarsten, aber auch andere Religionen grenzen sich stärker voneinander und auch intern ab und profilieren sich durch Abgrenzung. Die Grenze, ihre Überschreitung und die Rückkehr zum Eigenen, ist das zentrale Thema unserer Zeit: religiös, gesellschaftlich und politisch. In einer Zeit, in der 2015 eine Million Flüchtlinge die Grenze nach Deutschland erreicht haben und auch deutsche Außenpolitik an der Abschottung europäischer Außengrenzen mitwirkt, ist die Frage (inter)kultureller und (inter)religiöser Offenheit von besonderer Bedeutung. Mit den nachfolgenden Ausführungen möchte ich an einen Theologen und Philosophen anknüpfen, der sein Grenzgängertum zwischen den Wissenschaften, sozialen Schichten, politischen Orientierungen und gesellschaftlichen Positionen geradezu zum theologisch-philosophischen Programm gemacht hat: Paul Tillich wurde 1886 im damals brandenburgischen Starzeddel (heute polnisch, 16 km südöstlich von Guben) geboren. Er musste in den ersten Wochen des »Dritten Reiches« in die USA emigrieren und wandte sich dort mit großem Interesse den verschiedenen kulturellen und religiösen Strömungen zu. Ähnlich hatte er schon in Deutschland die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als kulturell überaus inspirierend wahrgenommen. In den USA begegnete er einer pluralen Gesellschaft und reflektierte diese Situation als einer der ersten deutschen Theologen. Er berücksichtigte diesen neuen Kontext in seinen theologischen und philosophischen Konzeptionen. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass seine theologischen und religionsphilosophischen Voraussetzungen gewissermaßen auf diesen

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Kontext ›warteten‹. In den 1950er und 1960er Jahren wurde er nicht nur deshalb zu einem weithin wahrgenommenen Diagnostiker seiner Zeit. Auch für unsere Zeit, die durch eine weltweite wirtschaftliche und informationstechnische Vernetzung gekennzeichnet ist, scheint es mir immer noch hilfreich, an seine theologischen Positionen anzuknüpfen. Ein bisher wenig beachteter Text-Auszug soll hier vorangestellt werden. Er zeigt sehr anschaulich, wie sich Tillich die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Religionen vorstellte, gewissermaßen als wechselseitige ›transreligiöse‹ Grenz-Überschreitungen in beide Richtungen: »The point to which the dynamics of the holy in both polarities drive, is a unity of all religious potentialities which could be called Spiritual religion … But no religion can claim to cover the whole and to be itself the Spiritual religion. Everything is in a continuous movement driving towards the center, falling back from it, combining few or many elements, neglecting or removing others, conquering the tensions of the poles or conquered by them. This happens in every particular religion and it happens in the totality of religions. In these processes some religions combine many religious elements like Catholicism and Buddhism, some exclude most elements like Judaism and Islam.«1 Dass dies nicht eine nebensächliche Bemerkung ist, sondern in den Kern seines selbstkritischen Nachdenkens in seinen letzten Jahren führt, zeigt ein Abschnitt aus der Einleitung seiner Systematischen Theologie von 1963: »Ein anderes Charakteristikum der gegenwärtigen Situation ist der weniger dramatische, aber immer wichtiger werdende Austausch zwischen den geschichtlichen Religionen, der teilweise durch die gemeinsame Front aller Religionen gegen die auf sie eindringenden säkularen Kräfte bedingt ist ... Wieder muss ich sagen, dass eine christliche Theologie, die nicht imstande ist, mit den anderen Religionen in einen schöpferischen Dialog einzutreten, ihre weltgeschichtliche Chance verpasst und provinziell bleibt.«2

1 Paul Tillich, Manuskript APTA (Amerikanisches Paul-Tillich-Archiv Harvard): # 392, 411/14 (Hervorhebung DCS). 2 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Einleitung, 16 (1963).

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So ist seine Theologie für mich nach wie vor ein weiterführender Ansatz zur theologischen Deutung der gegenwärtigen religiösen und gesellschaftlichen »Großwetterlage«. Natürlich hat sich die Situation in dem halben Jahrhundert politisch und gesellschaftlich gravierend verändert: insbesondere seit den Anschlägen in den USA 2001 und noch einmal seit den Flüchtlingsbewegungen aus den islamischen Ländern in den letzten Jahren. Der »Austausch zwischen den geschichtlichen Religionen« hat inzwischen überaus an Dramatik gewonnen. Dabei scheint mir, dass die Formen des »Austauschs« in den Hintergrund treten und Abgrenzung und Konfrontation immer mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jeden Tag sind Menschen gefordert, die Welt-Nachrichten, die sich immer häufiger auch auf religiöse Entwicklungen beziehen, zu deuten und mit ihrer eigenen religiösen Sozialisation, ihrem Verständnis und ihren Erfahrungen von Religion in Verbindung zu setzen. Heute sind die »säkularen Kräfte« keine »gemeinsame Front« mehr, wie es vor einem halben Jahrhundert noch den Anschein gehabt haben mag. Tillich sah noch die Religionen gemeinsam säkularistischen Tendenzen gegenüber. Inzwischen spaltet diese Auseinandersetzung die Religionen selbst: Aufklärerische und fundamentalistische Tendenzen kämpfen im Christentum, Islam, Judentum und Hinduismus miteinander. Auch wenn sich die gesellschaftliche und weltpolitische Gesamtlage gravierend geändert hat, so gibt es doch eine Entwicklung und Herausforderung, die Tillich konsequent zum Grund-Axiom seiner Theologie gemacht hat: nämlich diesen globalen intellektuellen Wettstreit von Weltdeutung und Glaubensinterpretation anzunehmen, die vertrauten Provinzen des eigenen religiösen Zuhauses zu verlassen und »mit den anderen Religionen in einen schöpferischen Dialog einzutreten«. Kein Theologe des 20. Jahrhunderts hat sich so früh und so aufgeschlossen gegenüber anderen Religionen gezeigt wie Paul Tillich. Daher kann gerade sein theologischer Ansatz für die konkrete interreligiöse Dialog-Arbeit eine große Unterstützung sein. So habe ich es selbst zuerst in Duisburg, dann in Düren erlebt. Tillichs Theologie bot mir im Dialog immer wieder einen hilfreichen Rahmen, um die Begegnungserfahrungen theologisch zu reflektieren und Wege für einen Dialog zu finden, der zu gegenseitiger Verständigung und wechselseitigem Respekt führt. Deshalb bin ich der Meinung, dass Tillichs Theologie heute für eine theologische Positionsbestimmung zum interreligiösen Gespräch hilfreicher denn je ist –

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auch wenn er in der gegenwärtigen deutschsprachigen Theologie eher selten einen Referenz-Punkt bildet. Tillichs Ansatz ist m.E. in der Lage, sowohl Kultur und Theologie aufeinander zu beziehen als auch gesellschaftliche Entwicklungen in Wechselwirkungen und prozesshaft zu denken. Dadurch wird Tillichs Theologie anschlussfähig zu den Fragen und Antwort-Versuchen im interreligiösen Kontext unserer Zeit. Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen: Wie kann Tillichs Theologie einen Ausgangspunkt und einen Reflexionsrahmen für ein interreligiöses Gespräch der Gemeinden und Kirchen mit Angehörigen anderer Religionen bilden? Dazu werden in einem vorbereitenden Kapitel einzelne aktuelle Aspekte beschrieben, die das Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen – insbesondere von Christen und Muslimen – in Deutschland kennzeichnen (2.1). Die kulturelle Situation kann an Wolfgang Welsch anknüpfend als »transkulturell« beschrieben werden, dessen Ansatz knapp skizziert wird (2.2). Ferner wird auch die aktuelle kirchliche Debatte in den Kontext ökumenischer Missionsgeschichte und -theologie gestellt (3). Im vierten Kapitel wird dann Tillichs religionstheologischer Ansatz dargestellt. Abschließend werden Schlussfolgerungen für unsere derzeitige Situation gezogen – sowohl hinsichtlich der Bedeutung des Dialogs für das Christentum als auch bezüglich des Toleranz-Begriffs. 2 Aktuelle Aspekte des Zusammenlebens in der pluralen Gesellschaft 2.1 »Feindbild Islam« und muslimische Offenheit Unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation ist nicht nur durch die Flüchtlingssituation und die damit verbundene Integrationsaufgabe geprägt, sondern auch durch eine sich verstärkende Ablehnung des Islams und von Muslimen überhaupt, und zwar nicht erst seit den Pegida-Demonstrationen und den Erfolgen der ›Alternative für Deutschland‹ (AfD). Schon nach den Anschlägen am 11. September 2001 hat es einen Stimmungsumschwung gegenüber ›dem‹ Islam und den hier lebenden Muslimen gegeben. Wurden in den 1970er und 1980er Jahren Muslime zu allererst als Arbeitskollegen und Nachbarn wahrgenommen, die durch ihre Arbeit an der wirtschaftlichen Entwicklung unserer Gesellschaft mitwirkten, und denen die Mehrheit unserer Gesellschaft eher gleichgültig gegenüberstand, so wird ›der‹ Islam heute mit Bildern von gewaltbereiten Muslimen und

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islamistischem Terror in Verbindung gebracht. Über den Islam wusste man seinerzeit nicht viel. Interesse entstand erst, als muslimische Kinder in den Schulklassen saßen und Lehrer begannen, sich über die ›neue‹ Religion zu informieren. Verschiedene Umfragen haben immer wieder Sorgen, Ängste und Ressentiments gegenüber Muslimen aufgezeigt. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach hat bereits 2006 besorgniserregende Einstellungen herausgefunden: 83 % der Deutschen stimmten schon damals der Aussage zu, dass der »Islam … von Fanatismus geprägt« sei, 71 % meinten, der »Islam ist intolerant« und nur 8 % der Deutschen seien der Überzeugung gewesen, dass der Islam friedfertig sei. Acht Jahre später hat der Religionsmonitor der BertelsmannStiftung 2014 eine ähnliche Ablehnung herausgefunden: 57 % der Deutschen fühlen sich durch den Islam bedroht und 40 % empfinden sich wie »Fremde im eigenen Land«. 61 % meinen, dass der Islam nicht in die westliche Welt passe.3 An diesen Zahlen wird deutlich, dass Abgrenzung gegenüber dem Islam ein wichtiger Aspekt der Identitätsbildung der Deutschen geworden ist. Ein fast völlig entgegengesetztes Bild zeigt allerdings eine us-amerikanische Umfrage, die 2008 weltweit in islamischen Ländern durchgeführt wurde. Sie belegt eine hohe Bereitschaft in muslimischen Ländern, sich westlichen Werten zu öffnen. Dieses Bild überrascht auf den ersten Blick, da es dem medial vermittelten Eindruck eines gewaltbereiten und intoleranten Islams zuwiderläuft. Für diese Umfrage mit dem Titel »Wer spricht für den Islam?« hat das Gallup-Institut 50.000 Muslime in 35 überwiegend muslimischen Staaten befragt.4 93 % der befragten Muslime könnten als ›politisch moderat‹ eingestuft werden – nur 7 % seien politisch radikalisiert. Positiv am ›Westen‹ würden die Demokratie und das westliche Werte-System bewertet. Die Studie kommt zu der Schlussfol3

Vgl. Kai Hafez / Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland: Religionsmonitor – verstehen was verbindet Taschenbuch, Gütersloh 2015. Die wichtigsten Daten sind zusammengefasst und zugänglich: www.tagesspiegel.de/politik/studie-ueber-muslime-und-islam-in-deutschland-angstvor-dem-islam/11204400.html (29.11.2016). Diese Tendenz wird bestätigt worden durch die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Berlin 2010: http://library.fes.de/pdffiles/do/07504-20120321.pdf (29.11.2016). 4 www.sueddeutsche.de/politik/umfrage-in-muslimischen-laendern-was-denkenmuslime-wirklich-1.274224 (12.11.2016), s. Who speaks for Islam? What a billion Muslims really think, John L. Esposito / Dalia Mogahed (Ed.), New York 2007.

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gerung: Muslime strebten zwar Freiheit und Demokratie an, »aber keine von den USA definierte und aufgezwungene Demokratie«. Oft vertritt die Bevölkerung eine andere Haltung als ihre Regierungen: So treten 61 % der Befragten in Saudi-Arabien für die gleichen Rechte für Männer und Frauen ein. Im Iran liegt der Anteil bei 85 % und in Indonesien sogar bei 90 %. Besondere Wertschätzung bringen die Befragten dem technologischen Fortschritt, der freien Meinungsäußerung, der Religionsfreiheit und der parlamentarischen Demokratie, die sich auf eine Verfassung stützt, entgegen. Diese Ergebnisse zielen auf eine globale Vernetzung im Rahmen eines gemeinsamen gesellschaftlichen Werte-Systems anstatt eines ›Kampfes der Kulturen‹. 2.2 Transkulturalität Kulturen und auch Religionen stehen in vergleichbarer Weise vor der Herausforderung, die die fortschreitende Technisierung und sich beschleunigende Dynamik gerade in der Kommunikationstechnik mit sich bringen. Enes Karic, Koran-Professor an der Universität Sarajevo, hat das so beschrieben: Während sich früher der »Prozess der Vermischung von unterschiedlichen Glaubensweisen und Anhängern unterschiedlicher Religionen … um einiges langsamer« vollzog, habe sich das inzwischen grundlegend geändert: »Heute beschleunigt der ökonomische und technologische Wandel die globale Verbreitung verschiedener Glaubenssysteme und der Gläubigen.«5 Diese Entwicklungen hat der Jenaer Philosoph Wolfgang Welsch bereits in den 1990er Jahren aufgegriffen. Er hat dargelegt wie Gesellschaften und Kulturen grundsätzlich füreinander durchlässig sind. Der traditionelle Kulturbegriff war im 18. Jh. von Johann Gottfried Herder so formuliert worden, dass er klar abgrenzbare Kulturen voraussetzte. Deshalb würden – so Welsch – alle Interkulturalitätskonzepte, die versuchen, zwischen verschiedenen Kulturen zu vermitteln, ins Leere laufen. Wesentliches Charakteristikum des Herderschen Kulturbegriffs, der unser Kultur-Verständnis heute noch beeinflusse, sei seine nationale Prägung und die Vereinheitlichungstendenz nach innen gewesen. Diese Tendenz führe zu einer Unterdrückung abweichender Formen innerhalb der jeweiEnes Karic, Eine gemeinsame Hermeneutik der Verständigung für unsere gegenwärtige Zeit, in: Hansjörg Schmid / Andreas Renz / Bülent Ucar, »Nahe ist dir das Wort …« Schriftauslegung in Christentum und Islam, Regensburg 2010, 235–243, Zitat: 238f. 5

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ligen Kulturen: »Es stimmt einfach nicht, dass wir unsere Lebensläufe, ja unsere Tage und Nächte noch alle in der gleichen Weise zubrächten.«6 Es komme vielmehr darauf an, »die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken«.7 Dies sei auch deshalb erforderlich, weil gleichartige Lebensformen inzwischen die verschiedenen Kulturen und Nationen geradezu unmodifiziert durchziehen. Nationale Prägungen würden immer mehr zu anachronistischen Überständen. In der Rede von ›Leitkulturen‹, in der Wiederkehr nationalistischer Identitätsbildung weltweit, können eher die letzten Rückzugsgefechte jener gesehen werden, die einem Bild homogener, klar abgrenzbarer Nationalkulturen anhängen. Dieser homogene Zustand kann aber schon längst nicht mehr wiederhergestellt werden. So kann auch angenommen werden, dass die Zunahme des Fundamentalismus insbesondere im salafistischen Islam ein solches ›Rückzugsgefecht‹ darstellt.8 Welsch kritisiert auch das Konzept des Multikulturalismus, da es noch vom Nebeneinander verschiedener Kulturformen ausgehe. Er plädiert für eine »aktuelle Kreuzung, Durchdringung, Überlagerung von Kulturformen«9 und verweist auf den französischen Mathematiker und Philosophen Michel Serres, der für eine »Logik der Unschärfe« plädiert hat. Er hat herausgestellt, dass dialektisches Denken einen vor die Alternative zwischen Gott und Teufel oder zwischen Ausschluss und Einschluss stelle und sich dann häufig gegen einen Dritten verbinde, der dann zum gemeinsam ausgeschlossenen Gegenüber werde: »Gott oder Teufel? ... Die Antwort ist ein Spektrum ... Wir werden niemals mehr mit Ja oder Nein auf Fragen der Zugehörigkeit antworten ... Zwischen Ja und Nein, zwischen Null und Eins erscheinen unendlich viele Werte und damit unendlich viele Antworten. Die Mathematiker nennen diese neue Strenge unscharf.«10 Kurzum: Die Welt lässt sich nicht mehr in ›wahr‹ und ›unwahr‹, in ›richtig‹ und ›falsch‹ unterteilen. Vielmehr standen Traditionen, Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie 21,1993, 5–20, hier: 6. 7 Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Kurt Luger / Rudi Penger (Hg.), Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien, Wien 1994, 147–169, Zitat: 156. Vgl. auch den Aufsatz in diesem Band. 8 Vgl. hierzu auf den us-amerikanischen Fundamentalismus bezugnehmend: Hans G. Kippenberg, Christlicher Fundamentalismus in den USA – ein neuer Kreuzzug?, in: Dirk Chr. Siedler u.a. (Hg.), (K)eine Chance für den Dialog? Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft, Berlin 2007, 215–233. 9 Wolfgang Welsch, Transkulturalität [1993], 16. 10 Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a.M. 1981, 89. 6

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Kulturen und Religionen schon immer und stehen nun mehr denn je im permanenten Austausch miteinander, beeinflussen sich wechselseitig und entwickeln ihre Interpretationen und Auslegungen weiter. 3 Interreligiöser Dialog in den evangelischen Kirchen und der Ökumene. Von einem Dialog der Profile zu dialogischer Offenheit In diesem Spannungsfeld ist auch die kirchliche Debatte zur Pluralität und zum christlich-islamischen Dialog zu betrachten. Der neueste EKD-Beitrag ist im Sommer 2015 mit der Orientierungshilfe Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive11 erschienen. Seit einem Viertel-Jahrhundert wird in der EKD und in den Landeskirchen in Form von Orientierungshilfen u.ä. Texten hierzu debattiert. Der bisher letzte Text in dieser Folge von Standort-Bestimmungen ist die Arbeitshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, die im Herbst 2015 erschienen ist und in der rheinischen Kirche einen umfassenden Dialog-Prozess initiieren soll. Die Verlautbarungen der letzten 30 Jahre zeigen, dass sich die evangelischen Positionen zwischen den klischeehaften Extremen von »Mission« und »Kuscheldialog« bewegen. So hat im Anschluss an die Terror-Anschläge von 2001 offenbar der Wunsch nach einer stärkeren Abgrenzung gegenüber dem Islam bestanden. Das hat sich dann auch in der Handreichung des EKD-Rates Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland12 niedergeschlagen. Das erste Kapitel befasste sich gleich mit »der Wahrheit und der Toleranz der christlichen Mission«. Eine Form der Mission als unduldsamer Zwang wurde grundsätzlich abgelehnt, weil auch Muslime »von Gott geliebte Menschen« seien. Allerdings sei Mission nicht nur eine respektvolle Begegnung, sondern sie ziele »vor allem« auf »das Zeugnis vom dreieinigen Gott, der den Menschen durch Jesus Christus zu wahrer Menschlichkeit befreit«. Diese EKD-Handreichung hat »wahre Menschlichkeit« zum Kriterium zwischen dem Christentum und den anderen Religionen gemacht und damit suggeriert, dass diese nur im Christentum erfahren werden könnte. Im Anschluss an Tillich ist es m.E. Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015. 12 www.ekd.de/download/ekd_texte_86.pdf (27. März 2009); die Diskussion ist dokumentiert in: epd-Dokumentation Nr. 24 vom 5. Juni 2007. 11

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nur schwer möglich, dies den anderen Religionen abzusprechen. Vielmehr sind für Tillich auch Juden, Muslime, Buddhisten und Hindus Teil der »Geistgemeinschaft in ihrer Latenz«.13 So hat es Tillich in seiner Pneumatologie formuliert. Für Tillich ist das entscheidende Kriterium die Tatsache, dass »diese religiösen Gemeinschaften [im Gegensatz zum Christentum] unfähig [seien], sich im Sinne des Kreuzes Christi selbst radikal zu verneinen und radikal zu verwandeln«.14 Ihm ist es wichtig, dass Religionen zur Religions- und Selbstkritik fähig sind. Dies ist allerdings ein Kriterium, das nicht nur auf das Christentum zutrifft. Solche Selbstkritik gibt es z.B. durchaus auch in anderen Religionen. So haben muslimische Gelehrte im Mittelalter ihre Ausführungen mit dem formelhaften Hinweis beschlossen, dass sie an ihren Überlegungen so lange festhielten, bis sie von jemandem eines Besseren belehrt würden. Ein besonders strittiges Thema in den verschiedenen Stellungnahmen war und ist die Missionsfrage. Die Evangelische Kirche im Rheinland hatte bereits im September 2001 (noch vor den Anschlägen) ihre Arbeitshilfe »Mission und Dialog in der Begegnung mit Muslimen«15 verfasst. Dort stellte sie zwei Aufträge einander gegenüber, denen Christen verpflichtet seien: die Verpflichtung, am friedlichen Zusammenleben aller Menschen in unserer pluralen Gesellschaft mitzuwirken, und den Auftrag, den christlichen Glauben in Wort und Tat zu bezeugen. Ein Verständnis von Mission als Ausbreitung des christlichen Einflusses in der Welt oder als Mittel zum Machterhalt der Institution Kirche wurde abgelehnt. Stattdessen gelte: »Mission ist für Christen … der Verweis von sich weg, eben auf Jesus Christus und seine Einladung zum Reich Gottes. Mission ist das Wirken Gottes unter den Menschen. Es liegt allein bei Gott, ob seine Botschaft in den Herzen der Menschen Kraft gewinnt. Die Christen sind immer nur Zeugen dieser Botschaft.«16 Die bestehende Spannung zwischen dem Friedensauftrag und einem recht verstandenen Missionsauftrag der Christen und der Kirche werde im Dialog bearbeitet. Diese Überzeugung hat damals keinerlei Kontroversen ausgelöst.17 Fünfzehn Jahre später provoPaul Tillich, Systematische Theologie, 3. Band, Berlin / New York 1987, 181; im Folgenden: STh III. 14 Tillich, STh III 182. 15 Evangelische Kirche im Rheinland, Mission und Dialog in der Begegnung mit Muslimen. Eine Ausarbeitung des Arbeitskreises Christen und Muslime, Düsseldorf 2001. 16 Evangelische Kirche im Rheinland, a.a.O. [2001], 3. 17 Vgl. beispielsweise Andreas Feldtkellers Analyse der rheinischen Arbeitshilfe »Mission und Dialog in der Begegnung mit Muslimen« aus dem Jahr 2001, in: 13

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ziert eine Neubearbeitung eine intensive Debatte gerade zu diesem Thema. Der Text Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen knüpft ebenfalls an das missionstheologische Paradigma der missio dei an. Es wird abgelehnt, z.B. Flucht-Situationen missionarisch auszunutzen und ihnen durch die Taufe etwa Vorteile hinsichtlich des Aufenthaltsstatus in Aussicht zu stellen. Es werden vielmehr zahlreiche verbindende Themen und Gesprächsbrücken benannt, die Gegenstand des christlich-muslimischen Gesprächs sein können.18 Diese Positionen markieren einen erheblichen Wandel in der Missionswissenschaft in den letzten einhundert Jahren. Diese Entwicklungen können hier nicht im Detail dargestellt werden. Trotzdem soll auf den programmatischen Satz des Ökumenikers John R. Mott hingewiesen werden, mit dem er die erste Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh beschloss und alle zu einer gemeinsamen Missionsanstrengung aufrief: »Das Ende der Konferenz ist der Anfang der Eroberung! Das Ende des Ratens ist der Anfang des Tatens!«19 Dieser pathetische Satz ist erkennbar vom westlich-abendländischen Sendungsbewusstsein der Kolonial-Zeit vor dem Ersten Weltkrieg geprägt. In ihm spiegelt sich auch, dass von 1.200 Delegierten der Konferenz lediglich 18 Personen aus den damals so genannten »Missionsgebieten« stammten. Dieser Konferenz ging es nicht um die Förderung interreligiöser Verständigung, sondern sie war Ausdruck einer imperialen Haltung gegenüber anderen Religionen und Kulturen. Anhand der Debatten auf den weiteren Weltmissionskonferenzen und den Tagungen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) ließen sich die Entwicklungen, Widerstände und Veränderungen im Missionsverständnis sehr gut darstellen. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die sog. Missionskirchen in der Ökumene immer stärker beteiligt worden, und das Missionsverständnis hat sich grundlegend verändert; bis dahin, dass Kirchen-Delegationen aus Afrika und Asien heute nach Deutschland kommen und hiesige Gemeinde-Arbeit ›evaluieren‹. Die ökumenische Debatte war immer auch ein Ringen um theologische Konzepte, um Praktiken der

Dirk Chr. Siedler / Holger Nollmann (Hg.), »Wahrhaftig sein in der Liebe!«, Berlin 2002, 27–38. 18 Evangelische Kirche im Rheinland, Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, Düsseldorf 2015, insbes. 17f. 19 August Wilhelm Schreiber (Hg.), Die Edinburger Welt-Missions-Konferenz. Bilder und Berichte von Vertretern deutscher Missionsgesellschaften, Basel 1910, 61.

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Ab- und Ausgrenzung zu überwinden und interkulturelle und religiöse Öffnung einzuüben.20 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass interreligiöser Dialog eine wesentliche Form des christlichen Zeugnisses darstellt, das Christen von ihrem Glauben in der Öffentlichkeit und auch persönlich geben. Christen verdeutlichen mit ihrer Dialog-Bereitschaft etwas von dem Versöhnungsgeschehen in Christus, das auch jenen gilt, die sich nicht als Christen bezeichnen. Sie leben damit bereits, was sich erst noch jenseits von allen soziologischen Gruppen-Zugehörigkeiten ereignen wird, wenn »Gott alles in allem« (1. Kor 15,28) sein wird. Im Dialog lassen sie sich im Überschreiten der tradierten Abgrenzungen und Denk-Schablonen von Gottes Geist führen, der in der interreligiösen Begegnung Christen zu einem neuen und tieferen Verständnis ihres Glaubens führt. Schließlich erfüllen Christen im Dialog das Gebot der Nächstenliebe. In diesem Sinn ist Mission nicht mehr imperial, sondern wird als Einladung zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft auf der einen Erde verstanden. Mission und Dialog sind zwei aufeinander bezogene Bewegungen eines umfassenden Geschehens, in dem Christen – wie schon Paulus formuliert hat – »allen alles werden« (1. Kor 9,22). Paulus hat sich gerade nicht an den vermeintlichen Abgrenzungen gegenüber Juden und Heiden orientiert, sondern hat sich auf ihre jeweiligen Lebenskontexte eingelassen, ohne das eine Ziel aus den Augen zu verlieren: »Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.« (9,23) Das Evangelium ist aber nichts, das wir unter unserer intellektuellen Verfügungsgewalt hätten, sondern das sich uns immer wieder neu erschließt: in der Begegnung mit den Texten der Bibel, in dem Zeugnis, das Menschen von ihrem christlichen Glauben geben, aber auch durch das Beispiel und den Ansporn, der von dem Lebenswandel jener ausgeht, die sich nicht an Jesus Christus orientieren oder sich überhaupt nicht religiös gebunden fühlen. Diese Wechsel-Beziehung wird ermöglicht durch eine typologisch analoge Struktur der Religionen (und auch Kulturen), wie sie schon 20 Eine ausführliche Darstellung der ökumenischen Diskussion findet sich bei Dirk Chr. Siedler, Zeugnis im Dialog: Die ökumenische Debatte über den interreligiösen Dialog und Perspektiven interreligiösen Lernens, in: Dirk Chr. Siedler / Holger Nollmann (Hg.), »Wahrhaftig sein in der Liebe!« Christliche und islamische Perspektiven zum interreligiösen Dialog, Berlin 2002, 95–125. Vgl. auch den kurzen Abriss bei Klaus Hock, Einführung in die Interkulturelle Theologie, Darmstadt 2011, 97–114; Henning Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen. Religionstheologische Denkwege, kulturwissenschaftliche Anfragen und ein methodischer Neuansatz, Gütersloh 2015, 43–68.

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Paul Tillich aufgezeigt und aus den religionswissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit abgeleitet hat: Jede Religion verfügt in unterschiedlich intensiver Ausprägung über sakramentale, mystische, ethische und religionskritische (Tillich nennt es das »Protestantisches Prinzip«) Elemente, sodass die Gläubigen in interreligiösen Begegnungen Analogien zu ihrer eigenen Religion entdecken können.21 Dies ist für viele Menschen im Dialog immer wieder eine überraschende Erfahrung. Allerdings ist eine Analogie keine vollständige Übereinstimmung. Deshalb ermöglicht die Analogie auch die Wahrnehmung von Differenzen: Es kommt in der DialogSituation darauf an, Übereinstimmungen, Parallelen und Differenzen in ein sachgerechtes Verhältnis zueinander zu setzen. Die Diskussionen über den interreligiösen Dialog und die Frage nach der Mission lassen häufig außer Acht, dass sich Religionen schon in ihrer religionsgeschichtlichen Entstehung und Entwicklung immer wieder in beinahe synkretistischer Weise auf ihren jeweiligen Kontext eingelassen und sich so in unzähligen Kulturen beheimatet haben. So stellte es schon eine kirchliche Stellungnahme von 1991 dar.22 In den letzten Jahren hat sich der Dialog mit muslimischen Theologen weltweit vertieft. Dies hat sich in verschiedenen muslimischen Stellungnahmen ausgedrückt wie z.B. »A common word«23. Auch die innerislamische Debatte ist fortgeschritten, wie z.B. die Amman-Erklärung zeigt, die versucht, einen breiten Konsens zwischen den Rechtsschulen und ihre gegenseitige Anerkennung zu formulieren.24 Die Notwendigkeit, Fragen der Zugehörigkeit und des Religionswechsels zu klären, zeigt, wie kontrovers diese Fragen innerislamisch diskutiert werden. 4 Paul Tillichs »Theologie der Religionen« 4.1 Paul Tillichs dreidimensionaler Ansatz Gerade der theologische Ansatz Paul Tillichs bietet eine Perspektive, die interreligiöse Begegnung aus den Grundlagen des christliVgl. Dirk Chr. Siedler, Paul Tillichs Beiträge zu einer Theologie der Religionen. Eine Untersuchung seines religionsphilosophischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Beitrages, Münster 1999, 125–164. 22 Vgl. zur Frage der Indigenisierung des Christentums: Arnoldshainer Konferenz / VELKD (Hg.), Religionen, Religiosität und christlicher Glaube. Eine Studie, 2 1991, 114–116. 23 www.acommonword.com (28.10.2016). 24 http://ammanmessage.com (12.11.2016). 21

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chen Glaubens heraus zu begründen und die gegenwärtigen Abgrenzungsstrategien unserer Gesellschaft zu überwinden. Antrieb des interreligiösen Gespräches ist für Tillich nicht das Erreichen eines besonderen äußeren Zweckes. Das interreligiöse Gespräch ist vielmehr eine Folge des christlichen Glaubens und dient seiner Vertiefung. Tillichs Theologie benennt drei Dimensionen, die für die Reflexion der Praxis interreligiösen Dialogs wichtig sind: die religionsphilosophische, religionswissenschaftliche und theologische Dimension. Entscheidend ist Tillichs offenbarungstheologische Voraussetzung, dass auch nichtchristliche Religionen grundsätzlich Träger von Offenbarung sein können. Er lehnt eine exklusivistische Position ab, wie sie die dialektische Theologie oder Karl Barth formuliert hatten. Tillich entwickelt eine Religionstypologie, die StrukturAnalogien zwischen den Religionen aufzeigt. So kann er Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen genauso feststellen wie ihre spezifischen Eigenarten, die sie voneinander unterscheiden. Tillichs Ansatz lässt sich nicht einfach den klassischen drei religionstheologischen Modellen, dem exklusivistischen, inklusivistischen oder pluralistischen zuordnen. Tillich versucht, die komplexen Verhältnisbestimmungen innerhalb und zwischen den Religionen zu wahren: »Gegenüber harmonisierend-inklusiven interreligiösen Relationierungen betont Tillich ausdrücklich die mit der religiösen Erfahrung verbundene Unbedingtheitsdimension und eine auf dieser beruhende ›bedingte Exklusivität‹.«25 Tillich formuliert eine Position, die den interreligiösen Dialog als genuines Anliegen des christlichen Glaubens betrachtet und die das Christentum selbst transzendiert. Während viele Plädoyers für einen interreligiösen Dialog seine Notwendigkeit durch die verschiedenen Krisen-Erscheinungen der Zeit begründet sehen, verweist Tillich darauf, dass Dialog und gegenseitige Verständigung von Menschen nicht selbst ›gemacht‹ werden könnten, sondern der Dialog ein offenes Geschehen sei, in das die am Gespräch beteiligten Religionen bzw. ihre Vertreter hineingezogen würden. Der interreligiöse Dialog ist also keine Forderung gegenüber Christen, sondern er ergibt sich aus dem christlichen Selbstverständnis durch das Wirken des göttlichen Geistes; denn Gottes Geist führt nach Tillich zur Selbst-Transzendierung auch des Christentums. Im Christian Danz, Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik. Ihre religionstheoretischen und systematischen Voraussetzungen, in: ders. / Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 77–103, Zitat: 92f.

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Dialog entfaltet Gott selbst seine Macht und seinen Anspruch gegenüber der Welt, sodass sich das solus deus der Rechtfertigungslehre im interreligiösen Gespräch entfaltet und zum Kriterium gegenüber allen Religionen und dem Christentum selbst wird. Zentraler Ausgangspunkt einer Rekonstruktion von Tillichs Position zur interreligiösen Begegnung ist sein opus magnum, die Systematische Theologie. Schon in der Einleitung des dritten Bandes hat er selbst benannt, dass er angesichts der damals schon gravierenden gesellschaftlichen Entwicklungen seine Theologie neu hätte konzipieren müssen. Der Weg zu dieser Selbstkritik lässt sich gut an den Vorlesungen ablesen wie z.B. The Protestant Principle and the Encounter of the World Religions26 von 1958. In ihr hat er zum ersten Mal seine Typologie der Religionen entwickelt. Auch die Dialog-Erfahrungen seiner Japan-Reise 1960 und anderer christlich-buddhistischer Begegnungen27 flossen in seine Vorträge ein, wie z.B. in den Vortrag zum Thema Christian and NonChristian Revelation28, den er im Oktober 1961 gehalten hat. In ihm betonte er die große Bedeutung der interreligiösen Begegnung für die Gegenwart. Die entscheidende Grundfrage war für ihn das Offenbarungsverständnis: »Everything ... depends on the concept of revelation. I want to define this concept in such a way that the idea of a universal revelation is accepted.«29 Offenbarung war für ihn die Selbstmanifestation dessen, was uns ›unbedingt angeht‹, und könne in allen Religionen geschehen, und so zielten seine Überlegungen auf eine »universal revelation«. Ebenfalls im Herbst 1961 hielt Tillich die Bampton Lectures an der Columbia University in New York. Sie wurden Tillichs erste Veröffentlichung, die sich explizit mit dieser Thematik befasste, und erschien 1963 unter dem Titel Christianity and the Encounter of

Paul Tillich, The Matchette Lectures: The Protestant Principle and the Encounter of World Religions, in: ders., The Encounter of Religions and Quasi-Religions ed. by Terence Thomas, Lewiston/Queenston/Lampeter 1990, 2–56. 27 Paul Tillich / Shin’ichi Hisamatsu, Dialogues, East and West. Conversations between Dr. Paul Tillich and Dr. Hisamatsu Shin’ichi, in: The Eastern Buddhist 4, 1971, 89–107; 5, 1972, 107–128; 6, 1973, 87–114. Eine Diskussion mit Studierenden in Kyôto auf seiner Japan-Reise ist dokumentiert: Robert W. Wood (Hg.), Tillich Encounters Japan, in: Japanese Religions 2, 1961, 48–71. Eine ausführliche Darstellung der Japan-Reise ist inzwischen herausgegeben worden von Tomoaki Fukai (Hg.), Paul Tillich – Journey to Japan in 1960, Berlin 2013. 28 In: Tillich, Encounter, a.a.O., 57–74. 29 Tillich, Encounter, a.a.O., 64. 26

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the World Religions.30 Tillich nennt dort vier Voraussetzungen für einen gelingenden interreligiösen Dialog: die gegenseitige Anerkennung, dass auch die andere Religion auf Offenbarungserfahrung beruhe; die Möglichkeit, dass beide Dialog-Partner ihren Standpunkt mit Überzeugung vertreten und so die verschiedenen Standpunkte ernsthaft gegenübergestellt werden; drittens eine gemeinsame Gesprächsbasis, die sowohl Einigkeit wie Widerspruch ermögliche, und schließlich die Bereitschaft aller Beteiligten, auch Kritik anzunehmen.31 In dem Recht der Dialog-Beteiligten, »ihre Wahrheit« vertreten zu können, sah Tillich die »natürliche Selbstbehauptung im Bereich der Erkenntnis«.32 So habe ein Christ die Grund-These, dass Jesus der Christus sei, genauso zu verteidigen wie jene Lehren zu verwerfen, die dem widersprächen. Dabei sei aber besonders auf die Form zu achten, in der das geschehe. Eine solche Ablehnung dürfe keine prinzipielle Verwerfung sein; sonst würde eine weitere Verständigung unmöglich gemacht werden. Tillich nennt es das »Prinzip der ›bedingten Exklusivität‹«33 und begreift Annahme und Ablehnung der Religionen als eine »dialektische Einheit«.34 Tillichs ›letztes Wort‹ zur Frage der interreligiösen Begegnung ist der Vortrag, den er wenige Tage vor seinem Tod 1965 über The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian35 auf einer religionswissenschaftlichen Tagung in Chicago gehalten hat. Sie widmete sich dem Thema The Problem of Understanding und knüpfte an eine bis in das Jahr 1892 zurückreichende Tradition komparatistischer und religionswissenschaftlicher Forschung an der Divinity School an. Neben Tillich hielt sein Kollege Mircea Eliade (1907–1986) den anderen öffentlichen Vortrag über Cultural Fashions and the History of Religions. In den weiteren

Paul Tillich, Christianity and the Encounter of the World Religions, in: Paul Tillich, Writings on Religion / Religiöse Schriften, ed. by Robert P. Scharlemann, Berlin / New York 1988, Main Works / Hauptwerke Bd. V, 291–325; dt.: Paul Tillich, Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, Stuttgart 1964, Gesammelte Werke Bd. V, 51–98; neu abgedruckt in: Paul Tillich, Ausgewählte Texte, Berlin / New York 2008, 419–453. 31 Paul Tillich, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: Gesammelte Werke V, 81. 32 Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, 64. 33 Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, 66. 34 Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, 65. 35 Paul Tillich, The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, in: MW VI, 431–446; wieder abgedruckt in: Paul Tillich, Ausgewählte Texte, Berlin / New York 2008, 455–470. 30

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Vorträgen ging es um religionsgeschichtliche Fragestellungen im Islam, Hinduismus und der japanischen Religion.36 Dass Tillich und Eliade diese Vorträge hielten, war kein Zufall. Beide bildeten in ihren regelmäßigen Abend-Seminaren eine Arbeitsgemeinschaft: Eliade und seine Studenten stellten das religionswissenschaftliche Material dar und Tillich deutete es im Licht christlichen Denkens. In seinem Vortrag Christianity and the World Religions hat Tillich beschrieben, wie sie in den Seminaren zusammenarbeiteten: »Story of my seminar with Eliade: The subjectmatters, e.g. Sin and suffering, God and gods [or: supranatural powers],37 rites of initiation, ideas of purification, cosmogonic ideas, sacramental ideas, ways of salvation, the sacred and the holy etc. This in all religions and as systematic theologian. I had to relate it to Christianity. Therefore Christianity encounters primitive, mythological and high religious elements of its own. Its greatness the ›coincidence of opposits‹ (Catholics!).«38 In seinem bereits erwähnten letzten Vortrag The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian nannte Tillich diese Konfrontation religionswissenschaftlicher Beobachtungen mit systematisch-theologischen Ausführungen »interpenetration«.39 Sie diene dazu, »jeden theologischen Provinzialismus«40 innerhalb seines Systems zu überwinden. Durch diese Gespräche hat er die Überzeugung gewonnen, dass Religionswissenschaft bzw. Religionsgeschichte und Theologie wesentlich enger miteinander verknüpft werden müssten, um die Struktur religiösen Denkens für eine »fragmentary manifestation of theonomy or of the Religion of the Concrete Spirit«41 zu öffnen. Veröffentlicht in: Joseph M. Kitagawa, The History of Religion. Essays on the Problem of Understanding, Chicago/London 1967, EsDiv I, 261f. 37 Einfügung von Tillichs Hand. 38 Zit. n. Terence Thomas, Paul Tillich and Mircea Eliade and Their Use of Paradox, in: Gert Hummel (Hg.), The Theological Paradox / Das theologische Paradox, Berlin / New York 1995, 242–263, hier: 242. 39 Paul Tillich, Significance, a.a.O., Main Works VI, 439. Vgl. auch David Tracy, Analogical Imagination. Christian Theology and the Culture of Pluralism, London 1981: Das Konzept der analogical imagination ziele auf eine »imagination which finds and discovers even its own particularity and its truest disclosure of real universality only through an intensified journey into a particularity that is accompanied by a willing self-exposure to the concreteness of the whole.« (S. 312). 40 Paul Tillich, Ein Lebensbild in Dokumenten, Stuttgart 1980, GWE V, 361. Vgl. auch Eliades Laudatio beim Gedächtnis-Gottesdienst für Tillich: Mircea Eliade, Tribute for Paul Tillich, in: Criterion [Chicago] 5, 1966, H. 1,10–5, die er mit der Bemerkung schließt: »... he died at the beginning of another renewal of his thought« (15). 41 Paul Tillich, Significance, a.a.O., MW VI, 439. 36

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4.2 Tillichs Religionsbegriff und sein Bezug zum Kulturbegriff Für Tillichs Dialog-Verständnis sind auch sein Religionsbegriff und dessen Verhältnis zum Kulturbegriff wichtig. Der Religionsbegriff wird von Tillich recht uneinheitlich verwendet.42 So hat er in seinen frühen Schriften den Religionsbegriff dem Offenbarungsbegriff gegenübergestellt. In seiner Religionsphilosophie von 1925 hat er Offenbarung als »göttliches Tun«, als »einmaliges absolutes Geschehen« und als ein »Hereintreten einer neuen Wirklichkeit in Leben und Geist« bezeichnet. Religion spreche von »menschlichem Tun«, von »immer wiederkehrenden und nie abgeschlossenen nur relativen Vorgängen«.43 Offenbarung sei prinzipiell von Religion unterschieden. Hier wird Religion wie in der dialektischen Theologie der 1920er Jahre als kategorialer Gegensatz zur Offenbarung Gottes begriffen. Tillich beschreibt Offenbarung und Erlösung als »ein einmaliges, aus der Transzendenz stammendes, die Wirklichkeit umgestaltendes Handeln ..., während ›Religion‹ eine Reihe geistiger Akte und kultureller Schöpfungen einem allgemeinen Begriffe unterordnet.«44 Im dritten Band der Systematischen Theologie – also vierzig Jahre später – unterscheidet Tillich den doppelten Begriff der Religion einerseits »als Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht« (»ultimate concern«), und andererseits als einen »besonderen Bereich konkreter Symbole«.45 In seiner Darstellung der Geistgemeinschaft – also der unzweideutigen, aber fragmentarischen Manifestation des göttlichen Geistes – ist Religion dann »eine spezielle Funktion des menschlichen Geistes«.46 So zeige sich die tiefe Zweideutigkeit (historischer) Religion in der Kirche als »›organisierter Religion‹«.47 Tillich kann den Religionsbegriff metaphysisch verwenden als die ›Erfahrung des ›Unbedingten‹, als das ›Sein-Selbst‹ oder ›absolute Religion‹. Der historische Religionsbegriff bezeichnet dann die historisch bedingten Formen des ultimate concern in den geschichtVgl. z.B. Werner Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Zum Religionsbegriff im Werk von Paul Tillich, Frankfurt a.M. 1989, oder Gotthold Müller, Religion zwischen Metaphysik und Prophetie. Anmerkungen zum Religionsbegriff bei Karl Barth, Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer, in: NZSTh 20, 1978, 203–225. 43 Paul Tillich, Religionsphilosophie, in: Frühe Hauptwerke, in: GW I, S. 297. 44 Ebd. 45 Paul Tillich, Systematische Theologie [STh], Berlin / New York, Bd. III, 126. 46 Paul Tillich, STh III 279, vgl. STh III 126.186.298. 47 Paul Tillich, STh III 241. 42

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lichen oder speziellen Religionen. Diese Mehrdeutigkeit des Religionsbegriffs bei Tillich macht ihn anschlussfähig zum Kulturbegriff. Anders als die dialektische Theologie hat es Tillich abgelehnt, Kultur und Offenbarung kategorisch voneinander zu trennen. Er teilte die Kritik gegenüber einer Kultur, die sich selbst verabsolutiert. In seinem Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur, den er wenige Monate nach Ende des Ersten Weltkrieges im April 1919 in Berlin gehalten hat, wandte er sich vehement gegen eine Konsequenz dieser Kultur-Kritik, nämlich dass sich der Protestantismus aus dem Kulturleben zurückziehen würde. Tillich knüpfte vielmehr an Schleiermachers Religionsbegriff an, demzufolge das Religiöse in allen Bereichen des Geistigen aktuell sei. Tillich sah die Kirche zu großen Auseinandersetzungen in den verschiedenen Bereichen des Kulturlebens herausgefordert. Es könne nur eine Wahrheit zu den gesellschaftlichen Streitfragen geben. So forderte er das Programm einer »Kulturtheologie«48, die die Entwicklungen in allen Bereichen des kulturell-schöpferischen Lebens daraufhin untersuche, inwiefern in ihnen Offenbarung als konkretes religiöses Erlebnis ausgedrückt werde. Tillich sah das Verhältnis von religiösem Gehalt und kultureller Form in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis: »Je mehr Form, desto mehr Autonomie, je mehr Gehalt, desto mehr Theonomie.«49 Tillich unterschied von den historischen Religionen die »QuasiReligionen«, die ein sichtbarer Ausdruck des Säkularismus seien. Dazu gehörten Nationalismus, Sozialismus und auch die Wissenschaft, die »zu letzten Anliegen erhoben und vergöttert«50 würde. Heute könnte diese Unterscheidung von großem Interesse sein, wenn wir in Globalisierung und Neoliberalismus ebenfalls solche Quasi-Religionen erkennen. Intensiv hat sich Tillich mit dem Sozialismus und Nationalismus als Quasi-Religionen und ihrer Gefahr der Radikalisierung und Verabsolutierung befasst. In den späteren Texten widmete sich Tillich den Quasi-Religionen ausführlicher. In den 1960er Jahren sah er in ihnen die eigentliche Herausforderung des Christentums. Ihnen ginge es um die Durchsetzung eines politischen, sozialen oder kulturellen Prinzips. Ihr religiöser Charakter werde dann zerstört, wenn sie ihr Anliegen Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Paul Tillich, Mainworks / Hauptwerke Bd. II, 75, zuletzt abgedruckt in: Paul Tillich, Ausgewählte Texte, Berlin / New York 2008, 25–41. 49 Tillich, Idee, MW II 75 (im Text kursiv). 50 Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, 53. 48

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zum absoluten Prinzip erheben.51 Das Christentum habe eine solche Entwicklung zu kritisieren, »because of its cutting off the vertical dimension, both in the direction of the divine and the demonic«.52 In dieser Spannung zwischen Heiligem und Profanem befänden sich die Quasi-Religionen. 4.3 Tillichs dynamische Religionstypologie Tillichs Religionstypologie beschreibt die Struktur-Analogien zwischen den Religionen. Sie beschreibt Vergleichbares auf der Ebene der Strukturen und lässt Raum, um Unterschiede und Differenzen im Sinne unterschiedlicher Ausprägungen gelten zu lassen, ohne sie vereinheitlichen zu müssen. Tillich will keinen synkretistischen Einheitsglauben formulieren, sondern skizziert den hermeneutischen Rahmen, innerhalb dessen sich interreligiöse Begegnungen ereignen. Damit bietet Tillichs Ansatz eine wichtige Hilfestellung, um zu begreifen, wie im Dialog Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Religionen wahrgenommen und thematisiert werden können. Tillich unterscheidet sakramentale, ethische und mystische Elemente sowie das ›Protestantische Prinzip‹. Diese vier Elemente sind in den Religionen unterschiedlich ausgeprägt, sodass sich jeweils Entsprechungen, aber auch Unterschiede darstellen lassen. Die dynamische Typologie verhindert m.E. auch, dass eine Religion in ihrer historischen Gestalt verabsolutiert wird; denn die Dynamik zwischen den Elementen innerhalb jeder Religion und zwischen den Religionen schließt ihre Relationalität zueinander ein und verhindert so eine Isolierung der konkreten Religion von geschichtlichen Entwicklungen. Jede lebendige Religion besitzt ein ihr eigenes schöpferisches Potential. Jede Religion ist herausgefordert, sich angesichts sich wandelnder Gesellschaften weiterzuentwickeln. Dies geschieht auch auf dem Weg des Dialogs und der Begegnung mit Angehörigen verschiedener Religionen. Das interreligiöse Gespräch werde durch einen »stillen Dialog im Innern der einzelnen Teilnehmer«53 begleitet. Mit einem ›stillen Dialog‹ meint Tillich, dass in ihm die eigenen religiösen Vorstellungen, Traditionen und Lehren auf Verknüpfungspunkte zu den fremden Religionen befragt werden. Diese Gedanken provozierten 51 Vgl. Paul Tillich, Christianity and the Challenge of the Non-Christian Religions, in: APTA # 385, 411/7, S. 1–3. 52 Paul Tillich, …gical Polytheism as Depriving the Divine (Fragment), in: APTA # 393, 411/15, S. 16. 53 Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, S. 79.

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wieder neue und weiterführende Fragen an den Gesprächspartner und führten zu einem Neben- und Ineinander von äußerem und inneren Dialog. Der Dialog bleibt nach Tillich nicht folgenlos für die am Dialog beteiligten Religionen und ihren Repräsentanten. Bei allen HauptUnterschieden – so stellt er es in der Rückschau auf seine JapanReise 1960 fest – scheint ihm, »dass im Vollzug des religiösen Lebens Christentum ... und Buddhismus ... gegenseitig Elemente voneinander aufnehmen können, ohne darum ihren Charakter einzubüßen«.54 4.4 Tillichs »Religion des konkreten Geistes« Tillich hat die Elemente seiner Religionstypologie einander polar zugeordnet: Mystik und Ethik sind die Pole auf der horizontalen Ebene, sakramental und das ›Protestantische Prinzip‹ auf der Vertikalen. Diese polare Zuordnung stelle die produktiven Spannungen zwischen ihnen dar und schaffe eine Dynamik, die Tillich ein »drive towards reunion«55 nennt. Diese Bewegung führe zur »spiritual religion«56 oder zur »Religion des konkreten Geistes«. Diese Begriffe begegnen bei Tillich nicht in seiner Systematischen Theologie sondern nur in unveröffentlichten Vorträgen oder Manuskript-Fragmenten. Das bedeutet aber nicht, dass sie bedeutungslos wären, sondern das ist m.E. vielmehr ein Zeichen dafür, dass Tillich bis zuletzt an dieser Frage theologisch gearbeitet hat und schließlich über die Systematische Theologie hinausgegangen ist. Dafür spricht auch, dass sich seine Überlegungen hierzu sehr gut mit seiner Pneumatologie im dritten Band der Systematischen Theologie verbinden lassen. Tillich bezeichnet dort die Liebe als den Drang nach der »Wiedervereinigung des Getrennten« – »toward reunion of the seperated«.57 Die existentielle Trennung – in Tillichs Begrifflichkeit Folge der existentiellen »Subjekt-Objekt-Spaltung« – kann in der Geistgemeinschaft fragmentarisch überwunden werden. Tillich spricht im Zusammenhang seiner Geist-Lehre von der »transzendenten Wiedervereinigung des Getrennten«.58 Hinsichtlich der Religionen verwirkliche sich diese »Wiedervereinigung des GePaul Tillich, Vortragsreise; in: ders., Impressionen und Reflexionen, Stuttgart 1972, GW XIII, S. 504. 55 Paul Tillich, The Matchette Lectures: The Protestant Principle and the Encounter of World Religions, a.a.O., S. 55. 56 Paul Tillich, In Combining these Two Polarities (Fragment), APTA # 391, 411/13, S. 8. 57 Paul Tillich, Systematic Theology, Vol. III, Chicago 1963, 134 (dt. Berlin / New York 1963/66, 160. 58 Paul Tillich, STh III 182. 54

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trennten« in der »Religion des konkreten Geistes«. Diese wird zum telos der Religionsgeschichte, das sich im Verlauf der Religionsgeschichte immer wieder in verschiedenen kairoi manifestiere. Diese Sichtweise bleibe nicht folgenlos für das Christentum und seinen Absolutheitsanspruch: »Wo aber der göttliche Geist die Religion überwindet, überwindet er auch den Anspruch der Kirche und ihrer Glieder auf Absolutheit.«59 Für Tillich stellt die ganze Religionsgeschichte einen Kampf für die ›Religion des konkreten Geistes‹ dar. In den 1920er Jahren hatte er diese Durchbruchserfahrung schon in seiner Kairos-Lehre dargestellt. Jene besonderen Momente, in denen sich »das Unbedingte« innerhalb der Religionsgeschichte fragmentarisch manifestiere, bezeichnete er als »kairoi«60. Diese Manifestationen des Unbedingten seien anhand eines Kriteriums zu beurteilen. Dieses sei für Christen das Kreuzesereignis. Damit hält Tillich einerseits an der entscheidenden Funktion der Kreuzigung Jesu für den christlichen Glauben fest, interpretiert sie dann aber so, dass sie auch symbolisch verstanden werden und damit für andere Religionen geöffnet werden kann: Was im Symbol des Kreuzestodes Christi zum Ausdruck komme, könne sich in anderen Religionen, an anderen Orten und zu anderen Zeiten ebenfalls ereignen – auch ohne Kreuz. Das Kreuzesereignis gelte nur »for us as Christans«61 als Kriterium. Tillich sieht in der Religionsgeschichte im Ganzen einen Ort der Gegenwart des göttlichen Geistes in der Menschheitsgeschichte. Tillich spitzt diesen Gedanken christologisch zu, wenn er von der »Antizipation des Neuen Seins in den Religionen«62 spricht. Das »Neue Sein« ist für Tillich »die unverzerrte Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz«.63 Da Tillichs Rede von Jesus als dem Christus allerdings »eschatologische Symbolsprache« darstellt, wäre es grundsätzlich auch möglich, diesen Begriff über den christlichen Horizont hinaus auszuweiten und auf andere Religionen anzuwenden. Hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Geist-Offenbarung in Jesus als dem Christus zu den Geist-Offenbarungen in den nichtchristlichen Religionen. Tillich hebt hervor, dass Jesus zwar einzigartig sei, aber nicht von anderen Paul Tillich, STh III 280f. Paul Tillich, Significance, a.a.O., MW VI, S. 438. 61 Ebd. Ebenso betont Tillich, dass er die Qualifizierung der paulinischen GeistLehre als den höchsten Ausdruck der ›Religion des konkreten Geistes‹ vom Standpunkt des »Protestant theologian« (MW VI, S. 437) vorgenommen hat. 62 Paul Tillich, STh III 167. 63 Paul Tillich, STh II 130. 59 60

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Manifestationen des Geistes isoliert werden könne. Vielmehr stelle »Jesus als der Christus das Mittelglied in der Kette der geschichtlichen Manifestationen des Geistes64 dar. Aus Tillichs weitgefasstem Religions- und Offenbarungsverständnis folgt, dass es für ihn derselbe Geist ist, der in Jesus gewirkt und ihn zum Christus gemacht habe, und der außerhalb des Christentums »an allen Orten und zu allen Zeiten«65 Menschen ergriffen habe und noch ergreifen könne. Die Geistmanifestationen in Vergangenheit und Zukunft werden auf die eine in Jesus als den Christus bezogen, der er »Letztgültigkeit«66 zuspricht. Erst eschatologisch werde sich zeigen, dass sich auch in den anderen Religionen kein anderer Gott offenbart habe als jener, dessen Geist sich in Jesus als dem Christus manifestiert habe. Wie verhält sich nun ein so offenes und dynamisches Religionsverständnis zur Offenbarung in Jesus Christus als der normgebenden Offenbarung mit universaler Gültigkeit? Tillich bezeichnet sie als »das Kriterium jeder vorangegangenen und jeder folgenden Offenbarung.«67 Tillich hat die »Religion des konkreten Geistes« – die nicht identisch sein soll mit dem Christentum – als telos der Religionsgeschichte bezeichnet. Dann ist zu fragen: In welchem Verhältnis steht die »Religion des konkreten Geistes« zum Christentum? Ist sie ein weiterentwickeltes Christentum, das sich im dynamischen religionsgeschichtlichen Prozess verändert, sich selbst transzendiert und sich gar nicht mehr mit dem Christentum als historischer Religion identifizieren ließe? In diese Richtung könnte der Abschnitt jenes undatierten Fragments weisen, das bereits eingangs zitiert wurde und wahrscheinlich nach seiner Japan-Reise entstanden ist: »The point to which the dynamics of the holy in both polarities drive, is a unity of all religious potentialities which could be called Spiritual religion … But no religion can claim to cover the whole and to be itself the Spiritual religion. Everything is in a continuous movement driving towards the center, falling back from it, combining few or many elements, neglecting or removing others, conquering the tensions of the poles or conquered by them. This happens in every particular religion and it happens in the totality of religions. In these processes some religions combine many religious elements

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Paul Tillich, STh III 174. Ebd. Paul Tillich, STh III 175. Paul Tillich, STh I 164.

