Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie: Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz 9783839447161

The volume presents the history of deaf people as the history of a marginalized cultural minority and thus offers an inn

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie: Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz
 9783839447161

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
Teil 1: Die Perspektiven gehörloser Menschen sichtbar machen: Innovative methodische Ansätze
»…meine Taubheit ist mir aber wohl nicht schädlich…«
»Gitter am Kopf und Loch im Herzen«
»Hab ich das richtig verstanden?«
Teil 2: Taube Akteure und Gehörlosenverbände in Interaktion mit der hörenden Mehrheitskultur
Die ›Lex Zwickau‹
Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenvertretungen der Gehörgeschädigten und Blinden in der SBZ und frühen DDR, 1945-1957
Gebärdensprachforschung in der Schweiz
Die Erinnerung an die jüdische Gehörlosengemeinschaft und den Deaf Holokaust wiederfinden
Teil 3: Hörende Perspektiven auf Gehörlosigkeit neu bewerten: Interdisziplinäre Quellen und Ansätze
Die strafrechtliche Schuldfähigkeit von drei tauben Mördern in Preußen zwischen 1727 und 1828
Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik in der Habsburger Monarchie
Georg Wilhelm Pfingsten
Die Relikte von Oralismus und Behindertendiskriminierung in Österreich
Autorenverzeichnis

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Marion Schmidt, Anja Werner (Hg.) Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

Disability Studies. Körper – Macht – Differenz  | Band 14

Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht »Behinderung« als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die auch den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit »Behinderung« korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Die Reihe wird herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität zu Köln), in Zusammenarbeit mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg), Anja Tervooren (Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen) und Heike Zirden (Berlin).

Marion Schmidt promovierte 2016 am Institute for the History of Medicine der Johns Hopkins University, USA. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Göttingen. In ihrer Forschung untersucht sie die Wahrnehmung von Behinderung und Minderheiten in den Bio- und Psychowissenschaften, insbesondere die Entwicklung von minderheitsspezifischen Dienstleistungen. Sie setzt sich außerdem für eine stärkere Verankerung und Vernetzung der Gehörlosengeschichte und Disability Studies in Europa ein. Anja Werner (geb. Becker) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie erforscht die Geschichte von Minderheiten aus transnationalen Perspektiven, insbesondere von gebärdensprachlich gehörlosen und afrikastämmigen Menschen. Für ihre Recherchen zur Geschichte von Taubheit erhielt sie verschiedene Forschungsstipendien, u.a. vom Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. und vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Marion Schmidt, Anja Werner (Hg.)

Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Leopold-Klinge-Stiftung (Deutsches Stiftungszentrum in Essen).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Die Zeichensprache der Taubstummen«. In »llustrierter Familien-Freund. Beilage zur Leipziger Vorort-Zeitung« 24 (12. Juni 1810): 4. Im Besitz der Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigtenwesen in Leipzig Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4716-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4716-1 https://doi.org/10.14361/9783839447161 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Dank  | 7 Einleitung Marion Schmidt und Anja Werner | 9

T eil 1: D ie P erspek tiven gehörloser M enschen sichtbar machen : I nnovative methodische A nsätze »…meine Taubheit ist mir aber wohl nicht schädlich…« Über die Bedeutung von Ego-Dokumenten am Beispiel der Schülertagebücher aus der Hamburger Taubstummenanstalt, 1830-1847 Sylvia Wolff | 51

»Gitter am Kopf und Loch im Herzen« Lebenswelten ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Taubstummenanstalt St. Gallen, 1930er bis 1950er Jahre Vera Blaser und Matthias Ruoss | 83

»Hab ich das richtig verstanden?« Den Möglichkeitsraum eingrenzen: Lippenlesen und Interaktion Andrea Neugebauer | 119

T eil 2: T aube A k teure und G ehörlosenverbände in I nterak tion mit der hörenden M ehrheitskultur Die ›Lex Zwickau‹ Zwangssterilisierungsdebatten in der Gehörlosenbewegung Ylva Söderfeldt und Enno Schwanke | 153

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenvertretungen der Gehörgeschädigten und Blinden in der SBZ und frühen DDR, 1945-1957 Anja Werner und Carolin Wiethoff | 191

Gebärdensprachforschung in der Schweiz Eine Erfolgsgeschichte mit vielen Vätern. Der Beitrag von kleinen Playern am Beispiel des Vereins zur Unterstützung der Gebärdensprache der Gehörlosen (VUGS) Michael Gebhard | 235

Die Erinnerung an die jüdische Gehörlosengemeinschaft und den Deaf Holokaust wiederfinden Eine Frage der Menschenrechte entsprechend der UN-BRK, unter Abgrenzung von den Zwangssterilisationen und der »Aktion T4« Mark Zaurov | 261

T eil 3: H örende P erspek tiven auf G ehörlosigkeit neu bewerten : I nterdisziplinäre Q uellen und A nsätze Die strafrechtliche Schuldfähigkeit von drei tauben Mördern in Preußen zwischen 1727 und 1828 Raluca Enescu | 293

Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik in der Habsburger Monarchie Florian Wibmer | 321

Georg Wilhelm Pfingsten »Vater« der Hörgeschädigtenpädagogik in Schleswig-Holstein Ingo Degner | 349

Die Relikte von Oralismus und Behindertendiskriminierung in Österreich Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber | 371

Autorenverzeichnis  | 423

Dank An erster Stelle möchten wir für die finanzielle Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Leopold-Klinge-Stiftung des Deutschen Stiftungszentrums in Essen danken. Die großzügigen Druckkostenzuschüsse beider Stiftungen haben die Herausgabe dieses Sammelbandes erst möglich gemacht. Astrid Knese von der Leopold-Klinge-Stiftung bestärkte uns sehr freundlich in der Endphase der Fertigstellung des Manuskripts. Des Weiteren danken wir Frau Prof. Anne Waldschmidt und ihren KollegInnen für die Aufnahme in die Reihe Disability Studies des transcript Verlags und die Unterstützung im Publikationsprozess. Schließlich danken wir unseren Kontaktpersonen bei transcript, allen voran Johanna Tönsing und Gero Wierichs. Wir danken Martin Lengwiler und Maike Rotzoll für die Unterstützung und Ermutigung sowie Diana Preller von der Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigtenwesen in Leipzig für ihre unkomplizierte Hilfe bei Recherchen und ihre Zuarbeit bei der Gestaltung des Covers. Unser besonderer Dank gilt Harry Witzthum vom Schweizer Gehörlosenbund SGB-FSS und Helmut Vogel vom Deutschen Gehörlosen-Bund (DGB) für hilfreiche Anregungen und Feedback. Schließlich danken wir in besonderem Maße dem während der Vorbereitungen zu diesem Band unerwartet verstorbenen Franz Dotter für seine freundlichen Anregungen und Feedback sowie Helene Jarmer und Lukas Huber vom Österreichischen Gehörlosenbund (ÖGLB) für ihr über das übliche Maß weit hinausgehende Engagement in der Fertigstellung ihres gemeinsam mit Franz Dotter vorbereiteten Beitrags. Marion Schmidt dankt ihrem Partner Jonas Krainbring für seine Unterstützung, die rechtliche Beratung und musikalische Untermalung. Anja Werner dankt ihrem Mann, dem Historiker Oliver Werner, für fachliche Anregungen sowie Verständnis und besondere Unterstützung im familiären Alltag während der Vorbereitung dieses Bandes.

Einleitung Marion Schmidt und Anja Werner

H istorischer K onte x t und ak tuelle L age In der hörenden Öffentlichkeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind Gehörlosenkultur und die verschiedenen nationalen Gebärdensprachen noch immer Randthemen. Während beispielsweise in den USA gehörlose Künstler, Schauspieler und Aktivisten in den Medien präsent sind,1 bleibt Gehörlosenkultur im deutschsprachigen Raum für den hörenden Durchschnittsbürger weitgehend unsichtbar. Ärzte, Anwälte und andere Personen, die in ihrem Berufsalltag mit gehörlosen Menschen in Kontakt kommen können, werden in ihrer Ausbildung bis heute nicht ausreichend für deren unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse und Wertvorstellungen sensibilisiert. Dabei haben gehörlose Menschen immer wieder Spuren hinterlassen, die auch der hörenden Mehrheitskultur anregende neue Impulse geben könnten. Allerdings sind diese Spuren oft auf anderen kommunikativen Ebenen »versteckt« oder aufgrund von nicht hinterfragten hörenden Erwartungshaltungen, wie ein gehörloser Mensch denn nun zu sein habe, schlichtweg übersehen worden. Den »typischen« Gehörlosen gibt es ohnehin nicht. Wie die Beiträge in diesem Sammelband verdeutlichen, bestand und besteht eine große Bandbreite an unterschiedlichen gehörlosen, schwerhörigen oder hörgeschädigten Selbstbildern, die durch zusätzliche Identifikationsmerkmale über den Hörstatus hinaus weiter differenziert werden. Während die hörende Mehrheitskultur wenig Anteil an dieser Vielfalt nimmt, und während hörende Professionelle, die sich um die »Integration« gehörloser Menschen in die hörende Welt be1 | Beispiele sind die Medienpräsenz der gehörlosen Schauspielerin Marlee Matlin, die 1987 den Oscar als beste Hauptdarstellerin für den Film Gottes vergessene Kinder (Children of a Lesser God) gewann und seither in Fernsehserien und Filmen präsent ist, oder auch Heather Whitestone, 1995 die erste gehörlose Miss Amerika. Beide veröffentlichten Autobiografien: Marlee Matlin und Betsy Sharkey, I’ll Scream Later (New York [u.a.]: Simon & Schuster, 2009); Heather Whitestone[-McCallum] und Angela Elwell Hunt, Listening with My Heart (New York: Doubleday, 1997).

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

mühen, gelegentlich zu sehr damit beschäftigt sind, ihre theoretischen Überlegungen zur Taubheit in der Praxis bestätigt zu finden, haben gehörlose Menschen die ihnen fremde, hörende Welt immer wieder kontaktiert, kommentiert und sich sogar unter ihren Augen über sie gebärdensprachlich mokiert.2 Wie kann man diese visuelle, gehörlose Kultur auch für die hörende Mehrheitsgesellschaft sichtbar und somit verständlicher machen? Die AutorInnen der hier zusammengestellten Beiträge geben auf diese Frage vielfältige Antworten. Allen voran fließen die persönlichen Erfahrungswelten gehörloser aber auch hörender WissenschaftlerInnen und AktivistInnen in die Auswertung historischer Zusammenhänge ein, wie u.a. die Beiträge von Mark Zaurov oder von Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber belegen. Neue Quellen werden in der Gehörlosenpresse und in Verbandsarchiven gefunden (wie z.B. die Beiträge von Michael Gebhard sowie von Anja Werner und Carolin Wiethoff zeigen), aber auch in verschiedenen hörenden Kontexten und Publikationen, die mit für Gehörlosenkulturen sensiblen Augen neu interpretiert werden (beispielsweise im Beitrag von Sylvia Wolff). Darüber hinaus bieten sich überregionale und transnationale Forschungsansätze an: Der Vergleich gehörloser Lebenswege in verschiedenen Regionen und Ländern zeigt erstaunliche Austauschbewegungen schon im 18. Jahrhundert ebenso wie individuelle nationale Tendenzen. Letztere konnten durch internationale Kontakte – sowohl der Gehörlosen selbst wie auch verschiedener Berufsgruppen, die mit gehörlosen Menschen zu tun haben, wie Gehörlosenpädagogen und Otologen – in neue Richtungen gelenkt werden. Sofern möglich, soll in diesem Band das Augenmerk vornehmlich – aber nicht ausschließlich – auf gebärdensprachlich kommunizierende gehörlose Menschen gelegt werden, die sich selbst als sprachlich-kulturelle Minderheit wahrnehmen und auf diese Weise immer wieder in Konflikte mit der sie umgebenden lautsprachlichen Mehrheitskultur geraten. Demgegenüber kommunizieren schwerhörige Menschen eher lautsprachlich mithilfe von Absehen (d.h. »Lippenlesen«), Hörhilfen oder Implantaten. Die Einteilung in »gehörlos/taub« bzw. »schwerhörig« wird in der Medizin aufgrund der gemessenen Hörreste getroffen. Sie muss nicht mit der persönlichen Selbstwahrnehmung der Betroffenen übereinstimmen, die unabhängig von ihrem Hörvermögen aufgrund einer Vielzahl von Faktoren für sich die Entscheidung treffen, eher lautsprachlich oder gebärdensprachlich zu kommunizieren. Die Begriffe »hörbehindert« bzw. »hörgeschädigt« werden vornehmlich in medizinisch-wissenschaftlichen Kontexten verwendet und umfassen alle verschiedenen Grade von Hörschädigung. Der in der Vergangenheit übliche Begriff »taubstumm«, der 2 | Ein Beispiel aus seiner Schulzeit gibt der taubblinde Diakon Peter Hepp in seinen Memoiren. Vgl. Peter Hepp, Die Welt in meinen Händen. Ein Leben ohne Hören und Sehen (Berlin: Ullstein, 2007), 68.

Einleitung

gelegentlich umgangssprachlich noch genutzt wird, wird heute als abwertend wahrgenommen und sollte nicht mehr verwendet werden.3 Eine klare Abgrenzung zwischen Gehörlosigkeit bzw. Taubheit und Schwerhörigkeit ist also auch heute nicht einfach; historisch gesehen ist sie oft nicht möglich. Auch die Beiträge in diesem Band zeigen, dass historisch und aktuell eine Vielzahl an Begriffen verwendet wurden und werden. Dennoch möchten wir – soweit realisierbar – Schwerpunkte auf die vernachlässigte Geschichte der Gehörlosengemeinschaft und -kultur sowie die Unterdrückung von nationalen Gebärdensprachen legen. Eine Sensibilität für die Vielschichtigkeit von Hörschädigungen muss sich zukünftig stärker in der Forschung widerspiegeln. Medizingeschichte, Bildungsgeschichte und Disability Studies können der Gehörlosengeschichte nur gerecht werden, wenn die unterschiedlichen Selbst- und Fremdwahrnehmungen Berücksichtigung finden. Dabei muss eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der sich im Lauf der Zeit wandelnden Wahrnehmung von Gehörlosigkeit nicht auf diese Disziplinen beschränkt bleiben. Faszinierende neue Einsichten können auch aus juristischen Quellen oder mit soziologischen Arbeitsmethoden gewonnen werden und damit aufschlussreiche Facetten der Geschichte gehörloser Menschen aufzeigen – es sei auf die Beiträge von Raluca Enescu und Andrea Neugebauer in diesem Band verwiesen. Die Erforschung der Geschichte gehörloser Menschen als inkludierende Geschichtsschreibung steckt im deutschsprachigen Raum noch in den Anfängen. Tatsächlich bietet die Geschichte von Gehörlosigkeit nicht nur gehörlosen Menschen eigene, identitätsstiftende Geschichtsnarrative, sondern sie ist ein Teil der Geschichtsschreibung schlechthin. Als Minderheiten-, Sozial- und Kulturgeschichte kann die Gehörlosengeschichte die Geisteswissenschaften durch ungewohnte Nuancen und Perspektiven wesentlich bereichern. Mit dem vorliegenden Sammelband möchten wir aus historischer Sicht und unter Einbeziehung der Perspektiven gehörloser Menschen und WissenschaftlerInnen einen Beitrag zum besseren Verständnis von Gehörlosigkeit in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz leisten. Dabei schließen wir explizit gebärdensprachliche Perspektiven aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa ein, das besonders lange von der lautsprachlichen Tradi3 | Diese Darstellung ist vereinfacht. Für eine differenzierte Diskussion der Begrifflichkeiten und ihrer Herausforderung siehe Franz Dotter, »Hörbehindert = gehörlos oder resthörig oder schwerhörig oder hörgestört oder hörgeschädigt oder hörsprachbehindert oder hörbeeinträchtigt?«, SWS-Rundschau 49 (2009): 347-368. Vgl. auch Anja Werner, »Lautsprache, Gebärdensysteme oder Gebärdensprache? Sprache und Partizipation bei unterschiedlichen Formen von Hörschädigungen«, in Sprache und Partizipation in Geschichte und Gegenwart, Hg. Martina M. Bock und Philipp Dreesen, Reihe Sprache – Politik – Gesellschaft (Bremen: Hempen-Verlag, 2018), 178-195.

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

tion und einer pathologisierenden Wahrnehmung von Gehörlosigkeit geprägt war – und bis heute ist. Für die hörende Mehrheitsgesellschaft im deutschsprachigen Raum ist es immer noch von vorrangigem Wert, dass gehörlose Menschen als quasi-hörend am hörenden Alltag teilhaben können und nicht durch Gebärden als »anders« auffallen. Lautsprache wird vor allem im medizinischen Bereich bis heute oft als »natürlich« und »alternativlos« verstanden4, die Ausrichtung auf Gebärdensprachgemeinschaften eher als isolierend und daher nicht im Interesse gehörloser Menschen empfunden.5 Die Bedeutung einer Gebärdensprache als Muttersprache für die Persönlichkeitsentwicklung gehörloser Kinder findet hierbei wenig Beachtung.6 Daher zielt auch die medizinische Versorgung insbesondere von hörgeschädigten Kleinkindern mit Cochlea-Implantaten und anderen Hörhilfen heute weiterhin darauf ab, diese möglichst nur lautsprachlich zu erziehen, so dass die Kinder oft ohne jegliche Kenntnisse einer Gebärdensprache eingeschult werden. Dementsprechend haftet Gebärdensprachen unter Ärzten und der Mehrheit hörender Eltern gehörloser Kinder bis heute oft das Stigma an, (allenfalls) ergänzend für jene hörgeschädigten Schüler sinnvoll zu sein, die nicht in der Lage – oder nicht willens – sind, einen hochgradigen Hörverlust lautsprachlich zu kompensieren.7 4 | Eine Ausnahme dürfte der Physiologe Horst Pagel sein, der schon 2006 forderte, eine Auseinandersetzung mit Gebärdensprachen in das Medizinstudium einfließen zu lassen, Horst Pagel, »Historische Anmerkungen zur Kultur und Kommunikation Gehörloser«, FOCUS MUL 23, Nr. 2 (2006): 102-109. Sabine Müller und Ariana Zaracko kamen 2010 in einem kontrovers diskutierten Artikel zwar zu dem Schluss, dass Kinder ein Recht auf ein CI hätten, argumentierten aber auch für einen gleichzeitigen Gebärdensprachunterricht: »Mit Respekt auf die Autonomie des Kindes und sein Recht, später selbst zu entscheiden, ob es in der Welt der Hörenden oder der Deaf Community oder in beiden leben möchte, empfehlen wir – wie inzwischen auch der Bundeselternverband gehörloser Kinder e. V .–, gehörlose Kinder sowohl mit einem CI zu versorgen, als auch Gebärdensprache erlernen zu lassen.« Sabine Müller und Ariana Zaracko, »Haben gehörlose Kleinkinder ein Recht auf ein Cochleaimplantat?«, Nervenheilkunde 4 (2010): 244-248, hier 248. 5 | Anja Werner, »Behindert oder sprachlich-kulturelle Minderheit? Eine kulturhistorische Perspektive auf gehörlose Menschen in Deutschland«, in »Disability Studies« meets »History of Science«. Körperliche Differenz und soziokulturelle Konstruktion von Behinderung aus der Perspektive der Medizin-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte, Hg. Dominik Gross und Ylva Söderfeldt (Kassel: Kassel University Press GmbH, 2017), 107-132, hier 110-111. 6 | Katharina Adlassnig, Sprache – Identität – Leben: Der Späterwerb einer Gebärdensprache bei Gehörlosen (Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2015). 7 | Gespräch Anja Werner mit Vertretern der Schulleitung bzw. des Lehrkörpers der Paulinenpflege Winnenden (Berufsbildungswerk sowie Schule beim Jakobsweg) im Juli 2016.

Einleitung

Nichtsdestotrotz wurde seit den 1980er Jahren auf internationaler Ebene der inzwischen als bimodal-bilingual bezeichnete Unterricht eingeführt 8 – d.h., der Unterricht sowohl in einer nationalen Gebärdensprache als auch in einer Laut- und Schriftsprache. In den 1980er und 1990er Jahren begannen auch Gehörlosenschulen in Deutschland, der Schweiz und in Österreich Modell- und Pilotversuche für zweisprachigen Unterricht in Gebärden- und Lautbzw. Schriftsprache. Wie u.a. aus den Beiträgen in diesem Band ersichtlich wird, schwankte die Durchsetzung und Langlebigkeit dieser Modelle jedoch regional und national stark.9 Das zeigt auch der heutige Status von Gebärdensprachen im deutschsprachigen Raum: In Deutschland wurde die Deutsche Gebärdensprache (DGS) durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 anerkannt.10 Demnach haben Gehörlose das Recht, »im Kontakt mit Trägern der öffentlichen Gewalt in ihrer eigenen Sprache zu kommunizieren und Gebärdensprachdolmetscher/Innen hinzuzuziehen«.11 Der Deutsche Gehörlosen-Bund (DGB) kritisierte jedoch Ende 2015 im Rahmen der Novellierung des BGG bezüglich Gebärdensprache und anderer Kommunikationsformen u.a. den engen Anwendungsbereich: »Landesverwaltungen, die Bundesrecht ausführen, werden ebenso ausgeschlossen wie private Wirtschaftsakteure, an denen der Bund mehrheitlich beteiligt ist.«12

Speziell für den US-amerikanischen Kontext, vgl. Laura Mauldin, Made to Hear: Cochlear Implants and Raising Deaf Children (Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 2016). 8 | Vgl. z.B. Claudia Becker, Mireille Audeoud, Verena Krausneker und Darina Tarcsiová, »Bimodal-bilinguale Bildung für Kinder mit Hörbehinderung in Europa – Teil I: Erhebung des Ist-Stands«, Das Zeichen 105 (2017): 60-73. Vgl. auch Verena Krausneker, »DeSign Bilingual«, www.univie.ac.at/designbilingual/index.php. 9 | Anne C. Uhlig, Ethnographie der Gehörlosen: Kultur, Kommunikation, Gemeinschaft (Bielefeld: transcript, 2012). 10 | Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, »Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG), §6 Gebärdensprache und Kommunikation von Menschen mit Hör- und Sprachbehinderungen«, https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/__6.html. 11 | Bundeselternverband gehörloser Kinder e. V. und Verlag Karin Kestner, »Wörterbuch Gesamt-Gebrauchswortschatz der Deutschen Gebärdensprache«, Pressemitteilung vom 3.3.2008, https://www.kestner.de/n/verschiedenes/presse/2008/wb-pres semitteilung.htm. 12 | Deutscher Gehörlosen-Bund, »Stellungnahme des Deutschen Gehörlosen-Bundes e.V. (DGB) zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts (BGG)«, 7.12.2015, 3, Zugriff 29.11.2018, www.gehoerlo sen-bund.de/browser/808/DGB-Stellungnahme_zum_Referentenentwurf_des_BGG7.12.2015.pdf.

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

Die Schweiz gesteht ein Recht auf Förderung von Gebärdensprache in der schulischen und beruflichen Ausbildung zu, das in der Realität jedoch nur begrenzt umgesetzt wird. Besonders die Durchsetzung der bilingualen Ausbildung gestaltet sich weiterhin schwierig. Auf Kantonsebene erwähnen die Verfassungen der Kantone Zürich und Genf die Gebärdensprache, wobei Zürich diese unter der Sprachenfreiheit subsumiert und Genf formal anerkennt. In der Realität wirkt sich diese Anerkennung bzw. Sprachfreiheit jedoch kaum aus, weshalb Gehörlosenverbände eine Anerkennung von Gebärdensprachen als Minderheitensprachen mit ähnlichen Rechten und Schutzstatus wie die rätoromanische Minderheitensprache anstreben.13 In Österreich wurde die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) 2006 im Rahmen einer Verfassungsänderung als eigenständige Sprache anerkannt.14 Wie der Beitrag von Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber im vorliegenden Band zu den Relikten der Behindertendiskriminierung in Österreich konstatiert, besteht diese Anerkennung der ÖGS eher auf dem Papier. Die praktische Umsetzung wird durch juristische Finessen erschwert und in der Zukunft gerichtlich durchzusetzen sein.15 Ein Grund für die vergleichsweise geringe Offenheit gegenüber nationalen Gebärdensprachen ist die erwähnte, im deutschsprachigen Raum besonders stark verwurzelte orale Tradition, d.h. die (oftmals ausschließliche) Vermittlung von Lautsprache und Lippenlesen (bzw. Absehen), die seit der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts zunehmend als international richtungsweisend angesehen wurde. Wendet man den Blick in die Vergangenheit und auf die internationale Landschaft, zeigt sich allerdings, dass Gebärden auch im deutschsprachigen Raum immer Teil des gehörlosen Alltags gewesen sind.16 13 | Siehe Stellungnahme des Schweizer Gehörlosenbundes SGB-FSS, »Anerkennung der Gebärdensprache«, Zugriff 29.11.2018, www.sgb-fss.ch/positionen/spra che-und-kultur/. Wir danken Harry Witzthum vom Schweizer Gehörlosenverband SGBFSS für seine informative Auskunft. 14 | Verena Krausneker, Taubstumm bis gebärdensprachig: Die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspektive (Klagenfurt: Drava, 2006); Verena Krausneker und Katharina Schalber, Sprache, Macht, Wissen: Zur Situation gehörloser und hörbehinderter SchülerInnen, Studierender & ihrer LehrerInnen, sowie zur Österreichischen Gebärdensprache in Schule und Universität. Wien: Abschlussbericht des Forschungsprojekts 2006/2007 (Wien: Innovationszentrum der Universität Wien, 2007). 15 | Wir danken Franz Dotter für zusätzliche Informationen zum Stand um die Anerkennung der ÖGS sowie für seine Verweise auf die diesbezüglichen Arbeiten von Verena Krausneker. 16 | Vgl. z.B. Ylva Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere. The German Deaf Movement 1848-1914 (Bielefeld: transcript, 2013).

Einleitung

Es ist heute schwer nachvollziehbar, ob und wie in vergangener Zeit Gebärden, Gebärdensysteme und tatsächliche eigenständige Gebärdensprachen voneinander abgegrenzt wurden. Es ist aber z.B. belegt, dass auf der Basis französischer Gebärden eine amerikanische Gebärdensprache entstand.17 Wie auch die Beiträge im vorliegenden Band zeigen, gab es in Österreich und Deutschland sowie der Schweiz schon im 18. und 19. Jahrhundert »Taubstummenpädagogen«, die offen oder zumindest tolerant gegenüber Gebärden, Gebärdensystemen und Gebärdensprachen waren.18 Die pädagogische Auseinandersetzung um Gebärden(sprachen) und Lautsprachen im »Taubstummenunterricht« ist heute nahezu mythologisiert. Sie wird gerne auf die Gründerväter der ersten beiden staatlichen Gehörlosenschulen Europas – in Frankreich durch Abbé Charles-Michel de l’Epée (17121789) und in Deutschland durch Samuel Heinicke (1727-1790) reduziert. Dementsprechend sind deren Lehrmethoden auch in ihren nationalen Kontexten historisch verankert. So entwickelten de l’Epée und sein Nachfolger Abbé Roch-Ambroise Cucurron Sicard (1742-1822) – in Frankreich die sogenannte »manuelle« Methode auf der Basis von Gebärden, weshalb diese oft auch als die »französische« Methode oder Tradition bezeichnet wird. Auch in den USA, wo sich die frühen Gehörlosenschulen stark an Frankreich orientierten, dominierte bis in die 1880er Jahre die manuelle Methode.19 In Deutschland hin17 | Zu den USA, vgl. z.B. Harlan Lane, When the Mind Hears: A History of the Deaf (New York: Random House, 1984); zu Deutschland, vgl. z.B. Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere. 18 | Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang für Deutschland z.B. Sylvia Wolff, Elementarunterricht und Sprachbildung unter besonderer Berücksichtigung der Unterrichtspraxis am Berliner Königlichen Taubstummeninstitut zwischen Aufklärung und Frühmoderne (Berlin: Humboldt Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät IV, 2013), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:11-100212189; sowie Jochen Muhs, Johann Heidsiek: einer der letzten grossen Vorkämpfer für gebärdensprachliche Erziehung Gehörloser an Taubstummenanstalten (1855-1942), 2. Aufl. (Berlin: Deaf History Deutschland, 2000 [1998]). Für die Schweiz siehe z.B. Rebecca Hesse und Martin Lengwiler, Aus erster Hand. Gehörlose und Gebärdensprache in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Schlussbericht des Projekts »Verbot der Gebärdensprache in der Schweiz« zuhanden des Schweizerischen Gehörlosenbundes (SGB-FSS) (Basel: Departement Geschichte, Universität Basel, 2017), 23-24; Benno Caramore, Die Gebärdensprache in der schweizerischen Gehörlosenpädagogik des 19. Jahrhunderts (Hamburg: Signum-Verlag, 1990). Zu Österreich, vgl. z.B. Petra Berger, Die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) in der Zeit der Aufklärung (Graz: Universitätsverlag, 2006). 19 | Für eine ausführliche Darstellung siehe insbesondere Douglas C. Baynton, Forbidden Signs: American Culture and the Campaign against Sign Language (Chicago [u.a.]: Univ. of Chicago Press, 1998); R. A. R. Edwards, Words Made Flesh. Nineteenth-Century

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

gegen sei – so lange der Forschungsstand – Heinicke von der Überlegenheit der lautsprachlichen Methode überzeugt gewesen und stünde mit dieser Einstellung exemplarisch für die deutsche Gehörlosenbildung schlechthin.20 Dass die beiden Methoden damals gar nicht so klar voneinander abgrenzbar waren, und dass es darüber hinausgehend weitere Modelle der Vermischung beider Methoden unter Hinzuziehung von Schriftsprache gab, zeigt z.B. ein Blick nach Österreich oder in verschiedene deutsche Regionen wie in den Beiträgen von Florian Wibmer und Ingo Degner in diesem Band. Tatsächlich war schon im späten 18. und im 19. Jahrhundert die methodische Diskussion nicht nur auf eine »deutsche« und eine »französische« Methode beschränkt. Hier gibt es Ansatzpunkte für aufschlussreiche weiterführende Studien. Auf dem Zweiten Internationalen Taubstummenlehrerkongress 1880, nach dem Tagungsort als »Mailänder Kongress« bekannt, entschieden sich die (vornehmlich hörenden) Teilnehmer zukunftsweisend für die (reine) lautsprachliche Methode.21 Freilich erreichten nur wenige Gehörlose das Ideal lautsprachlicher Integration und stießen nach ihrem Schulabschluss oft auf gebärdende lokale Gehörlosenvereine, Kirchen oder Gemeinschaften. Diese lokalen Gemeinden wurden von Pädagogen misstrauisch beäugt und waren in der Fachliteratur lange ein Negativ- oder Tabuthema.22 So blieben die lautsprachlichen Methoden bis mindestens in die 1960er Jahre international vorherrschend; im deutschsprachigen Raum und vielen anderen Ländern bis mindestens in die 1980er Jahre, wenn nicht bis in die Gegenwart. Ein Grund hierfür ist u.a. eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend medikalisierte und verwissenschaftliche Sicht auf Gehörlosigkeit. »Taubstummenlehrer«, die sich bis dato vorrangig aus den Reihen von Kirchenmännern, Deaf Education and the Growth of Deaf Culture (New York, NY [u.a.]: New York Univ. Press, 2014 [2012]). 20 | Es hat im Lauf der Zeit immer wieder Publikationen zu Heinicke gegeben. Eine Analyse der Perzeptionsgeschichte Heinickes wäre aufschlussreich. Ein Ansatzpunkt wäre Samuel Heinicke, Georg Schumann und Paul Schumann, Samuel Heinickes gesammelte Schriften (Leipzig: Wiegandt, 1912). 21 | Edmund Treibel, Hg., Der zweite internationale Taubstummenlehrer-Kongress in Mailand (Berlin: Issleib, 1881). 22 | Eine frühe Ausnahme ist die Arbeit des österreichisch-amerikanischen Psychologenehepaares Fritz und Grace Moore Heider, die erstmals eine psychologische Studie gebärdender Erwachsener veröffentlichten und diese als soziale Minderheit bezeichneten. Siehe Fritz Heider und Grace M. Heider, Studies in the Psychology of the Deaf (Evanston, Ill: American Psychological Association, 1940); vgl. auch Marion A. Schmidt, »Planes of Phenomenological Experience: The Psychology of Deafness as an Early Example of American Gestalt Psychology, 1928-1940«, History of Psychology 20, Nr. 4 (2017): 347-364.

Einleitung

Lehrern oder Ärzten rekrutiert und autodidaktisch gebildet hatten, professionalisierten sich und bezogen sich dabei verstärkt auf den medizinisch-naturwissenschaftlichen Diskurs, um ihre didaktische Arbeit zu begründen. Eine Grundlage dafür bot die sich zu diesem Zeitpunkt als gesonderter Teilbereich der Medizin institutionalisierende Ohrenheilkunde.23 Technische Neuerungen und die Erforschung der Elektrizität ermöglichten es im Laufe des späten 19. und frühen 20.  Jahrhunderts, Audiometer (also Geräte, die das Hörvermögen testen), elektronische Hörverstärkungen und schließlich Hörhilfen zu entwickeln. Diese fanden nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend weite Verbreitung und stellten auch nennenswerte Wirtschaftsfaktoren dar. Eine wachsende Anzahl von Disziplinen beschäftigte sich nun mit der Gehörlosigkeit, darunter im medizinischen Bereich die Otologie (heute Teil der HNO), zur Hörmessung die Audiologie und speziell für Kinder die Pädaudiologie, zur Fertigung und Anpassung von Hörhilfen die Hörgeräteakustik sowie zum Lautsprach-, Artikulations- und Hörtraining die Logopädie und Phoniatrie. All diese Disziplinen haben ihren eigenen Anspruch darauf, Taubheit zu heilen und Gehörlose zu »normalisieren«, indem diese in die hörende Mehrheitsgesellschaft »integriert« werden.24 Dabei handelt es sich überwiegend um eine einseitige »Integration«, in der sich allein die Gehörlosen der hörenden Welt anpassen müssen, die aber im Gegenzug kaum je die sprachlich-kulturellen Werte der Gehörlosen berücksichtigt. Vertreter der Deaf und Disability Studies sowie von Interessenvertretungen Gehörloser haben diese Medikalisierung als Pathologisierung von Gehörlosenkultur und -gemeinschaft kritisiert.25 Tatsächlich hatte diese me23 | Vgl. z.B. Hans-Heinz Eulner, Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes (Stuttgart: F. Enke, 1970). 24 | Jaipreet Virdi und Coreen McGuire, »Phyllis M. Tookey Kerridge and the Science of Audiometric Standardization in Britain«, The British Journal for the History of Science (2017): 1-24, https://doi.org/10.1017/S0007087417000929; Rainer Hüls, Die Geschichte der Hörakustik: 2000 Jahre Hören und Hörhilfen (Heidelberg: Median-Verlag, 1999). 25 | Am Zentrum für Gebärdensprache der Universität Klagenfurth diskutierte z.B. Paul Steixner 2009 im Rahmen seiner Analyse des medizinischen Verständnisses von Hörbehinderung auch »Die Pathologisierung der Gehörlosen – das defizitäre Modell«. Paul Steixner, Taubstumm oder gehörlos? Zur sozialen Situation Gehörloser zwischen Diskriminierung, Integration und Anerkennung der Gehörlosenkultur (Klagenfurt: Zentrum für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation, 2009): 17-19, https://www. aau.at/wp-content/uploads/2017/11/zgh-veroeffentlichung-bd-16.pdf. Andreas Sagner argumentierte schon 2001, dass Hörbeeinträchtigungen erst durch ihre Pathologisierung in der hörenden Kultur »sichtbar« wurden. Andreas Sagner, »Behinderung und Kultur«, Zeitschrift Für Ethnologie 126 (2001), 175-207, zitiert in Uhlig, Ethnographie der Gehörlosen, 47.