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like Catholicism and Buddhism, some exclude most elements like Judaism and Islam.«68 Dieser Absatz zeigt sehr deutlich, dass sich auch das Christentum in seiner konkreten historischen Gestalt nicht an die Stelle der »Religion des konkreten Geistes« setzen kann. Vielmehr bildet sich die spiritual religion in einem spannungsvollen dynamischen Prozess der gegenseitigen Grenz-Überschreitung. An dieser Stelle scheint mir Tillichs Position anschlussfähig an die kulturkritischen Überlegungen des Philosophen Wolfgang Welsch zu sein, die oben kurz dargestellt wurden. Er hat gefragt, ob nicht auch Religionen der »Kreuzung, Durchdringung und Überlagerung« bedürfen, bzw. ob sie sich nicht schon längst in einem solchen transkulturellen – oder transreligiösen? – Austausch befinden? Tillich scheint einer solchen Position wohl sehr nahe zu kommen, wenn er behauptet, der dynamische Prozess ziele auf »a unity of all religious potentialities which could be called Spiritual religion«.69 Auch Tillichs Konzept der »Geistgemeinschaft«, das er in seiner Pneumatologie im dritten Band seiner Systematischen Theologie entwickelt hat, kann als ein Versuch gelesen werden, den Christozentrismus seines theologischen Systems zu überwinden. Tillich hat in seiner Ekklesiologie latente und manifeste Geistgemeinschaft unterschieden.70 Geistgemeinschaft werde zwar in der Kirche manifest, aber auch außerhalb der verfassten Kirche gebe es Erfahrungen des Neuen Seins, die eine Geistgemeinschaft begründeten. Sie seien aber latent und bereiteten auf die manifeste Geistgemeinschaft vor. Als solche latente Gemeinschaften nennt Tillich beispielhaft die Propheten-Schulen in Israel, die Diaspora-Gemeinden des Judentums, aber auch Mysterien-Kulte. In ihnen gebe es Elemente des Glaubens als des Ergriffenseins von etwas Letztem und Unbedingten, wie sie das ›Neue Sein‹ kennzeichnete.71 Paul Tillich, Fragment APTA: # 392, 411/14 (Hervorhebung vom Verfasser). Paul Tillich, Fragment APTA: # 392, 411/14 (towards which the different polar forces); Hervorhebung vom Verfasser. 70 Vgl. Reinhold Bernhardt, Absolutheitsanspruch, 118–124, vgl. auch: ders., Protestantische Religionstheologie auf trinitätstheologischem Grund, in: Christian Danz / Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 107–120. 71 Vgl. Paul Tillich, STh III 181. – Henning Wrogemanns Kritik einer gewissen »interreligiösen Gönnerhaftigkeit« andere Religionen als latente Geistgemeinschaften zu würdigen übersieht, dass das Christentum bzw. die Kirchen in gleicher Weise der Kritik unterliegen wie alle anderen Religionen auch, vgl. Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen, a.a.O., 61. 68 69

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4.5 Das Protestantische Prinzip Eine wichtige Bedeutung hat in Tillichs Religionstheologie das ›Protestantische Prinzip‹. Es entstamme zwar schon begrifflich dem Protestantismus – dennoch gäbe es in jeder Religion mehr oder weniger ausgeprägt eine ›protestantische‹ Strömung. Es sei der spezifisch evangelische Beitrag zum interreligiösen Gespräch und entstamme der jüdischen Prophetie. In ihm komme die Fähigkeit zu beständiger Religions- und Selbstkritik zum Ausdruck. Auch die Kirchen der Reformation stünden unter dem Urteil des prophetischen Geistes. Keine christliche Gruppierung habe die Zusage, für immer bestehen zu bleiben. Das ›Protestantische Prinzip‹, das die Reformation auf die römisch-katholische Kirche angewandt habe, müsse ebenso für die Kirchen der Reformation gelten. Tillich wendet es auf die Weltreligionen an »as realities which stand as we ourselves do under the judgement of the Protestant principle«.72 Damit Tillich dieses Prinzip auch für nichtchristliche Religionen zum Maßstab erheben kann, muss er von seiner Universalität ausgehen. Deshalb hat Tillich versucht, entsprechende Parallelen z.B. im Buddhismus zu recherchieren. Auf seiner Japan-Reise fragte er in einem Gespräch mit Gelehrten der Jôdo-Shinshû-Schule in der Kyôto-Universität nach innerbuddhistischen Reformansätzen: »Buddhism has also had its Reformation, for instance in the case of the Shin Sect and also in the case of Zen Buddhism. Zen has dedemonized Buddhism. While in Buddhism prior to the rise of Zen and Shin there have been distorted forms of Buddhism – magical or idolatric or demonic – ...«73 Tillich sah im ›Protestantischen Prinzip‹ nicht nur ein christliches Prinzip, sondern einen universellen Grundsatz, der in allen Religionen wirke. Misst Tillich hier mit reformatorischem Maß? In seiner Systematischen Theologie leitet er das ›Protestantische Prinzip‹ aus der alttestamentlichen Prophetie ab und spricht synonym auch vom »prophetischen Prinzip«74 oder vom »prophetisch-protestantischen Prinzip«.75 In seiner Geist-Lehre wird das ›Protestantische Prinzip‹ zur Manifestation des prophetischen Geistes: »Das ›protestantische Prinzip‹ ist Ausdruck für die Überwindung der Religion durch den göttliPaul Tillich, Matchette Lectures, a.a.O., 17. Robert W. Wood (Hg.), Tillich Encounters Japan, in: JapRel 2, 1961, 48–71; Zitat: 52. Zum Shin-Buddhismus vgl. die neuere Studie von Stefan S. Jäger, Glaube und religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus, Berlin / New York 2011. 74 Paul Tillich, STh I 264; vgl. GW III 159. 75 Paul Tillich, STh III 206. 72 73

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chen Geist und damit Ausdruck für den Sieg über die Zweideutigkeiten der Religion.«76 So wird das ›Protestantische Prinzip‹ bei Tillich zu dem Prinzip, das die Wahrheit des Christentums zu einer prinzipiell nur relativen Wahrheit erklärt und es damit vor der Gefahr der Selbsterhöhung bewahren kann.77 Was geschieht aber, wenn eine historische Religion beansprucht, diese spiritual religion oder die ›Religion des konkreten Geistes‹ zu sein? Einer solchen Selbstverabsolutierung einer historischen Religion werde schon durch einen Blick auf die Wirklichkeit der jeweiligen Religion die Berechtigung entzogen: Ihre gegenwärtige Distanz von der spiritual religion, die eigenen inneren Konflikte sowie die Existenz anderer Religionen mit demselben Anspruch widerlegten diesen Absolutheitsanspruch. Ob eine historische Religion tatsächlich bereits dem Ziel der Religionsgeschichte nahe gekommen sei, das müsse auch an den konkreten historischen Umständen erkennbar sein. Eine Religion, die in ihrem eigenen Reden Selbstkritik erkennen lasse und sich der Kritik der Anderen aussetze, sei dem Ziel der Religionsgeschichte schon sehr viel näher. 4.6 Offenbarungstheologische Aspekte in Tillichs Religionstheologie Eine wichtige Voraussetzung für Tillichs Religionstheologie ist seine Offenbarungslehre. Sein weiter Offenbarungsbegriff lässt ihn auch von nichtchristlichen Religionen sagen, dass sie auf Offenbarungen beruhen, weil »das Wort Offenbarung ... von jeher die Bedeutung einer Manifestation von etwas Verborgenem gehabt [habe], zu dem man auf den gewohnten Wegen keinen Zugang haben«78 könne. Offenbarung ereigne sich innerhalb alltäglicher Erfahrungen, trete in sie ein, wobei der Erfahrungszusammenhang gleichzeitig transzendiert werde. Das Verborgene werde erst dort offenbar, »wo die Vernunft über sich selbst hinaus zu ihrem ›Grund und Abgrund‹ vorstößt«,79 wie es Tillich mystische Formulierungen aufgreifend formuliert. Dort offenbare sich das abgründige Element der Offenbarung, wie z.B. in der Gottesoffenbarung Jesajas (Jes 6,5). Offenbarung werde als ultimate concern erfahren. Alles andere seien bloße Berichte von Offenbarung. Die OffenbaPaul Tillich, STh III 281. Vgl. O. Douglas Schwarz, Religious Relativism: Paul Tillich’s ›Last Word‹, in: AJTP 7, 1986, 106–114. 78 Paul Tillich, STh I 131. 79 Paul Tillich, STh I 133. 76 77

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rung bediene sich dazu eines Offenbarungsmediums, das nicht in sich selbst Offenbarungskraft habe und auch nicht einen solchen Anspruch erheben dürfe. Geschehe dies trotzdem, dann mache sich der Offenbarungsträger zum Götzen. Als Offenbarungsträger käme jede Person und jedes Ding in Betracht: »Es gibt keine Wirklichkeit, kein Ding und kein Ereignis, das nicht Träger des Seinsgeheimnisses werden und in die Offenbarungskorrelation eintreten kann.«80 So können natürlich auch Personen und Dinge anderer Religionen zu Trägern von Offenbarung werden. Trotzdem erhebe die christliche Offenbarung den Anspruch, »dass die Offenbarung in Jesus als dem Christus letztgültig sei«.81 Ohne diesen Anspruch verlöre die Kirche ihr Fundament. Als letztgültig bezeichnet Tillich nicht die zeitlich letzte Offenbarung, sondern »die entscheidende, erfüllende, unüberholbare Offenbarung, das, was das Kriterium aller anderen Offenbarungen ist«.82 Damit wird die letztgültige Offenbarung zur normgebenden Offenbarung. Wie lässt sich aber eine Offenbarung als die entscheidend normative begründen? Tillich hatte die Offenbarungsmedien so bestimmt, dass sie ihre Würde und Berechtigung aus dem Grund des Seins ableiten. Deshalb ist nur diejenige Offenbarung letztgültig, die auf das zu offenbarende Geheimnis hin vollständig transparent ist, d.h. die »die Macht hat, sich selbst zu verneinen, ohne sich selbst zu verlieren«.83 Diese Bedingung werde allein von Jesus als dem Christus erfüllt; denn nur als der, der seine eigene historische Existenz hingegeben habe, sei er Träger des göttlichen Geistes bzw. die neue Kreatur. Das Christentum nehme für sich selbst keine Letztgültigkeit und auch keine Absolutheit in Anspruch, aber die Offenbarung, von der es Zeugnis gebe, sei letztgültig und normgebend. Tillich gibt der sog. liberalen Theologie recht, deren Vertreter bestritten hätten, dass »irgendeine Religion als Religion Letztgültigkeit für sich beanspruchen kann«.84 Als normgebende Offenbarung sei die Offenbarung in Jesus als dem Christus auch deshalb universal, weil sie »finis oder telos (das innere Ziel) aller Offenbarungen ist«.85 Wie verhält sich diese offenbarungstheologische Konzeption zu Tillichs bisher beschriebenen Überlegungen einer ›Religion des konkreten Geistes‹? In seinen Vorlesungen und Fragmenten, die 80 81 82 83 84 85

Paul Tillich, STh I 142. Paul Tillich, STh I 159. Ebd. Ebd. Paul Tillich, STh I 161. Paul Tillich, STh I 163f.

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sich mit interreligiöser Begegnung befassen, hat Tillich die ›Religion des konkreten Geistes‹ als das telos der Religionsgeschichte bezeichnet. Er hat besonderen Wert darauf gelegt, dass sie mit keiner historischen Religion identisch sei. Mir scheinen die zitierten Belege aus den nichtveröffentlichten Texten dafür zu sprechen, dass Tillich seine Ausführungen der Systematischen Theologie weiterentwickelt hat. Auch auf diese Spannung dürfte sich die »self-accusation«86 beziehen, die er erhebt, wenn er in seinem letzten Vortrag den bloß apologetischen Charakter seiner Systematischen Theologie kritisiert. Schließlich hebt Tillich hervor, dass keine Religion beanspruchen könne, das Ganze zu umfassen und selbst die spiritual religion zu sein.87 4.7 Zusammenfassung Die vielfältigen Erfahrungen interreligiöser Begegnungen88 könnten – allen sprachlichen, kulturellen und historischen Hindernissen zum Trotz – theologisch als der schöpferische Aspekt des GeistWirkens angesehen werden. Dialog und Begegnung bieten den Raum, in dem das schöpferische Potential der Religionen hervortreten kann. Verläuft die Debatte über den interreligiösen Dialog häufig über eine Defizit-Bestimmung, so ermöglicht Tillichs religionstheologischer Ansatz die Würdigung interreligiöser Vielfalt als eine Chance zur Vertiefung und Erweiterung der eigenen Religiosität; ja, sogar als eine schöpferische Geist-Erfahrung. Eine Theologie, die sich mit Tillich auf das schöpferische Potential des Geistes im Dialog bezieht, wird die interreligiöse Begegnung zu einem selbstverständlichen Teil der eigenen Religiosität werden lassen. Ausgehend von Tillichs Erkenntnis, dass die ›Religion des konkreten Geistes‹ mit keiner historischen Religion identisch ist, kann auch das Christentum keinen Absolutheitsanspruch erheben und sich nicht gegenüber anderen Religionen kategorisch abgrenzen.

Paul Tillich, Significance, MW VI 439. Vgl. APTA # 392, 411/14. 88 Es ist hier weniger an institutionalisierte Formen des interreligiösen Dialoges zu denken als vielmehr an die alltäglichen Begegnungen in Schule und Familie, wo die Probleme in besonderer Intensität erlebt werden. Vgl. Rat der EKD, Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen, Gütersloh 2000, sowie Evangelische Kirche im Rheinland, Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, Düsseldorf 2015, insbes. 23–31. 86 87

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5 Schlussfolgerungen aus Paul Tillichs Religionstheologie für den interreligiösen Dialog Tillichs Theologie hat an verschiedenen Stellen Ansatzpunkte formuliert, an denen christliche Theologie mit anderen Religionen in den Dialog treten und diesen Dialog theologisch begründen kann. Dieser Dialog geschieht in ständiger Wechselwirkung mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, und dadurch können auch Erfahrungen des Dialogs in die Gesellschaft hineinwirken. Die Kirchen stehen angesichts der eingangs beschriebenen gesellschaftlichen Situation vor der großen Aufgabe, der zunehmenden Abgrenzungsdynamik eine Praxis der Begegnung, Überlappung und »Unschärfe« entgegenzusetzen, um mit Michel Serres zu sprechen (s.o.). Christen und Kirchen könnten auf dem Weg zur spiritual religion die Menschen aus ihren angeblichen Dualismen und Ausschließlichkeits-Ansprüchen herausführen. Sowohl philosophisch (W. Welsch) als auch aus der Missionsgeschichte und schließlich theologisch lässt sich die Aufgabe formulieren, auf eine ›Einheit der religiösen Potentiale‹, d.h. einer spiritual religion hinzuwirken. Also nicht die Abgrenzung der Religionen (bei Wahrnehmung aller bestehenden Unterschiede), sondern der beständige Grenz-Wechsel ist der Weg, den die Kirchen zu gehen haben, um ihrem Glaubensgrund gerecht zu werden. Dass den Religionen selbst – auch dem Christentum – eine solche Dynamik eigen ist, hat Tillich versucht anhand seiner Religionstypologie und ihrer einzelnen Elemente zu zeigen, die aus ihrer Spannung heraus diese Dynamik freisetzen. Durch Tillichs pneumatologisches Verständnis des interreligiösen Dialoges wurde dieser als genuines Anliegen christlicher Religion und als ein Element der Verwirklichung christlichen Glaubens dargestellt. Welche Bedeutung hat die Begegnung mit den Weltreligionen für das Christentum? Für Tillich ergibt sich aus der Zusammengehörigkeit der Gläubigen verschiedener Religionen in einer Geistgemeinschaft z.B. die Ablehnung der Judenmission. Im Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen könne es nicht um Bekehrung gehen – vielmehr seien Juden z.B. schon »Glieder der latenten Geistgemeinschaft«, die gar nicht mehr aufgefordert werden müssten, in diese noch einzutreten.89 Auch der Säkularismus sei positiv zu bewerten »als der indirekte Weg des Schicksals, die Menschheit religiös zu einen«.90 89 90

Vgl. Tillich, Matchette Lectures, a.a.O., 129f.; vgl. auch Tillich, STh III 182. Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, S. 97.

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Darüber hinaus könne und müsse die Kritik ernst genommen werden, die von anderen Religionen gegenüber dem Christentum ausgehe. Das gelte z.B. für die asiatischen Religionen und ihre Kritik an der protestantischen Religiosität, insbesondere des Predigtamtes: Viele Menschen könnten die nüchterne und intellektuelle Art nicht mehr nachvollziehen, mit der ihnen die christlichen Symbole und Mythen nahegebracht würden.91 Schließlich stelle sich dem Christentum die Frage nach der Zukunft der Religionen: Besteht diese in einer irgendwie gearteten ›Einheitsreligion‹? Tillich selbst scheint dies mit seiner Idee einer ›Religion des konkreten Geistes‹ oder der spiritual religion nahezulegen. Er lehnt eine Verschmelzung der Religionen allerdings ausdrücklich ab. Eine universale Einheitsreligion zerstöre die Konkretheit der Religionen und würde die den Religionen eigenen Spannungen und ihre daraus resultierende Dynamik eliminieren. Die Herrschaft einer Universal-Religion über die anderen Religionen würde diesen nur eine wiederum partikulare Form aufzwingen. Interreligiöse Begegnung fordert nach Tillich nicht die Preisgabe der jeweils eigenen religiösen Tradition für eine universale Idee, sondern der Weg führe vielmehr »in die Tiefe der eigenen Religion in Anbetung, Denken und Tun«.92 In der Tiefe einer jeden (historischen) Religion findet Tillich den Punkt, an dem diese ihre Bedeutung verliere und die metaphysische Religion – das Unbedingte, die Offenbarung – durch die Partikularität der historischen Religion hindurchbreche, geistige Freiheit schaffe und mit ihr eine Vision spiritueller Gegenwart des Göttlichen, das in allen Kultur-Schöpfungen gegenwärtig sei.93 Bei aller Bereitschaft für ein gegenseitiges Verständnis der Religionen stellt sich trotzdem die Frage, ob die Religionen in der Lage sind, die Abgrenzungstendenzen zu überwinden, die sie in ihren Überlieferungen und ihrer Geschichte mittragen. Sind die wechselVgl. Tillich, Matchette Lectures, a.a.O., 43. Paul Tillich, Christentum, a.a.O., GW V, S. 98. 93 Im englischen Original heißt es: »In the depth of every living religion there is a point at which the religion itself loses its importance, and that to which it points breaks through its particularity, elevating it to spiritual freedom and with it to a vision of the spiritual presence in other expressions of the ultimate meaning of man’s existence. This is what Christianity must see in the present encounter of the world religions.« (Paul Tillich, Mainworks Bd. V, 325; auch: Paul Tillich, Ausgewählte Texte, a.a.O., 453). Vgl. auch Tillichs Schluss-Satz in seinem Vortrag The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, in: ders., Ausgewählte Texte, a.a.O., 465: »The universality of a religious statement does not lie in an all-embracing abstraction which would destroy religion as such, but it lies in the depths of every concrete religion.« 91 92

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seitigen Ab- und Ausgrenzungen nicht nachhaltiger als alle Bemühungen, sich gemeinsam der spiritual religion zu nähern? Abgrenzungstraditionen finden sich in allen Religionen. Um nur zwei zu nennen, sei zuerst auf Paulus verwiesen, der der Gemeinde in Galatien mit allem Nachdruck einschärft, bei der von ihm verkündigten Botschaft zu bleiben: »Wenn jemand euch ein Evangelium predigt, anders als ihr es empfangen habt, der sei verflucht.«94 Dann wird auch im Koran den Anhängern anderer Religionen mit Vergeltung gedroht: »Wer eine andere Religion als den Islam sucht, von dem wird es nicht angenommen werden. Und im Jenseits gehört er zu den Verlierern.«95 Religionen waren immer bemüht, ihre Gläubigen beieinanderzuhalten – und sei es unter Androhung von »Höllen-Strafen«. Heute zeigt sich diese Intoleranz immer noch an den Schwierigkeiten, die in manchen muslimischen Ländern mit der Konversion zum Christentum verbunden sind. Daran ändern auch die vielfältigen Bemühungen um Toleranz nur wenig. Der Theologe Ulrich Mann (1915–1989) hat verschiedene Formen von Toleranz unterschieden. Er lehnt sowohl die Beschränkung auf das ›Wesentliche‹ ab, weil sie die konkreten Formen, Riten und Dogmen, in denen sich die Unterschiede zeigten, vernachlässige. Gerade in ihnen werde aber das ›Wesentliche‹ konkret und anschaulich. Auch ein Synkretismus, der verschiedene Bestandteile der Religionen miteinander vermische, sei unsachgemäß. Vielmehr leite sich ›Toleranz‹ von lt. tolerare (dulden, ertragen) ab: »Der wirklich Tolerante leidet daran, dass er einerseits von seiner Wahrheit durchdrungen, von ihr im tiefsten überzeugt ist, andererseits aber doch ernstlich damit rechnen muss, der Partner oder Gegenspieler könnte auf dem Weg der Wahrheitserkenntnis weiter sein als er selbst.«96 Diesem Toleranz-Ansatz entspricht Tillichs Religionstypologie: Sie lässt die unterschiedlichen Wahrheitsansprüche der Religionen gelten. Sie begründet einen Dialog, der weder die Wahrheitsfrage außer Acht lässt noch sich auf ethische Imperative reduzieren lässt. Vielmehr sieht Tillich die interreligiöse Begegnung als einen ›schöpferischen Dialog‹, in dem Gottes Geist die am Dialog Beteiligten über ihre bisherigen ›provinziellen‹ religiösen Einsichten hinausführt und ihnen Gemeinschaft und gegenseitige Teilhabe schenkt. Hierin liegt nun in Deutschland zuallererst eine Aufgabe der Kirchen, aber auch der anderen ReligionsgemeinschafGal 1,9. Koran Sure 3:85 (vgl. auch Sure 48:28). 96 Ulrich Mann, Christentum und Toleranz, in: Toleranz heute. 250 Jahre nach Mendelssohn und Lessing, Berlin 1979, 85–103. 94 95

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ten, diese Offenheit des Dialogs füreinander zu markieren. Auch für den interreligiösen Dialog und Begegnungen zwischen den Religionen gilt die ›reformatorische Erkenntnis‹, dass Gotteserkenntnis, Verständigung und Gemeinschaft nicht zuerst unsere menschlichen Werke, sondern Gaben Gottes sind. Tillich hat die Christen aufgefordert, hier nicht eine historische Chance zu verpassen, indem sie sich von den Entwicklungen um sie herum abkapseln; sondern ihre eigene Provinzialität immer wieder neu zu überwinden.

Ralf Lange-Sonntag

Gibt es Religion jenseits der Kultur? Zum Verhältnis von Interkulturalität und Interreligiosität

Im Zusammenhang von Interkulturalität wird häufig – sei es parallelisierend oder sei es kontrastierend – der Begriff der Interreligiosität verwendet. Beide Begriffe verweisen auf Begegnungen zwischen behaupteten Entitäten, nämlich in dem einen Fall zwischen verschiedenen Kulturen, im anderen Fall zwischen verschiedenen Religionen bzw. deren Repräsentanten. Trotz der Nennung beider Begriffe im selben Kontext – um nicht zu sagen: in einem Atemzug – ist das Verhältnis beider zueinander jedoch äußerst umstritten. Für die einen sind Interreligiosität und Interkulturalität Komplementärbegriffe: Interreligiosität sei von Interkulturalität nicht klar zu trennen, aber doch eindeutig zu unterscheiden. In diesem Sinne wird zum Beispiel darauf verwiesen, dass die Inferiorität der Frau in einigen muslimisch geprägten Ländern nicht aus der islamischen Religion abzuleiten sei, sondern Folge patriarchalischer Kultur sei. Oder es wird argumentiert, dass das Ritual der Zweitbestattung bei den christlichen Batak-Kirchen auf Sumatra kein religiöses Ritual sei, sondern aus der vorchristlichen Kultur entstamme. Als problematisch ist bei dieser Zuordnung der Begriffe Interreligiosität und Interkulturalität jedoch zweierlei anzumerken: Zum einen bestehen Religionen nur als inkulturierte Formen von Religiosität. Mit anderen Worten: Es gibt keine Religion im ›Reinzustand‹. Die wahre Lehre gibt es höchstens als wahre Leere. Keine Religion existiert im luftleeren Raum. Jede Religion ist Summe von kulturellen Festlegungen und Entwicklungen, die sich zum Teil über Jahrhunderte hingezogen haben und kaum als abgeschlossen gelten können. In diesem Sinne sind auch die Versuche, zum ursprünglichen und in dieser Ansicht wahren Kern einer Religion vorzudringen, als kulturbedingte, rein rückwärts orientierte und damit anachronistische Zuschreibungen zu dekonstruieren, die vor der Notwendigkeit hermeneutischer Reflexionen zurückschrecken. Zum anderen argumentieren z.B. die Verfechter von patriarchaler Überordnung im Islam dezidiert mit religiösen Überzeugungen und Glaubenssätzen. Wie immer man selbst zum Verhältnis von Mann und Frau steht, das Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien wird

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Ralf Lange-Sonntag

dort nicht kulturell, sondern religiös begründet. Kritisch ist auch anzumerken, dass die behauptete Komplementär-Struktur von Interkulturalität und Interreligiosität faktisch meist ihren Anknüpfungspunkt bei der Religion nimmt: Was religiös nicht ableitbar ist, nicht als religiös begründbar gilt, wird als ein kulturell bedingter Sachverhalt wahrgenommen. Andererseits wird daraus aber nicht das Gegenteil hergeleitet: Was kulturell nicht begründet ist, gilt keineswegs als religiös, sondern entweder als politisch, milieubedingt oder »natürlich«, »triebhaft«, »biologisch« usw. Wenn also Interreligiosität keineswegs einfach als Komplementärbegriff zur Interkulturalität angesehen werden kann und wenn Religion prinzipiell als ein Phänomen von Inkulturation wahrgenommen wird, bietet es sich an, das Verhältnis beider Begriffe folgendermaßen zu beschreiben: Religion ist Teil der Kultur, und damit ist auch Interreligiosität ein Teilbereich von Interkulturalität. Diese Bestimmung von Interreligiosität als »Teilmenge« von Interkulturalität deckt sich mit vielen Erfahrungen des christlich-islamischen Dialogs in Deutschland, da sich hier nicht einfach Christen und Muslime begegnen, sondern zumeist Christen deutscher Herkunft mit Muslimen mit Migrationshintergrund aus der Türkei oder den arabischen Staaten. Doch passt dieses Schema auch angesichts von interreligiösen Dialogen, die Vertreter eines Landes bzw. einer Kultur führen? Was ist, wenn Vertreter der Evangelischen Kirche von Westfalen mit deutschen Konvertiten zum Islam einen Dialog führen? Was ist, wenn Vertreter der syrisch-orthodoxen Kirche auf türkische Muslime treffen oder javanische Christen auf javanische Muslime? Wäre dies nicht ein rein interreligiöser Dialog und keineswegs eine interkulturelle Begegnung? Gegen einen solchen gewichtigen Einwand ließe sich auf vierfache Weise antworten: Erstens: Die gemeinsame Herkunft aus einem regional begrenzten Territorium oder aus einem Staat besagt nicht, dass sich beide Gruppen auf Augenhöhe begegnen. Während in Deutschland Muslime in der Minderheit sind, sind Christen traditionell in Asien und den arabischen Staaten in der Minderheit, so dass die jeweilige Minderheit durchaus kulturell durch eine subjektiv oder objektiv vorhandene »Minderheitenpsyche« (Martin Tamcke) geprägt sein kann. Zweitens: Weder Religion noch Kultur sind objektive Begriffe. Was religiös in Theorie und Praxis relevant ist, kann nicht objektiv festgehalten werden. Im Rahmen der Hermeneutischen Religionswis-

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senschaft gilt das als religiös, was von den jeweiligen Subjekten als religiös verstanden wird. Ebenso sind die Grenzen der Kulturen nicht objektiv feststellbar. Die im integrationspolitischen Bereich aufgekommene Debatte um eine Leitkultur hat klar gezeigt, dass sich nicht bestimmen lässt, in welcher Hinsicht man Teil einer Kultur ist und wo und wann man diese Kultur bereits verlassen oder noch nicht betreten hat. Kultur im allgemeinsten Sinne ist als Gegenbegriff zur Natur all das, was menschlich gestaltet ist. Jedoch wird meistens vorausgesetzt, dass es sich hier nicht um eine individuelle, sondern um eine kollektiv bedingte Leistung handelt. Ein einheitlicher Begriff von Kultur ist demnach nicht erkennbar. Drittens: Der Begriff der Kultur ist auch in anderer Hinsicht schillernd. Der von Huntington heraufbeschworene »Kampf der Kulturen« ist im Original kein »Clash of Cultures«, sondern ein »Clash of Civilizations«. Was jeweils als Kultur und was in Abgrenzung dazu als Zivilisation zu bestimmen ist, ist demnach eine weitere ungeklärte Frage. Allgemein ließe sich wohl sagen, dass Zivilisationen einen größeren institutionellen Rahmen, also anerkannte Hierarchien, Symbole, Ausdrücke und Institutionen voraussetzen. Viertens: Kaum ein Mensch wird heutzutage nur von einer Kultur bestimmt. Je nach Perspektive kommen nationale Identitäten in Berührung mit Herkunftsidentitäten oder altersbedingten Identitäten (z.B. Jugendkultur) oder religiös definierten Identitäten. In diesem Sinn hat fast jeder Mensch eine cross cultural identity. Bezogen auf Interkulturalität bedeutet dies, dass interkulturelle Begegnungen keine unipolaren, sondern multipolare Strukturen aufweisen und demnach nicht eine Gruppe einer anderen gegenübersteht, sondern die Teilnehmenden ein Geflecht überlappender Beziehungen abbilden. Als Fazit bleibt: Die einfache Gegenüberstellung von Interkulturalität und Interreligiosität kann auf einer Arbeitsebene Zuordnungen vereinfachen und Argumentationsstrukturen beleuchten. Der Versuch einer prinzipiellen Zuordnung der beiden Begriffe führt jedoch in die Aporie, wenn nicht die den Begriffen inhärente Subjektivität und Unabgeschlossenheit berücksichtigt wird. Am ehesten kann Interreligiosität daher als Sonderfall einer übergeordneten Interkulturalität verstanden werden.

III Über das Verstehen des Korans und islamische Theologie

Andreas Ismael Mohr

Was ist der Koran? Volkstümliche Auffassungen von Muslimen, der Welt der Gelehrten und die Sichtweise der Arabistik – Thesen 1 Was sagen Muslime über den Koran? Zu den wichtigsten Vorstellungen der Muslime gehören Aussagen über den Koran, die aus dem Korantext selbst und aus der HadithÜberlieferung hervorgehen, z.B. dass er eine »Herabsendung« (auch ungenau als »Offenbarung« übersetzt) aus einer himmlischen Urschrift sei. Der Koran (qur’ân: Rezitation; Vor-Lesung) ist insgesamt das Wort Gottes, genauer: die Rede Gottes an Muhammad als Verkünder gerichtet. Der Verkünder wird oft (aber keinesfalls immer; etwa nicht in vielen der ganz kurzen Suren) mit »Sprich!« zum Vortrag und zur Verkündigung aufgefordert. Alle »Herabsendungen«/Verkündigungen fanden zu einem bestimmten Anlass statt; zu etlichen Koranstellen und auch zu ganzen Suren gibt es Hadith-Berichte, die man »die Anlässe der Offenbarung« nennt. So fügten sich die einzelnen Botschaften (âyât, auch = Verse) zu Suren (sûra); und die 114 Suren schließlich als Sammlung zu dem vollständigen (schriftlichen) Koran, dem mußhaf, d.h. dem gebundenen Buch. Die kurzen, aber auch die langen Suren sind als Texteinheiten intendiert, komponiert. Das Eröffnungsgebet (al-Fâtiha) steht dem Textkorpus voran. 2 Volkstümliche Vorstellungen, die entweder von Gelehrten nicht einfach so unterschrieben werden könnten oder zumindest einer Präzisierung bedürften, sind etwa folgende »verherrlichenden« Aussagen über den Koran: 2.1 Der Koran ist das unmittelbare Wort Gottes. – Problem: Wenn wir den arabischen (!) Korantext hören oder lesen, dann sind mehrere Mittler vorhanden: Wir hören oder lesen eine schriftliche (kalligrafierte; gedruckte) oder hörbare (rezitierte) Wiedergabe durch Menschen (Schrift bzw. Stimme), die durch Überlieferung auf den Verkünder Muhammad zurückgeht; dieser hörte nicht etwa Gott,

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sondern den Engel Gabriel (als offenbarende Stimme), welcher den Koran aus der »Wohlverwahrten Tafel« (der himmlischen Urschrift) stückweise »herunterbrachte«. 2.2 Der Koran hat 6.666 Verse (âyât). – Dies ist eine nahezu wunderbare Nummer, zumal der Zahlwert von »Allâh« [alif-lâm-lâmhâ‹] »66« ergibt. Allerdings ist diese Angabe objektiv falsch; nach keinem der ca. sieben Hauptsysteme der klassisch-islamischen Verszählung ergibt sich »6.666«; die gewöhnlichste Angabe, d.h. die »kûfische« Verszahl in den meisten Koranausgaben beträgt 6.236 âyât. 2.3 Der Koran ist vollkommen widerspruchsfrei. Dies ist problematisch, zumal es im Koran etwa verschiedene Regelungen für ein und denselben Problembereich gibt. (Dazu unten: »Abrogation«). 3 Muslimische Gelehrte sehen manches differenzierter und sind sich der Probleme überlieferter Aussagen über den Koran wohl bewusst 3.1 Zu den (o.g.) Anlässen der Herbsendung (asbâb an-nuzûl), die nur einen Teil der Korantexte oder einzelne Verse betreffen, gibt es oft widersprüchliche Überlieferungen. Zwei oder drei völlig unterschiedliche Ereignisse, Personen usw. werden bisweilen als Anlass für eine bestimmte Offenbarung genannt. Wie ist das zu lösen? Eine Möglichkeit ist die der Hadith-Kritik, d.h. man untersucht, welche Überlieferung aufgrund der sie übermittelnden Personen und Gelehrten am vertrauenswürdigsten scheint. 3.2 Was die Harmonie aller Teile des Korans miteinander, oder aber die Möglichkeit von Widersprüchen, angeht, so stellen die meisten muslimischen Gelehrten fest, dass etliche Stellen im Koran durch andere Stellen aufgehoben (abrogiert) werden. D.h. bei widersprüchlichen Angaben ersetzt im Allgemeinen die spätere Offenbarung die frühere. Ausmaß und Gültigkeit dieses Phänomens der Abrogation ist in den Einzelheiten sehr umstritten; eine Minderheit der klassischen muslimischen Gelehrten (sowie einige der modernen) bestritt sogar, dass dieses Phänomen innerhalb des Korans existiere. 3.3 Die Sammlung, also Zusammenstellung aller Offenbarungen, d.h. die Redaktion des Korans (qur’ân) zu einem einzigen Gesamttext in Form eines Mußhaf (mus’haf; gebundenen Buch) ist in zahlreichen Überlieferungen bekannt, die allerdings keineswegs widerspruchsfrei sind. Im Allgemeinen wird angenommen, dass

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bereits zu Lebzeiten des Propheten Muhammad die Reihenfolge der Verse in den Suren, ja sogar die Reihenfolge der 114 Suren hintereinander (mündlich) festgelegt gewesen seien; die Koranausgabe unter dem Kalifen Uthman, ca. 20 Jahre nach Muhammads Tod in mehreren Standardabschriften verbreitet, soll genau dieser Reihenfolge entsprechen und bildet die Grundlage für alle heutigen Koranausgabe und Rezitationen. 4 Was war bislang die gängige Auffassung außerhalb des Islams? Nichtmuslimische Aussagen über den Koran sind im Rahmen der interreligiösen Polemik zu verstehen: Der Koran galt oft (die meisten Quellen hierzu sind christlich) als die Irrlehre eines christlichen Häretikers, oder ein Buch eines falschen Propheten – bis hin zur Verdammung des Korans (wie übrigens auch des Talmuds) als Buch des Teufels. In der Aufklärung setzten sich in Europa positivere Auffassungen durch; ein Beispiel für eine gemäßigte, in Teilen sogar positive Aufnahme des Korans ist Goethe; der Dichter stilisierte sich geradezu (manchmal ironisch!) zu einem »Moslim« (so eine der Schreibweisen). Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Koran (weitgehend frei von Polemik) bahnte sich im frühen 19. Jahrhundert an und gipfelte in dem großartigen Werk »Geschichte des Qorans« von Theodor Nöldeke (1860), dessen 2. Auflage in 3 Bänden (1909– 1938) bis vor kurzem das Hauptwerk der nichtmuslimischen (philologischen) Beschäftigung mit dem Korantext darstellte. 5 Wie steht es um die Verfasserschaft? Einige neuere – seriöse – Aussagen zum Koran können wie folgt zusammengestellt werden (dies ist die Perspektive der beiden Arabisten/Islamwissenschaftler Angelika Neuwirth und Nicolai Sinai): 1. Der Koran hat keinen auktorialen Verfasser. (Es handelt sich nicht um ein am Schreibtisch verfasstes Buch.) Muhammad ist der Verkünder des Korans. Er ist Mittler und Sprecher in einer Debatte. 2. Der Koran ist kein epigonales Werk. (Er versucht nicht etwa, die »Bibel« nachzuahmen.) 3. Bei der Betonung des jüdischen und christlichen Hintergrundes ist die literarische Bezugnahme etwa auf die altarabische Dichtung oft vernachlässigt worden. (Der Koran ist durchaus ein arabisches Werk, das an die altarabische Sprach- und Bilderwelt anknüpft.) 4. Der Koran reflektiert quasi als Mitschrift eine Debatte der Spätantike in Arabien (nicht in Rom oder Konstantinopel).

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5. Daher ist eine chronologische Lektüre des Korans sinnvoll. (Man beginne etwa mit den frühmekkanischen Suren; zu diesen gehören etwa die Suren 93, 94, 97, 108, 105, 106, 102 … 87, 96, 82, 81 … 55, 56; nach A. Neuwirth: Der Koran 1, Frühmekkanische Suren, 2011.) (6. Populistische Behauptungen [»Luxenberg«, Ohlig u.a.] wie die, Muhammad hätte es nie gegeben, der Koran sei ein teilweise syrisch-aramäischer Text, die arabische Sprache sei erst viel später »erfunden« worden, die Jungfrauen und Jünglinge des Paradiesgartens wären in Wirklichkeit »weiße« bzw. »eisgekühlte Trauben«, das »Kopftuch« hieße »den Gürtel enger schnallen« usw., sind unseriös und polemisch motiviert.) 6 »Dies ist die Schrift« – Fazit Mein Vorschlag als Muslim, Islamwissenschaftler und Arabist ist die, den Koran als zweidimensionalen Text wahrzunehmen: Er hat eine »göttliche« (himmlische) und eine »weltliche« (historische) Seite. Göttlich: Der Koran ist überzeitlich, von Gott ausgehend, auch wenn darin zeitliche Abfolgen eine Rolle spielen, etwa wenn spätere Aussagen frühere »abrogieren« und die einzelnen Teile der Botschaft zu unterschiedlichen historischen Anlässen »herabgesandt« wurden. In dieser Form wird die gesamte Verkündigung (qur’ân) aus der himmlischen Urschrift (»der Mutter des Buches) zu dem Koran als »in unseren Händen befindliches« Gotteswort, als Koran im Buch. Dies war für die ursprünglichen Hörer verständlich und zutreffend, für uns aber bedarf es der Auslegung (tafsîr). Der qur’ân wird mit der sunna, der Praxis Muhammads und der frühen islamischen Gemeinde als »Koran und Sunna« zur zweifachen Quelle des islamische Glaubens. Weltlich: Die Verkündigung Muhammads hatte einen historischen Hintergrund, den man am besten aus dem Text selbst erschließen kann, nur teilweise aus späteren Überlieferungen dazu. Ergänzungen und Erweiterungen früherer (mekkanischer) Texte in späterer (medinischer) Zeit zeigen, wie der Text in der Verkündigungsphase wuchs und immer wieder adaptiert wurde. Auch wenn die Suren als Einheiten, d.h. als durchkomponierte Textstücke von sehr unterschiedlicher Länge, gegen Ende der Lebenszeit Muhammads bereits »fertig« vorlagen (vielleicht auch schriftlich), so wurde erst anschließend durch Zusammenstellung und Anordnung der 114 Suren zu einem kanonischen Textkorpus der schriftliche Koran, der Mußhaf (s.o.) geschaffen (ca. 20 Jahre nach Muhammad Tods). Die

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Kanonisierung dauerte allerdings noch länger: Verschiedene Möglichkeiten der Lesung einzelner Wörter und grammatikalischer Konstruktionen, die gleichermaßen anerkannt wurden, führten schließlich (nach Ausscheidung unakzeptabler Einzellesarten) zu der fertigen kanonischen Gestalt des Korans in den »Sieben Lesarten«, wie man sie heute (vor allem zwei diese Lesarten sind noch weithin gebräuchlich) in den gedruckten arabischen Koranausgaben findet.

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»Verstehst du auch, was du da liest?« Koran-Deutungen im Kontext salafistischer Strömungen im Islam

Der Islam ist in aller Munde und mehrheitlich kreist die Debatte um den Koran. Im Angesicht des islamistischen Extremismus von IS und Boko Haram fragen sich viele: Ist der Koran ein Buch, das Gewalt rechtfertigt, so wie es in der Auslegung der Extremisten geschieht? Richtig ist: Mit Religion lässt sich Gewalt rechtfertigen, mit Religion lässt sich für den Frieden werben. Das gilt auch für jede andere Art der Weltanschauung. Es kommt entscheidend auf den Umgang mit den eigenen als heilig verstandenen Quellen an. Einzelne Verse herauszupicken und in einer Art Buchstabengläubigkeit unmittelbar und völlig geschichtslos zu lesen (wie es islamistische Extremisten wie Taliban und IS tun), geht am Sinn Heiliger Texte vorbei. Man nimmt dann den Text wortwörtlich statt beim Wort. Diese verbalinspirierte Lesart findet sich in allen Schriftreligionen (also auch bei manchen jüdischen, christlichen und buddhistischen Gläubigen) und tritt dann besonders stark in den Vordergrund, wenn sich eine Gesellschaft im Umbruch bzw. eine religiös-weltanschauliche Gruppe in einer Krise befindet. Solche Lesart ist kein Zeichen für Stärke, sondern von Ängstlichkeit und Schwäche. Diese Überzeugung wird mehrheitlich von Gläubigen aus Judentum, Christentum und Islam geteilt. Zum einen sollten wir deshalb nicht die Auslegung der Radikalen für die Meinung der Mehrheit halten. Zum anderen sollten wir vermeiden, den Islam auf den Koran und ein bestimmtes Auslegungsverständnis zu reduzieren. Denn »ganz normale« Gläubige glauben zwar an Gott und den Propheten, aber richten deswegen nicht jede Kleinigkeit ihres Lebens am Koran aus. Und wenn sie sich auf den Koran und die Tradition beziehen, tun sie es ausgesprochen vielfältig. Und schließlich sollten wir kritisch fragen, welche kulturellen, gesellschaftspolitischen und theologischen Grundlagen fundamentalistische Tendenzen befördern und eine Buchstabengläubigkeit begünstigen.

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1 Heilige Schrift als »Wahrnehmungsereignis« Bevor wir also den Koran als Schlagwort missbrauchen oder in einer Art »Suren-Ping-Pong« mit Koranzitaten »beweisen« wollen, dass der Islam für Frieden steht oder Gewalt befürwortet, scheint mir folgende Erinnerung hilfreich: Die Heilige Schrift, ob Thora, Bibel oder Koran, ist zunächst einmal ein Hörbuch: Heilige Texte wurden und werden laut vorgetragen, rezitiert im Gottesdienst. Es sind Bücher für den liturgischen Gebrauch. Westlich geprägten Christen ist dieses Hörerlebnis mehr und mehr abhandengekommen. In den orientalischen und orthodoxen Kirchen hat sich diese fast wie ein Gesang klingende Schrift-Rezitation bewahrt. So hat es die Alte Kirche vom Judentum gelernt, so hat es der Islam vom Christentum übernommen. Die nach islamischer Tradition älteste Überlieferung (Sure 96:1) beginnt dementsprechend auch mit dem Wort: »Rezitiere (laut)!« und nicht: »Lies!«, wie es in manchen deutschen Übersetzungen heißt. Schon das Wort »Koran« weist darauf hin, denn es ist selbst ein syrisch-aramäisches Lehnwort und bedeutet »das zu Rezitierende«. Wenn Gott spricht, geht es um ein Wahrnehmungsereignis, das die Hörenden ergreift und zum Lob Gottes, zur Hingabe an Gott bzw. zum Gebet inspiriert. Vergleichbar mit einer Musik-Partitur, die nicht von sich aus klingt, ist die Heilige Schrift (Thora, Bibel aus Altem und Neuem Testament, Koran) das Wort Gottes in dem Moment, indem sie durch den Geist erklingt, ein Klangraum entsteht. Texte wurden laut gelesen – am besten auch im Gehen (wie z.B. auch bei den griechischen Philosophen). Wir dagegen lesen meistens nur noch leise – wenn wir überhaupt noch lesen. So sind wir auf gewisse Weise hörunfähig geworden – unsensibel für den zwischen Text und Hörendem liegenden Wahrnehmungsraum. Die muslimische Erfahrung mag uns etwas lehren, was wir – nicht nur im Westen, aber besonders bei uns – nicht (mehr) kennen. Was eröffnet das Rezitieren – und das heißt ja: das laute Lesen, das »Zum Klingen-Bringen« der Offenbarung?1 Echte religiöse Sprache mit ihrem Rhythmus, ihrer symbolischen Art spricht ins Unterbewusste, in Regionen, die dem rationalen Argument unzugänglich sind – wie bewegende Momente von Liebe, von Augenblicken, die einen ins Staunen versetzen. Schrift-Rezitation ist Begegnung mit dem Heiligen. Daher ist es wichtig, nicht alles auf einmal zu hören, Vertiefend dazu vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2011. 1

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sondern wie bei jeder guten Medizin in bekömmlichen Dosierungen. Es geht ja nicht um Informationen, um objektives Wissen, sondern um die Änderung der inneren Haltung – dass ich mich vom Wort Gottes anrühren, in der Tiefe meiner Seele und meines Geistes bewegen lasse. Daher ist der sound beim Rezitieren so wichtig. In der christlichen Tradition heißt es deswegen auch »Gospel« (»Nachricht«, »Mit-Teilung«), hörbare Proklamation – im Griechischen: kerygma. Dieser Zugang, der ja ein gemeinsames Erbe der drei großen monotheistischen Religionen im Großraum Syrien ist, könnte den Gläubigen helfen, einander näherzukommen. Damit dies geschehen kann, müssen alle drei Religionen die musikalische und bezaubernde Kraft des sounds der heiligen Texte (wieder) entdecken. Auf diesem Hintergrund ist schon zu erahnen, was es bedeutet, wenn das Verständnis der eigenen Heilige Schrift auf den Buchstaben, auf den Text reduziert wird. In der Folge besteht die Tendenz, das eigene Wahrheitsverständnis zur Aussage über »die Wahrheit« zu verkürzen und die Schrift als Regelwerk und Norm aufzunehmen statt als spirituell-theologischen Wegweiser in der lebendigen Kommunikation mit Gott. Auf der Grundlage des lebendigen Wortes als »Wahrnehmungsereignis« gehe ich nun auf das traditionelle islamische Verständnis zum Koran ein. Anschließend möchte ich das salafistische Schriftverständnis erläutern, bevor ich Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung der Koran-Auslegung anspreche. 2 Der Koran als verbindliche Urkunde des Glaubens Im islamischen Selbstverständnis ist der Koran der Inbegriff der Offenbarung. Die Offenbarung ist im Islam demnach keine Selbstoffenbarung Gottes wie im Christentum, sondern Gott offenbart mit dem Koran seine Gegenwart. Insofern ist der Koran das Wort Gottes, das sich nicht einfach relativieren lässt. An der Zuverlässigkeit der Überlieferung wird innermuslimisch nicht gezweifelt. Aber es ist keine Verfassung, wie es salafistische Gruppierungen behaupten, sondern ein spirituelles »Buch der Rechtleitung«. Der Koran hat kein absolut eindeutiges Profil, sondern es finden sich entsprechend der verschiedenen »Hör-Erlebnisse« zur Zeit des Propheten je nach Anlass der Offenbarung unterschiedlich akzentuierte Inhalte.

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Die wesentliche Botschaft des Korans lässt sich durch immer wiederkehrende Themen herausarbeiten. Zentral geht es um die Lehre von der absoluten Erhabenheit des einen einzigen Gottes (arab.: tawhîd), die scharfe Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, die dramatische Schilderung des Unterschieds zwischen Himmel und Hölle, das Jüngste Gericht und die Auferstehung der Toten.2 Vieldeutigkeit gilt dabei in der klassischen Koran-Auslegung als Grundprinzip. Das gilt für die Lesarten und Textvarianten ebenso wie für die Textinterpretation. Der Koran ist mitsamt seinem Varianten-Apparat göttlicher Text. Um diese Komplexität auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, haben sich islamische Gelehrte im 9. Jh. darauf geeinigt, für kultische und juristische Zwecke lediglich sieben bzw. zehn dieser Lesarten heranzuziehen. Sie gelten alle als gleichermaßen gut und gültig. Der Koran ist ein schwieriges, themenreiches und tiefgründiges Buch. Er enthält keine gradlinige Erzählung und kennt verschiedene Sprachstile. Die arabische Sprache selbst ist vielfach uneindeutig und schwer zu entschlüsseln. Das vorhandene Schriftmaterial bedarf also der Interpretation, der Exegese (arab.: tafsîr) – und das war und ist innerislamisch bis heute mehrheitlich selbstverständlich. Das protestantisch anmutende sola scriptura (allein die Schrift) ist für den innerislamischen Diskurs ebenso ein modernes Phänomen wie seine scheinbare Allgegenwart, die uns medial vermittelt wird. Wer allerdings einzelne Verse aus dem Gesamttext herauslöst, als wäre der Koran ein Nachschlagewerk, vermag auch innerhalb des islamischen Selbstverständnisses nichts wirklich Substantielles auszusagen. Um zu einer Deutung und zu einem Verständnis einer Sure oder eines Koran-Verses zu kommen, ist die gesamte islamische Auslegungstradition mit zu bedenken. Es ist daher eine weitaus höhere geistige Anstrengung nötig als die bloße Zitation eines Verses. Wer den Koran derart selektiv liest, manipuliert den Islam, sei er Islamist oder Islamkritiker. Auf der einen Seite herrscht die Überzeugung, dass der Koran das unverfälschte und klare Wort Gottes ist. Auf der anderen Seite weiß man darum, dass dieser Koran an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit offenbart wurde. Einer der zentralen Punkte 2 Andreas Goetze, Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams, Darmstadt 2014 (4. Auflage), 270–275, bes. 284–287 mit zahlreichen Belegstellen aus dem Koran.

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der innerislamischen Auseinandersetzung dreht sich von daher um die Frage: Wie bekomme ich diese zwei Annahmen zusammen? Alle Koran-Ausleger ringen um das Verhältnis zu diesen beiden Polen. Man ist sich innerhalb der Islamwissenschaft bewusst, dass sich unter der Decke scheinbarer Kontinuität viel mehr Unterschiede auftun, als gemeinhin dargestellt werden. Ein klassischer KoranKommentar enthält stets mehr als nur eine Deutung. So paradox es klingen mag: Eben weil der Koran als das reine göttliche Wort gilt, ist nach traditioneller islamischer Auffassung jede Auslegung menschlich und daher notwendig relativ und ergänzungsbedürftig. Dabei gilt das Prinzip der Meinungsvielfalt (arab.: ikhtilâf) im Gespräch mit der gesamten anerkannten islamischen Tradition. In der klassischen Zeit war ein islamischer Gelehrter stolz, wenn er möglichst viele Interpretationen des Korans kannte und nicht nur eine einzige. Klassische Kommentatoren waren dementsprechend darauf aus, möglichst viele Interpretationen einer Koran-Stelle zusammenzutragen, von denen sowohl jede einzelne wahr sein konnte als auch mehrere gleichzeitig.3 Für den Gelehrten Ibn alDjazarī (gest. 1429) ist die Interpretationsoffenheit ein wesentliches, gottgewolltes Merkmal des Korans: »Die Gelehrten (...) hörten seit der Frühzeit niemals auf und werden bis zum Ende der Zeit nicht aufhören, aus dem Koran (rechtliche) Hinweise, Argumente (…) Einsichten (…) abzuleiten, die noch kein Früherer erkannt hatte, ohne ihn deshalb für die Späteren auszuschöpfen. Vielmehr ist der Koran ein gewaltiges Meer, in dem man nie auf Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halt gebracht wird. Deshalb benötigt diese Gemeinde auch nach ihrem Propheten (…) keinen weiteren Propheten mehr, wie das mit den früheren Völkern der Fall war ...«.4 3 Regeln der Koran-Auslegung Die islamische Koran-Auslegung (tafsîr bedeutet auch Erläuterung bzw. Kommentar) ist eine Wissenschaft für sich. Um zu einer Auslegung eines Suren-Abschnittes im Koran zu kommen, sind ver-

Nach Sure 18:109: »Sprich: ›Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, wahrlich, das Meer wäre erschöpft, bevor die Worte meines Herrn versiegen, selbst wenn wir noch einmal soviel Meer dazu brächten‹« (ebenso Sure 31:27). 4 Ibn al-Djazarī, Nashr, S. 5, zitiert bei Thomas Bauer, Musterschüler und Zauberlehrling. Wieviel Westen steckt im modernen Islam? Festvortrag auf dem 31. Deutscher Orientalistentag, Marburg 2010 (www.uni-marburg.de/cnms/ aktuelles/news/dot-vortrag-bauer.pdf), 1–12, 8. 3

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schiedene Aspekte grundlegend zu beachten und miteinander ins Gespräch zu bringen:5 1. Zunächst sind alle relevanten Textstellen zu einer Thematik zusammenzubringen. Diese Grundhaltung findet sich auch im Koran selbst: »Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen?« (Sure 2:85). Denn wie in jeder anderen Schrift kann man aus isolierten Bruchstücken das Gegenteil dessen herleiten, was beabsichtigt ist. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die methodischen Grundbegriffe zu kennen und der Frage nachzugehen, ob z. B. eine Aussage allgemeingültig (´amm), speziell (khass), grundsätzlich (mujmal) oder erläuternd (mufassir) ist. Dabei ist das »Allgemeine« vom »Spezifischen« und das »Bedingte« vom »Absoluten« zu unterscheiden. Mit Hilfe der eindeutigen (al-muhkam) Verse ist zu versuchen, die mehrdeutigen, dunklen (al-mutashâbih) zu verstehen.6 2. Es ist notwendig und sachlich geboten, auf den historischen Kontext zu schauen und nach dem Anlass der Offenbarung zu fragen. Daraus hat sich die sog. »Lehre von den Offenbarungsanlässen« (ashâb an-nuzûl) herausgebildet. Zwei Drittel des Korans wurden in Mekka offenbart, wo nach islamischer Heilsgeschichte Muhammad geboren wurde, den Kaufmannsberuf erlernte und ausübte und eine Familie gründete. Themen wie soziale Gerechtigkeit und seine religiöse Suche stehen neben allgemeinen Grundsätzen von Glauben und Ethik im Mittelpunkt der Überlieferung. In Medina werden die Texte komplexer, aber auch schärfer im Ton der Auseinandersetzung. Diese Umstände werden mit den ProphetenBiographien (sîra) in Zusammenhang gebracht, so dass Muhammad selbst zu einer Art »hermeneutischer Schlüssel« der KoranInterpretation wird. 3. Ebenso ist es notwendig und sachlich geboten, die Tradition (arab.: sunna) zu Rate zu ziehen, die Aussprüche des Propheten Muhammad (sog. »Hadîth-Tradition«): Was hat der Prophet gesagt, getan? Die theologische Hadîth-Literatur als eigener Zweig der islamischen Wissenschaft macht darauf aufmerksam, wie der Koran-Text eine kontextuelle Einbettung erfahren hat und es durchaus umstritten ist, wie der ursprüngliche Kontext beschaffen gewesen ist.

5 6

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4. Es finden sich nicht nur zahlreiche thematische Wiederholungen im Koran, sondern auch widersprüchliche Aussagen. Nach Sure 2:106 hat sich daher die Auslegungsregel an-nâsikh wa almansûkh, die »Aufhebung des älteren durch den jüngeren Vers«, etabliert. Grundlage ist die Erforschung einer relativen Chronologie der Koran-Verse mit dem Ziel zu überprüfen, welche Offenbarungsinhalte als tilgend (arab.: nasikh) und welche als getilgt (mansikh) zu verstehen sind.7 5. Es ist schließlich notwendig und sachlich geboten, die anerkannten Koran-Ausleger zu befragen, nicht nur einen Gelehrten (analog zur jüdischen Tradition im Talmud). Dabei sucht man die Übereinstimmung (arab.: itjimâ), den Konsens mit der Gesamtheit der Gelehrten und der islamisch anerkannten Rechtsschulen8 herzustellen, um auf diese Weise verbindliche Rechtsnormen zu erarbeiten. 6. Mit Hilfe des »Analogieschlusses« (arab.: qiyas) sind ähnliche Verse bzw. Offenbarungsanlässe zu suchen und die dunklen mit den klaren Stellen auszulegen und nicht umgekehrt, wie es diejeni-

Andreas Goetze, a.a.O., 238: »So ist z. B. das Verbot, Wein zu genießen (Sure 5:90f), als die zuletzt offenbarte Sure als Maßstab zu nehmen gegenüber den »älteren Suren«, die noch kein solches Verbot kennen (Sure 2:219; 4:43; 16:67). So haben in der theologischen Reflexion die islamischen Gelehrten schon in der Frühzeit den Qur’ân durchaus historisierend interpretiert und eine Auslegung mit Hilfe angenommener historischer Anlässe für die jeweilige Offenbarung erarbeitet. Dass zunächst Alkoholgenuss erlaubt war (Sure 2:219), dann als verpönt galt (Sure 4:43) und schließlich verboten wurde (Sure 5:90f), wird auf Gottes Barmherzigkeit bei seinen Offenbarungen zurückgeführt: Nach diesem Stufenmodell bürdet Gott der islamischen Gemeinde anfangs eine leichtere Last auf, um sie nicht gleich zu überfordern. Erst später, als die Gemeinde innerlich gefestigter war, ließ er die schwerere Bürde offenbaren. Das Stufenmodell ist der theologische Versuch, den Widersprüchlichkeiten im Qur’ân zu begegnen. Die zuletzt erfolgte Offenbarung ist nach dieser Lehre verbindlich, wobei die ›älteren Offenbarungen‹ im Textkorpus verbleiben. Auch wenn sie aufgehoben sind, werden sie als heilige Verse des Qur’âns noch rezitiert.« 8 Lutz Berger, Islamische Theologie, Wien 2010, 84. Von diesen »Zentren der Gelehrsamkeit« bildeten sich im 9. Jh. die vier sunnitischen Rechtsschulen heraus, die bis zur Gegenwart bestehen: die Hannafiten (liberal), die Malikiten (konservativ), die Schafiiten (um Systematisierung bemüht) und die Hanbaliten (streng konservativ). Die Schiiten entwickelten ihre eigene Rechtswissenschaft, die als fünfte neben die vier sunnitischen tritt: die Djafariten. Die ursprünglich fünfte sunnitische Schule der Mu’taziliten wurde als nicht rechtmäßig im Laufe der Jahrhunderte verworfen. Je nach Auslegungstradition und Bereitschaft, die genannten Rechtsquellen zuzulassen, ergibt sich eine weitherzigere oder engere Auslegung des Korans. 7

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gen tun, die die Gemeinde spalten wollen (Sure 3:7).9 Der Analogieschluss hilft zudem als Verfahren im islamischen Recht, einen noch nicht geregelten Bereich mit Hilfe eines ähnlich gelagerten Falles zu beurteilen. Die Möglichkeit einer eigenständigen Rechtsauslegung (arab.: ijtihâd) gehört dementsprechend zur klassischen Koran-Auslegung dazu. Thomas Bauer ist es zu verdanken, auf die offene Struktur islamischer Auslegungstradition hingewiesen zu haben.10 Diese Freiheit ermöglichte große Kulturleistungen und die ständige Anpassung an sich verändernde Verhältnisse. Eindeutigkeit im heutigen Sinne war für die Koran-Auslegung gar nicht erstrebenswert. Oder anders gesagt: Der heutige Islamismus mit seinem unmittelbaren Lesen und seiner versuchten Eindeutigkeit ist alles andere als die bruchlose Fortsetzung des frühen, gar des ganz frühen Islams. Er erweist sich vielmehr gerade in seinen unerfreulichen Aspekten als moderne Erscheinung, zum Teil entstanden unter dem Einfluss eines als übermächtig empfundenen Westens und in der Auseinandersetzung mit ihm. So gibt es ein durch die gesamte islamische Wissenschaftsgeschichte hindurch zu beobachtendes Ringen um eine angemessene Auslegung des Korans. Welche Werte oder Grundlinien sind in den Einzelbestimmungen enthalten, die im heutigen Kontext ihre Bedeutung verloren haben? So ist eine verbreitete Auffassung unter den islamischen Rechtsgelehrten, die Sklaverei als zeitbedingt einzustufen und für heute nicht mehr relevant zu erklären. Natürlich hat es immer wieder Positionen gegeben, die eine exklusive Auslegung vertraten. Auch heute stößt diese Vielfalt auf Unverständnis. Sowohl Reformmuslime wie der Pakistaner Shehzad Saleem (*1966) als auch Islamisten wie al-Maududi (1903–1979)11 bestreiten häufig sogar die bloße Existenz verschiedener Lesarten. Im Internet schlagen sich protestantische Islammissionare und Diesen Vers führen islamische Gelehrte gegenüber islamistischen Ideologen ins Feld, denen sie eine selektive Lesart des Korans, oftmals ohne Berücksichtigung der islamischen Tradition, vorwerfen. Sie würden so die Schrift verunklaren und die Menschen in die Irre führen. Vgl. dazu den offenen Brief von 120 islamischen Gelehrten vom 19.09.2014 direkt an »Dr. Ibrahim al-Baghdadi«, den Anführer des sogenannten »Islamischen Staates« (http://lettertobagdadi.com). 10 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 11 Lutz Berger, a.a.O., 156f: al-Maududi entfaltet den Islam als ideologisches System, das allen anderen überlegen ist. 9

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muslimische Islamverteidiger die Lesarten des Korans und die Varianten des Bibeltextes wechselseitig um die Ohren, um die heiligen Texte der jeweils anderen Religion als unzuverlässig zu entlarven. Varianten passen offensichtlich nicht zu einer modernen, ideologisch konsistenten Religion. Wer nur sechs bis zehn Verse als Grundlage seiner Position aufnimmt wie es die Ideologen der IS und andere Extremisten tun, verlässt den innerislamischen Konsens. Thomas Bauer macht zurecht auf ein grundlegendes Missverständnis der Koran-Auslegung in der Moderne aufmerksam: »Während man in der islamischen Welt einst Vieldeutigkeit schätzte und sie lediglich auf ein handhabbares Maß reduzieren, nicht aber ausmerzen wollte, ist man in der westlichen Moderne bestrebt, Ambiguitäten so weit wie möglich zu beseitigen. Die klassische islamische Form der ›Ambiguitätszähmung‹ wurde in der Moderne abgelöst durch den Versuch einer radikalen ›Ambiguitätsvernichtung‹«.12 Religiöse Texte als »Wahrnehmungsereignis« zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit interpretierbar sind, ja interpretiert werden müssen. Aber ohne Überheblichkeit und anmaßende Besserwisserei. Das beschreibt Navid Kermani anschaulich: »Ein klassischer Korankommentar enthält stets mehr als nur eine Deutung. Erst nachdem der Exeget die möglichen Interpretationen aufgezählt hat, stellt er seine eigene vor, um mit der Floskel wa-llâhu a`lam abzuschließen: ›… und Gott weiß es besser‹ (…). Dass niemand über die absolute Deutung verfügt, mehr noch: es diese eine Deutung gar nicht geben dürfe, gehört zu den Grundannahmen der klassischen muslimischen Exegese, die im theologischen Disput zwar immer schon übergangen, aber niemals so konsequent bestritten wurden wie heute von muslimischen Fundamentalisten und westlichen ›Experten‹, die mit dem Koran in der Hand Muslime darüber belehren, wie streng ihre Religion sei«.13 Allerdings wohnt dem islamischen Koran-Verständnis eine Haltung inne, die es erschwert, die eigene Auslegungstradition selbstkritisch zu betrachten. Verbreitet ist die Skepsis der etablierten islamischen Theologie gegenüber jeder Art der historisch-kritischen Exegese, weil sich die Wahrheit als einmalig abgegrenzte und objektivierbare Wirklichkeit ein für allemal offenbart hat – durch Thomas Bauer, Musterschüler und Zauberlehrling, a.a.O., 7. »Ambiguität« meint »Doppeldeutigkeit« bzw. »Mehrdeutigkeit«. 13 Navid Kermani, Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime, München 2009, 109. 12

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den Erzengel Gabriel mit Hilfe von Muhammad im Koran. »Der Koran bleibt im Prinzip ein von Gott wörtlich dem Propheten eingegebener Text«.14 So weist die Koran-Auslegung bis heute eine Spannung auf zwischen interpretationsfähig und festgelegt, zwischen historischer Kritik und dem Vorwurf der Gotteslästerung. Gerade um die anhaltenden innermuslimischen Auseinandersetzungen einzudämmen, wurde ab dem 10. Jh. die traditionelle Rechtsprechung zusammen mit der schriftlichen Fixierung des Korans trotz der verschiedenen Lesarten immer stärker als unantastbar und letztlich normativ angesehen und das Dogma von der »Unnachahmlichkeit des Korans« (i‛ğâz al-Qur’ân) formuliert.15 Dadurch hat sich mehrheitlich im muslimischen Bewusstsein die Überzeugung durchgesetzt, dass der Koran ein von der Geschichte und den Menschen völlig unabhängiges Buch sei, ganz und gar göttlich. Alle Schriften, die etwas anderes als der Koran aussagen, sind nicht das Wort Gottes und müssen daher als gefälscht gelten.16 Aus dem liturgischen Rezitations- und Hörbuch als »Wahrnehmungsereignis« war ein gesetzlich zu verstehendes Rechtsbuch geworden. Die Folgen sind bis heute erkennbar: Kritik an der Auslegungsart der islamischen Rechtsgelehrten (der ulama) gerät schnell in den Verdacht, »unislamisch« zu sein und den Islam zu verraten – worauf letztlich heftige Strafen bis hin zum Tod folgen können. Diese Tendenz zur eindeutigen, buchstabengetreuen Auslegung hat sich in der Moderne noch verstärkt. 4 Ibn Hanbal und Ibn Taimîya – Rückkehr zum »wahren Islam« Die Tendenz zur Buchstabengläubigkeit ist kein neues Phänomen in der islamischen Geschichte. Bereits im 9. Jh. trat Ahmad Ibn Hanbal (ca. 780–855)17 mit der Forderung auf, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen.18 Ibn Hanbal ging es darum, die heiligen Texte vor aller Kritik zu schützen, da ihm beLutz Berger, a.a.O., 169. Angelika Neuwirth, Koran, in: Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. II: Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, 96–135. Diese Lehre bezieht sich auf Sure 17:88. 16 Andreas Goetze, a.a.O., 235f, 362. Vgl. dazu auch Timo Güzelmansur (Hg.), Das koranische Motiv der Schriftfälschung (takhrîf) durch Juden und Christen (CIBEDO-Schriftenreihe, Bd. 3), Regensburg 2014. 17 Auf ihn beruft sich die streng-konservative Rechtsschule der Hanbaliten. 18 Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie. Von Muhammad bis zur Gegenwart, München 1994, 225. 14 15

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wusst war, das schon eine flüchtige Beschäftigung mit den Texten ihre Widersprüchlichkeit enthüllt.19 Statt sich selbst um eigenständige Rechtsauslegung zu bemühen (ijtihâd), gelte es, die Rechtsschulen als Autoritäten anzuerkennen. »Das Fürwahrhalten verbürgt die Eintracht der Gemeinschaft«20 und soll so die ständigen Glaubenskriege beenden helfen. Von diesem Ausgangspunkt her ist es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, den »wahren Islam« in der Überlieferung aus der Urzeit des Islams zu finden. Im sunnitischen Islam wird dabei die Sunna zu der Ersatzinstitution, die die Beibehaltung oder die Rückgewinnung der prophetischen Urgemeinde ermöglichen soll. Dementsprechend sind die Prophetengefährten für Ibn Hanbal von aller Kritik ausgenommen. Sollten also die heiligen Texte nicht klar genug sein, dann seien die »Altvorderen« (arab.: as-salaf as-sâlih: »die rechtgeleiteten, frommen Vorfahren«, von daher abgeleitet: die Salafisten) mit ihrem Verständnis heranzuziehen. Ihre Auslegung sei allein zuverlässig und führe so direkt zum Gottesgesandten Muhammad zurück.21 Ibn Hanbals Einstellung war Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen Philosophie, Logik und Verstand: »Ich bin kein Mensch der Vernunft, sondern des Wortes«, sagte er und propagierte eine Haltung, die sich allein buchstabengetreu an die Überlieferung und die Prophetenberichte hielt.22 Der in der klassischen Gelehrsamkeit entwickelte Analogie-Schluss (qiyas) sei ebenso zu verwerfen wie die eigenständige Rechtsauslegung (ijtihâd). Beides seien »gotteslästerliche Neuerungen« (arab.: bid´a), die zum Irrtum, zum Streit und damit zum Abfall des Glaubens (takfîr) führe. Ibn Hanbals Ideenwelt war eine Reaktion auf die politische Krise der damaligen islamischen Welten, die von internen Machtkämpfen erschüttert waren. Seiner Meinung nach waren diese Auseinandersetzungen die Folge davon, dass sich die Muslime vom ›wahren Islam‹ abgewandt hätten. Erst die Rückorientierung und die direkte Anknüpfung an die as-salaf könne die Muslime aus ihrer Krise führen. Das 7. Jh. wird zum goldenen Zeitalter verklärt, das Verhalten Muhammads und seiner Gefährten als allein nachahmenswertes Vorbild Die Parallelen zu Diskussionen im christlichen Kontext bezüglich »Unfehlbarkeit des Lehramtes« (katholisch) und »widerspruchsfreie göttliche Inspiration der Schrift« (zunächst reformiert, dann insgesamt innerprotestantisch) sind offensichtlich und nicht zufällig. 20 So Tilman Nagel, a.a.O., 227. 21 Ebd., 128. 22 Lutz Berger, a.a.O., 83f. Theologie sei nur gegen Ketzer und Andersgläubige nötig, ansonsten überflüssig. 19

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dargestellt und das weitgehend unkritische Festhalten an der Tradition propagiert – Grundlage für das heutige salafistische Denken und die salafistische religiöse Praxis. Für neu auftauchende Fragen, auf die man im Koran keine direkten Antworten finden konnte, traten in der klassischen Wissenschaft die »Pforte der Bemühungen«, das »Tor zur Auslegung« (bâb alijtihâd), also der selbständige Gebrauch der menschlichen Vernunft zur juristischen Meinungsfindung, und die Methode des Analogieschlusses (qiyas) hinzu. Beides wurde grundlegend verbunden mit den heiligen Quellen (Koran und Sunna), um zu einer bewussten »Übereinstimmung« (itjmâ), also zu einem Konsens der islamischen umma (Gesamtheit aller Muslime) bzw. der Gelehrten zu kommen. Diese offene Weise der Rechtsfindung durch ijtihâd wurde durch die nicht zur Ruhe kommenden innermuslimischen Auseinandersetzungen weiter an den Rand gedrängt. Um die Konflikte zu beenden, sahen immer mehr sunnitische Muslime in der Position Ibn Hanbals die Lösung: »Über alles Bedenkliche, das Argwohn erregen könnte, sollte der Mantel des Schweigens gebreitet werden«.23 In den nächsten Jahrhunderten sollte sich diese Grundauffassung, die die »Kultur der Ambiguität« (Thomas Bauer) ablehnte, innerhalb der orthodoxen sunnitisch-islamischen Welten mehrheitlich durchsetzen und ijtihâd als legitimes Mittel der Wahrheitsfindung aufgegeben werden. Das bedeutete, dass für jegliche nachfolgende Diskussionen »alle … juristischen Erkenntnisse in den Werken der Altvorderen vorgefunden werden können, und nur da!«24 Reform bedeutete im Anschluss an Ibn Hanbal ab diesem Zeitpunkt »Offenlegung des Wissensstandes«.25 Der ›wahre Islam‹ zeige sich dementsprechend »in der vorbehaltlosen Übernahme (taqlîd) der Absichten des Propheten und seiner Gefährten (…) und bestehe in der unbedingten Unterwerfung unter alle Gebote Gottes«.26 5 Zurück zu den Quellen Doch weiterhin blieben die politischen Krisen, die auch als religiöse wahrgenommen wurden, gesellschaftspolitischer Alltag in den islaEbd., 119. Ebd., 243. 25 Ebd., 245: »Je vollkommener die Offenlegung, desto mehr wird der Islam triumphieren«. 26 Ebd., 227. 23 24

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mischen Welten. Auf der Suche nach der Überwindung dieser nicht enden wollenden innerislamischen Auseinandersetzungen entwickelten sich zum einen sufisch-mystische Bewegungen,27 zum anderen entstanden Koran-Schulen (arab. madrasa), die sich als das Lenkungsinstrument der sich bildenden orthodoxen Gelehrtenschicht (der ulamâ) erweisen sollten.28 Ein Gelehrter, der nachhaltig die sunnitisch-orthodoxe Haltung dieser ulamâ geprägt hat und die Gedanken Ibn Hanbals radikalisiert weiterführte, war Ibn Taimîya (1263–1328), »die überragende Gestalt im Kampf um die sunnitische Rechtgläubigkeit«.29 Im Angesicht der Zerwürfnisse in den sunnitischen Welten und der bedrängenden Mongolen-Gefahr betrachtete es Ibn Taimîya als oberste Aufgabe des Staates, den Bestand des islamischen Rechts zu garantieren, da nur auf diese Weise muslimisches Leben möglich sei. Eine Staatsgewalt, die diese Rahmenbedingungen nicht garantiere, sei als unislamisch zu bekämpfen. Nur wenn sich die Muslime getreu nach dem Koran ausrichteten, könnten sie in Frieden leben. Hatte der große islamische Gelehrte al-Ghazzâlî (ca. 1058–1111) noch zwischen der islamischen Mystik und der Orthodoxie Brücken gebaut und zum Ausdruck gebracht, dass der Islam mehr sei als Gesetzeserfüllung, betrachte Ibn Taimîya alle Mystiker argwöhnisch, weil er bei ihnen »gotteslästerlichen Neuerungen« witterte. Ebenso lehnte er die schiitischen Richtungen als häretisch ab. Ibn Taimîya bestand auf der wortwörtlichen Hinnahme der Gebote und Anweisungen aus Koran und Sunna und deren buchstabengetreue Anwendung. Wie Ibn Hanbal betonte er, es genüge die Aneignung der zweifelsfreien Überlieferung (taqlîd) der Altvorderen aus der Urzeit des Islams, um Glaubensgewissheit zu erlangen.30 Auf die vielfältigen und einflussreichen sufischen Bewegungen kann in diesem Artikel nicht eingegangen werden. Nur ein Hinweis: Der mystische Islam hat stets mit der sunnitischen Orthodoxie gerungen, sie aber auch vielfach beeinflusst, insbesondere in Nordafrika und in der Osttürkei/Westarmenien. Die Betonung der mystischen Einheit mit Gott sollte alle dogmatischen Streitereien beenden helfen. Durch die sufischen Bewegungen konnte sich die starre Riten-Frömmigkeit nur gebrochen durchsetzen. Grundlegend dazu das Standardwerk von Annemarie Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 32005. Vgl. auch zur Bedeutung des spirituell-mystischen Weges für den Dialog der Religionen: Andreas Goetze, a.a.O., 370–372, 377–381. 28 Gerhard Endress, Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1997, 86. 29 Tilman Nagel, a.a.O., 231; Lutz Berger, a.a.O., 107–111. 30 Tilman Nagel, a.a.O., 232f. 27

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Für ihn lag der Geist, Gottes Wille, seine Weisung in den Vorschriften selbst: Sie seien »heilig«. Bei al-Ghazzâlî war es hingegen noch der Geist der Muslime, der ihrem Gottesgehorsam erst Sinn verlieh. Für Ibn Taimîya stand dagegen fest: Das »Tor zur Auslegung« ist geschlossen. 6 Auf der Suche nach Identität in der Moderne – salafistische Gruppierungen Das Ringen um Rechtgläubigkeit ist bis heute ein Wesensmerkmal innerislamischer Auseinandersetzungen. Noch einmal verschärft wurde dieses Ringen in der Begegnung des Islams mit der westlichchristlichen Kultur seit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon 1798. Die Herausforderung war und ist, die europäische Moderne innerislamisch aufzunehmen und dies zugleich im Einklang mit der Tradition zu tun.31 Die Reformbestrebungen und die Wiederbelebung des Islams im 19. Jh. standen dabei mehrheitlich im Zeichen salafistischer Ausrichtungen, die sich an Ibn Hanbal und Ibn Taimîya orientierten. Grundlegendes Ziel der verschiedenen Reformbewegungen war und ist es, die Muslime zum »reinen«, »ursprünglichen«, d.h. »wahren Islam« zurückzuführen. Dabei liegt der Akzent auf der Stärkung der muslimischen Identität, des islamischen Glaubens, der moralischen Ordnung des Islams gegen die Kräfte des Unglaubens, die insbesondere im Westen ausgemacht werden – mit stark antikolonialistischer Ausrichtung. Dieses »islamische Erwachen« ist nur bedingt als »Re-Islamisierung« zu bezeichnen, sondern selbst ein Phänomen der Moderne, auch wenn es in der eigenen Propaganda anti-modernistische Züge enthält.32 Es lassen sich drei Hauptrichtungen der Salafiyya beschreiben: 1. Das Gedankengut Ibn Taimîyas beeinflusste Kreise um die einflussreichen Reformer Ghamâladdîn al-Afghânî (1838–1897)33 und Muhammad Abduh (1849–1905),34 die der quietistischen, puristiZum Ganzen: Andreas Meyer, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994. Hier finden sich zum ersten Mal ins Deutsche übertragen Originaltexte des gesamten politischen Islams und des salafistischen Spektrums, jeweils mit einer kurzen Einleitung versehen. 32 So Andreas Meyer, a.a.O., 22. 33 Texte bei Andreas Meyer, a.a.O., 78ff. 34 Texte bei Andreas Meyer, a.a.O., 84ff. 31

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schen Salafiyya, dem »missionarischen Islamismus«, zuzuordnen sind. Sie suchten Religion und Gesellschaft durch die Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Islams zu erneuern und zu modernisieren, um so dem Bedeutungsverlust zu begegnen, den der Islam infolge des Kolonialismus erlitten habe. Ihr Ziel war es, von unten her über die Moscheen die Massen zu gewinnen und durch Predigt und frommen Lebensstil die Gesellschaft zu verändern.35 2. Islamistisch politische Bewegungen wie die Muslimbruderschaft in Ägypten, geprägt durch Hasan al-Bannâ (1908–1949),36 und ihre Ableger in Algerien, Jordanien, Palästina, Sudan, Syrien, Libyen, Tunesien und Algerien sind ebenso wie die türkische »Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei« AKP oder die »Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei« PJD in Marokko Teil der politischen Salafiyya, Teil des »politischen Islamismus«. Sie wollen die politische Macht auf nationaler Ebene erreichen, organisieren sich dabei in Parteien und meiden auf diesem Weg grundsätzlich Gewalt. Das politische Handeln genießt dabei Vorrang vor religiöser Missionierung. Es geht um Islamisierung der Gesellschaft auf der Basis der Urzeit des Islams und der as-salaf. 3. Diese Grundrichtung wird vor allem durch die Lehren des Ägypters Sayyid Qutb (1906–1966)37 zur djhadistischen Salafiyya, zum ›djhadistischen Islamismus‹ hin radikalisiert. Qutb betont im Anschluss an Ibn Taimîya, dass es die primäre Aufgabe des islamischen Staates sei, für die Durchsetzung der Scharia zu sorgen. Gruppen dieser Richtung haben zum einen den klassischen friedlichen da´wa-Weg (»Missionweg«) der quietistischen Salafiyya verlassen, zum anderen auch den politischen Weg der politischen Salafiyya. Sie wähnen sich in der militärischen Verteidigung des Dar al-islam (»Haus des Islams«) und der umma (der rechtgläubigen Muslime nach Sure 3:110) gegen die ungläubigen Feinde im Dar al-harb (»Haus des Krieges«). Diese grundlegend dualistische Weltanschauung prägt bei allen Unterschieden alle salafistischen Gruppierungen, ist aber im Fall der Djhadisten wie IS oder Boko Haram zu apokalyptischer Radikalität verdichtet.38 Insbesondere das Bildungswesen wurde von diesen Reformern als entscheidend zur Entwicklung der muslimischen Gesellschaft angesehen. Vgl. dazu Tharwat Kades, Die arabischen Bibelübersetzungen im 19. Jht., Frankfurt a.M. u.a. 1997, 34f. 36 Texte bei Andreas Meyer, a.a.O., 175ff. 37 Texte bei Andreas Meyer, a.a.O.; 194ff. 38 Die Mörder des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat legitimierten ihre Tat unter Verweis auf die Fatwa gegen die Muslime von Mardin: Da in Ägypten nicht das islamische Recht praktiziert werde, sei die Regierung ungläubig. Ebenso 35

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Trotz Orientierung an »den Normen des Frühislams der Epoche der Prophetengefährten: Damit ging eine erhebliche Flexibilität und Dynamik auf der Ebene der konkreten Programme und praktischen Orientierungen einher«.39 Gemeinsam ist allen salafistischen Bewegungen, dass sie an der Orientierung am Islam die Befreiung und damit die Lösung aller sozialen, politischen und religiösen Probleme sehen. Das von Gott »Herabgesandte« gelte absolut: Daher wird dem Koran – zum Teil im Zusammenspiel mit der Sunna – Verfassungsrang zugesprochen, konkret ausgeführt in der »ewig gültigen Scharia«. Die koranische Begrifflichkeit von »Herr und Knecht« als Aussage über das Verhältnis von Gott und Mensch wird zu einer politischen Aussage mit absoluter Gültigkeit: Der Mensch darf nur Gott dienen. Jeder Dienst an menschlichen Herren und irdischen Herrschern ist daher Götzendienst und gilt als Beigesellung« (arab.: shirk). Gott ist der einzige Souverän. Wie Ibn Taimîya im Anschluss an Ibn Hanbal zum Begründer der salafistischen Bewegungen wird, zeigt die Aufnahme seiner KoranInterpretationen innerhalb dieser Gruppen. Von Koran-Versen wie ini l-hukmu illâ li-llâhi (»Gott der eine Gott« nach Sure 12:67; 28:70.88 u.a.) leiten salafistische Bewegungen die absolute Souveränität Gottes für alle Lebensbereiche ab. Ebenso wie Qutb argumentiert z.B. der weltweit einflussreiche indo-pakistanische Gelehrte Abû lA´lâ ll-Maudûdî (1903–1979)40 für Gottessouveränität und gegen Volkssouveränität und damit gegen demokratische Staatsverfassungen. Gott übe selbst die direkte Regierung der Welt aus. Eine freie politische Verantwortung der Menschen sei daher »Beigesellung«. 7 Saudi-Arabien als Promotor salafistischer Grundhaltungen Die steigende Popularität Ibn Taimîyas ab dem 18. Jh. lässt sich nicht verstehen ohne die religionspolitische Verbindung von Ibn Abd al-Wahhâb (ca. 1703–1791),41 einem großen Verehrer Ibn Hanbals, mit dem Clan von Ibn Sa´ud, einem Ahnherrn des saudischen Fürstengeschlechts auf der Arabischen Halbinsel. Zusammen mit Ibn Sa´ud plante er bereits 1744 ein Reich, in dem »allein Gottes unverfälschtes Wort gelten sollte«. Aber erst 1924 hatten die griffen die syrischen Muslimbrüder bei ihrer Auseinandersetzung mit dem von den Alawiten getragenen Baath-Regime auf Ibn Taimîyas Verurteilung dieser Religionsgemeinschaft zurück. 39 Andreas Meyer, a.a.O., 176. 40 Texte bei Andreas Meyer, a.a.O., 185ff. 41 Lutz Berger, a.a.O., 111–113.

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Saudis die gesamte Arabische Halbinsel erobert – mit Ausnahme des Yemens. Ibn Abd al-Wahhâbs Lehren weisen eine große Nähe zu Ibn Taimîya auf. Der Wahhâbismus ist eine streng-konservative, radikale Reformbewegung der eh schon streng-konservativen hanbalitischen Rechtsschule. Die so genannten »Wahhâbiten« haben bereits im 18. Jh. versucht, die Arabische Halbinsel von der Heiligenverehrung und anderem »Unislamischen« wie Gräberkult zu reinigen. Das heutige Herrscherhaus in Saudi Arabien lehnt nicht nur die Schiiten als Häretiker ab, sondern hält auch alle Muslime, die nicht ihre Grundlagen teilen, für Leute, die dem Glauben etwas hinzugefügt haben und vom ›wahren Islam‹ abgefallen sind. Durch Ibn Abd al-Wahhâb begann sich das hanbalitische Rechtsverständnis durch die »wahhâbitische Bewegung« auszubreiten. Heute ist diese radikale Position vor allem in Saudi-Arabien, Katar und den VAE verbreitet und gewinnt weltweit erheblichen Einfluss durch mit Stipendien finanzierte Ausbildung von Islamgelehrten, die in Koran-Schulen lehren. Der weltweite religionspolitische Einfluss wächst zudem durch Internet-Foren und globale Vernetzung sowie durch Verbreitung von großzügig durch Saudi-Arabien und Katar finanzierte Schriftenreihen. Die wahhâbitische Lehre ist religiös und politisch für die islamischen Welten, insbesondere die sunnitische Tradition, die größte Herausforderung. Sie wird aufgrund der strategischen Abhängigkeit vom Öl von der Weltgemeinschaft nicht ausreichend genug politisch bekämpft. Wenig grundsätzliche Kritik der traditionellen Gelehrsamkeit Durch die in diesem Beitrag angedeutete Entwicklung orientiert sich die islamische Gelehrsamkeit stark an den frühislamischen Autoritäten. Weil im sunnitischen Islam für die ideale Umsetzung der islamischen Werte die historische Praxis von Muhammad und den Prophetengefährten (sahâba) für die Gläubigen normative Geltung besitzt (»Muhammad das beste Vorbild«), ist substanzielle Kritik an der Salafiyya von den klassischen Gelehrten kaum zu vernehmen.42 Die Problematik dieser Orientierung der traditionellen Theologie liegt darin, dass sie die früher offene Gelehrsamkeit mit ihrer VielVgl. z.B. den »Offenen Brief an al-Baghdadi« vom 19.09.2014, in dem mehr als 120 islamische Gelehrte eindrücklich den IS-Djhadismus zurückweisen. So deutlich die Abgrenzung ist, so wenig wird grundsätzlich etwas in Frage gestellt. »Der (gemeinsame!) Rahmen traditioneller Schariaregelungen wird indessen nicht tangiert, sondern durchgehend bekräftigt. Das Denkmuster ist hier wie dort dasselbe«, so Friedmann Eißler im »Materialdienst der EZW 12/2014, 444.

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falt in den Stand unhinterfragbarer und zeitlos gültiger Regelungen erhoben hat. In diesem Zusammenhang gelangten dann auch die damaligen politischen und gesellschaftlichen Kontexte zum Maßstab der Moderne. Theologisches Denken, das bewusst nach erneuter selbständiger Rechtsfindung (»ijtihâd«) fragt, steht damit schnell unter dem Verdacht der »gotteslästerlichen Neuerung« (»bid´a«). Reformtheologen knüpfen dennoch bewusst an die offenere klassische Gelehrsamkeit an, um durch eine Neubewertung der Quellen den Muslimen eine tragfähige Begründung für das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben mit Nicht-Muslimen in pluralen, säkularen Gesellschaften zu liefern. Nicht wenige dieser Theologen sind im Westen bekannter als in der muslimischen Welt selbst.43 Die mediale Wahrnehmung und die Fixierung auf islamistische Positionen verstellen auch innermuslimisch oft den Blick auf die innerislamische Pluralität. So ist deutlich die innerislamische Kritik an den islamistischen Positionen zu vernehmen, oft aber auf Arabisch, das viele nicht verstehen. Ein Beispiel: Dass Gott seine »absolute Souveränität« (arab.: hâkimîya) direkt ausübe, wie es Salafisten im Anschluss an Sure 12:40 behaupten, entspreche nicht dem Islam, sondern dem Heidentum. Es reproduziere nur die altägyptische Überzeugung von der göttlichen Regierung des Pharao und sei daher eine vorislamische Haltung aus der »Zeit der heidnischen Unwissenheit« (arab.: ghahilîya). hukm (»Entscheidung«) dürfe nicht buchstäblich in die menschliche, d.h. politische Wirklichkeit übertragen werden, das sei ein fundamentalistisches Missverständnis des koranischen Offenbarungstextes. Entsprechendes gelte gegenüber der Illusion der »ewig gültigen Scharia« oder eines vom traditionellen Konsens losgelösten »Djhâd«-Verständnisses. 8 Herausforderungen und Perspektiven Salafistische Positionen konnten seit dem 19. Jh. so attraktiv werden, weil es aufgrund der vielfältigen Globalisierungsprozesse zu anhaltenden gesellschaftlichen Umbrüchen in den islamischen Welten gekommen ist.44 Oftmals dient der Bezug auf den »wahren Lutz Berger, a.a.O., 170. Vgl. dazu Ghanie Ghaussy, Der islamische Fundamentalismus in der Gegenwart, in: Thomas Meyer (Hg.), Fundamentalismus in der Modernen Welt, Frankfurt a.M. 1989, 83–100. Erkennbar sind u.a. Defizite in der staatlichen Wohlfahrt, Zerfallsprozesse traditioneller Familienstrukturen und Desintegrationsprozesse insbesondere der Landbevölkerung.

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Islam« dazu, seine eigene »Islamizität« zu beweisen.45 Es geschieht sowohl auf nationaler als auch auf regionaler und internationaler Ebene, dass der Islam nicht nur als Referenzrahmen für die Legitimierung des eigenen Herrschaftsanspruches herangezogen werden kann, sondern gleichfalls für die Kritik dieses Anspruches. So dient der Islam religionspolitisch der Abgrenzung bzw. Darstellung der eigenen Rechtgläubigkeit. Die islamischen Welten sind merklich in Bewegung. Die kritischen Diskussionen um den politischen Auftrag des Islams beinhalten auch den Streit um die wahre Interpretation des Islams. Letztendlich geht es in diesen kontroversen Diskussionen um die Deutungshoheit über Koran und Sunna. Dabei ist der eigentliche islamistische Diskurs nur eine Sache einer zahlenmäßig kleinen Minderheit unter den in Deutschland lebenden Muslimen. Über ihre medialen und finanziellen Möglichkeiten versuchen salafistische Gruppierungen allerdings propagandistisch, ihre Deutung des Islams als einzig wahre darzulegen, was gerade unter jüngeren Muslimen sowie Konvertiten Resonanz findet. Sich in diesem Feld der innerislamischen Auseinandersetzung nicht zu verlieren, ist für Muslime eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Es verwundert nicht, dass in Zeiten der Krise an vermeintlich einfache Antworten mit dualistischen Weltbildern angeknüpft wird, weil man die »Ambiguität« nicht auszuhalten vermag,46 indem man »verobjektivierbare Wahrheit« sucht. Zu fragen ist also, ob es innerhalb der islamischen Traditionsgeschichte andere Alternativen zur Bewältigung von Krisenerfahrungen gibt, die für eine zeitgenössische Koran-Auslegung jenseits von Säkularismus (sich nur noch als »säkularer Muslim« zu verstehen, ohne an Gott zu glauben und unter Verwerfung der traditionellen Gelehrsamkeit) und Islamismus fruchtbar gemacht werden könnte. Konkret: Jeder Neuansatz, der das »Tor zur Auslegung« (arab. idjihad) wieder bewusst öffnet, befasst sich mit der Bedeutung der Gründungstexte des Islams »und versucht, unter Inkaufnahme der bei einem solchen Unternehmen unvermeidlichen Risiken und Gefahren, den Geist hinter dem Buchstaben auszumachen«.47 Zum Folgenden Andreas Meier, a.a.O., 426. Das gilt für alle fundamentalistischen Tendenzen, die es in allen Religionen und Weltanschauungen gibt. Ausführlich dazu: Thomas Meyer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Hamburg 1989. 47 Christian W. Troll, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam. Ein kritischer Überblick, hg. v. der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2005, 2f. »Überall befinden sich Muslime heute in einer Debatte des Islams über den Islam. Gefangen zwischen den traditionellen Praktiken und Ideen des kulturellen Islams einerseits und den Einwirkungen und Verlockungen des isla45 46

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Die muslimische Überzeugung, dass es sich beim Koran um das Wort Gottes (arab.: kalâm ullâh) handelt, hat für Muslime seine Zeitbezogenheit nie ausgeschlossen. Die klassische Koran-Auslegung war, wie Thomas Bauer gezeigt hat, von Ambiguität geprägt.48 Gleichwohl versuchten islamische Gelehrte den ijtihâd aus politischen Gründen zugunsten einer doktrinär definierten Lenkung durch Gott oder geistliche Autoritäten zu schließen. Sie erschwerten durch die Aufforderung zur Nachahmung die Entwicklung von Ansätzen, den Koran in nachvollziehbarer Weise auf die sich schnell wandelnde Welt zu beziehen. Sie erzeugten so eine Angst, mit der Interpretation über den gegebenen Wortlaut hinauszugehen und damit unerlaubte »Neuerung« (bida) zu begehen. Sie prägten in den muslimischen Welten mehrheitlich eine Haltung, die sich stark am Bewahren des Bekannten orientiert,49 insbesondere bei Angehörigen der Einwanderer-Gesellschaft, wenn für sie Religion im Leben eine größere identitätsstiftende Rolle spielt. Aufgrund des Dogmas von der »Unnachahmlichkeit des Korans« (i‛ğâz al-Qur’ân) konnte sich eine historisch-kritische Methode als Mittel der Koran-Auslegung nicht wirklich etablieren. Damit verbunden ist die Weigerung, geschichts- und literaturwissenschaftliche Methoden zuzulassen. Und wenn zudem die Ansicht geteilt wird, die klassischen islamischen Gelehrten und ihre Deutung der heiligen Quellen hätten eine unübertreffliche Reife erreicht,50 sieht man in der dynamischen Weiterentwicklung der Koran-Auslegung keine Notwendigkeit. 9 Reformpositionen Aufgeschlossene Denkströmungen ringen vor allem im sunnitischen Diskurs nicht nur mit salafistischen Auslegungen, sie sehen mistischen Islams oder des Islams der Neuinterpretation andererseits kommt der gläubige und gebildete Muslim nicht darum herum, sich zu fragen, wie er sich den Islam seiner Kinder wünscht«. 48 Siehe oben, Anm. 10. 49 Nicht wenige islamische Historiker glauben, dass diese »Rückwärtsgewandtheit« eines wichtigen Teilbereichs islamischer Theologie ein wesentlicher Grund sei für den kulturellen und politischen Niedergang der arabisch-islamischen Welten, der bis heute andauert. Daher bemühen sich muslimische Intellektuelle und Reformtheologen, die »geschlossene Pforte der Auslegung« wieder zu öffnen mit dem Ziel, Religion, Politik und Kultur aufeinander zu beziehen, ohne sie zu vereinheitlichen und ohne die Religion ins Private hinein säkularistisch aufzulösen. 50 Lutz Berger, a.a.O., 117: »Die einmal im Mittelalter gefundenen Rechtsnormen besitzen für die Mehrheit der islamischen Gelehrten weiterhin Gültigkeit.«

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sich ebenso mit einem nach wie vor dominanten traditionellen Schriftverständnis konfrontiert. Bei aller Vielfalt dieser Reformpositionen ist ihnen gemeinsam, dass sie an die klassischen Regeln der Koran-Auslegung anknüpfen und sich auf die reichen spirituellen, mystischen und philosophischen Traditionen in den islamischen Welten beziehen. So liegt ein großes, heute weitgehend unausgeschöpftes Potential darin, an den aufklärerischen rationalen Strömungen in der islamischen Geistesgeschichte anzuknüpfen.51 Die rationalistisch ausgerichtete Schule der Mu´taziliten52 unterschied nicht nur zwischen Gottes Einzigkeit (tawhîd) und dem Koran als Wort Gottes, sondern sah die Erkenntnisfähigkeit des Menschen begrenzt und warb dementsprechend für eine selbstkritische Haltung. Weitere große islamische Denker waren u.a. al-Kindî (801–873 in Bagdad), der als einer der ersten großen Übersetzer der Werke der griechischen Philosophie (Aristoteles, Platon) gilt, und al-Fârâbi (872–950), der als »zweiter Lehrer nach Aristoteles« angesehen wird. Dazu die Philosophen und Ärzte Ibn Sînâ (Avicena, 980–1027) und Ibn Rushd (Averroes, 1126–1198). Alle haben auch erheblich zur Entwicklung der europäischen Kultur beigetragen. Weil sich menschliche Angelegenheiten ständig wandelten, sei es erforderlich, die Quellen stets neu zu interpretieren. Diese geschichtsbewusste theologische Lektüre war durch die Jahrhunderte, verbunden mit einer großen Bandbreite der Koran-Auslegung, die Begründung für den ijtihâd als einer Methode für das Auffinden von Lösungen für neue Sachverhalte »im Lichte der Erleuchtung durch die göttliche Offenbarung«.53 In der islamischen Tradition gab es schon im 11./12. Jh. eine eigenständige Aufklärung lange vor der europäischen. Diese Aufklärungstendenzen gelte es zu verstärken, wie der ägyptische Koran- und Literaturwissenschaftler Nasr Hâmid Abû Zayd (1943–2010) ausführt: »Wir benötigen die Ausführlich zum Verhältnis von Theologie und Philosophie im Islam: Tilman Nagel, a.a.O., 165ff. 52 Lutz Berger, a.a.O., 73–79.173–175; Tilman Nagel, a.a.O., 117–122. Die Mu´taziliten-Schule stellte die fünfte sunnitische Rechtsschule (neben Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten, Schafiiten) dar. Al-Ghazzâlis Vorwurf der Häresie und Apostasie war für die islamische Philosophie verderblich. Die Folge war der Verfall des kritischen philosophischen Denkens. Die Mu´taziliten-Schule wurde als Irrlehre verbannt und verlor im 11. Jh. (auch durch den Untergang des FatimidenReiches) ihre Bedeutung. 53 Mahammad Hashim Kamali, Methodology in Islamic Jurisprudence, in: Arab Law Quarterly, 1/1996, 3–33, 21. 51

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freie Erforschung unseres religiösen Erbes. Dies ist die erste Bedingung für eine religiöse Erneuerung. (…) Es gibt keinen Raum für sakrosankte Zufluchtsorte der islamischen Lehre«.54 Der Koran sei keine Ansammlung von Gesetzen, sondern ein ästhetisch zu genießender und poetisch strukturierter und damit offener Text. Nimmt man ihn nur als Text wahr, werde der Koran in ein Gefängnis gedrängt, das seinen eigentlichen Absichten und seinen produktiven Potentialen für Kultur und Gesellschaft nicht gerecht werde.55 Nicht blinder Glaube und schlichte Nachahmung seien gefordert, sondern ein reflektierter Dialog mit den Quellen. Dementsprechend unterscheiden islamische Reformdenker wie der iranische Philosoph Abdolkarim Sorush zwischen »wahrer Glaubensrichtung« (dîn) und religiöser Erkenntnis (ma´refat-e dîni) und argumentieren, dass die Religion heilig und unveränderlich, die religiöse Erkenntnis dagegen jedoch menschlich sei und sich im Laufe der Zeit durch außer-religiöse Einflüsse weiterentwickele.56 Zeitliches und Überzeitliches sei in der göttlichen Offenbarung zu unterscheiden. Der Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Mouhanad Khorchide57 entfaltet im Anschluss an die philosophischen (mu´tazilitischen) und spirituell-mystischen Traditionen eine humanistische Koran-Hermeneutik. Neben der Notwendigkeit der historischen Kontextualisierung koranischer Aussagen sieht er in der Barmherzigkeit Gottes die zentrale Maxime der Koran-Auslegung, der es nicht bloß um »richtige Glaubenssätze« oder äußerliche Riten-Frömmigkeit gehe, sondern um eine neue innere Haltung und Beziehung zwischen Gott und Mensch.58

Abû Zayd zit. bei Christian W. Troll, a.a.O., 3. Zu Abû Zayd siehe auch: Andreas Goetze, a.a.O., 354–358, und Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München 2013. 55 Nasr H. Abû Zayd, Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt a.M. 1996, 204. 56 Zu Abdolkarim Sorush und anderen muslimischen Reformdenkern der Gegenwart vgl. Katjun Amirpur / Ludwig Ammann, Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg 2006. Dieser Band bietet einen kleinen Einblick in die Vielfalt des innerislamischen Diskurses und zeigt das Ringen um eigenständige Reflexionen auf der Basis des ijtihâd. Zu Sorush ebenso: Katajun Amirpur, »Ein iranischer Luther?« Abdolkarim Sorushs Kritik an der schiitischen Geistlichkeit, in: Orient, Nr. 37/1996. 57 Mouhanad Khorchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2012. 58 Ebd., 171–177. 54

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In der Türkei bemühten sich vor allem Mehmet Pacaci und Ömer Özsöy59 von der Theologischen Fakultät der Universität Ankara unter Rückgriff auf Gadamers Hermeneutik,60 eine historische Kontextualisierung des Korans voranzutreiben.61 Der Koran sei als mündliche Mitteilung und nicht als Text zu verstehen. Die überzeitlich gültige göttliche Botschaft könne damit nicht einfach mit der geschichtlich bedingten Gestalt des Textes gleichgesetzt werden, in die Gott diese Botschaft im 7. Jh. eingekleidet habe. Einen anderen Akzent setzt Fazlur Rahman (1911–1988)62, nach dem der Koran überhaupt keine Prinzipien vermittle, sondern in den meisten Fällen Lösungen oder Entscheide für eine ganz spezifische historische Situation. Diese geschichtssensiblen Auslegungen würdigen den Koran als ein spirituelles »Wahrnehmungsereignis«, das stets neu gehört und verstanden werden muss. Sufische (mystische) Bewegungen suchen darüber hinaus die innere Gotteserkenntnis. Sie halten die Fixierung Gottes auf eine Textgestalt für zutiefst unislamisch, was sie in Konflikt mit der sunnitischen Orthodoxie bringt.63 Auch die schiitische Tradition ist mehr an der Übertragung des äußeren Wortsinnes auf die innere Deutung (at-ta’will) interessiert als an der buchstäblichen Bedeutung.64 Das bedeutet schon im Hinblick auf den innerislamischen Diskurs: Jede Interpretation, die behauptet, den Sinn des Korans für immer festzulegen, steht unter Ideologieverdacht und spielt radikalen Gruppierungen in die Hände. Und: Dass etwas im Koran steht, ist selbst noch kein Beleg dafür, dass es auch den Glauben der Muslime inhaltlich und spirituell bestimmt.65 Ömer Özsoy ist seit 2009 Professor am »Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam« an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität Frankfurt a.M. mit dem Schwerpunkt Koran-Exegese. 60 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. 61 Felix Körner, Revisionist Koran Hermeneutics in Contemporary Turkish University Theology, Würzburg 2005; ders., Historisch-kritische Koranexegese? Hermeneutische Neuansätze in der Türkei, in: Görge K. Hasselhoff / Michael Meyer-Blanck (Hg.), Krieg der Zeichen? Zur Interaktion von Religion, Politik und Kultur (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft, Band 1), Würzburg 2006, 57–74. 62 Fazlur Rahman, Islam and Modernity, The University of Chicago Press, 1982, 19ff. 63 Andreas Goetze, a.a.O., 371. 64 Zum Unterschied zwischen at-tafsir” und at-ta’wil” vgl. Hussein Ali Akash, Die sufische Koranauslegung. Semantik und Deutungsmechanismen der ishârîExegese, Berlin 2006, 40–50. 65 Andreas Goetze, a.a.O., 356f. 59

»Verstehst du auch, was du da liest?«

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10 Streit um eine angemessene Koran-Hermeneutik Trotz des Dogmas von der »Unnachahmlichkeit des Korans« war die »Pforte der Bemühungen« in der gesamten Geschichte des Islams nie wirklich geschlossen.66 Ein offeneres Verständnis des Korans und die Fähigkeit zur Differenzierung sind, wie ein Blick auf die islamische Tradition zeigt, möglich. D.h. »nicht allein das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Dogmas kann Grundlage des Glaubens sein, sondern allein das Verständnis des Korans als ein spiritueller Text.«67 Im Diskurs um eine angemessene Koran-Hermeneutik ist daher gerade gegenüber salafistischen Positionen an die spirituellen Grundlagen zu erinnern:68 Die Überlieferung des Korans ist bis heute grundlegend an die Rezitation (qur’ân) gebunden. Damit ist nach islamischem Selbstverständnis die ununterbrochene mündliche Tradierung durch die Schulen der Koran-Rezitatoren der sound für die genaue Textgestalt maßgebend und keinesfalls irgendeine schriftliche »Urform« des Korans. Vielen Muslimen ist selbst sehr deutlich, dass rechtgläubige Bekenntnisse orthodoxer Prägung allein nicht genügen. Sie können vielmehr der verhängnisvollen Täuschung Vorschub leisten, als wäre die Zustimmung zu der (für sich angenommenen) Wahrheit bereits hinreichendes Merkmal für den Glauben. Dem Bedürfnis nachzugeben, einer religiösen Lehrmeinung zu folgen statt sich selbst zu bilden, ist dennoch eine große Versuchung – insbesondere wenn der von traditionell orthodoxer Seite erhobene Vorwurf des takfîr (Beschuldigung des Unglaubens)69 im Raum steht und aufgrund der pluralen, unübersichtlichen Welt eigene Profilschärfung auf Abgrenzung setzt. Im Geflecht der Akteure gibt es eine höchst kontroverse innerislamische Debatte über die Auslegung und das Verständnis der heiligen Quellen Koran und Sunna inklusive der traditionellen Rechtsprechungen der islamischen Gelehrten. Die Auseinandersetzung Vgl. dazu Andreas Goetze, a.a.O., 353f. »Es ist beachtenswert, dass sich ausgerechnet die Islamisten auf diese Tradition des ijtihâd beriefen, um ihr eigenes individuelles Recht auf Qur’ânauslegung religiös zu legitimieren und um einen Wandel im Denken und Tun des Gläubigen herbeizuführen.« 67 Ebd., 462, Anm. 42. 68 Zur grundlegenden Bedeutung der spirituellen Dimension des Glaubens siehe Andreas Goetze, a.a.O., 377–380. 69 Lutz Berger, a.a.O., 66. 66

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um die Deutungshoheit des Korans wird in der Zukunft noch zunehmen. Entscheidend kommt es darauf an, welchen Richtungen es gelingen wird, ihre Islam-Interpretation in die großen Ausbildungsinstitutionen einer Gesellschaft einzubringen. Den einen und für alle Zeiten gültigen Islam gibt es nicht. Die religiöse Erkenntnis, so Abdolkarim Soroush, sei immer wandelbar:70 Gott habe zwar mit Muhammad den letzten Propheten geschickt, nicht aber die letzte Interpretation von Gottes Wort.

Abdolkarim Soroush, Reason, Freedom & Democracy in Islam. Essential Writings of Abdolkarim Soroush, Oxford 2000.

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Die Theodizee-Problematik aus der Perspektive der islamischen Theologie

1 Einleitung Das Theodizee-Problem1 ergibt sich zwar nicht direkt aus der Annahme, dass es einen Gott gibt, aber es wird unumgänglich, wenn man diesen Gott als absolut gut und gerecht bestimmt. Bereits aus dieser Aussage ergeben sich zwei weitere Probleme. Erstens: Was heißt es, dass Gott »absolut« ist? Wie ist es möglich, dass etwas außerhalb des Absoluten noch überhaupt existieren kann? Zweitens: Was heißt es, dass »Gott als so und so bestimmt« wird? Ist Gott nicht, was er ist, ungeachtet dessen, wie der Mensch ihn in seinem Denken bestimmt bzw. bestimmen muss? Es ist nicht Anliegen dieses Textes, diese Fragen in die Tiefe zu erörtern. Vielmehr soll eine Übersicht über den Diskurs in der islamischen Gelehrsamkeit gegeben werden, die sich als Beitrag zum dialogischen Diskurs der Theologien anbietet. Insbesondere will ich hierbei einen Fokus auf den Ansatz von al-Māturīdī (gest. 333/941) legen, der mit seiner Position – so scheint es mir – nicht nur für die islamische Theologie eine Herausforderung darstellt, wenn er sagt, dass die Existenz des Bösen in der Welt kein Problem für die monotheistische Gottesanschauung darstellt, sondern vielmehr als ein Der Ausdruck ›Theodizee‹ ist von G. W. Leibniz wohl im Anklang an Röm 3,5 (»Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit nur noch besser ins Licht stellt, was sollen wir dazu sagen?«) gebildet worden, um seine Theorie der Rechtfertigung Gottes angesichts des physischen und moralischen Übels in der Welt zu bezeichnen. (...) Sein umfangreiches Buch zum Thema erscheint 1710 unter dem Titel Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’ Homme et l’ Origine de Mal. Leibniz erläutert: »... c’ est là le titre du livre, et Theodicée signifie la doctrine de la justice de Dieu«, und er verdeutscht den Titel des Buches als »Versuch einer Theodicaea oder Gottesrechts-Lehre von der Güthigkeit Gottes, Freyheit des Menschen und Ursprung des Bösen«. S. Lorenz, Art. Theodizee, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1998, X: S. 1066–1073, hier: S. 1066. Mittlerweile klassisch geworden ist die Definition Kants: »Unter einer Theodicee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.« Immanuel Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, Darmstadt 1966, A 194, 195, 196.

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Beweis für die Existenz eben dieses einen Gottes verstanden werden kann. 2 Das Theodizee-Problem im islamisch-theologischen Diskurs 2.1 Gibt es ein Theodizee-Problem im Islam? Eine prägnante Zusammenfassung, was es mit dem Problem der Theodizee auf sich hat, liefert uns Ricœur: »Beim Problem des Bösen kommt ein bestimmtes Denken in Schwierigkeiten, nämlich jenes, das sich den Forderungen logischer Kohärenz unterwirft, das heißt dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit und der systematischen Totalität. (...) So verschieden die Antworten auch sein mögen, das Problem wird immer mit ähnlichen Begriffen definiert. Etwa: Wie kann man folgenden drei Aussagen zustimmen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln: Gott ist allmächtig; Gott ist absolut gut; dennoch existiert das Böse. Die Theodizee erscheint dann wie ein Ringen um Kohärenz, als Antwort auf den Einwand, dass nur zwei dieser Aussagen miteinander vereinbar sind, niemals aber alle drei.«2 Ricœur weist mit dieser Formulierung auch darauf hin, dass das Theodizee-Problem zwar in den Grundprinzipien der monotheistischen Religionen verwurzelt ist, ihm aber nicht bloß anhand der heiligen Schriften begegnet werden kann. Vielmehr ist zu ihrer Beantwortung ein theoretisierender bzw. theologisierender Ansatz unabdingbar. Eine kohärente Antwort scheint jedoch nicht möglich, wenn Widerspruchsfreiheit und systematische Totalität angestrebt sind. Es wurde seitens einiger muslimischer Theologen hervorgehoben, dass sich das Problem im Paradigma der islamischen Theologie nicht in derselben Weise stellt wie im christlichen Denken, da beim ersteren die entscheidende Nuance der vererbten/erbbaren Sünde nicht gegeben ist. Daher stelle sich dem Muslim das Problem nicht als ein existentielles, sondern vielmehr als ein ethisches Problem mit theologischen Dimensionen.3 So wird das Problem der Theo2

Paul Ricœur, Das Böse, Zürich 2006, 13f. Tahsin Görgün, Leid als Teil der Welt und des Lebens. Gibt es ein Theodizeeproblem aus islamischer Perspektive? in: Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, A. Renz et al., Regensburg 2008, 31– 48, hier: 31; Reinhard Schulze, Das Böse in der islamischen Tradition, in: Johannes Laube (Hg.), Das Böse in den Weltreligionen, Darmstadt 2003, 134–138; Ömer Özsoy, »Gottes Hilfe ist ja nahe!« (Sure 2:214). Die Theodizeeproblematik auf der Grundlage des koranischen Geschichts- und Menschenbildes, in: Prüfung oder Preis der Freiheit?, 199–211, hier: 200. 3

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dizee in die Peripherie des theologischen Diskurses verbannt und man spricht also von einer gewissen »Theodizee-Vergessenheit«. Dem stehen andere Positionen entgegen, die nun ihrerseits die zentrale Stellung des Problems betonen: »Dieser Vorwurf der scheinbaren ›Theodizeevergessenheit‹ ist falsch. Denn wie keine andere monotheistische Religion betont der Islam die absolute Allmacht und Barmherzigkeit Gottes (vgl. ... Sure 2:225 bzw. ... 1:1). Dieser Glaube, dass ausnahmslos alles von Gott zum Allerbesten gewirkt ist, aber verschärft das Leidproblem in unüberbietbarer Weise.«4 In dieser Schärfe formuliert finden wir diese Position nicht mehr wiederholt. Eine Mittelposition in dieser Diskussion vertritt Reinhard Schulze. Zwar ist er ebenfalls der Auffassung, dass die »Kategorie des Bösen« in der islamischen Geistesgeschichte »weniger Aufmerksamkeit als in den entsprechenden europäischen, christlichen wie jüdischen Traditionen gefunden« habe. Nichtsdestotrotz warnt er vor einer Verharmlosung des Problems. Viel zu intensiv und systematisch sei die Auseinandersetzung mit dem Thema in der islamischen Tradition gewesen, als dass sie zu einem ethischen »Randproblem« herunterargumentiert werden dürfe. Dennoch könne man im Vergleich zur Bedeutung des Problems in der christlichen Tradition durchaus von einem »geringen Interesse« der Muslime sprechen, da es als ein theologisches Problem nicht zentral war, sondern gewissermaßen im Schlepptau anderer Fragestellungen, wie dem Problem der Willensfreiheit des Menschen, auftauchte. Als Grund wird hier ebenfalls das Fehlen der Idee der Erbsünde angegeben. »Aus der Warte der islamischen Wissenstraditionen gesehen ist die Faszination, die dem Bösen eine fast magische Kraft zuspricht, nicht nachvollziehbar. Das Böse hat nichts Numinoses an sich, das mit dem Numinosen der Religion in Konkurrenz treten könnte. Dies anzunehmen würde auch der Grundauffassung der islamischen Dogmatik widersprechen, derzufolge dem ›Bekennen der absoluten Einzigkeit des einen, transzendenten Gottes‹ (tawhid) nichts beigesellt werden dürfte. Das Böse zu einer abstrakten Kategorie des Numinosen aufzuwerten würde bedeuten, dieses Grunddogma zu verletzen und Gott etwas ›beizugesellen‹ (shirk).«5 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass es zu kurz gegriffen ist, pauschal von einer Theodizee-Vergessenheit in der islamischen Tradition zu sprechen. Viel zu präsent ist das Problem in theologi4 5

Loichinger/Kreiner (Hg.), Theodizee, 205. Schulze, Das Böse, 131.

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schen, philosophischen und mystischen Diskursen, als dass diese Aussage bestätigt werden könnte.6 Allerdings steht das TheodizeeProblem nicht im Zentrum des theologischen Interesses. Das bedeutet jedoch nicht, dass es als ein Randproblem angesehen wurde. Es blieb immer ein wichtiger Diskussionspunkt, zumal es in direktem Zusammenhang mit den für die islamische Theologie zentralen Thematiken stand, wie etwa die Attributen-Lehre, die Willensfreiheit des Menschen und die Eschatologie. Dass die Muslime in ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem des Übels und ungerechtfertigten Leidens in der Welt den Fokus auf andere Aspekte des Problems legen und in diesem Sinn einen eigenen Ansatz beanspruchen, bedeutet jedoch nicht gleich, dass sie ein anderes Problem diskutieren als die anderen monotheistischen Religionen. Denn, dass die Antworten unterschiedlich ausfallen, resultiert nicht notwendigerweise aus unterschiedlichen Frage-Stellungen. Die Problem-Stellung, wie sie von Ricœur definiert wurde, gilt in gleicher Weise auch für die islamische Theologie. 2.2 Summarische Darstellung des Diskurses Die Antwort auf das Problem ergibt als Konsequenz der Gottesanschauung, die den jeweiligen Theorien zugrunde liegt. Auf das nötigste gekürzt, kann man sagen, dass es historisch hauptsächlich zwei Positionen in diesem Bezug gab. Die Vertreter eines omnipotenten Gottes (Occasionalismus) versus die Vertreter der »Gerech6

Einige der Studien in diesem Feld sind: Daud Rahbar, God of Justice. A study in the Ethical Doctrine of the Qur’ān, Leiden 1960; Eric E. Ormsby, Theodicy in Islamic Thought. The Dispute over al-Ghazālī’s »Best of all Possible Worlds«, New Jersey 1989; Marghareta T. Heemskerk, Suffering in the Muʿtazilite Theology. ʿAbd al-Jabbār’s Teaching on Pain and Divine Justice, Leiden 2000; Shams Inati, The Problem of Evil. Ibn Sīnā’s Theodicy, New York 2000; Navid Kermani, Der Schrecken Gottes, München 2005; Ayman Shihadeh, The Theological Ethics of Fakhr al-Dīn al-Rāzī, Leiden 2006; J. Hoover, Ibn Taymiyya’s Theodicy of Perpetual Optimism, Leiden 2007. Siehe auch: George F. Hourani, Averroes on Good and Evil, in: Studia Islamica 16, 1962, 13–40; John Bowker, The Problem of Suffering in the Qur’an, in: Religious Studies 4, 1969, 183–202; G. E. Grunebaum, Observations on the Muslim Concept of Evil, in: Studia Islamica 31, 1972, 117–134; Mahmoud M. Ayoub, The Problem of Suffering, in: Journal of Dharma 2, 1977, 267–294; J. Meric Pessagno, The uses of evil in Maturidian Thought, Studia Islamica 60, 1984, 59–82; Henry J. Otten, The Problem of Evil in Islam, in: The Bulletin of Christian Institutes of Islamic Studies 1, 1985, 1–23; Ibrahim Kalin, Mullā Ṣadrā on Theodicy and the Best of All Possible Worlds, in: Journal of Islamic Studies 18, 2007, 183–201. Für einen Überblick über das Feld vgl. Anm. 1. Siehe auch: Andreas Renz et al. (Hg.), Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, Regensburg 2008; K. Berger et al. (Hg.), Das Böse in der Sicht des Islam, Regensburg 2009.

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tigkeit und Einheit« (ahl al-adl wa-t-tawhid) – dies ist der ursprüngliche Name, mit dem sich die sog. Muʿtaziliten selbst bezeichnet haben. Jene, die Gottes Omnipotenz ins Zentrum Ihrer Gottesanschauung stellen und somit Gott von jeglichem »Bösen« freistellen, sehen es als eine notwendige Konsequenz ihres Denkens an, dass kein Raum mehr für die Freiheit des Menschen bleibt, da alles von Gott bestimmt und geleitet wird. Die Frage nach dem Übel in der Welt stellt sich für sie nicht, da erst mit der Offenbarung bestimmt wird, was als gut und was als böse anzusehen ist. Da Gott hier die Gesetze macht, ist er als Gesetzgeber auch über jegliche Rechenschaft erhaben. Nach Gründen für Gottes Handlungen zu suchen, ist diesem Ansatz zufolge sinnlos und unehrerbietig. Gott handle nicht nach moralischen Maßstäben, sondern er sei die Moral. Er handle nicht, weil etwas gut oder schlecht ist, sondern weil er handelt, sei etwas gut oder schlecht. Sie argumentieren folgendermaßen: Wenn Gott einem Zweck nachstrebt, so sei der Beweggrund seines Willens entweder außerhalb Gottes oder aber innerhalb seiner. Ist sie außerhalb, so bedeute dies, dass Gott unvollkommen ist, da er etwas anstrebt, was außerhalb seiner liegt. Ist sie aber in ihm, so bedeute dies, dass das Erschaffene in ihm subsistiert. Da aber alles Erschaffene vergänglich ist, bedeute das wiederum, dass Gott selbst dem Gesetz der Zeit unterworfen wäre, was unmöglich sei. Deshalb bleibe hiernach nur übrig, dass Gott absolut frei und willkürlich handle. Er sei nicht beschränkt durch unsere Vorstellungen von Moral. Dieser okkasionalistische Ansatz geht zurück auf al-Ašʿarī (gest. 324/936).7 Jene, die in ihren Überlegungen von der absoluten Gerechtigkeit Gottes ausgehen, meinen, dass jegliche eschatologische Gerichtsbarkeit ihren Sinn verliert, wenn dem Menschen nicht die Eigenverantwortlichkeit und somit auch seine Freiheit zugesprochen wird. Zwar gestehen sie ein, dass es Übel auf der Welt gibt, teilen es aber – ähnlich wie später Leibniz – in zwei Arten des Übels ein. Zum einen führen sie das Übel an, wofür der Mensch selbst verantwortlich ist. Sie bestreiten, dass Gott sich in menschliches Handeln einschalte, und beharren darauf, dass allein der Mensch für dieses Übel verantwortlich sei. Zum zweiten verweisen sie auf unverschuldetes Übel wie Krankheit und Behinderung, für das sich in der abendländischen Tradition die Bezeichnung malum physicum eingebürgert hat. Hier bestreiten sie, dass es sich überhaupt um 7

Ulrich Rudolph, Occasionalismus, Göttingen 2000, 51–57.

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»Übel« handelt, und interpretieren derartiges Leiden als Folge einer Handlung mit weisen Absichten. In diesem Sinn wird das vermeintlich Üble nun als eine »Prüfung« bewertet und bezeichnet.8 2.3 Das Böse als ein Gottesbeweis bei al-Māturīdī An dieser Stelle können wir nun noch eine dritte Position vorstellen, die sich mediativ präsentiert. Die Vertreter dieser Gruppe bieten einen Kompromiss zwischen dem Pro- und dem Anti-Theodizee-Ansatz. Sie behaupten, dass es ein Fehler sei, die verschiedenen Attribute Gottes gegeneinander auszuspielen. Ferner würden beide Parteien in der Konsequenz ihrer Argumentation irregehen, obwohl sie im Ansatz einen vernünftigen Boden hätten. Demnach sei es in der Konsequenz falsch, von der Omnipotenz Gottes auf seine Willkür zu schließen und den Menschen zur Marionette zu machen. Auf der anderen Seite sei es ebenso falsch, überall nach einem vernünftigen Grund für unerklärliches Leiden zu suchen. Zwar sei es ausgeschlossen, dass Gott ohne eine weise Absicht handle, aber man müsse zwischen Gottes Weisheit und menschlicher Rationalität unterscheiden. Letzterer könne das erste nicht umfassen. Diese Position geht auf al-Māturīdī zurück, wobei angemerkt werden muss, dass sich natürlich Variationen in der Ausformulierung der jeweiligen Positionen finden. Diese Klassifizierung dient allein der Übersicht und kann deshalb einer gewissen Pauschalisierung nicht vorbeugen. Es scheint mir nun so, dass al-Māturīdī den paradoxalen Zustand in der Theodizee-Problematik, die Ricœur zum Ausdruck brachte, zu einem System macht und dadurch den Widerspruch aufzulösen versucht. Denn er vereinbart alle drei Aussagen miteinander in einer ungewohnten Weise. Er sagt, Gott ist allmächtig, und er sagt auch, Gott ist absolut gut. Vor allem ist er auch absolut weise. Jetzt fragt er aber nicht, wie es dann sein kann, dass das Böse existiert. Vielmehr macht er das Letztere zur Möglichkeit der Erkenntnis der Ersteren: Die Existenz des Bösen in der Welt verhilft mir zur Erkenntnis eines weisen, allmächtigen und guten Gottes. Diesen schwierigen Gedanken gilt es zu verinnerlichen, wenn es um das rechte Verständnis der māturīdischen9 Theodizee geht:

8 Für eine umfangreiche Erörterung siehe: Mohammed Ghaly, Islam and Disability: Perspectives in Theology and Jurisprudence, London / New York 2010. 9 Die Bezeichnung māturīdisch wird verwendet, wenn damit nur auf al-Māturīdī selber verwiesen wird. Die Bezeichnung māturīdītisch hingegen umfasst die sog. Schule der Māturīdīya.