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dizinisch-pathologisierende Perspektive oft negative Auswirkungen auf die Rechte, Lebens- und Berufschancen Gehörloser. Das wird besonders deutlich an der Verflechtung von Eugenik- und Gehörlosengeschichte. Seit dem späten 19. Jahrhundert bot die Eugenik eine scheinbar wissenschaftlich-rationale Perspektive, um angeblich durch gesellschaftliche Unterschichten und Minderheiten verursachten biologischen und moralischen Degenerationsprozessen entgegenzuwirken. Auch Gehörlose kamen in den Fokus eugenischer Forschung und ihrer sozial- und biopolitischen Anwendung. In manchen Ländern wie den USA wehrten sich Gehörlosenverbände erfolgreich gegen die Einbeziehung in eugenische Maßnahmen wie Heiratsverbote oder Sterilisierungsgesetze; in anderen Ländern, z.B. in Deutschland, waren sie massiv davon betroffen.26 Dass sich im deutschsprachigen Raum gehörlose Interessenvertreter an den Debatten um eugenische Maßnahmen beteiligten, und dass Zwangssterilisationen gehörloser Menschen z.B. in der Schweiz wenigstens noch bis in die 1950er Jahre stattfanden, zeigen die Beiträge von Ylva Söderfeldt und Enno Schwanke bzw. von Vera Blaser und Matthias Ruoss in diesem Band, mit denen Neuland der historischen Forschung betreten wird. Wie intensiv das medizinisch-pathologisierende Verständnis von Gehörlosigkeit weiterhin Wissenschaft und Gesellschaft durchdringt bzw. ob und inwieweit sich alternative Sichtweisen entwickelt haben, hängt von nationalen Traditionen und Kontexten ab. Wohl am stärksten ins öffentliche Bewusstsein der hörenden Mehrheitskultur gedrungen ist die US-amerikanische Gehörlosenkultur und Gebärdensprache (American Sign Language, ASL). Dort orientierte sich ab den 1950er Jahren eine gut organisierte Gehörlosengemeinschaft an anderen Bürgerrechts- und Minderheitenbewegungen und traf auf ein wachsendes öffentliches und wissenschaftliches Interesse an Minderheitenkulturen und -sprachen. In den 1970er Jahren gelang es der amerikanischen Gehörlosengemeinde, ihre Kultur und Sprache über Fernsehen und Theater ins nationale Bewusstsein zu bringen.27 In den USA ist auch eine längere wissenschaftliche Auseinandersetzung 26 | Siehe z.B. Susan Burch, Signs of Resistance: American Deaf Cultural History, 1900 to World War II (New York: New York Univ. Press, 2002), 133-170. Für die Auseinandersetzung und Rezeption eugenischer Denkweisen innerhalb der amerikanischen Gehörlosengemeinde siehe auch Tavian Robinson, »›We are a Different Class‹. Ableist Rhetoric in Deaf America 1880-1920«, in Deaf and Disability Studies: Interdisciplinary Perspectives, Hg. Susan Burch und Alison Kafer (Washington DC, Gallaudet University Press, 2010), 5-21. 27 | Was die zunehmende öffentliche Wahrnehmung und Änderungen innerhalb der Gehörlosengemeinschaften angeht, siehe z.B. Jack R. Gannon, Jane Butler und Laura-Jean Gilbert, Deaf Heritage: A Narrative History of Deaf America (Silver Spring, Md.: National Association of the Deaf, 1981), 377-399; Carol Padden und Tom Humphries, Inside Deaf Culture (Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 2005), 79-99.

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mit soziokulturellen Perspektiven auf Gehörlosigkeit zu beobachten. Schon ab den 1950er und 1960er Jahren interessierten sich amerikanische Psychologen, Soziologen und Linguisten für die Gehörlosengemeinschaft, definierten sie als soziokulturelle Minderheit, stellten Angebote in Gebärdensprache zur Verfügung oder analysierten, wie der Linguist William C. Stokoe, ASL als eigenständige und zu erforschende Sprache.28 Aus diesem Engagement von Gehörlosenaktivisten in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Kontext erschließt sich, warum die amerikanische Gehörlosengeschichte bisher wohl am umfassendsten erforscht worden ist. Sie machte dabei eine für Minderheitengeschichten recht typische Entwicklung von der Aktivistenbewegung zum akademischen Studienobjekt mit. In den 1970er und 1980er Jahren begannen Aktivisten, die Geschichte ihrer Gemeinschaft und Organisationen, wie z.B. der einflussreichen National Association of the Deaf (NAD), zu dokumentieren.29 In den 1980er Jahren folgten erste historische Monografien30, in den 1990er Jahren setzte eine systematische akademische Auseinandersetzung mit der Gehörlosengeschichte ein, zunächst an der Gallaudet University, wo z.B. John Vickrey Van Cleve und Barry Crouch erste Sammelbände auch für den akademischen Unterricht herausgaben.31 Seither ist die Zahl der Veröffentlichungen exponentiell angewachsen. Sie decken eine große Bandbreite an Themen ab, die in den letzten Jahren auch verstärkt die Geschichte bisher vernachlässigter Gruppen und sich überschneidender Identitäten – wie die der afroamerikanischen, schwulen oder lesbischen Gehörlosen – einschließt.32 Da28 | Siehe Heider und Heider, Studies in the Psychology; Schmidt, »Planes of Phenomenological Experience«. Für erste psychiatrische Angebote in Gebärdensprache in der Psychiatrie ab den 1950er Jahren siehe Marion Schmidt, »Genetic Normalcy and the Normalcy of Difference. Genetic Deafness Research in 20 th Century America« (Dissertation, Baltimore: Johns Hopkins University, 2016), 233-316. 29 | Bert Shaposka, The N.A.D. Story (Washington: National Association of the Deaf, 1971); Gannon, Butler und Gilbert, Deaf Heritage. 30 | Der Klassiker ist die in verschiedene Sprachen übersetzte Monografie von Lane, When the Mind Hears aus dem Jahr 1984. 31 | John V. Van Cleve und Barry A. Crouch, A Place of Their Own: Creating the Deaf Community in America (Washington, D.C.: Gallaudet Univ. Press, 1989); Van Cleve, John V., Hg., Deaf History Unveiled: Interpretations from the New Scholarship (Washington, D.C.: Gallaudet Univ. Press, 1993); Merv Garretson, Hg., Deafness: Historical Perspectives (Silver Spring, MD: National Association of the Deaf, 1996). 32 | In jüngerer Zeit wurden Zeitzeugenberichte zu den Erfahrungen afro-amerikanischer Gehörloser seit Mitte des 20. Jahrhunderts publiziert, vgl. z.B. Mary Herring Wright, Sounds Like Home: Growing up Black and Deaf in the South (Washington, D.C.: Gallaudet Univ. Press 1999). Eine umfangreichere Analyse des Black Deaf experience findet sich in Heather D. Clark, »We Are the Same but Different: Navigating African American

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mit hat die amerikanische Gehörlosengeschichte eine zukunftsweisende Diversifizierung erreicht.33 An vielen amerikanischen Universitäten sind Deaf History und Deaf Studies als Disziplinen und Unterrichtsfächer mittlerweile institutionalisiert und demonstrieren neben Fächern wie Black, Latino oder Asian Studies das Interesse an den vielfältigen amerikanischen Minderheitengeschichten. Im deutschsprachigen Raum ist die Gehörlosengeschichte zwar noch nicht institutionalisiert, dennoch im letzten Jahrzehnt im Rahmen der sich etablierenden Deaf Studies stark gewachsen. Noch überwiegen nationale Perspektiven. Ansätze, die, wie dieser Sammelband, verbindende und trennende Charakteristika im deutschsprachigen Raum und im internationalen Kontext herausstellen, sind noch selten vertreten. Eine der wenigen Ausnahmen ist die historische Überblicksdarstellung Ein Blick zurück von Renate Fischer und Harlan Lane, die 1993 zeitgleich in deutscher und englischer Sprache herausgegeben wurde. Der Schwerpunkt dieses Readers liegt auf der Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen, wobei vergleichend Beiträge zu verschiedenen Ländern zusammengestellt wurden, darunter auch einige Artikel zum deutschsprachigen Raum.34 Damit wies der Band in eine neue Richtung, indem international vergleichende Studien unter Einbeziehung gehörloser Perspektiven angeregt wurden. Dieser Anregung ist bisher in Deutschland, Österreich und der Schweiz jedoch noch kaum gefolgt worden. Der weiterhin in der Forschung vorherrschende Fokus auf nationalen Entwicklungen – oder oftmals noch kleinteiliger auf einzelne Institutionen und Regionen – erklärt sich aus dem Bedürfnis, Gehörlosengeschichte überhaupt erst einmal zu dokumentieren. Dabei wird aber der transnationale Austausch im deutschsprachigen Raum

and Deaf Cultural Identities« (Dissertation, Univ. of Washington, 2010). Eine aktuelle Zusammenfassung des Forschungsstands inklusive einer Übersicht verfügbarer Quellen und Literatur mit Vergleichen zu Homosexualität und Gehörlosigkeit findet sich in Anja Werner, »›Double Whammy‹?! Historical Glimpses of Black Deaf Americans«, COPAS 18, Nr. 2 (2017), https://copas.uni-regensburg.de/article/view/288. 33 | Robert M. Buchanan, Illusions of Equality: Deaf Americans in School and Factory, 1850-1950 (Washington, D.C.: Gallaudet Univ. Press, 1999); Burch, Signs of Resistance; Christopher Krentz, Writing Deafness: The Hearing Line in Nineteenth-Century American Literature (Chapel Hill: Univ. of North Carolina Press, 2007); Edwards, Words Made Flesh. 34 | Renate Fischer und Harlan L. Lane, Hg., Blick Zurück: Ein Reader zur Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen (Hamburg: Signum Press, 1993). Vgl. auch Renate Fischer und Harlan L. Lane, Hg., Looking Back: A Reader on the History of Deaf Communities and Their Sign Languages (Hamburg: Signum, 1993).

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z.B. über internationale Konferenzen Gehörloser oder die transnationale Ausbildung von beispielsweise Gehörlosenlehrern oder Otologen vernachlässigt.35 Dieser Band will einen weiteren Grundstein legen für eine Gehörlosengeschichte im deutschsprachigen Raum, die sich ihrer vielfältigen transnationalen Wurzeln und Einflüsse bewusst ist. Da es sich hierbei praktisch um die Geburtsstunde einer bisher noch nicht akademisch verankerten Disziplin handelt, sind bei Weitem nicht nur AkademikerInnen oder BerufshistorikerInnen vertreten, sondern auch Personen mit sehr vielfältigen Erfahrungen und Einblicken in Gehörlosenkultur, die eben diese Erfahrungen in ihre Beiträge bereichernd einbringen. Eine Vielfalt von Perspektiven ergibt sich aus den hier versammelten Beiträgen von HistorikerInnen und AktivistInnen aus der Gehörlosengemeinschaft, hörenden und gehörlosen VertreterInnen aus der Hörgeschädigtenpädagogik sowie jungen WissenschaftlerInnen und VertreterInnen verwandter geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Da gehörlosen Menschen lange der Weg in die wissenschaftliche Veröffentlichung verwehrt wurde, freuen wir uns besonders, viele gehörlose bzw. schwerhörige BeiträgerInnen zu haben.

F orschungsstand Neben der Aufarbeitung des Methodenstreits und der internationalen Durchsetzung einer »reinen deutschen Lautsprachmethode« seit den 1880er Jahren hat sich die Gehörlosengeschichte in jüngster Zeit – oft vertreten durch gehörlose und schwerhörige HistorikerInnen selbst – vor allem mit der Verfolgung und Zwangssterilisierung hörgeschädigter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Allein in Deutschland wurden zwischen 1933 und 1945 etwa 16.000 hörgeschädigte Menschen aufgrund des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zwangssterilisiert36 – dass es praktisch unmöglich ist, hier genaue Zahlen festzustellen, erläutern Söderfeldt und Schwanke in ihrem Beitrag zur »Lex Zwickau«. Während die Zwangssterilisierung Gehörloser zur Zeit des Nationalsozialismus mittlerweile recht gut dokumentiert ist, sind deren Langzeitfolgen für die Gehörlosenkultur und die

35 | Otto Kröhnert, Hg., Aufgaben und Probleme der Förderung hochbegabter Gehörloser in der Sekundarstufe II und im Hochschulbereich: Bericht über das Internationale Symposion vom 28. bis 31. Oktober 1988 in Hohenems, Österreich (Vaduz, Fürstentum Liechtenstein: Stiftung zur Förderung Körperbehinderter Hochbegabter, 1989). 36 | Schätzung nach Horst Biesold, Klagende Hände: Betroffenheit u. Spätfolgen in Bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dargestellt am Beispiel der »Taubstummen« (Solms-Oberbiel: Jarick Oberbiel, 1988).

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Wahrnehmung von Gehörlosigkeit in Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft bis heute allerdings noch kaum erforscht. Hervorzuheben an relevanten Studien zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus aus Sicht gehörloser und schwerhöriger Menschen in Deutschland sind u.a. die Arbeiten von Lothar Scharf, Mark Zaurov und Helmut Vogel. Scharf baute eine umfangreiche Sammlung zur Geschichte von Hörschädigung auf.37 Vornehmlich im Selbstverlag legte er verschiedene Publikationen zu gehörlosen Menschen im »Dritten Reich« vor.38 Mark Zaurov leistet grundlegende Beiträge vor allem zur Geschichte gehörloser Juden nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus.39 2010 veröffentlichte er über die Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Herkunft in Deutschland e.  V. (IGJAD) eine DVD in verschiedenen Gebärdensprachen mit Zeitzeugeninterviews tauber Holocaust-Überlebender, Zeitzeugen der Hitlerjugend und Opfern von Zwangssterilisierungen.40 Helmut Vogel hat erst kürzlich zwei Dokumentarfilme mit Zeitzeugeninterviews vorgelegt, die im Internet abrufbar sind und ebenfalls gerade gebärdensprachlich-gehörlose Menschen selbst ansprechen, deren Informationsbedürfnisse eher visuell und weniger auf schriftliche Studien ausgerichtet sind.41 Daneben 37 | Vgl. Frankfurter Stiftung für Gehörlose und Schwerhörige, »Museum«, www. glsh-stiftung.de/portfolio-item/museum/. 38 | Lothar Scharf, Gehörlose in der Hitlerjugend und Taubstummenanstalt Bayreuth: Zeitgeschichtliche Dokumentation der Jahre 1933-1945 (Berlin: PRO BUSINESS, 2004); Lothar Scharf, Rechtlos, schutzlos, taub und stumm! Gehörlose Juden unterm Hakenkreuz 1933-1945 (Frankfurt a.M.: Selbstverlag, 2007); Lothar Scharf und Fridolin Wasserkampf, Taubstumme in der Hitlerjugend? Fridolin W. erzählt (Stadelhofen: Selbstverlag, 2013); Lothar Scharf, Schutzabzeichen für »Schwerhörige«, »Taubstummen-Armbinde« oder »Blindenabzeichen«?: Die Geschichte der Armbinde mit den drei gelben Punkten ([s.l.]: Selbstverlag, 2013). 39 | Vgl. z.B. Mark Zaurov, Gehörlose Juden: eine doppelte kulturelle Minderheit (Frankfurt a.M.: Lang, 2003). Vgl. auch Ylva Söderfeldt, »Jüdische Gehörlose in Deutschland 1800-1933. Blicke in die Geschichte einer doppelten Minderheit«, in Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Bd. 32, Hg. Robert Jütte (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2014), 207-230. 40 | Mark Zaurov, Die Vergangenheit überwinden, Konsequenzen festlegen und Lösungen für die Gegenwart finden: [Interviews über Deaf Holokaust, Zwangssterilisation und Gehörlose Hitlerjugend. Filme in internationalen Gebärden, israelischer Gebärdensprache und deutscher Gebärdensprache] ([Hamburg]: Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Herkunft in Deutschland e.V., 2010). 41 | Deutscher Gehörlosen-Bund, Hg., »Die Gehörlosen in der NS-Zeit«, Dokumentarfilm, 2013, https://vimeo.com/78907054; Bundesvereinigung für Kultur und Geschichte Gehörloser, Hg., »Gehörlose Opfer der Zwangssterilisationen und der NS-Euthanasie«, Dokumentarfilm, 2015, https://vimeo.com/134688462.

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ist der bis heute einflussreiche Klassiker Klagende Hände des Bremer Gehörlosenpädagogen Horst Biesold als wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Rolle der Gehörlosenpädagogik zur Zeit des Nationalsozialismus zu nennen, der auch ins Englische übersetzte wurde.42 Ein aktueller Beitrag ist Frank Andreas Broedehls Doktorarbeit von 2014 ebenfalls mit dem Fokus auf Hörgeschädigtenpädagogik zur Zeit des Nationalsozialismus43, die als Materialsammlung wertvoll ist, jedoch methodische und argumentative Defizite aufweist.44 Die in der DDR 1988 vorgelegte medizinhistorische Doktorarbeit von Andreas Liebner ist insofern erwähnenswert, als sie sich aus otologischer Sicht mit der Begutachtung von Zwangssterilisationen im Raum Leipzig auseinandersetzt.45 Liebner kommt zu dem Schluss, dass gehörlose Menschen, die von HNO-Ärzten, und nicht lediglich von Amtsärzten ohne otologische Spezialkenntnisse, begutachtet wurden, eher eine Chance hatten, der Zwangssterilisation zu entgehen. Allerdings sind das Sample der untersuchten Akten recht klein und die Auswahlkriterien unklar; weiterführende Forschungsarbeit ist hier notwendig.46 Auch in der Schweiz waren Gehörlose von eugenischen Sterilisierungsgesetzen betroffen, wenn auch noch unklar ist, in welchem Ausmaß.47 Die Erfahrungen gehörloser Menschen während des Nationalsozialismus in Österreich untersuchten Verena Krausneker und Katharina Schalber. Sie veröffentlichten 2009 eine DVD mit acht Kurzfilmen in ÖGS auf der Basis von 24 Zeitzeugeninterviews.48 Erst im Jahr 2017 setzte sich Clara-Maria Kutsch in ihrer Magis42 | Biesold, Klagende Hände; Horst Biesold, Crying Hands: Eugenics and Deaf People in Nazi Germany (Washington, D.C.: Gallaudet Univ. Press, 1999). Vgl. als etwas aktuelleren Beitrag auch Malin Büttner, »Nicht minderwertig, sondern mindersinnig ...«: der Bann G für Gehörgeschädigte in der Hitler-Jugend (Frankfurt a. M.: Lang, 2005). 43 | Frank Andreas Brodehl, Widerstand, Anpassung, Pflichterfüllung? Zur Konfrontation der Taubstummenpädagogik mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2014). 44 | Franz Dotter, »Frank Andreas Brodehl: Widerstand, Anpassung, Pflichterfüllung?«, socialnet (27.11.2014), Zugriff 29.11.2018, https://www.socialnet.de/rezensio nen/17120.php. 45 | Andreas Liebner, »Zur Lage der Gehörlosen in den Jahren 1933-1945 und deren Einbeziehung in die Zwangssterilisationspraxis – eine Fallstudie an Hand von Erbgesundheitsgerichtsakten aus Leipzig« (Dissertation, Univ. Leipzig, 1988). 46 | Anja Werner beschäftigt sich im Rahmen ihrer laufenden Forschung zu Gehörlosigkeit im geteilten Deutschland auch mit dem Erbe des Nationalsozialismus in der HNO nach 1945. 47 | Siehe z.B. Carlo Wolfisberg, Heilpädagogik und Eugenik: zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschprachigen Schweiz (1800-1950) (Zürich: Chronos Verlag, 2002). 48 | Verena Krausneker und Katharina Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus: 8 Kurzfilme in Österreichischer Gebärdensprache

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terarbeit mit Auswirkungen des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« auf gehörlose Österreicher auseinander; Resultate der Arbeit wurden 2018 publiziert.49 Schließlich sei erwähnt, dass die Auseinandersetzung mit der Verfolgung hörgeschädigter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus auch in den USA auf Interesse gestoßen ist und zu relevanten Beiträgen geführt hat.50

Deutschland An ausführlichen historischen Überblicksdarstellungen speziell zu Deutschland liegen bisher inzwischen veraltete Werke aus Sicht der Hörgeschädigtenpädagogik vor, die aus einer Lautsprachperspektive geschrieben sind, diese nicht in Frage stellen und zu wenig Gewicht auf die Bedeutung von Gebärdensprachen für gehörlose Menschen legen. An erster Stelle zu nennen ist Paul Schumanns detailliertes Monumentalwerk aus dem Jahr 1940 mit dem Titel Geschichte des Taubstummenwesens: vom deutschen Standpunkt aus dargestellt51, das bis heute weitgehend unkritisch als geschichtliche Quelle genutzt wird.52 1966 legte Otto Kröhnert eine Doktorarbeit mit historischem Bezug vor, in der er noch explizit schrieb: »Die Deutsche Schule [reiner Lautsprachlichkeit] hütet sich vor dem Trugschluß, der Taubstumme könne durch die Erlernung optischer Zeichensysteme den Anschluß an die Gemeinschaft finden. Sie weiß, daß nur die Lautsprache ihm die Chance geben kann, von seiner Umwelt akzeptiert zu werden«.53 Armin Löwe publizierte 1992 eine Studie mit (ÖGS) (Wien: Universität Wien, 2009). 49 | Clara-Maria Kutsch, »Früher sterilisiert, morgen selektiert? Ein kritischer Beitrag zum Gegenstand der Gehörlosigkeit in der Geburtenpolitik des Nationalsozialismus« (Masterarbeit, Universität Wien, 2017). Vgl. auch Clara-Maria Kutsch, »Erst Sterilisation, dann Selektion? Das ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ von 1933 und seine Rezeption durch die Wiener Gehörlosengemeinschaft: eine printmediale Spurensuche (Teil I)«, Das Zeichen 109 (2018): 180-190; Teil II erschien in Das Zeichen 110 (2018): 352-363 50 | Donna F. Ryan und John S. Schuchman, Hg., Deaf People in Hitler’s Europe (Washington, D.C.: Gallaudet Univ. Press, 2002). Vgl. auch Brenda Jo Brueggemann, Deaf Subjects: Between Identities and Places (New York: New York Univ. Press, 2009), 141-162. 51 | Paul Schumann, Geschichte des Taubstummenwesens: vom deutschen Standpunkt aus dargestellt (Frankfurt a.M.: Moritz Diesterweg, 1940). 52 | Vgl. z.B. Daniel Ullrich, »Zur Kommunikationssituation von hörgeschädigten Menschen in der beruflichen Integration eine sozialwissenschaftliche Studie zur Erfassung kommunikativer Probleme berufstätiger hörgeschädigter Menschen« (Dissertation, Univ. Erfurt, 2004), 37-42. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:547-200400794. 53 | Otto Kröhnert, Die sprachliche Bildung des Gehörlosen. Geschichtliche Entwicklung und Gegenwärtige Problematik, Pädagogische Studien Bd. 13 (Weinheim: Beltz,

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historischer Übersichtsdarstellung aus Sicht ein lautsprachlich ausgerichteten Hörgeschädigtenpädagogik.54 Nennenswert ist der Sammelband von Annette Leonhardt aus dem Jahr 2007, der einen bis in die frühen Jahre der Beschulung Hörgeschädigter zurückreichenden historischen Abriss der Integration hörgeschädigter Schüler in der Allgemeinen Schule beinhaltet und somit einen in der geschichtlichen Forschung noch nicht erschöpfend erforschten Aspekt in den Mittelpunkt stellt.55 Historische Arbeiten zur Taubheit aus Sicht von HNO-Medizinern bzw. zur Entwicklung der HNO-Medizin unter besonderer Berücksichtigung der Hörschädigung sind älteren Datums oder konzentrieren sich vornehmlich auf die Biografien wichtiger Vertreter der Zunft. Historische Analysen fachlicher Inhalte sind hingegen rar.56 2016 veröffentlichte Susanne Römer auf zwei Postern einen Überblick international wichtiger Akteure der Gehörlosenbildung unter Einbeziehung prominenter Ohrenärzte bis zur Gegenwart, die eine solide Basis für weiterführende historische Forschung insbesondere der transnationalen Überschneidungen darstellen.57 Neuere historische Arbeiten zu Gehörlosigkeit in Deutschland konzentrieren sich auf bestimmte Regionen oder Schulen.58 Auch gibt es aktuelle Forschung zu einzelnen Epochen bzw. Zeitabschnitten. Neben den methodischen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert wurde dabei, wie bereits dargestellt, der Zeit des Nationalsozialismus besondere Aufmerksamkeit zuteil – diese Thematik ist aber längst noch nicht erschöpfend behandelt. Gehörlose und schwerhörige His1966), 37. 54 | Armin Löwe, Hörgeschädigtenpädagogik international: Geschichte, Länder, Personen, Kongresse; eine Einführung für Eltern, Lehrer und Therapeuten hörgeschädigter Kinder, Heidelberger sonderpädagogische Schriften Bd. 19 (Heidelberg: HVA/Ed. Schindele, 1992). 55 | Annette Leonhardt, Hg., Hörgeschädigte Schüler in der Allgemeinen Schule: Theorie und Praxis der Integration (Stuttgart: Kohlhammer, 2007). 56 | Vgl. z.B. Tilman Brusis, Geschichte der deutschen Hals-Nasen-Ohren-Kliniken im 20. Jahrhundert mit einem Anhang »Portraits einiger Firmen, die in den letzten Jahrzehnten wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung der technischen Grundlagen der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde geleistet haben« (Berlin: Springer, 2002); Konrad Fleischer und Hans Heinz Naumann, Akademische Lehrstätten und Lehrer der Oto-Rhino-Laryngologie in Deutschland im 20. Jahrhundert (Berlin/New York: Springer, 1996). Vgl. auch den Abschnitt zur HNO in Eulner, Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer. 57 | Susanne Römer, Entwicklung der Professionalisierung der Hörgeschädigtenpädagogik, zwei Poster (Berlin: Frank & Timme, 2016). 58 | Vgl. z.B. Iris Groschek, Unterwegs in eine Welt des Verstehens: Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Hamburg: Hamburg Univ. Press, 2008).

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toriker sind, wie erwähnt, oft pionierhaft an der Aufarbeitung ihrer Geschichte beteiligt, wie u.a. die visuell ansprechende Monografie von Hans-Uwe Feige mit für die Gehörlosengeschichte relevanten Biografien aus dem 18. und 19.  Jahrhundert belegt.59 2018 erschien die Doktorarbeit von Anke Hoffstadt über Menschen in den Gehörlosenschulen des Landschaftsverbandes Rheinland nach 1945. Es ist die erste Arbeit, die sich ausschließlich – wenn auch regional begrenzt – auf die Zeit nach 1945 konzentriert und dabei bewusst die Perspektiven hörgeschädigter Menschen in Form von Zeitzeugeninterviews einbezieht.60 Ansonsten gibt es für die Zeit seit 1945 in Buchform bisher eher Arbeiten aus den Disability Studies, die auch für die Schwerhörigen- und Gehörlosengeschichtsforschung von Interesse sind, so der Sammelband von Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt aus dem Jahr 2016.61 Überregionale Monografien zu Gehörlosigkeit im geteilten Deutschland liegen noch nicht vor.62 Aktuelle historische Studien sind explizit daran interessiert, gebärdensprachliche Perspektiven einzubeziehen. Sylvia Wolff hat in ihrer Dissertation die frühe Geschichte der »Taubstummenbildung« in Berlin aufgearbeitet; dort verwendete – im Gegensatz zu Samuel Heinicke in Leipzig – dessen Schwiegersohn Ernst Adolf Eschke (1766-1811) auch Gebärden.63 Ylva Söderfeldt beschäftigte sich in ihrer Dissertation mit der deutschen Gehörlosenbewegung im 19. Jahrhundert und verwies dabei auch auf die Lebenswege prominenter Gehörloser.64 Andere relevante wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten verfolgen die Traditionslinien in der Wahrnehmung von Gehörlosigkeit bis in die

59 | Hans-Uwe Feige, »Denn taube Personen folgen ihren thierischen Trieben…« (Samuel Heinicke): Gehörlosen-Biografien aus dem 18. und 19. Jahrhundert (Leipzig: Gutenberg Verl., 1999). 60 | Anke Hoffstadt, Gehörlosigkeit als »Behinderung«: Menschen in den Gehörlosenschulen des Landschaftsverbandes Rheinland nach 1945 (Berlin: Metropol-Verlag, 2018). 61 | Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt, Hg., Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte (Frankfurt/New York: Campus, 2016). 62 | Eine Monografie hierzu bereit Anja Werner vor. Vgl. z.B. Anja Werner, »›Die gehörlosen Menschen sollen auch begeistert am Aufbau des sozialistischen Vaterlandes teilnehmen‹. Gehörlosenpädagogik in Ostdeutschland, 1945-1990«, Das Zeichen 99 (März 2015): 6-21; Anja Werner, »Otologie und Taubheit in der DDR am Beispiel der Fachzeitschrift HNO-Praxis«, in Medizin- und Wissenschaftsgeschichte in Mitteldeutschland. Beiträge aus fünf Jahren Mitteldeutscher Konferenz, Hg. Florian Steger (Leipzig: Universitätsverlag, 2016), 181-200. 63 | Wolff, Elementarunterricht und Sprachbildung. 64 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere.

Einleitung

Antike zurück65 oder widmen sich speziell der Rolle von Kirchen und Klöstern in der Gehörlosenbildung.66 Wissenschaftliche Aufsätze zur Geschichte von Gehörlosigkeit wurden seit 1987 in Das Zeichen, der einzigen deutschsprachigen Fachzeitschrift zur Geschichte, Sprache und Kultur gehörloser Menschen, veröffentlicht.67 An aufschlussreichen Gegenwartsperspektiven, die allerdings nur marginal auf historische Entwicklungen eingehen, sind die Monografien von Anne C. Uhlig68 (Ethnographie) und Rafael Ugarte Chacón69 (Theaterwissenschaften) zu nennen, die beide aus unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Perspektiven die Rolle der DGS in der Gesellschaft neu bewerten. Neben diesen Arbeiten gibt es außerdem anregende aktuelle Forschungsprojekte70 sowie Examensarbeiten zu Cochlea-Implantaten (CIs).71

Schweiz Die Aufarbeitung der Schweizer Gehörlosengeschichte steckt noch in den Anfängen. Dabei ist die Schweiz mit ihren vier offiziellen Amtssprachen ein lehrreiches Beispiel für die Rezeption der »deutschen« und »französischen« Methoden. Auch hier setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts der lautsprachliche Unterricht durch, wobei die regionale Umsetzung stark variierte, wie Rebecca

65 | Rauthgundis Kurrer, »Gehörlose im Wandel der Zeit« (Dissertation, Univ. München, 2013), urn:nbn:de:bvb:19-166116. 66 | Vgl. u.a. Agnes Villwock, »Klöster und ihr Beitrag zur Gebärdensprachanwendung und Gehörlosenbildung« (Magisterarbeit, Univ. Hamburg, 2011); auf dieser Basis wurden mehrere Beiträge in Das Zeichen publiziert, vgl. u. a. Agnes Villwock, »Die historische Sicht kirchlicher Vertreter auf Gehörlosigkeit und Gebärdensprache: ›Christliche Nächstenliebe‹ oder ›Verdammung aus der Gemeinschaft‹?«, Das Zeichen 94 (2013): 176-187. 67 | Das Zeichen – Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser, https://www.idgs. uni-hamburg.de/forschung/publikationen/daszeichen.html. 68 | Uhlig, Ethnographie der Gehörlosen. 69 | Rafael Ugarte Chacón, Theater und Taubheit: Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst (Bielefeld: transcript, 2015). 70 | Vgl. z.B. Markus Spöhrer, »›Wie ich zum Cyborg wurde‹. Das Cochlea Implantat und die Übersetzungen des transhumanen Körpers«, Body Politics 3, Nr. 6 (2015): 309-327, urn:nbn:de:gbv:547-201600494. 71 | Joke Bendix Janssen, »Gehörlose und schwerhörige Kinder gehörloser und schwerhöriger Eltern und das CI« (Magisterarbeit, Univ. Hamburg, 2011); Mirko Moll, »Körper und Technik: Multiple Realitäten von Behinderungen. Das Cochlea Implantat als Akteur des Sozialen« (wissenschaftliche Abschlussarbeit, PH-Heidelberg, 2017).

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Hesse und Martin Lengwiler 2017 herausstellten.72 Mit Ausnahme der Arbeiten von Benno Caramore73 begann in der Schweiz die Aufarbeitung der Gehörlosengeschichte und -kultur erst in den späten 2000er Jahren, wobei die Impulse sowohl aus den Gehörlosenorganisationen wie auch der (meist noch von Hörenden betriebenen) akademischen Geschichtswissenschaft kamen. Zu nennen ist insbesondere die pionierhafte Überblicksdarstellung von Michael Gebhard von 2007 zur Entwicklung von Gehörlosenschulen und Gehörlosenorganisationen im 19. und 20. Jahrhundert, vorwiegend in der Deutschschweiz. Schon im Titel »Hören lernen – Hörbehindert bleiben« deutet Gebhard auf Trennlinien und Konflikte in der (Selbst-)Wahrnehmung von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit hin, macht aber ebenfalls auf gemeinsame Entwicklungen aufmerksam.74 2016 gab der Schweizer Gehörlosenbund SGB-FSS eine Studie zur Unterdrückung der Gebärdensprache in Auftrag, die die Basler Historiker Hesse und Lengwiler Anfang 2017 vorlegten. Sie untersuchten die fachlichen Gründe für die Vorherrschaft der Lautsprache in der Schweizer Gehörlosenbildung bis in die 1970er Jahre und widmeten sich auch der langsamen Hinwendung zur Gebärdensprache, meist als zweisprachigem Unterrichtsexperiment. Interviews mit ehemaligen SchülerInnen aus verschiedenen Landesteilen boten Einblicke in den Unterrichtsalltag und auf die Rolle sowie den Status von Gebärdensprachen. Hier wurde berichtet, dass das Gebärden mit oft harschen Methoden – erniedrigenden Strafen und körperlicher Züchtigung – unterdrückt worden sei. Die Untersuchung bietet auch erste Ansätze, um unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen Landesteilen mit ihren sprachlichen Traditionen zu verstehen, wobei hier noch viel Raum für weitere Forschung ist. Schließlich zeigten Hesse und Lengwiler die Auswirkungen, die die Ausgrenzung der Gebärdensprachen auf Bildungschancen und Berufsleben Gehörloser hatten.75 Neben diesen zwei Überblicksdarstellungen beschäftigen sich die Studien von Mirjam Janett und Rebecca Hesse mit der Geschichte einzelner Anstalten, nämlich die in Hohenrain, Luzern und Riehen, Basel Stadt.76 Hesse erklärt 72 | Hesse und Lengwiler, Aus erster Hand. 73 | Benno Caramore, Gehörlose Menschen im historischen Wandel (Basel: Verein zur Unterstützung des Forschungszentrums für Gebärdensprache, 1988); Caramore, Die Gebärdensprache. 74 | Michael Gebhard, Hören lernen – hörbehindert bleiben: Die Geschichte der Gehörlosen- und Schwerhörigenorganisationen in den letzten 200 Jahren (Baden: Hier + jetzt, Verl. für Kultur und Geschichte, 2007). 75 | Hesse und Lengwiler, Aus erster Hand. 76 | Mirjam Janett, »Gehörlosigkeit und die Konstruktion von Andersartigkeit. Das Beispiel der Taubstummenanstalt Hohenrain (1847-1942)«, Schweizerische Zeitschrift für

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die stark lautsprachliche und damit »deutsche« Ausrichtung der Schweizer Gehörlosenpädagogik damit, dass die Schweiz über keine eigenen Institute zur Ausbildung von Gehörlosenlehrern verfügte. Dementsprechend waren die Lehrer Deutsche, oder an deutschen Schulen lautsprachlich sozialisierte Schweizer. Das zeigt sich auch am einflussreichen Leiter der Riehener Schule, Wilhelm Daniel Arnold (1839-1879), der in Karlsruhe von Johann Georg König in der lautsprachlichen Methode ausgebildet worden war und diese dann später in Riehen durchsetzte. Arnolds Riehener Schule war eine der ersten, an denen die reine Lautsprachenmethode konsequent durchgesetzt wurde. Sie wurde deshalb während seiner Amtszeit vielfach von KollegenInnen besucht und als Beispiel genannt.77 Hesse weist insbesondere auf das stark pietistisch geprägte Welt- und Menschenbild Arnolds hin sowie auf den Einfluss des Basler Pietismus auf die Unterstützung der Riehener Schule. Eingebettet ist die Schweizer Gehörlosengeschichte in die Geschichte der Schweizer Sonderpädagogik, z.B. die Arbeiten von Carlo Wolfisberg, und der Schweizer Disability History, die ebenfalls noch in den Anfängen steckt. Hier ist auch die Fürsorgegeschichte zu nennen, die unter den Schlagworten »Fürsorge und Zwang« in den letzten Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit von PolitikerInnen, HistorikerInnen und Öffentlichkeit erfährt. Jedoch ist noch weitgehend offen, in welchem Maße Schweizer Gehörlose von Zwangsmaßnahmen in der Fürsorge betroffen waren.78 Erste Einblicke in die Auswirkungen der Einführung der Invalidenversicherung ab 1960 auf die Gehörlosenbildung in der Deutschschweiz bietet die Masterarbeit von Viviane Blatter.79

Geschichte 66, Nr. 2 (2016): 226-245; Rebecca Hesse, »›Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend‹: Wilhelm Daniel Arnold und die Verbannung der Gebärden aus der Taubstummenanstalt in Riehen« (Masterarbeit, Univ. Basel, 2015). 77 | Hesse, »Die Tauben macht er hörend […]«, 2. 78 | Wolfisberg, Heilpädagogik und Eugenik. Für die Disability History siehe z.B. Berthold Müller, Rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Menschen mit einer »geistigen Behinderung«: eine rechtshistorische Studie der Schweizer Verhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert (Zürich: Schulthess, 2001). Einen Überblick zur Forschung zur Fürsorgegeschichte und administrativer Versorgung gibt Urs Germann, »Bericht zur administrativen Anstaltsversorgung in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Bericht zum aktuellen Stand der Forschung«, Forschungsberichte.ch, Bern, März 2014, Zugriff 29.11.2018, https://www.infoclio.ch/sites/default/files/standard_page/1_Anstaltversorgung _ Forschungsberichte.pdf. 79 | Viviane Blatter, »›Für die ganze Sonderschule beginnt mit der Einführung der IV eine neue Epoche‹. Entwicklungen in der Deutschschweizer Gehörlosenpädagogik, 19601991« (Masterarbeit, Univ. Basel, 2018).