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»Abū Manṣūr – Gott möge ihm gnädig sein – sagte: (...) Und wenn dem so wäre [also, wenn die Welt durch sich selbst heraus entstanden wäre], dann würden alle Dinge in ihr für sich den besten und schönsten Zustand und die vorzüglichsten Eigenschaften aneignen. Somit gäbe es nichts Hässliches mehr auf der Welt und alle Übel wären beseitigt. [Da es diese Dinge aber gibt], so deutet ihre Existenz auf ihre Erschaffung durch etwas außerhalb ihrer selbst.«10 Normalerweise versuchen Theologen das Übel in der Welt umzudeuten, von Gott weg zu deuten und es zu etwas Gutem zu verklären, oder es als eine Reife-Prüfung darzustellen, was im Grunde auch die Verklärung des Übels zu etwas Gutem bedeutet.11 Aber hier wird erklärt, dass Gott nicht nur das Übel nicht verhindert, er fördert es sogar und will es. Wenn es also keinen Gott gäbe und die Welt auf irgendeine Weise aus sich selbst heraus entstanden wäre, dann dürfte es folglich keine Übel mehr auf der Welt geben. Und dass es aber doch Böses auf der Welt gibt, das haben wir nur Gott zu verdanken? Mehr noch: Die bloße Existenz des Bösen wird hier zu einem Gottesbeweis stilisiert. Systematisch kann man das folgendermaßen aufschlüsseln:12 alMāturīdī unterscheidet zwischen Urteilen und Aussagen, die Gott betreffen, und Urteilen und Aussagen, die die Schöpfung betreffen. Über Gott kann es nur eine richtige Art zu sprechen geben, da Gott sich nicht ändert. Denn Veränderung war Entwicklung, Entwicklung war Mangel an Vollkommenheit und Mangel war der Grundantrieb der Bewegung. Da die Rede von Gott sich nicht im Rahmen dieser Kategorien vollziehen kann, weil er darüber erhaben ist, kann es auch nur eine Art geben, über ihn zu sprechen, und eine Wahrheit, über ihn auszusagen. Nicht so aber die geschöpflichen Dinge, die sich in einem ständigen Prozess befinden. Deswegen ist es schwierig, ein Urteil über die wahre Beschaffenheit eines Dinges zu treffen. Vielmehr können gegensätzliche Aussagen über ein und denselben Gegenstand, je nach Umstand, zutreffend sein. Im Umkehr-Schluss heißt das, dass es »möglich ist, dass ein Urteil über die Beschaffenheit eines Dinges, welches entsprechend der Koordinaten eines bestimmten Denksystems (qaḍāʾuhū fī šarīʿatihī)13 gefällt wurde – also, ob es sich um Weisheit oder Dummheit, oder Recht 10

al-Māturīdī, Kitāb al-Tawḥīd, B. Topaloğlu / M. Aruçı (Hg.), Istanbul/Beirut 2001, 83 (künftig nur: Tawḥīd) Vgl. auch Tawḥīd, a.a.O., 169, 253. 11 Klaus von Stosch bezeichnet diese Erklärungsmodelle als »Bonisierungsstrategien«. Vgl. von Stosch, Theodizee, 18–26. 12 Die folgenden Ausführungen sind ausführlich dargestellt in meiner bisher unveröffentlichten Dissertationsschrift: Das Böse als ein Gottesbeweis. Die Theodizee al-Māturīdīs im Lichte seiner Epistemologie, Kosmologie und Ontologie. 13 Tawḥīd, a.a.O., 298, Anm. 2.

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oder Unrecht handelt – falsch sein kann.«14 Es ist also nicht möglich, die letztgültige Wahrheit über die Natur eines Dinges auszusagen, da der Mensch nicht alle Variablen zugleich mitbedenken kann. Durch diese Wendung hat al-Māturīdī sein erstes Ziel erreicht. Wenn es nämlich feststeht, dass uns das Wesen der Dinge verborgen bleibt, so kann zum einen das Übel nicht mit etwas Bestimmtem in Verbindung gebracht werden, so dass es seine Natur wäre. Ferner ist es auch nicht möglich, die Natur von Gut und Böse überhaupt zu bestimmen. Nichts ist von Natur aus gut oder schlecht und muss von Fall zu Fall entschieden werden, weshalb uns die letztgültige Natur der Dinge verborgen bleiben muss. al-Māturīdī weist hiermit die Ansicht der Muʿtaziliten zurück, dass eine jegliche Tat der Weisheit fern ist, die keinen Nutzen für einen anderen bringt. Er kontert jetzt mit der Feststellung, dass es keinen Schaden gibt, der nicht zugleich auch nutzbringend für jemand anderes sein kann. Als Beispiele für einen solchen Fall bringt er psychologische Momente ein, wie z.B., dass ein Mensch sich daraus eine Lehre zieht und sich vor ähnlichem Übel schützt.15 In diesem Zusammenhang schneidet al-Māturīdī den Disput innerhalb der Muʿtazila an, ob es überhaupt so etwas wie Übel (aḍ-ḍarr = Schaden) auf der Welt gibt, und wenn ja, wie es zu bewerten sei. Während »eine Gruppe unter ihnen« die Existenz des Übels als eine Wirklichkeit leugnete, da Gott unmöglich ein Übel tun könne, erkannte eine andere Partei die Existenz des Leidens an. Diese Gruppe versuchte hierbei das Übel mit der Weisheit Gottes zu koppeln, indem sie es als ein notwendiges Übel zur Erreichung eines größeren Gutes ansah.16 al-Māturīdī steht diesem Ansatz zwar kritisch gegenüber, aber zumindest hält er der Muʿtazila zu Gute, dass sie sich durch diese Wendung von den Dualisten distanziert haben. Diese unterschieden nämlich nicht zwischen den irdischen und göttlichen Handlungen und setzten beides gänzlich parallel. Für sie könne es nämlich nicht sein, dass irgendeine Person – sei er nun ein Gott oder nicht – es verdiene, als weise bezeichnet zu werden, wenn seine Tat ihm selbst keinen Nutzen einbringt. al-Māturīdī hebt auch hervor, dass das in ihrem eigenen System auch durchaus Sinn mache. Denn nach ihrer Ansicht entstehe die Welt als Folge der Vermischung von Licht und Finsternis, wobei das Licht bedacht sei, sich selbst zu schützen. Weil also auch das Licht einem Selbsterhaltungstrieb folge und die Handlungen der Menschen vom Licht oder 14 15 16

Tawḥīd, a.a.O., 298. Ebd. Tawḥīd, a.a.O., 296.

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der Finsternis geleitet seien, seien die Handlungen der Menschen auch vollkommenes Abbild der göttlichen Handlungen. An einer anderen Stelle bemerkt al-Māturīdī, dass der Grund, warum der Mensch überhaupt einen Dualismus vertreten kann, für ihn in dem Umstand verborgen liegt, dass der Mensch die Weisheit Gottes nicht durchschauen kann, weil er bei seiner Suche nach Gott bereits von einer Vorstellung ausgeht, wie Gott zu sein hat. Er urteilt also über Gott in seinen eigenen Kategorien und versucht somit Gottes Weisheit im Lichte seiner eigenen Weisheit zu verstehen. Und genau hierin liegt für al-Māturīdī der eigentliche Fehler, die verfehlte Prämisse. Nur wenn man Gott von den menschlichen Kategorien befreit, kann man ihm eine größere Weisheit zuschreiben, wodurch sich der Widerspruch zwischen Gut und Böse auflöst. Denn ihr letztgültiger Sinn und Zweck bleibt dem Menschen zwar verborgen, doch man darf annehmen, dass es ihrem Schöpfer nicht verborgen ist. Und dieses Verständnis von göttlicher Weisheit liegt seiner ganzen Theologie immanent zu Grunde. Nachdem al-Māturīdī diese Nuance besprochen hat, zeigt er die Konsequenzen dieser Annahme und die Komplexität des Problems auf. Es geht nämlich nicht nur darum, das Problem des Übels auf der Welt zu klären, sondern auch, die Wahrheit des Schöpfungsgedankens zu verteidigen. Denn nach der dualistischen Lehre kann es kein Ding geben, das aus dem Nichts entsteht. Es müsse vielmehr ein Ursprung, eine ewige Urmaterie (al-aṣl) angenommen werden, aus der die Welt konstruiert wurde. Seine eigene Position zu diesem Thema leitet al-Māturīdī mit der Betonung ein, dass es für ein nicht bedürftiges Wesen nicht möglich sein kann, eine Tat zu vollbringen, die nicht weise ist. Wenn Menschen töricht handeln, dann rühre es daher, weil sie es nicht besser wissen oder weil sie bedürftig sind. Gott aber, der »weise (ḥakīm), unbedürftig (ġanī) und wissend (ʿalīm)«17 sei, sei deshalb fern davon, töricht zu handeln.18 Da Gott aber erhaben über alle Bedürfnisse sei, könne man seine Taten auch nicht mit den Begriffen der Bewegung und Ruhe zusammenbringen. Dies sei nämlich direkt gekoppelt an den Umstand der Bedürftigkeit. So fühle sich der Mensch gezwungen, von einem Ort zum anderen zu gehen, um seine Bedürfnisse zu stillen und schließlich an einem Ort zu ruhen, um sich wieder zu erholen. Wir sehen hier also, dass die Bedürftigkeit des Menschen (oder der Schöpfung im Allgemeinen) als ein ultimatives Kriterium eingeführt wird, um Gott von der Welt zu abstrahieren.

17 18

Tawḥīd, a.a.O., 296. Tawḥīd, a.a.O., 296f.

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Die Feststellung der Erhabenheit wird nun als Kriterium genommen, um seine Allmacht herauszustellen, und dies wiederum ermöglicht die Rede von der Schöpfung Gottes. Denn, wenn es nun feststünde, dass Gott keine Bedürfnisse kennt, dann bedarf er auch keiner Hilfsmittel, um eine Tat zu vollbringen, die er beschlossen hat. Er kann dann auch erschaffen, ohne dass er dafür eines Mittels bedürfte, sprich: ex nihilo (lā ʿan šayʾ). Denn, würde er dafür eines Mittels – also einer »Urmaterie« im Sinne der angesprochenen Dualisten – bedürfen, dann wäre er kein Gott, da die Erhabenheit sein Ausschlusskriterium ist. Deshalb ist es für al-Māturīdī eine »logische Notwendigkeit« (bi-ḍarūrat al-ʿaql), die Rede von der Creatio ex nihilo zum einen und die Begründung dieser Tat als verankert in der Weisheit des göttlichen Ratschlusses anzunehmen. Denn es könne nicht sein, dass die göttliche Handlung von der Weisheit abfalle.19 Und Weisheit habe insbesondere zwei Bedeutungen: Gerechtigkeit (al-ʿadl) und Huld (al-faḍl). Die Huld Gottes sei unermesslich, doch er sei nicht verpflichtet, stets huldvoll zu handeln. Was hingegen die Gerechtigkeit betreffe, so bedeute es nichts weiter, als das Rechte zu tun und alles an seinen rechten Platz zu stellen. Der Unterschied sei, dass die Huld Gottes in seinem Ermessen liege und er sie den Geschöpfen beliebig zukommen lassen könne, während es ausgeschlossen sei, dass er ungerecht handelt.20 Auf die Frage, was der weise Ratschluss hinter der Erschaffung von schädlichen bzw. üblen Dingen (ǧawāhir aḍ-ḍārra), wie z.B. Schlangen sei,21 antwortet al-Māturīdī vor allem mit der gängigen Auffassung, dass es als eine Prüfung (al-miḥna) zu verstehen sei, wodurch der Mensch ein Vorgeschmack auf eschatologische Genüsse und Qualen bekomme. Ferner soll es den Menschen zur Erkenntnis des einen Gottes leiten. Wenn er die Welt samt allem Guten und Bösen und ihrem harmonischen Zusammenfall betrachte, soll er auf seine unermessliche Weisheit schließen und dadurch seiner Erhabenheit und Einzigartigkeit gewahr werden. Denn einem unbefangenen Betrachter wird bewusst werden, dass alle Lebewesen nach dem Prinzip der Selbsterhaltung agieren, indem sie Schaden abwehren und Nutzen anstreben. Das liegt daran, dass sie bedürftig sind. Der Schöpfer der Welt hingegen muss von jeglicher Beschränkung und Ohnmacht (ʿaǧz) frei sein, da er das eine sowie das andere geschafTawḥīd, a.a.O., 193. Tawḥīd, a.a.O., 193. 21 Van Ess bemerkt, dass die Vorstellung, dass Schlangen als üble Kreaturen wahrgenommen werden, auf dualistische Anschauungen zurückzuführen sei. Van Ess, Theologie, IV: 506. 19 20

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fen hat. Seine Verfügungsgewalt (qudra) beschließt alle Dinge mit ein. Er tut, was er will, und lässt, was er will. Diese Erkenntnis führe den Menschen dazu, dass er sich an ihn bindet und auf seinen Beistand hofft, wiewohl er ihn gleichzeitig ob seiner Macht fürchtet. Denn ein Gott, der nur im Stande sei, nur Gutes oder nur Böses zu erschaffen, sei nicht wert, angebetet zu werden, da er kein Gott sein könne.22 In Bezug auf die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit, also in Bezug auf den methodisch-systematischen Rahmen, worin das Problem verortet und erörtert wird, sieht er die Bestrebungen seiner Zeitgenossen als vergebliche Mühe an. Diese hatten physikalische Systeme, wie die Atomlehre, entworfen, um der Frage zu entgegnen, ob Freiheit möglich ist und, wenn ja, wie es vor dem Hintergrund der Allmacht Gottes zu plausibilisieren ist. So wurden alle Phänomene in der Welt in die Substanz-Akzidenz-Schablone eingebettet diskutiert. Dies führte zu einer atomaren Zeitkonzeption und Phänomene, die unkörperlich sind, wie die Freiheit, wurden zu Akzidenzien erklärt. Dadurch hatten sie zwar ein sehr wirksames Werkzeug zur Hand, um die Prozesse in der Welt zu erklären, mussten jedoch letztlich viel Energie in eigentlich theologiefreie Themen investieren, wie z.B. die Frage, aus wie vielen Akzidenzien ein Atom besteht usw. al-Māturīdī bediente sich zwar versatzstückhaft einiger Elemente dieser Theorien, wie z.B. die Zusammengesetztheit der Körper aus verschiedenen Teilen, und er bediente sich auch der Begriffe, die hier eingeführt wurden, wie z.B. die Begriffe Substanz und Akzidenz, verwendete sie aber sehr eigenwillig. So war für ihn Substanz nicht unbedingt der kleinste unteilbare Teil in einem Körper, sondern bezeichnete eine Art oder eine Gattung: Wenn er von der Substanz des Menschen spricht, so meint er den Menschen als solchen und nicht einen Teil von ihm. Er löste diese Begrifflichkeiten also von dem theoretischen Grundkonstrukt los, in die sie ursprünglich eingebettet waren, und versuchte auch nicht, selber eine alternative Theorie anzubieten. Er blieb dabei, nur das zu bestätigen, was durch die Sinne unmittelbar wahrgenommen und durch die Vernunft verarbeitet werden konnte. Die Atome interessierten ihn nicht, weil sie der Sinneswahrnehmung nicht zugänglich waren. Eine Theorie, die sich auf nicht verifizierbare Daten stützte, musste für ihn reine Spekulation bleiben, weshalb er es ablehnte, hier in vertiefte Diskussionen einzusteigen. Ein Theologe solle bei dem bleiben, was die Vernunft mittelbar durch die Offenbarung oder die Sinne – die als sichere Wissens22

Tawḥīd, a.a.O., 175f.

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Hureyre Kam

quellen gelten – erkennen könne. Alles andere sei im Sinne der Erkenntnis der Religion und des rechten Handelns nicht zuträglich. Außerdem brauche der Mensch sich nicht in der Physik zu verlieren, wenn er seine eigene Freiheit erkennen wolle. Dazu reiche es aus, sich seiner selbst bewusst zu werden und die Handlungen des Menschen genau zu beobachten. So werde man die innere Revolte eines Menschen bei aufgezwungener Handlung als ein Indiz für seine tatsächliche Freiheit ausmachen können. In einer Umgebung, in der physikalische Theorien das Herzstück des systematischtheologischen Diskurses darstellten, offenbarte al-Māturīdī durch seine rigorose Ablehnung der wichtigsten Theorie damals zwar eine methodologische Schwäche, zumal er auch keine alternative Theorie darbot, aber er schlug einen Perspektiven-Wechsel vor. 3 Schlussbemerkung Dies ist eine Perspektive, die jedoch kaum, um nicht zu sagen gar nicht, rezipiert wurde, die aber spannende neue Denk-Möglichkeiten offenbaren kann. Das Besondere daran, wie ich finde, ist der Umstand, dass das Böse nicht weggedeutet wird, sondern ernst genommen und anerkannt wird. Das Übel wird hier als ein nicht zu verleugnender Teil des göttlichen Schöpfungsplans angesehen und die einzig mögliche Konsequenz gezogen. Wenn Gott der Schöpfer der Welt ist und keine andere Erklärung in Frage kommt, dann gibt es keine andere Option, als ihm das zuzuschreiben, was es als solches ist. Wenn das nun nicht mit der Idee eines absoluten und absolut guten Gottes zusammenpasst, dann muss das Problem in der Art und Weise liegen, wie ich Gott verstehe.

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Kritik der Erlösung Neue Perspektiven für den anthropologisch-soteriologischen Diskurs von Christen und Muslimen

1 Das Erbe der Satisfaktionstheorie Es ist wohl kaum vermessen, den Erlösungsglauben als Zentrum des Christentums insgesamt zu beschreiben. Diese Behauptung darf sich auf die Analyse stützen, dass der Erlösungsglaube die Überzeugung explizit macht, dass die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte Jesu eine Relevanz für die Daseinsinterpretation des Menschen hat. Wäre diese Bedeutung für den Menschen aber nicht gegeben, dann verlöre die Behauptung der ergangenen Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte Jesu selbst ihre Relevanz. In diesem Sinne scheint die These gerechtfertigt, dass mit der Plausibilität des Erlösungsglaubens das Gesamte des christlichen Glaubens steht und fällt. Ob diese Plausibilität allerdings gegeben ist, ob sich die Überzeugung, dass die geglaubte Offenbarung Gottes eine Bedeutung für den Menschen hat, rational rechtfertigen lässt, ist die Grundfrage der Soteriologie.1 Klassischerweise wird die Relevanz des Erlösungsereignisses in Kategorien der Befreiung von Schuld und Sünde ausgedrückt. So formuliert etwa Karl Rahner: »Schuld und Sünde sind zweifellos ein zentrales Thema für das Christentum; denn dieses versteht sich ja als Erlösungsreligion, als das Ereignis der Vergebung der Schuld durch Gott selbst in seiner Tat an uns in Jesus Christus – in seinem Tod und seiner Auferstehung.«2 Der Satz impliziert drei Aussagen, die den christlichen Erlösungsglauben konturieren:

Als solche markiert sie etwa Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 31991, 11. Natürlich drängt sich an dieser Stelle bereits die Frage nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung des Erlösungsglaubens im Angesicht säkularer Herausforderungen auf, im gegebenen Kontext geht es allerdings streng um die Auseinandersetzung mit islamischtheologischen Herausforderungen, sodass die Frage nach Argumenten für eine philosophische Verantwortung der Soteriologie nur implizit beantwortet werden kann. 2 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 1976, 97. 1

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1. Das Christentum versteht sich wesentlich als Erlösungsreligion. 2. Erlösung geschieht durch Gottes Vergebung von Schuld und Sünde (Relevanzthese). 3. Gottes Vergebung ereignet sich in Tod und Auferstehung Jesu. Die Bedeutung des Handelns Gottes liegt also in der Vergebung der Schuld. Das allerdings provoziert den anthropologischen Umkehrschluss der Notwendigkeit der Schuld, damit das Erlösungsereignis Relevanz hat. Mehr oder weniger explizit setzt sich hier das sog. satisfaktionstheoretische Modell Anselms von Canterbury durch, das kurz skizziert werden muss.3 Anselm, der die erste umfassende erlösungstheoretische Schrift verfasste, setzte sich mit der Frage, warum Gott Mensch geworden ist, vor dem Hintergrund der Problematisierung dieser christlichen Grundannahme durch Juden und Muslime auseinander. Gott ist Mensch geworden, so Anselms Überlegung, weil der Mensch durch die Sünde die Welt in Unordnung gebracht hat und diese Unordnung durch nichts mehr, was in seiner Macht steht, wieder ausräumen kann. Dadurch ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bleibend gestört. So etwa, wie wenn ein Streit zwischen zwei Menschen zwar mit einer Versöhnung endet, aber das Geschehene doch nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann. Für Anselm reicht nun die theologische Vermutung nicht aus, dass Gott dem Menschen einfach vergeben könnte, weil dann weder die Freiheit des Sündentäters noch die Würde des Sündenopfers gewürdigt wäre. Vielmehr muss Gott die Möglichkeiten des Menschen wiederherstellen, dem Beziehungsangebot Gottes zu entsprechen und darin sein Heil zu finden. Für Anselm funktioniert das nur in der für heutige Rezipienten schwer nachvollziehbaren und innertheologisch heftig kritisierten Denkbewegung, dass der GottMensch am Kreuz sterben musste, weil er aufgrund seiner Sündenfreiheit nicht hätte sterben müssen und Gott darin etwas geben konnte, das ihm nicht ohnehin gehört hätte. Die Frage, inwiefern hier wirklich von Erlösung im Sinne einer existenziellen Bedeutung des Handelns Gottes für den Menschen zu reden wäre, bleibt offen. Nichtsdestotrotz bleibt die Satisfaktionstheorie bis in die Gegenwart hinein populär, weil sie die Kernanliegen christlicher 3 Vgl. dazu Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden, Lateinisch und Deutsch, besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt, Darmstadt 1956. Vgl. zur Darstellung und Kritik auch Aaron Langenfeld, Das Schweigen brechen. Christliche Soteriologie im Kontext islamischer Theologie, Paderborn u.a. 2016 (Beiträge zur Komparativen Theologie; 22), 110–154; Gerhard Gäde, Eine andere Barmherzigkeit. Zum Verständnis der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, Würzburg 1989 (Bonner dogmatische Studien, 3).

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Erlösungsreflexion befriedigen kann: Es kann nämlich sichergestellt werden, dass Gott Mensch werden musste, weil der Mensch durch die Sünde in eine Situation geraten ist, die er selbst nicht mehr überwinden kann. Die Art und Weise, wie die Menschwerdung Gottes die Sünde überwindet, wird im Anschluss an Anselm – das scheint eben noch bei Rahner durch – mehr oder weniger kreativ an das Motiv der Stellvertretung im Kreuzestod geknüpft. Voraussetzung der gesamten Theorie ist dabei eine spezifische Form der von Augustinus her sich entwickelnden Erbsündenlehre und der damit verbundenen Annahme einer vorindividuellen, präsubjektiven Schuld, die von Adam auf die gesamte Menschheit übertragen wird und die alleine sicherstellen kann, dass der Mensch der Vergebung der Sünden wirklich bedarf und die darin die Relevanz des christlichen Glaubens sicherstellt. Und genau an dieser Stelle beginnen die Probleme im christlich-islamischen Diskurs. 2 Kritik der Erbsünde Die Ablehnung einer Erbsündenlehre findet sich bereits im Koran:4 So formuliert etwa Sure 35:18: »Keine lasttragende Seele trägt die Last einer anderen; und wenn eine belastete Seele dazu aufruft, sie zu tragen, dann wird nichts davon getragen, und wenn es ein Verwandter wäre.« Und Sure 6:164 führt in ähnlicher Sinnrichtung aus: »Keine Seele erwirbt etwas außer zu ihrem Nachteil, und keine lasttragende Seele trägt die Last einer anderen.« Der Ablehnung der Idee einer übertragbaren Schuld korrespondiert eine positive Anthropologie im Islam, für die klassischerweise Sure 7:172 angeführt wird: »Damals, als dein Herr aus Adams Kindern, ihren Lenden, ihre Kindeskinder nahm und sie gegen sich zeugen ließ: ›Bin ich nicht euer Herr?‹ Da sprachen sie: ›So ist’s; hiermit bezeugen wir’s.‹ Damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: ›Siehe, wir wussten nichts davon!‹« Die Passage impliziert zwei Dinge: Erstens sagt sich Gott den Menschen bereits präexistent zu: Sie sind nicht durch die Sünde, sondern durch Gottes Gegenwart bestimmt. Zweitens sind die Menschen in der Lage, dieser Bestimmung zu entsprechen, worauf der Vorgriff auf ihre Rechtfertigungsschuld im Gericht hinweist. Ein Verständnis, nach dem der Mensch zusätzlich der Aufrichtung Gottes wegen der Sünde bedürfte, wird explizit nicht benannt. Nun führt der Koran natürlich keine Kate4 Vgl. zum Folgenden A. Langenfeld, Erbsünde und Erlösung. Neue anthropologische Perspektiven im christlich-islamischen Gespräch, in: KatBl 141, 2016, 331– 335.

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gorisierung ein, nach der das Christentum eine Sündenbestimmtheit des Menschen vertrete, der Islam aber eine Heilsbestimmtheit. Aufzeigen lässt sich allerdings, dass sich dieses Verständnis bis heute in der islamischen Theologie hält und genau in dieser Differenz der Grund liegt, warum islamisch-theologisch Erlösung kein relevantes Konzept darstellt. So schreibt etwa der Münsteraner Philosoph Milad Karimi: »Nicht die Sünde haftet an den Menschen, sondern das Heil. Die Heilsbestimmtheit des Menschen bildet mithin das Fundament einer theologischen Anthropologie im Islam. […] Die Sünde, begriffen eben als keine Veranlagung, Befindlichkeit im Allgemeinen, ist immer nur eine konkrete Tat und mithin die jeweilige, partielle Entschiedenheit, sich von Gott abzuwenden.«5 Daher verstehe sich der Islam explizit nicht als Erlösungsreligion, weil der Muslim »keiner Erlösung qua Offenbarung«6 bedürfe. Für das interreligiöse Gespräch ergibt sich nun ein doppeltes Problem: Erstens ist evident, dass, wenn der Islam Erlösung grundsätzlich als unsinnigen Gedanken begreifen würde, es eine nahezu unüberwindbare Kluft zum Christentum gäbe. Es ist zu bedenken, dass nicht nur der Erlösungsglaube selbst abgelehnt wird, sondern eben zugleich auch Christologie und Trinitätstheologie als Funktionen der Überzeugung, dass Gott in Jesus zum Heil der Menschen Mensch geworden ist. Aus christlicher Perspektive führte dann umgekehrt allerdings auch kein Weg an einer ablehnenden Haltung des islamischen Glaubens vorbei. Zweitens aber ist christliche Theologie natürlich selbst herausgefordert, die Wurzel der islamischen Ablehnung des Erlösungsglaubens zu prüfen. Sofern die oben geleisteten Überlegungen zutreffen, richtet sich der Einspruch ja konkret gegen die Vorstellung einer ursprünglichen Sündenbestimmtheit des Menschen bzw. gegen eine Erbsündenlehre. Damit ist die Frage offen, ob die christliche Explikation des Heilsverständnisses selbst an die augustinische Form dieser Lehre gebunden ist, oder ob sich die anthropologische Heilsbedürftigkeit auch auf andere Weise bestimmen lässt. Sollte dies der Fall sein, wäre zu überprüfen, inwiefern Annäherungsmöglichkeiten zwischen christlicher und islamischer Theologie gegeben sein können, die nicht zwingend zu einer gegenseitigen Abschätzung führen.

Milad Karimi, Zur Frage der Erlösung des Menschen im religiösen Denken des Islam, in: Klaus von Stosch / A. Langenfeld (Hg.), Streitfall Erlösung, Paderborn u.a. 2015 (Beiträge zur Komparativen Theologie; 14), 17–37, 31. 6 Ebd. 5

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3 Anthropologische Transformationen Die vorherigen Abschnitte haben klargemacht: Die Erklärung des christlichen Erlösungsglaubens hängt von der vorgeschalteten Anthropologie ab, und wird der Mensch nicht als der Erlösung bedürftig verstanden, dann braucht es eben auch keiner Erlösung! Die islamischen Einwände gegen die Begründung des Erlösungsglaubens von einer augustinischen Erbsünden-Anthropologie her können nun zu einer Selbstüberprüfung führen, die Transformationen des Menschenbildes erlaubt und somit eine neue Grundlage für die Entfaltung der Überzeugungen über das Heilshandeln Gottes schafft. Ähnlich der Philosophie wird die islamische Theologie hier zu einem echten theologischen Erkenntnisort, der eine Neu- und Näherbestimmung des christlichen Offenbarungsverständnisses ermöglicht. Nun ist dies keineswegs nur eine intellektuelle Spielerei, sondern es ist für das christliche Selbstverständnis unerlässlich, sich diesen interreligiösen Anfragen auszusetzen. Denn natürlich ist es auch für die christliche Theologie unmöglich, den Menschen als ursprünglich sündenbestimmt zu denken, ohne auch die ursprüngliche Heilsbestimmtheit zu betonen. Gegen Augustinus ist einzuwenden, dass die Sünde nicht als Beeinträchtigung des unbedingten Heilswillen Gottes zu verstehen ist, der allen Menschen gilt.7 Sünde ist vielmehr die vom Menschen gewählte Abkehr von Gott, verstanden als Abwendung von der Wirklichkeit der Liebe, die zweifelsohne der Erlösung bedarf, die aber noch einmal auf ihre Möglichkeitsbedingung hin befragt werden kann. Warum überhaupt kehren sich Menschen von Gott ab? Diese Frage scheint für Christen und Muslime gleichermaßen relevant und auf eine tiefere Ebene der anthropologischen Reflexion zu verweisen, die zum Verständnis des Erlösungsbegriffs zuträglich ist. Eine Antwortmöglichkeit kann hier nur skizziert werden. Sie wird mit der Absicht eingeführt, eine holistische Anthropologie zu entwerfen, die den Menschen nicht auf die Sünde reduziert und derart Erlösungsbedürftigkeit als etwas ursprünglich Menschliches begreift, das schon ›vor‹ jeder Sünde gegeben und in diesem Sinne auch zunächst gar kein Negativum ausdrückt.8 7 Vgl. zur ausführlichen Auseinandersetzung mit Augustinus A. Langenfeld, Schweigen, 68–110. 8 In diesem Sinne argumentiere ich zunächst rein auf Basis der autonomphilosophischen Vernunft, um so einen allgemeinen anthropologischen Begriff zu entwerfen, der einerseits eine Immunisierung des Erlösungsglaubens gegen äuße-

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Thoms Pröpper verortet die Wurzel von Schuld und Sünde in der spezifischen Freiheitssituation des Menschen.9 Diese ist einerseits durch das Vermögen ausgezeichnet, sich zu allem, das ist, in ein Verhältnis zu setzen, alles Gegebene zu übersteigen, auf seine Möglichkeitsbedingungen hin zu befragen und darin nach einem unbedingten Grund des Seins überhaupt auszugreifen. Andererseits kann sich der Mensch in diesem freien Vernunftakt den entsprechenden Gehalt seines Ausgriffs, nämlich das Unbedingte, selbst nicht geben, weil alles, was ist, endlich ist und damit noch einmal überstiegen und auf seinen Ursprung befragt werden kann. Die menschliche Freiheitssituation scheint damit wesentlich widersprüchlich: Einerseits greift der Mensch nach einem unbedingten Grund allen Seins aus, andererseits bleibt er radikal auf die Bedingtheit der Existenz verwiesen, die alles Sein und somit auch seine Freiheit wesentlich bestimmt. Die antinomische Struktur der Vernunft, die hier angezeigt ist, kann nun als Wurzel von Schuld und Sünde insofern begriffen werden, dass die Kollision von Unbedingtheitsanspruch und Endlichkeitserfahrung zur Angst wird, nicht genug vom Leben haben zu können.10 Die Sorge, dass es den unbedingten Grund des Seins nicht gibt und der Mensch seinem Dasein selbst Sinn verleihen muss, kann – um mit Camus zu sprechen – von einer ›Ethik der Qualität‹ zu einer ›Ethik der Quantität‹ führen: »Wenn ich mich davon überzeuge, daß das Leben einzig das Gesicht des Absurden hat, wenn ich erfahre, daß sein ganzes Gleichgewicht auf diesem ständigen Gegensatz beruht zwischen meiner bewußten Auflehnung und der Dunkelheit, in der diese sich abmüht, wenn ich einräume, daß meine Freiheit nur in ihrer Beziehung auf ihr begrenztes Schicksal sinnvoll ist – dann muß ich sagen, worauf es ankommt, ist nicht, so gut wie möglich, sondern soviel wie möglich zu leben.«11 Die Konsequenz, die Camus aus der Diagnose der Absurdität der Existenz zieht, ist die Notwendigkeit einer horizontalen Transzendenz, eines ›maximalen Lebens‹. Es versteht sich von selbst, dass dies zu zwischenmenschlichen Konflikten um die Durchsetzungsmöglichkeiten eigener Existenzansprüche führen muss, weil das ›gute Leben‹ allzu oft vom Leiden der anderen abhängt. re Anfragen verhindert, andererseits aber auch Rückfragen an die kritischen Instanzen selbst stellen kann. 9 Vgl. zum Folgenden T. Pröpper, Erlösungsglaube, 182–194. 10 Als Hintergrundfolie dienen hier die Angstanalysen von Sören Kierkegaard, Der Begriff der Angst, München 32010, und ders., Die Krankheit zum Tode, München 32010. 11 Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 122010, 80.

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Es kann hier nun keine Detailanalyse der Strukturen von Schuld und Sünde erfolgen. Entscheidend ist vielmehr, dass von Pröppers Analyse der Freiheit her gezeigt werden kann, inwiefern der Mensch schon vor jeder Sünde der Erlösung bedarf, weil schon das Dasein selbst eine Frage darstellt, auf die er keine Antwort zu geben vermag. Ob sein Dasein einen Sinn hat, müsste dem Menschen gesagt werden. Die Sünde des Menschen ist freilich nicht weniger der Erlösung bedürftig, ihre Macht könnte aber nur gebrochen werden, wenn die Angst des Menschen um die potenzielle Absurdität seiner Existenz aufgelöst würde. Es geht gewissermaßen um das Ganze des menschlichen Daseins, das in diesem anthropologischen Zugang auf dem Spiel steht und das die Relevanz des Erlösungsgedankens in aller Klarheit herausstellt: Wenn es einen Sinn-Grund des Seins gäbe und menschliche Existenz als gesollt begriffen werden könnte, wäre eine theologisch-anthropologische Bestimmung des Menschen gegeben, die zum Verständnis des Menschen insgesamt etwas Gehaltvolles beiträgt. Im Umkehrschluss kann formuliert werden: Die Theologie ist herausgefordert, diese anthropologischen Grundbestimmungen als Reflexionshorizont der Erlösungslehre zu begreifen und Gottes Heilshandeln als Antwort auf die Frage des Menschen, die er sich selbst ist, zu begreifen. Spannend ist allerdings nun, dass dies sowohl für christliche als auch für islamische Theologie gilt: Wenn die oben skizzierte Analyse menschlicher Freiheit wahr ist, gilt sie allgemein-anthropologisch, und Christen und Muslime sind gleichermaßen von ihr herausgefordert. 4 Was ist Erlösung? Christliche Antworten und Herausforderungen an die islamische Theologie Eine christliche Reflexion der Erlösung, die von der zuvor dargestellten anthropologischen Grundsituation ausgeht, wird das Heilsereignis als Offenbarung des Sinn-Grundes des Daseins begreifen.12 Insofern der Mensch in seinem Freiheitsvollzug auf ein schlechthin Vgl. zur entlehnten Terminologie, aber auch mit sachlichem Bezug im Offenbarungsdenken Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 1, Stuttgart 1956, 129– 189. Einen Unterschied zu Tillich setze ich allerdings in der stärkeren Betonung philosophisch ausgewiesener Kriterien zur Bestimmung des Offenbarungsbegriffs und folge dabei einer kritischen Rezeption Thomas Pröppers. Vgl. dazu ders., Freiheit als philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg/ Basel/Wien 2001, 5–22. Vgl. zu meiner kritischen Würdigung des Denkens A. Langenfeld, Sinn – Freiheit – Pluralität. Skizzen zu Gegenstandsbereich und Auftrag gegenwärtiger Fundamentaltheologie, in: SaThZ 18, 2014, 43–61.

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Unbedingtes ausgreift, dessen Wirklichkeit er nicht verbürgen kann, ist er auf den Selbsterweis dieses Unbedingten wesentlich angewiesen. Sofern sich dieser aber ereignet, kann im eigentlichen Sinne von Erlösung gesprochen werden: Der Mensch ist nicht länger der Bedrohung seiner Existenz durch die potenzielle Absurdität ausgesetzt, die Camus als vernunftloses »Schweigen der Welt«13 bezeichnet. Wenn dieses Schweigen aber durch das Wort Gottes gebrochen wird, wenn das Unbedingte sich selbst im Bedingten als absolute Begründung allen Seins offenbart, kann die Existenz des Einzelnen gerade in ihrer Gebrochenheit als gesollt erfahren und begriffen werden. In diesem Sinne ist Erlösung das Offenbarungsgeschehen selbst und kein von ihm getrenntes Ereignis. Das, was der Schöpfung und dem Menschen vom Ursprung her gilt, nämlich die begründende Zusage des Gesollt-Seins seiner Existenz, wird im Selbsterweis des Unbedingten offenbar und derart zur Erlösung. Zugleich befreit sie von dem Zwang, sich selbst rechtfertigen zu müssen und sich im Kampf um die selbsthergestellte Anerkennung am anderen schuldig zu machen. Jürgen Werbick formuliert: »Die soteriologische Grund-Frage, mit der die Abgründigkeit menschlicher Selbstbegründung in den Blick trat, wurde […] als die Frage nach einem Ja identifiziert, das der Verneinung durch eine meiner Existenz gegenüber vollkommen gleichgültige Welt-Wirklichkeit gewachsen wäre und mich davon befreit, den Schmerz der Gleichgültigkeit an andere weitergeben zu ›müssen‹.«14 Es ist die christliche Überzeugung, dass sich das Ereignis des gebrochenen Schweigens in der Geschichte Jesu von Nazaret vollzieht.15 In ihm setzt sich Gott als er selbst ins Wort und offenbart sein Verhältnis zu Mensch und Welt: Als die Liebe, die er wesenhaft ist, identifiziert er sich als Anerkennung des Gesollt-Seins menschlicher Existenz. Erkenntnistheoretisch primär ist dabei natürlich die Erfahrung der Liebe als Begründung des Daseins in der Begegnung mit Christus in der Gegenwart des je einzelnen Menschen. Jesu kommunikative Lebenspraxis vollzieht sich als radikal inklusive Anerkennung des Anderen, durch die alleine er um die freie Zustimmung des Anderen wirbt. Die Durchsetzung der Liebe zum Anderen nur mit Mitteln der Liebe erweist sich unüberbietbar am A. Camus, Sisyphos, a.a.O., 41. Jürgen Werbick, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg/Basel/Wien 42010, 631. 15 Vgl. zur im Folgenden angerissenen Explikation des Erlösungsbegriffs A. Langenfeld, Schweigen, 221–293. Vieles verdankt sich dabei T. Pröpper, Erlösungsglaube, 194–220. Vgl. zur konkreteren Darstellung seines christologischen Konzepts auch ders., Theologische Anthropologie II, Freiburg/Basel/Wien 22012, 1298–1319. 13 14

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Kreuz, und sie erweist sich in der Erfahrung der Jünger, dass nicht der Tod, sondern die unbedingte Liebe die Antwort auf die Grundfrage menschlichen Daseins und also selbst der unbedingte Grund der Existenz ist. Gott ist also insofern die absolute Begründung des Seins, dass die Liebe diese Begründung ist und als solche bestimmt wird. In diesem Sinne kann prinzipiell jeder Mensch das Wort Gottes in jedwedem intersubjektiven Anerkennungsgeschehen erfahren und sich in ein freies Verhältnis zu ihm setzen. Ist das Erlösungsgeschehen in diesem Sinne erfasst und reflektiert, ergeben sich Rückfragen an die islamische Theologie, die zusammenlaufen in der Frage nach der Angemessenheit des Offenbarungsmediums für die beanspruchte Existenz-Interpretation des Menschen. Wie – so kann man die Frage zuspitzen – kann sich das Anerkennungsgeschehen, das christlich in personal-intersubjektiven Kategorien gedacht wird, in der Begegnung des Menschen mit einem Buch ereignen? Wesentlich ist dabei die Annahme, dass das Medium der Offenbarung ihrem Inhalt nicht widersprechen darf: Wenn Gott sich also als die Liebe selbst offenbart, dann geschieht diese Offenbarung im Modus der Liebe. Wie aber kann der Koran Offenbarung des Wesens Gottes als Liebe sein? 5 Grundzüge einer islamischen Soteriologie? Offenbarungstheologische Reflexionen Der Philosoph Milad Karimi war eingangs mit einer klaren Ablehnung der Zuschreibung des Erlösungsbegriffs zum Islam zitiert worden. Interessant ist aber, dass – ist das Missverständnis der klassischen augustinischen Erbsündenlehre erst einmal ausgeräumt – Karimi dem Erlösungsbegriff durchaus etwas abgewinnen kann. Er begreift ihn mit Bezug auf Sure 7:172 als islamisches Konzept im Sinne einer Erinnerung an die ewige Bindung Gottes an den Menschen. Erlösung wäre dann das Offenbar-Werden dessen, was schon immer gilt, woran der Mensch aber erinnert werden muss.16 Ganz parallel zum skizzierten christlichen Begriff geht es um das Sich-Zeigen des letzten Grundes menschlicher Existenz, das sich durch das spezifische Offenbarungsmedium ereignet. Wenngleich Karimi sich aufgrund ontologischer Gründe nicht auf einen islamischen Gebrauch des Begriffs der Selbstoffenbarung einlassen kann, so kommt er doch zu folgender Äußerung: »Die Offenbarung kann […] als die Liebeserklärung Gottes an die Menschen begriffen werden. Wer nämlich den Koran erkennt, der 16

Vgl. M. Karimi, Frage, a.a.O., 31.

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erkennt Gott als derjenige Schöpfer, dessen Werk im Grunde, also ursprünglich durch das Heil bestimmt ist.«17 Die (An-)Erkenntnis Gottes als heilvoller Grund des Seins durch die Offenbarung scheint aus christlicher Perspektive ein soteriologisch durchaus zustimmungsfähiges Motiv zu sein. Wie aber wird das Offenbarungsmedium bestimmt, wenn es sich eben nicht um eine personale Kategorie handelt, welche die Offenbarung der Liebe doch notwendig vorauszusetzen scheint? Im Anschluss an Navid Kermani18 begreift Karimi Offenbarung als Ereignis der Gegenwart Gottes, die sich durch die Schönheit der Rezitation des Korans einstellt. Der Koran ist insofern Offenbarung als »dass er ein ästhetisches Ereignis darstellt. Die Gegenwart Gottes geschieht vornehmlich deshalb in einem ästhetischen Akt, weil der Koran wesentlich ein zu Hörendes ist. Der Koran ereignet sich in der Rezitation und zugleich im Hören desselben. Durch diesen dynamischen Akt des melodischen Vortrags und des Hörens gewinnt der Koran als Koran an Realität, genauer: Der Koran wird erst zum Koran, wenn er rezitiert und im gleichen Atemzug gehört wird. Allein in diesem Akt wird die Gegenwart Gottes sinnlich wahrnehmbar.«19 Offenbarungsmedium ist also gar nicht zuerst das geschriebene, sondern das gesprochene Wort: In der Schönheit der Koran-Rezitation wird nach Karimi die Schönheit als Prinzip des GesolltSeins des Daseins erfahrbar. Durch das Schöne wird bewusst: Es ist gut, zu sein! Diese Erfahrung beinhaltet aber zugleich die Bejahung eines Grundes des Daseins, der als heilvoller offenbar wird: Gott als Schöpfer, der sich aus Liebe zum Menschen in seiner Schönheit und durch die Schönheit selbst ins Wort setzt. In diesem Sinne spricht Karimi dann auch explizit davon, sich durch die »Schönheit erlöst«20 zu finden. Das geschriebene Wort des Korans ist damit nicht primärer Erkenntnisgrund der Offenbarung Gottes, sondern inhaltliche Bestimmung des Formalprinzips der Schönheit der Rezitation.

Ebd. Vgl. dazu vor allem Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 32007. 19 M. Karimi, Frage, a.a.O., 29. 20 Ebd., 33. 17 18

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6 Reflexion: Soteriologie als Problemfeld des christlich-islamischen Gesprächs Die dargestellten Positionen weisen eine grundlegende Ähnlichkeit darin auf, dass sie Erlösung als im strengen Sinne identisch mit dem jeweils spezifischen Offenbarungsereignis begreifen. Erlösung ist demnach eine Antwort auf die Grund-Frage des Daseins und eine Erinnerung an die Ursprünglichkeit dieser Antwort. Je nach theologischer Konzeption tritt das eine oder das andere in den Vordergrund, ohne dass sich allerdings beide Aspekte ausschließen; vielmehr kann wohl von einer sinnvollen Komplementarität gesprochen werden. Nun soll aber keineswegs von der formalen und sachlichen Parallelität der erlösungs- und offenbarungstheoretischen Gedankenführung zugleich auf eine Harmonisierung von Wahrheitsansprüchen geschlossen werden. Aus christlicher Sicht (und das gilt sicher auch umgekehrt) sind zahlreiche Rückfragen an die islamische Konzeption zu stellen: Bedarf der vorgestellte Ansatz nicht eine explizite Aufnahme und Reflexion des Selbstoffenbarungskonzepts? Braucht es hier nicht eine vertiefte ontologische Erörterung des Verhältnisses von Offenbarungswort und Wesen Gottes? Leistet hier das trinitarische Denken nicht Entscheidendes, sodass islamische Theologie an der Stelle besonders herausgefordert ist? Diese Fragen können hier nicht mehr besprochen werden, sie verlangen aber nach einer tieferen dialogischen Auseinandersetzung.21 Relevant ist allerdings die Frage nach einer Lernmöglichkeit der christlichen Theologie aus dem Dialog mit islamischem Denken. Dazu seien zwei Punkte kurz angedeutet. Erstens kann die islamische Herausforderung der christlichen Anthropologie als Eröffnung eines gemeinsamen Diskurses über die theologische Anthropologie betrachtet werden. Die Kritik problematischer Theorie-Elemente der Erbsündenlehre wurde damit zum Ort eines tieferen Selbstverständnisses des christlichen Erlösungsglaubens, der deutlich macht, dass der christlichen Reflexion desselben keine Selbstverständlichkeit zukommt. In diesem Sinne sind Christen und Muslime geVgl. zur expliziten Auseinandersetzung mit Karimi: A. Langenfeld, Erlösung im Absurden? Anmerkungen zu Milad Karimis Entwurf einer islamischen Soteriologie und Versuch einer Diskurseröffnung, in: K. v. Stosch / A. Langenfeld (Hg.), Streitfall, 39–59. Vgl. zur Auseinandersetzung um die Gotteslehre besonders Muna Tatari / K. v. Stosch (Hg.), Trinität – Anstoß für das islamisch-christliche Gespräch, Paderborn u.a. 2013. Auf viele Fragen geantwortet und seine Position profiliert hat Karimi, in: ders., Hingabe. Grundfrage der systematischenislamischen Theologie, 2. korr. u. überarb. Aufl., Freiburg i.Br. 2015. 21

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meinsam von (post-)modernen Perspektivierungen des Menschen zur Verantwortung der Möglichkeit einer theologischen Anthropologie überhaupt herausgefordert. Von besonderem Interesse sollte zweitens die Skizze eines ästhetischen Offenbarungsverständnisses für die christliche Theologie sein. Denn zweifelsohne besitzt die Annahme einer Offenbarung des Gesollt-Seins des Daseins in der Erfahrung des Schönen eine ausgeprägte phänomenale Basis. Der Ort der ästhetischen Darstellung des Heils sind katholischerseits klassischerweise die Sakramente, aber auch die Kirchenraum-Architektur und -verzierung, die Kirchenmusik etc. Die starke Betonung der ästhetischen Dimension der Offenbarung sollte zum Anlass einer vertieften Auseinandersetzung mit der Fragestellung auf Seiten der christlichen Theologie genommen werden. Sie kann damit einen zentralen Vorwurf der nietzscheanisch geprägten Religionskritik positiv aufnehmen, der darin besteht, das Christentum lehre eine Verachtung des Schönen und des Lebens insgesamt, während Daseins-Sinn nur in einer ästhetischen Betrachtung der Welt erkannt werden könnte.22 Zugleich kann hier eine neue Form auch der ökumenischen Herausforderung erkannt werden, die jenseits vom formelhaften Streit um das Sakramenten-Verständnis an der sachlichen Reflexion der ästhetischen Vermittlung des Heils interessiert ist. All das kann hier natürlich nur angedeutet werden und bedarf einer weitaus ausführlicheren Reflexion.23 Abschließend kann festgehalten werden, dass der christlich-islamische soteriologische Diskurs eine gute Ausgangsbasis für produktive Auseinandersetzungen mit einer Vielzahl von theologischen Themen darstellt. Die in der Erlösungstheorie reflektierte Relevanz-Frage des Offenbarungsereignisses und die damit verbundene anthropologische Reflexion stellt sich für beide Traditionen gleichermaßen. Dass die jeweiligen Antworten auf diese Frage zu spezifisch ausdifferenzierten Überzeugungssystemen geführt hat, sollte den Dialog weniger hemmen, sondern vielmehr gerade dazu herausfordern, sich vom jeweils Anderen anfragen zu lassen und zu einem vertieften Selbstverständnis zu gelangen.

Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus, in: ders., Kritische Studienausgabe der sämtlichen Werke Bd. 3/1, hg. von Giorgio Colli u. Mazzimo Montinari, Berlin / New York 1972, 43. 23 Angedeutet sind einige Folgerungen in A. Langenfeld, Schweigen, 395–400. 22

IV Gegenwartsfragen und Projekte

André Ritter

Religiöse und kulturelle Vielfalt als Herausforderung in Europa∗

Wenn ich am Europa-Tag im Haus der Religionen in Bern zum vorgeschlagenen Thema »Religiöse und kulturelle Vielfalt als Herausforderung in Europa« spreche, dann tue ich das als evangelischer Theologe und zugleich in meiner Eigenschaft als Direktor des Europäischen Instituts für interkulturelle und interreligiöse Forschung mit Sitz im Fürstentum Liechtenstein. Dieses Institut weiß sich seit seiner Gründung im Jahr 2004 insbesondere dem interreligiösen Dialog verpflichtet. Es hat im Rahmen seiner vielfältigen Projekte auch einen europaweiten Prozess zum Thema »Religion im Fokus der Öffentlichkeit« initiiert. Vor diesem Hintergrund beginne ich mit einer kurzen Vorbemerkung über den Stellenwert unseres Themas als einem ersten von drei Schritten. 1 Vorbemerkung über den Stellenwert unseres Themas als Herausforderung in Europa Wenn man heute ein wenig kritisch über Europa nachdenkt, dann nimmt man wie z.B. im Fall der Ukraine gerade politische oder militärische Konflikte und im Fall Griechenlands vor allem finanzielle oder wirtschaftliche Krisen wahr. Dass über die Fragen aktueller Tagespolitik hinaus die religiöse und kulturelle Vielfalt zunehmend als eine gesellschaftliche Herausforderung ernst zu nehmen ist, dies mag zwar gelegentlich in den Hintergrund treten, ist jedoch eine nicht minder wichtige und für unser aller Zusammenleben in Europa bedeutsame Frage. Kurzum – unser Thema bezeichnet ein gemeinschaftliches Anliegen über kulturelle, religiöse und nationale Grenzen und Schranken hinweg. Doch was ist darunter jeweils zu verstehen? Darauf eine differenzierte Antwort zu geben, wird wohl nur mit Blick auf konkrete Situationen gelingen, auch wenn dergleichen von Land zu Land ∗

Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den André Ritter im Rahmen des Europa-Tages im Haus der Religionen in Bern am 6. September 2015 gehalten hat. Vgl. auch Christian Danz / André Ritter (Hg.), Zwischen Kruzifix und Minarett. Religion im Fokus der Öffentlichkeit, Münster 2012.

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bzw. von Ort zu Ort ähnlich oder zumindest vergleichbar erscheinen: Der verfassungsrechtliche Streit über Kruzifix und Minarett, der wechselseitige Bezug von Kultur und Religion am Ort der öffentlichen Schule oder auch das ambivalente Verhältnis von Mehrheit und Minderheit(en) als Frage nationaler Integrität – hier wie dort wird nicht selten auch auf bedrängende Weise erfahrbar, wie spannungsvoll religiöse und kulturelle Vielfalt uns je und je als Ausdruck von Anders- und Fremdsein gesellschaftlich herausfordert, wie uns derzeit wohl auch am Umgang mit der Flüchtlingsnot schmerzlich bewusst wird. Doch Europa verändert sich, ob wir es nun wahrnehmen bzw. wahrhaben wollen – oder nicht. Laut einer Studie des Religionssoziologen Detlef Pollack (Universität Münster) zur Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt sind wir Deutschen viel intoleranter gegenüber dem Islam und anderen nicht-christlichen Religionen als unsere westeuropäischen Nachbarn. Das ist das zentrale Ergebnis einer der bislang größten repräsentativen Umfragen zur religiösen Vielfalt in Europa. Der Exzellenz-Cluster »Religion und Politik« der Universität Münster führte sie 2010 kurz vor der Sarrazin-Debatte mit TNS Emnid in fünf Ländern durch. Danach sprechen sich die Deutschen deutlich öfter gegen neue Moscheen und Minarette aus als beispielsweise Franzosen, Dänen, Niederländer oder Portugiesen. Sie sind auch weniger bereit, anderen Religionen gleiche Rechte zuzugestehen. Von Hindus, Buddhisten und Juden haben sie ein schlechteres Bild als die übrigen Europäer. Das wirkt sich auch auf Haltungen und Vorbehalte gegenüber dem Islam bzw. den Muslimen aus. Im Folgenden möchte ich verdeutlichen, dass unser Thema nicht nur konkret und konfliktbeladen ist, sondern europaweit eine gemeinsame Herausforderung für uns alle bedeutet. Das lässt sich zunächst an zwei Beispielen illustrieren: einerseits an der Frage von Kruzifixen in Klassenzimmern der öffentlichen Schule, andererseits an der Frage eines grundsätzlichen Minarett-Verbots. Dabei beziehe ich mich immer wieder auch einmal auf die Situation in der Schweiz. Denn – das ist wiederum meine persönliche Auffassung – Europa kann von der Schweiz Wichtiges lernen, so oder so. Anschließend wird der Streit um positive und negative Religionsfreiheit dargestellt und schließlich der Frage nachgegangen, ob die abrahamische Ökumene eine europäische Leittradition werden kann. Bei der Frage nämlich, was uns beispielsweise die Abstimmung über die Minarett-Initiative in der Schweiz lehrt, über die am 29. November 2009 abgestimmt wurde, geht es aus meiner Sicht um

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weit mehr als »nur« um die aktuelle Bewertung einer allein auf die Schweiz bezogenen Debatte: Es geht zugleich auch um die grundsätzliche theologische Bewertung des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit – und dies nicht zuletzt mit Blick auf das nahezu zeitgleich erfolgte Kruzifix-Urteil des Europäischen Menschengerichtshofs in Straßburg (3. November 2009). Mit anderen Worten: Eben nicht nur der Islam und das Minarett, sondern auch und gerade die christlichen Kirchen selbst stehen vor einer nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Herausforderung. Zwar kommt den beiden Entscheiden – hier eine nationale Volksabstimmung (mit einer immerhin deutlichen Mehrheit von 57,5 Prozent), dort ein Gerichtsurteil auf ranghohem europäischen Niveau – keineswegs die gleiche juristische Wertigkeit zu, doch ist die damit jeweils verbundene politische Signalwirkung in beiden Fällen eklatant, ungeachtet der nicht zu übersehenden sachlichen Differenz und unterschiedlichen Symbolkraft von Minarett und Kruzifix. So käme es einer kurzsichtigen thematischen Engführung gleich, wollte man sich im Anschluss an das umstrittene Abstimmungsergebnis in der Schweiz andernorts bequem zurücklehnen und zumal als christliche Kirchen gar abwartend verhalten. Mitnichten mögen solche gelegentlich bekundeten Meinungen und Haltungen Religion am Ende zur Privatsache herabwürdigen. Schließlich geht es im öffentlichen Streit um die (positive wie negative) Religionsfreiheit zugleich um den für uns alle – gleich ob und welcher Religionsgemeinschaft wir auch immer angehören – maßgeblichen Stellenwert von Religion und Kultur im öffentlichen Leben. Und das gilt nicht zuletzt auch mit Blick auf die Religionsfreiheit als ausdrücklichen Bestandteil der Grundrechte. 2 Der öffentliche Streit um (positive wie negative) Religionsfreiheit Aus gegebenem Anlass möchte ich zugleich darauf hinweisen, dass im März 2011 der Europäische Menschengerichtshof sein ursprünglich gefasstes Urteil von November 2009 nach einem durch den italienischen Staat veranlassten Berufungsverfahren nun insofern revidiert bzw. präzisiert hat, als er es jedem Land nun doch anheimstellt, religiöse Symbole in öffentlichen Räumen den jeweiligen Gegebenheiten und geprägten Traditionen entsprechend aufoder abzuhängen. Eine allgemein geltende rechtliche Lösung für alle europäischen Staaten wird damit also wieder zurückgenom-

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men, nicht zuletzt aufgrund der massiven Proteste, die zwischenzeitlich gerade auch von kirchlicher Seite her erfolgt sind. Zwischen der theologischen Bedeutung architektonischer Unterschiede und ihrer politischen Instrumentalisierung liegen bekanntlich Welten. Das gilt für den historischen wie auch für den religiösen Kontext von Kirchturm und Minarett, geht es in den aktuellen Debatten nämlich keineswegs allein um das Minarett als religiöses Symbol, sondern um »das Minarett als Zeichen für die Präsenz des Fremden« (etwa im Unterschied zum Kirchturm als landauf landab vertrautes Zeichen einheimischer Kultur und Religion). Diese – auf den ersten Blick marginale, aber in der Konsequenz fatale – Verschiebung mag auch erklären, weshalb sich die Gegner/innen des Minarett-Baus in der Schweiz so unbeeindruckt davon zeigen, dass ihre Initiative gegen das in der Bundesverfassung und den Menschenrechtsdeklarationen verankerte Recht auf Religionsfreiheit verstößt. Aus einer fremdenfeindlichen Perspektive wird jede Vorstellung von Rechten für Fremde von vornherein obsolet – was in grundsätzlicher Weise (und nicht erst seit Thilo Sarrazins umstrittenen wie markigen Thesen) auch für die emotional aufgeheizten Integrationsdebatten in Deutschland, ja mehr oder weniger europaweit zutrifft. So sind kulturell geprägte bzw. religiös bestimmte Traditionen bekanntlich überall zu finden, wo Menschen leben, und sie sind so komplex wie die Herkunft der Menschen, die in einer Gesellschaft zusammenleben. In diesem präzisierten Sinne rückt der politische Streit um die »Türme« am Ende gar in die Nähe der Symbolik des babylonischen Turms. Hinter den Pluralismus von Sprachen, Kulturen und Religionen kann nicht einfach zurückgegangen werden: Den (nur) einen Turm gibt es nicht (mehr). Ihn nun mit den Mitteln des Rechts (wieder) aufbauen zu wollen, das stiftet – wie die aktuellen Debatten zeigen – mehr als nur eine babylonische Verwirrung, sondern stellt auch unsere von Aufklärung und Freiheit bestimmten gesellschaftlichen Errungenschaften in grundlegender Weise selbst in Frage. Nahezu aufregend müssen für uns in diesem Kontext zum Beispiel die folgenden Beobachtungen und Feststellungen sein: – Der auch weiterhin anhaltende Streit um Bedeutung und Wirkung des Minarett-Entscheids in der Schweiz offenbart einerseits eine nicht (länger) zu übersehende Diskrepanz von interreligiösen Dialogbemühungen und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz im Verhältnis zu »Anderen« und »Fremden«, andererseits aber auch eine nicht (mehr) zu leugnende Entfremdung kirchlicher Friedensbotschaften und ihrer konkreten Umsetzung im politischen Alltag.

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– Die weitergehende Frage nach Grund und Ursachen für eine solche Diskrepanz fordert insbesondere auch die großen kirchlichen Institutionen als die Repräsentanten der Mehrheitskultur bzw. -religion (längst nicht nur) in der Schweiz heraus, nicht zuletzt bedingt durch ihren zunehmend schwindenden gesellschaftlichen Rückhalt und politischen Einfluss. – Die vermeintliche Rede vom »christlichen Abendland« und der öffentliche Ruf nach »christlicher Leitkultur« stellt in diesem Zusammenhang schließlich vor die Frage nach Bedeutung und Wesen einer durch Kultur und Religion geprägten Gesellschaft ebenso wie eines den jeweiligen religiös-kulturellen Wertehaltungen gegenüber gleichwohl »neutralen« Staates. Die hier nur kurz angedeuteten Problemkreise weisen ihrerseits darauf hin, dass das Grundrecht der (positiven wie negativen) Religionsfreiheit über alle kulturellen und religiösen Grenzen hinweg heute mehr denn je Gabe und Aufgabe für uns alle bedeutet. Will es doch derzeit scheinen, dass im politischen Diskurs die Freiheit von Religion weitaus wichtiger zu werden beginnt als die Freiheit zum religiösen Bekenntnis und zur entsprechenden religiösen Praxis im gesellschaftlichen Alltag und öffentlichen Leben. Und wenn in den landauf landab geführten Integrationsdebatten gar der Hinweis auf bekanntgewordene Diskriminierungen von Christen und Menschenrechtsverletzungen etwa in der Türkei oder im Iran dafür herhalten muss, das Grundrecht auf Religionsfreiheit für Muslime und mit ihnen auch für andere Religionsgemeinschaften (nicht allein) in der Schweiz einzuschränken, dann macht es uns vollends deutlich, dass die in einer solchen vermeintlichen »Begründung« für eine rechtliche Ungleichbehandlung begegnende Parallelisierung von defekten Demokratien oder bestehenden Unrechtsregimen im Ausland mit unserem eigenen Rechtsstaat zwangsläufig zur Demontage des letzteren führt. An dieser Stelle kann ein kurzer Exkurs zum Thema Religion, Kultur und Nation und damit zur Frage des Umgangs mit konfessionellen und religiösen Minderheiten hilfreich sein: Es ist unbestritten, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation im 19. und 20. Jahrhundert der wohl stärkste Identitätsfaktor moderner Gesellschaften geworden ist. Zwar hat er heute an Ausschließlichkeit eingebüßt, neueste Ereignisse zeigen aber, dass die Kraft des Nationalen ihre zuweilen zerstörerische Wirkung auch im Kontext der europäischen Verständigung und Einigung noch nicht verloren hat. Gleiches gilt auch für die besondere Beziehung zwischen Religion, Kultur und Nation – um wenigstens ein paar Stichworte zu nennen,

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z.B. wie folgt: Sakralisierung des Nationalen; Nationalisierung religiöser Diskurse und Praktiken; Beitrag von Religionen und Konfessionen zur Nationenbildung; Gegensatz zum Nationalstaat und Förderung eines anderen, konkurrierenden Nationenmodells; Entwicklung von konfessionellen Sonder- oder Subgesellschaften in einem ambivalenten Prozess im Gegensatz zum Nationalstaat. Ausgehend von der These, dass unterschiedliche religiöse bzw. konfessionelle Traditionen auch heute die Konstruktion kollektiver Identitäten prägen, steht dabei vor allem die Frage im Fokus der Aufmerksamkeit, in welchem Beziehungszusammenhang diese nicht nur säkular, sondern auch religiös bedingten kollektiven Identitäten zum Prozess der europäischen Integration und insbesondere zur Entwicklungsdynamik der Erweiterung der Europäischen Union stehen. Der Protestantismus zum Beispiel hat in seinem Verhältnis zu Volk und Kultur, Staat und Nation zwei Gesichter: Den Reformatoren war es wichtig, dass jeder das Evangelium in seiner Sprache hören und verstehen konnte. So gehörten einerseits Reformation und die Entwicklung der Sprache und Kultur eines Volkes von Anfang an zusammen. Es entstanden Kirchen, die ihre Heimat in Volk und Kultur hatten, wie umgekehrt auch Volk und Kultur von den Kirchen geprägt wurden. Andererseits war die Reformation eine die Grenzen und Länder überschreitende Bewegung in Europa – und darüber hinaus. Die Reformation erfuhr die politischen Gewalten in ihrer Zeit sowohl als Gegenmächte als auch als Schutzmächte. Sie band sich in vielen Fällen an die Landesherren und damit auch an deren Territorien. Diese Nähe zum Staat machte über lange Zeit das Besondere des Protestantismus in vielen Ländern aus und wurde gleichzeitig auch zu seiner Gefährdung. Die Bindung an die jeweilige kulturelle, territoriale und später auch nationale Ausprägung behinderte fast durchweg die Öffnung für andere kulturelle und konfessionelle Gestalten des Christseins, von anderen nichtchristlichen Religionsgemeinschaften in diesem Zusammenhang erst gar nicht zu reden. Das Ja zum Volk, zum Staat und zur Nation führte an verschiedenen Stellen mitunter zu fragwürdigen und einseitigen nationalen Einstellungen, die wichtiger wurden als die weltweite Gemeinschaft der Kirchen und Christen. In den reformatorischen Kirchen erkennen wir heute: Es hilft nicht weiter, die Bindung an Volk und Nation und die weltweite Verantwortung gegeneinander auszuspielen. Wir versuchen zu verstehen, was hinter den Begriffen »Volk« und »Nation« steht. Volk und auch Nation sind geschichtlich vorgegebene Größen. Sie bieten einen überschaubaren Raum gemeinsamen Lebens und Erlebens

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sowie kulturellen, sozialen und politischen Gestaltens. Hier finden Menschen Heimat, Orientierung und Möglichkeiten der Identifikation. Volk und Nation dürfen aber nicht zum Ort der Ausgrenzung und Abgrenzung von anderen Kulturen und Religionen werden. Sie müssen sich öffnen für die Begegnung mit Völkern und Nationen, für verschiedene Erfahrungen und kulturellen Reichtum, sowie für die gemeinsame Weltverantwortung. 3 Eine »abrahamische Ökumene« als europäische Leittradition? Nahm der bisherige Gedankengang – ausgehend von der aktuellen Minarett-Debatte in der Schweiz sowie den emotional nicht minder aufgeladenen Integrationsdebatten in Deutschland und Europa – insbesondere auf die Frage der Religionsfreiheit Bezug, so soll es im Folgenden nun um einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Klärung der öffentlichen Geltung und Stellung der christlichen Kirchen bzw. der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften gehen. Dabei steht nicht allein der religiöse Pluralismus und das Problem der gegenseitigen Anerkennung der verschiedenen Konfessionen und Religionen im Fokus unserer Aufmerksamkeit, sondern damit verbunden zugleich die Frage nach einer angemessenen öffentlichen Präsenz von Kirchen und Religionsgemeinschaften einschließlich dessen, was nach ihrem jeweiligen Verständnis unabdingbar zum Bekenntnis und zur Praxis ihres Glaubens gehört. Dass sich in modernen pluralen Gesellschaften verschiedene Religionsgemeinschaften mit unterschiedlichen religiös bestimmten bzw. kulturell bedingten Lebensorientierungen und Weltbildern begegnen, ist ein nicht länger zu bestreitender Sachverhalt, der insbesondere für Europa als das sog. »christlichen Abendland« zutrifft. Und dass die hier wie dort angebotenen Orientierungsmuster dabei keineswegs immer übereinstimmen und deshalb Anlass für mancherlei Konflikte geben, auch dies gehört hier und heute inzwischen zu den grundlegenden Erfahrungen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Doch eben beides nötigt uns über alle konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg dazu, dass wir uns gemeinschaftlich auf einen für uns alle geltenden »Konsens« im Sinne einer normativen Orientierung dahingehend verständigen, was wiederum unsere pluralen Gesellschaften je und je zusammenzuhalten vermag. Bekanntlich ist es aber gerade diese Sehnsucht nach allgemein geteilten normativen Orientierungen, die oftmals eher einer geschlossenen Gesellschaft mit sog. »christlich-abendländischer Leitkultur« das Wort redet als einer gegenüber verschie-

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denen Traditionen mit unterschiedlichen Bekenntnissen offenen Gesellschaft. Dass das moderne Europa christliche Wurzeln hat, das lässt sich wohl kaum bestreiten, doch darf die gegenwärtige (aus einsichtigen Gründen durchaus berechtigte) Suche nach europäischen Werten nicht mit der Verteidigung einer christlichen »Leitkultur« verwechselt werden. Denn das moderne Europa ist religiös und weltanschaulich plural, weshalb es eines spezifisch europäischen Dialogs der Religionen dringend bedarf. Die in Europa vertretenen christlichen Kirchen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften müssen demzufolge die Entwicklung demokratischer Strukturen und Werte als gemeinsame Aufgabe begreifen, soll das anspruchsvolle Projekt europäischer Integration sich für uns alle gedeihlich weiterentwickeln und Europa nicht zum Schauplatz neuer religiöser und kultureller Konflikte werden. Sich dieser Herausforderung zu stellen, ist einer der wesentlichen Beiträge, den wir über bestehende Gräben und Hürden hinweg doch alle miteinander zur Vertiefung der europäischen Wertegemeinschaft leisten können und sollen. Deshalb ist es meines Erachtens nun zielführend, im Anschluss an die bisherigen Ausführungen nach einer »abrahamischen Ökumene« als europäischer Leittradition zu fragen, die modellhaft gedacht wird im Sinne eines für uns alle verbindlichen Orientierungsrahmens, nicht aber als eines unzeitgemäßen Dominanz-Gebarens der einen über die anderen. Dieses Modell »abrahamischer Ökumene« soll weder bestehende Gegensätze und Unterschiede zwischen den drei großen monotheistischen Religionen einfach zum Verschwinden bringen, noch wird es einem im modernen Westen willkürlich erfundenen Einheitsbegriff das Wort reden, der am Ende gar die Eigenständigkeit von Juden, Christen und Muslimen ignorieren bzw. leugnen würde. Im Gegenteil – die bestehenden Unterschiede zwischen Judentum, Christentum und Islam wollen und sollen ausdrücklich ernst genommen und dennoch aus ehrlicher Überzeugung für die jetzt notwendigen Friedens- und Verständigungsbemühungen geworben werden. Diese differenzierende Sichtweise findet sich auch bei Karl-Josef Kuschel wieder, der in seiner 2007 publizierten Monografie »Juden Christen Muslime. Herkunft und Zukunft« die folgende Auffassung vertreten hat: »Wir suchen nach inneren Beziehungen zwischen Judentum, Christentum und Islam, nicht nach Gleichmacherei. Wir suchen nach Gemeinsamkeiten nicht auf Kosten aller Unterschiede, aber auch nicht verbissen

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nach Dissens auf Kosten möglicher Konsense«.1 Das impliziert notwendig den gemeinsamen Respekt vor der »Würde der Differenz« im Kontext unserer jeweiligen Begegnungen und Beziehungen als Nachbarn vor Ort – und zwar ausdrücklich auch über die genannten monotheistischen Religionen hinaus. Miteinander und füreinander »Gastfreundschaft« zu praktizieren, ist meines Erachtens deshalb die theologisch angemessene Haltung, die wiederum unserem jeweiligen Glauben und Bekennen in aller gebotenen Differenzierung im Alltag entspricht. Die Würde des Anderen gegenseitig zu respektieren und die jeweiligen Bekenntnis-Grundlagen zur Wahrnehmung einer gemeinsamen Weltverantwortung zugleich zu nutzen, dies könnte und sollte in der Tat ein eigenständiger und sinnvoller Beitrag der abrahamischen Ökumene zu einem für alle Religionen und Kulturen verbindlichen Weltethos sein – gerade in unserem eigenen Kontext der fortschreitenden europäischen Integration. Nicht nur die längerfristig ins Auge gefasste Aufnahme sog. islamischer Länder wie beispielsweise die Türkei in die Europäische Union, sondern mehr noch der heute schon gegebene große Anteil von Muslimen innerhalb der europäischen Nationalstaaten legt es nahe, für uns alle verbindliche und verlässliche Grundwerte zu suchen, die ein weltoffenes, durch die philosophische Aufklärung geprägtes Christentum in konstruktiver Weise auf einen ebenso weltoffenen, sich auf seinen Ursprung besinnenden Islam zu beziehen vermag. Ein Jahrtausend voller Anfeindungen und Kriege zwischen Judentum, Christentum und Islam hat leider unseren Blick dafür getrübt, dass diese drei Religionen einen gemeinsamen Ursprung haben. Doch eine recht verstandene abrahamisch-ökumenische Leittradition, in die sich zudem auch Humanismus und Aufklärung einfügen, könnte die europäischen Länder von innen her zusammenbinden und dem künftigen Europa eine neue und würdige Identität geben. Um schließlich ein konkretes und politisch wirksames Beispiel zu bringen, sei an dieser Stelle auf die St. Galler Erklärung verwiesen, die neben politischen Vertretern des Kantons St. Gallen gerade auch die verschiedenen Religionsgemeinschaften – allen voran Judentum, Christentum und Islam – durch ihre damaligen Repräsentanten am 10. September 2005 im Rahmen einer öffentlichen Kundgebung unterzeichnet haben. Der Wortlaut dieser Erklärung lautet nun wie folgt:

Aus: Karl-Josef Kuschel, Juden Christen Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, 75. 1

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1. Wir stellen fest: Heute leben im Kanton St. Gallen Mitglieder verschiedener Religionen und Konfessionen: Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und andere. Eine beachtliche Zahl von Menschen fühlt sich keiner Religion verpflichtet. Viele Angehörige nichtchristlicher Religionen sind Ausländerinnen und Ausländer. Das Zusammenleben in dieser Vielfalt ist nicht immer leicht. Viele empfinden es als Bedrohung. Das nehmen wir ernst. Das Vertraute will geschützt und das Fremde anerkannt werden. Beides ist berechtigt. In allen Religionsgemeinschaften gibt es Ängste und Vorurteile, deren Wurzeln oft in eine belastete Geschichte zurückreichen. 2. Wir verpflichten uns: a) Wir verzichten darauf, über Menschen andern Glaubens Pauschalurteile zu fällen. Sie sollen ihrem Glauben treu sein und sich verändern dürfen. Wir sind offen dafür, dass Religionsgemeinschaften im Gespräch und im Zusammenleben miteinander Wahrheit entdecken, teilen, weitergeben und empfangen. b) Wir glauben, dass Gott alle achtet, die ihn ernsthaft anrufen, auch wenn Menschen ihn unterschiedlich nennen und ehren. Darum bejahen wir das Gebet verschiedener Religionen in gemeinsamen Feiern und achten darauf, dass Unterschiede nicht verwischt, sondern verständlich gemacht werden. c) Wir treten ein für die Menschenrechte aller. Die Berufung auf Gott und auf Religion verpflichtet uns in besonderer Weise, die Menschenrechte einzuhalten und zu schützen. Unsere spezielle Aufmerksamkeit gilt der Gleichberechtigung der Frauen. d) Wir lassen uns vom Grundsatz leiten, dass die Unterschiede unter den Menschen, die es gibt und die es braucht, benannt werden dürfen, aber dass sie relativ sind. Wir sind alle Gottes Geschöpfe. Wir fördern darum eine Kultur der Vielfalt. Wir suchen unsere religiöse und kulturelle Identität nicht durch Abschottung oder Ausgrenzung zu wahren, sondern wir wollen sie in ein dialogisches Zusammenleben einbringen. Wir setzen uns ein für eine vielfältige, aber bestmöglich integrierte Gesellschaft auf der Basis grundlegender humanitärer Werte und demokratischer Rechtsstaatlichkeit. e) Wir erleben Radikalismus und Fundamentalismus, in welcher Religion sie auch gelebt werden, als intolerante Glaubensformen, die Hass und Angst säen und Gewalt erzeugen. Wir distanzieren uns von jeglichem Extremismus, der Menschen mit andern Auffassungen bedroht, verurteilt oder bekämpft. Weil unsere Religionen

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uns zu Toleranz und Frieden verpflichten, suchen wir beharrlich und geduldig das interreligiöse Gespräch und Zusammenleben.2 Seitdem macht dieses prominente Beispiel Mode – und keineswegs nur in der Schweiz. Das gilt auch für die sog. »Interreligiösen Dialog- und Aktionswochen« (IDA), die im Kanton St. Gallen seitdem alle zwei Jahre in gemeinsamer Trägerschaft von Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften stattfinden und auch andernorts Nachahmung finden. Gelungene Integration und Partizipation – dies bedeutet unter anderem, dass man sich ungeachtet des jeweiligen Glaubensbekenntnisses mit Respekt und Toleranz begegnet, denn nur so kann die Vielfalt als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen werden. Diese und andere Anlässe laden in regelmäßigen Abständen dazu ein, Rituale anderer Religionen näher kennen zu lernen, sich mit ihren Glaubenssätzen auseinanderzusetzen und Menschen anderen Glaubens zu begegnen. 4 Vorläufiges Fazit Abschließend fasse ich das vorläufige Fazit nun in folgenden Thesen zusammen: – In unserer Zeit mit ihren unterschiedlichen Lebensformen und -varianten, in der eingefahrene und zugleich sicherheitsgewährende Verhaltensweisen zusehends verblassen, ehemals gültige Lebensregeln und Alltagsroutinen nachhaltig in Frage gestellt sowie Normen und Werte aufgeweicht werden, muss der gesellschaftliche Konsens situativ und kommunikativ immer wieder neu ausgehandelt werden. – Religiöse Selbstvergewisserung im Gespräch mit anderen setzt voraus, in eigenen Worten ausdrücken zu können, was uns im Leben letztendlich trägt. Theologische Diskurs-Fähigkeit meint demzufolge also die Kompetenz, erstens die jeweils eigene Religiosität etwa im vielfältigen europäischen Kontext wahrzunehmen, zweitens im öffentlichen Diskurs differenziert zu begreifen, drittens authentisch in eigene Sprache, Begriffe und Bilder zu fassen und viertens sie mit anderen dialogisch kommunizieren zu können. – Das gemeinsame Anliegen schließlich, den Menschen immer wieder Möglichkeit zur Orientierung zu geben und eben damit auch Gelegenheit zur Selbstvergewisserung, dürfte wohl über alle kulturellen und religiösen Grenzen hinweg eine nicht zu unterIm Internet unter: www.ref-sg.ch/news/datei/d801.pdf – allerdings ohne Nummerierung.

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schätzende Herausforderung darstellen, die auch und gerade mit Blick auf unsere (interkulturelle wie interreligiöse) Dialogfähigkeit gemeinsam zu meistern sein wird. – Einfache Antworten auf die mit dem religiösen und kulturellen Pluralismus verbundenen Fragen und Konflikte vermag derzeit jedenfalls niemand zu geben. Erfordert doch ein konstruktiver Umgang mit den angesprochenen Fragen und Problemen sowohl von den staatlichen Institutionen als auch von den unterschiedlichen christlichen Kirchen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften einen gemeinsamen Lernprozess, der mitnichten eine Auflösung bestehender Unterschiede zwischen den Konfessionen und Religionen zum Ziel haben kann, sondern vielmehr zur Etablierung einer »Kultur des Dissens« im Sinne einer »Zivilisierung der Differenz« in Europa beitragen soll.

Nigar Yardim / Wolf-Dieter Just

Welchen Beitrag können Religionen zum Frieden leisten?1

1 Statements: Die Friedensbotschaften in den Schriften der Religionen 1.1 Frieden im Alten und Neuen Testament (WDJ) Gott will, dass Frieden auf Erden sei. (Jes 57,19) Dieses Wort des Propheten Jesaja wird im Alten wie im Neuen Testament durchgängig bezeugt: Bei der Geburt Jesu erschienen den Hirten die himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.« (Lk 2). Frieden soll auf Erden einkehren, und zwar nicht durch die Inthronisation eines mächtigen, hochgerüsteten Herrschers, sondern durch die Geburt eines Kindes in einem Stall. Dieses Kind ist nach neutestamentlichem Zeugnis der Heiland der Welt. Dieser Jesus wird in seinem Leben auf alle Gewalt verzichten, ja er wird am Ende ohnmächtig am Kreuz sterben – und gerade dadurch seine Gottheit erweisen – und wird so auch ein Ärgernis für die Anhänger anderer Religionen. Am Kreuz leidend wird er noch angesichts seiner Ohnmacht verspottet. Seine Gegner sagen: »Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig’ doch herab vom Kreuz. Dann wollen wir auch an dich glauben.« Aber Jesus weiß, dass er diesen Leidensweg gehen muss. Auch bei seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane verzichtet er auf Gewalt. Einer seiner Jünger wollte ihn mit dem Schwert verteidigen und schlug dem Knecht des Hohepriesters ein Ohr ab. Worauf Jesus ihn zurechtweist und sagt: »Stecke dein Schwert zurück an seinen Ort. Denn wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.« (Mt 26,52) 1 Beide Statements sind im Rahmen eines Podium-Gesprächs am 22. April 2015 in Solingen vorgetragen worden. Der Beitrag von Nigar Yardim basiert auf ihren Stichworten und wurde ergänzt durch Zitate aus: Lise J. Abed, Islamische Friedenstheologie 2008, www.friedenstheologie.de/main.php?chap=i&topic=texte&id=8 (05.06.2016).

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Schon im Alten Testament wird von Jesaja die Ankunft eines Kindes verheißen, eines »Friedensfürsten«, dessen Herrschaft groß werde und des Friedens ohne Ende (Jes 9,6). Selbst die Feindschaft in der Tierwelt soll in dessen Friedensreich aufgehoben sein. »Da werden Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern … Kühe und Bären werden zusammen weiden … und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter.« (Jes 11,6–8) In Jesaja 2 wird der Friede unter den Völkern verheißen. Sie werden sich auf dem Berg des Herrn versammeln und ihre »Schwerter zu Pflugscharen schmieden. Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (Jes 2,3f.) In der Predigt Jesu geht es um den Frieden auf Erden als Verheißung und Auftrag: »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen«, heißt es in der Bergpredigt (Mt 5). Jesus geht sogar so weit, dass er von uns die Liebe unserer Feinde verlangt. – Nach seinem Tod am Kreuz erscheint der Auferstandene seinen Jüngern mit den Worten: »Friede sei mit Euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« Die Jünger sollen als Friedensstifter in der Welt wirken. Diese Reihe von Bibelzitaten, die den Friedenswillen Gottes bezeugen, könnte noch lange fortgesetzt werden. Aber: Die Bibel weiß auch um die vielfältigen Gefährdungen des Friedens. Der Grund hierfür liegt in der menschlichen Natur: »Zum Menschen gehört die Sehnsucht nach Frieden ebenso wie die Neigung zur Rivalität bis hin zur Gewaltbereitschaft. Menschen sind zum Guten wie zum Bösen fähig; sie sind nicht nur auf Kooperation angelegt, sondern tendieren auch dazu, die eigenen Interessen über die der Mitmenschen zu stellen und ohne Rücksicht durchzusetzen. Für den christlichen Glauben ist dieser destruktive Hang Ausdruck der Sünde…«, d.h. Folge eines gestörten Verhältnisses zu Gott.2 Dieses zeigt sich schon am Anfang der Geschichte am Brudermord Kains an Abel, und das zieht sich dann ebenfalls durch die ganze Bibel – da ist viel von menschlicher Niedertracht, Lüge, Verrat und Krieg die Rede. Das christliche Menschenbild ist diesbezüglich sehr realistisch. Es träumt nicht vom moralisch perfekten Menschen, wie manche Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2007, Ziffer 38, www.ekd.de/download/ekd_friedens denkschrift.pdf (07.07.2016).

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Ideologien es tun (Humanismus, Marxismus), sondern weiß um die Ambivalenz der menschlichen Natur. Das biblische Menschenbild ist weder zu optimistisch, noch ist es zu pessimistisch: Es übersieht durchaus nicht die menschliche Bosheit. Der Mensch ist nicht nur böse, sondern auch zum Guten fähig, er kann zu Frieden und Versöhnung auf Erden beitragen. Wichtig für das christliche Friedensverständnis ist schließlich, dass Friede mehr meint als die Abwesenheit von Gewalt und Krieg. Es gibt in der Bibel einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit. Friede ohne Gerechtigkeit ist ein fauler Friede. Nach biblischem Zeugnis ist »die Vollendung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden Kennzeichen des Reiches Gottes« (Röm 14,17, EKD 51) Kein Frieden ohne Gerechtigkeit! Gott verheißt ein Reich, in dem Friede und Gerechtigkeit sich küssen! (Ps 85,11) Unter der messianischen Herrschaft werden »die Berge Frieden bringen und die Hügel Gerechtigkeit«, den Elenden wird Recht geschaffen und den Armen geholfen. (Ps 72,3)« Auch heute kann es keinen Frieden geben, solange Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden, solange den Schwachen (z.B. den Witwen und Waisen) vor Gericht nicht Gerechtigkeit widerfährt. Darum ist heute der »Gerechte Friede« die Leitperspektive christlicher Friedensethik – spätestens seit der Ökumenischen Versammlung 1988 in der DDR. (EKD 50) Das bedeutet z.B., dass jede staatliche Ordnung auf sozialen Ausgleich ausgerichtet sein muss – im Gegensatz zum status quo: Noch nie war die Kluft zwischen arm und reich so groß wie derzeit in der Bundesrepublik. Gerechtigkeit gehört auch zu den Voraussetzungen für einen globalen Frieden. Er wird sich nie einstellen, solange es nicht zu mehr Verteilungsgerechtigkeit im weltweiten Maßstab kommt, wie es von den Völkern im Süden des Globus gefordert wird. Laut Oxfam besitzen die reichsten 62 Menschen der Erde genau so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Menschheit! Es ist auch erforderlich, dass auf staatlicher Ebene das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetzt wird. Das schließt z.B. die Garantie der Menschenrechte ein. Zum Frieden gehört, dass jeder Mensch Rechte hat, und zwar in elementaren Dingen gleiche Rechte wie jeder andere – unabhängig von Nationalität, Herkunft, Geschlecht und Religionszugehörigkeit: Rechte auf Nahrung und Obdach, auf Bildung und gesundheitliche Versorgung, auf Schutz vor Folter und Erniedrigung, auf Gerechtigkeit vor Ge-

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richt, auf Freiheit der Meinung, des Gewissen und des religiösen Bekenntnisses.3 All das zeigt: Der Friede auf Erden ist sehr voraussetzungsvoll, er ist für uns bleibender Auftrag und erfordert ein hohes Engagement. In seiner Vollendung kann er allerdings nur von Gott selbst heraufgeführt werden. 1.2 Islam heißt Friede (NY) Das »Wort ›Islam‹ trägt von seiner Wurzel her die Bedeutung ›Frieden‹ in sich. Die arabische Wortwurzel s-l-m steht für … ›in Sicherheit‹, eben ›in Frieden sein‹. Auch das Wort salam, Friede«4 kommt daher. Islam heißt »Friedenmachen durch Hingabe an Gott: ein Muslim, der sich Hingebende, findet dadurch Frieden mit sich selbst, seinen Mitmenschen und mit der gesamten Schöpfung.« (ebd.) Der traditionelle muslimische Friedensgruß lautet: salam alaikum »Friede sei mit euch!« Mit ihm begrüßen sich die Muslime überall auf der Welt – dem Beispiel des Propheten folgend. Für Muslime ist der Frieden Aufgabe und Leitbild. Sie sind Menschen, die durch die Hingabe an Gott Frieden finden und aufgefordert sind, Frieden zu stiften. Es ist übrigens »bezeichnend, dass Mohammed nicht nur Muslime so begrüßte. Als ein Gefährte ihn fragte, was im Islam am besten sei, entgegnete er: ›Dass du den Armen speist und den Friedensgruß entbietest dem, den du kennst, und dem, den du nicht kennst.‹ Der Friedensgruß hat auch eine rituelle Funktion: Nach jedem der fünf täglichen Pflichtgebete wenden die Muslime den Kopf nach rechts und links und entbieten den Friedensgruß der ganzen Schöpfung.« (ebd.) Lise J. Abid führt dazu weiter aus, dass auch das koranische Friedensideal auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit basiere. »Gott lädt ein zum Haus des Friedens«, heiße es im Koran (Sure 10:25). Man möge einwenden, dass es für die klassischen islamischen Staatstheoretiker ja auch ein Dar al-harb, das »Haus des Krieges«, gegeben habe. Damit sei das gesamte Territorium außerhalb der islamischen Welt gemeint gewesen. Das klinge bedrohlich, und in der Tat »spielte diese Vorstellung von einer Welt des Islam (Dar al-Islam) und einer ihr feindlich gesinnten Außenwelt in der islamischen Staatsrechtslehre eine nicht unbedeutende Rolle und manifestierte sich auch in der Geschichte. Dann gab es aber noch das Gebiet, in dem diese beiden Antagonisten auf vertraglicher Basis friedliche 3 4

Vgl. hierzu die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Abid, a.a.O., 2.

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Beziehungen pflegen konnten: Dar as sulh, das ›Haus des (politischen) Friedens‹. Dieser Vertragszustand wird heute durch die diplomatischen Beziehungen repräsentiert. Nur dort, wo keine bestehen, sind möglicherweise feindselige Handlungen zu gewärtigen. ›Gott verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Heimstätten vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten.‹ (Sure 60:7) Denn, so wird vorausgeschickt: ›Vielleicht wird Allah Zuneigung setzen zwischen euch und denen unter ihnen, mit denen ihr in Feindschaft lebt.‹ (Sure 60:6)« (ebd.) Heute wird zurecht immer wieder auf jene Verse des Korans verwiesen, die zu Gewalt aufrufen. »Jedoch muss man den historischen Hintergrund kennen, um sich darüber ein Urteil zu bilden. Unmittelbarer Anlass für ihre Offenbarung war die akute Bedrohung der damals noch kleinen und schwachen muslimischen Gemeinde, die der Prophet Muhammad in Medina gegründet hatte – eine Bedrohung, die von den heidnischen Arabern in der reichen Pilger- und Handelsmetropole Mekka ausging. Der entscheidende Überlebenskampf des frühen islamischen Stadtstaates von Medina wurde gegen diesen Widersacher geführt. Christliche Gemeinden gab es damals nicht im näheren Umfeld der Stadt des Propheten, und zu Auseinandersetzungen mit jüdischen Stämmen kam es nach anfangs guten Beziehungen nur deshalb, weil die Muslime Vertragsbruch befürchteten und das noch heidnische Mekka die Juden zu Verbündeten gegen die Muslime zu gewinnen suchte. Die grundsätzliche Einstellung des Islam gegenüber anderen Religionen ist jedoch im Koran klar niedergelegt: ›Wahrlich, die Gläubigen und die Juden und die Christen und die Sabier … wer immer wahrhaft an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und gute Werke tut: sie sollen ihren Lohn empfangen von ihrem Herrn, und keine Furcht soll über sie kommen, noch sollen sie trauern.‹ (2:62, ähnlich in 5:69)« (ebd.). »Von einem Auftrag zur Verbreitung des Islam durch Gewalt und Krieg kann keine Rede sein: ›Es sei kein Zwang im Glauben.‹ (2:256) Der Prophet wird sogar von Gott gewarnt: ›Und wenn dein Herr gewollt hätte, würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Willst du nun die Menschen dazu zwingen, dass sie glauben?‹ (10:99)« (ebd.). »Zur Frage, ob der Islam eine Tradition der Gewaltlosigkeit kenne, ist bisher auch von muslimischer Seite viel zu wenig geforscht worden. Tatsache ist, dass der Prophet Mohammed nach Empfang

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der ersten Offenbarung … aktive Gewaltfreiheit lebte. Während der ersten Periode seiner Sendung bekam er nicht nur schlimmste Beleidigungen zu hören, sondern war auch Drohungen und massivem Druck ausgesetzt und mit tätlichen Attacken seitens der Aristokratie von Mekka konfrontiert. Nachdem er mit der öffentlichen Verkündigung seiner Lehre begonnen hatte, wurde er beschimpft, attackiert und mit Unrat und Steinen beworfen – trotz seiner bisher geachteten Stellung in der mekkanischen Gesellschaft, in der er als al-Amin (der Aufrichtige, Zuverlässige) bekannt war. In der Handels- und Pilgermetropole Mekka waren es zuerst vor allem die Randgruppen, die sich ihm anschlossen: Sklaven, arme Leute, Jugendliche und Frauen – letztere oft gegen den Willen ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder. Die Vornehmen Mekkas, die um ihre Privilegien fürchteten, erwirkten einen Boykott der Muslime … Eine kleine Gruppe von Muslimen wanderte damals auf Anraten des Propheten nach Abessinien aus, wo sie vom Negus, dem christlichen König, freundlich aufgenommen wurden … Ungefähr 12 Jahre dauerte diese harte Zeit der Prüfungen und des Exils. Es ist die klassische Periode muslimischer Gewaltlosigkeit. Aber auch nach der Auswanderung des Propheten nach Medina im Jahre 622 änderte der Islam nicht sein Gesicht. Mohammed war als Friedensstifter nach Medina gerufen worden und er schaffte es tatsächlich, die dort lebenden verfeindeten Stämme zu versöhnen. Er verfasste ein Dokument, dessen Text bis heute erhalten ist und das wohl als eine der ältesten geschriebenen Verfassungen gelten kann. Darin erhalten Muslime und Andersgläubige – vor allem die in und um Medina lebenden Juden – gleiche Rechte und Pflichten … In den folgenden Jahren musste sich die Gemeinschaft von Medina gegen ständige Angriffe von Armeen aus dem feindlichen Mekka zur Wehr setzen. Über die Behandlung von Kriegsgefangenen gibt es aus dieser Zeit wichtige Dokumente, die für sich selbst sprechen. Als die zahlenmäßig weit unterlegenen Muslime die bestens gerüsteten Angreifer bei den Brunnen von Badr in die Flucht schlugen und Gefangene nahmen, verlangten sie von diesen ein bemerkenswertes Lösegeld: jeder des Lesens und Schreibens Kundige musste zehn Muslime in dieser Kunst unterrichten und ging dann frei! Ähnlich verfuhr der Prophet auch bei späteren Gelegenheiten. Als es Mohammed im Jahre 630 schließlich gelang, die Stadt Mekka kampflos einzunehmen, übte er keine Rache, sondern vergab seinen Feinden.«5 5

A.a.O., 3f.

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2 Diskussion Kriege wurden immer wieder im Namen der Religion geführt. Ist die Intoleranz Teil der monotheistischen Religionen? Nigar Yardim: Nein. Aber Intoleranz gehört zum menschlichen Verhalten. Der Mensch erträgt es nicht gut, wenn er seine Grenzen sieht und wenn er Unrecht fühlt. Mit dem Monotheismus hat dies nichts zu tun. Intoleranz gibt es in allen Religionen, auch in polytheistischen Religionen. Wolf-Dieter Just: Der Ägyptologe Jan Assmann war in der Tat der Meinung, dass sich monotheistische Religionen durch Intoleranz auszeichnen. Mit dem Glauben an einen einzigen Gott sei etwas Neues in die Welt gekommen: die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion. Der Gründungsmythos monotheistischer Religionen sei stets eine Revolution, die einen Götterkult gewaltsam beseitige. Der Monotheismus mache Menschen intolerant und stachle Gläubige gegen Andersgläubige auf. Tatsächlich sind die Geschichtsbücher der Bibel voller Gewalt. Sie erzählen sehr realistisch von der anarchischen Frühzeit der Menschheit, in der das Recht nur mühsam durchzusetzen war. Sie erzählen, wie der Gott Israels verlangt, den Bann an Städten zu vollstrecken, während sein erwähltes Volk das Land Kanaan in Besitz nimmt. Im Klartext: Das eindringende Fremdvolk solle die angestammte Bevölkerung ganzer Städte ermorden. Die Bibel erzählt auch, wie der Prophet Elia eine ganze Riege von Baals-Priestern tötet (1. Könige 18). Allerdings sind diese Tötungsorgien vor dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert nicht dem Monotheismus geschuldet. Der setzte sich erst später durch – als die biblischen Schriftsteller dem wahllosen Morden längst abgesagt hatten. In Israel hat sich der Monotheismus erst mit dem babylonischen Exil durchgesetzt. Die wohl radikalste Form des Gewaltverzichts verkörpert Jesus von Nazareth, wie oben dargestellt. In der arabischen Welt setzt sich der Monotheismus erst seit Mohammed im 7. Jh. durch. Alle monotheistischen Traditionen entwerfen große Visionen vom Weltfrieden. Warum werden die Friedensbotschaften der Religionen von den Gläubigen nicht gelebt? Nigar Yardim: Weil viele Gläubige dem Buchstaben der Heiligen Schriften vertrauen und nicht dem Geist. Sie beachten nicht die historischen Situationen, aus denen heraus die Texte entstanden sind und die für deren Verständnis notwendig sind. Neue Untersuchungen belegen zudem, dass Unkenntnis der eigenen Religion den

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Menschen für fundamentalistische Botschaften anfällig macht und deren Vertretern in die Arme treibt. Daher wird heute in Bezug auf den Islam der Islamische Religionsunterricht von Muslimen nachdrücklich gefordert und beklagt, dass die Bundesländer dessen positive Wirkung offensichtlich unterschätzen. Wolf-Dieter Just: Alle drei monotheistischen Religionen verstehen sich als Religionen des Friedens und verweisen auf ihre Heiligen Schriften, in denen das Bekenntnis zum Frieden als Wille Gottes eine große Rolle spielt. Und doch sind immer wieder Kriege im Namen der Religion geführt worden – bis heute. Gerade die Religionskriege sind besonders erbittert geführt worden, ohne dass die Kriegsparteien die Bereitschaft und Fähigkeit zum Kompromiss gezeigt haben. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass sich jede Kriegspartei im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt und überzeugt war, dass Gott auf ihrer Seite steht. »Gott mit uns« stand noch im Ersten Weltkrieg auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten. »Mit Gott für König und Vaterland« war die Losung, die 1813 auf die Mützen der preußischen Landwehrsoldaten genäht wurde. – Dies ist natürlich eine plumpe Instrumentalisierung Gottes durch eine Krieg führende Partei. Man spannt Gott vor den eigenen Karren und missbraucht seinen Namen – gegen das 2. Gebot. Man dient nicht Gott, sondern Gott soll dem Menschen dienen: für sehr menschliche, politisch-militärische Ziele – Ziele, die Gottes offenbartem Friedenswillen diametral entgegenstehen. Sehr oft ist es der blanke Nationalismus, der Religion für seine Ziele instrumentalisiert und zu legitimieren sucht. In den sog. Religionskriegen ging und geht es also meistens weniger um Religion als um sehr weltliche Machtansprüche. Das war so in den schlimmen Religionskriegen nach der Reformation, z.B. im 30jährigen Krieg, und das ist so bei den diversen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten. Schwierig wird es immer, wenn sich Religion mit weltlicher Macht verbündet – wie im Christentum, seit es unter dem römischen Kaiser Konstantin Staatsreligion wird, und im Islam, als Mohammed in Medina nicht nur religiöser Führer ist, sondern auch zum politischen Herrscher aufsteigt, Kriege führte und gewaltsam gegen die jüdischen Stämme in Medina vorging. Dem Frieden zwischen den Religionen stehen, wie gesagt, immer wieder ihre Absolutheitsansprüche entgegen. Man wähnt sich im Besitz der absoluten Wahrheit. Jeder, der etwas anderes glaubt, ist ein Ungläubiger, ein Heide, und wird bekämpft. Das ist heute vor allem das Problem des Fundamentalismus, der sich in allen Reli-

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gionen findet und als eine Reaktion auf die Verunsicherungen einer sich immer stärker pluralisierenden Welt, eines Wandels von Traditionen und Werten im Zuge der Moderne, gedeutet wird. Er tritt in sehr unterschiedlichen Varianten auf, ist aber per se intolerant. Er impliziert ein Sich-Klammern an die »Fundamente« der eigenen Religion, ein literalistisches Verständnis der heiligen Schriften, wie Frau Yardim es beschrieben hat, und nimmt absoluten Wahrheitsbesitz für sich in Anspruch. Er opponiert gegen den modernitätsbestimmten Wandel der eigenen Religion, deren Wahrheit man durch Relativismus, Pluralismus, Historismus und Autoritätsvernichtung bedroht sieht. Es geht zentral um Identitätssicherung. Die Gegenwart wird als Zeit religiösen und moralischen Verfalls gedeutet. Man träumt von einem goldenen Zeitalter, das man in einer bestimmten historischen Phase der eigenen Religion abgebildet sieht – z.B. im Leben der urchristlichen Gemeinde oder in der Zeit Mohammeds und der vier rechtgeleiteten Kalifen. Interreligiöser Dialog wird abgelehnt. Fundamentalismus kann – muss aber nicht – in Militanz und Gewaltbereitschaft gegen die »Ungläubigen« ausarten. Aber vertragen sich Ansprüche auf absoluten Wahrheitsbesitz mit den Botschaften der Religionen? Wolf-Dieter Just: Vertragen sie sich überhaupt mit einer religiösen Grundhaltung? In einem weiten Verständnis ist das wesentliche Merkmal religiösen Glaubens und Handelns der Bezug zur Transzendenz. Mit dem Glauben an eine transzendente Wirklichkeit beziehen sich Menschen auf etwas, das »höher ist als menschliche Vernunft«, das größer ist als sie; etwas, das sie zu respektieren haben, das ihnen unverfügbar ist. Allahu akbar »Gott ist größer«, heißt es im islamischen Gebetsruf. – »Unser Wissen ist Stückwerk« gegenüber Gott, heißt es bei Paulus (1. Korinther 13,9). Hier auf Erden sehen wir nur durch einen stumpfen Spiegel – erst in der Ewigkeit sehen wir von Angesicht zu Angesicht. (1. Korinther 13,12). Wenn dies im allgemeinsten Sinne ein religiöses Bewusstsein ausmacht, beinhaltet es die Einsicht in die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens und die Fehlbarkeit des Menschen. Es bedeutet Verzicht auf absoluten Wahrheitsbesitz oder gar totalitäre Machtansprüche. Transzendenzglaube muss eigentlich den Menschen davor bewahren, sich selbst zum Maß aller Dinge zu machen. Vielmehr nötigt er ihn zu Bescheidenheit. Fundamentalisten, die Anspruch auf absoluten Wahrheitsbesitz erheben, geben diese religiöse Grundhaltung auf, verraten ausgerechnet jene transzendente Macht, für die sie eifern, setzen sich selbst an deren Stelle. Der Fragecharakter religiöser Existenz wird

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aufgegeben, das Fragen nach dem Sinn von Leben und Sterben, nach dem Woher und Wohin von Mensch und Welt. Solche existentiellen Grundfragen werden durch fertige Antworten ersetzt und machen jede weitere Sinnsuche überflüssig. Darum ist auch ein interreligiöser Dialog mit Fundamentalisten kaum möglich. Ein solcher Dialog setzt eine religiöse Grundhaltung der Demut vor Gott im genannten Sinne voraus. Sie verbindet die Frage nach dem Transzendenten, die Frage nach Ursprung und Sinn alles Seienden, mit der Einsicht in die Grenzen menschlichen Erkennens und Handelns. Darum ist für Gläubige, die sich ihrer Grenzen bewusst sind, der Dialog so spannend: Sie sind neugierig zu erfahren, wie weit die Dialogpartner bei ihrer Sinnsuche gekommen sind, welche Einsichten ihnen offenbart worden sind.6 Religion kann also auch separierend wirken und Integration erschweren. Bei fundamentalistischen Glaubensrichtungen mit ihrem Absolutheitsanspruch und totalitären Tendenzen ist dies der Fall. Gemeinden und Gläubige dagegen, die offen und dialogbereit sind, können wichtige Brücken zwischen den Religionen bauen und zum friedlichen Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft beitragen. Sie sind die große Mehrheit in der Bundesrepublik. Pauschalurteile über die angeblich integrierende oder desintegrierende Wirkung der Religion bzw. subjektiver Religiosität sind unzulässig. Gibt es einen gerechten Krieg? Nigar Yardim: Leider wird immer wieder der Dschihad als »heiliger Krieg« bezeichnet. Tatsächlich sind die Muslime dem Dschihad verpflichtet, »aber schon das Wort hat mit Krieg (harb…) nichts zu tun. Es bedeutet vielmehr ›Anstrengung‹ für eine gute Sache. Als Einsatz für die Gerechtigkeit kann es auch Verteidigungsanstrengungen bedeuten, und so ist es zu verstehen, wenn dieser Terminus im Koran im Sinne von ›Kampf, höchster Einsatz‹ verwendet wird. Aus der Zeit des Propheten ist belegt, dass Dschihad keineswegs mit Waffengewalt zu tun haben muss: ›Der beste Dschihad ist das Wort der Wahrheit und des Rechts vor einem ungerechten Herrscher‹, erklärte Muhammad … Also Einsatz für Redefreiheit und Menschenrechte im weitesten Sinn, und das vor 1.400 Jahren! Er definierte ferner einen ›großen‹ und einen ›kleinen Dschihad‹. Ersterer ist der Kampf gegen die eigenen Unzulänglichkeiten und Feh-

6 Siehe dazu die aktuelle Arbeitshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland: Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, Düsseldorf 2016, 22, www.ekir.de/www/service/weggemeinschaft-zeugnis-19148.php (07.07.2016).

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ler, gegen Egoismus eben den eigenen ›Schweinehund‹. Dagegen gilt der Kampf mit der Waffe nur als ›kleiner Dschihad‹.«7 Wolf-Dieter Just: Die Lehre vom »Heiligen Krieg« wollte Kriege nicht schönreden oder befördern, sondern begrenzen. Ihre Rechtfertigung sollte an strenge Kriterien gebunden werden. Nach Augustin ist ein Krieg dann gerechtfertigt, wenn er den Frieden wiederherstellen und den Gegner nicht vernichten oder berauben soll. Es muss ausreichend Aussicht auf Erfolg bestehen; alle anderen – nichtkriegerischen – Mittel müssen ausgeschöpft sein. Zudem dürfen die Schäden nicht größer werden als das zu beseitigende Übel. Schon bei Augustin wird deutlich, dass auch ein gerechter Krieg ein sittliches Übel bleibt. Erst im Jahr 2000 verabschiedeten sich die katholischen Bischöfe offiziell von dem Paradigma des Gerechten Krieges. In ihrem Hirtenwort »Gerechter Friede« heißt es: »Der Krieg ist immer ein Unrecht, er kann nur in Ausnahmefällen hingenommen werden, um weit schlimmeres Unrecht zu verhindern.«8 Der Friede allein und niemals Krieg und militärische Gewaltanwendung muss die letzte Perspektive christlicher Ethik sein. Gerade das kirchliche Konzept des Gerechten Friedens sieht in der UNO eine Art »Weltpolizei«. In Kriegen wie im Nord-Irak oder in Syrien müsste eigentlich die Stunde der Vereinten Nationen schlagen. Leider aber spielt sie dort keine Rolle. Der Weltsicherheitsrat ist handlungsunfähig, weil in ihm die Interessen von Nationalstaaten dominieren. Muslime und die hiesigen muslimischen Verbände distanzieren sich von der Ideologie des sog. Islamischen Staates. Wer nun selbst im Koran oder über das Leben Mohammeds liest, findet dort aber sehr widersprüchliche Aussagen zum Kampf und zum Töten. Nigar Yardim: Am besten lassen wir den Koran selbst sprechen. Da heißt es in Sure 5:32–33: »Wenn jemand einen Menschen tötet, der keinen anderen getötet hat, auch sonst kein Unheil auf Erden gestiftet hat, so ist’s, als töte er die Menschen allesamt.« Aber es heißt auch in Sure 2:190–191: »Und kämpft auf dem Weg Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, und begeht keine Übertretungen. … Und tötet sie, wo immer ihr sie trefft, und vertreibt Abid, a.a.O., 4. Gerechter Friede, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 4. Aufl., Bonn 2013, Die deutschen Bischöfe Bd. 66, www.dbk-shop.de/media/files_ public/ccjplyftlf/DBK_1166.pdf (07.07.2016). – Ähnlich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, s.o. 7

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sie, von wo sie euch vertrieben haben. Denn Verführen ist schlimmer als Töten. Kämpft nicht gegen sie bei der heiligen Moschee, bis sie dort gegen euch kämpfen. Wenn sie gegen euch kämpfen, dann tötet sie. So ist die Vergeltung für die Ungläubigen.« Welche Offenbarungsverse im Koran haben nun Gültigkeit für Muslime? Nigar Yardim: Ich würde sie nicht als widersprüchliche Aussagen, sondern als voneinander verschiedene betrachten. Es gibt zivilrechtliche, historische oder in unmittelbaren Kriegssituationen herabgesandte Aussagen, wie solche, die für Folgegenerationen von Bedeutung sind. Ich möchte nicht sagen, dass auch die sich an historische Ereignisse anlehnenden Verse für uns keine Bedeutung haben, aber ihre Gültigkeit und Anwendbarkeit auf aktuelle Ereignisse muss geprüft werden. Im Islam gilt z.B.: Selbstmord ist Mord und strengstens verboten. Es gibt keine Rechtfertigung für eine solche Handlung. Selbst in Kriegssituationen ist es verboten, Unbeteiligte zu Schaden kommen zu lassen. Sogar Pflanzen wie Bäume und Tiere sollen verschont werden. In Nicht-Kriegssituationen ist es verboten, dass jemand für sich den Krieg oder Kampf beansprucht. Ein Krieg muss vom Khalifen (für die Islamische Umma) begründet und ausgerufen werden. Hierzu bedarf es eines Rechtsgutachtens. Diese Instanz fehlt, so dass es theologisch gar nicht möglich ist, einen Krieg im Namen des Islams auszurufen. Und solange die islamische Welt zerstritten und uneinig bleibt (was wohl lange auch so bleiben wird), wird es keine Instanz geben, die es legitimieren kann. Legale Aufenthalte in einem nichtmuslimischen Land verleihen den dort lebenden Muslimen den Status des dhimmi, der zur Achtung der dort gültigen Gesetze verpflichtet ist, auch dann, wenn die Muslime woanders von demselben Staat verfolgt oder zu Unrecht behandelt werden. Wenn Islamische Staaten, oder solche, wo viele Muslime leben, eine Abmachung wie die Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, dann müssen sie sich auch nach dem Islam daran halten. Eindeutig ist, dass das Kämpfen gegenüber Andersgläubigen im Islam keine Legitimation findet. In einem gesicherten Ausspruch des Propheten – Friede sei auf ihm – heißt es: »Ihr seid so lange nicht gläubig, bis ihr Euch gegenseitig liebt; soll ich Euch darauf hinweisen, wie ihr einander lieben könnt?« Sie (die Gemeinschaft des Propheten) sagten: »Doch, oh Gesandter Gottes, sag es uns!« Er sagte: »Stiftet Frieden unter Euch, dann werdet Ihr Euch gegenseitig lieben. Bei dem, der mein Wesen in seinen Händen hält (bei

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Allah), ihr werdet das Paradies nicht betreten, bevor ihr nicht barmherzig handelt«. Sie sagten: »Wir sind alle barmherzig«. Er sagte: »Es ist nicht (nur) die Barmherzigkeit unter Euch, sondern die Barmherzigkeit gegenüber allen« (gemeint ist: gegenüber allen Menschen, und der Prophet wiederholte diesen Satz). Ist Jesus ein friedlicher Prediger? Wie passt dazu sein revolutionäres Wort aus Lukas 12,49ff: »Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte! Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht.« (Lk 12,49–53)? Wolf-Dieter Just: Das Feuer steht in der Bibel oft für das Gericht. So zum Beispiel in der Predigt des Täufers (Lukas 3,9): »Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.« Aber es gibt auch andere Bedeutungen. Im 2. Mose 3,2–3 erscheint Gott im brennenden Dornbusch mit einer durchaus befreienden, frohen Botschaft. Oder in 2. Mose 13,21–23 führt Gott sein Volk in der Feuersäule durch die Wüste, damit es den richtigen Weg findet. Lukas erzählt in der Apostelgeschichte vom Pfingstfest, Apg 2,3: »Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.« Feuer zeugt also von der Gegenwart Gottes. Jesus versteht seine Mission als eine heilbringende. Er hat das Bewusstsein, dass sein Kommen gleichbedeutend ist mit dem Anzünden eines göttlichen Feuers. Das Feuer kann heil- oder unheilbringend sein, Frohbotschaft oder Gericht. Alles hängt von der Haltung ab, die die Menschen ihm gegenüber einnehmen. Lukas verkennt den Ernst des Gerichtes nicht (vgl. 17,31–35; 18,7; 21,25–28). Hier aber denkt er an das Feuer der guten Nachricht und des Heiligen Geistes. Anders kann der Wunsch Jesu in dem kleinen Satz »Wie froh wäre ich, wenn es schon entzündet wäre« nicht verstanden werden. Das Feuer, das Jesus auf die Erde wirft, ist also die Frohbotschaft, das Evangelium, in dem die Warnung vor dem Gericht natürlich enthalten ist. Nun ist in Vers 50 von der Taufe die Rede und damit von der Symbolik des Wassers. Diese Taufe meint den gewaltsamen Tod Jesu. Statt von der Taufe kann Jesus im gleichen Sinn auch vom Kelch sprechen. Taufe und Kelch sind Andeutungen des Todes Jesu. Aber widerspricht V. 51f. nicht Jesu Verkündigung von Frieden, Vergebung und Barmherzigkeit? Hintergrund für das Verständnis dieser Verse ist die Erfahrung von Spaltungen und Verfolgungen der jungen Kirche. Jene Verse zeugen von der Weitsicht Jesu und

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können auch als realistische Mahnung verstanden werden. »Jesus warnt davor, Leben in der Nachfolge als Spaziergang anzusehen. Er ahnt, so Lukas, was Glaube auslösen kann an Differenzen! So wird es sein, ihr werdet immer wieder in Auseinandersetzungen geraten, wenn ihr euch entscheidet, als Christ oder Christin zu leben. Und das war die Erfahrung der ersten Christen und ist die Erfahrung vieler heute!«9 Die Botschaft Jesu zielt also nicht darauf, einfach das menschliche Harmoniebedürfnis zu befriedigen. Er hat zur Buße, zur Umkehr aufgerufen. Und damit ist er natürlich in Widerspruch geraten zu seinem Umfeld. So hat Jesus z.B. die starre Gesetzlichkeit der Pharisäer kritisiert. Blinde Gesetzesbefolgung kann lieblos sein, kann sogar zu Unmenschlichkeit führen. Für Jesus muss die Liebe die Priorität haben. Darum hat er z.B. gesagt, dass der Sabbat um des Menschen willen da ist und nicht der Mensch für den Sabbat. – Und wenn Jesus sich berufen weiß, gerade den Armen die Frohe Botschaft des Evangeliums zu bringen, dann stößt er damit natürlich auf den Widerspruch derer, die von der Armut der Armen leben, sie ausbeuten und übervorteilen. Wenn Frieden – wie gesagt – nur zusammen mit Gerechtigkeit zu haben ist, dann werden die Friedensboten immer auf den Widerstand oder gar die Feindschaft derer stoßen, die vom status quo profitieren und kein Interesse haben an einer ausgleichenden, verteilenden Gerechtigkeit. – Ich denke, diese Verse sind wichtig, weil sie uns vor einem allzu billigen Friedensverständnis bewahren. Friede muss mit Gerechtigkeit einhergehen, und wer sich dafür einsetzt, wird auf Widerstände stoßen und möglicherweise Zwietracht und Spaltungen verursachen und ertragen müssen. Eine andere schwierige Stelle ist Mt 10,34: »Ich bin gekommen zu bringen das Schwert.« Jesus hat nicht selten durch solch harte Rede provozieren wollen. Aber wer in dieses Wort eine Aufforderung zum Krieg hineinliest, der blendet den ganzen Kontext der Predigt und des Handelns Jesu aus. In diesem Vers ist das Schwert Symbol des Streites. Der Streit aber ist nicht der Zweck, sondern eine unausweichliche Konsequenz des Kommens Jesu. Er hat das Schwert nicht selbst geführt, sondern es wurde gegen ihn gerichtet. Das Schwert – das ist das Kreuz, an das er geschlagen wurde, das Kreuz auf Golgatha. ›Schwert‹ meint genau das, was sonst in der Bibel 9 Margot Käßmann, Toleranz und Gottes Eifer. Alles gleich gültig? Predigt über Lukas 12,49–53 am 17. März 2013 im Berliner Dom, www.ekd.de/themen/luther 2017/predigten/20130317_kaessmann_berlin.html (29.08.2016).

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›Kreuz‹ heißt: Lasten tragen, Verletzungen, Leiden, Tod. – »Der Evangelist Matthäus sagt klar: Macht euch auf Widerstand gefasst. Eure Botschaft ist nicht harmlos. Jesus hat zur Umkehr aufgerufen. Und wenn ihr ihm darin folgt, müsst ihr mit heftigen Reaktionen rechnen. Die euch hören, werden das Schwert gegen euch ziehen, um euch zum Schweigen zu bringen. Jesu Forderung nach Umkehr, nach einem anderen Leben, provoziert. Ihr werdet es erleben. Schon in der eigenen Familie. Ihr wollt Versöhnung, doch stattdessen kommt es zum Streit. Darauf müsst ihr euch einstellen.«10 Wo sehen Sie Mut machende Ausblicke auf Gegenwart und Zukunft? Wolf-Dieter Just: Christen, Juden und Muslime haben vieles gemein – insbesondere in ihrer Ethik. Für Christen wie für Juden und Muslime zeigt sich wahre Frömmigkeit im Glauben an Gott und im Tun des Gerechten. Konkret zeigt sich dies besonders im Engagement für die Armen, Bedürftigen und Menschen in Not. In der christlichen Theologie sprechen wir von »Gottes Option für die Armen«. Tatsächlich sind das Schicksal der Armen und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zentrales Thema der Bibel – in der Thora (den Gesetzestexten der fünf Bücher Mose), in den Psalmen und bei den Propheten; und im Neuen Testament in der Verkündigung Jesu (besonders bei Lukas) und bei Paulus. Im Islam gehört der zakat zu den fünf Säulen und die soziale Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema im Koran. Ein bloß ritueller Gottesdienst wird von Juden, Muslimen wie von Christen abgelehnt (Sure 2:177; Jes 1; Amos 5,21ff. und Lk 10). Man kann nicht Gott lieben und gleichzeitig am bedürftigen Mitmenschen vorbeigehen (vgl. auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Lk 10,25–37). Gerade im Bereich der Werte und der Normen für das Zusammenleben gibt es also große Gemeinsamkeiten: Dazu gehören auch die Achtung der Würde jedes Menschen, die Gleichheit aller Menschen vor Gott, die Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit und zwischenmenschlicher Solidarität sowie die Bewahrung des Friedens. Es gilt heute, diese gemeinsame Wertebasis in das Bewusstsein der Menschen zu heben, und sich für deren Realisierung einzusetzen – im Nahbereich wie im globalen Zusammenhang.

Andreas Brauns, Das Kirchenlexikon – »J« wie Jesus, www.ndr.de/kirche/ jesus128.html (09.08.2016).

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Die gemeinsame Verantwortung Der katholische Theologe Hans Küng hat Recht, wenn er sagt, es gibt keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden. Das bedeutet dann auch den Verzicht auf Absolutheitsansprüche. Wir alle sollten demütig sein vor Gott und einräumen, dass vor ihm unser Wissen Stückwerk ist, dass wir die absolute Wahrheit nicht haben, dass der Friede Gottes höher ist denn alle menschliche Vernunft (Philipper 4,7). Christen wie Muslime sind auf der Suche. Das verbindet und macht den Dialog so spannend. Gleichzeitig wird ein solcher Dialog in Ehrfurcht und Bescheidenheit vor Gott in entscheidender Weise dem Frieden zwischen den Religionen dienen. Wie wichtig die Rolle der Religionen für den Frieden in der Welt ist, das sehen wir heute in den vielen Konflikten auf dieser Erde – laut Küng eine Überlebensfrage der Menschheit. Leider wird durch Medien der Eindruck vermittelt, dass »Religionen« immer nur Konflikte verursachen. Schlagzeilenträchtig sind meistens Ereignisse, wenn Gewalt herrscht und Blut fließt. Aus Nigeria z.B. hören wir nur von Boko Haram, aber nichts von den sog. »Soldaten für den Frieden«, die der Pastor James Wuye und der Imam Muhammad gegründet haben. Das ist eine christlichmuslimische Friedensinitiative in Kaduna, einer Stadt, die an der Schnittstelle zwischen dem muslimisch dominierten Norden und dem christlichen Süden liegt. Im Jahr 1996 gründeten sie das »Interfaith Mediation Centre« (IMC)11, ein Friedenszentrum zur Aussöhnung. Kaum zu ermessen, wieviel Blutvergießen sie durch ihre Friedensarbeit schon verhindert haben. Aber gute Nachrichten sind offenbar langweilig. Die Wirklichkeit wird dadurch aber doch nur sehr selektiv wahrgenommen, ein Zerrbild gezeichnet. Nach den Terroranschlägen von Paris hat es bewegende Zeichen gegen den Terror gegeben: Christen, Juden und Muslime haben z.B. in vielen deutschen Städten (u.a. Mannheim, Osnabrück) gemeinsam für Frieden und Versöhnung gebetet. Im Kibbuz Nes Amin (Israel) setzen Juden, Christen und Muslime schon seit 1963 gemeinsam Zeichen für Frieden und Versöhnung. Ein Leitgedanke lautet »Dialog statt Mission«.

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Weitere Infos: www.imc-nigeria.org.