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Österreich Wie auch in der Schweiz und in Deutschland sind in Österreich gehörlose HistorikerInnen und AktivistInnen inzwischen selbst stark in der Aufarbeitung ihrer Geschichte engagiert. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung mit der Geschichte der nationalen Gehörlosenkultur auch in Österreich offenbar eher in den Sozial- und Kulturwissenschaften als unter Historikern statt, wie u.a. die soziolinguistischen Arbeiten Verena Krausnekers verdeutlichen.80 Bis heute bestehen daher sehr große Forschungslücken in der Aufarbeitung der Geschichte Gehörloser in Österreich. Wichtige Grundlagen für weiterführende historische Forschung wurden durch den kürzlich verstorbenen Universitäts-Professor Franz Dotter gelegt, der an der Universität Klagenfurth u.a. anregte, die in Bezug auf Hörschädigung verwendete Terminologie zu hinterfragen und zu definieren.81 Dotter setzte sich auch mit Aspekten der Geschichte der ÖGS auseinander.82 In der Vorbereitung dieses Sammelbandes stand uns Herr Dotter konstruktiv mit seinem breiten Fachwissen nicht nur zur österreichischen Gehörlosengeschichte und zur ÖGS zur Seite. Sein plötzlicher Tod im März 2018 hinterlässt eine tiefe Lücke. Die vorliegenden historischen Studien zur österreichischen Gehörlosengeschichte beschäftigen sich an erster Stelle mit den frühen Schulgründungen im 18. und 19. Jahrhundert sowie mit Entwicklungen in Wien.83 Die Erforschung dieser Zeitepoche und Institution ist für eine transnationale Geschichtsschreibung von besonderem Interesse, da sich österreichische Pädagogen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aktiv in die Methodenfrage einmischten und mit einer »Wiener Methode« eigene Beiträge dazu leisteten. Petra Berger hat hierzu wesentliche Grundlagenforschung betrieben und 2002 in einer Studie zu österreichischer Gebärdensprache während der Aufklärung publiziert.84 Sie zeigt, dass es neben den oft zitierten deutschen und französischen Ansätzen auch noch weitere international relevante nationale Traditionen der Gehörlosenbildung gab, die zukünftig in den grenzüberschreitenden Diskurs zur Geschichte der Gehörlosenbildung stärker integriert werden müssen.

80 | Krausneker, Taubstumm bis gebärdensprachig. 81 | Vgl. z.B. Dotter, »Hörbehindert = gehörlos oder resthörig« sowie Steixner, Taubstumm oder gehörlos?. 82 | Franz Dotter und Cynthia J. Kellett Bidoli, »The Historical Relationship between Triestine Sign Language and Austrian Sign Language«, Sign Language Studies 17, Nr. 2 (2017): 193-221. 83 | Sylvia Wolff, »Die Idee der Verallgemeinerung: Taubstummenunterricht in Österreich im 19. Jahrhundert«, Das Zeichen 15, Nr. 56 (2001): 208-215. 84 | Berger, Die österreichische Gebärdensprache.

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An älteren bzw. in einer lautsprachlichen Tradition stehenden Arbeiten zur Geschichte der österreichischen Gehörlosenbildung, die heute zumindest als Material- und Themensammlungen von Interesse sein können, stellt noch immer die oben bereits aufgeführte Übersichtsdarstellung Schumanns aus dem Jahr 1940 »vom deutschen Standpunkt aus« einen Referenzpunkt dar.85 Außerdem sei auf Publikationen des pensionierten Gehörlosenlehrers Walter Schott verwiesen, der seit den 1990er Jahren Materialien zur Geschichte der österreichischen Gehörlosenbildung zusammengetragen hat, wobei das kaiserlich-königliche Taubstummeninstitut in Wien zwischen 1779 und 1918 im Mittelpunkt stand.86 Da Schott zwar eine Bibliografie mit publizierten Schriften einfügte, allerdings keine Referenzen im Text angab, halten seine Veröffentlichungen jedoch nur schwerlich einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. In jüngster Vergangenheit gab es neue Impulse. So legte Florian Wibmer 2016 eine Masterarbeit zum Unterricht für gehörlose Personen im 18. und 19. Jahrhundert vor.87 Außerdem besteht innerhalb der österreichischen Gehörlosengemeinschaft Interesse an einer Aufarbeitung ihrer Geschichte: Eine Geschichte des Österreichischen Gehörlosenvereins wurde schon 1988 herausgegeben.88 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das im Internet zu85 | Schumann, Geschichte des Taubstummenwesens. 86 | Walter Schott, »Das kaiserlich-königliche Taubstummen-Institut in Wien: eine Dokumentation«, Hörgeschädigtenpädagogik 49, Nr. 6 (1995): 411-413; Walter Schott, Das k. k. Taubstummen-Institut in Wien 1779-1918: dargestellt nach historischen Überlieferungen und Dokumenten mit einem Abriß der wichtigsten pädagogischen Strömungen aus der Geschichte der Gehörlosenbildung bis zum Ende der Habsburger-Monarchie (Wien [u.a.]: Böhlau, 1995). Vgl. auch Günther List, »Walter Schott, Das k.k. Taubstummeninstitut in Wien, 1779-1918«, in History of Education in the Postmodern Era, Hg. Sol Cohen (Gent: Univ., 1996), 503-506. Schott legte darüber hinaus weitere Publikationen vor: Walter Schott, Das allgemeine österreichische israelitische Taubstummen-Institut in Wien 1844-1926. Dargestellt nach historischen Überlieferungen und Dokumenten mit einer Einleitung über die Entwicklungsgeschichte der Gehörlosenbildung (Wien: Schott, 1999); Walter Schott, Die niederösterreichischen Landes-Taubstummenanstalten in Wien-Döbling 1881-1921 und Wiener Neustadt 1903-1932. Dargestellt nach Jahresberichten, Protokollen und historischen Überlieferungen mit einem Abriss der Entwicklungsgeschichte der Gehörlosenbildung bis zur Gründung der ersten Anstalt (Wien: Schott, 2002); Walter Schott, Ein Beitrag zur Geschichte der Wiener Schulabteilungen für taubstumme Kinder (Wien: Schott, 2004). 87 | Florian Wibmer, »Unterricht für gehörlose Personen im 18. und 19. Jahrhundert: Das k.k. Taubstummeninstitut als Startpunkt der österreichischen Gehörlosenpädagogik« (Masterarbeit, Universität Wien, 2016). 88 | Österreichischer Gehörlosenbund, Hg., 75 Jahre Österreichischer Gehörlosenbund 1913-1988 (Linz: Österreichischer Gehörlosenbund, ca. 1988).

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gängliche Österreichische Archiv der Gehörlosen Geschichte, das unter dem Motto »Rückblick, Vergnügen und Austausch« die Geschichte der österreichischen Gehörlosengemeinschaft dokumentiert.89 Größere Desiderata bestehen bezüglich der österreichischen Gehörlosengeschichte im 20. Jahrhundert. So weisen Dotter, Jarmer und Huber in ihrem Beitrag in diesem Band u.a. darauf hin, dass noch keine Monografie zur Situation gehörloser Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in Österreich vorliegt. Es gibt die bereits erwähnte DVD über Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus von Krausneker und Schalber aus dem Jahr 2009 sowie die Magisterarbeit von Kutsch.90 Außerdem liegt eine Diplomarbeit aus dem Jahr 2003 von Andrea Runggatscher mit dem Fokus auf Tirol vor.91

Themenblöcke Mit dem vorliegenden Sammelband möchten wir erste Anstöße geben, verschiedene nationale Forschungsansätze aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zusammenzuführen und einer inkludierenden Gehörlosengeschichte im deutschsprachigen Raum ein gemeinsames Forum zu geben. So wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklungen im deutschsprachigen Raum bisher kaum je wirklich komparativ betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die gemeinsame Lautsprachtradition durch Wander- und Austauschprozesse in der Lehrerbildung und den grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Austausch bestärkt wurde. Auch bereichern die Beiträge unser Wissen über den Methodenstreit, der bis heute noch oftmals auf Deutschland und Samuel Heinicke beschränkt wird. Die Beiträge tragen zum besseren Verständnis verschiedener Motivationen für laut- bzw. gebärdensprachlichen Unterricht bei und geben Einblicke in die zahlreichen methodischen Kompromiss- und Mischformen während der letzten drei Jahrhunderte. Nicht zuletzt wird angedeutet, in welchem Maße gehörlose Menschen überregional und international vernetzt waren und sind und dank dieser Vernetzung auf nationaler Ebene ihre Emanzipierung vorantreiben konnten. Die hier versammelten Beiträge geben einen ersten Überblick der Zusammenhänge zwischen Bildungs-, Behinderten- und Minderheitenpolitik, die sich in der Schweiz, Deutschland und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert 89 | Österreichisches Archiv der Gehörlosen Geschichte, https://www.gehoerlosarchiv.at/. 90 | Krausneker und Schalber, Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus. Kutsch, »Erst Sterilisation, dann Selektion?«. 91 | Andrea Runggatscher, »Lebenssituationen Gehörloser Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in Tirol« (Diplomarbeit, Innsbruck, 2003).

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nationalgeschichtlich sehr unterschiedlich entwickelten und doch Gemeinsamkeiten aufwiesen, etwa im Primat der Normalisierung und dem lange wirkenden Einfluss eugenischer Motive. Dasselbe gilt für das lange paternalistisch geprägte Verhältnis zwischen hörenden Experten und Gehörlosenschulen einerseits sowie Konflikten innerhalb der Gehörlosengemeinschaft andererseits. Schließlich ist es unser Anliegen, das Auf brechen dieses Musters und die Entwicklung von Gehörlosengemeinschaften und gehörlosem Aktivismus im Kontext von nationalen und internationalen Minderheitenbewegungen zumindest ansatzweise zu dokumentieren. Der vorliegende Band ist in drei Themenblöcke gegliedert. Den Auftakt macht ein Themenblock von exemplarisch innovativen methodischen Ansätzen mit dem Ziel, Perspektiven gehörloser Menschen in Vergangenheit und Gegenwart sichtbar zu machen und damit Kontrastpunkte zu einer Historiografie zu schaffen, die vornehmlich aus hörender Sicht geschrieben wurde. Sylvia Wolff richtet in ihrem Beitrag den Blick explizit auf gehörlose SchülerInnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deren Reflektionen über ihre Gehörlosigkeit und ihr Dasein. In ihrem Beitrag untersucht sie die Tagebücher von Zöglingen der Hamburger Taubstummenanstalt in den 1830er Jahren, die in den Verwaltungsberichten der Einrichtung publiziert wurden. Aus diesen autobiografischen Zeugnissen lässt sich u.a. ersehen, dass die gehörlosen SchülerInnen ihr Taubsein durchaus nicht als Unglück sondern eher als Vorteil wahrnahmen. Ihr Wissensdrang war groß. Auch auf geschlechterspezifische Unterschiede geht Wolff ein. Vera Blaser und Matthias Ruoss analysieren sodann in ihrem Beitrag die Lebenswelten ehemaliger SchülerInnen der Taubstummenanstalt St. Gallen in der Schweiz in den 1930er bis 1950er Jahren. Wie Wolff heben sie dabei die bisher in der Geschichtsschreibung weitgehend fehlenden Perspektiven gehörloser SchülerInnen hervor. Wie Degner gehen sie auch auf die Möglichkeiten beruflicher Ausbildungen für gehörlose Mädchen und Jungen ein und erlauben so Vergleiche, inwiefern im Lauf der letzten 150 Jahre die Schulbildung gehörlosen Menschen in verschiedenen deutschsprachigen Regionen eine Grundlage gab, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vordringlich wird in ihrem Beitrag herausgearbeitet, wie stark die Leben gehörloser Erwachsener von den Vorstellungen hörender Fürsorger wie Clara Iseli bestimmt und eingeschränkt wurden. Diese lassen sich aus Iselis Aktenvermerken zu ehemaligen SchülerInnen ablesen und zeigen, wie die teils verzweifelten und unverstandenen Stimmen gehörloser Menschen auch indirekt aus den von vorgefassten Meinungen bestimmten Erwartungen hörender Fürsorger herausgefiltert werden können. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Erwartungshaltungen und vor allem unterschiedlicher Kommunikationsebenen wird noch deutlicher in Andrea Neugebauers differenzierten Analyse des Absehens, die eine solide

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Grundlage dafür bildet, historische Vorstellungen des Lippenlesens neu zu interpretieren. Neugebauer verdeutlicht, dass es beim Lippenlesen nicht nur um ein reines Ablesen geht, sondern um eine komplexe Verhandlung von Wissen, Annahmen und Beziehungen, bei denen in der Regel der gehörlose Partner die Hauptlast zu tragen hat. Damit zeigt sie Wege auf, die Kommunikation zwischen Gehörlosen und Hörenden bewusster und inklusiver zu gestalten, indem sie eine stärkere Bewusstwerdung und letztlich aktivere Einbeziehung hörender Menschen in die lautsprachliche Kommunikation mit Gehörlosen einfordert. Dies wird zukünftig nur durch die Verbreitung von fundiertem und differenziertem Wissen über Gehörlosigkeit innerhalb der hörenden Mehrheitskulturen zu erreichen sein. Der zweite Themenblock lenkt den Blick auf gehörlose AktivistInnen und Institutionen wie Interessenverbände, die aktiv für ihre Interessen mit der hörenden Mehrheitskultur in einen Austausch traten bzw. sich an gesellschaftlichen Debatten beteiligten, insbesondere solche, die sie selbst betrafen. Analysen der Deaf Press erlauben es, diese Diskurse nachzuvollziehen und als Quellen auch für die hörende Geschichtsschreibung einzusetzen. Dass die nationalsozialistischen Verbrechen an Gehörlosen nicht isoliert für sich betrachtet werden können, verdeutlichen Ylva Söderfeldt und Enno Schwanke in ihrem Beitrag zur »Lex Zwickau«, einem Gesetzentwurf aus der Weimarer Republik, der den Weg zum nationalsozialistischen »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« von 1933 und damit zur Zwangssterilisation von tausenden hörgeschädigter Menschen bis 1945 ebnete. Söderfeldt und Schwankes Konzentration auf Debatten innerhalb der Gehörlosengemeinschaft selbst zeigt, dass gehörlose Menschen lange vor der Welle internationaler Minderheitenbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktiv versuchten, Diskurse um Gehörlosigkeit in der hörenden Mehrheitskultur mitzugestalten. Wie sich gehörlose Menschen u.a. sprachlich den Erwartungen der hörenden Behörden anpassten bzw. diese unterwanderten, wird im Beitrag zur Vorgeschichte der Gründung von Organisationen gehörgeschädigter und blinder Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) und frühen DDR von Anja Werner und Carolin Wiethoff dargestellt. Trotz der Notwendigkeit, politisch die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu stützen, konnten gehörlose und blinde Menschen bei staatlichen Organen aktiv die Schaffung eigener Interessenvertretungen bewirken, die ihnen – wenn auch im begrenzten Maße – gewisse Freiräume eröffneten. Dieser Erfolg tritt vor dem Hintergrund der Verfolgung und Zwangssterilisierungen als erbkrank eingestufter Gehörloser und Blinder zur Zeit des Nationalsozialismus noch deutlicher hervor. Dass es dabei unterschiedliche Konflikte zu meistern gab, liegt auf der Hand. Zu den wichtigsten Zielen des 1957 gegründeten Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verbands der DDR (ADGV, später Gehör-

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losen- und Schwerhörigen-Verband der DDR, GSV) zählte die Gründung einer Zeitschrift sowie die Verfügbarkeit von Gebärdendolmetschern. Michael Gebhard wiederum stellt den 1983 gegründeten Verein zur Unterstützung der Gebärdensprache der Gehörlosen (VUGS) in der Schweiz vor. Dieser Verein war kein Gehörlosenverband im eigentlichen Sinne, allerdings war es sein erklärtes Ziel, die Gebärdensprachforschung in der Schweiz in Auseinandersetzung mit internationalen Entwicklungen voranzubringen. Dabei standen gehörlose und hörende Personen als gleichwertige Vereinsmitglieder im aktiven Austausch. Gebärdensprache wurde als gleichwertiges Kommunikationsmittel neben der Lautsprache verwendet. Informationen zur Gebärdensprachforschung wurden auf verschiedenen Wegen für gehörlose Menschen mit unterschiedlichem Bildungsstand zur Verfügung gestellt. Anhand der Vereinsgeschichte und seiner Mitglieder demonstriert Gebhard die Auf bruchstimmung und das Interesse an Gebärdensprache in der Schweiz der 1980er und 1990er Jahre, zeigt aber auch die Grenzen der Forschung in freiwilliger Vereinsarbeit sowie die Distanz zwischen Forschenden und Zielpublikum. Dass es sich bei der Gehörlosengemeinschaft keineswegs um eine homogene Gruppe mit gemeinsamen Interssen handelt, verdeutlicht Mark Zaurov in seinem Beitrag zur Diskriminierung und Verfolgung gehörloser Juden in der Zeit des Nationalsozialismus und deren Aufarbeitung bis in die Gegenwart. Dabei geht es ihm insbesondere auch um die Abgrenzung dieser Verfolgung von Zwangssterilisationen und der »Aktion T 4«, dem nationalsozialistischen Krankenmord. Mit dem Begriff des »Deaf Holokaust« weist Zaurov darauf hin, dass gehörlose Juden in doppelter Weise ausgegrenzt wurden, dass es auch gehörlose Täter gab, und dass Gehörlose folglich keinsfalls als einheitliche Opfergruppe gesehen werden können, die undifferenziert durch einen einzigen Erinnerungsort geehrt werden sollten. In seinen Ausführungen wird klar, wie sehr die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart nachwirkt und einer andauernden Auseinandersetzung auf internationalen und nationalen Ebenen bedarf, die offen für vielfältige und vielschichtige Sichtweisen auf Gehörlosigkeit ist. Im dritten Themenblock sind Beiträge versammelt, die althergebrachte hörende Perspektiven auf Gehörlosigkeit neu bewerten, indem sie diese hinterfragen, erweitern und differenzieren. Dabei werden neben klassischen bildungshistorischen Herangehensweisen auch Quellen aus der Rechtsgeschichte herangezogen, weniger bekannte hörende Akteure in den methodischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts vorgestellt und diskutiert sowie wiederum explizit und implizit gehörlose Sichtweisen einbezogen. Im ersten Beitrag betrachtet Raluca Enescu drei Rechtsfälle im Königreich Preußen zwischen 1727 und 1828, in denen erstmals konkret die Schuldfähigkeit hörgeschädigter Mörder diskutiert wurde. Ihre Analyse der zeitgenössischen Quellen verdeutlicht, bis zu welchem Grad allgemein vorherrschende Vorstel-

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lungen von »Normalität« und Hörvermögen die Wahrnehmung von Gehörlosigkeit durch hörende Juristen und Experten mitbestimmte – und wie sich diese Wahrnehmung im Laufe des aufgeklärten 18.  Jahrhunderts wandelte. Enescu nähert sich der Gehörlosengeschichte über die Rechtsgeschichte, indem sie Akten historischer Gerichtsverfahren als Basis für neue Erkenntnisse über das Verständnis von Gehörlosigkeit in der Vergangenheit nutzt.92 Gehörlosengeschichte ist bisher vor allem über die Frage nach der »richtigen« Bildungsmethode geschrieben worden. Bis heute stellt dies ein zentrales Thema in der Diskussionen um Gehörlosigkeit dar, da über die Bildung die Kommunikation gehörloser Menschen festgelegt wird und damit ihre Identität sowie ihre Berufs- und Lebenschancen in der hörenden Mehrheitskultur. In bisherigen Studien lag der Fokus allerdings vornehmlich auf der oben beschriebenen Auseinandersetzung zwischen »deutscher Lautsprachmethode« und »französischer Gebärdenmethode« im 19.  Jahrhundert. Florian Wibmer zeichnet hingegen ein differenziertes Bild von der Frühphase des österreichischen »Taubstummenwesens« bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts. Mit Porträts u.a. von Friedrich Stork (1746-1823) und Joseph May (1755-1820) stellt er wichtige Begründer der österreichischen Gehörlosenbildung vor, die sich aktiv an den internationalen Debatten um die »richtige« Methode beteiligten, wobei Wibmer auf die »Wiener Methode« als Mischform mit laut- und gebärdensprachlichen Elementen verweist. Allerdings ging man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch vor dem Mailänder Kongress im Jahr 1880 zum reinen Lautsprachunterricht über. Darüber hinaus zeigt Wibmer Konflikte zwischen einzelnen österreichischen Pionieren der Gehörlosenbildung auf, geht auf sukzessive Schulgründungen in der Habsburger Monarchie ein und bespricht Unterrichtsinhalte auch nach geschlechterspezifischen Aspekten im Lauf der Zeit. Ingo Degner wiederum erinnert in seinem Beitrag zu Georg Wilhelm Pfingsten (1746-1827) an den »Vater« der Hörgeschädigtenpädagogik in Schleswig-Holstein, dessen erklärtes Ziel es war, »Taubstummen« Sprache zu vermitteln, wobei er auch Gebärden nutzte. Damit unterstreicht Degner, dass in Deutschland neben Samuel Heinicke in Leipzig und dessen Schwiegersohn Ernst Adolf Eschke in Berlin weitere einflussreiche Gehörlosenpädagogen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert unterrichteten, deren Leben und Wirken noch aufgearbeitet werden muss. Zu Wirkzeiten dieser Männer war die »deutsche Methode« längst noch nicht klar als rein lautsprachlich definiert.

92 | Vgl. hierzu auch Raluca Enescu und Anja Werner, »The Legal Capacity of Deaf People in the Decisions of the German Imperial Court of Justice between 1880 and 1900«, SOLON: Law, Crime and History 6, Nr. 2 (2016): 31-53. https://pearl.plymouth.ac.uk/ handle/10026.1/8935.

Einleitung

Im abschließenden Beitrag des Bandes diskutieren Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber die Verwirklichung sprachlicher Menschenrechte gehörloser ÖsterreicherInnen – wobei das Autorenteam historische Forschung mit Erfahrungen aus persönlichem Engagement um die sprachliche Gleichberechtigung Gehörloser verbindet. Die AutorInnen zeigen, dass, obwohl die ÖGS per Verfassungszusatz anerkannt wurde, hartnäckige orale Traditionen in Politik und relevanten Institutionen eine praktische Umsetzung dieses Sprachrechts tauber ÖsterreicherInnen im Unterricht bis heute nicht gewährleisten. Dabei hat es seit den 1990er Jahren u.a. verschiedenste lokale und regionale Initiativen zu bilingualen Schulversuchen unter Einbeziehung der ÖGS gegeben, die z.T. von gehörlosen Interessenvertretungen initiiert wurden bzw. gehörlose gebärdensprachkompetente AktivistInnen und PädagogInnen einbeziehen.

F a zit und A usblick Der Hinweis auf große Forschungslücken und künftige Aufgabengebiete eint alle Beiträge dieses Bandes. Neben den von den AutorInnen genannten einzelstaatlichen Forschungslücken weisen wir abschließend nochmals auf die großen komparativen Linien hin: Wie die Beiträge im vorliegenden Band zeigen, bietet die Geschichte von Gehörlosigkeit Möglichkeiten für grenzüberschreitende, transnationale Geschichtsschreibung. Die Themenbereiche Gehörlosenbildung, Autonomie und Kommunikation gehörloser Menschen sowie die Geschichte der verschiedenen nationalen Gebärdensprachen, aber auch die Aufarbeitung der Verfolgung gehörloser Menschen werden durch einen Blick ins Nachbarland ungemein bereichert. Festzustellen bleibt, dass die (rein) lautsprachliche, »deutsche« Tradition in Deutschland, Österreich und der Schweiz lange dominant blieb. Ihre Anziehungskraft zeigt, dass es beim »Methodenstreit« nicht nur um Kommunikation ging, sondern auch darum, wie gehörlose Menschen als BürgerInnen und Gesellschaftsmitglieder zu sein hatten. Das Erreichen einer quasi-hörenden »Normalität« und das Verstecken von Zeichen von Andersartigkeit – wie z.B. das Gebärden – war lange vorrangiges Ziel und Versprechen der Gehörlosenbildung und bleibt es oft bis heute. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts wird auch in wissenschaftlichen Kreisen und zunehmend in der hörenden Öffentlichkeit thematisiert, dass das Ideal einer »Normalisierung« Gehörloser in der hörenden Welt kaum je erreicht wurde, dass die Bringschuld fast ausschließlich auf Seiten der Gehörlosen lag, und dass Paternalismus sowie Vorurteile den Umgang mit gehörlosen Menschen bestimmten. Inwieweit das Erbe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zumindest in Deutschland und in Österreich hier längerfristige Demokratisierungs- und Partizipations-

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defizite schuf, bleibt noch weitgehend aufzuarbeiten. Gleichzeitig differenzieren die vorliegenden Beiträge den »Methodenstreit« und zeigen alternative, noch weiter zu erforschende Sichtweisen und Ansätze auf. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Entwicklung von Gehörlosengemeinden und -identitäten ist ein weiteres Feld für die zukünftige Forschung. Faktoren wie unterschiedliche Urbanisierungs- und Industrialisierungsgrade sowie die flächendeckende Einführung der Gehörlosenbildung scheinen hier eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Ebenfalls sichtbar wird das nur sehr langsame Auf brechen des oft immer noch paternalistischen Verhältnisses zwischen hörenden Experten und Gehörlosen, das in einer Gehörlosenbildung wurzelt, die Gehörlose lange Zeit daran hinderte, selbst in diese Expertenschicht aufzusteigen. Aus den in diesem Band angesprochenen Themenblöcken ergeben sich zahlreiche Anregungen für die zukünftige Forschung. Mit Ausnahme von Mark Zaurovs Arbeiten zu gehörlosen Juden sind die Rollen und anzunehmende doppelte Diskriminierung von Minderheiten innerhalb der Gehörlosengemeinde – mehrfach Behinderte, Immigranten, Sinti und Roma, Homosexuelle – für den deutschsprachigen Raum bisher nicht erforscht. Ebenfalls noch weitgehend unerforscht ist die internationale und grenzüberschreitende Verknüpfung von GehörlosenaktivistInnen und Vereinen untereinander sowie mit anderen AktivistInnen- bzw. Minderheitengruppen; hier leistet Michael Gebhard aus Schweizer Sicht einen wichtigen Beitrag. Auch die Rolle von Gehörlosen in der Rechtsgeschichte ist noch überwiegend ungeschrieben. Neue – eben auch historische –Forschungsansätze zu Hörschädigung in der Medizin unter Einbeziehung gebärdensprachlicher Therapieoptionen sind dringend erforderlich, um Schritt mit dem Trend einer stärkeren Einbindung von Patientensichtweisen in die medizinische Praxis halten zu können. Geografisch ist ebenfalls viel aufzuholen. So wäre eine Anregung, die Gehörlosengeschichten deutschsprachiger Minderheiten in verschiedenen europäischen Ländern aufzuarbeiten. Auch wäre es erstrebenswert, die Traditionen der »Taubstummenbildung« in historisch zeitweilig deutschen Gebieten wie Kaliningrad (Königsberg), Strasbourg (Straßburg) oder Wrocław (Breslau) innerhalb anderer nationaler Kontexte zu erforschen – ebenso wie deren Wandel im Kontakt mit z.B. russischen, französischen oder polnischen Traditionen der Gehörlosenbildung. Erste Arbeiten zu Johann Heidsiek (1855-1942), »Taubstummenlehrer« aus Breslau und Vorreiter des bilingualen Unterrichts in den 1890er Jahren, liegen vor.93 Schließlich müssen die vielsprachigen Traditionen in der Schweiz und in der Habsburger Monarchie zukünftig stärker erforscht und nicht auf rein deutschsprachige Traditionen reduziert werden.

93 | Vgl. Muhs, Johann Heidsiek.

Einleitung

Die Geschichte der Gehörlosigkeit bietet für die grenzüberschreitende, transnationale Forschung ideale Voraussetzungen: Gehörlosengemeinschaften – ebenso wie die auf sie bezogenen Expertengruppen – sind kleine, eingrenzbare Personengruppen innerhalb einer Nation, die auch schon in der Vergangenheit beim Austausch zu Rechten, Möglichkeiten und Bildung über Landesgrenzen hinweg kommunizierten. Dabei ist die Geschichte von Gehörlosigkeit keinesfalls nur für die angesprochenen, betroffenen Personengruppen von Interesse. Tatsächlich sagt der Umgang mit gehörlosen Menschen – und der Wandel desselben – viel über die jeweiligen Vorstellungen von »Normalität« der hörenden Mehrheit aus. Damit stellt die Erforschung der Geschichte von Gehörlosigkeit auch einen wichtigen Bestandteil der historischen und geisteswissenschaftlichen Forschung dar.

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Teil 1: Die Perspektiven gehörloser Menschen sichtbar machen: Innovative methodische Ansätze

»…meine Taubheit ist mir aber wohl nicht schädlich…« Über die Bedeutung von Ego-Dokumenten am Beispiel der Schülertagebücher aus der Hamburger Taubstummenanstalt 1830-1847 Sylvia Wolff

E inleitung Zu Neujahr 1836 schreibt der taube Hamburger Schüler Theodor Kramer folgende Zeilen in sein Tagebuch: »Das Gehör ist mir verloren; meine Ohren sind verschlossen, wie eine Thür; meine Taubheit ist mir aber wohl nicht schädlich. Ich werde in den Himmel kommen mit keiner Taubheit, denn der Himmel hat keine fünf Sinne, sondern nur Geist.«1 Dieser kurze philosophische Exkurs des Schülers ist einer von wenigen Belegen, die etwas über die Selbstwahrnehmung tauber Menschen im 19. Jahrhundert aussagen.2

1 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses der am 28ten May 1827 gestifteten Taubstummen-Schule für Hamburg und das Hamburger Gebiet (Hamburg: gedruckt bei Heinrich Gottfried Voigt, 1838), 73. 2 | Dazu gehörten im 19. Jahrhundert u.a. die Abhandlungen des tauben Leipziger Lehrers Carl Wilhelm Teuscher (1803-1835), veröffentlicht in Carl Gottlob Reich, Blicke auf die Taubstummenbildung und Nachricht über die Taubstummenanstalt zu Leipzig, seit ihrem 50jährigen Bestehen, nebst einem Anhange über die Articulation, (Leipzig: Verlag von Leopold Voß, 1828), speziell die Abhandlung von Carl Wilhelm Teuscher, »Bemerkungen über meines Denkens Form«, 92-99. Vgl. auch den Briefwechsel zwischen dem Hamburger Taubstummenanstaltsdirektor Dr. Heinrich Wilhelm Buek (1796-1879) und dem tauben Berliner Taubstummenlehrer Johann Carl Habermaß (1783-1826). Er wurde in der Beilage zum Neunten Bericht, 1847, 157-168, veröffentlicht,( vgl. auch FN 5).

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Abbildung 1: Deckblatt Sechster Verwaltungsbericht

Deckblatt des Sechsten Berichtes des Verwaltungsausschusses der Hamburger Taubstummenschule von 1838. Es handelte sich bei den Berichten um gebundene Ausgaben mit einem Umfang von ca. 200 Seiten. Alle Berichte sind in diesem Format bis 1850 erschienen.

Das Tagebuch, aus dem die Zeilen stammen, gehört zu einer Sammlung von Schülertagebüchern, Berichten und Aufsätzen aus der Hamburger Taubstummenanstalt.3 Zwischen 1830 und 1850 wurden sie von SchülerInnen dort ver3 | Die Hamburger Taubstummenanstalt wurde 1827 von dem bekannten Hamburger Arzt und Botaniker Dr. Heinrich Wilhelm Buek gegründet. Buek pflegte einen regen Austausch mit Pädagogen aus dem In- und Ausland. Kurze Zeit nach der Gründung der An-

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fasst und vom Verwaltungsausschuss der Einrichtung in den alljährlich erscheinenden Berichten der Einrichtung veröffentlicht. Nach Geschlechtern getrennt, erschienen die als »Tagebücher der Mädchen« oder »Tagebücher der Knaben« bezeichneten schriftsprachlichen Aufzeichnungen in Form von lebensweltlichen Beschreibungen, teils in kontextuellen Schreibepisoden unterschiedlicher Länge, teils in zusammenhangslosen Aneinanderreihungen von kurzen Sätzen. Sie wurden damals als repräsentative Belege für die in der Einrichtung geleistete pädagogische und sprachliche Vervollkommnungsarbeit angesehen. Das Medium Tagebuch, in dem ein Mensch regelmäßig »Erfahrungen, Beobachtungen, Ereignisse, Gedanken, Gefühle usw. aus der subjektiven Sicht der Schreibenden«4 festhält, hat in der Vergangenheit verschiedene Varianten hervorgebracht. Was die Hamburger Tagebücher für die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung besonders interessant macht, ist, dass es sich hier um verschriftlichte Schul- und Lebenswirklichkeiten tauber und schwerhöriger SchülerInnen handelt. Für die biografische Analyse im Rahmen dieses Artikels lagen Tagebücher aus dem ersten, fünften, sechsten und neunten Jahresbericht der Hamburger Taubstummenanstalt vor.5 In jedem Jahresbericht werden im Einleitungsteil pädagogische und didaktische Themen behandelt. Dazu zählen Fragen zur Bildsamkeit der tauben SchülerInnen und Methodik des Unterrichts, zu den Erziehungsvorstellungen dieser Zeit und zu aktuellen Entwicklungen auf dem stalt hatte er den tauben Lehrer Daniel Heinrich Senß (1800-1868) eingestellt, der sich vor allem dem Unterricht in der »Pantomime« und der Mathematik widmete. Über seinen Unterricht in der Gebärde und über die zahlreichen tauben Besucher des Instituts wurde auch von den TagebuchschreiberInnen berichtet. Siehe dazu auch von Iris Groschek, Unterwegs in eine Welt des Verstehens. Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Hamburg: University Press, 2008), 59. 4 | Marianne Meid, »Tagebuch«, in Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 14, Hg. Walther Killy (München/Gütersloh: Bertelsmann-Verlag, 1993), 418.  5 | O. V., Erster Bericht des Verwaltungsausschusses der am 28ten May 1827 gestifteten Taubstummen-Schule für Hamburg und das Hamburger Gebiet (Hamburg: gedruckt bei Heinrich Gottfried Voigt, 1828); O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses der am 28ten May 1827 gestifteten Taubstummen-Schule für Hamburg und das Hamburger Gebiet (Hamburg: gedruckt bei Heinrich Gottfried Voigt, 1836); O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses der am 28ten May 1827 gestifteten Taubstummen-Schule für Hamburg und das Hamburger Gebiet (Hamburg: gedruckt bei Heinrich Gottfried Voigt, 1838); O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses der am 28ten May 1827 gestifteten Taubstummen-Schule für Hamburg und das Hamburger Gebiet (Hamburg: gedruckt bei Heinrich Gottfried Voigt, 1847). Aufgrund des umfangreichen Materials wurde sich auf eine Auswahl der Berichte beschränkt.

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Gebiet der Taubstummenpädagogik. Im zweiten Teil befinden sich Berichte über die SchülerInnen mit Einschätzungen ihrer Lernfortschritte und persönlichen Angaben zu ihrer Herkunft und zum Lebensalter. Außerdem werden Aufnahme- und Entlassungszeitpunkt mit den jeweiligen Altersangaben genannt. Das Schuleintrittsalter der SchülerInnen war noch nicht einheitlich geregelt und bewegte sich zwischen 5 und 31 Jahren. Nicht zu jedem Tagebucheintrag sind VerfasserInnen angegeben. Im letzten Teil befinden sich Rechenschaftsberichte und Finanzabrechnungen zur Anstalt. Das Schreiben von Tagebüchern hat in der pädagogischen Praxis eine lange Tradition und reicht bis in den Pietismus zurück. Ihren Ursprung hat diese Form pädagogischer Selbstvergewisserung in England und Frankreich.6 Im deutschsprachigen Raum wurde sie im 18. Jahrhundert durch den Halleschen Pietismus unter August Hermann Francke (1663-1727) und seinem späteren Nachfolger August Hermann Niemeyer (1754-1828) vorangebracht. Sie ließen ihre SchülerInnen regelmäßig Tagebuch führen, um ihre Selbsttätigkeit anzuregen. Durch das systematische Notieren von täglichen Erlebnissen und Erfahrungen, von Ideen und Zwiegesprächen sollte die Auseinandersetzung mit sich und der Welt, gleich einem inneren Dialog, gefördert werden. Tagebücher dienten der Selbsterziehung und sollten den Stand des erreichten Grades von religiösem und weltlichem Wohlverhalten dokumentieren.7 Die ErzieherInnen hatten durch die Kontrolle der Aufzeichnungen die Möglichkeit, Lernfortschritte, -prozesse und Entwicklungsschritte zu beobachten, einen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer SchülerInnen zu erhalten, sowie Begabungen früh zu erkennen und zu fördern.8 Im 19. Jahrhundert wurde das Tagebuchführen auch für die pädagogische Praxis an den Taubstummeninstituten entdeckt. Ferdinand Neumann (17881833), der Direktor der Königsberger Taubstummenanstalt, hatte es in seinem 1827 erschienenen Reisebericht ausdrücklich empfohlen. Doch von den damaligen Taubstummeninstituten folgte nach bisherigem Kenntnisstand nur

6 | Siehe Kaspar von Greyerz, Vorsehungsglaube und Kosmologie: Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts, Publications of the German Historical Institute London (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1990), 25. 7 | Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum: eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.-19. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2005), 137-138. 8 | Siehe dazu den Aufsatz von Kathrin Berdelmann, »›Sein Inneres kennen wir nicht, denn es ist uns verschlossen‹« – Schulische Beobachtung und Beurteilung von Kindern im 18. Jahrhundert« Zeitschrift für Grundschulforschung: Bildung im Elementar- und Primarbereich 9, Nr. 2 (2016): 9-23; außerdem Britta Spies, Das Tagebuch der Caroline von Lindenfels, geb. von Flotow (1774-1850) (Münster: Waxmann, 2009), 40.

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die Hamburger Anstalt dieser Empfehlung.9 Vielleicht hatte deren Direktor Heinrich Wilhelm Buek (1796-1879) unter dem Einfluss seiner Amtskollegen aus England, Irland und Schottland diese Form pietistisch tradierter Schreibanlässe eingeführt. Buek hatte im Rahmen einer pädagogischen Visitationsreise Schulen im Ausland besucht, um vor Ort einen Eindruck von der schulischen Praxis zu gewinnen. Zuvor hatten die Institutsdirektoren versucht, sich über die einander zugesandten Anstaltsberichte, inklusive der Tagebücher, ein Bild von der Schulwirklichkeit zu machen.10 Buek sah in den Tagebüchern ein »wichtiges Sprachbildungsmittel«, in das der Schüler alles eintragen solle, »was den Tag über seine Aufmerksamkeit erregt hat«.11

9 | Ferdinand Neumann, Die Taubstummen-Anstalt zu Paris im Jahre 1822: Eine historisch-pädagogische Skizze, als Beitrag zur Kenntnis und Würdigung der französischen Methoden des Taubstummenunterrichts; nebst Geschichte und Literatur des Taubstummenunterrichts in Spanien und Frankreich (Königsberg: bei August Wilhelm Unzer, 1827), 40. 10 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 20. Was die pädagogische Botschaft der Tagebücher betrifft sowie ihre Herkunft, Rolle und Bedeutung, bleiben die Ausführungen des Institutsdirektors dazu die einzigen, und das, obwohl sie eine durchgängig positive Resonanz erfuhren. Erstaunlicherweise wurde diese Form der Selbsttätigkeit nach bisherigem Kenntnisstand in den zeitgenössischen pädagogischen Schriften nicht thematisiert. Auch aus den Berichten verschiedener anderer Bildungseinrichtungen gibt es keine Hinweise auf die Nutzung von Tagebüchern im oder außerhalb des Unterrichts. Was es gab, waren sogenannte »Schreibbücher« oder »Sprachregelbücher«, deren Nutzung jedoch dem reinen Üben von Sprachwendungen und Dialogen vorbehalten war. Sogenannte »Schreibhefte« in Form von »Sprachregellehren« wurden z.B. im Berliner Taubstummeninstitut genutzt. (BLha Pr. Br. Rep. 34, Nr. 1305/unpaginiert »Jahresbericht des Oberkonsistorialrats Nolte vom 12. Juni 1812«.) Ein weiteres Beispiel dafür geben die Auszüge aus der: »Sprachregellehre für H. J. W. von Goszicki, Berlin, den 1. October 1835. In der ersten Klasse. Donnerstag. Beim Herrn Director Graßhoff«. Sie zeigen die Ergebnisse einer durch Fragen entwickelten katechisierenden Unterrichtsmethode, die ihren Ursprung im religiös motivierten Unterricht hatte und um 1830 von bekannten Pädagogen, wie Adolf Diesterweg (1790-1866), als Form des unterrichtlichen Dialogs empfohlen wurde. 11 | O. V., Erster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1828, 20.

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(Auto-)biografische Dokumente tauber Menschen als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung Die Biografieforschung ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts in der Psychologie, Soziologie und Medizin sowie der Religionswissenschaft fest etabliert.12 Seit jüngster Zeit erfährt sie auch in der Geschlechter- und Migrationsforschung, in der Schul- und Bildungsforschung und in den Erziehungswissenschaften immer mehr Beachtung.13 In der Hörgeschädigtenpädagogik blieben bis zum Ende des 20. Jahrhunderts biografische Darstellungen größtenteils auf das Leben und Wirken von ausgewählten TaubstummenlehrerInnen beschränkt. Die vorliegenden Publikationen wurden ausnahmslos von hörenden Berufskollegen verfasst.14 Die heutige erziehungswissenschaftliche Biografieforschung ermöglicht die Öffnung des Blicks auch für den Erfahrungshorizont der Heranwachsenden. Auf diesen in der Disziplin viel zu selten vollzogenen Perspektivwechsel hatte Thomas Schulze bereits in den 1990er Jahren hingewiesen und für eine »biographisch orientierte Pädagogik« plädiert.15 Seine Feststellung traf damals auch für die unterschiedlichen Funktionskontexte von (auto-)biografischen Zeugnissen in den Forschungen zur Geschichte tauber und schwerhöriger Menschen und der Hörgeschädigtenpädagogik zu. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts sind es vor allem historisch-anthropologische, psychologische und pädagogische Veröffentlichungen über die ›Gebildeten‹ unter ihnen.16 Häufig 12 | Zur Bedeutung der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung in der allgemeinen Erziehungswissenschaft siehe Theodor Schulze, »Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung«, in Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Hg. Lothar Wigger (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft/Beiheft 1) (Opladen: Leske und Budrich, 2002), 129-146. 13 | Siehe Helma Lutz, Martina Schiebel und Elisabeth Thiele, Hg., Handbuch Biografieforschung (Wiesbaden: Springer VS, 2018). 14 | Hier insbesondere Eduard Walther, Geschichte des Taubstummenbildungswesens unter besonderer Berücksichtigung der Entwickelung des deutschen Taubstummenunterrichts (Bielefeld und Leipzig: Verlag von Velhagen und Klasing, 1882); Paul Schumann, Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt (Frankfurt a.M.: Verlag Moritz Diesterweg, 1940). 15 | Thomas Schulze, »Biographisch orientierte Pädagogik«, in Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, Hg. Dieter Baacke und Thomas Schulze (Weinheim/München: Juventa 1993), 13-40, hier 18. 16 | Vor allem in Gelehrtenzeitschriften wurde immer wieder auf erfolgreich gebildete taube Menschen aufmerksam gemacht. Exemplarisch hier der Aufsatz von Anton Clemens. »Sprachforschung. Ansichten eines Taubstummen über Geberden-, Schrift- und Tonsprache«, Neueste Weltkunde 3 (1847): 92-101. Bei dem im Titel genannten Taub-

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wurden sie von hörenden Autoren in einer Art »Stellvertreterfunktion«17 verfasst. Erst in den 1990er Jahren gelang Hans-Uwe Feige mit seinen Biografien von tauben SchülerInnen des Leipziger Taubstummeninstituts ein Perspektivwechsel, der den pädagogischen Tunnelblick verließ und biografisch ambitioniert und lebensweltlich orientiert war.18 Doch wurden solche autobiografischen Quellen selten explizit Gegenstand einer biografischen erziehungswissenschaftlichen Analyse. Erst vor einigen Jahren hat Ylva Söderfeldt in ihrem Aufsatz »Lebenswelt eines, taubstummen Vaganten‹. Die Befragung eines gehörlosen Bettlers als Ego-Dokument zur Geschichte« die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung mit der Deaf history verknüpft und die herangezogenen Quellen in der Kategorie »Ego-Dokumente« ausgewertet.19 Sie hat gezeigt, dass mit dieser Erweiterung auch ganz neue Quellenvarianten ins öffentliche Blickfeld gelangen können: Es sind Aufzeichnungen über taube Menschen, denen es praktisch unmöglich war, selbst Briefe, Tagebücher oder andere Texte zu verfassen. Konkret handelt es sich um Dokumente, die aus stummen handelt es sich um die Aufzeichnungen des Leipziger tauben Taubstummenlehrers, Carl Wilhelm Teuscher (1803-1835). Dazu gehören auch die Biographien von berühmten tauben Persönlichkeiten, verfasst von dem tauben Taubstummenlehrer Otto Friedrich Kruse (1801-1880): Otto Friedrich Kruse, Bilder aus dem Leben eines Taubstummen. Eine Autobiographie des Taubstummen Otto Friedrich Kruse, emeritierter Taubstummenlehrer (Altona: Im Selbstverlag des Verfassers, 1877); Ders., Über Taubstumme, Taubstummenbildung und Taubstummenanstalten nebst Notizen aus meinem Reisetagebuche (Schleswig: Im Selbstverlag des Verfassers und in Commission der Bruhnschen Buchhandlung, 1853). 17 | Zum interdisziplinären Diskurs in der Sonderpädagogik siehe: Jörg Zirfas, »Angewiesenheit und Stellvertretung – Perspektiven einer pädagogischen Anthropologie und Ethik«, in An Stelle des Anderen: Ein interdisziplinärer Diskurs über Stellvertretung und Behinderung, 87-106, Hg. Karl-Ernst Ackermann und Markus Diederich (Oberhausen: Athena, 2011). 18 | Hans-Uwe Feige, »Die gehörlosen Schüler Samuel Heinickes. Teil II: Der ›Leipziger‹ Georg Andreas Hoffmann«, Das Zeichen 12, Nr. 45 (1998): 336-351; Ders., »Samuel Heinickes Eppendorfer ›Müllersohn‹«, Das Zeichen 13, Nr. 48 (1999): 188-193; Ders., »Lebenswirklichkeit gehörloser Kinder gegen Ende der Frühen Neuzeit«, Das Zeichen 15, Nr. 55 (2001): 18-33; Ders., »Carl Friedrich Wilhelm Teuscher und Carl Gottlob Reich. Der gehörlose Schüler und sein hörender Mentor«, Das Zeichen 16, Nr. 59 (2002): 8-22; Ders., »Gehörlose Briefschreiber aus zwei Jahrhunderten (1776-1846)«, Das Zeichen 22, Nr. 80 (2008): 386-397; Ders., »Schülertagebücher als Quelle der Gehörlosengeschichte«, Das Zeichen 23, Nr. 83 (2009): 364-374. 19 | Ylva Söderfeldt, »Lebenswelt eines ›taubstummen Vaganten‹. Die Befragung eines gehörlosen Bettlers als Ego-Dokument zur Geschichte der Gehörlosen«, Das Zeichen 23, Nr. 83 (2009): 375-379.

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einer Verschriftlichung von gebärdensprachlichen Äußerungen hervorgegangen waren. Und schließlich werden künftig für die biografische Forschung nicht nur schriftliche Texte relevant sein, sondern auch immer häufiger visuelle Quellen. Schon heute bietet das Medium Film vielfältige Möglichkeiten Biografisches festzuhalten und, im Unterschied zu geschriebenen Texten, gerade für taube Menschen die Chance, sich wider allen Konventionen in ihrer Gebärdensprache äußern zu können.

Ego-Dokument oder Selbstzeugnis – Von der Problematik der Quelleneinordnung Neben Büchern, Zeitschriften, Vereins- und Behördenakten sind es vor allem Selbstzeugnisse, wie Tagebücher, Briefe, Bilder, Randnotizen und persönliche Artefakte, die für die Erforschung von Biografien aufschlussreich sein können. Solche persönlichen Dokumente liefern für die Analyse von Lebensgeschichten, individuellen Erfahrungen und Lernprozessen wichtige empirische Daten.20 Im Mittelpunkt steht das Individuum als Biografieträger. Doch bei selbstverfassten (auto-)biografischen Quellen prominenter tauber Menschen warnte Söderfeldt in ihrem oben erwähnten Artikel vor einer unkritischen Reflexion, da sie immer auch »den Konventionen ihres Genres unterworfen und auch mit bestimmten impliziten Botschaften, Ideologien und Zwecken behaftet« seien.21 Folgt man Söderfeldts Argumentation, dass kein Ego-Dokument »als direkte Quelle zur Biografie und Selbstwahrnehmung einer Person angenommen werden [könne] ohne den eingebauten Fiktionen kritisch gegenüberzustehen«, trifft die Problematik der VerfasserInnenabsichten auch auf die Hamburger Schülertagebücher zu.22 Es handelt sich bei diesen Dokumenten zwar im engeren Sinn nicht um Quellen prominenter tauber Menschen, doch wenn es um die eindeutige Klärung der VerfasserInnenabsichten geht, dann steht man auch bei den Tagebüchern der weniger bekannten SchülerInnen vor einem Zuordnungsproblem. Hier hilft eine weitere Differenzierung der Begrifflichkeiten. So hatte Benigna von Krusenstjern schon 1994 eine kategoriale Erweiterung vorgeschlagen, um Verfasserabsichten besser differenzieren zu

20 | Werner Fuchs-Heinritz, »Biografieforschung«, in Handbuch spezielle Soziologieforschung, Hg. Georg Kneer & Markus Schroer (Wiesbaden: Springerlink, 2010), 85-104 hier 87. 21 | Söderfeldt, »Lebenswelt«, 377. 22 | Ebd.

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können: Seiner Meinung nach sollten freiwillig verfasste »Ego-Dokumente« als »Selbstzeugnisse« definiert werden.23 Grundsätzlich gehören Schülertagebücher als »Ego-Dokumente« oder »Selbstzeugnisse« zu den Quellen der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung.24 Winfried Schulze fasste den Begriff des »Ego-Dokuments« folgendermaßen zusammen: Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, dass Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuell menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln. 25

Problematisch wird die Zuordnung im Fall der Hamburger Schülertagebücher, da die Umstände ihres Entstehens nicht mehr nachvollziehbar sind – also unter welchen Bedingungen die Verfasser Auskunft über persönliche Wahrnehmungen, Einstellungen, Erfahrungen, Wünsche und Träume gegeben haben, welche Anteile möglicherweise selbst- oder fremdbestimmt waren. Im Unterschied zu einem freiwillig und privat geführten Tagebuch sind die Hamburger Tagebücher funktional angelegt. Sie waren Ergebnisse instruktiven Handelns der LehrerInnen und sollten als Belege für die sprachliche Entwicklung der SchülerInnen dienen. Nimmt man die VerfasserInnenabsicht als Unterscheidungsmerkmal zwischen »Ego-Dokument« und »Selbstzeugnis«, trägt auch dies nicht ganz, denn die VerfasserInnen haben zwar das Produkt erstellt, veröffentlicht wurde es jedoch vom Institutsdirektor in Stellvertreterfunktion. Was wirklich als authentisches Material gelten kann und was möglicherweise für die Veröffentlichung »geglättet« wurde, kann anhand des gedruckten Quellenmaterials nicht mehr nachvollzogen werden. Es gibt zwar im »Fünften Bericht des Verwaltungsausschusses« von 1836 einen Hinweis dazu, aber das Urteil stammte von einem scheinbar fachfremden Autor, der sich in den Kritischen Blättern der Börsenhalle vom 17. Februar 1834 (Nr. 190) zu den Tage23 | Benigna von Krusenstjern, »Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert«, Historische Anthropologie. Kultur-Gesellschaft-Alltag 2, Nr. 3 (1994): 462-471, hier 462-463. 24 | Fuchs-Heinritz, »Biografieforschung«, 87. 25 | Winfried Schulze, »Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ›Ego-Dokumente‹«, in Ego-Dokumente, Hg. Winfried Schulze (Berlin: Akademie-Verlag, 1996), 11-33, hier 28.

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büchern geäußert hatte. Grundsätzlich sah der Verfasser in den Tagebüchern ein gutes Mittel der Beobachtung und »Selbstverständigung«. Seiner Ansicht nach wären die Tagebücher nicht von den LehrerInnen redigiert worden, was man an den »drolligen Eigenthümlichkeiten« und »nicht ausgemerzten Mängeln und Ungeschicklichkeiten« erkennen würde.26 Der Verfasser lobte die Arbeit der PädagogInnen, die beim Üben einer für die Schüler fremden Sprache »Fehler und misslungene Versuche« zulassen würden, um damit ihren Ausdruck verbessern zu können. Deshalb sei seiner Meinung nach den Tagebüchern der Vorzug gegenüber von LehrerInnen vorbereiteten Aufsätzen zu geben. Doch selbst bei einem gewissen pädagogisch motivierten Zugeständnis an die Fehlerhaftigkeit der Schriftstücke, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Auswahl der Tagebuchauszüge für die Veröffentlichung nicht auch an gewisse Vorgaben der HerausgeberInnen gebunden war. Das für die kategoriale Einordnung als »Selbstzeugnis« entscheidende Kriterium der Freiwilligkeit kann für den Entstehungsprozess der Tagebücher nicht mit Gewissheit nachgewiesen werden. Deshalb erscheint, der Definition Krusenstjerns folgend, die Einordnung der Tagebücher als »Ego-Dokumente« sinnvoll. Die Quellengruppe der »Ego-Dokumente« und, konkret in diesem Fall, der Schülertagebücher, offenbart sowohl die Reflexion des »Selbst« der Person, als auch die Perspektive, mit der sich die Person beschreibt.27 Die Praxis des Schreibens steht damit im Fokus. Damit verbunden sind Fragen nach den Entstehungszusammenhängen der Tagebücher, wie den Zielen des Schreibens, den Schreibabsichten, den Schreibsituationen der SchülerInnen, den eigenen Perspektiven der SchreiberInnen, und den Erwartungen der möglichen LeserInnen.28 Die Analyse der Quellen – aus der Perspektive einer nicht der Gehörlosenkultur angehörenden Historikerin – erfolgt aus einem Fremdverstehen mit einem, durch die Kultur der Mehrheitsgesellschaft geprägten Fragehorizont, und dennoch aus einem interkulturellen Blickwinkel. Aus der Balance

26 | O. V. Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 20. 27 | Zur Selbstreflexion in Ego-Dokumenten siehe Gabriele Janke, Jüdische Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente der Frühen Neuzeit in Aschkenas. Eine Einleitung. In Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas. Beispiele, Methoden und Konzepte, Hg. Birgit E. Klein und Rotraud Ries (Berlin: Metropol-Verlag, 2011), 9-26, hier 14. 28 | Claudia Ulbrich, »Europäische Selbstzeugnisse in historischer Perspektive – Neue Zugänge«, Tagungsbericht (Seoul: Korean University, 2014), 10-11. Der Beitrag wurde verfasst für die Tagung »Searching for Tradition and Modernity through Diary«, die am 8. und 9. Juni 2014 von Byungwook Jung am Research Institute of Korean Studies an der Korean University in Seoul durchgeführt wurde. www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/ins titut/arbeitsbereiche/ab_ulbrich/media/UlbrichEurop__ische_Selbstzeugnisse.pdf.

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von gegenwärtigem Erkenntnisinteresse und dem Eigenwert der herangezogenen Quellen entstehen so neue Geschichten zwischen den Kulturen. Will man bei der untersuchten Gruppe das Spezifische des Schreibens in Erfahrung bringen, dann sind bei der Analyse der Schreibanlässe die Traditionen und Muster der Selbstrepräsentation, die Art und Weise der Ich- und Weltdeutungen sowie geschlechterdifferente Kulturelemente zu hinterfragen. Die Kategorie Geschlecht spielte und spielt bei der Herausbildung, bei der Etablierung und bei der Differenzierung von Erziehungsvorstellungen eine bedeutende Rolle. Für die Bewertung des Verhältnisses von Erziehung und Geschlecht wird eine pädagogisch begründete Reduzierung auf die jeweiligen Geschlechterrollen vermutet. Die Grundlage für deren Festschreibung bildeten auch in der Taubstummenpädagogik die pädagogischen Schriften von Jean Jaques Rousseau (1712-1778), August Hermann Niemeyer (1754-1828), Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Dem bürgerlichen Bildungsideal folgend, favorisierten die pädagogischen Klassiker ein binär konstruiertes, hierarchisches Geschlechterverhältnis von Mann und Frau mit zentralen polarisierenden Verhaltenserwartungen. Während der Mann naturgemäß als der Stärkere betrachtet wurde, sollte sich die von ihm abhängige Frau in jeder Hinsicht unterordnen. Der Mann wurde für das öffentliche und die Frau für das häusliche Leben als geeignet betrachtet. Daraus resultierten ganz unterschiedliche Bildungs- und Berufschancen zu Ungunsten der Frauen.29 Gefragt wurde, wie sich diese Differenz in den Tagebüchern zeigte und wie die unterschiedlichen Bildungschancen und Rollenerwartungen von den SchülerInnen reflektiert wurden. Bei der weiteren Analyse der Tagebücher wurde gefragt, wie die Schüler ihre eigene Rolle als taube Menschen thematisierten, d.h. wie sie selbst das Taubsein beschrieben und empfanden. Hatten sie das von ihren LehrerInnen und Mitmenschen vermittelte Bild eines per se unglücklichen Menschen übernommen, oder äußerten sie eigene, optimistische Vorstellungen dazu? Wie betrachteten sie sich im Vergleich zu ihren Mitmenschen, z.B. zu hörenden Menschen, solchen mit Behinderungen oder zu Ungebildeten? Und umgekehrt, wie nahmen sie ihr Taubsein durch ihre Umwelt war? Im Zusammenhang mit schulischem Lernen wurde außerdem gefragt, welche Bedeutung das Lernen für die SchülerInnen hatte, über welche Lernerfahrungen sie berichteten und in welchen ihrer Aussagen sich möglicherweise auch die Erziehungsvorstellungen dieser Zeit widerspiegelten.

29 | Rainer Strotmann, »Zur Konzeption und Tradierung der Geschlechterrollen in ausgewählten Schriften pädagogischer Klassiker«, in Geschlechter und Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissenschaft: Eine Einführung, Hg. Barbara Rendtorff und Vera Moser (Wiesbaden: Springer Fachmedien, 1999), 117-136, hier 120-122.

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Der Entstehungsprozess von Tagebüchern ist immer auch an die unterschiedlichen Voraussetzungen der SchülerInnen geknüpft. Dazu zählen mögliche Zugänge zu ihrer Lebenswelt, Wahrnehmungsprozesse und gewonnene Abbilder. Auch sprachlich pragmatische Fähigkeiten wirken sich auf das Ergebnis aus, wie z.B. individuelle Schriftsprachkompetenzen, Wortschatz, grammatikalische Fähigkeiten, narrative Kompetenzen und grafische Fertigkeiten. Im Fall der Tagebücher von tauben SchülerInnen stellt sich die Frage nach ihren sprachlichen und kommunikativen Bedingungen in besonderem Maße, denn sie bewegen sich in der deutschen Schriftsprache und damit in einer für sie fremden Sprache. Mit dem heutigen Wissen über die Möglichkeiten gebärdensprachiger Erzählungen wären die Auswahl der Inhalte und die thematische Schwerpunktsetzung durch die SchülerInnen vielleicht anders ausgefallen. Generell lässt sich bei der Analyse von autobiographischen Texten fragen, wie bewusst oder unbewusst auf bekannte Sprachen und Sprachregister zurückgegriffen wurde, inwieweit die Aufzeichnungen Teil einer Selbstreflexionsarbeit waren und wer schließlich darüber entschied, was und wie thematisiert wird. Waren es im Fall der vorliegenden Tagebücher die tauben SchülerInnen oder (hörende) andere Personen?30 Wer ein Tagebuch schreibt, orientiert sich häufig an anderen Tagebüchern, an ihren literarischen Mustern. Oft stehen in einem Tagebuch unvermittelt Aufgeschriebenes, literarisch Überhöhtes und frei Erfundenes ununterscheidbar nebeneinander.31 Die Identifikation von solchen Entstehungsmustern ist bei den Hamburger Schülertagebüchern allerdings besonders schwierig, denn es lässt sich nicht belegen, inwieweit das Geschriebene aus angeleiteten Schreibanlässen übertragen wurde, was der wirklich freie Schreibanteil der SchülerInnen ist und was möglicherweise für die Veröffentlichung »geglättet« wurde. Die Tagebücher wurden jedenfalls von den BesucherInnen der Anstalt häufig gelesen, wie der Schüler Karl Heinrich Andreas Stoppel 1836 berichtete.32 Die Entstehungszeit der Tagebücher fiel in die Zeit des Auf bruchs der Taubstummenpädagogik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Niemand musste mehr von der Bildungsfähigkeit tauber Menschen überzeugt werden, und die Zahl derer, die sich um einen begehrten Platz an einer Bildungseinrichtung bewarben, stieg überproportional im Verhältnis zu den vorhandenen Plätzen. Wenn auch die Anzahl der Taubstummeninstitute kontinuierlich 30 | Gabriele Janke, »Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400 bis 1620«, in Ego-Dokumente, Hg. Winfried Schulze, 73-106, hier 76. 31 | Ulbrich, »Europäische Selbstzeugnisse in historischer Perspektive«, 10-11. 32 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 33.

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wuchs, änderte dies nichts an der Tatsache, dass die Wartelisten immer länger wurden und die BewerberInnen mitunter erst nach mehr als einem Jahrzehnt eingeschult werden konnten. Das erklärt auch die zum Teil hohen Eintrittsalter der SchülerInnen. In den Schulaufnahmelisten finden wir 1827 mehr als die Hälfte der SchülerInnen, die bereits das vierzehnte Lebensjahr überschritten haben. Die älteste unter ihnen war Johanna Margarethe Christine Steffens, die bei ihrer Aufnahme bereits 21 Jahre alt war und nur zwei Jahre später ohne Angaben von Gründen wieder entlassen wurde.33 Erst ab 1828 pendelte sich das Eintrittsalter auf durchschnittlich zehn Jahre ein.34 Dem Missverhältnis von vorhandenen Schulplätzen zu den langen Wartelisten versuchten Bildungsbehörden durch eine Verallgemeinerung des Taubstummenunterrichts zu begegnen.35 Der Unterricht von tauben und schwerhörigen Menschen sollte damit auch an örtlichen Volksschulen möglich sein. Parallel dazu wurden Taubstummeninstitute zum Prüfstein institutioneller Bildungsvorgaben und gerieten in Bezug auf ihre ökonomische Effizienz und pädagogische Wirksamkeit unter einen enormen Erfolgsdruck. Das Primat der Lautsprache bestimmte seit den 1830er Jahren die Methode. Die Lautsprachperfektion sollte demnach zwei Dinge sichern: erstens, und zwar als oberstes Ziel, den Beweis ›universaler Bildbarkeit‹ des tauben Menschen und zweitens, als pädagogische Leistung, das ›Entstummen‹ als Überwinden der Behinderung. So erstaunt nicht, dass im Ersten Verwaltungsbericht (1828) bei der Aufzählung der Unterrichtsgegenstände die »Lautsprache« an erster Stelle steht, gefolgt von »Wortkenntniß, Frag- und Leseübungen, Satzbildung«.36 Obwohl der Lautsprachbildung in der Einrichtung große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, konnten die SchülerInnen auch die Gebärdensprache zu nutzen. Das wurde zumindest bis 1840 durch die Präsenz der tauben und auch hörenden gebärdensprachkompetenten PädagogInnen gewährleistet.

33 | Ebd., 9. 34 | Ebd., 11. 35 | Siehe ausführlich zur Idee der Verallgemeinerung des Taubstummenunterrichts Sylvia Wolff, »Die Idee der Verallgemeinerung. Taubstummenunterricht in Österreich im 19. Jahrhundert«, Das Zeichen 15, Nr. 56 (2001): 208-215; Dies., »Elementarunterricht und Sprachbildung unter besonderer Berücksichtigung der Unterrichtspraxis am Berliner Königlichen Taubstummeninstitut zwischen Aufklärung und Frühmoderne« (Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät IV, publiziert am 26.08. 2013), urn:nbn:de:kobv:11-100212189. 36 | O. V., Erster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1828, 20.

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Abbildung 2 und 3: Brief des tauben Schülers Levi Löwenberg (geb. 1820) an die »Wohlthäter« der Taubstummenbildung, abgedruckt im Anhang des Sechsten Berichtes der Hamburger Taubstummenanstalt, 1838

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»Ich bin zwar taub, aber nicht unglücklich.« – Die Selbstkonstruktion des Taubseins In den meisten über sie verfassten Abhandlungen wurden taube Menschen als unglückliche, isolierte, traurige und bemitleidenswerte Geschöpfe beschrieben. Nur einige wenige taube LehrerInnen hatten gegen diese Stigmatisierung angeschrieben, wie z.B. Laurent Clerc (1785-1869), ein Schüler Charles-Michel de l’Epées (1712-1789), und der Schleswiger Taubstummenlehrer Otto Friedrich Kruse (1801-1880). Clerc hatte sich dazu folgendermaßen geäußert: »Die Taubstummen sind nicht unglücklich. Wer nichts besessen, hat nichts verloren, und wer nichts verloren, hat auch nichts zu beklagen. Nun aber haben die Taubstummen niemals gehört noch gesprochen, also weder Gehör noch Sprache verloren.«37 Auch von hörenden LehrerInnen ist bekannt, dass sie sich gegen die Behauptung stellten, taube Menschen seien per se unglücklich. Die Äußerung von Clerc wurde in den 1820er Jahren mehrfach in der Argumentation genutzt, wie z.B. von den beiden Taubstummeninstitutsdirektoren in Königsberg, Ferdinand Neumann, und Leipzig, Carl Gottlob Reich (1782-1852). In einigen Fällen entsprachen die Aussagen der Tagebuch-VerfasserInnen jedoch nicht dem Menschenbild, das ihre LehrerInnen zur Legitimation eigener Bildungsbemühungen in der Öffentlichkeit proklamierten, und das von der Mehrheit der Gesellschaft auch so angenommen und weitergegeben wurde. In den Tagebuchaufzeichnungen finden wir durchgängig Belege für einen positiven Umgang der SchülerInnen mit ihrem Taubsein und einem optimistisch geprägten Blick in die Zukunft, wie z.B. dieser Tagebuchauszug zeigt: »Ich mögte [sic!], dass ich so gut wie Jesus wäre. – Ich bin zwar taub, aber nicht unglücklich.«38 Ein anderer Schüler sprach seine Hoffnung auf Heilung der Taubheit durch Jesus aus, weil dieser »Kranke, Blinde, Lahme und andere Unglückliche« heilen würde. Er zählte sich jedoch nicht zu den Unglücklichen, weil Gott ihm die Taubheit gegeben habe und er sogar recht glücklich damit sei, weil er in einer Taubstummenanstalt unterrichtet werde und sprechen, schreiben und lesen könne.39 Wie wichtig die Aufnahme in die Hamburger Anstalt für das Leben für die Schüler war und mit welcher Begeisterung sie in der Einrichtung waren, macht eine der letzten vorliegenden Tagebuchauszüge deutlich: »O, ich bin glücklich, weil ich hier viel lernen kann. Ich freue mich sehr über die gute Anstalt, wo ich nun noch mehr mich ausbilden kann.«40 Zwar berichten einige taube SchülerInnen von ihrer Isoliertheit aufgrund ihres »Gehörmangels«. So schrieb eine Schülerin, dass sie sich über ihre Taub37 | Neumann, Die Taubstummen-Anstalt zu Paris im Jahre 1822, 116. 38 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 21. 39 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 139. 40 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1838, 79.

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heit ärgern würde. Ihre gesamte Familie sei hörend und glücklich. Die Tatsache, dass sie taub sei und mit niemandem schnell sprechen könne, mache sie sehr unglücklich.41 Doch die Einrichtung sorgte dafür, dass die Begegnungen mit anderen Menschen nicht auf die Familie und Pflegeeltern oder auf das Armenhaus beschränkt blieben. Regelmäßig kamen BesucherInnen in die Anstalt. Für die SchülerInnen boten sie die Möglichkeit des Austausches, vor allem auch mit tauben Erwachsenen. Oft gaben sie ihnen Anlass, über ihre Taubheit, ihre Fähigkeiten und Zukunftschancen nachzudenken. Alle Tagebucheintragungen enthalten ausführliche Schilderungen von BesucherInnen der Anstalt und des angeschlossenen Armenhauses. Die Gäste kamen aus Hamburg und Umgebung oder aus anderen Städten und sogar aus dem Ausland. Es waren Geldgeber der Einrichtung, interessierte PädagogInnen und Pastoren, Eltern, ehemalige SchülerInnen oder Handwerker, die einen Lehrling suchten. Auch taube BesucherInnen kamen. Oft waren es Weltenbummler, die als Künstler oder Handwerker ihren Lebensunterhalt verdienten. Die BesucherInnen zeigten häufig ihr Interesse an den schulischen Leistungen der SchülerInnen und drückten auch ihre Freude darüber aus. So berichtete z.B. Anna Sophia Schritt, dass zwei Herren in der Armenstube gewesen seien und sich ihr Tagebuch und Religionsheft angeschaut hätten, »sie lasen darin und sie freueten sich darüber«.42 Besonders nachhaltig hatte bei Heinrich August Friedrich Fricke der Besuch eines tauben Buchbinders gewirkt. Er hatte im Unterricht hospitiert und sich durch Gebärden mit den SchülerInnen verständigt. Daraus schloss er, dass sich fast alle Taubstummen durch Gebärden verständigen könnten.43 Immer wieder sind es die Begegnungen mit tauben Menschen, von denen die SchülerInnen voller Bewunderung schreiben, wie z.B. Theodor Kramer: Heute war ein Taubstummer aus Nassau in der Anstalt. Er zeigte uns zwei Schattenrisse. Ich sah einen, ich meinte, dass es Göthe sei. Lütten wusste es nicht. Der Fremde schnitt auch den Kopf des Eggers im Schattenriss. Er hat in einigen Minuten es fertig gemacht. Wir bewunderten sehr seine Kunst. Er hat Bremen, Paris, London, Warschau, Neapel, Rom und Konstantinopel gesehen, er will nach Petersburg reisen. 44

Aus den Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass die Auseinandersetzung mit dem Taubsein, das Erfahren von Chancen und Grenzen gesellschaftlicher Teilhabe und alle damit verbundenen Herausforderungen von den SchülerInnen als wichtige Entwicklungsaufgaben reflektiert wurden. 41 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 41. 42 | Ebd., 33. 43 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 111. 44 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 44.