Dirk Chr. Siedler

Friedrich Rückert – deutschnational und Orientalist Eine Lied-Meditation1 »O lass dein Licht auf Erden siegen, die Macht der Finsternis erliegen und lösch der Zwietracht Glimmen aus, dass wir, die Völker und die Thronen, vereint als Brüder wieder wohnen in deines großen Vaters Haus.« Evangelisches Gesangbuch Nr. 14, 6. Strophe: Dein König kommt in niedern Hüllen Zerstörung und Kriege, Gewalt und Mord, gesteuert und kalkuliert vor dem Hintergrund kultureller und religiöser Unterschiede in unserer Welt: Leider haben diese alten Worte ihre Aktualität behalten! Als Friedrich Rückert diese Gedichtstrophe schrieb, etwa 1834, da lagen die Befreiungskriege von der napoleonischen Besatzung in Mitteleuropa gerade erst zwei Jahrzehnte zurück. 120.000 Soldaten starben allein bei der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813. Für die damalige Zeit eine horrende Zahl von Toten, die die Menschen damals tief schockierte. Rückert selbst hat aufgrund seiner schwachen Gesundheit nicht im deutsch-französischen Krieg gekämpft. Stattdessen entschied er sich für die Wissenschaft und unterstützte den Freiheitskampf, indem er mit 80 »Geharnischten Sonetten« zum patriotischen Kampf aufrief. So wurde auch er Teil der emotionalen Mobilisierung in diesen Krieg! Die beiden letzten Strophen seines Adventsliedes »Dein König kommt in niedern Hüllen« spielen ganz deutlich auf die Gemetzel der Befreiungskriege an. Rückert nimmt das Evangelium für den ersten Advent zum Ausgangspunkt für sein Gedicht: Jesu Einzug in Jerusalem auf einem Esel (Matthäus 21,1–11). Könige und Herrscher bauen Prachtbauten, um sich selbst zu verherrlichen – dieser 1

Erstveröffentlichung in: Chrismon plus rheinland, 12/2012, 74f.

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Dirk Chr. Siedler

König ist das Gegenbild eines Königs, wie ihn sich Menschen vorstellen: »Dein König kommt in niedern Hüllen« – und in der zweiten Strophe wird dieses Bild weitergeführt: »O mächt’ger Herrscher ohne Heere, gewalt’ger Kämpfer ohne Speere, o Friedefürst von großer Macht! Es wollen dir der Erde Herren den Weg zu deinem Throne sperren, doch du gewinnst ihn ohne Schlacht.« Diese Strophe hat den Widerspruch der Herrscher zu Rückerts Zeiten geweckt. Die württembergische Gesangbuchkommission bestand darauf, den Text abzumildern: »Oft wollten dir der Erde Herren / den Weg zu deinem Throne sperren«, musste es 1841/42 heißen, als das Lied in das dortige Gesangbuch aufgenommen werden sollte. Auf die Anfrage, ob er einverstanden sei, antwortete er lakonisch nur: »Ich bin mit allem zufrieden was sie daraus machen und wünsche nichts anderes als besseres Sommerwetter …« Ich staune über den Sinneswandel, der sich in diesem Lied gegenüber den bluttriefenden »Geharnischten Sonetten« ausdrückt. An die Stelle von Kriegsenthusiasmus tritt das Vertrauen in den Friedensboten. Ob das Einsicht ist? Die Erkenntnis in den hohen Preis, den alle für den Krieg zahlen mussten? Rückert scheute sich offenbar nicht, seine Meinung zu ändern. Er sagte einmal: »Das sind die Weisen, die durch Irrtum zur Wahrheit reisen. / Die bei dem Irrtum verharren, das sind die Narren.« Oder hat ihn noch eine andere Erfahrung etwas ganz anderes gelehrt? 1817/18 lebte er in Italien, überwiegend in Rom und hatte dort viele Kontakte zu deutschen Künstlern – gewissermaßen auf den Spuren von Goethes italienischer Reise 25 Jahre zuvor! Er reiste über Wien zurück. Dort begegnete er dem Pionier der Orientalistik Joseph von Hammer-Purgstall. Bei ihm begann er Persisch zu lernen, und Persisch blieb nicht die einzige Sprache: Am Ende seines Lebens hat er sich mit 44 (!) Sprachen beschäftigt: Arabisch, Äthiopisch, Kurdisch, Neupersisch, Pali, Sanskrit und Türkisch, um nur einige zu nennen. Im Gegensatz zu Goethe konnte Rückert orientalische Texte im Original lesen. In den Jahren nach seiner Rückkehr begann er mit der Übersetzung des Korans und erkannte als Erster, dass eine Wort-für-Wort-Übersetzung dem poetischen Charakter des Korans nicht entsprechen kann. Der Koran muss gesprochen, rezitiert werden. Nur dann könne er seine Schönheit

Friedrich Rückert – deutschnational und Orientalist

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entfalten. So war Rückerts Übersetzung bis vor kurzem die einzige, die versuchte, die Reim-Form des Korans nachzuempfinden. Der semitische Philologe und Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin hat 1995 diese Übersetzung wiederentdeckt und neu herausgegeben, bevor er dann seine eigene an den poetischen Maßstäben der Rezitation orientierte Koran-Übersetzung vorlegte.2 Dass alle menschliche Macht ihre Grenze in Gottes Macht findet, dass alle Königsherrschaft allein bei Gott liegt, das dürfte Rückert wohl auch bei seiner Beschäftigung mit dem Koran als eine islamische Grund-Überzeugung deutlich geworden sein: »Sprich: O Gott, der du über die Königsherrschaft verfügst, Du gibst die Königsherrschaft, wem Du willst, und Du nimmst die Königsherrschaft, wem Du willst. Du verleihst Macht, wem Du willst, und Du erniedrigst, wen Du willst. In deiner Hand liegt das Gute. Du hast Macht zu allen Dingen« (Sure 3,26). Wenn alle Macht und Güte in Gottes und nicht in unserer Menschen Hand liegt, dann sind auch Gewalt und Mord gegen andere Menschen unislamisch – so betonen es auch weltweit Repräsentanten des Islams. Ob wir uns in der Adventszeit – in der wir uns auf die Ankunft des Friedefürsten und damit auf die Herrschaft Gottes vorbereiten – die abschließende sechste Strophe dieses Adventsliedes zu Eigen machen können? »Lösch der Zwietracht Glimmen aus, / dass wir, die Völker und die Thronen, / vereint als G’schwister wieder wohnen / in deines großen Vaters Haus.«

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Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, München 2010.

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»Wir schaffen das!« – aber wie, Frau Merkel? Der Dienst »Trees for life« für Eltern, Gemeinden, Schulen, Städten (Aufruf des Soester Forums) 1 Erstmalig in der Geschichte können und müssen wir über globale Ordnung sprechen – die Zeit der Nationalstaaten ist vorbei! Das Wort von Bundeskanzlerin Merkel: »Wir schaffen das!« und die damit einhergehende Öffnung der Grenzen Deutschlands löste ein weltweites Echo aus. In Deutschland setzte ihr Ruf ein beispielloses Engagement von großen Teilen der Bevölkerung für Flüchtlinge in Gang und verstärkte vorhandenes Engagement. Abrahim Abdulsalim aus Syrien / jetzt Halver (Sauerland) schenkte uns mit dem Bild der deutschen Fahne als Symbol der Rettung aus Lebensnot eine Vision unserer gemeinsamen Zukunft, die aus seinen Erfahrungen wuchs. Er malte es 2015. Gleichzeitig wurde seither offenbar und öffentlich, dass die Europäische Union keine gemeinsame Flüchtlingspolitik im Sinne dieses Rufes zustande bringt. Neue Zäune werden national errichtet, nationalistische Parteien und Bewegungen erhalten Zulauf, oder werden sogar mehrheitsfähig (Brexit), Flüchtlingsheime werden angezündet und Gewalt und Terror finden in Europa statt. »Wir können in Europa keine gemeinsame Kampagne durchführen, weil die Menschen und Völker in nationalstaatlichen Kulturen leben.« stellte der Abgeordnete des Europa-Parlamentes, Sven Giegold, schon 2012 auf der Europakonferenz in Düsseldorf fest. Nationalstaatliche Kulturen bedeutet: Der Nationalismus nach dem Vorbild Frankreichs kreiert das Staatsvolk als einziges Wir, als die einzig wirkende öffentliche Bindung der Bevölkerung eines Gebietes mit einer Haupt-

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stadt und einer Sprache. Der Nationalismus wurde damit die moderne Religion und löste die durch die Fürsten vorgegebene Religion (cuius regio eius religio) ab. Es gab nur noch ein Reich im Diesseits. Die verschiedenen Gestalten des Nationalismus, ob konservativer, religiöser, liberaler, sozialdemokratischer oder anderer Prägung, ändern das nicht. Links-Mitte-rechts ist die Parteieneinteilung der Nationalstaaten aus der Sitzordnung der französischen Nationalversammlung bis heute. Zum Inhalt hatte diese »Machtmaschine Nationalstaat« (Tagore) den Schutz der Staatsangehörigen, insbesondere ihrer vermögenden Bürger und deren wirtschaftlicher Freiheit, insbesondere im Ausland, der Welt. Diese galt es gegen alle Konkurrenten rational zu organisieren und für das Eigeninteresse auszubeuten.1 Rabindranath Tagore kritisierte 1917 in den USA diesen Nationalstaat nach europäischem Vorbild, der sich als einzige Art von Zivilisation und einziges Ziel des Menschen ausgebe, als »Kommerzmaschinerie« und prophezeite: »Wenn diese Idee der Nation, die heutzutage universelle Anerkennung genießt, den Kult des Eigentums als moralische Verpflichtung auszugeben versucht …, führt das nicht nur zu Verwüstungen, es stellt auch einen Angriff auf die Lebensgrundlagen der Menschheit dar.«2 Dieses Europa der Nationalstaaten beging 1914 bis 1918 Selbstmord im Kampf um die imperiale Vorherrschaft, wie Eugen Rosenstock-Huessy 1920 beschrieb.3 Der Erste Weltkrieg war die wirkende Weltrevolution, in der die Nationalstaaten jede Zukunftsverheißung verloren. Der Zweite Weltkrieg ist nur eine Fortführung des Ersten als Weltbürgerkrieg. Seither befinden wir uns objektiv »zwischen den Zeiten« nationalstaatlicher und regionaler Ordnung und Orientierung auf der Suche nach einer neuen Ordnung des Lebens von Völkern und Menschen in der weltweiten Gesellschaft auf unserem Planeten Erde, auf der Suche nach Frieden und erdweiter Haushalterschaft (Ökonomie). Wir wissen das! Aber glauben wir es auch?

1 Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers 1987, 318–400, insbes. 360ff. 2 Zitiert nach Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires, Frankfurt a.M. 3 2013, 277ff., s.a. 287.290.295. 3 Ders., Der Selbstmord Europas, in: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, Würzburg 1920; ders., Die Sprache des Menschengeschlechts, Heidelberg 1963/64.

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Als Frau Merkel rief: »Wir schaffen das!«, da hörten Menschen und Völker auf der ganzen Erde, dass sie ihnen das Ende des Weltkrieges angesagt hatte. Europa und Deutschland würden ihre Mauern öffnen für die Opfer der Kriege, des Terrors und der wirtschaftlichen Zerstörung der Kulturen und der Natur. Frau Merkels Ruf hat damit die Frage nach den Fluchtursachen, nach den Völkerwanderungsursachen unwiderruflich auf die Tagesordnung der Politik gesetzt – ob sie es wollte oder nicht. Sie hat damit ausgesprochen, dass die Zeit der Nationalstaaten für sich und des Imperialismus nicht nur in Europa vorbei ist. Ein Hauptverantwortlicher internationaler US-Politik im 20. Jahrhundert, der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, benannte jüngst in seinem Alterswerk World order through Chaos or Insight (2014) unsere Situation wie folgt: »There is chaos threatening us, through the spread of weapons of mass destruction and cross-border terrorism. … The state as a unit is under attack, … But at the same time, and this seems to be a paradox, … This is the first time that different parts of the world can interact with every part of the world. This makes a new order for the globalized world necessary. But there are no universally accepted rules. There is the Chinese view, the Islamic view, the Western view and, to some extent, the Russian view. And they really are not always compatible.«4 Kissinger trifft diese Feststellungen trotz Völkerbund und UN, Menschenrechtsdeklarationen und Völkerrecht. Ja, in einem Interview 2009 gibt er dem Idealismus der US Politik seit Woodrow Wilson eine wesentliche Mitverantwortung am Weltkrieg und dem Zerfall der Staaten und dem Terror in unserer Zeit. Er empfiehlt, den Vertrag von Versailles zu studieren, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Entgegen der idealistischen Annahme von Präsident Woodrow Wilson gebe es keine geschichtlichen Beweise, dass Frieden der Normalzustand zwischen Staaten sei und idealistische Ordnungen und darauf aufgebaute Institutionen Frieden schaffen. Die Kunst einer guten Außenpolitik bestehe darin, die Werte einer Gesellschaft zu verstehen und zu beachten, sie als äußerste Grenze des Möglichen anzuerkennen.«5 Sein Schluss lautet Spiegel Interview Ausgabe vom 13.11.2014: Do we achieve World Order through Chaos or Insight (Fundort: www.spiegel.de/international/world/interviewwith-henry-kissinger-on-state-of-global-politics-a-1002073.html, abgerufen am 30.11.2016). 5 Spiegel Interview Ausgabe vom 6.06.2009: Obama is like a chess player (Fundort: www.spiegel.de/international/world/spiegel-interview-with-henry-kissingerobama-is-like-a-chess-player-a-634400.html, abgerufen am 30.11.2016). 4

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daher: »Die notwendige internationale Weltordnung muss gebildet werden, sie kann nicht verordnet werden (»must be cultivated, not imposed«) und »kein Staat ist stark und weise genug, allein eine Weltordnung zu erschaffen«.6 Damit wendet sich Kissinger von der bis heute dominanten Weltanschauung ab und nähert sich Tagore, Gandhi, al-Afghani und vielen anderen, die im 19. und 20. Jahrhundert die destruktiven Wirkungen des Nationalismus und des Rationalismus prophezeiten.7 Er wendet sich mit diesen Äußerungen ab von dem Traum des europäischen Rationalismus im 19. Jahrhundert an eine vollkommen säkularisierte zivilisierte Gesellschaft, die man nur einfach vernünftig einrichten müsse. Nachhaltige Ordnungen des gemeinsamen Lebens bedürfen der Legitimation in den Geschichten der Völker, ihren Erinnerungen. Ihre wirklichen Orientierungen erfahren wir in den Namen, denen sie vertrauend folgen, und aus ihren Erzählungen, in denen sie leben, nicht aus idealen Gedanken und Postulaten. Frieden zwischen den vielen verschiedenen Völkern muss also ausdrücklich und im gegenseitigen Einvernehmen und gegenseitiger namentlicher Anerkennung geschlossen werden. Ganz in diesem Sinne forderte der französische Historiker Benjamin Stora nach dem Terroranschlag von Paris 2015: »Um den Terror zu überwinden, müssen wir unsere Geschichte, die Frankreichs und die Europas, neu erzählen – mit den anderen. Das ist schwer, eine echte Herausforderung, aber uns bleibt gar nichts anderes übrig, das muss dieses Land begreifen. Wenn wir uns abschotten und die anderen und ihre Geschichte ausschließen, dann führt das in die Katastrophe.«8 Leider ist er damit noch sehr allein in Frankreich!

Interview 2014 a.a.O. Vgl. Pankaj Mishra, a.a.O.; Tamim Ansary, Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Frankfurt a.M. 2010; Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, München 2009; Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas, NA Wuppertal 2009. 8 TTT-ARD 22.11.2015. 6 7

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Die Karte unseres Planeten aus dem Gebäude der UNO ist eine Frucht des Weltkrieges und orientiert auf den Horizont unseres kommenden Friedens: Kein Staat, kein Volk, keine Religion, kein Mensch kann mehr beanspruchen, im Alleingang das Leben zu ordnen: »The Nations and Continents all off centered – The world adjudicated to nobody.«9 2 Verheißungsvolle Hoffnungszeichen Im 62. Jahr nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges weist Hans Küngs‹ Feststellung: »Ohne Frieden unter den Weltreligionen kein Frieden unter den Menschen und Völkern!« uns nicht nur auf die Potentiale der historischen Religionen hin, sondern auf verheißungsvolle orientierende Worte, die Christen und Muslime aus den eigenen Überlieferungen für die Zukunft des Menschengeschlechts auf unserem Planeten gefunden haben. Aus diesen zitiere ich einige der wichtigsten Grundorientierungen: 2.1 Zweites Vatikanische Konzil: Nostra aetate Mit seiner Deklaration Nostra Aetate hat das Zweite Vatikanische Konzil 1965 die Herausforderung der Gegenwart angenommen. Es hat wichtige Anerkennungen der anderen Religionen, explizit des Islams (3.) und des Judentums (4.), ausgesprochen und Hinweise zum von ihr geglaubten Versöhnungsweg gegeben (3.): Abgebildet in: Eugen Rosenstock-Huessy, Out of revolution. Autobiography of Western Man, New York 1964, 796f.

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»1. In unserer Zeit, da sich das Menschengeschlecht von Tag zu Tag enger zusammenschließt und die Beziehungen unter den verschiedenen Völkern sich mehren, erwägt die Kirche mit umso größerer Aufmerksamkeit, in welchem Verhältnis sie zu den nichtchristlichen Religionen steht. Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, faßt sie vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt. Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdkreis wohnen ließ (1); auch haben sie Gott als ein und dasselbe letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Heilsratschlüsse erstrecken sich auf alle Menschen (2), bis die Erwählten vereint sein werden in der Heiligen Stadt, deren Licht die Herrlichkeit Gottes sein wird; werden doch alle Völker in seinem Lichte wandeln (3). 3. Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.« 2.2 Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium In der Gestalt von Papst Franziskus ist die Orientierung jetzt lebendiges Symbol geworden. Er hat mit seiner Namenswahl und in seinem ersten apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium 2013 die Stimme der armen Völker eindeutig zu Gehör gebracht. Ich zitiere aus Abschnitt 190: »›Der Friede gründet sich nicht nur auf die Achtung der Menschenrechte, sondern auch auf die Achtung der Rechte der Völker.‹ Bedauerlicherweise können sogar die Menschenrechte als Rechtfertigung für eine erbitterte Verteidigung der Rechte des Einzelnen oder der Rechte der reichsten Völker genutzt werden. Bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit und der Kultur jeder einzelnen Nation muss doch immer daran erinnert werden, dass der Planet der ganzen Menschheit gehört und für die ganze Menschheit da ist.«10

Zit. n. Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium: www.dbk-shop.de/media/ files_public/dnqpffxwj/DBK_2194.pdf (abgerufen 24.11.2016).

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2.3 Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist (A Common Word, 2007) Auch von muslimischer Seite hat es Dokumente in dieser Richtung gegeben. 138 muslimische Gelehrte haben 2007 einen Brief publiziert, dem sie den Titel gaben: Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist (A Common Word), an die Religiösen Führer des Christentums gesandt: »Die Zukunft der Welt hängt vom Frieden zwischen Christen und Muslimen ab. Die Grundlage für diesen Frieden existiert bereits. Sie besteht in den grundlegenden Prinzipien beider Religionen selbst: der Liebe zu dem Einen Gott und der Nächstenliebe. .. Zusammen stellen sie [Christen und Muslime] mehr als 55 % der Weltbevölkerung, was die Beziehung zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften zum wichtigsten Faktor hinsichtlich ihres Beitrages zu einem echten Frieden in der gesamten Welt macht. … Lasst unsere Differenzen nicht zur Ursache von Hass und Streit zwischen uns werden. Lasst uns stattdessen wetteifern in Rechtschaffenheit und guten Werken. Lasst uns einander respektieren, fair, gerecht und freundlich zueinander sein, und in aufrichtigem Frieden, Eintracht und gegenseitigem Wohlwollen miteinander leben.«11 2.4 Erklärung des progressiven Islams Die Erklärung des progressiven Islams aus Südafrika vom Oktober 2001 wird jetzt auch in Deutschland neu rezipiert. Sie bekennt »1. Gott als das Zentrum …, dass Gott auch größer ist als die Gemeinschaft der Glaubenden, die unvermeidbar gefangen ist in den Grenzen von Sprache, Klasse, Geschlecht und Kultur. 2. Die Menschen als Familie Gottes, 2.1. Jeder Mensch ist Träger des Geistes Gottes und des Mitgefühls … 2.3. Wir … bekräftigen den Wert verschiedener religiöser Traditionen und spiritueller Pfade als Wege, die Transzendenz zu erreichen. Wir versuchen auch, gemeinsame Sache mit progressiven Kräften in diesen Traditionen zu machen, um für eine Welt zu arbeiten, in der Menschen menschlich sein können. … 3. Praxis als Weg zur Wahrheit … 3.2. Als Menschen, die sich der Transformation unserer Gesellschaften 11

Zit. n.: Friedmann Eißler (Hg.), Muslimische Einladung zum Dialog, Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten (»A Common Word«), Berlin 2009, EZW Text 202. Der Brief ist im Internet mit diversen Reaktionen zu finden: www.acommonword.com (24.11.2016).

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und Gemeinschaften verpflichtet fühlen, sind wir uns im Klaren darüber, dass wir bewusst und aufmerksam darauf achten müssen, in welcher Situation und in welchem Bewusstseinszustand sich diese befinden. Das bedeutet, dass wir sie mit Weisheit und auf die angemessenste Weise ansprechen werden.«12 2.5 »Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten« In der neuen Missionserklärung »Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten« haben die Kirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen 2012/13 klar die zerstörerischen Mächte unserer Zeit benannt. Im Vertrauen auf den Heiligen Geist rief die Vollversammlung des ÖRK die Mitgliedskirchen auf, zu einem »Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens« für das Leben aufzubrechen.13 »110. Wir bekräftigen, dass Dialog und Zusammenarbeit für das Leben integraler Bestandteil von Mission und Evangelisation sind. Authentische Evangelisation geschieht im Respekt vor der Religions- und Glaubensfreiheit aller Menschen, die als Gottes Ebenbild geschaffen sind. Proselytismus mit gewalttätigen Methoden, wirtschaftlichen Anreizen oder durch Machtmissbrauch steht im Widerspruch zur Botschaft des Evangeliums. In der Evangelisation ist es wichtig, respektvolle und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen aufzubauen. Wir würdigen alle menschlichen Kulturen und erkennen an, dass das Evangelium nicht im Besitz irgendeiner Gruppe ist, sondern allen Völkern gehört. Wir verstehen unsere Aufgabe so, dass nicht wir selbst es sind, die Gott irgendwohin bringen, sondern dass wir Zeugnis von dem Gott ablegen, der bereits da ist (Apostelgeschichte 17,23–28). Durch die Gemeinschaft mit dem Geist werden wir befähigt, kulturelle und religiöse Schranken zu überwinden, um uns gemeinsam für das Leben einzusetzen.« Ich stelle fest: Es gibt jetzt ausgesprochene Orientierungen für Christen und Muslime auf unsere gemeinsame Zukunft auf dieser Erde. Diese Orientierungen haben Christen und Muslime als auIn: Kairos Europa. Interreligiöse Solidarität gegen Fluchtursachen, Reihe: Wirtschaft(en) im Dienst des Lebens, 2016 (http://kairoseuropa.de/?p=1200, 24.11.2016). 13 Alle Texte finden sich in dem Heft KAIROS Europa. Wirtschaften im Dienst des Lebens. Von den Rändern her in Richtung globale Transformation »Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens«, 2014. 12

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thentische Deutung ihrer verschiedenen Traditionen erkannt. Diese Orientierungen beschreiben den gemeinsamen Einsatz und Wetteifer für den Frieden und die Gerechtigkeit als den uns von Gott verheißenen und gebotenen notwendigen Weg. »Wir müssen miteinander leben lernen!«14 Wenn wir einem Navi ein Ziel einschreiben, dann ist klar: Der Weg liegt vor uns! Voller Überraschungen und Herausforderungen. So auch unser Weg in unsere gemeinsame Zeit des einen Menschengeschlechts der vielen Völker und Menschen mit allen Geschöpfen auf unserem Planeten Erde. 3 Einige notwendige Einsichten für unseren Weg 1. Eugen Rosenstock-Huessy stellt in seiner Soziologie fest, dass ›die vergangene Epoche seit der Renaissance keine Zeitlehre gehabt habe‹: »Der Historismus und der Idealismus hatten ja romantisch alles Vergangene in einen Topf geworfen. Die Vergangenheit wurde verklärt, ob sie es verdiente oder nicht … Die Schellingschen Organe des Wissens aller drei Zeiten des Lebens beruhen auf einer tödlichen Verwechslung zwischen den Geistern der lebendigen Zeiten: Erzählung, Streit, Verheißung, und dem Geist für das aus der Zeit in den bloßen Raum Gefallene: dem Wissen. Daher bemerkt sogar der alte Schelling nicht, dass die Vergangenheit, die Zukunft und die Gegenwart, gerade erst durch unser Singen und Sagen selber zustande kommen …«15 Zeit ist also weder die vierte Dimension des Raumes, noch die Maschinen(uhr)zeit, noch natürlich. Heute müssen wir erkennen, dass seit Anbeginn der Geschichte des Menschengeschlechts wir Menschen selber »durch Sprechen die Gezeiten der Geschichte erschaffen. Ohnedem gibt es zwischen den Generationen keine Verbindung.«16 Ohne aufeinander Hören und zueinander Sprechen gibt es keine Verbindung unter Generationen, Geschlechtern, Menschen verschiedener Milieus und Sprachen (Völkern).

Testament der Freya von Moltke, Mitglied des Kreisauer Kreises, gestorben 2010. 15 Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie Bd. II: Vollzahl der Zeiten, Stuttgart 1958, 18. 16 »And what is spiritual? That you can speak. And that by speaking, you enter into great life stream of humanity from beginning to end.« (Eugen RosenstockHuessy, Universal History. Eugen Rosenstock-Huessy Lectures Volume 12, o.O. 1954, 8). »By speaking, we create the times of history. There is no connection between the generations without it.« (Rosenstock-Huessy, Universal History, a.a.O., 5). 14

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Mit dieser Bestimmung überwindet er den herrschenden fatalistischen abstrakten Maschinen-Charakter der Zeit. Niemand, auch der Wissenschaftler nicht, lebt außerhalb der Zeiten und niemand hat Zeit wie einen Besitz. Wenn aber die Zeit nicht abstrakt ist, wie erfahren und agieren wir sie im Hören und Sprechen – ob wir es wissen oder nicht? Wir erfahren und agieren sie in namentlich bestimmten Sprachen. Rosenstock-Huessy formulierte in einem Merksatz seine Lehre von der Zeitigung oder Vergeistigung in Kurzform: Die Vergangenheit werde erzählt. Die Zukunft werde verheißen. Die Gegenwart werde erkämpft. Das Tote mag man wissen.17 Diese vier Sprechakte werden alle in jeder menschlichen Gemeinschaft immer gebraucht im Wechselgespräch der Lebensalter. Die darin wirkenden unsere gemeinsamen Zeiten erschaffenden Kräfte in der Gesellschaft sind der Glaube der Älteren, die Hoffnung der Jüngeren und Liebe zwischen beiden. Diese sind keine individuellen Tugenden, oder gar Weltanschauungen. In ihnen wird der Geist einer Gemeinschaft ins Leben gerufen und am Leben gehalten über die leiblichen Tode der Sprecher und Sprecherinnen hinweg durch immer neue Übersetzung. »Der Geist wird durch Übersetzung am Leben gehalten. In jeder Generation übersetzen wir erneut ... Nur wenn Menschen verschiedenen Geschlechts, verschiedenen Alters und verschiedener Mentalität im selben Geist dienen, bleibt der Geist echt. Dasselbe zu tun, ist nicht desselben Geistes zu sein.«18 In seiner Rede in Kreisau 1989 hat Mark Huessy daraus den für uns wichtigen Schluss gezogen: »Auf die politische Sprache bezogen heißt dies, daß dasselbe Wort, um seine Bedeutung zu behalten, ständig in neue Tätigkeiten münden muß. Um den Geist lebendig zu halten, muß sich die Bedeutung der Sprache frei wandeln können.«19 Die Todsünde des rationalistischen idealistischen Zeitalters liegt darin, dass es diesen Wandel zerstört durch die VerZit. n. Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie. II. Band: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1958, 21. Die differenzierte Ausführung im Zwölfton der Zeiten s. a.a.O., 73ff. 18 »Spirit is kept alive by translation. In every generation we retranslate … The spirit is only true when people of different sex, and different age, and different mind serve in this spirit. To do the Same thing is not to be of one spirit.« (Rosenstock-Huessy, Universal History, a.a.O., 9). 19 Mark Huessy, Kreisau, Rosenstock-Huessy und Friedensdienst, in: Mad Economics or polyglot Peace. Wie haushalten im dritten Jahrtausend?, Jahrbuch der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft (stimmstein 4), Mössingen-Talheim 1993, 149ff. (Fundort: http://work.kreisau.de/huessy, abgerufen am 30.11.2016). 17

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absolutierung des rationalen idealen Wissens und der Mathematik als Leitwissenschaft. »Das mathematische Ideal moderner Logik richtet sich auf Objekte und nach Objekten. Die wirkliche Sippe desselben Logikers oder Forschers gewinnt keine Wichtigkeit für seine Vorstellung von der Sprache ... Kommt aber ein Hexenmeister, dann macht der Forscher ihm gehorsam Bomben, Kampfflugzeuge, V1- und V2-Waffen. Die Gefühlsspannungen des ganzen Gemeinwesens in Kriegszeiten entkräftet des Philosophen Lehre von der Sprache. Er handhabt sie nicht, wie er doch denkt, sondern sie handhabt ihn. Er handelt nach ihrem Siegeswillen und zappelt in einem Sprachnetz, dass sein Denken nur ausbeutet. … Diese Vorgänge des Miteinanderredens liegen aller Wissenschaft vorauf. In Pharaos Tagen oder im Stammesaufgebot war die beschwörende Rede noch nicht auseinandergehalten. Mögen die Griechen in unserer Mitte, die Forscher, sich auf Mathematik hinausreden. Wir gewöhnlichen Sterblichen müssen angesprochen werden; daher reicht wissenschaftliche Logik nicht aus … Zwei Wege standen offen. Entweder man wandte sich an die Großmacht, die der Verstandesrechnung entgegensteht, ans Gebet. Dann hätten sich Wahnzauber und Wahrwort unterscheiden lassen. Aber die modernen Nationen hatten sich verweltlicht; ihre führenden Köpfe machten sich übers Beten lustig und zerstörten jeden Respekt im Volk fürs echte Beten. Was folgte daraus? Nun, da niemand im Unglück von Zahlen leben kann und das Beten als abergläubisch galt, blieb nur noch der Beschwörer übrig. Er wurde das Sprachrohr all ihrer Süchte. War einmal der Klerus der Gebete durch den Mathematik-Klerus verdrängt, war Hitlers Triumph unvermeidlich. Jedesmal, wenn die Dinge ähnlich liegen, wird das gleiche passieren …«20 Wie aktuell wichtig diese Überlegungen sind, bestätigte der Computer-Pionier Joseph Weizenbaum schon 1976: »Der Computer, wie er gegenwärtig von den technischen Eliten eingesetzt wird, … ist ein Instrument, das in den Dienst gezwungen wurde, um die konservativsten, ja reaktionärsten ideologischen Strömungen des gegenwärtigen Zeitgeistes zu rationalisieren, zu unterstützen und am Leben zu erhalten … Die Sprache, und damit auch die Vernunft, ist zu nichts anderem gemacht worden als zu einem Instrument, mit dem die Dinge und Ereignisse in der Welt beeinflusst werden können … Kein Wunder, dass bei diesem Begriff von Sprache die Unterscheidung zwischen dem Lebendigen und dem LebEugen Rosenstock-Huessy, Hitler und Israel oder vom Gebet (1944), in: Beiheft stimmstein 1992, 92ff. Hervorhebung Th. D. 20

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losen, zwischen Menschen und Maschinen, aus der Welt des Realen verdrängt wurde … In der Rhetorik der technischen Elite ist die korrumpierte Sprache fest verankert.«21 Weizenbaum kommt zum selben Schluss wie Rosenstock-Huessy: »Dieselbe Logik, dieselbe kalte und erbarmungslose Anwendung rechenhafter Vernunft schlachtete in den folgenden zwanzig Jahren mindestens ebenso viele ab, wie den Technikern des Tausendjährigen Reiches zum Opfer gefallen waren. Wir haben nichts dazugelernt. Die Zivilisation ist noch genauso gefährdet wie damals.«22 In diesem Jahr 2016 hat Claus Kleber uns die erschreckende Schöne neue Welt. Wie Silicon Valley unsere Zukunft bestimmt präsentiert, die durch diese Sprache hervorgerufen, nein produziert wird.23 Welches Gesetz wirkt in ihr? 2. Als Gesetz der technischen Erneuerung, des technischen Fortschritts formulierte Rosenstock-Huessy, was durch die Herrschaft der rationalistischen Sprache in unserer Zeit immer schneller geschieht und was wir erkennen müssen, um uns nicht durch inszenierte Feindbilder verführen zu lassen, wie es gerade in der Türkei geschieht: »Jede technische Erneuerung vergrößert den Raum der namenlosen Dinge, verkürzt die gemeinsame Zeit, verändert oder zerschlägt eine menschliche Gruppe.«24 Dieses Gesetz, das die Erfahrungen der Arbeiter in der industrialisierten Arbeitswelt und besonders die Erfahrungen der Völker außerhalb Europas seit dem 19. Jahrhundert benennt,25 wird zunehmend auch in den Mittelschichten Europas und Amerikas in seiner Gültigkeit erfahren. Die Reproduktion ihrer Gemeinschaften und Institutionen ist gefährdet oder funktioniert nicht mehr. Alles ist der rational organisierten Produktion unterworfen. Die Reproduktion, die Erneuerung des Lebens im Sinne der lebendigen Sprechgemeinschaften versagt. Anstelle des gemeinsamen Geistes herrschen gemachte Zeitgeister zum Zwecke der Steigerung des Umsatzes. Der pagerank-Algorhythmus (Google) produziert die Wünsche von Milliarden, er kennt Dich besser als Du selbst. Mike Schroeder von der Facebook Zukunftsfabrik: »Der Algorhythmus herrscht

Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M. 1977, 329ff. Hervorhebung Th. D. 22 Ders., a.a.O., 334f. 23 ZDF-Mediathek: www.zdf.de/dokumentation/dokumentation/schoene-neuewelt-120.html (24.11.2016). 24 Eugen Rosenstock-Huessy, Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hg. von Rudolf Hermeier, Frankfurt a.M. 1988, 97–117. 25 Vgl. Pankaj Mishra, a.a.O. 21

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und zeigt dir immer besser, was du dir wünschst … Unser Bestreben ist, dass du nichts verpasst.«26 Diese heute die Massen weltweit beherrschenden Mächte erzeugen die unendliche Gier nach den neuen Dingen und nach der Sensation, die uns unfähig macht, die wirklichen existenzbedrohenden Probleme der Ungerechtigkeit und der Zerstörung unserer Lebensgrundlage Erde anzugehen. Nicht zufällig haben die Mächtigen von Silicon Valley eine neue Religion begründet, aus der sie ihre Führungen rekrutieren (»burning man«). Eine Folge dieser technischen Erneuerungen habe ich 2013 in Kosova erlebt. Auf der Internationalen Konferenz Faith and Reconciliation sprach ein junger britischer Muslim mit pakistanischen Wurzeln begeistert von den Möglichkeiten der social networks. Ein alter Professor aus Myanmar antwortete ihm: »Ich kann Deine Begeisterung nicht teilen. Seit kurzem haben sehr viele Menschen bei uns smartphones und reden damit öffentlich. Ihre bösen Worte übereinander haben unsere jahrzehntewährenden Arbeiten für einen Frieden unter den Völkern zerstört.« 3. Rosenstock-Huessy hat ›das bewusste Aufbauen von Gegengruppen als Antwort auf die Zerschlagung von Gruppen durch den technischen Fortschritt als nötig bestimmt‹ und selber initiiert in der Volksbildung der 1920er Jahre, in den freiwilligen Arbeitslagern für Arbeiter-Bauern-Studenten, im Camp William James in USA. Er wurde Erzvater des Kreisauer Kreises (Walter Hammer)27 genannt und ist einer der wichtigsten Väter der Friedensdienste international – auch wenn das verschwiegen wird. Ein Grundprinzip Rosenstock-Huessys für diesen Gruppenaufbau bildet die bewusste Zusammensetzung durch Menschen, die sozial, ideologisch, religiös getrennt lebten. Diese Gruppenbildung in gemeinsamem Dienst dient der Überwindung von Grenzen, die früher nur durch Krieg geschah. Rosenstock-Huessy sah diese Grenzüberwindung als notwendig an, da Krieg in unserer Zeit nur Bürgerkrieg sein kann. Der Pazifismus sei keine Lösung, da er die Kriegswirklichkeit idealistisch überspringe. Dieses Prinzip, das er schon 1912 in der Denkschrift »Ein Landfrieden« beschrieb, hatte als wohl wichtigste Frucht den Kreisauer Kreis. Im Camp William James hat Rosenstock-Huessy es in den USA realisiert bis zum Eintritt der USA in den Krieg. Es wurde leider im Brüningschen

Vgl. Schöne neue Welt, a.a.O., Anm. 25. Vgl. den Roman über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Sabine Friedrich, Wer wir sind, München 2012.

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Reichsarbeitsdienst ab 1931, im NS Arbeitsdienst und im US-Pendant Civilian Conservation Corps nicht aufgenommen. Helmuth James Graf von Moltke, Schüler Rosenstock-Huessys und Partner bei den freiwilligen Arbeitslagern in Schlesien, hat in seiner Denkschrift für den Kreisauer Kreis vom 24. April 1941 den Missbrauch der Sprache als das Urelement der rationalistischen oder ideologischen Herrschaft benannt. Um der Erneuerung der politischen Sprache willen sei freiwilliger Dienst für die Gemeinschaft nötig. Der freiwillige Dienst stelle eine noch unbenannte Beziehung zwischen den Dienenden untereinander und den Gastgebern her. Die unbenannte Erfahrung gehe einem künftigen, möglichen, gemeinsamen Verständnis seitens der Dienenden und den Gastgebern in ihrer Bedeutung voraus.28 Solche Erfahrungen sind im Kreisauer Konzept für die Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus Grundqualifikation für Politiker. 4. Mit William James teilte Rosenstock-Huessy eine zweite Einsicht. Der US-Philosoph James schaute in der US-Gesellschaft seiner Zeit, die den Frieden für den Naturzustand hielt, dass die Qualität des Kriegers, sein Lebenseinsatz, seine Mobilisierung des ganzen Menschen verloren gehe, damit seine Aufgabe als Soldat, »Glauben zu verbreiten, zu erwecken und hervorzurufen. Die große Aufgabe der Menschrasse, Freiheit, Glaube, Hoffnung, existiert nur in den Augenblicken, in denen jemand darauf besteht, sie zu verwirklichen.« Er dachte den Krieg um des Friedens willen und forderte deshalb »The moral equivalent of war.«29 In seinem Buch Des Christen Zukunft oder: Wir überholen die Moderne führt Rosenstock-Huessy diesen Gedanken aus als Grundlegung für die Lösung der Aufgabe, den Krieg zu überwinden: »Dem Frieden haben wir das Denken, dem Krieg die Aktion überlassen, unversöhnt. Denker und Krieger haben keine gemeinsame Geschichte. Könnten wir diese erschaffen, würde der Gemeinschaftssinn neu geboren. In diesen letzten Jahrzehnten war das Denken akademisch, Kriegführen brutal. Uns steht aber ein ganz anderer Zugang offen. Warum nicht den Denker und den Soldaten in jeder Gesellschaftsform in ihrer Beziehung zueinander anerkennen, den einen als erste, den anderen als letzte Station auf dem Weg der Inspiration durch eine Gemeinschaft hindurch? Warum nicht den Denker als Torweg ansehen, durch den die Inspiration die Mark Huessy, a.a.O., 149–154. William James, The Moral Equivalent of War / Eugen Rosenstock-Huessy, Die Seele von William James, Mössingen-Talheim 1995, 26ff., Beiheft stimmstein 2.

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Stadt erst betritt, und den Soldaten als die Mauer, in der der Geist inkarniert worden ist, so daß lebendige Seelen als die beste Mauer die Stadt verteidigen?«30 Rosenstock-Huessy sieht in Krieger und Denker im tiefsten die ›Generationen, deren Zusammenleben zur gleichen Zeit die Errungenschaft des Heiligen Geistes hieß‹, an dem es uns mangelt, wie oben dargestellt, nach dem wir uns sehnen. 1968 wurde Rosenstock-Huessy dringend aufgefordert, seine Konzepte und Erfahrungen mit den bewusst aufgebauten Gegengruppen, dem freiwilligen Dienst, noch einmal zusammenzufassen. Er tat es mit dem Buch Dienst auf dem Planeten.31 4 Dienst auf dem Planeten in unserer Zeit Ich glaube, dass die Antwort auf die Frage: ›Wie schaffen wir das, Frau Merkel?‹ in unserer Zeit bewusst Formate des gemeinsamen Dienstes auf dem Planeten im Sinne Rosenstock-Huessys für jedermann und jedefrau erfordert. Dass die Zeit dafür reif ist, bestätigt die Neubegründung einer Servicestelle für internationale Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen, die beauftragt ist, insbesondere bildungsfernen Jugendlichen solche Erfahrungen zu ermöglichen. Nordrhein-Westfalen hat realisiert, dass internationale Jugendarbeit faktisch zu 85 % nur von jungen Menschen mit entsprechendem Bildungshintergrund wahrgenommen wird. Ich erblicke einen wesentlichen Grund darin, dass die freiwilligen Dienste biografisch nach dem Abitur angesiedelt sind. Sie orientieren, dafür ist die Namengebung des entwicklungspolitischen Freiwilligenprogramms »weltwärts« bezeichnend, noch am nationalen Innenraum und dem Ausland der Welt. Sie sind noch nicht für die Wirklichkeit unseres Planetenlebens gemacht. Ich schlage vor, dass Dienst auf dem Planeten in die Schul-Curricula und Ausbildungsordnungen aufgenommen wird. Im Jahre 2010 haben wir im Soester Forum der Religionen und Kulturen des ZIIAD (Zentralinstituts Islam-Archiv Deutschland – Amina Abdullah Stiftung) einen Aufruf zu gemeinsamem Dienst

Eugen Rosenstock-Huessy, Des Christen Zukunft oder: Wir überholen die Moderne, NA Münster 2015, 396ff. 31 Neu aufgelegt in: Eugen Rosenstock-Huessy, Unterwegs zur planetarischen Solidarität, hg. von Rudolf Hermeier, Münster 2006. 30

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auf dem Planeten beschlossen. Seit 2012 realisieren wir jährlich Projekte mit Azubis und /oder Schülern: »Du wirst gebraucht! für Gemeinsamen Dienst auf dem Planeten!« Die Epochenaufgabe heißt: »Wir müssen miteinander leben lernen!« (Freya von Moltke) Was tun? Ein Beispiel: Hasan, ein Bergmann aus Oberhausen, erzählte mir in einer Gewerkschaftsfortbildung seine Geschichte: »Der Meister hat uns in der Ausbildung ermöglicht, ein Haus der Waldjugend neu zu elektrifizieren. Das ist jetzt acht Jahre her. Wenn ich am Wochenende Zeit habe, dann gehe ich dort mit meinen Kindern spazieren. Ich bin stolz darauf, was wir geschaffen haben. Oft treffe ich dort ohne Verabredung Hans, meinen Kollegen von damals, mit seinen Kindern. Auch er und seine Kinder sind stolz auf unser gemeinsames Werk.« Misstrauen wird nicht durch Wissen überwunden, sondern durch Erfahrungen, aus denen uns neue gemeinsame Sprache fließt. Hasan und Hans und ihre Kinder haben durch dieses Azubi-Projekt eine gemeinsame Geschichte bekommen und werden sie nie vergessen. Da hat der Heilige Geist gewirkt. Da unsere Gesellschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass sie von allen Mitgliedern dauernd Umstellung und Veränderung erwartet, ja erzwingt, benötigen wir Sitten des gemeinsamen Lebens, die eine Kultur gegenseitiger Anerkennung tragen und erneuern. Die zwei Elemente einer solchen Kultur sind: – Gastfreundschaft: Mit hostis benannte das Lateinische den Feind und den Gast. Je nachdem ob er bewaffnet oder unbewaffnet kommt. Man weiß es nicht vorher. – Gemeinsamer Dienst auf dem Planeten Lebenszeit geben für die Überwindung einer Not. Jugendliche finden in ihrem Einsatz für Andere ihre Zukunft und werden gefeit gegen Verführer, die sie in Mythen fesseln wollen – seien es Nazi, ISIS oder auch die rationalistischen Mythen unserer Politik, die Hans Peter Duerr den gefährlichsten Fundamentalismus nannte. Was tun? – Methode: Dienst auf dem Planeten: Lebensbildung – Wertebildung – Herzensbildung Menschen verschiedener Milieus, Nationalität, Religion, Alter im selben Sozialraum etc. werden aufgerufen, auf Zeit zusammen in einem gemeinsamen Dienst für das Gemeinwohl auf unserem Planeten zu leben und zu arbeiten.

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Der Dienst kann lokal und international durchgeführt werden. Er erzeugt soziale Kompetenz und Herzensöffnung für das verantwortliche Leben und Zusammenarbeiten im planetarischen Horizont. Das wichtigste: »Wir haben neue Freunde gewonnen!« (Schüler und Azubis 2012, 2013, 2014) Sie sind in gemeinsame Zeit eingetreten, die es vorher nicht gab. Der Dienst muss intergenerativ gestaltet werden: Ältere erleben einen Lebenshöhepunkt als Lehrer und Ermöglicher. Jüngere erhalten die Möglichkeit sich zu bewähren im Einsatz für Menschen oder Natur in Not. Sozialraumbasierte Berufung: Sie erhalten die Möglichkeit, sich mit ihren Fähigkeiten an einer bestimmten Stelle einzusetzen, die mit ihrem Sozialraum in Verbindung steht: Städte-Partnerschaft, ökumenische Partnerschaft o.ä. Dadurch wird die Erfahrung zu nachhaltiger Verhaltensprägung ermöglicht, denn der eigene Lebenskontext anerkennt diese Erfahrung und Leistung als wichtig für die gemeinsame Zukunft. Sendung und Empfang und Ehrung durch die Repräsentanten der Stadt, der Gemeinschaften und Beteiligung der Wirtschaft. Letztere ist dabei wesentlich, denn die Weltwirtschaft ist unser gemeinsames Schicksal. Firmen entdeckten das Format als Wurzel von social scills, die sie nicht selbst machen können, aber brauchen. Projekt-Formate A. Azubis aus Betrieben – ab 18 Jahren Zielgruppe Jugend: Azubis aus einem großen Unternehmen oder mehreren kleineren Unternehmen an einem Ort im Ruhrgebiet/ Nordrhein-Westfalen mit verschiedenen Sprachen, Kulturen, Religionen und Weltanschauungen in Kooperation mit Azubis aus einer Städtepartnerschaft, einer ökumenischen Partnerschaft oder der Herkunftsheimat von Jugendlichen (z.B. Türkei). Die Beteiligung von Erwachsenen beweist den Jugendlichen die Wichtigkeit ihres Einsatzes: »Du wirst gebraucht! Ihr werdet gebraucht für das Leben!« Nachhaltigkeit wird erzeugt durch die Ausbilder, durch Kooperation mit Partnerschaftsaktivisten im Sozialraum, durch öffentliche Sendung in die Projekte und öffentlichen Empfang und Ehrung durch Repräsentanten, gegebenenfalls auf Festen der Stadt und durch die Unterstützung von Milieus, Familien, Gemeinschaften. Für die Realisierung solcher Projekte mit kleineren Unternehmen hat das Jugend-Ministerium Nordrhein-Westfalen seine Hilfe angeboten.

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Beispiel: Nadeshda 2012: In Kooperation des Bergwerks Prosper Haniel, der Stadt Bottrop, der evangelischen Kirche Bottrop, der IGBCE, der Männerarbeit der Kirche und des Amtes für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen lebten und arbeiteten 15 Azubis aus Bottrop, 15 Azubis aus Belarus, mit ihren Ausbildern und dem ehrenamtlichen Team der Männer und der pädagogischen Begleitung durch einen Referenten der Jugendarbeit 16 Tage zusammen. Sie haben für die Kinder von Tschernobyl deren Ferienschlafhäuser gemeinsam elektrisch grunderneuert. Sie haben die Lebenswelten und die Kultur der belarussischen Kollegen kennengelernt und sind der deutsch-belarussischen Geschichte lebendig begegnet. 2013 folgte daraus ein Gegenbesuch der belarussischen Kollegen im Ruhrgebiet. Anstelle der gemeinsamen Arbeit wurde beim Gegenbesuch ein gemeinsames Seminar durchgeführt zu Solartechnik für Elektriker. Sergej, ein belarussischer Azubi, kommentierte begeistert: »Hier haben wir für die Zukunft unserer Kinder gelernt!« Die Ehrenamtlichen und die Ausbilder haben jetzt die Initiative Bobbies (Bottroper begeisterte Bürger im Einsatz e.V.) gegründet. Sie haben weitere Menschen gewonnen und in Zusammenarbeit mit der Ausbildung von Thyssen Steel ein zweites Azubi Projekt in Belarus 2014 erfolgreich durchgeführt. Ein Gegenbesuch erfolgte 2015. Weitere Projekte sind in Vorbereitung. B. Schüler und Schülerinnen ab 14 Jahren (nach Konfirmation, Kommunion, etc.) Zielgruppe: Schüler und Schülerinnen aus verschiedenen Schulformen einer Stadt in interkulturellen Mischungen. Projektrealisierung mit internationalen oder ökumenischen Partnern. Die gemeinsame Arbeit für das gemeine Wohl an der Erde (hier: Bäume für das Klima; Gärten für das Leben »Super potager«; Stadtgärten) schafft nachhaltige Freundschaft – Wir-Gefühl über die kulturellen und sozialen Grenzen hinweg und eine grundlegende Achtung vor und Verantwortung für unsere gemeinsame Lebensgrundlage Erde. Die Beteiligung von Erwachsenen beweist den Jugendlichen die Wichtigkeit ihres Einsatzes: »Du wirst gebraucht! Ihr werdet gebraucht für das Leben!« Nachhaltigkeit wird erzeugt durch die Kooperation mit Partnerschaftsaktivisten im Sozialraum, durch öffentliche Sendung in die Projekte und öffentlichen Empfang und Ehrung durch Repräsentanten, gegebenenfalls auf Festen der Stadt, und durch die Unterstützung von Milieus, Familien, Gemeinschaften und Anerkennung in den Schulen.

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Beispiel Workcamp »Trees for Life – Hayat için ağaç«: Im Oktober 2013 wurden einige Bäume in Giresun Stadt und 1000 in Aufforstungsprojekten im verkarsteten Gebirge gepflanzt von Jugendlichen aus Marl und aus Giresun. Die Schüler aus Marl waren christliche, muslimische und nicht-religiöse Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe I und II aus mehreren Schulen. Auf Einladung des Vali von Giresun/Schwarzmeerküste lebten und arbeiteten sie zusammen mit Schülern und Schülerinnen der Partner-Schule in Giresun. Das Projekt wurde realisiert und begleitet vom Jugendkulturzentrum »Kunterbuntes Chamäleon« der Evangelischen SchülerInnenarbeit in Westfalen, Hagen-Berchum, und der Ev. Jugend von Westfalen, Haus Villigst. Es wurde durchgeführt im Rahmen des 13. Abrahamsfest Marl als Gestaltung der Partnerschaft. Die Schüler und Schülerinnen sind von ihrer Stadt als deren Botschafter verabschiedet und empfangen worden. So wurde diese Erfahrung zu einer Erfahrung von vielen und hat nachhaltig die Teilnehmenden geprägt und ihre Persönlichkeit entwickelt. Unser »Trees for life«-Projekt 2016 hat in Marokko ein sehr großes Echo gefunden und wird als Anfang einer neuen Partnerschaft geglaubt. In seinem Dankes-Brief schrieb Rektor Benaissa: »I thank you a lot for building this bridge of educative cooperation between your school and ours. I believe that this cultural link we established together will certainly have great benefits in the life of our pupils. Indeed, the garden which we worked on during the two weeks you stayed here among us will remain a symbol of this warm relation that we have set up together.« Weitere Projekte u.a. in der Türkei sind in Vorbereitung. Vertrauen und Hoffnung auf gemeinsame Zukunft auf unserer Erde werden in diesen Projekten gestiftet. Darin wird die Angst überwunden, die heute wieder viele in die Arme der Demagogen treibt. Deshalb stehe der Aufruf am Schluss als dringlicher Ruf an Regierungen, Religionsgemeinschaften und Verantwortliche in Wirtschaft und Gesellschaft: Aufruf: Gemeinsamer Dienst auf dem Planeten des Soester Forums der Religionen und Kulturen 2010 Sehen Wir Menschen und Völker und Religionsgemeinschaften sind herausgefordert durch den Klimawandel und die Gefährdung der Lebensgrundlagen. Die Ursachen liegen wesentlich in unverantwortlichem Wirtschaften, verbunden mit übermäßigem Ressourcen- und Energieverbrauch. Die Folgen sind Armut und Hunger von Millio-

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nen Menschen, Ungerechtigkeit, atomare Bedrohungen, Kriege, Gewalt und Terrorismus. Gerechtigkeit, Bewahrung der »Schöpfung« (der Lebensgrundlagen), Frieden und Gewaltlosigkeit sind Schlüsselworte für das zukünftige Leben auf unserem begrenzten und einmaligen Planeten geworden. Die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« hat diese Herausforderungen jüngst konkret für Deutschland formuliert. Dennoch herrscht das trügerische Vertrauen auf das grenzenlose Wirtschaftswachstum weiter. Wir Menschen leben erstmalig in der Geschichte in einer Welt, doch wir tun das noch nicht gemeinsam und verantwortlich. Noch gibt es zu wenig Projekte gemeinsamer Verantwortung. Noch wird bestimmten Menschen der Platz bei uns und die Teilnahme an der gemeinsamen Gegenwart und Zukunft verweigert. Noch sind wir kein Menschengeschlecht, haben keine gemeinsame Sprache im Angesicht der gemeinsamen Nöte, glauben noch keine gemeinsame Zukunft. Urteilen Im Angesicht der gemeinsamen Herausforderungen hören wir auf Gottes Weisungen in unseren Heiligen Schriften. Sie geben uns die Hoffnung, dass aus unserem Gespräch und Zusammenleben gemeinsame Worte und gemeinsames Handeln möglich sind zur Überwindung der Not, zur Versöhnung und zur Erneuerung des Lebens auf unserem Planeten. Im Angesicht der gemeinsamen Herausforderungen haben wir in unserer Zeit neu entdeckt, dass die Liebe Gottes und unsere Liebe zu Gott untrennbar sind von der Liebe zu allen Lebewesen: Menschen, Tieren, Pflanzen, der Erde. Gottesliebe und Nächstenliebe sind für Juden, Christen und Muslime wie auch für andere Religionen untrennbar verbunden. Wir alle sind Gäste an Gottes Tisch und verantwortliche Statthalter, nicht Eigentümer. Im Angesicht der gemeinsamen Herausforderungen erkennen wir, dass Gott lieben und vertrauen heißt: der Zukunft des Lebens auf dem Planeten einen Kredit zu geben. Jeder Mensch hat heute die Aufgabe, sich verantwortlich und in Gemeinschaft mit anderen an der Beendigung der Zerstörung und der Erneuerung des Lebens auf unserem Planeten zu beteiligen durch Zeiten gemeinsamen Dienstes auf dem Planeten. Aufruf zum Handeln Juden, Christen, Muslime, die Angehörigen anderer Religionen und alle Menschen guten Willens und ihre Gemeinschaften rufen wir auf:

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Lasst uns gemeinsam an allen Orten freiwilligen Dienst auf dem Planeten ins Leben rufen, in dem die bisher getrennt und gegeneinander lebenden Menschen eine Zeit gemeinsam leben und einen die Not wendenden Dienst für das Gemeinwohl tun. Wir rufen dazu auf, allen Jugendlichen (Jungen und Mädchen) gemeinsamen Dienst auf dem Planeten zu ermöglichen in ihrem jeweiligen Sozialraum, national und weltweit. Jede und jeder wird gebraucht, teilzunehmen an der Rettung des Lebens auf unserem Planeten. Als Beispiel für Projekte nennen wir: −

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Nationale und internationale Projekte können Workcamps sein, in denen das gemeinsame Arbeiten an der Erde und mit Pflanzen für das Klima integraler Bestandteil ist. Ein Beispiel ist das Projekt Super Potager der Scouts Musulmans de France. Jugendliche schaffen Hilfe zum selbstverantwortlichen Leben für die Armen in Afrika und gewinnen Achtung vor unseren Lebensgrundlagen Erde und Wasser. die Grünhelme: Muslime und Christen arbeiten konstruktiv zusammen an Orten großer Not. die Projekte der Kampagne »Mach mal Zukunft«: Jugendliche engagieren sich für ein zukunftsfähiges Deutschland in der globalisierten Welt.32 die 72-Stunden-Aktion, in denen Jugendliche in Deutschland, Österreich und der Schweiz sich für soziale, ökologische und Friedensprojekte in ihren Sozialräumen engagieren.33

Wir glauben, dass ein solcher gemeinsam wahrgenommener Dienst von Christen, Muslimen, Juden und anderen jungen Erwachsenen aus unserer Gesellschaft notwendig ist. Er muss öffentlich getragen sein von dem Gebet und der Gastfreundschaft und den Ressourcen unserer Gemeinschaften und Unterstützer. Er benötigt die Unterstützung des Staates und Europas. Als Frucht erwarten wir Freundschaft der Beteiligten und ihrer Gemeinschaften und gemeinsame verantwortliche Bürgerschaft in der pluralen planetarischen Gesellschaft. Werl, den 7.11.2010 60 Erstunterzeichner34 S. www.evangelische-jugend.de (abgerufen 30.11.2016). S. www.72stunden.de (abgerufen 30.11.2016). 34 Die Erstunterzeichner sind namentlich genannt: www.ev-jugend-westfalen. de/fileadmin/inhalte/bild-pdf_archiv/News/2014/2014_6/SF_Aufruf2010.pdf (24.11.2016). 32

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Rabeya Müller

Voraussetzungen des Dialogs Eine islamische Perspektive

Sind Sie ein Dialogiker bzw. eine Dialogikerin? Nach mehr als dreißig Jahren interreligiösem Dialog ist den meisten Menschen klar, dass Dialog etwas mit Dialektik zu tun hat, aber noch viel mehr mit Logik. Damit wird der Kreis von Menschen, die die Kunst des Dialogs beherrschen, schon stärker eingegrenzt. Es geht einerseits um die Kunst der Gesprächsführung und Argumentation. Diese zu beherrschen gilt nicht nur in der Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen des interreligiösen Dialogs, sondern auch im Umgang mit Kritikern und Kritikerinnen desselben. Sie glauben ihn einfach klein reden zu können, weil sie ihn für obsolet halten. Dieser Glaube gipfelt allerdings, besonders was die Menschen, die ihn betreiben, betrifft, nur allzu leichtfertig in der Kategorie »Nicht wissen«, denn sie wissen tatsächlich nicht, was für eine integrative und befriedende Rolle der interreligiöse Dialog seit Jahrzehnten spielt und wie die Welt ohne ihn aussehen würde. Menschen, die diese Form der Kommunikation betreiben, haben gelernt, sich mit dem Phänomen der ›Lehre von den Gegensätzen‹ zurechtzufinden. Diese Art von Diskurs will gekonnt sein, denn es gilt, die bestehenden Auffassungen als These zu formulieren und dieser dann die Antithese der Probleme und Widersprüche gegenüberzustellen. Allein bei diesem Schritt scheitern schon viele, weil sie das Gefühl haben, eigene (Glaubens-) Überzeugungen zu verleugnen, denn der nächste Schritt, eine Synthese in Form einer Lösung oder eines neuen Verständnisses darzulegen, erfordert Mut. Zweifellos aber wäre es eine Möglichkeit, bei erhitzten Debatten oder den oft endlos ausufernden ›Dialog-Events‹ eine strukturierende Wirkung zu geben. Es ist langfristig nicht hilfreich, sich stets des gegenseitigen Respekts zu versichern, wenn die wohlgemeinten Worte nicht in eine reale Umsetzung münden. Dialog ist das Gegenteil von Monolog, d.h. wörtlich genommen gilt es, ›etwas zu besprechen‹, und bei Dingen, die besprochen werden müssen, ist die Ergebnis-Offenheit unumgänglich. Um eine solche offene Diskussion und Kommunikation durchzuführen, gilt es, die vier bekannte Grund-Regeln des Dialogs zu verinnerlichen:

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Da wäre zunächst das (aktive) Zuhören. Das bedeutet: Das, was mein Gegenüber sagt, zu realisieren und auf mich wirken zu lassen, ohne sofort im Hinterkopf abzuspulen, was zur Verteidigung an Argumentationssträngen in Frage kommt. Diese apologetische Grundhaltung führt zur Erstarrung im dialogischen Miteinander und steigert die ›Schlaftrunkenheit‹ bei den Zuhörenden. Die zweite Dialogtugend ist das Respektieren: Um dies nicht zur bloßen Worthülse ›verkommen‹ zu lassen, ist es nötig, auf SchuldZuweisung, Abwertung oder unangemessene Kritik zu verzichten und dies gleichzeitig mit der nächsten Grund-Voraussatzung, dem Suspendieren, zu kombinieren. Es ist wichtig, sich selbst zu verbieten, den Respekt durch Vorurteile aufheben zu lassen. Dies macht eine/n authentische/n Dialogiker/in aus. Diese Dialog-Tugenden greifen unzweifelhaft ineinander und gipfeln in der vierten, dem Artikulieren. Dialogiker/innen müssen lernen, die eigenen für wahr erkannten Dinge beim Namen zu nennen und auszusprechen, ohne belehrend oder manipulierend zu wirken. Wenn Dialog tatsächlich etwas bewirken soll, gilt es, einen Raum des Vertrauens zu schaffen, frei nach Franҫois de La Rochefoucauld, der im 17. Jahrhundert bereits verkündete: »Vertrauen gibt dem Gespräch mehr Stoff als der Geist.« Damit ist der Dialog auf allen menschlichen Ebenen machbar. Doch der interreligiöse Dialog hat nicht nur menschliche Feinde, denn es gibt noch: Ignoranz und Abtrennung. Dabei geht es nicht darum, Dinge schönzureden, sondern sich selbst klarzumachen, was z.B. der Unterschied zwischen Profil und Abgrenzung ist. Dabei sollten Auseinandersetzungen nicht gescheut werden; denn die Partnerschaften und Koalitionen zu erarbeiten und zu erhalten, bedeutet auch, die Konflikte tatsächlich auszutragen, ohne dabei die Beziehung selbst in Frage zu stellen. Immer wieder muss der Faden aufgehoben, müssen gangbare Wege erforscht und gemeinsame Lösungs-Strategien entwickelt werden. Im Dialog gilt es endlich auch eine Streit-Kultur zu entwickeln und nicht weiter in dem jahrzehntelangen sog. ›Tee-und-Börek-Dialog‹ zu verharren; denn genau der hat uns nicht weitergebracht. Gerade Musliminnen und Muslime können sich dabei auf ihre eigene Schrift berufen, heißt es doch im Koran: »Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift; es sei denn auf die beste Art und Weise. Ausgenommen davon sind jene, die ungerecht sind. Und sprecht: ›Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt wurde und was zu euch herabgesandt wurde; und unser Gott und euer Gott ist Einer; und Ihm fügen wir uns.‹« [29:46]

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Beide Seiten müssen lernen, Ungerechtigkeiten zu erkennen, zu benennen und in den eigenen Reihen nicht zu dulden, sondern eine konstruktive Diskussions-Kultur zu entwickeln, indem der Diskurs nicht die Form eines sportlichen Wettbewerbs bekommt, sondern es um einen wirklichen Austausch geht. Das bedeutet, dass das jeweilige Gegenüber durchaus auch Recht haben kann und dass nicht eine nachhaltige Störung der Beziehung das Ergebnis ist. Nicht nur der 11. September 2001 hat in vielerlei Hinsicht die interreligiösen Dialog-Beziehungen auf eine harte Probe gestellt. Gerade in den letzten Jahren haben Ereignisse, die z.B. von verbrecherischen Tätern im Namen des Islams begangen werden, oder ebensolche Taten, die andere Menschen zur ›Verteidigung des christlichen Abendlandes‹ durchführen, zugenommen und eine Distanz geschaffen, die bedenklich ist. Niemand soll zu Synkretismus verleitet werden, im Gegenteil, aus dem jeweiligen Glauben heraus sollte der interreligiöse Dialog eine Plattform bieten, die es ermöglicht, Einigungen zu erzielen, die jedem/r fair und für alle annehmbar erscheinen. Hierzu gehört gerade die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, ohne die Seiten zu wechseln. An dieser Stelle soll einmal ein Beispiel von einer christlich-muslimischen Jugend-Gruppe dargestellt werden, die sich dazu durchgerungen hat, sich z.B. mit einem Koran-Vers zu beschäftigen und dabei etwas für beide Seiten Akzeptables zu erarbeiten. Dasselbe wäre auch durchaus mit einem Vers aus der Hebräischen Bibel möglich gewesen. Dabei ging es zunächst um folgenden Vers: »Sprich: ›Ihr Schriftbesitzer, kommt mit uns zusammen zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch, damit wir nämlich Gott allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Gott.‹ Und wenn sie sich abwenden, so sprecht: ›Bezeugt, dass wir (Ihm) ergeben sind.‹«[3:64] Dann stellten die Jugendlichen folgende Vorüberlegungen an: In welcher Zeit leben wir? In welcher Gesellschaft leben wir? Dann versuchten sie eine Ent-Theologisierung der Texte und einen Transfer auf die jeweilige Situation ohne Ewigkeits-Anspruch. Daraus ergaben sich folgende Regeln, die sie für ihre Gruppe herausgearbeitet haben: Hier die abgeleiteten, ent-theologisierte Grundhaltungen:

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1. Grundhaltung: steter Aufruf zum Gespräch: Signalisieren Sie während des Gesprächs eine grundsätzliche positive Gesprächsbereitschaft! 2. Grundhaltung: gleiche Ebene des Gesprächs: Vertreten Sie während des gesamten Gesprächs, dass Sie die Gesprächsthemen als gleichberechtigt ansehen. 3. Grundhaltung: Anerkenntnis einer gemeinsamen obersten Instanz: Versuchen Sie während des Gesprächs zu signalisieren, dass es eine gemeinsame Grundlage, also eine gemeinsame Anerkenntnis einer obersten Instanz gibt. 4. Grundhaltung: Gleichberechtigung aller Gesprächspartner: Versuchen Sie, durch Ihre Haltung die Gleichberechtigung aller Teilnehmenden am Gespräch (sowohl in Redezeit als auch im Respekt gegenüber der Person) zu gewährleisten. 5. Grundhaltung: schriftliches bzw. vertragliches Festhalten, auch unterschiedlicher Meinungen: Versuchen Sie, ein konstruktives Abschlusskommuniqué am Ende des Gesprächs zu erreichen. 6. Grundhaltung: stehen lassen unterschiedlicher Auffassungen: Versuchen Sie durch Ihre eigene Haltung zu signalisieren, dass unterschiedliche Haltungen zwar deutlich gemacht, aber auch nebeneinander stehen gelassen werden können. Grundsätzlich taten sich einzelne Teilnehmer/innen bei einzelnen Punkten schwer, aber alle waren sich letztendlich darin einig, wie befriedend und nützlich eine solche Handhabe sein kann, ohne dass daraus eine Missionierung oder Absolutheitsansprüche entstünden. Alle waren sich auch darüber im Klaren, dass andere Gruppen zu anderen Zeiten und an anderen Orten andere Ergebnisse erzielen und andere Grundhaltungen formulieren könnten. Wichtig war für alle, dass sie auch meinen und umsetzen, was sie sagen, und das Interesse am Gegenüber nicht nachlassen darf, gleich welche Stimmung auch herrscht. Denn wie formulierte es bereits Albert Camus so treffend: »Das echte Gespräch bedeutet: aus dem Ich heraustreten und an die Tür des Du klopfen.« Deshalb sollte jede/r am Dialog Interessierte die Tür öffnen und niemand sich scheuen, auch einzutreten.