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Identität durch Schreiben – Die Bedeutung des Lernens für taube SchülerInnen Ganz der pietistischen Tradition verpflichtet, begannen die SchülerInnen ihre Notizen mit einer Reihe von Dankesbezeugungen gegenüber Gott. Sie zeigten in religiös motivierten Zwiegesprächen ihre Wahrnehmung vom Taubsein und ihre Hoffnungen im Umgang damit. Aus einem Tagebuchauszug mit der Nummer VIII von 1834 finden wir nicht nur dazu, sondern auch zu der Implementierung von Erziehungsvorstellungen aus dieser Zeit einen interessanten Hinweis: »Ich denke, ich bin ein Mensch, Gott hat mich geboren lassen, er hat mich zur Glückseeligkeit bestimmt und Unsterblichkeit.« Kernaussagen sind hier die Feststellungen zur anthropologischen Bestimmung des Menschen einerseits und andererseits zur Menschwerdung durch Bildung. Sie attributieren sich als Teil von religiös motivierten pädagogischen Zielvorstellungen mit erwünschtem und unerwünschtem Verhalten, wie »fromm und gut, gefällig und hülfreich sein«, »Gott lieben, auch Jesum und meine Mitmenschen«, aber »niemanden hassen und kränken«.45 In der Gründungsphase der Taubstummeninstitute bewegten sich die Erziehungsvorstellungen in einem Spannungsfeld von privaten, religiösen und gesellschaftlichen Interessen. Die Erziehung zur Mündigkeit und Brauchbarkeit stand im Mittelpunkt aller Erziehungsbestrebungen im 18. Jahrhundert. Durch diesen Anspruch rückte erstmalig die Vervollkommnung des Menschen in den Vordergrund. Es ist auf der einen Seite eine Erziehung, die zu Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Mündigkeit und Freiheit führen soll, aber auf der anderen Seite für das Erreichen gesellschaftlicher Brauchbarkeit Zwang und Disziplinierung erzeugt. Erziehung wird so zu einem Paradoxon, mit dem sich die Pädagogik bis in die Gegenwart hinein beschäftigt.46 Die Rekonstruktion von Erziehungswirklichkeiten kann aus verschiedenen Perspektiven geschehen. Richtet sich der Blick auf die pädagogische Interaktion zwischen Erzieher und zu Erziehendem, dann eröffnet die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung mögliche Zugänge. In allen vorliegenden Tagebüchern haben die Schüler die Beziehung zu ihrer Schule, ihren LehrerInnen und das Lernen thematisiert. Eine originelle Bezeichnung für die Hamburger Anstalt findet sich im Tagebucheintrag von Levi Löwenberg, der schrieb: »Unsere Anstalt ist ein Taubenhaus.«47 Die Hoffnung, »dass die Taubstummenanstalt über 100 Jahre noch nicht eingehen 45 | Ebd., 32-33. 46 | Michael Winkler, »Brauchbarkeit«, in Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft, Hg. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Uwe Sandfuchs und Wilfried Marotzki (Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2012), 211. 47 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 52.

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wird«, sprach der Schüler Klaus Lütken aus. Das Verhältnis zu LehrerInnen und zum Lernen beschrieb Anna Maria Studt 1847 folgendermaßen: »Ich freue mich, dass ich von meinen Lehrern unterrichtet werde. – Durch das Lernen wird man klug. – Wir sind nicht stumm, denn wir haben sprechen gelernt.«48 Das Verhältnis zu den LehrerInnen wurde von den meisten SchülerInnen als ausgesprochen vertrauensvoll beschrieben. Peter Stübe berichtete, dass er seine Lehrerin, Fräulein R., verehre und sie ihn mögen würde. Er sei von ihr für die gebärdensprachliche Darbietung eines Gedichts sogar gelobt worden.49 Lob und Anerkennung waren eine wichtige Motivationsquelle für die SchülerInnen, denn immer wieder wurden ihre Lernerfahrungen von Unzufriedenheit und Selbstzweifeln begleitet, wie es Georg Heinrich Daniel Richter zum Ausdruck bringt: »Ich weiß nicht, woran es liegt, dass meine Denkung mir gar nicht gelingen will.«50 Er habe den Wunsch, noch viel mehr in sein Tagebuch zu schreiben, es mißlinge ihm jedoch, weil sein Kopf »schlecht und hart sei, wie ein gemeiner Stein. – Ich ärgere mich oft an meiner Taubheit; ich kann freilich sprechen, aber ich bin doch taub und ich kann doch mit Jemanden nicht schnell sprechen wie ein hörender Mensch ».51 Dagegen beschrieb aus einer äußerst optimistischen Grundhaltung heraus Levi Löwenberg seinen Umgang mit dem Lernen: »Ob ich gleich oft faul bin, so wird mein Geist doch immer größer. Aber wie kommet es, dass Herr B. immer will, dass ich arbeite? Ich glaube, um Freude zu haben.«52 Biografische Erzählungen öffnen im Verständnis einer Lerngeschichte auch den Blick auf die innere Erfahrung.53 Die eigenen Lernprozesse wurden von vielen SchülerInnen im Zusammenhang mit dem Taubsein betrachtet. Die Wahrnehmung der Welt, ohne hören zu können, beschrieb Maria Margarethe Christiane Unbescherden, 17 Jahre alt, so: »Der Kanarienvogel singte in die Käfische, ich höre nicht.«54 Die orthografische Schreibweise wurde vom Herausgeber nicht korrigiert, vermutlich um den Eindruck von Authentizität zu erzeugen. Die Wahrnehmung von Geräuschen stellte Catharina Margarethe Stuth als einen Vorgang des Fühlens dar. So könne ein Trommelschläger von allen Leuten gehört werden, doch sie, die SchülerInnen würden ihn nicht

48 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 102. 49 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1838, 63. 50 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 41. 51 | Ebd. 52 | Ebd., 62. 53 | Heinz-Hermann Krüger und Winfried Marotzki, Hg., Erziehungswissenschaftliche Biografieforschung (Opladen: Verlag der Sozialwissenschaften, 1999), 103-115 und Jutta Ecarius, »Biografieforschung und Lernen«, in ebd., 91-108, hier 97-98. 54 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 21.

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hören. Sie habe jedoch heute eine Turmuhr fühlen können, als sie schlug.55 Gleiches berichtete Auguste Friederike Carstens, die ihre Beobachtung des Trommelschlägers mit der Feststellung verband, die Schläge zu fühlen und dabei »mit den Augen« zu lernen.56 Bei der Beschreibung von Lernerfahrungen wurden in zahlreichen Tagebucheintragungen auch Hinweise auf Lern- und Kommunikationsstrategien gegeben. Die Frage, wo und wie das Lernen stattfinden würde und welche Sprache dafür die geeignete sei, war ein wichtiges Thema der Schreibanlässe. Catharina Margarethe Stuth schrieb mit dem Hinweis auf die Verortung des Lernens und der Präferenz für die Lautsprache: »Ich lerne mit der Stirn – Ich will lieber sprechen statt schweigen.«57 Dagegen favorisierte Heinrich August Friedrich Fricke, der sich selbst als taub beschrieb, nicht das Sprechen sondern die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel, weil doch fast alle tauben Menschen durch Gebärden sprechen könnten.58 Im Gegensatz zu anderen Tagebucheintragungen aus diesem Jahrgang, in denen z.T. wortgleiche Beschreibungen enthalten waren, zeigt sich bei folgendem Beispiel, dass die SchülerInnen gerade im Umgang mit ihrer Taubheit auch eigene Gedanken in Worte zu fassen versuchen. So berichtete ein Schüler mit eigenen Attributierungen von einem sechsjährigen tauben Mädchen, die noch keine Gebärdensprache verstünde und außerdem »mundstumm und händestumm« sei und »außerdem taub«.59 Was diesen Tagebucheintrag so bedeutsam macht, ist der auf die Kommunikationsunfähigkeit gerichtete Fokus und die erst nachrangig eingeschobene Bemerkung zur Taubheit. Obwohl sich gerade in den 1830er Jahren an der Einrichtung zugunsten des lautsprachlich orientierten Unterrichts entschieden wurde, gab es in den Tagebüchern noch eine rege Auseinandersetzung zu der Frage, ob eher das Sprechen oder das Gebärden das richtige Ausdrucksmittel eines tauben oder schwerhörigen Menschen sei. Für Anna Maria Studt bedeutete das Sprechenkönnen das höchste Lebensglück. Sie könne die »Mundsprache« verstehen, weil sie in der Schule gelernt habe. Tauben Menschen, die nicht sprechen können, unterstellte sie, sehr unglücklich zu sein.60

55 | Ebd., 23. 56 | Ebd., 21. 57 | Ebd., 23. 58 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 111. 59 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1838, 78. 60 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 103.

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Die Reflexion einer geschlechterdifferenten Erziehung in den Tagebucheintragungen Bei näherer Betrachtung der Verwaltungsberichte und Tagebücher lassen sich im Hinblick auf allgemeine Erziehungsvorstellungen und speziell auf die Geschlechtererziehung die Einflüsse durch die Ideen Rousseaus, Pestalozzis und Niemeyers erkennen. Besonders häufig geschah der Rückgriff auf Niemeyers Werk Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts.61 Es war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eines der einflussreichsten pädagogischen Werke. Niemeyer hatte die Bildung des weiblichen Charakters als eine besondere Aufgabe hervorgehoben, die gründlich umzusetzen sei, damit auch bei ihnen »sicheres Wissen« entstünde.62 Die Verbesserung der weiblichen Erziehung und Bildung wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Idee »einer vollendeten schönen Humanität«, von den PädagogInnen Betty Gleim (1781-1827) und Amalia Holst (1758-1829) proklamiert.63 Diese Ideen spiegeln sich auch in Niemeyers Grundsätzen der Erziehung und Bildung wieder. In ihrem Werk Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (1810) stellte Gleim auch einen ausführlichen Lehrplan vor.64 Erstaunlicherweise stimmt der Lehrplanentwurf mit dem Fächerkanon der Hamburger Anstalt, den Buek im Ersten Verwaltungsbericht, 1828 beschrieb, weitestgehend überein. Dazu zählten der Unterricht in Sprachlehre, Arithmetik, Naturlehre, Kalligraphie, Geographie, Allgemeine Menschengeschichte, Zeichnen, Poesie, Religion und spezielle weibliche Arbeiten wie Kochkunst, Handarbeit und Ökonomie. Und ein absolutes Novum war, dass Gleim den Gymnastikunterricht an erster Stelle genannt hatte und auch an der Hamburger Anstalt der Turnunterricht für die Mädchen verpflichtend war. In vielen anderen Schulen war die Teilnahme nur den Jungen erlaubt.65

61 | August Hermann Niemeyer, Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts: Für Eltern, Hauslehrer und Erzieher, Zweyther Teil (Halle: Waisenhaus-Buchhandlung, 1805). 62 | Niemeyer, Grundsätze der Erziehung, 282. 63 | Sigrun Schmid, Der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ entkommen: Perspektiven bürgerlicher Frauenliteratur (Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH, 1999), 216. 64 | Niemeyer, Grundsätze der Erziehung, 282. 65 | Eduard Schmalz, Ueber die Taubstummen und ihre Bildung in ärztlicher, statistischer, pädagogischer und geschichtlicher Hinsicht: nebst einer Anleitung zur zweckmäßigen Erziehung der taubstummen Kinder im älterlichen Hause (Dresden und Leipzig: In der Arnoldischen Buchhandlung, 1838), 378. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch den Mädchen die Teilnahme immer öfter ermöglicht, siehe Jahrbücher der deutschen Turnkunst:  Blätter für d. Angelegenheiten d. dt. Turnwesens, vornehml. in

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Trotz dieser vielen Bestrebungen zur Verbesserung des Unterrichts blieben alle Vorgaben auf die künftigen Rollenbilder und vorgegebenen Berufsperspektiven beschränkt. So ist auch in Niemeyers Grundlagenwerk nachzulesen, dass jede Bildung und Erziehung die Mädchen auf ihre künftige Rolle als Mutter und Hausfrau vorzubereiten habe.66 Im Unterschied zu den weiblichen Zöglingen seien die männlichen dazu bestimmt, in der Öffentlichkeit zu wirken und nach ihren Vorstellungen einen Beruf zu wählen.67 Obwohl die Aufnahme in das Hamburger Taubstummeninstitut unabhängig von der Herkunft und dem Geschlecht möglich war und auch das Fächerangebot mit wenigen Ausnahmen für beide Geschlechter galt, gab es im Hinblick auf die Ausbildungsperspektiven große Unterschiede. Die Jungen wurden schon im Institut auf die Ausübung eines Handwerks oder einer Kunst vorbereitet, hatten die Möglichkeit, in die Lehre zu gehen und auch ihr Handwerk oder ihre Kunst in der Fremde auszuüben. Die Mädchen dagegen hatten keine Auswahl. Wenn sie Glück hatten, bekamen sie eine Anstellung als Hauswirtschaftshilfe oder verrichteten einfache Arbeiten im Armenhaus. Der Unterricht in den »weiblichen Handarbeiten« sollte sie darauf vorbereiten. Die unterschiedlichen Zukunftschancen, und dazu die Taubheit seiner AbsolventInnen, hatten scheinbar auch den Institutsdirektor Buek zu einigen sorgenvollen Sätzen in der Einleitung zum Sechsten Bericht, 1838 veranlasst. Dort schrieb er: »Aber wohin soll ein aus der Schule entlassenes, unbefreundetes, Eltern- und hülfloses, taubstummes Mädchen sich wenden? […] Welche Hausfrau dingt nicht lieber ein hörendes Mädchen auf?«68 Vor diesem Hintergrund lässt sich möglicherweise auch erklären, dass von den Mädchen häufiger der Wunsch geäußert wurde, ein Junge sein zu wollen, um aus verschiedenen Berufen auswählen zu können. So schrieb eine Schülerin, dass sie lieber schreiben als stricken würde, lieber klug als dumm sei und wenn sie ein Junge wäre und hören könnte, dann würde sie ein Krämer werden.69 In den Tagebüchern der Jungen finden sich dagegen häufig Belege, dass sie genau den Bildungsvorgaben entsprechen wollten und ihre Taubheit nicht als Hindernis wahrnahmen, wie Heinrich August Friedrich Fricke, der angab, nach seiner Konfirmation Tischler werden zu wollen.70 Gegenüber einigen Berufen gab es jedoch auch ablehnende Haltungen, wie z.B. dem Schmiedehandwerk, das von einem Schüler als »schmutziges Geschäft« beschrieben wurde, seiner Richtung auf Erziehung u. Gesundheitspflege, Band 2 (Dresden: Verlag von Schönfeld’s Buchhandlung, 1856), 128. 66 | Niemeyer, Grundsätze der Erziehung, 127. 67 | Ebd., 115. 68 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1838, 8. 69 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 27. 70 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 111.

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das er auf keinen Fall erlernen wolle.71 Einige Tagebuchaufzeichnungen enthalten interessante Hinweise auf Rollenwechsel, mit denen z.B. die Berufsperspektiven des anderen Geschlechts hinterfragt werden. In dem Tagebucheintrag von Catharina Maria Heins war eine beobachtete Schlachtszene auf dem nahegelegenen Schlachthof der Auslöser, um den für Jungen vorgesehenen Beruf des Schlachters auf den Prüfstein zu stellen. Sie schrieb: »Ich mag es gar nicht sehen, denn ich denke dabei an den Schmerz der armen Thiere. Der Schlachter hat ein grausames Geschäft.« 72 Doch obwohl die Beobachtungen von einem tiefen Mitgefühl für das Tier geprägt waren, resümierte die Tagebuchschreiberin abschließend, dass es auch Schlachter geben müsse, weil es sonst kein Fleisch zu essen gäbe. Doch wenn sie ein Junge wäre, würde sie auf keinen Fall einen solchen Beruf wählen.73 Die Erwartung eines bestimmten Rollenverhaltens setzte die Erziehung und Bildung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten voraus. In Niemeyers Grundsätzen der Erziehung und Bildung sind als erstrebenswerte weibliche Eigenschaften »die Weichheit und Zartheit des Gefühls, Innigkeit der Empfindungen, Sanftemuth [sic!], Nachgiebigkeit und Duldungskraft, sich selbst vergessende und aufopfernde Liebe, Beschränkung seiner selbst auf eine engere Sphäre« 74 genannt. Obwohl Niemeyer männliche Eigenschaften wie körperliche Stärke, Ausdauer und Gewandtheit als förderlich betrachtete und hier den tradierten Erziehungsmustern folgte, wich er in einer Vorstellung von den anderen Erziehungstheoretikern ab. Er mahnte davor, dass die Jungen die zunehmende körperliche Überlegenheit gegenüber Schwächeren, z.B. anderen Schülern oder Tieren, ausnutzen könnten. Stattdessen sollten bei ihnen sanfte Gefühle, wie das »sympathetische Mitleiden und die Mitfreude« entwickelt werden.75 Der Herausbildung von empathischen Fähigkeiten wurde in der Hamburger Einrichtung, entgegen der gesellschaftlichen Vorstellung, dass Jungen immer überlegen und stark sein müssten, viel Aufmerksamkeit geschenkt. Auch dafür finden sich Belege in den Tagebuchaufzeichnungen. Gerade die Eigenschaft des Sanftmutes und des Mitgefühls wurde oft mit weiteren anzustrebenden Eigenschaften verknüpft, wie z.B. von Anton Theodor Ewald Knüppel: »Ich muss sanftmüthig seyn wie Jesus und rechtschaffen wie Nathanael. Ich muss lernbegierig seyn, damit ich fromm, geschickt, verständig und tugendhaft werde.« 76 Wortgleich findet sich diese Aussage auch in dem Tagebuch von Carl Wilhelm Johann Brennicke, was darauf hindeutet, dass 71 | Ebd., 116. 72 | Ebd., 138. 73 | Ebd. 74 | Niemeyer, Grundsätze, 125. 75 | Ebd., 116. 76 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 113.

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bestimmte Aussagen Gegenstand schriftsprachlicher Instruktion gewesen sein könnten.77 Die aufgezählten Begriffe wurden ebenso von den Mädchen für die Beschreibung von erstrebenswerten Eigenschaften genutzt. Nahezu jedes Tagebuch enthält Beobachtungen der SchülerInnen, die sie mit ausgesprochenem Mitgefühl beschreiben, wie z.B. bei Maria Margarethe Christiane Unbescherden, deren Schriftsprache in ihrem Wortlaut auch keiner Korrektur unterzogen wurde: »Der Meier Löwenberg wurde schief, ich bin mitleidig. Er wird einen Buckel wachsen.« 78 Der Erwerb und die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und Eigenschaften wurde von den SchülerInnen häufig mit der Möglichkeit des Lernens verknüpft. Davon zeugen eine Reihe von Tagebucheinträgen. Anna Maria Studt nannte Eigenschaften wie Geschicklichkeit und Fleiß, außerdem Nachsichtigkeit, Genügsamkeit, Geduld und Sanftmut sowie Sittsamkeit, Bescheidenheit und Reinlichkeit. Gutes zu tun sah sie als wichtigste Aufgabe im Leben an.79 Dagegen sah sie es als schlimm an, wenn manche Menschen leicht zornig werden würden, wenn man nicht das mache, was sie wollten. Diese Menschen seien, ihrer Meinung nach, sehr unglücklich und deshalb sollte man niemals zornig sein.80 Auch den Eigensinn hielt sie für schädlich, weil er Verderben bringen würde.81 Der Erwerb bestimmter Eigenschaften ist auch mit der Hoffnung auf ein langes Leben verknüpft, wie bei Henriette Dorothea Flohberg nachzulesen ist: »Ich möge nicht jung sterben, sondern alt. Ich muss also mäßig, arbeitsam, reinlich und sittsam leben und immer gut seyn, damit ich alt werden kann.«82

Das Paradoxon von Traum und Lebenswirklichkeit als Gegenstand der Tagebuchaufzeichnungen Träume aber auch konkrete Lebensereignisse mit einem nachhaltigen Erfahrungsinhalt werden in den Tagebucheintragungen zu festen Sinn- und Bedeutungsinhalten.83 Die Träume handeln von Sehnsüchten nach Glück, 77 | Ebd., 120. 78 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses 1836, 21. 79 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 103. 80 | Ebd. 81 | Ebd., 105. 82 | Ebd., 95. 83 | Mit der wachsenden Psychologisierung von Selbstkonstruktionen spielen Träume in Tagebüchern des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle, siehe dazu: Kaspar von Greyerz, Hans Medick und Patrice Veit, Hg., Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), = Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9 (Köln, Weimar, Wien: Böhlau), 260-261; zu Träumen in

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Geborgensein, Freundschaften und materiellen Dingen. So taucht in Traumbeschreibungen immer wieder der Wunsch auf, das Gehör wieder zu erlangen, um dann »sprechen und hören zu können wie eine Hörende«.84 Einige Schüler erlebten scheinbar auch Albträume, die sie mit ihrem Taubsein verbanden, wie aus dem folgenden Auszug hervorgeht: »Mir träumte, weil alle Taubstummen immer taub sind, so müssten sie geköpft werden, ich fürchtete mich sehr, ich erwachte, ich dachte, mein Traum war Narr.«85 Aufschlussreich zeigt dieses Beispiel nicht nur die Todesängste des Tagebuchschreibers, sondern auch den individuellen Gebrauch semantischer Konstruktionen. In einer Zeit hoher Kindersterblichkeit sind es außerdem oft auch Todesängste, die von den Schülern beschrieben werden, sei es sie selbst betreffend oder den Tod von Familienangehörigen und MitschülerInnen. In den 1830er Jahren sind zahlreiche Tagebucheinträge zu finden, in denen über den Verlust von Geschwistern und MitschülerInnen berichtet wird, wie in dem folgenden Tagebucheintrag einer Schülerin aus dem Jahre 1834: »Ich bin sehr traurig über das Sterben Witts, ich liebte ihn sehr, weil er taub war, wie ich.« 86 Der Bericht des Mädchens macht aber auch die enge Verbundenheit der SchülerInnen aufgrund ihrer Taubheit und den damit gemachten Lebenserfahrungen deutlich. In vielen Traumbeschreibungen spielen Verlustängste eine große Rolle. Vor allem die lange Trennung von den Eltern machte den SchülerInnen zu schaffen. Wenn Eltern sie länger nicht besucht hatten, führte das häufig zu der Angst in ein Armenhaus zu kommen, wie dieser Textauszug aus dem Tagebuch eines Mädchens zeigt: »Mir träumte, die T., M., C. und auch ich wohnen in einem Armenhause, ich verdrieß.«87 Während der Großteil der SchülerInnen bei ihren Eltern lebte, musste ein anderer wegen des weiten Schulweges bei Pflegeeltern wohnen. Wer zu den ärmeren SchülerInnen zählte, wurde im Armenhaus untergebracht und kam nur zu den Unterrichtsstunden in die Schule.

Die Sicht der tauben SchülerInnen auf ihre hörende Umwelt und hörende Mitmenschen Die Konstitution des Selbst vollzieht sich in der Interaktion mit Menschen im unmittelbaren Lebens- und Lernumfeld, z.B. mit MitschülerInnen, Familienmitgliedern und PädagogInnen mit einem unmittelbaren Einfluss auf die Entenglischen Tagebüchern des 17. Jahrhunderts vgl. auch Greyerz, Vorsehungsglaube, 131-136. 84 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 35. 85 | Ebd., 29. 86 | Ebd., 33. 87 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1838, 55.

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wicklung des Selbstkonzepts. In der personellen und ideellen Auseinandersetzung entwickeln die SchülerInnen eine bestimmte Sicht auf die Welt und auf sich selbst. In den Tagebüchern finden wir dazu Belege in Form von niedergeschriebenen Beobachtungen anderer Menschen, Beschreibungen über die Begegnung mit Menschen unterschiedlicher Herkunft in der Einrichtung und im Stadtgeschehen sowie das Erleben von familiären Ereignissen. Dabei spielte die Reaktion anderer Menschen auf die Hörschädigung eine bedeutende Rolle. Häufig wurde das Nicht-hören-können mit anderen Behinderungen und Beeinträchtigungen verglichen und bewertet. Besonders die Beobachtung von blinden Menschen kommt oft in den Tagebucheintragungen vor. So schrieb bspw. Claus Lütten: »Heute hatte ich den Anblick eines blinden Flötenspielers, welchen ein Knabe bei der Hand; ich bedauerte jenen, weil ihm das schöne Sehen abgeht.«88 Die Beobachtungen ihrer Mitmenschen waren häufig mit Grundaussagen zu deren Bildungsstand verknüpft. Die tauben SchülerInnen empfanden es als ihr persönliches Glück, eine Schulbildung zu bekommen. So berichtete z.B. die Schülerin Sophie Caroline Wilhelmine Herlinger von einem Besuch eines fremden Herrn aus Moskau. Für die fünf tauben Arbeiter in seiner Fabrik, die alle unwissend seien, fand sie nur Worte des Bedauerns, denn »sie haben keinen Unterricht bekommen«.89 Wie taube SchülerInnen über, ihrer Meinung nach, unwissende hörende Mitmenschen dachten, zeigt das folgende Beispiel: »Eine Frau hat ein Kind, ein Knäbchen, sie sagte zu mir, dass die Taubstummen dieses Kind nicht auf den Mund küssen sollen, sondern auf die Backe, wenn sie es auf den Mund küssen, so bekäme es auch die Stummheit. Ich dachte, die Frau sei abergläubisch und ich schwieg innerlich lächelnd.«90 Und auch die Beobachtungen zu ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung haben die TagebuchschreiberInnen festgehalten. Von folgender Begebenheit berichtete ein taubes Mädchen: »Ich sagte zu einem Mädchen, ich bin taubstumm. Es bedauerte mich. Es schenkte mir zwei Haarnadel, die Blume, vier Nadelbüchse und 14 Nadeln mit Papier.«91 Nicht nur das eigene Verhältnis zur Taubheit wurde thematisiert, sondern die Wahrnehmung des Körpers insgesamt. Ein Schüler bemängelte seine krummen Schienbeine als »Fehler an seiner Gestalt«. In Rückbesinnung auf seine inneren Werte, schrieb er, dass die biblische Gestalt Absalom zwar ohne Fehler gewesen sei, er jedoch ein falsches Herz besessen habe.92

88 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 53. 89 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 85. 90 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 33. 91 | O. V., Sechster Bericht des Verwaltungsausschusses, 1838, 47. 92 | O. V., Neunter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1847, 110.

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In manchen Fällen wurde die Taubheit gegenüber anderen Menschen jedoch verschwiegen, wie dieser Tagebuchauszug belegt: »Der Schlachterbursche fragte mich: ›Bist du taubstumm?‹ Ich antwortete ihm: ›Nein!«.93 Andererseits sah sich der Verfasser selbst als ein glücklicher tauber Mensch, weil er den heulenden Sturm nicht wahrnehmen würde.94 Das letzte Beispiel verdeutlicht noch einmal, mit welchem Selbstbewusstsein die SchülerInnen ihre Lebenssituation annahmen. Die Auseinandersetzung mit der hörenden Umwelt war zwar immer auch verbunden mit der Erfahrung des Nicht-hören-könnens, bot jedoch eine Reihe von Möglichkeiten, die eigene Identität zu entwickeln.

F a zit Jeder Mensch hat eine Lebensgeschichte, und in der Regel will er auch davon erzählen. Autobiografische Äußerungen werden nicht erst durch Wissenschaft hervorgerufen, denn sie sind ein selbstverständlicher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens, wie die Hamburger Tagebücher gezeigt haben. Sie werden in unterschiedlichen Kommunikationssituationen erzeugt und wurden in diesem Fall von einer sozialen Institution eingefordert. Die Tagebücher zeugen von einem großen Mitteilungsbedürfnis der SchülerInnen. Einige Aufzeichnungen erstrecken sich über mehrere Buchseiten. Die Analyse der Schreibsituation zeigt, dass die Voraussetzungen der einzelnen TagebuchschreiberInnen individuell verschieden waren. Die Beantwortung der Frage, ob die TagebuchschreiberInnen die Schriftsprache als Erst- oder ZweitsprachlernerInnen erwarben, ist eng damit verknüpft, ob sie prä- oder postlingual ertaubten. Die biografischen Angaben der SchülerInnen lassen jedoch darauf nur vage Rückschlüsse zu. Bei einigen Aufzeichnungen deuten bestimmte Wortschöpfungen und gebärdensprachig angelehnte Satzkonstruktionen darauf hin, dass es sich hier um von Geburt an taube SchülerInnen handeln könnte. Die Authentizität der Tagebucheinträge wurde erhalten, indem sie offenbar in ihrer originalen Fassung veröffentlicht wurden. Die Auswertung der Hamburger Schülertagebücher hat die unterschiedlichen Selbst- und Fremdwahrnehmungen zur Bedeutung des Taubseins gezeigt. Dabei wichen einzelne Ausführungen von den in der Gesellschaft vorhandenen Persönlichkeitszuschreibungen ab, denn ein Teil der SchülerInnen schätzten das Taubsein durchaus als einen Vorteil ein und empfanden sich keinesfalls als unglücklich. Einige SchülerInnen zeigten einen offenen und selbstbewussten Umgang mit ihrer Hörschädigung und vermittelten in ihren

93 | O. V., Fünfter Bericht des Verwaltungsausschusses, 1836, 45. 94 | Ebd.

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Tagebucheintragungen auch bezüglich ihrer Zukunftsperspektiven eine optimistische Grundstimmung. Geschlechterspezifische Unterschiede gab es bei den Beschreibungen von Rollenbildern, damit verbundenen Verhaltenserwartungen und beruflichen Bildungsaussichten. Sie entsprachen dem bürgerlichen Bildungsideal. Der Herausbildung von empathischen Fähigkeiten wurde in der Einrichtung, entgegen dem gesellschaftlichen Mainstream, auch bei den Jungen viel Aufmerksamkeit geschenkt. Auch die männlichen Schüler sollten sanftmütig und voller Mitgefühl für Schwächere sein und dies auch zeigen. Die Verbesserung der weiblichen Erziehung und Bildung wurde auch an der Hamburger Anstalt als dringende Aufgabe angesehen. Das Fächerangebot galt bis in die 1840er Jahre für alle SchülerInnen bis auf wenige Ausnahmen – handwerkliche Arbeiten und Schulgartenarbeit wurden nur für die Jungen angeboten. Weibliche Handarbeiten waren nur für die Mädchen vorgesehen. Ein absolutes Novum an der Anstalt war, dass die Mädchen den Turnunterricht besuchen durften. In allen Tagebüchern werden Schulalltag und Lernerfahrungen thematisiert. Hierbei wurde von den SchülerInnen eine deutliche Lernbereitschaft signalisiert und mehrfach positiv über die Anstalt und die Möglichkeit der Tagebuchaufzeichnung berichtet. Die Analysemöglichkeiten der Tagebücher sind längst noch nicht ausgeschöpft. Das umfangreiche Quellenmaterial lässt perspektivisch weitreichende Forschungen zu, z.B. zur Rolle des auto-(biografischen) Schreibens, zur Frage von psychologischen Selbstkonstruktionen in Träumen und Selbstbeschreibungen, zu identitätsbildenden Einflüssen, wie möglicherweise durch die Anwesenheit von tauben LehrerInnen und zahlreichen tauben BesucherInnen der Einrichtung, Fragen zur Reflexion von Schulwirklichkeit und Alltagserleben sowie zur Schüler-Schüler-Beziehungsinteraktion. Pädagogisch interessant ist die Rolle der pädagogischen Tagebücher und Schreibanlässe als Mittel der Beobachtung und Beurteilung von SchülerInnen. Die ersten Taubstummeninstitute waren ohne Zweifel unter den ersten Orten, an denen sich die Schülerselbst- und Fremdbeobachtung als Teil professioneller pädagogischer Tätigkeit etablierte.

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»Gitter am Kopf und Loch im Herzen« Lebenswelten ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Taubstummenanstalt St. Gallen, 1930er bis 1950er Jahre Vera Blaser und Matthias Ruoss

E inleitung 1 Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden gehörlose Kinder und Jugendliche in der Schweiz in Taubstummenanstalten unterrichtet.2 Pädagogisches Ziel der Anstalten und Schulen war es, Gehörlosen die Lautsprache beizubringen, die sie zum Kontakt mit Hörenden befähigen und zu vollwertigen Mitgliedern einer hörenden Gesellschaft machen sollte. Trotz oder gerade wegen dieser Zielsetzung gestaltete sich die Integration ins soziale und berufliche Leben nach Schulaustritt meist schwierig und scheiterte nicht selten.3 Die Einrichtungen waren sich dieser Problematik bewusst und begannen früh, ihre ehemaligen »Zöglinge« auch nach der Schulzeit zu unterstützen und zu begleiten.4 Doch erst in den 1940er Jahren entwickelte sich in der Schweiz eine zunehmend professionalisierte Gehörlosenfürsorge. Dieser Artikel untersucht am Beispiel der Taubstummenanstalt St. Gallen zum einen die Entstehung dieser sogenannten Nachfürsorge für schulentlas1 | Unser Dank geht an Marcel Müller, wissenschaftlicher Archivar des Staatsarchivs St. Gallen, der uns mit viel Sachverstand und Herzblut bei der Recherche behilflich war. Auch Urs Germann möchten wir für seine wie immer wertvollen Hinweise danken. 2 | Vgl. Eugen Sutermeister, Quellenbuch zur Geschichte des schweizerischen Taubstummenwesens. Ein Nachschlagebuch für Taubstummenerzieher und -freunde, 2 Bde. (Bern: Selbstverlag, 1929). 3 | Mirjam Janett, »Gehörlosigkeit und die Konstruktion von Andersartigkeit: Das Beispiel der Taubstummenanstalt Hohenrain (1847-1942)«, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 66, Nr. 2 (2016): 245. 4 | Vgl. Wilhelm Bühr, Das taubstumme Kind, seine Schulung und Erziehung: Führer durch die schweizerische Taubstummenbildung (St. Gallen: H. Tschudy & Co., 1928).

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sene Gehörlose. Zum anderen werden anhand von Fallakten der nachbetreuten ehemaligen SchülerInnen, die mit der Einrichtung einer Fürsorgesorgestelle 1942 angelegt wurden, Lebenswelten und -wege gehörloser Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet. Indem wir uns mit der Entstehung einer Nachfürsorge für die Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen und deren Leben nach der Schulentlassung beschäftigen, möchten wir einen Beitrag zur Schweizer Gehörlosengeschichte leisten, die nur punktuell aufgearbeitet ist. Die Forschung beschränkte sich bisher auf Institutionengeschichten und die Untersuchung von (heil-) pädagogischen und medizinisch-psychiatrischen Fachdiskursen. Neben meist vom Personal verfassten Jubiläumsschriften liegen einzelne studentische Arbeiten und Artikel zu Gehörlosenschulen wie etwa zur Taubstummenanstalt Riehen oder Hohenrain vor.5 Eine der wenigen weiterführenden Einzelstudien stammt von Michael Gebhard, der die großen Entstehungslinien von Fach- und Selbsthilfe im Hörbehindertenwesen in der Schweiz nachzeichnet.6 Arbeiten, welche die Lebensrealitäten von gehörlosen Menschen in den Blick nehmen, fehlen dagegen fast gänzlich. Wichtige Impulse für die Erforschung von Lebenswegen und Berufsperspektiven gab die kürzlich erschienene und vom Schweizerischen Gehörlosenbund in Auftrag gegebene Studie von Rebecca Hesse und Martin Lengwiler.7 Der vorliegende Artikel stützt sich daher primär auf bisher noch nicht ausgewertete Quellen aus dem umfassenden Archivbestand der Taubstummenanstalt, der 2012 ins kantonale Staatsarchiv 5 | Zu den Jubiläumsschriften für die Taubstummenanstalt St. Gallen zählen: Hans Ammann, 80 Jahre Taubstummenanstalt St. Gallen 1859-1939 (St. Gallen: H. Tschudy & Co., 1939); Taubstummenanstalt St. Gallen, Hg., 100 Jahre Taubstummenanstalt St. Gallen 1859-1959 (St. Gallen: [s.n.], 1959); Bruno Schlegel et al., 125 Jahre Sprachheilschule St. Gallen (St. Gallen: Sprachheilschule St. Gallen, 1984). Mirjam Janett, »Die Taubstummenanstalt Hohenrain, 1847-1942. Gehörlosigkeit und die Konstruktion von Andersartigkeit« (Unpublizierte Masterarbeit, Universität Zürich, 2014); Rebecca Hesse, »›Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend‹. Wilhelm Daniel Arnold und die Verbannung der Gebärden aus der Taubstummenanstalt Riehen« (Unpublizierte Masterarbeit, Universität Basel, 2015); Florian Rudin, »Ein institutioneller Blick auf die Einführung der IV: Die ehemalige Taubstummenanstalt Riehen – Wandel im Zeichen von Kontinuität« (Unpublizierte Masterarbeit, Universität Basel, 2017). 6 | Michael Gebhard, Hören lernen – Hörbehindert bleiben: Die Geschichte von Gehörlosen- und Schwerhörigenorganisationen in den letzten 200 Jahren (Baden: hier+jetzt, 2007). 7 | Rebecca Hesse und Martin Lengwiler. Aus erster Hand: Gehörlose und Gebärdensprachen in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Schlussbericht des Projekts »Verbot der Gebärdensprache in der Schweiz« zuhanden des Schweizerischen Gehörlosenbundes (SGB-FSS) (Basel: [s.n.], 2017).

»Gitter am Kopf und Loch im Herzen«

St. Gallen überführt wurde. Dazu gehören neben den Jahresberichten und gedruckten wie auch ungedruckten Referaten des Anstaltspersonals vor allem die umfangreichen Dossiers der SchülerInnen.8 Wie viele soziale Einrichtungen in der Schweiz geht die Gründung der Taubstummenanstalt St. Gallen auf die private Initiative von Betroffenen zurück. Ende der 1840er Jahre rief Babette Steinmann (1809-1864), die einen gehörlosen Bruder hatte und selbst unter einer »spürbarer werdenden Schwerhörigkeit« litt, den Frauenverein zur Unterstützung armer bildungsfähiger Taubstummer ins Leben, der Gehörlose an eine kleine Privatanstalt im St. Galler Rheintal vermittelte und ihnen finanzielle Unterstützung bot.9 Als es zu fachpädagogischen Differenzen kam und die Kooperation scheiterte, eröffnete der Verein 1859 mit der Taubstummenanstalt St. Gallen eine eigene Einrichtung. Georg Friedrich Erhardt, ein ehemaliger Lehrer der 1826 gegründeten Taubstummenanstalt Zürich, wurde zum ersten Direktor der St. Galler Anstalt ernannt.10 Seit ihrer Gründung zählte die Schule zu den größten Taubstummenanstalten der Schweiz. Als vorwiegend privat finanzierte Institution war sie auf Kost- und Schulgelder der Eltern sowie Spenden angewiesen. Erst die Einführung der staatlichen Invalidenversicherung (IV) 1960 stellte die Schule auf eine stabile finanzielle Grundlage.11 In einem ersten Teil gehen wir auf die institutionellen Veränderungen und Erweiterungen ein, welche die Taubstummenanstalt St. Gallen um 1940 als Reaktion auf sinkende SchülerInnenzahlen umsetzte. Dabei zeigen wir, dass die Einführung einer Abteilung für »Sprachgebrechliche« sowie die reorganisierte Fürsorgepraxis Resultat einer komplexen Gemengelage waren, in der sich neue Deutungsmuster der Gehörlosigkeit und anstaltsökonomische Rationalitäten mischten. Nicht nur und nicht primär der medizinische Diskurs bestimmte, was Gehörlosigkeit ausmachte und wer als gehörlos galt. Vielmehr waren es die FachpädagogInnen und FürsorgerInnen der Anstalten, die mittels Regulierung ihrer SchülerInnenschaft die Gruppe der Hörbehinderten bildeten und differenzierten.12 In einem zweiten Teil zeichnen wir anhand exemplarischer Fälle von gehörlosen ehemaligen SchülerInnen der Taubstummenanstalt St. Gallen nach, welche beruflichen und sozialen Möglichkeiten gehörlosen Menschen Mitte 8 | Für eine quellenkritische Zusammenstellung des Samples siehe unten. 9 | Schlegel et al., 125 Jahre, 24. 10 | Ebd., 29. 11 | Ebd., 83. 12 | Vgl. auch Janett, »Gehörlosigkeit«, 232; Urs Germann, »Rezension zu Michael Gebhard, Hören lernen – hörbehindert bleiben: Die Geschichte von Gehörlosen- und Schwerhörigenorganisationen in den letzten 200 Jahren«, Traverse 15, Nr. 3 (2008): 176-177.

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des 20. Jahrhunderts durch die fürsorgerische Begleitung offenstanden. Dabei machen wir die These stark, dass die von der Fürsorge angestrebte Integration ins Berufsleben in vielen Fällen zwar gelang, jedoch stark geschlechts- und berufsspezifisch war und von den Gehörlosen viele Kompromisse erforderte. Gleichzeitig waren Gehörlose – Frauen mehr als Männer – in ihrem Alltag Diskriminierungen ausgesetzt, so dass sich insgesamt ein eher düsteres Bild ihrer Lebenswelten ergibt. »Gitter am Kopf und Loch im Herzen«, so fasste ein Ehemaliger der Taubstummenanstalt St. Gallen denn auch noch um 1960 seine Lebenssituation zusammen, die von geistig-seelischen Entbehrungen und sozioökonomischen Benachteiligungen bestimmt war.13

I nstitutionelle E rweiterung und pädagogische N euorientierung um 1940 Die späten 1930er Jahre markieren in der Geschichte der Gehörlosenfürsorge in der Schweiz eine Zäsur.14 Vorausgegangen war ein Rückgang von sogenannt endemischen Hörbeeinträchtigungen, die auf einen gravierenden Jodmangel zurückzuführen sind. Die als »Kretinismus« bezeichneten Folgen dieser Mangelernährung waren eine Unterentwicklung des Gehirns, die nebst Hörbeeinträchtigungen auch Wachstumsstörungen und körperliche Missbildungen auslösen konnte und insbesondere in entlegenen alpinen Regionen noch anfangs des 20. Jahrhunderts stark verbreitet war.15 Der Rückgang wurde von pädagogischen Fachkräften und FürsorgerInnen früh bemerkt und anstaltsübergreifend diskutiert. Eng verbunden mit der Art und Weise, wie diese Entwicklung interpretiert wurde, waren schließlich diverse institutionelle und pädagogische Neuerungen. Bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert waren die Fachpädagogik und die Gehörlosenschulen darum bemüht, die Anzahl Gehörloser mittels Umfragen und Enqueten zu eruieren.16 Während die Zahlen bis in die Zwischenkriegszeit relativ stabil blieben, veränderte sich die Situation in den 1930er Jahren. »Ganz ungeheuer gross ist der Rückgang der Zöglinge in allen Taubstummenanstalten der Schweiz«, ist dem Jahresbericht der Taubstummenanstalt

13 | Selbstbeschreibung eines Gehörlosen, zit.n.: StASG, W 205/01-10, Clara Iseli, Vortrag »Warum spezielle Taubstummenfürsorge?«, o.J., 1. 14 | Vgl. Rudin, »Taubstummenanstalt Riehen«, 30-45. 15 | Als, Claudine, »Kretinismus«, Historisches Lexikon der Schweiz HLS, Version vom 4.11.2008, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D22716.php. 16 | Janett, »Gehörlosigkeit«, 232-233.

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St. Gallen von 1937/38 zu entnehmen.17 Wie Erhebungen der Schweizerischen Taubstummenhilfe belegen, sank die Zahl der in schweizerischen Anstalten unterrichteten SchülerInnen zwischen 1932 und 1940 um mehr als 50 Prozent, von 777 auf 325.18 Die zeitgenössischen Deutungen dieser Entwicklung fielen recht differenziert aus. So führte der ehemalige Vorsteher der Taubstummenanstalt Zürich Johannes Hepp den Rückgang der Gehörlosigkeit in der Schweizer Bevölkerung auf die systematisch erfolgte Jodisierung des Kochsalzes und auf behördlich verhinderte »Verwandtenehen« zurück.19 Gesunken war damit insbesondere die Anzahl der als »degenerativ« bezeichneten, schwachbegabten Gehörlosen. »Die kretinischen, körperlich schwerfälligen, klein gewachsenen, schwerhörigen bis tauben Geistesschwachen, welche um 1930 herum noch den meisten unserer Taubstummenanstalten das Gepräge gaben, sind seither sozusagen verschwunden«, so Hepp.20 Angestiegen war dagegen zur gleichen Zeit die Zahl der »normalbegabten Frühertaubten«21: Im Gegensatz zu 1932, als 58 % der Gehörlosen als schwachbegabt eingestuft worden waren, wurden 1955 nur noch acht Prozent als solche bezeichnet.22 Dieselben Beobachtungen machte der Leiter der Taubstummenanstalt St. Gallen Hans Ammann (1904-1990) im Jahresbericht von 1955/56, wobei er zusätzlich auf die neuen Herausforderungen der Gehörlosenfürsorge einging.23 Während bis in die 1930er Jahre die meisten SchulabgängerInnen sogenannte endemische Fälle gewesen waren, die »meistens ein armseliges Leben« führten und in ihrer Intelligenz als zurückgeblieben, gar kindlich bezeichnet wurden, waren die aktuellen »Zöglinge«, »Menschen, die ihr Brot verdienen können« und dementsprechend andere Ansprüche an ein gutes Leben stellten.24

17 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1937/ 38, 4. 18 | Ebd. StASG, A 451/6I, Johannes Hepp, Alt-Vorsteher der Kant. Taubstummenanstalt Zürich-Wollishofen, »Taubstummen-Probleme. Erfreuliche Wandlungen in den Zöglingsbeständen unserer Taubstummenanstalten«, 1955. 19 | Ebd. 20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | Ebd. 23 | Hans Ammann, seit 1937 Direktor der Anstalt, stand in regem fachlichem Austausch mit anderen GehörlosenpädagogInnen seiner Zeit, dozierte an verschiedenen Universitäten und Heilpädagogischen Instituten schweizweit und war so massgeblich beteiligt am Diskurs über Gehörlosigkeit und gehörlose Menschen. Vgl. Schlegel et al., 125 Jahre, 43. 24 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1955/56, 5.

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Ob die »alten« Gehörlosen tatsächlich schwächer begabt waren als die jüngeren, die ab Ende der 1930er Jahre das schulpflichtige Alter erreichten, ist fraglich. Zum einen determinierten fachpädagogische Konzepte die Diagnose. Entscheidend für die Einschätzung der Begabung war die Fähigkeit, sich lautsprachlich artikulieren zu können. Die beiden Gruppen von Gehörlosen sprachen aber unterschiedlich auf den in der Schule praktizierten Lautsprachunterricht an: Während es sich bei den »alten« Gehörlosen zumeist um gehörlos Geborene oder »Frühertaubte« handelte, verloren die jüngeren Generationen ihre Hörfähigkeiten mehrheitlich in einem Alter, in dem sie bereits ein Gefühl für die Lautsprache entwickelt hatten.25 »Alte« Gehörlose hatten damit schlechtere Voraussetzungen, die Lautsprache zu erlernen, die als Gradmesser für den schulischen und intellektuellen Entwicklungsstand diente. Neben der unterrichtsmethodisch bedingten und fachpädagogisch gefilterten Wahrnehmung der Fähigkeiten von Gehörlosen ist weiter der anstaltsökonomische Kontext relevant. Wie Mirjam Janett am Beispiel der Luzerner Taubstummenanstalt Hohenrain gezeigt hat, handelt es sich bei den in der Gehörlosenfürsorge verwendeten dualen Kategorien »bildungsfähig/bildungsunfähig« und »intelligent/schwachsinnig« um pragmatisch anwendbare Begriffe, die von der Anstaltsleitung relativ flexibel als Mittel zur Regulierung der Bestandszahlen eingesetzt wurden.26 Wer als bildungsfähig und intelligent galt, war nicht nur eine pädagogische und medizinische Frage, sondern wurde ganz maßgeblich vom Anstaltspersonal und dessen institutionellen Interessen bestimmt. So ist es denn auch wenig erstaunlich, dass mit den sinkenden Gehörlosenzahlen Neuerungen einhergingen, die als eine Art existenzsichernde anstaltsökonomische Politik der Bedürfnisinterpretation zu bezeichnen sind – nicht nur in Hohenrain, sondern auch in St. Gallen und an vielen anderen Anstalten.27 1937 beginnt für die Taubstummenanstalt St. Gallen eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Die sinkende Anzahl an SchülerInnen und die damit einhergehenden tieferen Kost- und Schulgeldeinnahmen verschärften die ohnehin permanent angespannte finanzielle Lage der Anstalt zusätzlich.28 Um Entlassungen im Lehrkörper zu vermeiden, wurden in der Taub25 | StASG, A 451/6I, Johannes Hepp, Alt-Vorsteher der Kant. Taubstummenanstalt Zürich-Wollishofen, »Taubstummen-Probleme. Erfreuliche Wandlungen in den Zöglingsbeständen unserer Taubstummenanstalten«, 1955. 26 | Janett, »Gehörlosigkeit«, 240-241. 27 | Emma Steiger, Handbuch der Sozialen Arbeit der Schweiz, Bd. 1: Systematische Übersicht über die soziale Arbeit, 4. Aufl., (Zürich: Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, 1948), 130. 28 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1937/ 38, 4.

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stummenanstalt St. Gallen 1937 mehrere institutionelle und fürsorgerische Maßnahmen getroffen, welche die Ausrichtung der Anstalt langfristig prägten. Die lange gehegte Idee, auch sprachgebrechlichen Kindern den Zugang zur Schulbildung durch Stützkurse zu vereinfachen, wurde just in dem Jahr umgesetzt, als der Zöglingsrückgang institutionell bedrohlich erschien: Als »Erweiterung im Rahmen der Gesamtaufgabe« wurde im Frühjahr 1937 erstmals eine Klasse für Sprachgebrechliche gebildet, wozu sogenannte Stammler, Stotterer, Hörstumme und leicht Schwerhörige zählten.29 In den Folgejahren trieb die Direktionskommission den institutionellen Ausbau weiter voran. Auch die Schaffung eines Kindergartens für gehörlose und sprachgebrechliche Vorschulkinder 1940 ist als Element einer Neuorientierung und Ausweitung der Anstalt zu lesen, ebenso die Einführung eines neunten Schuljahres für Gehörlose, welches erstmals im Schuljahr 1940/41 durchgeführt wurde und »für gutbegabte Schüler […] ein ungeheurer Gewinn« war.30 In diesem letzten Schuljahr wurden basale Fähigkeiten wie Briefe schreiben oder Formulare ausfüllen vertieft, aber auch Staatskunde unterrichtet, damit die Jugendlichen »am grossen Weltgeschehen« teilnehmen konnten.31 1944 war die Sprachheilabteilung der Schule, die Kinder mit unterschiedlichen Sprachstörungen bis zur achten Klasse unterrichtete, schließlich voll ausgebaut.32 Fortan etablierte sich die neu Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen genannte Institution auch zur führenden Sprachheilschule der Deutschschweiz, deren Ziel es war, sprachgebrechliche Kinder möglichst früh ausfindig zu machen und ihre Fähigkeiten in intensiven Übungsstunden zu trainieren, damit sie möglichst rasch in Regelklassen der Volksschule integriert werden konnten.33 Neben den institutionellen Erweiterungen, welche integrativ wirkten und die soziale Reichweite der Anstalt vergrößerten, reagierte die Leitung auch mit fürsorgerischen Maßnahmen auf den Rückgang der Gehörlosenzahlen und die veränderte SchülerInnenschaft. Ausgehend von der besseren Bildungsfähigkeit, die der jüngeren Generation von Gehörlosen zugeschrieben wurde, schenkte die Anstaltsleitung der Berufsbildung und der beruflichen Integra-

29 | Ebd., 6-7, 10. 30 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1940/ 41, 9. 31 | Ebd., 9-10. 32 | StASG, W 205/01-10, Clara Iseli, Vortrag »Wesen und Aufgaben der Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen«, o.J., 5. 33 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1937/ 38, 9-10.

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tion seit den 1940er Jahren und damit rund ein Jahrzehnt vor dem konjunkturellen Aufschwung zunehmend mehr Aufmerksamkeit.34

»Fördern, Fordern aber nicht Überfordern« 35 : Clara Iseli und die neue Fürsorgepraxis seit 1942 Seit Gründung der Anstalt im Jahr 1859 gehörten die Aufrechterhaltung des Kontakts mit den ehemaligen SchülerInnen und die sogenannte Nachfürsorge zu den erklärten Zielen der Taubstummenanstalt St. Gallen. In den Gründungsstatuten des Trägervereins der Schule heißt es: »So weit es dem Verein möglich ist, nimmt er sich auch der Schulentlassenen an.«36 Während die Gehörlosen nach Schulabschluss anfangs zumeist sich selbst oder ihren Angehörigen überlassen worden waren, war es bis in die 1930er Jahre zur Regel geworden, dass die Ehemaligen durch die Anstaltsleitung nachbetreut und sporadisch kontaktiert wurden. Ende des Schuljahrs 1936/37 zog sich Ulrich Thurnheer (1875-1971) vorzeitig als Direktor der Anstalt zurück, um sich ganz der Fürsorge für die ehemaligen SchülerInnen zu verschreiben. Mit seinem Rücktritt war der Grundstein gelegt für die Auslagerung der Fürsorge aus dem Pflichtenheft der Anstaltsleitung. Als sich Ulrich Thurnheer 1942 aus gesundheitlichen Gründen schließlich auch von seinen Pflichten als Bezugsperson für die Ehemaligen zurückzog, beschloss die Direktionskommission, eine Fürsorgestelle einzurichten und mit diesen Aufgaben zu betrauen.37 Angestellt wurde die Lehrerin Clara Iseli (1920-1966), die von 1938 bis 1942 das Lehrerseminar in Rorschach besucht hatte und in ihrem letzten Schuljahr bereits als Praktikantin und Bürogehilfin in der Anstalt tätig gewesen war.38 Mit der Anstellung von Clara Iseli begannen sich die Ziele und Praktiken der Fürsorge zu verändern. Bis in die 1930er Jahre konzentrierte sich die Betreuung der Schulentlassenen hauptsächlich darauf, die reibungslose Versorgung in den Familien oder Anstalten sicherzustellen und für ein der bürgerlichen Gesellschaft entsprechendes geordnetes Leben zu sorgen. Mit der 34 | Zur Hochkonjunktur der Nachkriegszeit in der Schweiz vgl. Margrit Müller und Ulrich Woitek, »Wohlstand, Wachstum und Konjunktur«, in Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Hg. Patrick Halbeisen et al. (Basel: Schwabe, 2012), 130-142. 35 | StASG, W 205/01-50, Clara Iseli, Vortrag »Berufswahl und Stellenvermittlung bei Gehörgeschädigten«, o.J., 11. 36 | Zit. nach: Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1942/43, 7. 37 | StASG A 451/1.3.2, Direktionskommission; Hilfsverein für Bildung Taubstummer Kinder: Protokolle (1858-1954), Sitzung vom 10. März 1942. 38 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1966, 12.

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Gründung der Fürsorgestelle wurde der Fokus vermehrt auf die berufliche Integration gelegt. Nicht mehr die Familie und, nach dem Tod der Eltern, das Bürgerheim oder die Armenanstalt waren das bevorzugte Integrationsmilieu, sondern der Arbeitsmarkt. Die Fürsorgerin Clara Iseli begann damit als »Verbindungsglied zwischen Arbeitswelt und Schule« zu fungieren, wie sie sich selbst ausdrückte.39 Insofern nahm die Gehörlosenfürsorge das Integrationsparadigma der 1960 eingeführten staatlichen Invalidenversicherung (IV) früh vorweg.40 Nach 1960 wurde die Vermittlerinnenfunktion der Fürsorgestelle denn auch komplett in die IV überführt und die Frage nach der Integration von Gehörlosen in die Berufswelt von den IV-Regionalstellen in Zusammenarbeit mit der Berufsberatung übernommen.41 Entscheidend für die veränderten fürsorgerischen Zielvorstellungen war nicht die Konjunkturlage, sondern die Neueinschätzung des Potenzials der Gehörlosen. In den Worten von Clara Iseli: Während die Rückkehr der Gehörlosen in ihr Elternhaus oder die Unterbringung in Bürgerheimen »in früheren Jahren« die einfachste Lösung darstellte und insofern vertretbar war, als der Großteil sowieso »mit kleineren oder grösseren Defekten« lebte, stellte die berufliche Integration der jüngeren Gehörlosen, denen eine »normale Intelligenz« attestiert wurde, nunmehr das oberste Ziel dar.42 Mit dieser Verschiebung ging eine partielle Abkehr von paternalistischen Fürsorgeprinzipien einher, die sich in zugestandenen Autonomieansprüchen manifestierte: So unterschied die Fürsorge stets zwischen den Bedürfnissen der jüngeren, »begabten« Gehörlosen, die »keine sichtbare, fühlbare Bevormundung und Bemutterung« wollten, sondern viel eher Hilfe zur Selbsthilfe, und jenen der »älteren«, »schwachbegabten« Gehörlosen, die für die Fürsorge empfänglich zu sein schienen und in deren Leben die Besuche der Fürsorgerin »Glanzpunkte« darstellten.43

39 | StASG, W 205/01-50, Clara Iseli, Vortrag »Berufswahl und Stellenvermittlung bei Gehörgeschädigten«, o.J., 6. 40 | Urs Germann, »›Eingliederung vor Rente‹: Behindertenpolitische Weichenstellungen und die Einführung der schweizerischen Invalidenversicherung«, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58, Nr. 2 (2008): 178-197. 41 | Rebecca Hesse und Martin Lengwiler, Aus erster Hand: Gehörlose und Gebärdensprachen in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Schlussbericht des Projekts »Verbot der Gebärdensprache in der Schweiz« zuhanden des Schweizerischen Gehörlosenbundes (SGB-FSS, Basel: [s.n.], 2017), 101. Vgl. auch Liselotte Moor, »Die Hilfe der Taubstummenfürsorge und der Invalidenversicherung an den jugendlichen Gehörlosen« (Unpublizierte Diplomarbeit, Schule für Sozialarbeit Bern, 1968). 42 | StASG, W 205/01-23, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Arbeit der Taubstummenfürsorgerin«, o.J., 2-3. 43 | Ebd.

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Mit der neuen Zielsetzung änderte sich in der Nachkriegszeit auch die Fürsorgepraxis.44 Jahrzehntelang bestand die Hauptaufgabe der Ehemaligenfürsorge darin, bei Bedarf beratend zur Seite zu stehen und in Konfliktfällen einzuschreiten und zu vermitteln, sei es mit den Eltern, einer Anstaltsleitung, den Vormundschafsbehörden oder in zwischenmenschlichen Alltagsangelegenheiten. Clara Iseli rückte dagegen von punktuellen Interventionen im Sinne eines Konfliktmanagements ab und ging über zu einer permanenten Betreuung der Schulentlassenen. Um Missverständnisse und Kommunikationsprobleme am Arbeitsplatz zu vermeiden, stand sie in engem Kontakt mit den ehemaligen SchülerInnen und vermittelte oft regelmäßig, in einzelnen Fällen sogar mehrmals wöchentlich, zwischen Gehörlosen und ihren beruflichen Vorgesetzten:45 »Erst eine dauernde Fürsorge gewährleistet die wirtschaftliche Eingliederung«, wie es im Jahresbericht apodiktisch heißt.46 Clara Iseli intensivierte aber nicht nur die Betreuung, sie baute auch eine »Erwachsenenbildung und -fürsorge« auf, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, die SchülerInnen auf den Schulaustritt vorzubereiten und mit dem wirtschaftlichen und sozialen »Leben mit seinen mannigfachen Schwierigkeiten und Versuchungen« vertraut zu machen, Schulentlassene aber auch zu beraten und zu betreuen und ihnen Hilfe zu leisten.47 Als zentrale Voraussetzung dafür, ein wirtschaftlich selbstständiges und sozial integriertes Lebens zu führen, galt nach wie vor die lautsprachliche Kommunikationsfähigkeit – seit ihrer Gründung verpflichtete sich die Taubstummenanstalt St. Gallen stets der Lautsprachmethode.48 In der beherrschten Lautsprache wurde der Schlüssel zum Arbeitsmarkt gesehen, nicht in der (meist landwirtschaftlichen) Berufsausbildung, wie es an anderen Schweizer Institutionen wie etwa der Taubstummenanstalt Landenhof in Aarau der Fall war.49 »Für 44 | Vgl. Gertrud Lüthy, »Die Vorbereitung des taubstummen Kindes in der Anstalt im Hinblick auf seine berufliche Eingliederung ins Leben« (Unpublizierte Diplomarbeit, Soziale Frauenschule Zürich, 1950). 45 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1955/ 56, 8. 46 | Ebd. 47 | StASG, W 205/01-23, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Arbeit der Taubstummenfürsorgerin«, o.J., 2-3.. 48 | Wilhelm Bühr, Rückblicke auf die Entwicklung des Taubstummenbildungswesens im Kanton St. Gallen: Ein Gedenkblatt zur Feier des 50jährigen Bestandes der Taubstummenanstalt St. Gallen (St. Gallen: Zollikofer & Cie., 1909). 49 | Benno Caramore, Die Gebärdensprache in der schweizerischen Gehörlosenpädagogik des 19. Jahrhunderts, Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Band 2 (Hamburg: Signum-Verlag, 1990), 66; Gebhard, Hören lernen, 48-49.

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eine Berufslehre ist eine saubere Sprache unbedingt erforderlich«, so Clara Iseli.50 Dieses Ziel wurde unter dem Begriff der »Verkehrsfähigkeit« der Gehörlosen verhandelt und rechtfertigte die strikte Ablehnung der Gebärdensprachen und den strengen erzieherischen Kurs der Anstalt. Für die PädagogInnen war es undenkbar, dass sich die Hörenden umgekehrt an die Gehörlosen anpassen könnten, wie folgende Aussage von Anstaltsleiter Hans Ammann aus dem Jahre 1939 verdeutlicht: »Die Taubstummenerziehung darf […] nicht zu weich sein. Der Taubstumme muss viel mehr als der Hörende auf das harte Leben vorbereitet werden.«51 Faktisch verstanden die Fachpersonen unter der Vorbereitung auf das »harte Leben« in erster Linie die Integration der Gehörlosen in die Arbeitswelt, weniger ihre soziale Eingliederung und Besserstellung. Zusammen mit dem Anstaltsleiter, dem Lehrpersonal, den Eltern und der Berufsberatung war Iseli darum bemüht, für die gehörlosen Jugendlichen die »richtige Berufswahl« zu treffen, ihnen Lehrstellen zu vermitteln und sie später bei allfälligen Stellenwechseln zu beraten.52 Hinzu kam, dass sie für alle Ehemaligen Weiterbildungsprogramme anbot, die allerdings weniger der beruflichen Entwicklung als der selbstständigen Lebensführung dienten. So wurden in Abend- und Ferienkursen spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten vertieft (unter anderem Nähen, Kochen, aber auch Schreiben und Sprechen), womit nicht zuletzt der sozialen Isolation der erwachsenen Gehörlosen vorgebeugt werden sollte.53 Darüber hinaus erkundigte sich die Fürsorgerin in Gesprächen und Briefen über das Befinden der Gehörlosen und bot Hilfe und Beratung an bei alltäglichen Fragen wie Mietverträgen, Krankenkasse, Steuern oder Versicherung und half bei der Vermittlung von Ferienplätzen oder in finanziellen Notlagen.54 Neben diesen sozialen Dienstleistungs- und Hilfsangeboten, die darauf abzielten, den Gehörlosen ein selbstständiges Leben zu ermöglichen, bestand ein weiteres wichtiges Element der Gehörlosenfürsorge in der Aufklärung und Eheberatung, die nicht der »Fabrik und Strasse« zu überlassen seien.55 Zu diesem Zweck veranstaltete Iseli für die noch schulpflichtigen gehörlosen Mädchen der Abschlussklassen (nicht aber für die Knaben) einmal wöchentlich eine Gesprächsrunde, in der sie sich über »die sexuelle Frage« austauschten.56 50 | StASG, W 205/01-23, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Arbeit der Taubstummenfürsorgerin«, o.J., 6. 51 | Schlegel et al., 125 Jahre, 62. 52 | StASG, W 205/01-23, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Arbeit der Taubstummenfürsorgerin«, o.J., 7. 53 | Ebd., 9. 54 | Ebd., 8. 55 | Ebd., 6. 56 | Ebd.

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Liebe und Ehe waren Herausforderungen, die auch die Gehörlosen beschäftigten, der Einfluss von hörenden Mitmenschen führe zu »allerlei unmögliche[n] Verbindungen«, das heißt primär Liebesbeziehungen zwischen Gehörlosen, aber auch zwischen Gehörlosen und Hörenden.57 Ein letztes Element der Fürsorgearbeit von Clara Iseli war der »Aufklärungsdienst« gegenüber der hörenden Gesellschaft. In zahlreichen Vorträgen an Schulen und in Vereinen informierte sie über die Taubstummenanstalt und warb um das Verständnis der Hörenden für die Gehörlosen. Dabei kam immer wieder zum Ausdruck, dass die Gehörlosenfachhilfe davon überzeugt war, dass die Gehörlosen nie vollständig gleichberechtigt sein würden und stets auf Hilfe angewiesen sein werden: »Der Taubstumme wartet auf uns, damit wir ihm helfen möchten, wirklich Mensch zu werden«, so Iseli.58 Um all diese Fürsorgearbeiten professionell bewältigen zu können, erfasste Clara Iseli die Biographien der ehemaligen Zöglinge systematisch mittels standardisierter Formulare und legte diese in einer Kartothek ab. Dabei registrierte sie nicht nur die seither austretenden gehörlosen (nicht aber die »sprachgebrechlichen«) SchülerInnen, sondern kontaktierte auch die vor 1942 entlassenen. Insgesamt sind 190 Fürsorgeakten von »Gehörlosen« überliefert, 144 davon betrafen vor 1942, 46 danach Entlassene.59 Der Betreuungsaufwand, den Iseli in der Nachkriegszeit »mit totalem Einsatz« bewältigte, wie es im Nachruf heißt, ging allerdings weit darüber hinaus.60 Aufschluss über den tatsächlichen Umfang der Fürsorgetätigkeit geben die Jahresberichte: Zwischen 1945 und 1960, als die Taubstummenfürsorge in das IV-System integriert wurde und die Dokumentationstätigkeit zugleich endete, umfasste die von ihr betreute Gruppe jährlich zwischen rund 500 und maximal 655 ehemalige »Zöglinge«, mit denen sie in tausenden von (nicht überlieferten) Briefen, unzähligen Telefonaten und sogenannten Audienzen Kontakt pflegte. Darunter fallen auch ehemalige »Sprachgebrechliche« und sogenannte ambulante Fälle.61 In den Fürsorgeakten vermerkte Iseli eine ganze Reihe von Informationen zur Person, so z.B. das Geburtsjahr, den Wohnort, die Schuldauer sowie eine teils recht umfangreiche »Beurteilung bei Austritt«, welche die körperliche Verfassung sowie die charakterliche und psychische Konstitution betraf, 57 | StASG, W 205/01-27, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Taubstummenfürsorge, o.J., 3. 58 | StASG, W 205/01-23, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Arbeit der Taubstummenfürsorgerin«, o.J., 9. 59 | Die Fürsorgeakten sind integriert in die Dossiers, die für alle in der Taubstummenanstalt unterrichteten SchülerInnen angelegt wurden. 60 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1966, 12. 61 | Vgl. Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresberichte 1945/46 bis 1959/60.

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aber auch die Schulleistungen umfasste. In der Regel wurde auch der Grad der Hörbeeinträchtigung festgehalten. Die einzelnen Akteneinträge belegen oft Kontaktaufnahmen und Besuche, Rückmeldungen von Bezugspersonen, Stellenwechsel, finanzielle Angelegenheiten, die immer wieder mit Informationen zum familiären und sozialen Lebensumfeld und zur beruflichen Situation ergänzt wurden. Die Dokumentationen unterscheiden sich allerdings relativ stark in ihrem Umfang. Gerade bei den vor 1942 ausgetretenen Gehörlosen, die teils in den 1910er Jahren die Schule besucht hatten und mit denen Clara Iseli zuerst Kontakt aufnehmen musste, gibt es oft nur einen einmaligen, stichwortartigen Akteneintrag, zumeist in den Jahren 1942 und 1943. Die Fälle der nach 1942 Ausgetretenen sind mehrheitlich deutlich besser dokumentiert. Wie es im Folgenden zu zeigen gilt, lassen sich anhand der 190 Fälle trotz Uneinheitlichkeit aufschlussreiche Erkenntnisse über die Lebensrealitäten von fürsorgebetreuten gehörlosen Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit gewinnen.

B erufliche I ntegr ation und E rwerbstätigkeiten von G ehörlosen Die von Clara Iseli zwischen 1942 und Ende der 1950er Jahre angelegten Akten dokumentieren eine Reihe von Veränderungen. So lässt sich aus den Akten z.B. die neue fachpädagogische Einschätzung der Fähigkeiten von jüngeren Gehörlosen ablesen. Demnach werden die vor 1942 Entlassenen mehrheitlich als sprachlich ungenügend, schwach oder mittelmäßig eingestuft, die nach 1942 ausgetretenen Gehörlosen dagegen meistens als ordentlich bis gut. Das Narrativ der Fachhilfe, demnach die SchülerInnen seit den 1930er Jahren sprachbegabter und deshalb besser in die Arbeitswelt integrierbar waren, wurde durch die Dokumentationstätigkeit zugleich bestätigt und verfestigt. Umgekehrt war die (laut-)sprachliche Fähigkeit von Spätertaubten wie dem 1924 geborenen Benedikt Jäger62, der mit 16 Jahren eine schwere Hirnhautentzündung erlitten hatte und fortan vollständig gehörlos war, »natürlich geblieben« und die Bildungschancen somit besser als jene von gehörlos geborenen Personen.63 Neben der fachpädagogischen Neubeurteilung der Gehörlosen bestätigen die Fürsorgeakten die häufig betonte bessere Bildungs- und Arbeitsfähigkeit der jüngeren Generationen. Während eine Mehrheit der vor Mitte der 1930er Jahre aus der Anstalt entlassenen Gehörlosen in ihren Familien oder in 62 | Die Namen von ehemaligen SchülerInnen wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert. Die verwendeten Namen sind fiktiv. 63 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossier Nr. 31.