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Pluralitätsoffen, diversitätsfreundlich und kommunikativ – aus guten Gründen Wie sich die Diakonie den Herausforderungen wachsender Pluralität öffnen kann 1 Herausforderungen auf den ersten Blick 1.1 Ökonomische Herausforderungen Wie auch die anderen Träger der Wohlfahrtspflege ist die Diakonie seit den 1990er Jahren den durch staatliche Gesetzgebung initiierten Bedingungen eines staatlich stark reglementierten Sozialmarktes unterworfen. Diese Herausforderung hat sie angenommen und sich der wachsenden Konkurrenz gestellt. Im Kontext dieses Paradigmenwechsels weg von der Restkostenfinanzierung hin zur Budgetierung der Leistungen mit Hilfe von Ausschreibungen, regional verhandelten Fachleistungsstundensätzen oder DRG’s (Diagnosis Related Groups) haben viele Einrichtungen ihr Selbstverständnis und ihre Organisationsformen gewandelt. Sie sehen sich als Diakonische Unternehmen (Jäger 1986ff.) und übernehmen seither viele Führungs- und Steuerungsinstrumente aus der Betriebswirtschaftslehre und dem Management – und das durchaus mit Erfolg. Arbeitsprozesse wurden und werden optimiert und ihre Effizienz gesteigert, weil sie im Rahmen des fast durchgehend eingeführten Qualitätsmanagements klar beschrieben und ihre Kosten durch Instrumente des Controllings jederzeit überprüfbar sind. Nicht alle Arbeitsfelder sind freilich gleichermaßen auskömmlich refinanziert (vor allem nicht die Altenpflege); teilweise sind diakonische Träger durch die günstigeren Leistungspreise privater, nicht immer tarifvertraglich gebundener Anbieter unter Druck gekommen. Dies liegt weniger an den unterstellten, vermeintlich zu hohen Kosten von Verwaltung bzw. Overhead, denn hier hat der gesetzte Druck zu deutlichen Verschlankungen geführt, auch wenn auf der anderen Seite der bürokratische Dokumentationsaufwand erhöht wurde. Sondern Grund dafür ist die Entlohnungsstruktur insgesamt, die im Gefolge des alten Bundesangestelltentarifvertrags mit den Beschäftigungsjahren wachsende Löhne vorsah – im Unterschied zur privaten Konkurrenz mit junger Mitarbeiterschaft und Tarifverträgen, die das nicht bzw. nicht in diesem Ausmaß

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vorsieht. Leichte Anpassungen der in Kirche und Diakonie geltenden Arbeitsvertragsrichtlinien haben etwas Erleichterung verschafft, sorgen aber immer noch für ein insgesamt höheres Entlohnungsniveau in der Diakonie. Insbesondere im Bereich der Pflege und hauswirtschaftlicher Dienstleistungen sind durch die paritätisch besetzten Arbeitsrechtskommissionen an vielen Orten jeweils zeitlich befristete Notlagenregelungen mit Absenkungen von Lohn bzw. Lohnzulagen beschlossen worden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese im Rahmen des sog. »Dritten Weges« vereinbarten Regelungen zeigen freilich auch, dass sich die Diakonie insbesondere durch ihr Arbeitsrecht nicht vollständig an den (Arbeits-)Markt angepasst hat. Sie kann und will dies auch weiterhin nur begrenzt tun, weil zum einen Lohnverhandlungen wie in der freien Wirtschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht auf dieselbe Weise sinnvoll sind, da die Träger der Wohlfahrt ihre Preise auf Grund der staatlichen Regulierungen nicht auf dieselbe Weise festsetzen können wie auf anderen Märkten – insofern müssten eigentlich die staatlichen Kostenträger mit am Verhandlungstisch sitzen. Zum anderen verbietet es der gemeinsame Auftrag und Dienst, hilfebedürftige Kunden/Nutzerinnen/Betreute allein zu lassen. Schließlich ist das Konzept der Dienstgemeinschaft theoretisch wie praktisch durchaus in der Lage, dass sich Dienstgeber und Dienstnehmer innerhalb des beiden gemeinsamen Auftrags (dazu mehr unten Kap. 4) paritätisch und ohne die Instrumente von Streik und Aussperrung über Lohn- und Arbeitsbedingungen einigen. Da haben insbesondere die Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten andere und reifere Instrumente der Mediation und Konfliktregelung entwickelt. Klar ist ferner auch, dass diese Einigungen vor staatlichen Gerichten überprüfbar sind (und hier und da auch revidiert werden mussten). Gewerkschaftlich organisierte Dienstnehmer können nicht außen vorgelassen werden bzw. sollten sich auch nicht selbst ausschließen, denn es ist weiterhin unbestritten, dass Diakonie wie Caritas als zum Sektor der Religion zuzurechnende Einrichtungen ebenso wie Tendenzbetriebe das Recht haben, ihre Dinge – im Rahmen der geltenden Rechtsordnung – selbst zu regeln (Hammer 2015). Hier setzen freilich auch die Fragen ein. Erst das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von 20. November 2012 (Haas und Starnitzke 2015b, S. 53) hat hier für etwas mehr Klarheit gesorgt – vor allem auch dafür, dass über die paritätische Besetzung der Arbeitsrechtskommissionen hinaus auch die Dienstnehmerseite entsprechende Ressourcen braucht, um angesichts der faktischen Machtasymme-

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trien tatsächlich mit gleichem Gewicht und gleicher Expertise argumentieren zu können. Dass sich Gewerkschaften über diesen Stand nicht unbedingt freuen und ihn auch weiterhin in Frage stellen, halte ich für merkwürdig, da sie in anderen Bereichen als Tendenzbetriebe dieselben Sonderrechte in Anspruch nehmen wie die Kirche und Diakonie. 1.2 Andere Herausforderungen an der Oberfläche Die Etablierung des Sozialmarkts und die gewollte Konkurrenz durch andere Anbieter führte auch dazu, sich auf dem Markt präsentieren zu müssen. Hauptmittel dazu war und ist es, die vermeintlichen Alleinstellungsmerkmale (unique selling points) diakonischer Arbeit herauszuarbeiten, um die eigenen Produkte bzw. Dienstleistungen als besondere bzw. einmalige zu bewerben und von säkularer Konkurrenz abzuheben. Dies freilich ist so einfach nicht durchzuhalten, weil die staatlich refinanzierten Sozial-, Betreuungs- und Pflegeleistungen durchaus vergleichbar sind und auch sein müssen. Auch der seit den 1970er Jahren in der Diakonie mitvollzogene und aktiv mitgestaltete Prozesse der Professionalisierung und auch Akademisierung der sozialen und pflegerischen Berufe hat den Akzent auf die in der Sache unvermeidlich vergleichbare Fachlichkeit gelegt.1 Als Prozess der (Selbst-)Säkularisierung zeigte er sich u.a. deshalb, weil sich nicht nur große Teile der Sozialarbeitswissenschaft säkular verstanden und verstehen, und dies unter Absehung ihrer historischen und fachlichen Wurzeln, sondern weil zeitgleich eine fachlich unterschiedlich gut ausgebildete Generation diakonischer Hausväter bzw. -mütter aus dem Dienst schied und mit ihnen vorherrschende diakonische Paradigmen in den Hintergrund traten. So blieb für das Diakonische (Horstmann 2011) nur Raum jenseits bzw. im Umfeld des Fachlichen, als Zusatzleistung (wie z.B. Seelsorge) oder als eher behauptete als nachweisbare christliche Haltung gegenüber Kunden/NutzerInnen/Betreuten aus einem sog. christlichen Menschenbild heraus. Das kann heute nicht mehr ausreichen (s.u.). Gute Fachlichkeit bzw. fachliche Qualität der Angebote und Dienstleistungen wird m.E. in Zukunft nicht ausreichen, denn das kann die Konkurrenz im Ernstfall ebenso gut. Verschärft wurde dieser Prozess der inneren (Selbst-)Säkularisierung durch die deutsche Einigung und die Übernahme bzw. Neuer1 Immer noch werden nach einer inoffiziellen Auswertung der Rektorenkonferenz Evangelischer Fachhochschulen ca. ein Viertel aller Sozialarbeiter/innen und akademisierten Pflegefachkräfte in kirchlichen Hochschulen ausgebildet.

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richtung diakonischer Einrichtung im Osten – dort nun nicht mehr mit ausschließlich kirchlich verbundenen Mitarbeitenden. Selbst ein so großer Träger wie die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die auch einige Standorte in Berlin und Umgebung (Lobetal) haben, zeigen, dass im Jahr 2013 die Konfessionszugehörigkeit der Mitarbeitenden wie folgt aussah: 54,3 % evangelisch, 16,6 % katholisch und 29,1 % ohne Angabe. 5 % der Mitarbeitenden haben eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit (Bethel 2014, 9).Diese Zahlen sind für Einrichtungen im Osten oft deutlich höher und werden sich bei insgesamt zurückgehenden Mitgliederzahlen der großen Kirchen in diese Richtung weiter entwickeln, übrigens stärker durch Geburtenrückgang als durch Austritte. Diese Beobachtungen auf der Oberfläche nötigen auf mehrfache Weise, tiefer zu graben. Die Idee bzw. Unterstellung konfessioneller Homogenität ist aufzugeben und durch die Neuwahrnehmung der eigenen intern wie extern induzierten Diversität zu ersetzen (2.). Diversität und interne Pluralität ist dem Protestantismus in der Wurzel mitgegeben und vertraut, nur in den Konzepten und den Selbstverständnissen der Diakonie noch nicht überall angekommen. Das sollte helfen, sich viel stärker als bisher der religiösen Vielfalt der Klienten/NutzerInnen/Betreuten zu öffnen (3.). Die gegenwärtig heiß diskutierte Frage der konfessionellen bzw. religiösen Prägung der Mitarbeitenden bzw. der auf Grund der EKD-Loyalitätsrichtlinie geforderten (differenzierten) Konfessionszugehörigkeit stellt sich unter diesen Bedingungen in einem andern Licht (4.). Das wiederum hat Konsequenzen für das Selbstverständnis diakonischer Organisationen (5.). Auch die Diakoniewissenschaft muss unter diesen Bedingungen neu den Diskurs mit den anderen Fachwissenschaften suchen, um das, was sie für diakonisch hält, nicht nur im Drumherum, sondern auch in den fachlichen Kernvollzügen darlegen zu können (6.). 2 Aufgabe der Idee der Homogenität 2.1 Religiöse Homogenität? Der Protestantismus war genauso wenig wie der Katholizismus jemals eine homogene Größe. Seine Denominationen (einschließlich Freikirchen) dazu werden freilich nicht nur als historisch kontingent beurteilt, sondern als aus theologischen Gründen notwendig angesehen (Herms 1995). Die Diakonie selbst hat mit ihren Traditionen der weiblichen Diakonie der Mutterhäuser nach Flied-

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ner und Löhe sowie der männlichen im Gefolge von Wichern in sich sehr unterschiedliche Lebens- und Arbeitsmodelle entwickelt, die selber wiederum einem Teilspektrum des Protestantismus, der sog. Erweckungsbewegung, zuzuordnen waren. An den Standorten, an denen beide Traditionen zusammenkommen (Bethel, Diakonie Neuendettelsau, Kreuznacher Diakonie, Stiftung Tannenhof Remscheid), wurden deren Unterschiede besonders deutlich. Sie sind z.T. noch heute zu spüren, aber nicht wirklich aufgearbeitet oder fruchtbar gemacht. Dieser Prozess wird seit den 1970er Jahren durch die schon angedeuteten Prozesse unterschiedlicher Fachkräftegenerationen mit sehr unterschiedlichen fachlichen, aber auch theologisch-diakonischen Prägungen überlagert (Zippert 2013). Dass sich die für die Kirche untersuchten Milieubildungen auf der Basis des SINUSInstitutes (Hauschildt, Schulz, Kohler) auch in der Diakonie ebenso wie Gender-Differenzen widerspiegeln, steht zu vermuten (Haas und Starnitzke 2015a, 1.9). 2.2 Kulturelle Homogenität? Dass Europa selbst nie homogen war (Nagel 2015, S. 160), weder kulturell noch religiös, beginnen wir nach der jahrhundertelang gültigen bzw. unterstellte Ideen kultureller bzw. nationaler Homogenität erst langsam zu realisieren. Nicht nur an den Rändern Europas (Zypern, Sizilien, Balkan, Spanien, Finnland) sind noch heute Phänomene von Kulturüberlagerungen bzw. von religiösen Synkretismen zu beobachten; auch innerhalb Deutschlands gab es lange Traditionen multikonfessionellen Miteinanders, sei es in den Reichsstädten wie Frankfurt, Augsburg, Regensburg oder Nürnberg, seien es die Traditionen in einzelnen liberalen Fürstentümern bzw. auch Fürstbistümern (z.B. Sayn-Wittgenstein), seien es Enklaven wie Altona oder Friedrichstadt in Schleswig-Holstein. Dass Juden zu dieser Geschichte hinzugehörten, müsste eigentlich nicht mehr betont werden, wenn nicht immer wieder unterschlagen würde, dass ihre Präsenz auch die Präsenz von religiöser Pluralität bedeutete, auch wenn diese nur selten positiv bewertet wurde – was nicht hieß, dass man die jüdischen Ärzte nicht doch konsultierte oder von den Steuern der Juden lebte. Lokalgeschichte (bis hin in die Kirchenbücher) hat immer wieder aufgewiesen, wie bunt das Volk der Händler, (entlassenen) Soldaten und Söldner, der Arbeitsmigranten oder Religionsflüchtlinge war (Ebert et al. 2006). Auch birgt die Geschichte der Hugenotten ebenso wie die der Böhmischen Brüder, die sich z.T. in der Brüdergemeine Zinzendorfs wiederfanden, noch einige Überraschungen

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für die Diakoniegeschichte (Wenzel 2013, Desel 1986), denn in diesen Migrantengemeinden wurden eigene diakonische Strukturen und Organisationen aufgebaut, da die aufnehmenden Fürstentümer die in Not geratenen Flüchtlinge nicht zu ihren Hausarmen zählten, die in der Regel zu kommunaler Unterstützung berechtigt waren (Sachße 1998; Strohm und Klein 2004). 2.3 Ökumenische Erfahrungen als Erfahrungen im Umgang mit Diversität Wir haben es also nicht mit homogenen Subkulturen zu tun, sondern mit mehr oder weniger hoher bzw. ausgeprägter Diversität und interner Pluralität (wie sie wohl allen älteren Organisationen eigen ist). D.h., wir können auch eine gewisse Erfahrung im Umgang damit voraussetzen bzw. unterstellen, die unter den Sprachspielen pyramidaler Organisationen und straff top-down geführter einheitlicher Unternehmen mehr oder weniger verborgen sind. Wir müssen im Gegenteil voraussetzen, dass zumindest die Mitarbeitenden sich ihres typisch protestantischen Individualismus sowohl bewusst sind als auch Strategien entwickelt haben, dies unter wechselnden Leitungsformationen auszuleben. Konsequenz daraus kann m.E. nur sein, sich der eigenen Diversität zu stellen und die Erfahrungen zu reflektieren, mit denen mit dieser Vielfalt bisher umgegangen wurde. Dazu gehören auch die Erfahrungen des ökumenischen Dialogs seit Mitte des 20. Jh., die bei aller Unabgeschlossenheit zumindest das zeigen, dass lange gewachsene und gepflegte theologische, aber auch religionskulturelle Unterschiede nicht einfach durch Konsensoder Kompromissbildungen überwunden, sondern bislang eher ausgehalten und verstanden werden wollen. Die lange und intensiv diskutierten möglichen Zielvorstellungen für den ökumenischen Dialog konvergieren jedenfalls auf evangelischer Seite darin, sie nicht als irgendeine organisationale Einheit, sondern bestenfalls »versöhnte Verschiedenheit«2 oder Einheit in der Vielfalt zu denken – wenn es mittlerweile sogar klar ist, dass wir uns in dem, was uns miteinander verbindet, unterscheiden.3 Wenn sogar von einzelnen Theologen behauptet wird, beim Protestantismus handelte es sich um »Pluralismus aus Prinzip« (Herms 1995), weil jeder Christ in seinem je persönlichen Gottesverhältnis unvertretbar und http://oekumene2017.de/. So mehrfach die Formulierung in der jüngsten EKD-Denkschrift zum interreligiösen Dialog: Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015. 2 3

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individuell verantwortlich ist, dann zeigt das sowohl den Unsinn der Homogenitätsunterstellung als auch die Schwierigkeit der Aufgabe, eine Organisation mit derart ausgeprägtem Individualismus der Mitarbeitenden zu leiten (s. Kap. 5.). Eine weitere Konsequenz aus dieser realen religiösen wie kulturellen Vielfalt ist natürlich die Pflege interkultureller wie interreligiöser Kompetenz, angefangen bei den Modellen kultursensibler Pflege (unter Einschluss der religiösen Dimensionen – nicht erst wenn es ans Sterben oder Trauern geht), sondern auch schon vorher bei Beratung, Seelsorge oder existenzieller Kommunikation.4 Damit wird auch klar, was später noch genauer auszuführen ist, dass sich das Diakonische nicht im Drumherum oder allein religiösen Zusatzangeboten zeigen wird, sondern als vielschichtiges (Religions-)Kulturphänomen. Diese in Kirchen, Diakonie und Caritas vorhandene Diversität und die oft schon über Jahrzehnte erprobten und nicht immer erfolgreichen Strategien im Umgang damit könnten nach innen dazu ermutigen, sich auch anderen, neuartigen Differenzen zu stellen. Nach außen kann sie auch eine Ressource sein, sich den aktuellen Diversitäten in den Sozialräumen der Klienten/NutzerInnen/Betreuten bzw. Quartieren und Regionen welcher Art auch immer zu stellen. Eine uralte Ressource sei zumindest benannt: Bei allen orientalischen Religionen, zu denen ja auch das Christentum zählt, ist bei aller Differenz die Pflege von Gastfreundschaft ein außerordentlich hohes Gut. Es könnte aber auch dazu helfen, mit den sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Religionen über Mitgliedschaft und Gemeinschaft die Themen Zugehörigkeit und Teilhabe konkreter und real komplexer zu denken. 3 Perspektive der Nutzer/Kundinnen/Betreuten: Religion als Menschenrecht Ob sich auch in Zukunft Kunden/Nutzerinnen/Hilfsbedürftige an diakonische Einrichtungen wenden, weiß natürlich niemand. Die gegenwärtigen Trends deuten anders als die Kirchenmitgliederzahlen bei der Diakonie Wachstum an. Was die Menschen dort – und nicht woanders – neben einer auch woanders erhältlichen guten Dienstleistungsqualität suchen, ist nicht klar erforscht; wahrscheinlich ist es ein Mix von Motiven, zu dem neben regionaler Nähe und dem Nachwirken von Milieubindungen auch die Vermutung ge4

Zum Projekt DiakonieCare vgl. Diakonie Deutschland u.a. (2012/2013).

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hört, dass die Dienstleistung nicht (nur) zur Gewinnerzielung, sondern um des Nächsten willen bzw. in ›gemeinnütziger und mildtätiger Absicht‹ erbracht wird, und zwar von Mitarbeitenden, die als authentisch zugewandt und offen erlebt werden (Hofmann 2015, S. 95–98). Dass diese Kunden, Nutzerinnen und Nachfragenden dennoch nicht religiös bevormundet, sondern in ihren individuellen Wünschen und Bedürfnissen wahrgenommen werden wollen, dürfte sich inzwischen von selbst verstehen. Die Freiheit zur (und von) Religionsausübung ist eines der ältesten Menschenrechte (Joas 2011) und einer Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi 2007). Das umfasst nicht zuerst die Freiheit, die eigene christliche Religion einschließlich ihrer diakonischen Implikationen auszuüben – in welcher Form und Organisationsgestalt auch immer. Das umfasst in Situationen religiöser Vielfalt vor allem auch die Sorge dafür, dass Menschen in diesen Kontexten ihr Recht auf (Nicht-)Ausübung nicht nur gewahrt, sondern auch im Sinne von Empowerment zu Autonomie und Teilhabe ermöglicht wird. Auch wird man schwer bestreiten können, dass zur Lebenswelt oft genug Religion/ Spiritualität hinzugehört. 3.1 Religiöse Räume Wem die eigene Religion selber wichtig ist, der kann zwar die aller anderen als falsch abwerten (so oft in der Vergangenheit); er bzw. sie kann aber mit etwas anderer Logik auch Verständnis für die Bedürfnisse anders- oder auch nichtreligiöser Menschen entwickeln. Wer dafür die für die Ausübung der eigenen Religion unverzichtbaren religiösen Räume vorhält, sollte dies auch anderen ermöglichen (Hofmann 2015, S. 94f). Diese Konsequenz wird freilich noch nicht sehr häufig gezogen. Die Idee einer Moschee auf einem alten Anstaltsgelände überrascht dann doch und ist vielleicht auch nachgeholte Verdoppelung. Die Idee eines muslimischen Gebetsraums im Krankenhaus, in dem ja die räumliche Mobilität meist eingeschränkt ist, ist dann schon ebenso angemessen wie das seit Jahrzehnten gewährte Recht auf freie Religionsausübung auch an Orten bzw. in Kontexten, in denen man nicht freiwillig ist (Gefängnis, Militär – die Schulen sperren sich hier merkwürdigerweise). Dass zu den Räumen auch ansprechbare Fachleute, seien es eher Seelsorgende oder Beratende oder Priester, gehören, sollte sich von selbst verstehen. Auch wenn muslimische Seelsorge bisher kein explizites Arbeitsfeld von Imamen ist, scheint doch das von Patienten erlebte Bild der Kranken-

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hausseelsorge ähnliche Bedürfnisse auch bei muslimischen Patienten zu wecken (Ucar und Blasberg-Kuhnke 2013; Aslan et. al. 2015). Unter den Bedingungen von Dezentralisierung und Teilhabe am üblichen sozialen Leben wird es freilich perspektivisch eher darum gehen, keine Sondergemeinden in vermeidbaren Sonderwelten zu gründen, sondern eher die Brücken in vorhandene Gemeinden bzw. Gemeinschaften zu bauen, als Partnerschaften im sozialen Raum zu pflegen und so auch für Nutzer/Klientinnen und Betreute wählund in jeder Bedeutung des Wortes gangbar zu machen. Da liegen die Barrieren oft eher bei den Mitarbeitenden oder Verantwortlichen als bei den Klienten … Nun warten diese Gemeinden – auch die christlichen! – nicht immer auf diese Menschen, weil sie auf Grund der dauernden organisatorischen Umstrukturierung eher mit sich selbst beschäftigt sind, andere Programmschwerpunkt haben oder einfach ungeübt in Wahrnehmung, Umgang und Kommunikation sind, besonders wenn es sich um mehrfach eingeschränkte Menschen handelt. Gelegentliche gemeinsame Gottesdienste oder Feiern werden da angemessener sein und eher in die Logik der oft schon geübten Gottesdienstangebote für unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Themen und Bedürfnissen passen (jedenfalls bei christlichen Gottesdiensten, die diese Differenzierung schon länger kennen). 3.2 Religiöse Zeiten und Riten Auf Räume aber lässt sich dieses Thema nicht einschränken, denn Religionen ordnen nicht nur Räume und sondern heilige Räume aus dem Getriebe des Alltags aus, um ebenso Transzendenz wie Besinnung auf sich selbst zu ermöglichen bzw. erfahrbar zu machen. Alle Religionen gestalten auch Zeit: Tageszeit, Jahreszeit, Lebenszeit. Und sie begehen diese Zeitläufte mit unterschiedlichen Ritualen. Diese Optionen Menschen anderer Religion als der eignen zu verweigern, heißt, das Menschenrecht auf Religionsausübung zu verletzen (Hofmann 2015, S. 93). Wer mit Klienten arbeitet, seien es Kinder oder ältere Menschen oder Kranke oder Menschen mit Behinderungen, kann es nicht vermeiden, mit ihnen Zeit zu verbringen und diese mit ihnen zu gestalten und zu strukturieren. Dass man Zeiten auch anders strukturieren kann, dass die Angebote sich vervielfältigen und mischen, schließt deren religiöse Gestaltung freilich nicht aus, sondern als eine mögliche Option bzw. Dimension ein, egal ob mit innerer Überzeugung mitvollzogen oder nicht (ebd., S. 97). Zur Lebenszeitlogik gehören insbesondere die Feiern der lebens- oder berufsbiografischen Wendepunkte, der großen wie der kleinen, weil sie eine

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der Gestaltungsoptionen sind, bei denen die unverwechselbare Individualität und Würde jedes/r Einzelnen erlebbar wird und nicht theoretisches Postulat bleibt. 3.3 Interreligiöse Basiskompetenz Dies eben Genannte (3.1/3.2) muss zumindest möglich sein, und zwar in dem Sinne als echte Möglichkeit, also eine, die erkannt, bedacht und angeboten wird bzw. abgelehnt werden kann, auch wenn sie sich nicht sonnenklar äußern kann. Das erfordert von allen Sozialprofessionellen eine basale religiöse Kompetenz (LobHüdepohl 2015, S. 113ff), nicht weil es ein Beruf (auch) aus christlicher Tradition ist, sondern weil er sich selbst als Menschenrechtsprofession versteht (Staub-Bernasconi 2007). Dass dies nicht geschieht, ist wohl eher ein Problem säkularer Träger – für die Diakonie stellt es sich als Problem, die Vielfalt religiöser Prägungen und Traditionen gestalten zu können, und zwar nicht nur als eigene, sondern auch als Übernahme von (Mit-)Verantwortung für die Gestaltung der Religion der Anderen, wenn diese dazu aus welchen Gründen auch immer nicht selbst in der Lage sind. Dazu werden die sozialen und pflegerischen Fachkräfte nicht immer allein in der Lage sein. Basale religiöse Kompetenz wird aber erforderlich sein, um zu den entsprechenden Fachleuten, Gemeinden, Vereinen und Institutionen im sozialen Raum nicht nur arbeitsfähige Kontakte herzustellen (»Vernetzung«), sondern darüber hinaus gute Gastgeberschaft zu üben. Das impliziert, selber so zu feiern, dass andere als Gäste willkommen sind und teilhaben können. Das wiederum setzt zur eigenen Religiosität bzw. (weiter gefasst:) Spiritualität ein geklärtes Verhältnis bzw. einen eigenen Standpunkt bzw. den des Trägers voraus. Geklärt ist dieses Verhältnis auch dann, wenn sich jemand selbst als suchend versteht, wozu es ja in der Religion selbst die größten Vorbilder gibt (Nagel 2015, S. 164f). Respekt gegenüber dieser Lebensdimension in ihrer wachsenden und sich überlagernden Vielfalt5 ist keine diffuse Haltungsvoraussetzung, sondern ein klar bei jedem Vollzug religiöser oder anderer Riten beobachtbares Merkmal der Tätigkeit sozialer und pflegerischer Fachkräfte. Hier ist die Vorreiterrolle der katholischen Kirche im 2. Vatikanischen Konzil hervorzuheben (Lob-Hüdepohl 2015). Weihnachten hat schon seit Jahrzehnten die Kraft, in andere Religionen einzuwandern (vgl. den Film »Almanya« der Regisseurin Yasemin Şamdereli; Kugelmann 2015).

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Diakonie und Caritas sind hier in einer spezifisch anderen Lage als die Kirchen, weil deren Kunden/Nutzerinnen/Betreute schon lange nicht mehr dem eigenen konfessionellen Milieu entstammen; aber auch die Kirchen beginnen zu realisieren, dass in ihren Nachbarschaften Menschen anderer Religionen und Spiritualitäten leben, zu denen sie nachbarschaftliche Beziehungen der gegenseitigen Gastfreundschaft oder mehr pflegen können. Wenn in diesem Kontext von »Mission« die Rede ist, dann nicht als Versuch, anderen den eigenen Glauben aufzudrängen oder überzustülpen, sondern als Treue zur eigenen Tradition und zum eigenen Auftrag (englisch: mission). Schon länger gibt es Handreichungen zur Frage, ob und wie man mit Menschen anderer Religionen zusammen Gottesdienst feiern kann (z.B. beim Schulanfang oder auch im Kontext von Trauergottesdiensten nach größeren Katastrophen). Es gibt sogar schon Gemeindezentren, die sich zu multireligiösen Nachbarschaftszentren transformieren.6 Jüngst hat die Evangelische Kirche im Rheinland eine weiter führendes Werkbuch »In Vielfalt leben« erarbeitet, in dem sowohl grundsätzliche Erwägungen zur interkulturellen Öffnung der Kirche angestellt werden als auch für viele Arbeitsfelder von der Kita (immerhin knapp die Hälfte aller Kitas ist in kirchlicher Trägerschaft) über Jugend- und Studierendenarbeit, die Stadtteilarbeit bis hin zur Seelsorge und Dialogarbeit konkrete Anregungen gegeben werden.7 4 Perspektive der Mitarbeitenden: Öffnung für Mitarbeitende anderer Religionen! 4.1 Kirchliche und staatliche Rechtslage Die bisherige Rechtslage regelt die sog. Loyalitätsrichtlinie, die von einer grundsätzlichen Kirchenmitgliedschaft der Mitarbeitenden in Kirche und Diakonie ausgeht, aber differenzierte und begründete Ausnahmen zulässt.8 Sie wird gegenwärtig anlässlich der Thesen des Brüsseler Kreises diakonischer und caritativer Unternehmen heiß diskutiert (Haas und Starnitzke 2015). Z.B.: In Bochum-Stahlhausen: http://soan-architekten.de/de/projekte/gemeinde zentren/gemeindezentrum-friedenskirche.html und http://q1-bochum.de/ (Zugriffe am 11.4.2016). 7 Vgl. zu diesem (www.ekir.de/url/Ekk) und weiteren Werkbüchern die Seite http://wir-wollen-vielfalt.de/mediathek/herunterladen/ (Zugriffe am 11.04.2016). 8 www.ekd.de/EKD-Texte/loyalitaetsrichtlinie.html (Zugriff am 31.03.2016). 6

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Faktisch werden inzwischen nicht nur dann, wenn es keine geeigneten christlichen Bewerber/innen für eine Stelle gibt, auch nichtchristliche Bewerber/innen eingestellt (außer im Bereich Verkündigung, Seelsorge, Bildung, Leitung), sondern auch aus fachlichen Gründen (z.B. für die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge aus dem islamischen Raum), die in dieser Richtlinie (noch) nicht vorgesehen sind, aber zur Not von ihr gedeckt werden (Conring 2015, S. 74; Hofmann 2015, S. 91; Hofmann 2016, S. 101). Auch die religiöse Vielfalt in der Mitarbeiterschaft evangelischer Krankenhäuser ist inzwischen Realität – ob diese Vielfalt die Ineffektivität oder das Nichtausreichen der Loyalitätsrichtlinie zeigt, ist offen.9 Nicht erst das schon erwähnte Urteil des Bundesarbeitsgerichts, sondern auch kirchliche Grundordnungen billigen die Praxis, dass die Dienstgemeinschaft größer als die Gemeinschaft der Getauften ist (Conring 2015, S. 81f). Für die Dienstgemeinschaft ist laut staatlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung die Kirchenmitgliedschaft kein notwendiges Erfordernis (sondern mögliche kirchliche Rechtssetzung), weil es in einem diakonischen Unternehmen um Arbeitsverhältnisse mit klaren Verhaltenserwartungen, nicht um eine ordensähnliche Lebens- und Arbeitsgemeinschaft geht (Hammer 2015, S. 136.141.143). Hier und da wird sie in diakonischen Unternehmen schon ganz fallen gelassen, dann aber durch eine Bindung bzw. ein Commitment auf das Leitbild und die Grundsätze der diakonischen Unternehmung ersetzt – dies übrigens ganz im üblichen Sinne der von jedem Mitarbeitenden in jedem Unternehmen erwartbaren Loyalität zum Arbeitgeber.10 Diese Öffnung für Mitarbeitende anderer Überzeugung theologisch durch das dem universalen (= alle inkludierenden) Heilshandeln Gottes entsprechende universelle Hilfeethos begründet und die Frage der Konfessionsbindung von der Konfessionsbindung der Mitarbeitenden weg hin zu der Bindung an Grundlage bzw. das Leitbild des Unternehmens verlagert.11 Ungeachtet der Frage, ob hier nicht die theologische Grundaufgabe missachtet wird, göttliches und menschliches Handeln zu unterscheiden und nicht vorschnell analog zu setzen (so auch ähnlich die Eurich (2016, S. 97 mit Bezug auf Diakonie Deutschland 2013) betont die Notwendigkeit der Wertschätzung und des diversity management (ebd., S. 98). 10 Haas und Starnitzke 2015a, S. 250f – Sarikaya (2015, S. 215) bemerkt, dass auch die »Deutungshoheit« für dieses Leitbild bei der Leitung liegt – eine sachlich nicht notwendige Einschränkung (dazu unten Kap. 5.) 11 Haas und Starnitzke 2015b, S. 57; s. dazu Kap 5.: freilich mit anderen Gründen: nicht denen des Kirchenrechts, sondern mit Hilfe eines systemischen Organisationsbegriffs. 9

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Kritik des Juristen Conring 2015, S. 70f., Fußnote 54–56), wird m.E. zurecht auf die in der Bibel an vielen Stellen zu beobachtende Öffnung hin zu Nichtmitgliedern des jüdischen Volkes wie der christlichen Gemeinde verwiesen: Dies muss berücksichtigt werden, aber auf einen andere als die vorgeschlagene Weise. 4.2 Notwendige Differenzierungen im Mitgliedschaftsrecht Man wird die Konfessionsbindung nicht einfach von den Überzeugungen der Mitarbeitenden, die sich – jedenfalls traditioneller- und idealerweise – in der Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche äußern, lösen und auf die Konfessionsbindung eines Unternehmens verlagern können. Denn die spezifischen Dienstleistungen der Diakonie sind, wie unten in Kap. 6 gezeigt werden wird, so sehr mit der Person, der Beziehungsarbeit und den Überzeugungen der Mitarbeitenden verknüpft, dass sie eine nicht nur ein einmalige Frage bei der Einstellung, sondern ein permanent relevantes Thema im Arbeitsalltag bleiben. Diakonische Dienstleistungen im Rahmen der Auftrags- und Dienstgemeinschaft sind für alle daran Mitarbeitenden nicht nur einfach äußerlich anweisbare Handlungen (das auch), sondern immer auch Ausfluss und Folge ihrer inneren auch religiösen Überzeugungen. Wenn das so ist, reicht das Kriterium formaler Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche sicher nicht aus. Ebenso wenig kann ausgeschlossen werden, dass es ›Menschen guten Willens‹12 bzw. geeigneter religiös grundierter Fachlichkeit auch außerhalb der (Mauern der) Kirche gibt. Dies ist ein uralter biblischer Gedanke, dass Menschen auch außerhalb der jüdisch-christlichen Gemeinschaft bewusst oder unbewusst den göttlichen Willen erfüllen.13 Lk 2,14 – in der Fassung der Vulgata (»Gloria in altissimis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis«); im griechischen Original und den aktuellen evangelischen wie katholischen Übersetzungen handelt es sich bei dem Genitiv von »Menschen guten Willens« eher um die Menschen des guten (sc. göttlichen) Willens bzw. Wohlgefallens (griechisch: eudokía) bzw. seiner göttlichen Gnade. Sei es, wie es sei, solange der gute Wille keinen heilsbedingenden und ausschließenden Charakter hat (nur wer einen guten Willen hat, ist in den göttlichen Frieden eingeschlossen), sondern als vorfindlich wahrgenommen wird. 13 Auch die Forschungen von Hans Küng zum Weltethos deuten auf ein transkulturelles Vorkommen zumindest der Goldenen Regel (Mt 7,13; Mt 25; 27,54; Lk 6,31; Röm 13,8–10, Gal 5,14). Zum Beispiel wird der persische König Kyros schon in der Hebräischen Bibel als Gottes Werkzeug bei der Beendigung des Babylonischen Exils angesehen (vgl. Jes 44f.). Weitere Belege finden sich in den ersten beiden Kapiteln des Römerbriefes. In ähnlicher Weise hat Hans Küng in seinem Weltethos-Projekt die Konvergenz ethischer Grundmaximen verschiedener Religionen (Goldene Regel, Mt 7,12) herausgearbeitet. 12

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Die Frage der tatsächlichen arbeitnehmerüblichen Loyalität entscheidet sich nicht im Einstellungsgespräch, sondern später; auch die faktische Bindung an das Leitbild oder die Passung zur diakonischen Unternehmenskultur einschließlich ihrer nicht so bewussten Aspekte (Hofmann, 2015/ 2016). Das hat drei Folgen: Erstens braucht es klare Informationen und Schulungen darüber, wie ein diakonischer Arbeitgeber seine diakonische Kultur so versteht, dass sie die Arbeitsprozesse prägt und bestimmt. Das geschieht inzwischen immer häufiger, z.B. in Grundkursen diakonischer Bildung, die Bringschuld des Trägers und für alle neuen Mitarbeitenden verpflichtend sind (so auch Hofmann 2015). Zweitens braucht es die Etablierung einer kontinuierlichen, regelmäßigen Diskussionskultur, in der religiöse ebenso wie diakonischtheologische Fragen in Personalentwicklungs-, Dienst- und Fallgesprächen zum Thema werden. Es braucht nicht nur die managementtypische Setzung von bzw. Steuerung über Ziele, sondern auf Grundlage eines umfassenderen Ethikverständnisses, das Tugenden (Motive), Normen (Regeln) und Ziele (Güter) umfasst (Härle 2011, S. 81–92; 207–228), auch eine regelmäßige Vergewisserung, die fachlich soziale wie allgemein humane und auch christliche Dimensionen dieser drei Kriterien umfasst. Erste Erfahrungen mit nichtchristlichen Mitarbeitenden in der Diakonie zeigen, dass dies besonders gut gelingt, wenn die Mitarbeiterschaft religiös plural ist bzw. ein muslimischer Vorgesetzter seine christlichen Mitarbeitenden darauf anspricht.14 Der christliche Geist eines diakonischen Unternehmens wirkt auch jenseits von christlich profiliertem Leitbild und theologisch verantwortlichem Management. Ein christlich inspiriertes Leitbild muss sogar damit rechnen, dass der nächste neue Mitarbeitende, der nicht an diesem Prozess beteiligt war, etwas wesentlich Christliches neu entdeckt und einbringt.15 Drittens muss das Kriterium Mitgliedschaft erweitert und ergänzt werden. Die schlichte Alternative »Mitglied« oder »Nichtmitglied« in einer evangelischen oder christlichen Kirche reichte schon in der

Vgl. die Beispiele und Statements in: Religiöse und kulturelle Vielfalt (Reihe: bethel > wissen. Fachthemenreihe der Stiftungen Sarepta | Nazareth, Ausgabe 2). Auch Zippert 2013. 15 Leitbilder – herausgenommen aus dem Kontext der Managementlehre und transferiert in den Kontext der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie – werden nicht von der Leitung (Bischöfen, Vorstehern) entschieden, sondern von Synoden bzw. Konzilien. 14

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Antike nicht aus, die soziale Wirklichkeit von Kirche bzw. Gemeinde zu beschreiben. Es braucht Differenzierungen und Abstufungen. Wie das Judentum kannte wohl auch das frühe Christentum die »Gottesfürchtigen« als die, die sich zwar zur Gemeinde hielten, aber noch nicht Mitglied wurden bzw. sich taufen oder beschneiden ließen (van Henten 2000). Heute würde man sie wohl Interessierte oder Sympathisanten nennen. Vereine ebenso wie die katholische Kirche kennen die Unterscheidung von aktiven bzw. praktizierenden und passiven Mitgliedern. Die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau hat 1992 in ihrem Perspektivpapier »Person und Institution Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft« das Mitgliederverhalten aus der Perspektive der Mitglieder auf einleuchtende Weise differenziert: 1. »An Lebens(lauf)-Situationen orientierte Wahrnehmung der Mitgliedschaft (kirchenbezogene Mitgliedschaft) […], 2. Sozialräumlich geprägte Wahrnehmung der Mitgliedschaft in Ortsgemeinden/Parochien (ortsgemeindliche Mitgliedschaft) […], 3. Sachbezogen geprägte Wahrnehmung der Mitgliedschaft in ortsungebundenen Gruppen-Gemeinden […, z.B.: Bewegungen, Kirchenmusik], 4. Frömmigkeits- und Lebensstil geprägte Wahrnehmung der Mitgliedschaft in ortsunabhängigen (Ekklesiola)-Gemeinden […], 5. Kompetenz- und angebotsorientierte Wahrnehmung von Kirchenmitgliedschaft in Veranstaltungen und Dienstleistungen [… – hier wird auch die Wahrnehmung von Angeboten der Diakonie genannt], 6. Raum- und ressourcenorientierte Wahrnehmung von Kirchenmitgliedschaft und Kirchenbezug […, z.B. Selbsthilfegruppen, die kirchliche Räume nutzen], 7. Wahrnehmung von Kirchenmitgliedschaft als soziale Verantwortlichkeit […, z.B.: durch Spenden].« (S. 88f.) Dies lässt sich nicht als Differenzierungen innerhalb eines Mitgliedschaftsverhältnisses, sondern auch als Differenzierungsoptionen unterschiedlicher Nutzungs- bzw. Bindungsverhältnisse verstehen und weiter ausdifferenzieren. Alexander K. Nagel weist in seiner Analyse nach, dass es neue Formen religiöser Vergemeinschaftung und Zugehörigkeit gibt: Szenen, Events, Lifestyles (Nagel 2015, S. 153f). Die Lage wird sich weiter verkomplizieren, wenn es immer mehr Kinder aus gemischt religiösen Familien geben wird, die in zwei Religionen aufwachsen und zu beiden Zugehörigkeit empfinden (Bernhardt/Schmidt-Leukel 2008).

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All dies ist sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Sicher aber ist es unzureichend, dies mit einer schlichten zweiwertigen Logik »Mitglied – Nichtmitglied« abzubilden; hier ist kirchenrechtliche Fantasie gefordert. Dafür sprechen auch theologische Gründe, dass nach evangelischem Verständnis sichtbare und unsichtbare Kirche nicht deckungsgleich sind, man/frau also dem Geiste nach Kirchenmitglied sein kann, ohne es explizit zu vollziehen, und umgekehrt. Auf dem Hintergrund einer solchen differenzierten Vielfalt wird man dann auch Nichtkirchenmitglieder auf neue Formen von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit befragen können bzw. das Arbeitsverhältnis bei einem diakonischen Träger schon als eine mögliche Form der Zugehörigkeit werten können. Vorausgesetzt dabei aber ist die heute nicht sehr verbreitete Einsicht, dass sich Überzeugungen zwar individuell ausdrücken, aber sozial entstehen, sich auswirken und gelebt werden. Selbst der zeittypische Individualismus ist ja Teil einer Kultur und eine sozial geteilte Überzeugung, die sich dessen ohne Kontakt zu anderen Kulturen nur selten bewusst wird. Wechseln wir die Perspektive vom Mitarbeitenden und seinen Zugehörigkeiten und (Gast-/Teil-/Probe-)Mitgliedschaften, sind wir schon beim nächsten Thema: 5 Die Perspektive der Organisation: Das Diakonische als Dienstgemeinschaft mit Menschen guten Willens 5.1 Diakonie zwischen den Stühlen: die Vielfalt der Aufträge Kirche steht mit ihren Gemeinden, die ja meist aus Eingeborenen und seltener aus Migranten bestehen, vor anderen Herausforderungen als die Diakonie, die sich als staatliche refinanzierte und regulierte Institution allen öffnet bzw. öffnen muss, die ein Recht auf dieses Hilfs- bzw. Unterstützungsangebot haben. Bei genauerem Hinsehen freilich ist der Unterschied nicht mehr so groß. Sowohl Diakonie wie Kirche verstehen sich seit einiger Zeit als Hybrid bzw. hybride oder multirationale Organisationsformen (Hauschildt und Pohl Patalong, 2013, S. 117–219; Eurich, 2016, S. 90; Zippert 2016a), also als Organisationen, die zur selben Zeit mit unterschiedlichen Logiken der Organisiertheit und von daher auch der Mitgliedschaftsrollen funktionieren. Kirche ist nach Pohl-Patalong und Hauschildt: – sowohl »Gruppe, Gemeinschaft und Bewegung« – als auch »Institution und Volkskirche« – als auch »Organisation und das ›Unternehmen Kirche‹« (2013, S. 7f.).

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Die Diakonie teilt diesen Hybridcharakter: Sie hat am selben Auftrag wie die Kirche Anteil und ist eine Auftragsgemeinschaft (Conring 2015, S. 80ff). Für die Diakonie aber wird es noch komplexer, denn sie bekommt auch von anderen Seiten und Instanzen Aufträge, von denen nicht auszugehen ist, dass sie immer widerspruchsfrei mit den ursprünglichen Aufträgen konvergieren: Zunächst ist der staatliche Gesetzgeber als Kostenträger und Kontrollinstanz Auftraggeber. Dann sind es – seit einiger Zeit durch eben diese Gesetzgebung – die Kunden/Nutzerinnen/Patienten selber im Rahmen ihrer Freiheit, ihres Wunsch- und Wahlrechtes, auch wenn sie dabei selbst (teil-)vertreten werden müssen. Drittens wirken sich die sich ständig wandelnden fachlichen Standards auf Ziele und Methoden der Angebote bzw. des Settings, in dem Angebote mit den Betroffenen zusammen entwickelt werden, aus. Viertens ist da vor allem unter Bedingungen der Dezentralisierung noch die Nachbarschaft, die dies oder jenes ermöglicht oder auch nicht toleriert. Dass fünftens ein Träger ein Interesse an Selbsterhaltung durch kluges Organisieren und Wirtschaften hat und dafür betriebliche Hierarchien und Prozesse setzt, versteht sich von selbst, ist aber nicht identisch mit den Aufträgen diakonischer Einrichtungen als Teil der christlichen Auftragsgemeinschaft. Wir haben es also nicht mit zwei oder drei Mandaten wie in der klassischen Sozialarbeit, sondern mit wenigstens sechs zu tun, die nicht immer leicht überein zu bringen sind.16 Man mag dies als zu kompliziert empfinden. Umgekehrt ist die Reduktion auf nur zwei oder drei Mandate unterkomplex, unsachgemäß und unrealistisch. Methoden, damit umzugehen, liegen zum Teil vor, zum Teil fehlen sie noch, denn einerseits ist das Übereinbringen dieser vielfältigen Perspektiven schon immer eine klassische Managementaufgabe gewesen, andererseits hat angesichts dieser inzwischen ja auch rechtlich abgesicherten An- und Einspruchsinstanzen nicht mehr automatisch die Leitung das letzte Wort. Folglich dürfte auch nicht mehr die ökonomische Logik eines Leistungsträgers das einzige Entscheidungsparadigma bzw. die entscheidende Letztinstanz sein. Dass gegenwärtig in vielen Einrichtungen nach dem Vorbild von Krankenhaus-Ethikkommissionen Ethikkommissionen eingerichtet werden, spricht dafür, dass es zunehmend Entscheidungsbedarfe gibt, für die es komplexere und zugleich transparenter geregelte Verfahren der Entscheidungsfindung unter den sehr unterschiedlich betroffenen Beteiligten braucht. Als Antworten auf eine analoge Herausforderung kann man auch die Verfahren der integrierten In Fortsetzung von älteren Gedanken von Dierk Starnitzke (1996), Thomas Zippert (2016a). 16

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Teilhabe- oder Lebensplanung verstehen, weil keine der beteiligten (mindestens) sechs Instanzen (Staat, Kostenträger, Leistungsträger, Betroffene, Fachliche Standards, Nachbarschaften usw.) das alleinige oder dominante Bestimmungsrecht mehr hat.17 Schauen wir noch einmal zurück auf die Kirche und ihre Ortsgemeinden, die für diakonische Organisationen teilweise als externe Einrichtungen der Nachbarschaft bzw. Zivilgesellschaft erscheinen, so wird deutlich, wie sehr sich diese Gemeinden in ihrem Umfeld neuen Diversitäten ausgesetzt sehen und sich ihnen zu stellen haben. Sie stehen nicht nur vor der Aufgabe, mit Gemeinden anderer Sprache gute Nachbarschaft und Ökumene zu pflegen, was hier und dort geschieht.18 Als genuine Partner von Diakonie und Caritas im Sozialen Raum, in Quartieren und Regionen haben sie ferner die Aufgabe, sich zu dem, was Diakonie und Caritas als ihren christlichen Auftrag verstehen und auf je ihre Weise erfüllen, ebenfalls ins Verhältnis zu setzen, sprich: gute Nachbarschaft zu pflegen und im Sinn der Option für die Armen (Lob-Hüdepohl 2015) die im Auge zu behalten, die am Rand stehen, von Ausschluss bedroht sind, auch wenn für sie der Sozialstaat schon (sc. teilweise!) sorgt. 5.2 Unvermeidliche Prozesshaftigkeit Damit ist im Blick auf diakonische Unternehmen bzw. Organisationen klar, dass sie einfach einen so oder so verstandenen christlichen Auftrag erfüllen, der in einem Leitbild zumindest für eine gewisse Zeit fixiert und von den Mitarbeitenden zu akzeptieren ist. Vielmehr muss dieses Mandat ebenso wie die anderen immer wieder eingebracht, überprüft und revidiert werden. Es versteht sich nichts mehr von selbst. Diese Auflösung von vorher eher statisch oder hier hierarchisch gedachten Unternehmens- bzw. Organisationsstrukturen in Prozessen ist gleichwohl auch schon in Managementtheorien angekommen, so auch in der neuesten (vierten) Fassung des St. Galler Management Modells (Rüegg-Stürm 2015a). In der Diskussion der Thesen des Brüsseler Kreises weist der Autor dieses Modells auch

Dass es hier auf Grund der politisch gewollten Knappheit in diesem System zu Asymmetrien kommt, ist klar, wohl unvermeidbar, aber es sollte unter demokratischen Bedingungen auch veränderbar sein, und zwar nicht nur im Sinne einer Majoritätsentscheidung gegen unterstützungsberechtigte und -bedürftige Minderheiten. 18 Vgl. die Zusammenstellung auf www.ekd.de/international/islam/dokumente/ handreichungen.html. 17

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explizit und eindringlich auf diese unvermeidliche Prozesshaftigkeit hin (Rüegg-Stürm 2015b, S. 172). Was bei allem Wechsel der Mitarbeitenden mit gewisser Kontinuität bleibt, sind organisationale Routinen. Aber auch die sind in Abständen revisions- und auditionsbedürftig. Die Vergewisserung bzw. »dauernde Rekonstruktion« der Identität ist »keine kognitive Aufgabe des Vorsitzenden, sondern eine kollektive Aufgabe« (ebd. S. 176). Es geht als nicht um diffuse »Werte«, die oft genug Platzhalter für Beliebiges oder black boxes sind, sondern: »… das, was man als christliche Tradition versteht, [muss] übersetzt sein in die eigenen Prozesse und die eigene Praxis, und zwar nicht in eine Wertebeschreibung, sondern in eine konkrete Form der Praxis« (ebd. S. 179), sprich: organisationale Routinen und Entscheidungssituationen (wo es um tatsächliche Alternativen geht) – Dafür braucht es nicht »Entscheidungscharisma« als Chefsache (S. 181), sondern den immer neuen Anstoß dieser Prozesse (S. 183). Führungskräfte müssen dafür Räume schaffen, denn nicht ihre Überzeugungen seien entscheidend, sondern ihre Rolle als Kulturträger bzw. -förderer (Hofmann 2016, S. 107). Mit diesen Schlussfolgerungen, die sich aus der Vielfalt der Mandate bzw. Auftraggeber ebenso wie aus einem spezifischen systemischen Verständnis von Unternehmen ergeben, ändert sich das Verständnis von Leitung und ihrer spezifischen Leitungsverantwortung. Denn unter systemischen Bedingungen sind nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Leitungspersonen nicht Teil des Systems (das sind nur die Entscheidungen und Relationen), sondern sie sind Umwelt des Systems Organisation, die innerhalb des Systems immer wieder Impulse setzt bzw. an die christliche Herkunft und deren Aufträge erinnert, ohne gewiss sein zu können, was daraus wird – bis dieser Prozess bzw. diese Entscheidung erneut Aufmerksamkeit findet. Das Gute, was jeder Beteiligte im System hoffentlich wollen mag, versteht sich nicht mehr von selbst. Die »Güte« der Prozesse und Entscheidungen im doppelten Sinn bleibt im dauernden Diskurs (Hofmann 2015, S. 96). Das sollte sich für die Theologie von selbst verstehen, denn es ist tiefste christliche Überzeugung, dass wir Gottes Güte nicht besitzen oder dass sie an der Kirchenmitgliedschaft hängt. Die wie auch immer zertifizierte »Güte« unseres fachlichen Handelns (immer noch im doppelten Sinn?) spiegelte schon in vermeintlich geschlossenen konfessionellen Milieus nicht automatisch die göttliche Güte wider. Gelegentlich zeigt sich göttliche Güte (oder die Güte des Lebens) oft auch für die Betroffenen zunächst im Gegenteil ihrer selbst (so wie es den Schmerz einer

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Operation braucht, um Leiden zu lindern, oder eine bedrückende Krise, um neue Wege zu entdecken). Die vierte und fünfte These des Brüsseler Kreises sieht dies durchaus anders: Sie sprechen zwar vom konfessionellen Überzeugungspluralismus und füllen ihn mit einem christlich begründeten Inklusionsverständnis (Haas und Starnitzke 2015b, S. 22f.56–62); sie meinen aber den der Organisation und nicht den der Mitarbeitenden, der zwar nicht negiert, sondern in großer Weite (S. 52) akzeptiert wird. Dieses so skizzierte Selbstverständnis freilich ist »verbindlich« und »verpflichtend« zu machen (S. 23); es ist »vornormativer Erfahrungshintergrund und metaethischer kritischer Maßstab« (S. 58), denn die »Deutungshoheit« (ebd. S. 53) liegt bei der Führung und ist keine Sache des Diskurses. Die Deutungshoheit liegt beim christlichen Hilfehandeln, auf das man sich nur einlassen kann, was andere Begründungen von Inklusion nicht ausschließt (ebd. S. 58). Ähnlich verfährt de facto Bethel, denn »Die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag ist wichtiges Thema unserer Personalarbeit.« (Bethel 2015, S. 21) Die Bringschuld der Leitung wird klar benannt, nämlich das Selbstverständnis zu verdeutlichen und die »darauf bezogenen Erwartungen« an Bewerber/innen klar zu benennen. Unklar wird es, wenn gesagt wird: »Wir thematisieren die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag und unserer Unternehmenskultur« bzw. »Wir machen die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag zum Thema der Personalentwicklung« (ebd.): Denn es ist unklar, welche Art und welches Maß von Identifikation gemeint ist. Es ist ebenso unklar, wer die Deutungshoheit hat oder diese im Ernstfall ausübt und ob dieser Auftrag nicht selber einer ist, den man sich nur interpretierend, d.h. modifizierend aneignen und ihn umsetzen kann. 5.3 Geschichten und Geschichtlichkeit Damit wiederholt sich für die Organisation und ihre Mitarbeitenden etwas, was wir in Kap. 3 für die Notwendigkeit von Räumen und Zeiten für Religion konstatiert haben. Wenn es organisationale bzw. Unternehmensroutinen nicht erlauben (sei es aus Dominanzgründen, aus Zeit- oder Geld- bzw. Refinanzierungsmangel), dass es solche Orte und Zeiten für diese Diskurse gibt, wird sich Diakonie auflösen auf Grund der längeren Hebel von Staat und Markt oder in durch Druck aufrecht erhaltener Traditionsorientierung erstarren. Organisationen auf Entscheidungen und Prozesse zu reduzieren, würde die gesamte Wohlfahrt dahin bringen, wo die Altenpflege schon lange ist und wo sie schon länger von weg will.