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Heimen unterkamen und einer meist unbezahlten Tätigkeit in Landwirtschaft oder Hausarbeit nachgingen, schafften es die jüngeren Generationen signifikant häufiger, nach absolvierter Lehre einer Erwerbsarbeit nachzugehen und sich ihr Auskommen zumindest teilweise selbstständig zu finanzieren. Exemplarisch für die ältere Generation ist die Biografie der 1917 geborenen Alice Iten, die von 1925 bis 1932 die Schule besuchte und unter einer angeborenen Schwerhörigkeit litt.64 Bei der Kontaktaufnahme durch Clara Iseli im Februar 1944 wohnte Alice Iten bei ihren Eltern auf einem Bauernhof in Wil, anschließend für rund fünf Jahre bei Verwandten im Kanton Luzern, um 1950 in ihr Elternhaus zurückzukehren. Zehn Jahre später kam sie bei ihrer Schwester unter. Obwohl sie als »gesundheitlich nicht sehr stark« eingeschätzt wurde, unterstützte Alice Iten ihre Eltern und Verwandten bei der landwirtschaftlichen Arbeit und im Haushalt, besorgte denselben auch für ihre erwerbstätige Schwester und kümmerte sich zudem noch um deren Kinder. Auch das Beispiel der 1916 geborenen, von Geburt an gehörlosen Irma Koller, die zwischen 1924 und 1932 die Schule absolvierte, ist typisch.65 Bei der Kontaktaufnahme im Februar 1944 wohnte sie bei ihrer verwitweten Mutter und ihrer Schwester, mit denen sie den landwirtschaftlichen Betrieb führte. Nachdem sowohl die Mutter als auch die Schwester innerhalb kürzester Zeit gestorben waren, kam Irma Koller kurzzeitig bei ihrem Vormund unter, bevor sie zu ihrer Cousine nach Mauren im Kanton Thurgau zog und anschließend für ein paar Monate auf einem Bauernhof im St. Gallischen Niederbüren für ein kleines Entgelt arbeitete. Da »Irma sich nicht gerne etwas sagen lässt« dauerte es nicht lange, bis sie wieder zurück bei ihrer Cousine war. Nachdem sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert hatte, wurde sie 1957 mit 41 Jahren im Altersheim Schlössli in St. Gallen untergebracht. Andere wiederum wurden direkt nach Schulabschluss in einer Institution versorgt, so der 1929 geborene und von Clara Iseli als »geistesschwach« und »kleinköpfig« beschriebene Emil Fröhlich, der von 1936 bis 1945 die Schule besuchte.66 Weil die Eltern nicht mit ihm klarkamen, wurde er unmittelbar nach Schulaustritt in das Arbeitsheim Amriswil vermittelt, in dem Menschen mit Behinderungen beschäftigt wurden. Nachdem es im Heim zu Schwierigkeiten gekommen war und er entlassen werden musste, nahmen seine Eltern ihn dennoch auf, allerdings nur für kurze Zeit, bereits 1950 wurde er bei Verwandten im Kanton Glarus platziert. Für die jüngere Generation steht hingegen das Beispiel des 1938 geborenen Jakob Bühler, der »fast ganz taub« war.67 Jakob Bühler war zwischen 1945 und 1953 Schüler der Taubstummenanstalt und begann ein Jahr später eine Lehre 64 | Ebd., Dossier Nr. 181. 65 | Ebd., Dossier Nr. 241. 66 | Ebd., Dossier Nr. 253. 67 | Ebd., Dossier Nr. 437.

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bei einer Maschinenfabrik in Rorschach. Weil der Lehrmeister in ihm einen fähigen Maschinenschlosser sah, übernahm die Firma Schulgeld und Reisekosten, damit Jakob Bühler sich an der 1954 eröffneten Interkantonalen Berufsschule für Gehörlose in Zürich Oerlikon ausbilden lassen konnte.68 Nach der 1958 mit Auszeichnung bestandenen Lehrabschlussprüfung arbeitete er in der Fabrik weiter. Auch das Beispiel des 1942 geborenen Ernst Furrer, der 1957 nach elf Jahren die Schule verließ, wäre in der Zwischenkriegszeit unwahrscheinlich gewesen.69 Ernst Furrer, Sohn gehörloser Eltern, sammelte nach seinem Schulaustritt erste Arbeitserfahrungen in einer Glarner Textildruckerei, die es ihm ebenfalls »ohne Lohnabzug« ermöglichte, sich an der Berufsschule für Gehörlose in Zürich Oerlikon ausbilden zu lassen. Die Lehre absolvierte er schließlich als Metalldrücker bei einer Firma im Kanton Glarus. Der 1938 geborene Jonas Keller wiederum schaffte es, nach Abschluss der Schule, die er von 1944 bis 1954 besuchte, bei einem Schreiner in St. Gallen eine Lehrstelle zu finden. Nach der erfolgreich bestandenen Lehrabschlussprüfung wechselte er zu einem anderen Schreiner in Herisau. »Der Meister spricht sich sehr lobend aus über Jonas und gibt ihm bereits einen Stundenlohn von Fr. 2.50«, notierte Clara Iseli im Jahr 1959 in ihren Akten.70 Im Jahresbericht von 1956/57 ist die oben skizzierte und anhand von Fallbeispielen illustrierte Entwicklung folgendermaßen beschrieben: Da die endemischen Taubstummen fast immer schon in der Pubertätszeit die geistige Entwicklung abschlossen, mussten sie vielfach schon sehr früh, spätestens aber beim Ableben der Eltern, versorgt werden. Fast jedes Bürgerheim hatte eine bis mehrere solcher Insassen, eine verhältnismässig grosse Zahl lebte sogar in Heil- und Pflegeanstalten. Seit dem Verschwinden der endemischen Taubstummheit in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre wirkt sich diese Tatsache und Umschichtung nach und nach auch in der Fürsorge aus. Es gibt immer weniger Versorgungsfälle wegen allgemein geistiger Schwäche und beruflicher Unfähigkeit. Der heutige Taubstumme ist ein ganz anderer Typ; wohl taub, sprachlich behindert, aber meist körperlich normal, arbeitsmässig leistungsfähig wie Hörende und in der Lage, einen Vollberuf zu erlernen oder doch mindestens eine recht bezahlte Teilarbeit zu leisten.71

68 | Vgl. Gottfried Ringli, »Mein Traumberuf war und blieb Lehrerin…«: Geschichte der Berufsbildung für Gehörlose in der deutschsprachigen Schweiz und der Berufsschule für Hörgeschädigte in Zürich 1954-2004 (Zürich: Berufsschule für Hörgeschädigte, 2004). 69 | Ebd., Dossier Nr. 560. 70 | Ebd., Dossier Nr. 450. 71 | Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1955/ 56, 6.

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Trotz dieses einschneidenden Wandels, den die Taubstummenanstalt in ihren Jahresberichten gerne als pädagogische Erfolgsgeschichte präsentierte, sind aus den Akten der Fürsorgestelle auch und vor allem Kontinuitäten herauszulesen.72 Besonders auffällig ist, dass nur ganz wenige SchülerInnen der Taubstummenanstalt St. Gallen es schafften, nach Schulaustritt ökonomisch selbstständig zu sein und in einem eigenen Haushalt zu leben.73 Auch diejenigen, die eine Lehre abschlossen und anschließend einer mehr oder weniger geregelten Erwerbsarbeit nachgingen, lebten fast immer bei ihren Eltern oder Verwandten – wie die Biografien der damals noch sehr jungen Gehörlosen sich fortsetzten, ist allerdings nicht überliefert, weil die Dokumentationsperiode Ende der 1950er Jahre endet. Die berufliche Integration der Gehörlosen blieb über die gesamte Dokumentationsperiode (1910er bis Ende 1950er Jahre) selektiv. Wie es im Folgenden zu zeigen gilt, verlief die Integration einerseits nach einer geschlechtsspezifischen Logik. So wurde es gehörlosen Männern eher ermöglicht, eine Berufslehre zu absolvieren als den Frauen, und auch im Fachdiskurs wurde die Berufseignung von gehörlosen Frauen und Männern unterschiedlich bewertet. Andererseits war der Zugang zum Arbeitsmarkt berufsspezifisch. Die große Mehrheit der Gehörlosen arbeitete in handwerklichen Berufen, in der Landwirtschaft oder als HilfsarbeiterInnen in der Industrie, viele konnten keine ordentliche Berufslehre absolvieren und diverse Berufsgruppen, insbesondere im sozialen Bereich und im Dienstleistungssektor, blieben ihnen ganz verschlossen. Schließlich kann gezeigt werden, dass gehörlose Menschen aufgrund ihrer Beeinträchtigung weniger flexibel auf veränderte Anforderungen in den Berufen reagieren konnten, da ihnen der Zugang zu betriebsinternen Weiterbildungen oftmals verschlossen blieb.

Geschlechtsspezifischer Zugang zur Berufswelt Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Mehrheit der männlichen und weiblichen Arbeitnehmenden in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in der Industrie »ungelernt«, das heißt ohne anerkannten Ausbildungsabschluss.74 Erst nach 1950 wurde die Berufsbildung zur »Schule der Nation«, was sich in einer steigenden Anzahl Lehrverhältnissen spiegelt. Dennoch war sowohl der Arbeitsmarktzugang als auch die Berufsbildung für heranwachsende Frauen stets 72 | Vgl. z.B. Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen, Hg., Jahresbericht 1956/57, 8. 73 | Vgl. z.B. StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossier Nr. 280. 74 | Vgl. Redaktion, »Berufsbildung«, In Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 24.8.2012, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13911.php.

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anders als für Männer. Auch Gehörlose waren von den unterschiedlichen Ausbildungschancen und der herrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung betroffen. Alle bis 1929 vom Eidgenössischen Statistischen Amt erhobenen gesamtschweizerischen Daten zu den Schulentlassenen zeigen, dass gehörlose jugendliche Mädchen seltener eine Berufslehre absolvierten als Knaben und auch weniger oft einer Erwerbstätigkeit nachgingen.75 Daran hat sich auch in den folgenden Jahren nichts geändert, wie eine Erhebung von Werner Kunz über »Taubstumme im Erwerbsleben« aus dem Jahr 1939 bestätigt.76 Auch Marta Muggli, die im gleichen Jahr ihre Diplomarbeit zu den »Lebensschwierigkeiten weiblicher Gehörloser nach Entlassung aus der Taubstummenanstalt« Zürich-Wollishofen vorgelegt hatte, kommt zum Schluss, dass in der Berufsbildung grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestünden und die Mädchen »noch schlechter gestellt [sind] als die Burschen«.77 Da gehörlose Menschen meistens »maschinelle oder ganz einfache« Tätigkeiten ausübten, stand für Muggli außer Frage, dass sie gleichermaßen wie Hörende berufliche Erfüllung finden könnten.78 Die Einschätzung, dass Gehörlose offenbar sowieso keinen Zugang zu sinnstiftenden Arbeiten hatten, galt Muggli als Begründung dafür, dass die Berufswahl, respektive die Berufswünsche der Gehörlosen, nicht in den Mittelpunkt gestellt wurden. Für Muggli, welche die 1939 vom Zürcher Fürsorgeverein für Taubstumme eingerichtete Fürsorgestelle für taubstumme Frauen und Töchter des Kantons Zürich leitete, war stattdessen die Frage zentral, wo die jungen gehörlosen Frauen am besten untergebracht werden konnten. Muggli war der Meinung, dass sogenannt schwachbegabte gehörlose Frauen am besten in Privathaushalten aufgehoben waren, da sie dort am wenigsten sittlichen Gefahren – insbesondere dem Kontakt zu gleichaltrigen Männern – ausgesetzt wären und auch in ihrer Freizeit stets überwacht werden könnten.79 Generell würden sich Familien mit 75 | Für die Jahre 1916 bis 1929 vgl. Eidgenössisches Statistische Bureau, Hg. Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1926, 35. Jg., (Bern: Stämpfli & Cie., 1927), 311; Eidgenössisches Statistisches Amt, Hg., Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1931, 39. Jg., (Bern: Stämpfli & Cie., 1932), 328. Ab 1930 wurden keine Daten mehr erhoben. 76 | Werner Kunz, Taubstumme im Erwerbsleben. Eine Erhebung über die Arbeits- und Lohnverhältnisse der schweizerischen Taubstummen (Bern: [s.n.], 1940), 7-8. 77 | Marta Muggli, »Lebensschwierigkeiten weiblicher Gehörloser nach Entlassung aus der Taubstummenanstalt und Vorschläge zur Überwindung: Eine Erhebung bei 65 weiblichen taubstummen Erwachsenen ledigen Standes im Kanton Zürich« (Unpublizerte Diplomarbeit, Soziale Frauenschule Zürich, 1939), 12. Vgl. auch August Gukelberger, Taubstummenbildung und Taubstummenfürsorge im Kanton Bern (Bern: Bernischer Fürsorgeverein für Taubstumme, 1947), 22-23. 78 | Muggli, »Lebensschwierigkeiten«, 11. 79 | Ebd.

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kleinen gehörlosen Kindern und ältere Ehepaare besonders gut eignen. Auch sollte sich der Lebensstandard der Familie nicht zu stark von jenem der jungen Frauen unterscheiden, weil diese aufgrund ihrer »geistigen Starrheit« nicht zwischen ihrer eigenen Lage als Angestellte und den privilegierteren Verhältnissen der arbeitgebenden Familie zu differenzieren wüssten.80 Eine deutliche Schlechterstellung der gehörlosen Frauen im Berufsleben kann auch für die durch Clara Iseli betreuten Ehemaligen festgestellt werden. Wie die obengenannten Beispiele von Alice Iten und Irma Koller bereits andeuteten, kehrte der Großteil der aus der Taubstummenanstalt ausgetretene gehörlosen jungen Frauen ins Elternhaus oder zu den Geschwistern zurück und half dort im Haushalt und/oder war in der Heimarbeit tätig – vorwiegend in der Textilindustrie. Dadurch waren sie in der Regel stark von der Außenwelt isoliert, da viele aus ländlichen Regionen stammten, wo sie kaum in Kontakt mit anderen Gehörlosen und Bekannten aus der Schulzeit kamen. Diese von der Fürsorge dokumentierte »Einsamkeit« vieler erwachsener Gehörloser beeinflusste auch die sprachlichen Kompetenzen der Ehemaligen und führte dazu, dass viel erworbenes Wissen und viele der lautsprachlichen Kommunikationsfähigkeiten rasch verloren gingen, sobald die Gehörlosen aus der Schule austraten. Damit verschlechterten sich die Chancen zusätzlich, zu einem späteren Zeitpunkt eine Lehre zu beginnen oder erwerbstätig zu werden. Wenn gehörlose junge Frauen nicht im Haushalt aushalfen oder in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, fungierten sie oftmals als Teilzeit arbeitende, im Stundenlohn bezahlte Hilfskräfte oder Aushilfen, die von Clara Iseli zusammen mit den Aufsichtspersonen in der ganzen Schweiz an Arbeitgeber und oft auch soziale Institutionen vermittelt wurden. Die 1920 geborene Doris Breu z.B., die zwischen 1927 und 1936 die Schule besuchte, arbeitete bei der Kontaktaufnahme durch Clara Iseli 1942 als Glätterin in einer Waschanstalt in St. Gallen.81 Von Iseli als »labiles Wesen« beschrieben, folgten in den nächsten 18 Jahren Kurzbeschäftigungen bei zwei weiteren Wäschereien, in einer Chemischen Waschanstalt in Wil, in einer Nervenheilanstalt im Kanton Zürich, im Krankenhaus Herisau, in einem Altersheim in St. Gallen sowie bei vier Privatpersonen. Die harte Arbeit setzte Doris Breu arg zu, so dass sie bereits im jungen Alter von 33 Jahren über Rückenprobleme und »Schmerzen im Arm« klagte und mehrere Spitalaufenthalte nötig hatte. Die 1919 geborene Therese Juon wiederum, die Iseli als »befehlshaberisch und frech« charakterisierte, kam nach dem Schulaustritt 1934 zuerst zu ihren Eltern in den Berner Jura, wo es nach kurzer Zeit zu »Zerwürfnissen« kam, weshalb sie als Dienstmädchen im Berner Taubstummenheim Wylergut unter80 | Ebd. 81 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossier Nr. 337.

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gebracht wurde.82 Nach mehreren weiteren Stationen landete sie im Altersheim Gontenbach, wo sie als Zimmermädchen für einen Monatslohn von 70 Franken arbeitete. Ihre Tante, die eine enge Bezugsperson war, liess Clara Iseli wissen, »dass Therese in Gontenbach unter der neuen Oberin recht ausgenützt werde und stets die niedrigsten Arbeiten besorgen müsse«. Kurz darauf trat Therese Juon eine neue Stelle in einer Pension in St. Gallen an, wechselte nach nur wenigen Monaten in ein Waadtländer Sanatorium, fand anschließend eine Anstellung als Glätterin in einem Konfektionshaus in Lugano bevor sie in einer Basler Bäckerei zu arbeiten begann. Ihre beruflichen Wünsche in die Realität umzusetzen, gelang vielen gehörlosen Frauen trotz der Intensivierung der Berufsberatung und Eingliederungsarbeit durch Clara Iseli nicht. Die 1941 geborene und »stark schwerhörige« Maria Gerber z.B., deren Berufswunsch es war, Damenschneiderin zu werden, war nach ihrem Schulaustritt 1956 zuerst während drei Jahren in ihrem bäuerlichen Elternhaus beschäftigt. Statt eine Schneiderinnenlehre aufzunehmen, in der sie den Eltern nicht mehr gleich zur Verfügung gestanden wäre, nahm sie nur sporadisch an Weiterbildungskursen der Frauenarbeitsschule St. Gallen teil, die Näherinnen ausbildete.83 Auch ihr zwischenzeitlich aufgekommener Berufswunsch Säuglingspflegerin scheiterte, weil sie die Probezeit in einem Kinderheim nicht bestand und dem Schulunterricht nicht folgen konnte. Ob das dritte, im Oktober 1960 zuletzt in die Akten eingetragene Berufsziel Köchin realisiert werden konnte, ist unklar.

Berufswahl ohne Wahl: die »Taubstummenberufe« von gehörlosen Frauen und Männern Gehörlose profitierten ungleich weniger stark von der Bildungsexpansion der Nachkriegszeit als hörende Menschen. Neben dem geschlechtsspezifischen Zugang zur Arbeitswelt war die Berufswahl für alle gehörlosen SchülerInnen bis in die 1950er Jahre begrenzt. Von den wenigen gehörlosen Frauen, die eine Lehre absolvieren konnten, arbeiteten die meisten als Näherinnen oder Schneiderinnen in umliegenden Stickereien und Manufakturen, teils auch als Wäscherinnen und Glätterinnen in grösseren Betrieben wie Spitälern. Die ausgebildeten Männer wiederum waren großmehrheitlich als Schneider, Schuhmacher oder Schreiner tätig. Über den Untersuchungszeitraum sind kaum Entwicklungen feststellbar. Bis Ende der 1950er Jahre arbeiteten nur die wenigsten der durch Clara Iseli begleiteten Ehemaligen in anderen Berufen. Sowohl für Frauen als auch für Männer galt, was Werner Kunz 1939 in seiner Untersuchung »Taubstumme im Erwerbsleben« aufgefallen war: »Haus82 | Ebd., Dossier Nr. 14. 83 | Ebd., Dossier Nr. 536).

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haltung und Landwirtschaft sind die grossen Sammelbecken für diejenigen, welche sich in einem andern Berufe nicht halten konnten.«84 Auch – oder gerade weil – Clara Iseli den Fokus auf die Berufswahl und die Lehrstellenvermittlung richtete, hat sich am berufsspezifischen Zugang zur Arbeitswelt in der Nachkriegszeit nichts geändert. In einem undatierten Referat über die »Berufswahl und Stellenvermittlung bei Gehörgeschädigten« plädierte sie zwar dafür, dass sich die Gehörlosenpädagogik von der Vorstellung spezifischer »Taubstummenberufe« wie Bäcker, Schreiner, Schneider oder Schuhmacher – spezifisch weibliche Berufe wurden nicht genannt – lösen müsse. Zugleich schränkte sie aber ein: »Ungeeignet für Leute mit Gehörbehinderung sind wohl alle Berufe, in denen die Sprache die primäre Rolle spielt, z.B. die sozialen und erzieherischen. Im Verkehr, in der Verwaltung, im kaufmännischen Sektor (dort mit wenigen Ausnahmen) werden wir kaum Gehörlose finden.« 85 Selbst die Fürsorgerin, welche die gehörlosen Jugendlichen in der Berufswahl unterstützte, war also dezidiert der Meinung, dass das Berufsfeld, welches den Gehörlosen zugänglich ist, zwar vergrößert werden müsse, nicht aber frei zugänglich sein könne. Berufe, die für die Gehörlosen in Frage kamen, beschränkten sich vorwiegend auf handwerkliche, gewerbliche und mechanische Tätigkeiten. Dass Gehörlose Zugang zu höherer Bildung bekommen könnten, stand für Iseli außer Frage. Deutlich wird dies in der Aussage, dass technische Berufe wie beispielsweise BauzeichnerIn »eigentlich eine Mittelschule voraussetzten« und deshalb nur »ausnahmsweise für Gehörbehinderte« beziehungsweise nur für »unsere begabtesten Jungen« zugänglich seien.86 Clara Iseli evaluierte die Fähigkeiten der Gehörlosen zusammen mit dem Anstaltsleiter, dem Lehrpersonal, den Eltern und teilweise unterstützt durch Berufsberatungsstellen. Auch die entsprechende Wahl eines geeigneten Berufes trafen die gehörlosen SchülerInnen nicht selbst. Offensichtlich gelang es Iseli in der Regel nicht, sich mit den Gehörlosen über deren eigene Zukunftsvorstellungen zu verständigen. Eigentliche »begründete Berufsneigungen« sah sie bei ihren »Zöglingen« nur »hie und da«, weil die »Möglichkeiten […] für [sie] konkret nicht erfahrbar« seien. Auch Gespräche über die Berufswahl waren laut Iseli nicht möglich, da die sprachlichen Fähigkeiten der Jugendlichen zu gering, ihr Wortschatz zu klein seien.87 Statt die sichtbar gewordenen Defizite der Lautsprachenbildung selbstkritisch zu hinterfragen, war Iseli der Mei-

84 | Kunz, Taubstumme, 20. 85 | StASG, W 205/01-50, Clara Iseli, Vortrag »Berufswahl und Stellenvermittlung bei Gehörgeschädigten«, o.J. [nach Einführung der IV 1960], 4. 86 | Ebd., 3-4. 87 | Ebd., 7-8.

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nung, die Kinder müssten eben »um ihre Grenzen wissen«.88 Ähnlich schätzte sie die Kapazitäten der Eltern ein. Auch sie würden die beruflichen Perspektiven ihrer Kinder oftmals überschätzen. Aus diesem Grund führte sie Wochenendkurse zur Aufklärung der Eltern durch, die unter anderem dazu dienten, »sie in diesem Rahmen von ihren verstiegenen Ideen von Berufswünschen für ihr Kind herunter zu holen. Eltern haben ja oft ganz falsche Berufsvorstellungen und Masstäbe [sic!] für ihr Kind, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen«.89 Es muss an dieser Stelle offen blieben, ob die hohen Erwartungen der Eltern möglicherweise die durchaus vorhandenen und ihnen auch bekannten Berufswünsche ihrer gehörloser Kinder widerspiegeln, die selbst nicht die Möglichkeit hatten, sich in den Berufswahlprozess einzubringen. Obwohl die Lehrstellenvermittlung mit der neuen Fürsorgestelle intensiviert wurde, blieben die Chancen gehörloser Menschen in der Deutschschweiz Mitte des 20. Jahrhunderts stark begrenzt. Die Fürsorge hatte entscheidend zu diesem beschränkten Zugang beigetragen, indem sie Berufswünsche von Gehörlosen als nicht realisierbar klassifizierte und sie auf die Eignung für vorwiegend manuelle Tätigkeiten reduzierte. Der gesamte Berufswahlprozess, der durch die Errichtung der Fürsorgestelle professionalisiert wurde, war von diskriminierenden Vorurteilen, Kommunikationsschwierigkeiten und paternalistischem Fürsorgedenken geprägt. Für beide Geschlechter galt, dass die Integration in den Arbeitsmarkt keineswegs in alle Berufszweige gleichermaßen gelang und das, obwohl die Fachhilfe in den 1940er Jahren die noch immer verbreitete Vorstellung von »typischen Taubstummenberufen« kritisierte.

Nicht häufiger arbeitslos, aber weniger Entwicklungschancen: Gehörlose auf dem Arbeitsmarkt Neben dem geschlechtsspezifischen Zugang zur Arbeitswelt und den eingeschränkten Berufswahlmöglichkeiten waren die berufstätigen Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen in erhöhtem Maße in Positionen tätig, die nicht ihren Qualifikationen entsprachen und in denen sie nicht ihre gesamten Fähigkeiten entfalten konnten. Eine verbesserte Berufswahl und erste Eingliederung in die Berufswelt bedeutete darüber hinaus noch nicht, dass der erlernte Beruf auch dauerhaft ausgeübt werden konnte.

88 | Aussage von Hans Ammann aus dem Jahr 1939, zit.n.: Schlegel et al., 125 Jahre, 62. 89 | StASG, W 205/01-50, Clara Iseli, Vortrag »Berufswahl und Stellenvermittlung bei Gehörgeschädigten«, o.J. (nach Einführung der IV 1960, Hinweis Seite 9), 6.

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Wie Gertrud Hanselmann in ihrer Diplomarbeit über die sogenannt normalbegabten Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen zeigen konnte, waren Gehörlose in der Ostschweiz Mitte des 20. Jahrhunderts nicht öfter arbeitslos als Hörende.90 Konjunktureinbrüche wie die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre oder auch saisonale Schwankungen trafen gehörlose und hörende Arbeitnehmende gleichermaßen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten stellte Hanselmann insbesondere bei den Kündigungsgründen Unterschiede fest.91 Vielen Gehörlosen wurde gekündigt, weil sie sich den steigenden Anforderungen einer sich rapide technisierenden Berufswelt nicht anpassen konnten. Die »betrübliche Feststellung, dass sich nur ein kleiner Prozentsatz der normalbegabten Taubstummen beruflich weiter entwickeln kann, ist zum größten Teil darauf zurückzuführen, dass die dem Hörenden offen stehenden Fortbildungsmöglichkeiten dem Taubstummen verschlossen sind«.92 Gemäß Hanselmann scheiterten die Weiterbildungsmöglichkeiten für Gehörlose meist an sprachlichen Hürden, welche die schulische Lautspracherziehung offensichtlich nicht beheben konnte. So konnten die Gehörlosen den Instruktionen durch die Weiterbildungslehrpersonen oft nicht folgen, da auf sie keine Rücksicht genommen wurde. Die gehörlosen Angestellten waren aber scheinbar auch nicht fähig, sich schriftlich über die Veränderungen in den Arbeitsabläufen zu instruieren. Folglich waren Veränderungen im Berufsbild, insbesondere in gelernten Berufen, für Gehörlose oft mit einem Stellen- und in der Regel mit einem Lohn- und Statusverlust verbunden. Zwar bot die Fürsorgestelle um Clara Iseli regelmäßig Fortbildungskurse für die Ehemaligen an, welche den Akten zufolge rege besucht wurden, doch war Gehörlosen der Zugang zu innerbetrieblichen spezifischen Umschulungen oft verwehrt.93 Um zu vermeiden, dass die Gehörlosen aufgrund ihrer Beeinträchtigung die Stelle verloren, nahmen Fachpersonen Überqualifikationen und Lohneinbußen in Kauf. So erachtete es Hanselmann als gute Lösung, dass eine gelernte Schneiderin den Posten einer angelernten Näherin einnahm, da sie in der Lehre bereits alles Notwendige gelernt hatte, was den hörenden ungelernten Mitarbeiterinnen fortlaufend erklärt wurde.94 Hanselmann war aber auch der Meinung, dass gerade die Anlehre (das heißt eine verkürzte Ausbildung ohne vollwertige Berufsqualifikation und ohne Fähigkeitszeugnis) bei Gehörlosen gefördert werden müsse, da im Gegensatz zur ordentlichen Be90 | Gertrud Hanselmann, »Der normalbegabte Taubstumme im Erwerbsleben. Erhebung bei den Ehemaligen der Taubstummen-Anstalt St. Gallen« (Unpublizierte Diplomarbeit, Soziale Frauenschule Zürich, 1948). 91 | Hanselmann, »Taubstumme«, 8-9. 92 | Ebd., 48. 93 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982. 94 | Hanselmann, »Taubstumme«, 46.

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rufslehre dort das Lernpensum flexibler sei und die Anlehre je nach Bedürfnis und Lerntempo zwischen wenigen Monaten und einigen Jahren dauern konnte. Erst an zweiter Stelle forderte Hanselmann den Ausbau von Weiterbildungsmöglichkeiten für gehörlose Berufsleute. Wie die von Clara Iseli angelegten Akten zeigen, wurden Gehörlose, die sich gegen empfundene Ungerechtigkeiten und prekäre Arbeitsbedingungen wehrten, von der Fürsorge oft nicht ernst genommen. So z.B. der 1919 geborene Johan Huber, der zwischen 1928 und 1936 Schüler in der Taubstummenanstalt St. Gallen war.95 Obwohl Clara Iseli ihn sowohl schulisch als auch charakterlich als »gut« einschätzte, war es nicht gelungen, ihm nach Austritt aus der Anstalt eine Lehrstelle zu vermitteln, weshalb er als Hilfsarbeiter tätig war – zuerst in diversen Webereien, dann als »Hausbursche und Gartengehilfe« in der Appenzeller Erziehungsanstalt Lärchenheim Lutzenberg. Mehrfach ist in den Akten vermerkt, dass sich der junge Mann über zu strenge körperliche Arbeit beklagte (er bekomme »Schwindel & geschwollene Füsse«) und gegen zu tiefen Lohn wehrte (»Johan möchte mehr Lohn, sonst gefalle es ihm nicht mehr«). Dabei fällt auf, dass neben solchen Forderungen oftmals abschätzige Beschreibungen seines Charakters notiert wurden. So heißt es etwa in einem Eintrag vom 28. Februar 1948: »Johan hat wieder einmal den Rappel. Er kann sehr böse sein, wenn ihm irgend ein Gegenstand fehlt. Es sind immer kleine Sachen, die ihn aus der Ruhe bringen.« Später, im Januar 1952, hielt Iseli fest: »Johan ist gegenwärtig in St. Gallen. Hr. Pfr. Graf hat ihn geholt, weil es in der Fabrik zu einem grossen Zwischenfall kam, wobei sich Johan wie ein Tier gebärdete«. Die Formulierung »wie ein Tier gebärdete« und auch die geschilderten Anliegen des jungen Mannes nach besseren Anstellungsverhältnissen legen den Schluss nahe, dass es sich bei der erwähnten Auseinandersetzung um einen in erster Linie durch Kommunikationsschwierigkeiten verursachten Zwischenfall handelte. Zuvor konnte er bereits einmal eine Stelle nicht antreten, da der zukünftige Arbeitgeber Sprachprobleme befürchtete, nachdem er ihm die Zusage bereits gemacht hatte. Anstatt in der Konfliktsituation vermittelnd einzuschreiten, veranlasste die Fürsorge, dass der gehörlose Mann nach St. Gallen zurückgeholt wurde, von wo aus er kurz darauf in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau gebracht und dort für ein halbes Jahr interniert wurde. Auch in der Berufswelt etablierte Gehörlose hatten nicht immer die Möglichkeit, frei über berufliche Entscheidungen wie beispielsweise einen Stellenwechsel zu befinden. Der 1924 geborene Alois Hugentobler begann unmittelbar nach Schulaustritt 1942 in einer Blechnerei zu arbeiten und wollte im darauffolgenden Jahr aufgrund seines langen Arbeitsweges die Stelle wech95 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossier Nr. 61.

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seln. Obwohl die Möglichkeit bestand, dem jungen Mann eine Arbeit in einer nahe gelegenen Drogerie zu vermitteln, blieb er in der Blechnerei beschäftigt, weil Iseli es »besser [fand], wenn er weiterhin dort bleibt«, da die Blechnerei viel Verständnis für »ihre Leute« habe.96 Als Vermittlerin von Arbeitsstellen für Gehörlose hatte Clara Iseli also auch die Kompetenz, sich über die Wünsche der Gehörlosen hinwegzusetzen und ihnen die Möglichkeit eines Stellenwechsels zu verwehren.

S oziale E xklusion und gesellschaf tliche M arginalität von G ehörlosen Die Gehörlosenpädagogik und -fürsorge der Taubstummenanstalt St. Gallen erreichte nur teilweise ihr Ziel, gehörlose Erwachsene in die Berufswelt einzugliedern und sie zur finanziellen Unabhängigkeit zu erziehen. Zu stark wurden die Bemühungen um Arbeitsmarktintegration von normativen Bedingungen, moralisierenden Diskursen und fehlenden Ausbildungsstrukturen verhindert. Doch nicht nur die berufliche Ausbildung und Eingliederung blieben selektiv, auch waren die Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen bis in die 1950er Jahre kontinuierlichen sozialen Ausschlussmechanismen ausgesetzt. Wie es im Folgenden zu zeigen gilt, blieb das soziale Umfeld der erwachsenen Gehörlosen trotz oder gerade wegen der lautsprachlichen Bildung stets begrenzt: Für viele erwachsene Gehörlose waren ihre Familie, die Gehörlosenfachpersonen und die LehrmeisterInnen die einzigen Bezugspersonen. In vielen Fällen kann sogar von einer regelrechten sozialen Isolation nach Austritt aus der Anstalt gesprochen werden. Zudem wurden viele Gehörlose in Bezug auf ihre Möglichkeiten, eine Partnerschaft einzugehen oder gar eine Familie zu gründen, eingeschränkt und der scharfen sozialen Kontrolle durch die Fürsorge unterworfen. Auch hier zeigt sich wiederum eine geschlechtsspezifische Ausprägung.

Soziale Isolation und Kommunikationsprobleme im Alltag Dass gehörlose Menschen ungleich häufiger sozial isoliert lebten und gesellschaftlich marginalisiert waren als Hörende, hatte mehrere Gründe. Zum einen wurden die Kontakte unter Gehörlosen von den Fachpersonen stets mit einem gewissen Misstrauen betrachtet. Vor allem die Gebärdensprache, mit denen Gehörlose oftmals miteinander kommunizierten, wurde von der Fachpädagogik und Anstaltsleitung als hinderlich für die Integration in die hörende

96 | Ebd., Dossier Nr. 354.

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Gesellschaft betrachtet.97 Damit nahmen sie die soziale Isolation der Gehörlosen bewusst in Kauf. Zwar verstand sich die Gehörlosenfürsorge als Kompensation für mangelnde soziale Kontakte für ihre gehörlosen Schützlinge, doch konnte sie die Lücke nur bedingt schließen. Weiter bedeutete der Rückzug ins Elternhaus, der bei vielen Gehörlosen vor der Erneuerung der Fürsorgepraxis in den 1940er Jahren auf den Schulaustritt folgte und für viele junge Frauen auch noch in der Nachkriegszeit eine Realität war, dass ihre Familienmitglieder meist die einzigen Bezugspersonen waren. Die – zumeist weiblichen – Gehörlosen wurden zwar in der Regel von ihren Verwandten in Haushalt und Landwirtschaft als vollwertige Arbeitskraft eingesetzt. Anders als familienexterne Hausangestellte wurden sie aber nur ungenügend entlohnt, in der Regel arbeiteten sie für Kost und Logis und bestenfalls ein Taschengeld. Dadurch war es ihnen unmöglich, Ersparnisse anzusammeln, wodurch einerseits ein eklatantes wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis entstand.98 Andererseits führte dies zu einer sozialen Abhängigkeit und Unselbstständigkeit, die sich besonders stark zeigte, wenn z.B. die Eltern starben und die vormalige Stabilität ins Wanken geriet. Da die meist ungelernten Gehörlosen weder beruflich noch sozial auf eigenen Beinen stehen konnten, wurden sie nach dem Tod ihrer Eltern nicht selten in Bürgerheimen untergebracht.99 Die 1898 geborene Harriet Locher z.B., die zwischen 1909 und 1915 die Schule besucht hatte, anschließend keinen Beruf erlernte, sondern ihrem alleinstehenden Vater im Haushalt half, wurde nach dessen Tod innerhalb zweier Jahre mehrfach umplatziert.100 Nachdem sie die »an sie gestellten Anforderungen« an eine ihr vermittelte Arbeitsstelle »als Beihilfe« in einem Altersheim nicht erfüllen konnte, nahm sie die in Schaff hausen wohnhafte Familie ihres Bruders kurzzeitig auf. Kaum ein Jahr später entschieden sich die Geschwister zuerst für eine Platzierung im Bürgerheim Ebnat, dann im Hirzelheim Regensberg. Bei der 53-Jährigen wurden bald darauf »geistige Störungen« diagnostiziert, sie wurde bevormundet und in die Heil- und Pflegeanstalt Realta im Kanton Graubünden versetzt, wo sie bis zum Ende der Aktenführung blieb. Das Beispiel zeigt, wie der Alltag eines gehörlosen Menschen nach dem Tod einer Bezugsperson außer Kontrolle geraten und zum Verlust jeglicher Selbstständigkeit führen konnte. Andere wiederum wurden direkt nach Schulaustritt in eine Klinik eingewiesen und damit sozial und gesellschaftlich isoliert, 97 | Vgl. Bühr, Das taubstumme Kind, 15-23. 98 | Hanselmann, »Taubstumme«, 50. 99 | Vgl. Harriet Schnider, »Die Lage der Taubstummen im Alter von über 50 Jahren in den Kantonen St. Gallen und Appenzell. Anhand von 55 Beispielen« (Unpublizierte Diplomarbeit, Soziale Frauenschule Zürich, 1950). 100 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossier Nr. 360.