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Es braucht also Orte und Zeiten, wo sich gegebene Prägungen, Gewissheiten und Ideen über die Güte des Handelns zeigen und diskutiert werden können, wo sich Neues entwickeln kann oder in der Kunst des Kompromisses zumindest vertretbare Entscheidungen getroffen werden können. Ein Unternehmen ist klug beraten, wenn dies nicht ausschließlich in der Pause geschieht. Dies müssten Orte und Zeiten sein, wo sich Religiosität oder das Commitment der Mitarbeitenden zeigen kann bzw. an konkreten Entscheidungen verifizieren lässt oder wo es umgekehrt neuen Mitarbeitenden an Hand aktueller oder früherer Entscheidungen erzählt werden kann: »So ist es hier üblich.« Bei diesen Gelegenheiten kann sich auch Neues aus Religion, Herkunft oder Prägung nichtchristlicher Mitarbeitenden an Handlungsimpulsen, -zielen und -normen zeigen bzw. es kann Neues in der Kunst des guten Kompromisses entstehen (Hofmann 2016, S. 104). Mit diesen Narrationen, die genauso für Familienunternehmen wie Diakonische Organisationen konstitutiv zu sein scheinen (Hofmann, 2015; Zwack 2011), weil sie die Relationen, die Beziehungsqualität und auch die Räume möglicher Entscheidungsalternativen (»Das haben wir hier noch nie so gemacht!«) bestimmen, verlassen wir freilich das Paradigma eines rein systemischen Organisationsverständnisses. Eine Organisation ist nicht nur durch ihre Entscheidungen und Arbeits- und Ergebnisprozesse definiert, sondern bestimmt sich selbst in Erzählungen, die auf tiefer liegende Schichten – eben die Geschichte der Beteiligten – verweisen. Unternehmenskultur ist nie nur eine Gestaltungsaufgabe, sondern besteht auch aus der Menge des Erzählten (und Verschwiegenen). Über diese Erzählungen erreicht man die tieferliegenden unbewussten, oft sehr bestimmenden Schichten des Unternehmens und seiner Kultur (leichter), sei es, dass man dies mit dem Bild des Eisberg oder schöner dem der Wasserlilie beschreibt.19 Für das Miteinander der Mitarbeitenden braucht es von der Leitung zu verantwortende Inkulturationsanstrengungen in Form von Aufklärung über das jeweilige Verständnis des christlich-diakonischen Auftrags, von Erzählungen, gemeinsamen Ritualen, auch einer gemeinsamen Symbolsprache, die sicher nicht ohne christliche Symbole auskommen, aber nicht auf sie beschränkt sein wird (Hofmann, 2016, S. 108).Freilich kann nur die Teilnahme verpflichtend gemacht werden – ob diese Erzählungen, Symbole, Riten auch Resonanz oder gar Zustimmung finden und wie sie weiter erzählt werden, ist nicht steuerbar (S. 110). Hofmann 2016; S. 108; 2015, S. 92, 98ff. Bezeichnenderweise enthält die von Haas und Starnitzke vorgelegte Matrix der »Identität und Identitätstreiber im Unternehmen« (Haas und Starnitzke, S. 28) diese Dimension nicht.

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So lässt sich also die konfessionelle Bindung oder Orientierung eben nicht durch Übertragung weg von den Mitarbeitenden und ihrer Religion im Sinne von innerer Bindung hin auf die Organisation und deren konfessionelle Bindung sichern, denn auch in den Prozessen der Organisation bleibt es offen bzw. ist das Entscheidende nicht fassbar bzw. determinierbar. Der in der Tat realen Gefahr einer gestaltlosen Diskurskultur (Haas und Starnitzke 2015b, S. 62) wird man freilich so nicht entgehen können – eher braucht es Qualitätsmaßstäbe für die Güte dieser Überzeugungsdiskurse. Das Konzept »Kulturelle und religiöse Vielfalt in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel« stellt sich der Vielfalt realitätsnäher: – Interkulturelle Kompetenz schließt auch die Wahrnehmung und kritische Überprüfung kulturspezifischer Erklärungsmuster von Krankheit und Behinderung ein (S. 14f.) – dieser Diskurs steht in der Tat ja noch sehr am Anfang! – Man sucht nicht nur die Begegnung, sondern auch die Anstellung von Mitarbeitenden aus verschiedenen Religionen und Kulturen (ebd., S. 15). – Es braucht die Vergewisserung christlicher Identität: »Wir gestalten den Alltag so, dass die Menschenliebe Gottes und die christliche Orientierung der Einrichtung sichtbar und erlebbar werden« (S. 16). Für diakonische Reflexion und Austausch wird Raum vorgesehen. Klar ist: »Wir können nicht ausschließen, dass Gott auch in anderen Religionen wirkt, und es gibt gemeinsame Traditionen mit anderen monotheistischen Religionen (z.B. Judentum und Islam). Religionen werden von uns nicht theologisch abgewertet. Vielmehr haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir im Austausch mit anderen Religionen lernen und unseren Blickwinkel erweitern können. Auf dieser Grundlage kann ein Gespräch stattfinden über ethische Fragen oder Themen des Lebenssinns« (ebd., S. 17). Folglich muss das religiöse Miteinander von Respekt geprägt sein (ebd., S. 18). Noch nicht im Blick sind die sozialen – auch die sozialfachlichen – Traditionen anderer Kulturen, Religionen und Weltanschauungen. 6 Die Perspektive der Diakoniewissenschaft 6.1 Erneuerter Diskurs zwischen Diakoniewissenschaft und Fachwissenschaften Ob und wie da wissenschaftliche Reflexion weiterhelfen kann? Sicher nicht, indem die Verantwortlichkeit nun ein weiteres Mal in

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die Wissenschaft verschoben wird. Das sicher nicht. Eher ist zu vermuten, dass alle Beteiligten ihre je eigene Verantwortlichkeit behalten und einbringen müssen. Soziales hat nicht nur Gründe und Verankerungen in sozialen, pädagogischen oder pflegerischen Fachlichkeiten bzw. deren Fachwissenschaften, sondern ist konstitutiver Teil der eigenen kirchlichen Tradition und ihrer eigenen wissenschaftlichen Reflexion in Theologie, Diakonie- und Caritaswissenschaft. Das Soziale und Pflegerische ist nicht einfach der Kirche und den ihr zugeordneten Wissenschaften entwachsen bzw. hat sich von ihnen emanzipiert. Es ist gegen alles Ignorieren von diesen Seiten festzuhalten: Das Soziale und Pflegerische bleibt – auch – ein christliches Thema. Soziales ist und bleibt also mindestens doppelt verankert und bedarf multiperspektivischer interdisziplinärer Diskurse!20 Die Entstehungs- und Ausdifferenzierungsprozesse mögen so gelaufen sein, heben aber nicht Herkunft und bleibende Wirksamkeit christlicher Impulse auf,21 wie die immer wieder neu aktualisierten Symbolbilder des barmherzigen Samariters (Lk 10) und der Figur der mütterlichen »Caritas« (Ausstellung Paderborn, vgl. Stiegemann 2015) dokumentieren. Was das Diakonische ist, ist freilich unter Christen unklar und umstritten. Es besteht jedenfalls nicht nur einfach in Leitbildern, die oft zu weit von konkreten Handlungsprozessen entfernt sind. Es besteht auch nicht in anweisbaren, wiederholbaren und durch Qualitätsmanagement regelbaren Handlungen und Dienstleistungen. Es ist auch nicht diffus Glaube, Spiritualität und Religion als Haltung und Herkommen, und es sind auch nicht nur die Feste und Rituale – auch mit Menschen anderer Religionen bzw. Konfessionen. Es ist auch nicht nur ein »Angebot« für sie, sondern bei Kommen und Gehen von Mitarbeitenden oder Bewohnerinnen und Bewohnern ist es mit ihnen gestaltete Lebenszeit und Gemeinschaft. Es ist auch nicht nur ein Deutungs- und Interpretationshorizont, denn es kommt ja darauf an, dass durch diese spezifischen Deutungen neue und andere Handlungsoptionen in den Blick Dass der Staat mit seiner Referenzwissenschaft der Jurisprudenz Verwaltungsund Politikwissenschaft weitere, durchaus konträre Zugänge zum Sozialen pflegt, soll damit nicht unterschlagen, hier aber nicht bearbeitet werden. Ebenso gibt es ja erstaunliche Theorien zum Sozialen aus den Wirtschaftswissenschaften. 21 Das sei klar gegen Tendenzen der Selbstsäkularisierung der Sozialarbeitswissenschaft unter Absehung ihrer Geschichte und ihrer Kooperationspartner in der Praxis gesagt: Ein großer Teil pflegerischer und sozialer Tätigkeiten findet immer noch in Trägerschaft von Diakonie und Caritas statt; auch die Absolvent/innen staatlicher Fachhochschulen finden Anstellung bei christlichen Trägern – wieso das ignorieren? 20

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kommen, die es ohne diese Deutungs-, besser: Wahrnehmungshorizonte und seine -kontexte bzw. Menschen- und Gesellschaftsbilder nicht geben würde. Es muss um die Kernaktivitäten, das diakonische sozialfachliche Handeln im umfassenden Sinn gehen. Von daher bietet sich an, eine der Wurzeln und wissenschaftlichen Verankerungen von Diakoniewissenschaft neu in den Vordergrund zu rücken, nämlich die Ethik bzw. Sozialethik. Es geht darum aufzuzeigen, dass und wie sich das sozialprofessionelle Handeln ändert, wenn der Mensch nicht nur als Klient, Nutzerin, Patient, Assistenznehmerin oder gar Hilfebedürftige, sondern auch als Bruder und Schwester (sc. im Herrn) wahrgenommen wird. Das jedenfalls beschreiben sozialprofessionell ausgebildete Diakoninnen und Diakone als das Besondere ihrer Art sozialprofessioneller Beziehungsgestaltung, in der sie ihre Beziehung zum Klienten usw. anders wahrnehmen und deshalb anders gestalten, nämlich trianguliert. Das heißt, dass deren zweiseitige Beziehung durch die beiden gemeinsame Beziehung zu etwas Dritten ergänzt wird, nämlich hier zu ihrem Schöpfer bzw. Ursprung. Diese vorgegebene und jedem sozialen Handeln vorausgehende, dieses Handeln begleitende und ihm nachfolgende und bei allen Störungen und Unvollkommenheiten weiter bestehen bleibende Beziehung zum Göttlichen prägt und färbt die professionelle Beziehungspflege und -gestaltung (Zippert 2015). Dies kann sich z.B. in der vertieften Achtung vor dem Eigensinn der Klienten zeigen oder als Hartnäckigkeit, »länger dran zu bleiben«. Es entsteht eine andere Beziehung, wenn ich jemanden als Kunden, als Hilfebedürftigen, als Mitbürger oder gar als Bruder und Schwester ansehe. Und aus dieser Wahrnehmung entstehen andere Handlungsoptionen und -impulse. Die Handlung kann beiden Beziehungspartnern in anderem Licht erscheinen. 6.2 Ethik als Grundwissenschaft mehr als Klassiker der Ethik Diskussion Ethik kann man verstehen als Reflexion auf alles menschliche Handeln und insofern als Oberbegriff auch für jedes Handeln: auch das soziale, wissenschaftliche und religiöse Handeln. Konkretisierbar ist es als Berufsethik/-ethos und in den anwendungsbezogenen fachlichen Konzepten. Diese sind somit nie nur allein unter scheinbar neutralen oder objektiven fachlichen Gesichtspunkt zu beurteilen, sondern immer auch unter ethischen Kriterien. Zu denen gehören selbstverständlich auch die Menschenrechte und Menschenrechtskonventionen. In konkreten Konfliktsituationen diakonischer Praxis wird oft genug deutlich, dass sich in der Regel mehrere, je

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für sich berechtigte bzw. unterschiedlich begründbare Positionen widersprechen und eine Lösung ohne sorgfältige Reflexion und Diskussion nicht ratsam ist. Sie reflektiert dies auf Grund der Natur jeden Handelns als eine Reflexion auf die Handlungsimpulse und -motive (Tugendethik), auf die jeder Handlung innewohnende Tendenz auf ein Ziel bzw. zu erreichendes Gut, sei es das nächste Essen, übergreifend das Glück, der Erfolg, die Seligkeit oder sei es Teilhabe (Güterethik), und die Regeln, die auf Weg vom Impuls zum Ziel einzuhalten und zu beachten sind (Normenethik).22 Unter diesen Voraussetzungen wird klar, dass es eine sachliche Verkürzung darstellt, wenn Diakonie nur auf die norm- und zielgerechte Erfüllung eines vielschichtigen Auftrags oder einer unternehmerischen Zielsetzung reduziert wird, und das unter Absehung der für jede Handlung konstitutiven Impulse und Motive sowie der Regeln und Normen, die zu beachten sind. Unter diesen Bedingungen kann nicht bestritten werden, dass es ein »evangelisches Po-Abwischen« gibt, weil die Qualität dieser Handlung als klar abgrenzbare Handlung durch Qualitätsmanagementprozesse bzw. Pflegestandards hinlänglich festgelegt zu sein scheint (Hauschildt 2000, S. 415). Als Langzeitpatient einer Klinik merkt man jedoch sehr schnell, ob – bei gegebener guter Qualität des Ziels »sauberer Po« – Kommunikation mit dem Patienten gesucht, mit Schamgefühlen diskret und warmherzig umgegangen wird und ob es dabei begleitende Kommunikation gibt, die nicht zum definierten Prozess, jedoch zur Pflegefachkraft-Patient-Beziehung hinzugehört, oder nicht. Man merkt auch, ob die Fachkraft sich zuwendet, ob sie für sich selbst geklärt hat, ob und warum sie diese Aufgabe auf diese Weise erfüllt oder nicht, besonders dann, wenn sie oder der Patient einen schlechten Tag hat. Dass das QM diese Dimensionen nicht erfasst, ist nicht ein Problem diakonischen Handelns sondern das eines oberflächlichen QM. Zu einer ethisch reflektierten bzw. begründeten diakonischen Praxis gehört die Wahrnehmung des hohen motivationalen Anteils ebenso wie der Beziehungsanteile sozialer Dienstleistungen. Das Gute ist nicht nur externes Produkt (Sauberkeit), sondern eine stützende Beziehung als Medium oder sogar Ziel, um Teilhabe und Freiheit zu ermöglichen, die ohne diese Beziehungsdienstleistung nicht möglich werden. Damit gehören qua Beziehungsgestaltung auch tiefere Ebenen als die reine Außenseite einer Pflegehandlung (Po-Abwischen) zur Praxis konstitutiv hinzu. Diese Innenseite ist freilich sozial spürbar, vielleicht auch messbar, auf alle Fälle aber 22

Zu diesem Ansatz s.o. Kap. 4.2, S. 275, vgl. Härle 2011, S. 81–92.

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zwischen den Mitarbeitenden bzw. auch mit der Leitung diskutierbar bzw. diskussionsnotwendig, wenn es um mehr oder anderes als reine Output-Orientierung an qualitativ hochwertigen Dienstleistungen geht. 6.3 Multiperspektivisch bzw. interdisziplinär relevante Themen Unter diesen Voraussetzungen tritt also nicht nur in den Blick, dass auch Fachkonzepte sowohl einer ethischen als auch einer theologisch-diakonischen Reflexion fähig und bedürftig sind. Auch wenn dieser Dialog noch nicht sehr intensiv geführt wird (Lechner 2000, Zippert/Beldermann/Heide 2016), ist er dennoch notwendig und überfällig, und zwar nicht nur in Zusatzangeboten wie Seelsorge, Andachten oder der Einrichtung von Ethikkomitees (insbesondere aber nicht ausschließlich zu Fragen von Tod und Sterben, Abtreibung, PID oder PND). Hier gibt es eine ganze Reihe von Themen und Phänomenen, wie – Krise oder Krisenintervention, – die unterschiedlichen Zugänge zum Phänomen bleibender Unterstützungs- und Hilfebedürftigkeit bei gegebener Subjektorientierung, – die vorrangige Option für die Armen, Benachteiligten oder Ausgeschlossenen – als Prüf- und Knackpunkt jedes Konzeptes von Gerechtigkeit (nicht erst seit Rawls), – die Parallelität methodischer Konzepte in Theologie und Sozialer Arbeit, wozu auch gehört: – die notwendige, aber selten diskutierte Komplementarität von interkulturellen und interreligiösen Konzepten, – die Frage der für das jeweilige Menschen- und Gesellschaftsbild relevanten Wahrnehmungs- und Deutungskategorien, zu denen auch die für den Menschen konstitutive Offenheit für Sinnfragen und Deutungen erfahrener Kontingenzen gehört, und die Frage, welche Dimensionen von Lebenswelt in den Blick genommen oder ignoriert werden. Der aktuelle, vor allem durch die UN-Behindertenrechtskonvention initiierte Diskurs um Inklusion und Teilhabe zeigt, dass auch dieser Diskurs nicht nur einer theologischen Begründung fähig ist, sondern dass diese Begründung weitere Perspektiven eröffnet, indem z.B. mutig auch andere Zielgruppen als die von dieser Konvention zunächst intendierten in den Blick genommen werden. Das führt dazu, in der eigenen Tradition diejenigen Impulse neu zu entdecken und zu bewerten, die zu einer Selbsttranszendierung, Öffnung bzw. Transpartikularisierung der eigenen Herkunft beitragen können

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(Starnitzke 2015a, S. 18f; Eurich 2016, S. 95 – mit Bezug auf Peter Dabrock). Es ist ein Grundanliegen insbesondere der katholischen Soziallehre, sowohl Freiheit wie Liebe, Autonomie wie Teilhaben, Selbstverwirklichung wie Verpflichtung zum Dienst am Nächsten im Blick zu behalten (Lob-Hüdepohl 2015, S. 104f.). Die kritische Diskussion von Inklusion und Teilhabe mit theologischen Konzepten von Gemeinschaft unter Bedingungen bleibender Diversität bzw. mit sozialethischen Konzepten von Gesellschaft insgesamt als Raum der überhaupt möglichen Teilhabe-Optionen führt ebenfalls zu wichtigen Differenzierungen und Weitungen, z.B. des Begriffs der Teilhabe selbst. Wird dieser Begriff in offiziellen Dokumenten meist ohne genauere Bestimmungen sozusagen absolut benutzt, kann Theologie auf Grund ihrer langen (und auch nicht immer unproblematischen!) Tradition Gründe, Bedingungen und Grenzen von Zugehörigkeit zur eigenen Gemeinschaft wie auch zum Staat (Zwei-Reiche- bzw. Regimenter-Lehre) diesen Begriff der Teilhabe differenzierter denken: nicht nur als TeilhabeGerechtigkeit (Dabrock), sondern auch mit der Frage: Wer hat in welcher Rolle (aktiv-/passiv) und zu welchen Bedingungen bzw. Kosten an was welchen Anteil bzw. nicht? Genauer sogar: An welchen Dimensionen und Lebensbereichen – und jetzt wird es normativ – hat ein Mensch (und nicht nur legitime Staatsbürger) ein Recht zur Mitwirkung – und an welchen nicht? Denn sie liegen nicht nur jenseits seiner Begabung, Interessen und Möglichkeiten (Klettern für Rollstuhlfahrer). Woran aber ist ihm oder ihr Teilhabe auch bei hohen Kosten zu ermöglichen (Wahlrecht, Recht auf Arbeit)? Und was könnte das Letztziel von Teilhabe sein? Die immer wieder abbrechende Diskussion um das soziokulturelle Existenzminimum (z.B. SGB II, § 20) weist ebenfalls auf diese offene Frage hin (Zippert 2016). Für Christen stellt sich auch die Frage nach dem Letztziel von Inklusion, das m.E. immer nur in Momenten erlebbar ist, wie z.B. beim inklusiv genossenen Abendmahl, wo jeder, aber auch wirklich jeder und jede, auf dieselbe Weise Anteil am Göttlichen bekommt. Menschen aus anderen Kulturen werden die Teilhabe-Bedürfnisse, -Möglichkeiten und -Ziele anders sehen als Menschen in unserem Kulturkreis, in dem sie sich ja auch schon nach Milieus differenzieren. Das zeigt sich jenseits dieser religiöser Zusammenhänge z.B. beim Blick auf das Thema Familie, die jeder Mensch hat, die er bzw. sie jedoch je nach Milieu, Region (Stadt/Land), Religion und kultureller Bindung spezifisch wahrnimmt und die ihm oder ihr unter-

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schiedliche Rollen zuweist, ganz abgesehen von den familienbiografischen Besonderheiten und wachsenden Varianten, sie zu leben. Es wird meines Erachtens nicht möglich sein, die immer vielfältiger werdenden religiösen, weltanschaulichen und (sozio-)kulturellen Dimensionen sozialer und pflegerischer Arbeit zu ignorieren und sich auf vermeintlich religionsneutrales Gebiet zurückzuziehen, in dem es nur noch seasonal greetings, »Jahreswendflügelfiguren« (Engel), Feste anlässlich von Naturjahreszeiten und Lebenskreisläufen gibt – schon die Feier des Geburtstages ist kein kulturübergreifendes Phänomen. Es besteht vielmehr die Aufgabe, sich der diversen Vielfalt aktiv zu stellen, ohne Sorge um die eigene weltanschaulich-religiöse Verankerung (und sei es im Atheismus) haben zu müssen. Für die Diakonie ist diese Öffnung ebenso möglich wie nötig und geschieht oft genug schon. Für diesen Weg braucht es freilich neben den sozusagen externen Begründungen aus Sozial- und Pflegewissenschaften auch die aus der eigenen Theorietradition, um dem Nicht-Eigenen einen konstruktiven Platz im Rahmen der eigenen Theorie und ihren Traditionen zu geben.23 Das gebietet die Treue zur je eigenen Tradition und Verankerung, sei sie nun religiös-theologischer, ideologischer, weltanschaulicher oder wissenschaftlicher Art. An dieser theologischen Selbstvergewisserung wird schon seit einiger Zeit gearbeitet (Lipsch 2010; Starnitzke 2015b, Nagel 2015, S. 159.167). Diese Selbstvergewisserung mag extern befremden, wenn die Nichtchristen »guten Willens« (s.o.) als »anonyme Christen« bzw. anonyme Diakoninnen ins eigene Denken einsortiert werden. Es scheint mir unvermeidlich und gesprächsbedürftig, auch wenn und weil dies den Selbstbeschreibungen dieser Menschen nicht entspricht. Phänomene gibt es auch aus anderen Religionen im Blick auf »gute Werke« von Christenmenschen. Anderen Menschen (Nichtchristen wie Nichtjuden oder Nichtmuslimen) die Mitwirkung am göttlichen Willen abzusprechen, verbieten jedenfalls namhafte Traditionen der Bibel und theologische Argumente bzw. Erzählfiguren.24 Diversität wahrzunehmen und zu akzeptieren bedeutet eben auch zuzulassen, dass Andere einen anders sehen, als man selbst sich Dass Wahrheit und Heil schon lange nicht mehr exklusiv nur in der eigenen Tradition gesehen werden, zeigen kirchliche Verlautbarungen seit dem II. Vatikanischen Konzil bis hin zu den neuesten Denkschriften der Ev. Kirche in Deutschland (2015). 24 S.o. Kap 4.2. 23

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sieht oder sehen möchte. Wer dies für sich selbst erwartet, sollte dies auch anderen zugestehen, auch in der Diakonie. Konstruktiv im Rahmen von Arbeitsprozessen wird dies freilich nur, wenn es dazu regelmäßigen Austausch und Verständigungsprozesse gibt. Sie zu ignorieren oder zu neutralisieren, hieße sich der real gegebenen Diversität zu verweigern; Diversität reicht bis ins Weltanschaulich-Religiöse – samt den dort selbst ja schon plural gepflegten Wegen, Mensch, Welt und Gesellschaft in einem bestimmten Licht zu sehen und aus dieser Sicht Handlungswege zu entdecken. Auf diese Weise kann es gelingen, Religionen mit ihren vielfältigen Möglichkeiten und Wegen, Teilhabe und Freiheit zu denken und zu leben, als Ressource für soziale und pflegerische Arbeit wahrzunehmen und zu nutzen – freilich auch, um ihre Gefährdungspotenziale. 7 Grenzen? Die Geschichte(n) aller Beteiligten führen also ebenso über ein verengtes systemisches Verständnis von Organisation hinaus wie der genauere Blick auf die Natur des Handelns selbst und insbesondere die Selbstwahrnehmung sozialprofessioneller Dienstleistungsarbeit als Arbeit an, mit und in einer göttlich gegebenen und fundierten, menschlich und dienstalltäglich aber nicht auslotbaren Beziehung, z.B. durch Diakoninnen und Diakone. Es reicht nicht, die eine Hoheit (sprich Konfessions-/Bekenntnis-Bindung) durch eine andere (Leitbildbindung) zu ersetzen, sondern beides ist zu pluralisieren und zu prozessualisieren. Beides läuft schon längst so, was nicht aus-, sondern einschließt, sich selber ebenso klar wie vorläufig zu positionieren, ohne anderen dasselbe Recht abzusprechen. Dafür sind Austauschräume nötig (Steiof 2016) und auch eine Selbstrelativierung von Führung und Leitung (gegen Haas und Starnitzke 2015b). Logischerweise muss dann auch das Mitgliedschaftsrecht aus der sachlich wie historisch nicht gegebenen Begrenzung auf eine schlichte Zweieralternative (Mitglied-Nichtmitglied) herausgeführt werden. Die unter orientalischen Religionen eigentlich übliche Gastfreundschaft zu üben, wäre schon ein Ansatz. Der Blick auf die religiösen und kulturellen Dimensionen sozialprofessionellen Handelns kann freilich auch ins Gegenteil verkehrt werden bzw. in Dauerbespiegelung enden, wenn jede Handlung quasi totalitär auf diese Dimensionen abgeklopft und rechtfertigungsbedürftig wird. Das ist gar nicht zu leisten und widerspricht dem eigentlich vorausgesetzten Vertrauen in die auch in anderen

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Menschen wirksame Güte (Gottes). Sie muss jedoch hin und wieder Thema werden, vor allem im Konfliktfall, wenn diese Dimensionen bzw. die Offenheit für auch dies Art von Diversität aktiv negiert oder missachtet werden (Lob-Hüdepohl 2015, S. 108–111). Dann geht es tatsächlich auch um die dem Handeln zu Grunde liegenden Motive, die Normen und die Ziele. Fachliche Diskurse (insbesondere die einer Menschenrechtsprofession!) müssen endlich ethisch grundiert geführt werden. Dies freilich ist keine »Glaubensbzw. Gewissensprüfung«, sondern ein offener Diskurs, der genauso auf die eigene Treue zu den maßgeblichen Erzählungen und Traditionen anzuwenden ist (Hofmann 2015, S. 95f.), der aber auch dazu führen kann, sich voneinander zu trennen. Als relativierendes Widerlager ist freilich auch ein bestimmtes Moment des theologischen Inklusionsgedankens hervorzuheben: Inklusion ist nicht vollständig machbar, sie besteht eher im gemeinsamen Entdecken oder Aufscheinen vorgegebener (sc. göttlicher, meinetwegen auch menschenrechtlicher) Beziehungen, Verbindungen, Verbindlichkeiten – und das meist nur für Momente. Denn alle Anstrengungen, eine humane Gesellschaft zu bauen (ebenso wie eine Kirche, die offen ist für alle Menschen guten Willens), müssen immer wieder gegen die neu aufbrechenden Ausschlüsse, Konflikte, Rückzüge, Segregationen usw. unter Menschen angehen. Möglicherweise sind sich hierin sogar Christen, Muslime und Juden längst einig, weil und wenn sie der Liebe und Barmherzigkeit Gottes vertrauen, die immer größer und weitherziger sind als die unseren. Literatur Aslan, Ednan / Modler-El Abdaoui, Magdalena / Charkasi, Dana (Hg.) (2015), Islamische Seelsorge: eine empirische Studie am Beispiel von Österreich, Wiesbaden: Springer VS Bernhardt, Reinhold / Schmidt-Leukel, Perry (Hg.) (2008), Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen, Zürich: Theologischer Verlag Zürich Conring, Hans-Tjabert (2015), Kirchliche Auftragsgemeinschaft und organisationale Identität, in: Haas und Starnitzke (2015a) (S. 69–86) Desel, Jochen (1986), Die Anfänge der Armenfürsorge in den französischreformierten Gemeinden Hofgeismar, Carlsdorf, Kelze und Schöneberg, in: Wicke, Klaus (Hg.) (1986), Carlsdorf 1686 – 1986. Festschrift zur 300-Jahr-Feier der ältesten Hugenottensiedlung in Hessen (S. 47– 73), Carlsdorf: Festausschuss 300 Jahre Carlsdorf Diakonie Deutschland / Stockmeier, Johannes / Giebel, Astrid / Lubatsch, Heike (Hg.) (2012/2013), Geistesgegenwärtig pflegen. Existenzielle

Pluralitätsoffen, diversitätsfreundlich und kommunikativ

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Thomas Zippert

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Pluralitätsoffen, diversitätsfreundlich und kommunikativ

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Fabian Köhler

Wie eine evangelikale Organisation Christen zur meistverfolgten Glaubensgruppe machte

Die Organisation Open Doors gibt vor, verfolgte Christen schützen zu wollen. Doch mit unseriösen Studien sorgt sie selbst für Spannung zwischen den Konfessionen. Die Meldung schien zu bestätigen, wovor viele Kritiker einer liberalen Flüchtlingspolitik lange gewarnt hatten: »Studie zu Flüchtlingsheimen: Bis zu 40.000 Nicht-Muslime drangsaliert«, schrieb die FAZ am 9. Mai 2016. Am selben Tag meldete der Spiegel »Christen klagen über Schikanen in Flüchtlingsheimen«. Das Handelsblatt wusste von »Angst in deutschen Flüchtlingsheimen«. Kurz darauf las man auch in der Welt: »Christenhass in Asylheimen und das Wachpersonal sieht weg.« In die Welt gesetzt hatte die Geschichte von der massenhaften Christen-Verfolgung in deutschen Flüchtlingsunterkünften die christliche Organisation Open Doors. Deren Vorsitzender Markus Rode hatte die Studie seiner Organisation zur Christen-Verfolgung unter Flüchtlingen in Deutschland vorgestellt. Bis zu 40.000 NichtMuslime würden in deutschen Flüchtlingsheimen drangsaliert, schätzte seine Organisation und warnte vor »Angst und Panik« in deutschen Flüchtlingsunterkünften. 231 Fälle von Übergriffen gegen Christen in deutschen Flüchtlingsunterkünften hatte Open Doors dokumentiert. Von Diskriminierung über Körperverletzung bis hin zu sexuellen Übergriffen und Todesdrohungen war dort die Rede. Und von Geschichten wie der des aus dem Iran stammenden Konvertiten Ramin F.: »Als die Leute erfuhren, dass ich Christ bin, fingen sie an, Probleme zu machen«, erzählt er bei einer Pressekonferenz der Organisation. Seine Sachen und Essen seien von Muslimen gestohlen worden. Die ständigen Drohungen hätten sogar zu psychischen Störungen und Haarausfall geführt. Auch Fadi S. aus Syrien berichtete, er sei »schockiert« gewesen, dass er, der vor islamischen Fundamentalisten flüchten musste, nun ausgerechnet in Deutschland wieder auf sie treffe. Aber nicht nur durch muslimische Mitflüchtlinge würden Christen verfolgt, berichtete Open Doors. Rund die Hälfte der Befragten klagte über Diskriminierung durch das muslimische Wachpersonal.

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Insgesamt hätten Dreiviertel der Befragten angegeben, sogar schon mehrfach Opfer von Übergriffen geworden zu sein. Am häufigsten waren laut Studie Beleidigungen (96 Personen), gefolgt von Körper-Verletzungen (86 Personen). 73 Personen beklagten Todesdrohungen gegen sich oder ihre Familien. All das sei aber nur »die Spitze des Eisbergs«, berichtete Markus Rohde damals. Und viele Medien schrieben ab. Die massenhafte Christenverfolgung in deutschen Flüchtlingsunterkünften hat es nie gegeben Das Problem dabei: Den Eisberg, von dem Markus Rohde sprach, hat es nie gegeben. Die Schreckensgeschichte von der massenhaften Christen-Verfolgung in deutschen Flüchtlingsunterkünften? Das reißerischer Fazit einer unseriösen Studie. Schon wenige Tage nachdem sich Medien über Christenverfolgung empörten, ruderten die meisten von ihnen wieder zurück. »F.A.S. exklusiv Zweifel an Christenverfolgung in Flüchtlingsheimen«, war auf der Website der Frankfurter Zeitung nur zwei Wochen nach Veröffentlichung der Schreckensmeldung zu lesen. Und Deutschlandradio meldete: »Zweifel an Seriosität von Studie über Gewalt an Christen«. Ein Heimbetreiber meldete sich, der die mutmaßlichen muslimischen Täter in Schutz nahm und die vermeintlichen Opfer selbst für die Auseinandersetzungen verantwortlich machte. Ihr Ziel: die Verlegung in eine bessere Unterkunft. In einem anderen Fall meldete sich ein Pfarrer zu Wort, der sich sicher war, die Vorwürfe seien zu »hundert Prozent aus der Luft gegriffen«. Von Medien auf die Widersprüche in der Studie angesprochen, musste Open Doors-Chef Markus Rohde schließlich einräumen, dass alle vermeintlichen Opfer der vorgeblich bundesweiten Studie aus einer einzigen Berliner Gemeinde stammten und nur ein einziger Pastor deren Glaubwürdigkeit bezeugt hatte. In der Folge gingen auch andere christliche Organisationen auf Distanz: »Die Islamfeinde in der Kirche versuchen, uns vor sich herzutreiben«, zitierte die FAS aus einer internen Stellungnahme der westfälischen Landeskirche. Die Studie von Open Doors sei »als unseriös abzulehnen« und weise »Züge der Pegida-Argumentationsweise« auf. Was Christenverfolgung ist, entscheidet sich in Kelkheim Die erfundene Geschichte von der massenhaften Christen-Verfolgung in deutschen Flüchtlingsunterkünften ist der erste Fall, in denen Medien Open Doors so deutlich kritisieren. Das erste Mal,

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dass Medien kritiklos aus einer der Studien der Organisation abschreiben, ist es nicht. Denn das Veröffentlichen von unseriösen Studien zur Christen-Verfolgung ist bei Open Doors Programm. Einmal im Jahr veröffentlicht die Organisation ihren »Weltverfolgungsindex«. Einmal jährlich titeln Zeitungen dann von »100 Millionen verfolgten Christen« und Politiker zeigen sich entsetzt über das Schicksal der »am stärksten verfolgten Glaubensgruppe«. Doch auch wenn für viele Christen weltweit Verfolgung tatsächlich zum Alltag gehört, hat die Studie von Open Doors nur wenig mit der Realität zu tun. Die Organisation, die es geschafft hat, Christen das Label der meist verfolgten Glaubensgruppe zu verleihen, hat ihren deutschen Sitz im hessischen 30.000 Einwohner-Städtchen Kelkheim. 60 Mitarbeiter kümmern sich von dort aus um die verfolgten Christen dieser Welt. Oder jene, die die evangelikale Organisation dafür hält. Denn ab wann ein Christ verfolgt oder diskriminiert ist, entscheidet Open Doors auf sehr eigenwillige Weise. 100 Millionen Christen würden zurzeit verfolgt werden, berichtete die Organisation bei der Vorstellung ihres Weltverfolgungsindex 2016. Die Zahl ermordeter Christen habe sich 2015 von 4.344 auf 7.100 deutlich erhöht, die Angriffe auf Kirchen sogar verdoppelt. Ihr Negativ-Ranking von 50 Staaten zeigt: Besonders schlimm seit die Lage in islamischen und afrikanischen Staaten, aber auch in Nordkorea. Die einzige Quelle der weltweit einflussreichsten Studie zur Christenverfolgung hingegen: ein Fragebogen Wer wissen will, wie der Weltverfolgungsindex von Open Doors seit 1993 entsteht, erlebt als erstes eine Überraschung. Anders als bei wissenschaftlichen Studien üblich, ist dem Bericht kein Kapitel darüber vorangestellt, mit welchen Methoden man das Maß an Verfolgung und Diskriminierung von über zwei Milliarden Menschen herausfinden und vergleichbar machen will. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch verweisen an dieser Stelle oft auf eigene Untersuchungen vor Ort, repräsentative Umfragen und Interviews, die Auswertung von Medienberichten, Statistiken lokaler Behörden, Erhebungen durch Vereinte Nationen und NGOs. Die weltweit bekannteste Studie zur Christen-Verfolgung verzichtet auf all das. Auf der Website erfährt man, dass im Zentrum des Weltverfolgungsindex lediglich ein Fragebogen aus 96 Fragen steht. Dieser wird nicht an potenziell verfolgte Christen weltweit oder an lokale NGOs versandt, stattdessen füllen ihn »Analysten,

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Forscher und Fachleute von Open Doors« aus – also die eigenen Mitarbeiter. Zwar würden die Ergebnisse von »externen Experten« geprüft, schreibt Open Doors auf seiner Website, doch scheinen auch diese weder wirklich »extern« noch »Experten« zu sein. Zuständig für die Überprüfung: »Das Internationale Institut für Religionsfreiheit«. Der Verein mit Sitz in Bonn stammt aus demselben evangelikalen Umfeld wie Open Doors selbst. Als Verfolgung gilt alles von Mord bis schlechte Bildungschancen Auch bei der Definition von Verfolgung und Diskriminierung geht Open Doors eigene Wege. Während sich andere Organisationen an völkerrechtlich bindenden Festlegungen – in diesem Fall zur Religionsfreiheit – orientieren, legt Open Doors für sein Ranking eine recht weit gefasste Definition zugrunde: Als verfolgt gelten Christen zum Beispiel auch dann, wenn deren »Kinder aufgrund ihres Glaubens oder des Glaubens ihrer Eltern keine oder nur eine schlechte Schulbildung bekommen.« Vom katholischen OnlineMagazin kath.net in einem Interview darauf angesprochen, dass Verfolgung etwas anderes sei als schlechte Bildungschancen, antwortete Open Doors-Chef Markus Rode einmal: »Es steht uns nicht zu, Christen per Definition vorzuschreiben, ob sie erst dann als verfolgt gelten, wenn sie gefoltert oder ins Gefängnis geworfen werden, oder bereits, wenn ihre Kinder von Ausbildungs- und Berufschancen bewusst ausgeschlossen werden. Verfolgung hat viele Facetten, die auch von den Christen vor Ort subjektiv, und somit unterschiedlich stark erlebt werden.« Das klingt verständlich für jemanden, der Angst um verfolgte Glaubensgenossen hat. Als Grundlage für eine glaubwürdige Studie einer Menschenrechtsorganisation taugt das nicht. Menschenrechtsorganisation oder Missionsgesellschaft? Vielleicht will Open Doors das aber auch gar nicht sein. Kritiker werfen dem Verein vor, eher an christlicher Missionierung als an Menschenrechtsarbeit interessiert zu sein. Und nicht nur eigene Veröffentlichungen wie »Reisetagebuch Libanon. Muslime finden zu Jesus« deuten darauf hin. Während die Arbeit von bekannten christlichen Hilfeorganisationen wie der Caritas oder Brot für die Welt sich auch an Menschen anderer Religionen und Konfessionen richtet, widmet Open Doors sein Engagement explizit nur Christen. Anders als die meisten großen gemeinnützigen Vereine in Deutschland trägt Open Doors deshalb auch nicht das »Deutsche Spendensiegel«, das vom unabhängigen Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen verliehen wird.

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Kritik an der Arbeit von Open Doors kommt deshalb vor allem auch aus Reihen, die eigentlich dasselbe Anliegen teilen: »Ich habe große Zweifel daran, dass diese Zahlen solide sind«, sagte der Nürnberger Theologe und Sonderberichterstatter für Religionsund Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats Heiner Bielefeldt im Jahr 2012 und kritisierte die Tendenz der Organisation, vorzugsweise den Islam für die Diskriminierung von Christen verantwortlich zu machen und »Religionen gegeneinander auszuspielen«. Selbst der Kirche geht Open Doors zu weit Auch in den beiden großen Kirchen in Deutschland zweifelt man an der Aussagekraft des Weltverfolgungsindex. »Ich glaube nicht, dass es sehr aussagekräftig ist, ob es nun eher 50 oder 70 oder 100 Millionen verfolgte Christen gibt«, sagte der evangelische Auslandsbischof Martin Schindehütte 2013 bei der Vorstellung eines eigenen Berichts zur Christenverfolgung. Anders als Open Doors legte der gemeinsame Bericht der Deutschen Bischofskonferenz und Evangelischen Kirche in Deutschland die Definition und Untersuchung der Christen-Verfolgung in die Hände eines anerkannten und unabhängigen wissenschaftlichen Forschungsinstituts. Auch ihr Bericht belegt zahllose Fälle von Christen-Verfolgung auf der Welt. Von Superlativen und absoluten Zahlen ist hier aber keine Rede. Stattdessen stellt der Bericht fest, dass »Fallkonstellationen, in denen ausschließlich oder vor allem Christen bedrängt oder verfolgt werden, eher die Ausnahme bilden«. Und: »Restriktionen bei der Ausübung des Glaubens sind in der Regel in ein Umfeld eingebettet, das allgemein von Einschränkung und Bevormundung geprägt ist. Dabei wird auch die Freiheit anderer Religionen missachtet.« Der »Ökumenische Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit« endet mit einem unverhohlenen Seitenhieb auf Open Doors: »Besondere Glaubwürdigkeit gewinnt ein solches Engagement dadurch, dass der Einsatz für die Religionsfreiheit bedrohter Glaubensgenossen nicht isoliert geschieht, sondern Teil eines umfassenden kirchlichen Engagements für alle Menschenrechte und deren Durchsetzung ist. Es ist im besten Interesse der christlichen Kirchen, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeingut zu verstehen, als Freiheitsrecht aller, dessen Verwirklichung ohne Ab- und Ausgrenzung auskommt.«

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Christen die am wenigsten verfolgte Glaubensgruppe? Vor allem die Art der Abgrenzung ist es, der Open Doors Anspruch, das Label der am meisten verfolgten Glaubensgruppe verleihen zu können, ad absurdum führt. Open Doors untersucht gar nicht erst die Situation anderer Religionsgruppen, kann den Grad der Verfolgung also auch schlecht vergleichen. Stattdessen nimmt Open Doors schlicht die absolute Zahl von 100 Millionen Verfolgten als Gradmesser. Einen Wert, den beispielsweise die in relativer Hinsicht sehr viel stärker verfolgten Bahai gar nicht erst erreichen können. Wie absurd ein solches Ranking ohnehin ist, zeigt sich daran, welchen Umkehr-Schluss die Rechnung von Open Doors zulässt. Mit rund 1,9 Milliarden Anhängern, die nach den Zahlen von Open Doors nicht verfolgt werden, könnte man Christen genauso gut zur am wenigsten verfolgten Glaubensgruppe erklären. Ein Label, das den tatsächlich verfolgten und diskriminierten Christen in Deutschland und weltweit sicherlich nicht gerecht wird.

Dirk Chr. Siedler

Jesus – »Wort der Wahrheit« und »Wort des Lebens« Eine Weihnachtspredigt über 1. Johannes 1,1–4 und Sure Maryam 19:30–34a Liebe Weihnachtsgemeinde, in diesem Jahr hören wir die Weihnachtsgeschichte anders: Wir sehen die schwangere Maria mit Josef unterwegs durch die judäische Wüste auf dem Weg nach Bethlehem. Wir sehen die Flüchtlinge unserer Tage auf dem beschwerlichen Weg aus den Gebieten von Krieg und Elend. Wir hören, wie Josef von Herberge zu Herberge zieht und um eine Bleibe bettelt; und wir sehen, wie Menschen heute nur mit dem, was sie am Leibe und in ihren Händen tragen, anklopfen an die Grenzen Europas und um eine Bleibe betteln. Das Schicksal der heiligen Familie ist uns in diesem Jahr sehr nahe gerückt. Die Bibel berichtet im Matthäus-Evangelium, dass Jesu Geburt für die politischen Machthaber eine solche Bedrohung darstellte, dass Herodes ihn verfolgte und er fliehen musste. Nur mit dem Nötigsten macht sich die heilige Familie auf den Weg, und sie finden Zuflucht in Ägypten. Egal, ob das nun historisch ist oder nicht: Bedrohung und Verfolgung gehören zur Weihnachtsgeschichte wie die Hirten, die Krippe und die Engel. Das Licht, das Jesus in die Welt bringt, ist von Anfang an gefährdet. Trotzdem wird Jesus den Glanz Gottes in der Welt zum Leuchten bringen, wenn er Blinde sehend macht, den Gebundenen ihre Fesseln löst, damit sie selbstbewusst Schritte ins Leben gehen können. Diesen Glanz Gottes lässt Lukas schon auf dem Felde den Hirten aufscheinen, wenn die Klarheit des Herrn um die Engel leuchtet. Einige Jahrzehnte nach Lukas ordnet ein anderer die Jesus-Geschichte in einen noch größeren Rahmen ein: nicht nur wie Lukas in die Geschichte des Römischen Reichs – »Es begab sicher ab zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging … und da Quirinius Statthalter in Syrien war …« (Lk 2,1f.). Der Verfasser des 1. Johannes-Briefes (1,1–4) – folgen wir der Tradition und nennen ihn Johannes – stellt Jesu Geburt in einen noch größeren Zusammenhang:

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Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –, was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei. Was für ein Satz: Da hat Johannes alles hinein gepackt, was ihm wichtig war: »Was von Anfang an war …«! Was mit Jesus an Weihnachten beginnt, wurzelt in dem Anfang aller Anfänge – in Gott selbst. In diesem Anfang gründet, »was wir gehört, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet und unsre Hände betastet haben.« So anschaulich wie es uns nur Lukas beschreibt, so konkret war es den Lesern dieses Briefes auch Jahrzehnte später noch: »gehört, gesehen, betrachtet – ja sogar mit Händen betastet« – wer denkt da nicht an den zweifelnden Thomas, der seine Hand in die Wunde Jesu legen konnte. Für Johannes ist Jesus »das Wort des Lebens«: Jesu Wort hat befreit, neue Lebenshorizonte eröffnet, Menschen zusammengeführt, und so schreibt Johannes weiter: »… und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist.« Deshalb können die ersten Christen nicht davon lassen, von Jesus zu erzählen; weil ihnen Jesus in seinen Worten und Taten Leben eröffnet hat. Deshalb nehmen sie Verfolgung und Benachteiligung in Kauf: Sie wollen, dass alle Menschen an diesem Leben aus Gott teilhaben, »damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.« Das ist wirklich ein weiter Horizont, der hier eröffnet, in dem christliches Leben gesehen wird: Jesus wird als das »Wort des Lebens« bezeichnet! Was kann alles »Wort des Lebens« sein? Ein Wort, das Menschen zusammenführt; das Waffen zum Schweigen bringt; das versöhnt, vergibt? Jedem und jeder werden Worte einfallen, die ihnen zu »Worten des Lebens« wurden. Wir denken an die Worte Jesu, die Menschen bis heute ermutigen, trösten und stärken.

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Dirk Chr. Siedler

Jesus – das »Wort des Lebens«: Ich möchte Sie heute Abend mit noch einer anderen Überlieferung über die Geburt Jesu bekannt machen und unseren Bibeltext mit einem anderen Text ins Gespräch bringen: »Jesus [als Neugeborener in der Wiege] sprach: ›Ich bin der Knecht Gottes. Gott gab mir die Schriften und machte mich zum Propheten. Er verlieh mir Segen … solange ich am Leben bin … Und Friede über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, an dem ich sterben werde, und an dem Tag, da ich zum Leben auferweckt werde!‹ Das ist Jesus, Marias Sohn, als Wort der Wahrheit …« (Koran Sure 19:30–34a) Vielleicht ahnen es manche schon: Dieser Text steht im Koran, in der 19. Sure ›Maryam‹, die Verse 30–34. Jesus ist der einzige Mensch, von dem der Koran sagt, er sei das »Wort der Wahrheit«. Zu unserem Erstaunen und auch zur Verwunderung der Zeitgenossen Marias kann Jesus hier schon als Baby sprechen. Als Maria mit dem Jesus-Kind anderen Leuten begegnet, da fragen sie sie: »Wie können wir mit jemanden sprechen, der noch ein Kind in der Wiege ist?« Darauf antwortet Jesus selbst mit den Worten, die ich gerade gelesen habe – sicherlich auch zum Erstaunen derer, die das damals erlebt haben sollen. Sicher, manche werden das als Unsinn abtun, und sagen, der Koran sei sowieso keine Offenbarung. Wenn wir aber die Bibel so lesen, dass wir ihre Texte kritisch befragen nach dem, was der Text eigentlich meint, dann sollten wir uns um ein ähnlich kritisches Verständnis auch gegenüber dem Koran bemühen. Dafür ist es wichtig zu bedenken, dass der Koran in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts entstanden ist und sein Gegenüber die tief zerstrittenen christlichen Kirchen und Sekten der damaligen Zeit waren. Wir brauchen uns deshalb nicht darüber zu wundern, dass sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf die Kirchen beziehen, wie sie sich im 7. Jahrhundert darstellten. Im Koran wird Jesus öfter erwähnt als Mohammed und als das »Wort der Wahrheit« bezeichnet. Johannes sah in Jesus das »Wort des Lebens«. Im Koran ist schon das JesusKind das sprechende Wort Gottes, dem die Bibel anvertraut ist. Manche islamische Theologen gehen so weit und sagen: Jesus selbst ist die Botschaft Gottes an uns Menschen. Wenn es uns heute einmal für einen Moment gelingt, die Bilder eines gewalttätigen und terroristischen Islams – den es gibt und der die Botschaft des Korans entstellt – zur Seite zu schieben – nur für einen Moment: Könnten wir dann unsere Sinne dafür öffnen, dass in Jesus für Christen und Muslime Gottes Wille für diese Welt offenbar geworden ist? Wenn in Jesus Gott offenbart wird, dann

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muss er mit ihm »von Anfang an« und für alle Zeit in Beziehung stehen, wie es Johannes in seinem Brieftext geschrieben hat. Ich will heute nicht um eines falschen Weihnachtsfriedens willen Differenzen schönreden. Ich will nicht ignorieren, dass es in Deutschland Moscheen gibt, in denen salafistische Propaganda betrieben wird. Ich bestreite auch nicht, dass Integration kein Selbstläufer ist, sondern eine große gesellschaftliche Aufgabe, die wir uns etwas kosten lassen müssen – und zwar nicht zuerst wegen der Flüchtlinge, sondern wegen aller Familien, Kinder, Menschen, die an der Armutsgrenze leben. Viele von ihnen haben schon seit langem keine berufliche Perspektive. Unseren Staat kostet Geld, das er per Kredit aufnimmt z.Z. 0,45 % Zinsen – also ein bisschen mehr als nichts: Was soll der Geiz – an der Zukunft unserer Familien und unserer Gesellschaft zu sparen? Warum investieren wir nicht mehr in die Zukunft der Menschen, in bezahlbare Wohnhäuser, in Lehrerinnen, Erzieher und Pfleger – in die Zukunft unserer Gesellschaft? Johannes geht es darum, dass Jesus keine bloße Erscheinung war; sondern dass er konkret da war in dieser Welt: Das »Wort des Lebens« war und ist in Jesus sichtbar geworden, konnte mit Händen betastet werden. Die Bibel bezeugt dieses Leben, das in der Gemeinschaft mit Gott wurzelt und deshalb ewig genannt wird. Wie können wir selbst teilhaben an diesem Leben, das in Gott gründet; und wie können wir unsere Gesellschaft gestalten, damit alle teilhaben können? Johannes schreibt: »Das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt.« Von Jesus zu sprechen, das soll Gemeinschaft fördern. Die Gemeinschaft mit Jesus ist schon in den Evangelien nicht folgenlos geblieben, sie verändert Menschen und führt sie in neue Gemeinschaften hinein bis heute: Zachäus, in dessen Haus Jesus kommt, gibt all sein Vermögen den Betrogenen wieder zurück; die Männer, die die Steine auf die Liebhaberin eines Ehebrechers werfen wollen, sie legen die Steine wieder aus der Hand. Die Begegnung mit dem »Wort des Lebens«, dem »Wort der Wahrheit«, verändert Menschen und schafft neue Gemeinschaften. Öffnen wir uns der Weihnachtsbotschaft der Engel und lassen auch wir uns verändern, und geben wir die Hoffnung nicht auf, dass auch die Welt sich zum Guten ändern kann, dass neue gute Gemeinschaften entstehen können: »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«

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Dirk Chr. Siedler

In Jesus ist das »Wort des Lebens« für uns konkret sichtbar und hörbar geworden. Machen wir uns auf den Weg, dieses Wort heute wieder sichtbar, erfahrbar, tastbar werden zu lassen: hier in Düren; überall, wo Menschen keine Perspektive finden. Lassen wir sichtbar werden und weithin leuchten, was es bedeutet, dass der Heiland geboren ist: »eine Freude, die allem Volk widerfahren« ist! Amen.

Autorinnen und Autoren

Ulrich Dehn, Dr. theol., ist Professor für Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaften an der Universität Hamburg und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaften. Thomas Dreessen, geb.1953 in Hamburg, verheiratet mit einer Muslima, lebt seit 1981 im Ruhrgebiet. Er hat Theologie studiert und die Sozialakademie Dortmund absolviert und leitet jetzt das Referat »Glaube und Leben« der Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen. Sein wichtigster Lehrer ist der christliche Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy. Er ist auch Referent in der Fortbildung der Gewerkschaft IGBCE und Kuratoriumsvorsitzender des Zentralinstituts IslamArchiv Deutschland – Amina Abdullah Stiftung. Andreas Goetze, Dr. phil., ist Landespfarrer für den interreligiösen Dialog der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Er studierte Evangelische Theologie, Nebenfächer Judaistik, Philosophie, islamwissenschaftliche Studien und Studien zum orientalischen Christentum in Jerusalem und Beirut. Er hat einen Lehrauftrag an der Humboldt-Universität zu Berlin inne (Institut Kirche und Judentum). Veröffentlichungen zu den Themenbereichen interreligiöser Dialog, Nah-Ost-Konflikt und Spiritualität u.a. unter dem Titel: Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams, Darmstadt 2011 (4. Aufl. 2015). Wolf-Dieter Just, Dr. theol, Prof. i.R., lehrte Sozialethik und Sozialphilosophie an der Evangelischen Fachhochschule Bochum. Veröffentlichungen zum Themenbereich Migration, Asyl und multireligiöses Zusammenleben in ethischer Perspektive, z.B.: Von der mühsamen Anerkennung der multireligiösen Realität in Deutschland. Bedingungen für das friedliche Zusammenleben, in: I. Zacharaki / T. Eppenstein / M. Krummacher (Hg.): Interkulturelle Kompetenz. Handbuch für soziale und pädagogische Berufe. Schwalbach/Ts. 2015, S. 128–146. Er leitet einen christlich-islamischen Gesprächskreis in Duisburg. Hureyre Kam, Philosoph und Islamwissenschaftler, ist Lektor am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft der Université de Fribourg, Promotion über die Theodizee im islamischen Diskurs. For-

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Dirk Chr. Siedler

schungsschwerpunkte sind Islamische Philosophie, Sprachphilosophie, Religionsphilosophie, Kalam und Ethik. Horst Kannemann (1952–2009) war Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Lützellinden bei Gießen, Synodalbeauftragter des Kirchenkreises Wetzlar und stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises Christen und Muslime der Evangelischen Kirche im Rheinland. Manfred Kock war von 1997 bis 2003 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Predigt wurde am 21. Januar 2005 in der Evangelischen Kirche in Barmen-Gemarke (Wuppertal) gehalten. Grundgedanken gehen auf eine Predigt am 1. Oktober 2000 am selben Ort zurück. Fabian Köhler, M.A., hat in Jena und Damaskus Politik- und Islamwissenschaft studiert. Als Journalist schreibt er aus und über Nahost. Er ist außerdem Gründer von »Schantall und die Scharia«, einem Blog über Islamophobie in Deutschland. Ralf Lange-Sonntag studierte Evangelische Theologie in Bochum, Münster, Jerusalem und Berlin sowie Islamwissenschaften in Münster, Berlin und Birmingham. Seit 2011 ist er Referent der Evangelischen Kirche von Westfalen für Fragen des christlich-islamischen Dialogs. Aaron Langenfeld, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und ihre Didaktik am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn und Geschäftsführer des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn. Zu seinen Themenschwerpunkten zählt die theologische Anthropologie mit einem besonderen Fokus auf dem Begriff der Freiheit als theologischer Schlüsselkategorie. Hamideh Mohagheghi ist islamische Theologin und Religionswissenschaftlerin. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie und Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Andreas Ismael Mohr ist Arabist und hat an dem Forschungsprojekt von Prof. Dr. Angelika Neuwirth mitgearbeitet. Dieser zusammenfassende Aufsatz geht auf einen Vortrag im Forum Politik im Mai 2016 in Düren zurück. Rabeya Müller ist eine muslimische Theologin und Religionspädagogin. Sie war Gründerin und Leiterin des Instituts für interreligiöse Pädagogik und Didaktik, verfasste Lehrbücher für den islamischen Religionsunterricht und einen Koran für Kinder und Erwachsene (München 3 2010). Sie ist u.a. stellv. Vorsitzende des Zentrums für islamische Frauenforschung und Frauenförderung (ZIF) und Gründungsmitglied des Liberal-Islamischen Bundes.

Autorinnen und Autoren

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André Ritter, Dr. theol., ist seit 2004 Direktor des Europäischen Instituts für interkulturelle und interreligiöse Forschung mit Sitz im Fürstentum Liechtenstein. Er studierte Evangelische Theologie in Wuppertal, Tübingen, Bern und Zürich. Nach dem Vikariat war er 1991 bis 1996 Studieninspektor im Ev.-Theol. Studienhaus Adolf-Clarenbach e.V. in Bonn. Anschließend war er 1997 bis 2012 Pfarrer der Evangelischen Kirche im Fürstentum Liechtenstein. 2007 folgte er einer Einladung der Harvard Divinity School zum Forschungssemester nach BostonCambridge (USA). Seit 2012 wohnt er mit seiner Frau in Heidelberg und ist Lehrbeauftragter für das Zertifikatsstudium »Interreligiöses Begegnungslernen« an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Dirk Chr. Siedler, Dr. phil., ist Pfarrer der Evangelischen Gemeinde zu Düren, Beauftragter für Islamfragen der Kreissynode Jülich und seit über 20 Jahren aktiv im christlich-islamischen Dialog. In seiner Dissertation befasste er sich mit »Paul Tillichs Beiträgen zu einer Theologie der Religionen« (Münster 1999). Beate Sträter, Dr. rer. soc., ist Schulreferentin des Evangelischen Kirchenkreises Bonn und Vorsitzende des Arbeitskreises »Christen und Muslime« der Evangelischen Kirche im Rheinland. Wolfgang Welsch, Dr. phil., ist emeritierter Professor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Nigar Yardim ist Projektleiterin bei der DITIB Bildungs- und Begegnungsstätte Duisburg-Marxloh und seit 2005 Frauen- und Integrationsbeauftragte des Verbandes der Islamischen Kulturzentren in Köln. Sie ist Mitglied des Beirates für den İslamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen. Von 1979 bis 1982 hat sie Islamische Theologie in Bolu und Ankara (Türkei) studiert, leitete 1998–2000 die Islamische Akademie Villa Hahnenburg in Köln und studierte auch Politik- und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Thomas Zippert, Dr. theol., ist Professor für Diakonik an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Vorher leitete er die Hephata Akademie für soziale Berufe im Hessischen Diakoniezentrum Hephata und war Studienleiter am Predigerseminar der Ev. Kirche von KurhessenWaldeck. Theologie studierte er in Marburg, Heidelberg, Jerusalem und München. 1–2 Veröffentlichungen zu Notfallseelsorge, zum Diakonen-Amt und zum Sozialraum, z.B. Menschenbilder in der Diakonie, in: E. Gräb-Schmidt / M. Heesch / Fr. Lohmann / D. Schlenke / C. Seibert (Hg.), Leibhaftes Personsein. Theologische und interdisziplinäre Perspektiven. Festschrift für Eilert Herms zum 75. Geburtstag (MThSt 123). Leipzig 2015, S. 419–431.