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so die 1915 geborene und nach einer Hirnhautentzündung im ersten Lebensjahr ertaubte Monika Hiller, die zwischen 1922 und 1930 die Schule besuchte. Nach einer Visite in der Psychiatrischen Klinik Wil notierte Clara Iseli: »Bei einem Besuch reagierte Monika gar nicht. Sie stand apathisch da und schaute nicht einmal auf. Die Hände waren ihr in Fäustlinge gebunden, damit sie nicht kratzen kann.«101 Wie bereits oben angedeutet, war aggressives Verhalten gehörloser Menschen nach Kritiken von Arbeitgebern oder Angehörigen oft auf Schwierigkeiten in der lautsprachlichen Verständigung zurückzuführen. Auch scheiterten berufliche Neuorientierungen von gehörlosen Menschen häufig an Kommunikationsschwierigkeiten und mangelnder Lautsprachkompetenz. Missverständnisse und Verständigungsprobleme führten jedoch auch im sozialen Leben zu großen Herausforderungen und Enttäuschungen. Für gehörlose Menschen ergaben sich durch ihre Behinderung generell eklatante Nachteile: Hörende Mitmenschen – und dazu gehörten selbst die hörenden Fachleute wie die Anstaltsleitung oder die Fürsorgerin – waren oftmals nicht in der Lage, die Bedürfnisse und Sorgen der Gehörlosen richtig einzuschätzen. Gerade wenn die Fürsorge mit komplexen Problemsituationen konfrontiert war, ist in den Akten vermerkt, dass die gehörlose Person nicht verstanden werden konnte. So schreibt Clara Iseli über den 1936 geborenen, zwar »debilen« aber gut begabten angelernten Schreiner Robert Sutter, der stets als hervorragender Arbeiter bezeichnet worden war, jedoch nach dem Tod seiner Pflegemutter und der Platzierung in einem Bürgerheim im St. Galler Bezirk Werdenberg seine Stelle und damit die gesamte Stabilität verlor: »Robert ist unglücklich im Bürgerheim und es ist zu vermuten, dass sein ganzes renitentes Wesen aus diesem Unglücklichsein herauskommt.« Einerseits gelang es der Fürsorgerin offenbar nicht, sich mit Robert Sutter über sein Befinden zu unterhalten, das nur zu »vermuten« sei. Weiter brachte sie auch seine Probleme bei der Arbeit (Klagen über Schmerzen und reduzierte Arbeitsleistung) nicht mit dem Verlust seiner Pflegemutter in Zusammenhang. Iseli beurteilte ausschließlich den sogenannten Arbeitscharakter des 22-Jährigen, seinen persönlichen Schwierigkeiten schenkte sie keine Beachtung und überging sie sogar, in dem sie ihm »renitentes« Verhalten vorwarf.102 Nicht nur in diesem Fall wurde das (Miss-) Verhalten von erwachsenen Gehörlosen von Iseli als Wesenszug interpretiert und nicht nach einem möglichen Verständigungsdefizit zwischen Hörenden und Gehörlosen gefragt. Immer wieder stießen selbst die Fachpersonen an ihre kommunikativen Grenzen, wenn es um die Verständigung mit erwachsenen Gehörlosen ging, die nicht mehr täglich dem »Training« der Lautspracherziehung ausgesetzt 101 | Ebd., Dossier Nr. 503. 102 | Ebd., Dossier Nr. 419.

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waren. So stellte Clara Iseli bei der Kontaktaufnahme häufig fest, dass Gehörlose bereits seit Jahren oder gar Jahrzehnten ohne regelmäßige sprachliche Unterstützung in Familien und Anstalten lebten und die erlernten Fähigkeiten teils verloren hatten. Wie das Beispiel der 1919 geborenen Mina Bauer zeigt, war der in der Schule praktizierte Lautsprachunterricht oft wenig nachhaltig.103 Mina Bauer, die 1935 aus der Schule entlassen wurde und nach abgebrochener Ausbildung als Näherin im elterlichen Haushalt mithalf, war in der Schule stets ein »fröhliches und kluges Mädchen« gewesen, durch »Isolierung auf dem Lande« aber scheu, zurückgezogen und »still« geworden. Dem Mädchen war es in ihrem familiären Umfeld offenbar nicht möglich, sich adäquat zu artikulieren und mit ihrer Umwelt lautsprachlich zu unterhalten. Erschwerend kam hinzu, dass der Vater Analphabet war und sie sich nach dem Tod der Mutter 1954 nicht mehr schriftlich verständigen konnten. Das Beispiel scheint keinesfalls einzigartig gewesen zu sein. Iseli hält in ihren Akten mehrfach fest, dass es kaum noch möglich war, mit den Ehemaligen zu kommunizieren, da der oftmals beschränkte Wortschatz der Gehörlosen nach Schulaustritt und dem damit verbundenen Verlust des gewohnten Umfelds noch einmal stark schrumpfte oder die mühsam erlernten Laute ohne stete Übung und Repetition nicht mehr auseinandergehalten werden konnten. Zum selben Schluss kommt auch Nelly Eichenberger, die sich 1954 in ihrer Diplomarbeit mit der »Verkehrs- und Kontaktfähigkeit« ehemaliger St. Galler AnstaltsschülerInnen auseinandersetzte. Mit Bezug auf eine junge Frau, die ähnlich wie die oben genannte bei ihren Eltern wohnte und arbeitete, fragte sie treffend: »Was nützt dieser Tochter die Sonderschulung, die Mühe ihrer einstigen Lehrer, sie für das Leben vorzubereiten und selbständig werden zu lassen, wenn sie daheim verkümmern muss?«104

Eheberatung, »Taubstummenehen« und Familiengründung Gehörlose Menschen waren in der Zwischen- und Nachkriegszeit nur selten verheiratet. Clara Iseli schätzte die Zahl der verheirateten Gehörlosen 1955 in der Ostschweiz auf rund fünf Prozent.105 Auch die von ihr betreuten Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen schlossen nur in Einzelfällen eine 103 | Ebd., Dossier Nr. 401. 104 | Nelly Eichenberger, »Was beeinflusst die Verkehrs- und Kontaktfähigkeit des schulentlassenen Taubstummen?« (Unpublizierte Diplomarbeit, Soziale Frauenschule Zürich, 1954), 12. 105 | Clara Iseli, »Hilfe für Ehelose«, Pro Infirmis 8, Nr. 2 (1955): 39-42. Vgl. Marianne Ulrich, »Die Taubstummenehe und ihre praktische Auswirkung. (Eine Erhebung bei 50 taubstummen Ehepaaren im Kt. Zürich)« (Unpublizierte Diplomarbeit, Soziale Frauenschule Zürich, 1943), 47.

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Ehe, darunter vor allem Männer, die teilweise auch Kinder hatten. Diese Ungleichheit kann zu einem grossen Teil auf die unterschiedliche Eheberatung und fachpädagogischen Empfehlungen für gehörlose Männer und Frauen zurückgeführt werden. So war etwa Marta Muggli Ende der 1930er Jahre der Meinung, eine »Verehelichung ertaubter Mädchen« sei in den meisten Fällen nicht ratsam und die jungen Frauen müssten sorgfältig in den »freiwilligen Verzicht geführt werden«.106 Die sittliche Kontrolle der entlassenen gehörlosen Frauen war denn auch eine der Hauptaufgaben der zürcherischen Fürsorgestelle für taubstumme Frauen und Töchter: »Es ist zu hoffen, dass mit der Zeit die Geisteskrankheiten taubstummer Mädchen und die Verwahrung wegen sittlicher Gefährdung durch ausgedehntere Führung der Nachschulpflichtigen wenigstens dort vermieden werden können, wo Mädchen bei der Entlassung aus der Anstalt in allen Beziehungen gesund waren.«107 Die diagnostizierte sittliche Gefährdung vieler gehörloser junger Frauen führte Muggli vor allem auf den fehlenden Gehörsinn zurück. Aufgrund der Hörbeeinträchtigung seien die Gehörlosen ausgesprochene »Augenmenschen« mit einer übersteigerten »Sensationslust«, die sich leicht durch visuelle Reize verführen liessen. So nähre z.B. das »Schaufensterschauen« während sonntäglichen Spaziergängen durch die Stadt das »Wunschleben taubstummer Mädchen, das […] manchmal groteske Formen annimmt« und die Unzufriedenheit fördere.108 Auch Clara Iseli beanstandete mehrfach und insbesondere bei Frauen unrealistische Vorstellungen vom Leben und plädierte nicht zuletzt deshalb für den »ehelosen Weg«.109 Nicht nur in Bezug auf berufliche Perspektiven waren die Möglichkeiten und Handlungsspielräume von weiblichen Gehörlosen also signifikant kleiner als jene von männlichen Gehörlosen. Auch in ihrem Privatleben unterstanden sie einer verstärkten Kontrolle. Sowohl Muggli als auch Iseli waren der sogenannten Taubstummenehe aber nicht generell abgeneigt. »Die praktische Erfahrung mit weiblichen Taubstummen lehrt, dass es in gewissen Fällen richtiger ist, auch bei Ertaubten einer Heirat zuzustimmen, sie sogar zu ermöglichen, wenn hiezu die wirtschaftlichen und geistig-seelischen Faktoren einigermassen gegeben sind. Es gibt, besonders unter den ertaubten Mädchen, solche, die ihrer Veranlagung wegen nicht eher zur inneren Ruhe kommen und für ihre Umgebung eine untragbare Last bedeuten, wenn sie nicht gar moralisch versinken oder gemütskrank werden. Die Ehe ist für sie der sichere Hafen, und es zeigt sich oft, das sie hernach ausgeglichene, fleissige und treue Menschen sind, die ihren Platz

106 | Muggli, »Lebensschwierigkeiten«, 32. 107 | Ebd., 34. 108 | Ebd., 23. 109 | Iseli, »Hilfe«, 39.

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durchaus recht ausfüllen«, so Muggli.110 Gehörlosen Frauen empfahl sie, sich nur mit ebenfalls gehörlosen Männern zu liieren.111 In ähnlicher Weise argumentierte Iseli, dass eine hörende Frau auf einen gehörlosen Mann einen positiven Einfluss haben könne, da sie ihm helfe, sich in die hörende Welt zu integrieren. Wenn es an dieser Stelle auch nicht explizit gesagt wird, so liegt dieser Anschauung dennoch die stereotype geschlechtsspezifische Vorstellung zugrunde, wonach Frauen dazu geeignet waren, sich um ihren beeinträchtigten Mann zu sorgen und ihn zu unterstützen, während ein hörender Mann durch eine gehörlose Frau bloß eingeschränkt würde. Dass die befürchtete sexuelle Gefährdung insbesondere der jungen gehörlosen Frauen die intensive Kontrolle und starke Einschränkung der Freiheiten rechtfertigte, zeigt sich auch am Beispiel der 1910 geborenen Judith Baumann, die sich gegen den Willen ihrer Mutter mit einem gehörlosen Mann verlobte.112 Über Judith Baumann schreibt Iseli, sie sei in ihrem »Widerstand kaum zu ertragen«, zudem seien »beide noch nicht aufgeklärt«. Auch hier zeigt sich einmal mehr, wie umfassend die Fürsorge Einblick nahm in den Alltag der Ehemaligen. Auffällig ist außerdem der Zusammenhang zwischen der Kritik an der Verlobung und der Bemängelung verschiedener anderer Verhaltensweisen. So notierte Iseli nebst ihrem angeblichen »Widerstand«, dass Judith Baumann nie in die Taubstummenanstalt komme, was ebenfalls als alarmierender Faktor des Ungehorsams und der Gefährdung gedeutet wurde. Solche »unmöglichen Beziehungen«, welche die Anstalt nicht dulden könne, führten oft zum Kontaktabbruch zwischen der Anstalt und den erwachsenen Gehörlosen.113 Aufgabe der Fürsorge sei es aber, so Iseli, »aus dem Hinterhalt zu beobachten und einzugreifen, wenn es nötig ist«.114 Akribisch sind denn selbst freundschaftliche Beziehungen zwischen erwachsenen Gehörlosen unterschiedlichen Geschlechts in den Fürsorgeakten vermerkt und bewertet. Dass die Fürsorgerin das Problem insbesondere in der weiblichen Sexualität sah, zeigen die getroffenen Maßnahmen. So wurden ausschließlich für Frauen Gesprächsrunden mit der Gehörlosenfürsorge organisiert, in denen mit viel »Liebe und Weisheit« über das »heikle Thema« Liebe und Ehe gesprochen wurde.115

110 | Muggli, »Lebensschwierigkeiten«, 33. 111 | Ebd. 112 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossiers Nr. 483. 113 | Muggli, »Lebensschwierigkeiten«, 25. 114 | StASG, W 205/01-23, Clara Iseli, Vortrag »Aus der Arbeit der Taubstummenfürsorgerin«, o.J., 8. 115 | Ebd.

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Wenn die Fürsorge in Absprache mit den Vormundschaftsbehörden und den Heimatgemeinden eine Heirat gut hieß, so meist erst nach einer ausgiebigen erbbiologischen Vorprüfung. Bei mehreren Ehemaligen intervenierte Clara Iseli, wenn eine der beiden Personen sogenannt erblich vorbelastet war. Der 1924 geborene Marcel Heuberger z.B., der sich »manche Frechheit« am Arbeitsplatz erlaubte und den Iseli als »zeitweise eigensinnig« charakterisierte, begann im Frühjahr 1957 eine Beziehung mit einer jungen Frau.116 Dazu notierte sich Iseli: »Beide Teile sind erblich so stark belastet, dass man eine Heirat nicht wagen dürfte.« Wo eine Heirat in Frage kam, wurde gehörlosen Paaren die Erlaubnis für eine Hochzeit oftmals nur zugestanden, wenn sich eine Person unterbinden ließ. Die beiden Ehemaligen Meret Gugger und Juri Karrer, die beide in den 1930er Jahren die Schule besuchten, bekamen 1952 von Juri Karrers Heimatgemeinde die Auflage, dass er sich sterilisieren lassen müsse, bevor einer Vermählung zugestimmt werde. Vorausgegangen war eine erbbiologische und ohrenärztliche Untersuchung an der Universitätsklinik Zürich durch den bekannten Schweizer Humangenetiker Ernst Hanhart (1891-1973) und den Hals-Nasen-Ohren Spezialisten Richard Luchsinger (1900-1993).117 »Bei Meret konnte eindeutig das vererbte Ohrenleiden festgestellt werden. Sie reagierte auch stark auf die Verstibularprüfung. Da in Juris Verwandtschaft Schwachsinn vorliegt und Meret vererbt schwerhörig ist, dürfen die Beiden nur heiraten, wenn sich Juri steril machen lässt. Die beiden Partner sind mit diesem Beschluss einverstanden«, so Iseli.118 Trotz Sterilisation wurde Meret Gugger wenige Monate später schwanger und brachte eine hörende Tochter zur Welt. »Es scheint etwas mit der Sterilisation nicht geklappt zu haben«, so Iseli lapidar. Die junge Familie wurde durch die Fürsorge, das Pfarramt und auch die hörende Umwelt umfassend betreut, das kleine Mädchen bezeichnete Iseli als »reizendes Kind«.119 Obwohl die Gehörlosigkeit der Eltern offensichtlich nicht in jedem Fall vererbt sein musste, blieb die Meinung, dass gehörlose Paare kinderlos bleiben sollten, bis in die 1950er Jahre weitgehend unbestritten. 116 | StASG, A 451/3.1.2-1 (Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossier Nr. 36). 117 | Vgl. Thomas Huonker, Diagnose: »moralisch defekt«. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970 (Zürich: Orell Füssli, 2003), 119-120.; Pascal Germann, »Vergessene Kooperationen: Ernst Hanhart, die deutsche Rassenhygiene und die Anfänge der Humangenetik in der Schweiz«, Schweizerische Ärztezeitung 98, Nr. 8 (2017): 262-265. 118 | StASG, A 451/3.1.2-1, Gehörlose Schülerinnen und Schüler (1939-1982), Dossiers Nr. 95. 119 | Ebd., Dossiers Nr. 95 und Nr. 305.

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Während es sich im Fall von Meret Gugger und Juri Karrer um eine durch Eheverbot angedrohte sogenannte freiwillige Sterilisation handelte, hatte die 1916 geborene Myrta Looser keine Wahl.120 Unmittelbar nach ihrem Schulaustritt 1931 wurde sie unter Vormundschaft gestellt, da sie als sittlich »sehr gefährdet« und »unheilbar mannssüchtig« galt. Nachdem es im Mädchenasyl Nonnenweg in Basel und im Zufluchtsheim Frauenfeld zu Schwierigkeiten gekommen war, ordnete ihre Heimatgemeinde auf Anraten von Ulrich Thurnheer, aber entgegen der Meinung ihres Vormunds Frau Höhn, eine Sterilisation an. Wie Höhn, die beim Thurgauer Frauensekretariat arbeitete, in einem Brief an Thurnheer schrieb, sei es ihr nicht möglich, »mich ohne weiteres Ihrer Ansicht anzuschliessen, da ich schon mehr als einmal gesehen habe, welch schwerwiegende Folgen eine Kastration nach sich zieht. […] Wenn die Operation schon bei älteren Frauen fatal wirkt, scheint sie mir bei einem so jungen Mädchen erst recht riskant«. Auch der konsultierte Arzt sei übrigens »der Meinung, dass trotz diesem Eingriff bei Myrta das übersteigerte Triebleben doch nicht zur Ruhe kommen würde«. Offenbar traumatisiert, musste Myrta Looser unmittelbar nach dem Eingriff in das psychiatrische Asyl Littenheid eingewiesen werden.

S chluss Wie in diesem Artikel am Beispiel der Taubstummenanstalt St. Gallen gezeigt wurde, markieren die späten 1930er Jahre eine Zäsur in der Schweizer Gehörlosenbildung und -fürsorge. Nachdem ein starker Rückgang der Gehörlosigkeit verzeichnet worden war, der sich auch auf die Zöglingszahlen der Anstalt auswirkte, reagierte die Anstaltsleitung, indem 1937 eine Abteilung für sogenannte Sprachgebrechliche gegründet wurde. Mit dieser Maßnahme, die als institutionelle Existenzsicherung zu deuten ist, konnte die soziale Reichweite der Anstalt vergrößert werden. Zeitgleich etablierte die Anstaltsleitung mit der Anstellung der Fürsorgerin Clara Iseli eine professionelle Nachfürsorge für ehemalige SchülerInnen. Anknüpfend an die primär anstaltsökonomisch begründete Prämisse der besseren Bildungsfähigkeit und höheren Intelligenz der jüngeren Gehörlosen wurde insbesondere die Berufsbildung und Eingliederung der Gehörlosen ins Erwerbsleben verstärkt in den Fokus gerückt. Damit, so die fachpädagogische Meinung, sollte der Arbeitsmarkt die Herkunftsfamilie als bevorzugtes Integrationsmilieu ablösen und die erwachsenen Gehörlosen vermehrt zum eigenständigen Leben befähigt werden. 120 | Ebd., Dossier Nr. 5. Zur »freiwilligen« Sterilisation vgl. Carlo Wolfisberg, Heilpädagogik und Eugenik: Zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz, 1800-1915 (Zürich: Chronos, 2002), 170.

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Ein grundsätzlicher Wandel der Fürsorgepraxis bestand darin, dass eine stetige Begleitung und Betreuung der Gehörlosen die punktuellen Interventionen im Sinne einer Krisenbewältigung ablösten. Die Fürsorge umfasste die Beratung in alltäglichen Lebensfragen, die Begleitung auf Ämter, die Unterstützung bei administrativen Alltagsgeschäften, finanzielle Hilfen und vor allem den brieflichen Austausch zwischen Clara Iseli und den Ehemaligen. Die Weiterbildungsprogramme, welche die Fürsorge ebenfalls anbot, waren darauf ausgerichtet, den Gehörlosen zu einer selbstständigen Lebensführung zu verhelfen; berufliche Entwicklung und Verwirklichung standen dabei allerdings nicht im Zentrum. Das Kursangebot der Fürsorge diente nicht zuletzt dazu, der sozialen Isolation der Gehörlosen vorzubeugen. Schließlich verstand sich Clara Iseli auch als Bindeglied zwischen Gehörlosen und Hörenden. In zahlreichen Referaten vor hörendem Laienpublikum klärte sie über Gehörlosigkeit auf und reproduzierte darin immer wieder ihr Verständnis der Gehörlosen, die stets auf die Hilfe von Hörenden angewiesen sein würden. Der Blick in die Fallakten hat gezeigt, dass die Integration in die Berufswelt trotz verstärkter Intention selektiv war. Bereits ZeitgenossInnen wie die Zürcher Fürsorgerin Marta Muggli stellten fest, dass die beruflichen Chancen für gehörlose Frauen eingeschränkter waren als diejenigen der Männer. Auch für die Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen konnte gezeigt werden, dass Frauen weniger oft eine Berufslehre absolvierten und als ungelernte Hausangestellte und Heimarbeiterinnen einerseits sehr stark isoliert lebten und andererseits oftmals nicht adäquat entlohnt wurden. Weiter gelang es den jüngeren, nach 1942 ausgetretenen SchülerInnen zwar häufiger, eine Berufslehre zu absolvieren und ihren Lebensunterhalt teilweise selbst zu bestreiten. Doch obwohl sich Fachpersonen von der Vorstellung besonders geeigneter »Taubstummenberufe« distanzierten, hatten viele Gehörlose nur Zugang zu einer sehr eingeschränkten Auswahl an Berufen, vorwiegend im Gewerbe, im Handwerk, als HilfsarbeiterInnen in Fabriken oder in der Landwirtschaft und Heimarbeit. Die Gehörlosenfürsorge, die ab den frühen 1940er Jahren systematisch am Prozess der Berufswahl beteiligt war, brachte Berufswünsche von Gehörlosen nur selten zur Sprache. In den seltenen Fällen, in denen Gehörlose ihre beruflichen Vorstellungen artikulierten, erklärte die Fürsorge das Ziel als unrealistisch und unerreichbar. Zur prekären Lage der Gehörlosen hat die Fürsorge insofern beigetragen, als dass sie die Wünsche von Gehörlosen nicht unterstützte, sondern stets auf ihre begrenzten Fähigkeiten hinwies. Ausserdem konnte gezeigt werden, dass selbst im Berufsleben etablierte Gehörlose im Arbeitsalltag oft nicht besonders gut gestellt waren und anfällig waren für Entlassungen. So wurden Überqualifikationen systematisch in Kauf genommen; bei veränderten Anforderungen an das Berufsbild verloren Gehörlose oftmals ihre Stelle, da sie den auf Hörende ausgerichteten Weiterbildungsangeboten nicht folgen konnten. Hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Chancen

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auf einen Stellenwechsel waren die Gehörlosen oftmals auf die Hilfe und somit auch auf das Gutheißen von Clara Iseli angewiesen. Gehörlose profitierten deutlich weniger von der Bildungsexpansion der Nachkriegszeit als hörende Menschen. Doch nicht nur die berufliche Ausbildung und Integration der Gehörlosen blieb äußerst selektiv, auch waren sie anhaltenden sozialen Ausschlussmechanismen ausgesetzt. In Bezug auf die sozialen Realitäten der Gehörlosen konnte anhand der Fallbeispiele gezeigt werden, dass sich über die gesamte durch Clara Iseli rückwirkend und fortlaufend dokumentierte Periode (ca. 1910 bis 1960) kaum etwas verändert hat. Viele der erwachsenen Gehörlosen hatten nebst ihren Eltern und den Fachpersonen der Anstalt kaum Bezugspersonen und lebten somit sozial isoliert und gesellschaftlich marginalisiert, wobei der Tod der Eltern oft dazu führte, dass erwachsene Gehörlose in Bürgerheimen und Armenanstalten versorgt wurden. In Bezug auf Familiengründung und Ehe zeigten sich wiederum geschlechtsspezifische Unterschiede in Diskurs und Praxis. Zwar war die Fürsorge der Taubstummenehe nicht a priori abgeneigt, jedoch war die Eheschließung zwischen Gehörlosen in hohem Maße von den Einschätzungen von Fürsorge und Vormundschaftsbehörden abhängig und konnte teilweise nur unter der Bedingung einer erbbiologischen Prüfung und nach erfolgter Sterilisation realisiert werden. Eugenische (Zwangs-)Maßnahmen konnten bei den gehörlosen Ehemaligen der Taubstummenanstalt St. Gallen bis in die 1950er Jahre nachgewiesen werden. Nur am Rande konnte in diesem Artikel das Verhältnis zwischen den pädagogischen Dogmen der Lautspracherziehung in der Gehörlosenbildung und den Lauf bahnen der untersuchten gehörlosen SchülerInnen problematisiert werden. Hingegen wurde deutlich, dass sich viele der sozialen Ausschlussmechanismen auf Schwierigkeiten in der Kommunikation zurückführen lassen und Clara Iseli in ihrer Dokumentation auch immer dann auf Kommunikationsschwierigkeiten hinweist, wenn Gehörlose sich nicht konform verhielten. Obwohl nicht nachgewiesen werden konnte, dass die lautsprachliche Bildung direkt zum Ausschluss und zur Diskriminierung beigetragen hatte, so ist dennoch festzuhalten, dass ihre Chancen in der hörenden Welt trotz rigider Erziehung zur Lautsprache stark eingeschränkt blieben und ein Großteil der erwachsenen Gehörlosen Zeit ihres Lebens in einem krassen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern und/oder der Anstalt blieben. Die Gehörlosenfachhilfe betonte immer wieder, dass gehörlose Menschen in einer hörenden Welt nie komplett selbstbestimmt und eigenständig leben könnten. Offen bleibt, wie der Fachdiskurs über die Unzulänglichkeiten gehörloser Menschen deren Selbstverständnis prägte und inwiefern Gehörlose selbst dieses Defizitnarrativ – Unvermögen zu kommunizieren und emotionales Ungenügen – verinnerlichten. Die titelgebende Selbstbeschreibung eines

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Gehörlosen »Gitter am Kopf und Loch im Herz«121 kann jedenfalls so interpretiert werden, dass das Selbstvertrauen der gehörlosen Personen tief war und ihre Integrationschancen dadurch zusätzlich eingeschränkt wurden.

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121 | Vgl. Fussnote 12.

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»Gitter am Kopf und Loch im Herzen«

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»Hab ich das richtig verstanden?« Den Möglichkeitsraum eingrenzen: Lippenlesen und Interaktion Andrea Neugebauer

E inführung In der Vergangenheit ist in Diskussionen um den Umgang mit Gehörlosigkeit oft vernachlässigt worden, dass es verschiedene Erscheinungsformen von Gehörlosigkeit gibt. Tatsächlich ist nur ein Teil der Gehörlosen bereits von Geburt an ohne Gehör. Die Mehrzahl der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Gehörlosen verliert ihre Hörfähigkeit infolge von Krankheiten, Verletzungen, Unfällen oder Impfungen und Nebenwirkungen von Medikamenten erst, nachdem sie bereits Hören gelernt haben.1 Selbsthilfeorganisationen und Gehörlosenverbände sprechen bei diesen Formen des Gehörverlusts von »Ertaubung« oder, wenn Jugendliche oder Erwachsene betroffen sind, von »Spätertaubung«. Für die meisten dieser Menschen gilt: Sie sind in der Welt der Hörenden aufgewachsen und in einen Alltag einsozialisiert worden, in dem gesprochene Sprache das zentrale Kommunikationsmedium ist. Der Gehörverlust trifft sie, nachdem die gesprochene Sprache bereits eine zentrale Rolle für die Aneignung von Welt und die Entwicklung eines ›Selbst‹ eingenommen hat und zur Vermittlerin von Interaktion und Beziehungen geworden ist. Für Jugendliche oder Erwachsene, die ihr Gehör plötzlich oder auch sukzessive verlieren, kommt es zu Einschnitten in der alltäglichen Verständigung. Der allmählichen Abnahme des Hörvermögens folgen Versuche, das hörende Verstehen zu unterstützen. Ist ein Restgehör vorhanden, kann es mit medizintechnischen Hörhilfen verstärkt werden. Cochlea-Implantate, die einen Nachbau des Innenohrs darstellen, können akustische in elektrische Signale um1 | »Gehörlosigkeit« Deutscher Gehörlosenbund, aufgerufen 23.12.2017, www.dglb. de/dgb/index.php?option=com_content&view=categor y&id=38&layout=blog&Ite mid=101&lang=de. Die dort angegebenen Zahlen basieren auf Statistiken, die eine Meldung von Gehörlosigkeit voraussetzen. Sie wird jedoch nicht von allen Gehörlosen – z.B. aus Furcht vor Stigmatisierung – unternommen.

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wandeln und an den Hörnerv weiterleiten, so dass zusätzliche Höreindrücke entstehen. Bevor jedoch operative Eingriffe geschehen – deren Erfolg nicht garantiert werden kann – helfen sich die Betroffenen selbst. Spontan analysieren sie die Mundbilder ihrer KommunikationspartnerInnen, um das nicht mehr ausreichende Hörverstehen zu unterstützen: Sie versuchen die Worte von den Lippen der anderen wieder zu erkennen. Lippenlesen wurde in Deutschland über beinahe zwei Jahrhunderte als Alternative zur Gebärdensprache gelehrt und seit der Gründung der ersten deutschen Schule für ›Taubstumme‹ 1778 in Leipzig für lange Zeit sogar für von Geburt an Gehörlose bevorzugt. Die als ›Defizit‹ geltende Gehörlosigkeit sollte verdeckt und als ›abnorm‹ definiertes Symptom möglichst unsichtbar gemacht werden.2 Heute ist Lippenlesen eine Kompetenz, die in Schulen für Gehörgeschädigte je nach Bedarf zusätzlich oder neben der Gebärdensprache gelehrt wird. Auch Personen mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantat erlernen es, da es ihre Höreindrücke unterstützen kann. Dabei wird nur noch selten von ›Lesen‹ gesprochen, um den Eindruck zu vermeiden, Worte könnten vom Mund wie aus einem Buch abgelesen werden. Der voraussetzungsvolle Kontext visuellen Sprachverstehens wird jedoch durch ein Ersetzen des Begriffs durch andere Ausdrücke – wie ›Absehen‹ oder ›Sprachlesen‹ – nicht erfasst: Mit ihnen werden allein die Aktivitäten der Gehörlosen thematisiert, nicht aber die ihrer InteraktionspartnerInnen. Das ›Lesen‹ von Worten von den Lippen Anderer ist jedoch weder eine einfache noch eine einseitige Angelegenheit. Es erfordert die Mitarbeit der InteraktionspartnerInnen: So müssen die Hörenden die Gehörlosen durch Berühren, Antippen oder Winken auf sich aufmerksam machen, bevor sie sprechen. Sie müssen die Gehörlosen beim Sprechen anschauen und ein Mundbild ›formen‹, das es diesen ermöglicht, einander ähnelnde Laute anhand Lippenformung und Zungenstellung zu unterscheiden. Ihr Gesicht muss ausreichend ausgeleuchtet sein und Blendungseffekte müssen vermieden werden. Der Mund darf nicht durch gestikulierende Hände, Bärte oder anderes verdeckt werden. Und nicht zuletzt ist von Bedeutung, dass Nachfragen von Seiten der Lippenlesenden, auch wenn sie mehrfach notwendig sein sollten, akzeptiert und mit Geduld beantwortet werden. In einem Alltag, der in Behörden, Bildungsinstitutionen, Unternehmen und Gesundheitseinrichtungen von angenommener oder strukturell bedingter Zeitnot geprägt ist, ist das nicht selbstverständlich. Auch im Rahmen nicht-öffentlicher Kommunikationen, emotional aufgeladener Streitgespräche und Auseinandersetzungen – zum Beispiel zwischen Elternteil und Kind oder PartnerInnen in ungleichen Positionen – wird das Lippenlesen zu einer Geduld zehrenden Angelegenheit. 2 | Anne C. Uhlig, Ethnographie der Gehörlosen. Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft (Bielefeld: transcript, 2012), 69.

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Noch schwieriger wird es, sobald es sich nicht um ein Zwiegespräch, sondern um Gruppen- oder Unterrichtsgespräche, Diskussionen oder um Gemeinschaftsspiele handelt. Spontanes und unerwartetes Sprechen, der ungeregelte Wechsel von SprecherInnen, nicht selten mitten im Satz, Gleichzeitig-Sprechen, Einwürfe oder Kommentare von einer Person, die aus einer anderen Richtung spricht, bleiben für Lippenlesende schwer nachvollziehbar und damit meist unverstehbar. Der Alltag ist von solchen Situationen durchzogen. Wie Lippenlesende ihnen begegnen, und welche Umgangsformen mit den Hörenden entstehen, ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Praktiken, die sich in Interaktionen zwischen Gehörlosen und ihrem Umfeld entwickeln, werden rekonstruiert und auf ihre Bedeutung für Integration und Teilhabe hin befragt. Im Folgenden wird im ersten Schritt das empirische Material vorgestellt, seine Entstehung und das methodische Vorgehen bei der Auswertung erläutert. In einem zweiten Schritt wird die Bedeutung von Sprache in Interaktionen umrissen – orientiert an der Interaktionstheorie George H. Meads3 – und auf die Situation von gehörlosen LippenleserInnen übertragen. Daran schließt eine Darstellung des Stellenwerts von Neuem und Unbekanntem in alltäglichen Interaktionen und Kommunikationen an. Vor diesem Hintergrund werden die Voraussetzungen und Schwierigkeiten des Lippenlesens genauer beschrieben. Im Anschluss werden die Ergebnisse der Auswertung des empirischen Materials vorgestellt, ergänzt um einige Beispiele aus publizierten Erfahrungsberichten zum Lippenlesen und der Forschungsliteratur zur Kommunikation Gehörgeschädigter. Abschließend erfolgen eine zusammenfassende Diskussion und ein Ausblick auf Potenziale und Hürden für Integration und Teilhabe der Lippenlesenden an Praktiken ihrer sozialen Umwelt. Indem dieser Aufsatz die Rahmenbedingungen für die Beteiligung von Gehörlosen in der heutigen Zeit rekonstruiert, lenkt er den Blick auch darauf, wie (wenig) sich der Umgang mit Gehörlosigkeit im Alltag verändert hat.

D as empirische M aterial Zum Studienplan der Frankfurter University of Applied Sciences gehört im Fachbereich ›Soziale Arbeit‹ das Modul »Diversität, Diskriminierung und Inklusion in der Sozialen Arbeit«. Es sucht Studierende an eine kritische und reflektierende Perspektive auf den eigenen Umgang mit Vielfalt und Differenz heranzuführen. Angeregt werden soll eine Auseinandersetzung mit eigenen Wahrnehmungen – gerade auch mit Stereotypen oder Vorurteilen – bei der Be3 | George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1968 [1934]).

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gegnung mit Menschen, bei denen differenzspezifische Erfahrungen vermutet werden. Die Reflexion der häufig unbewusst verlaufenden, interaktiven Herstellung von Differenz spielt in diesem Modul eine zentrale Rolle. Sie verweist auf eine alltägliche Praxis: Menschen definieren Wirklichkeit, um zu verstehen, womit sie es zu tun haben, und um handlungsfähig zu werden. Zugleich tragen sie mit ihrer Definition dazu bei, wie Wirklichkeit beschaffen ist. Mit dem Ansprechen von Personen und der anschließenden Durchführung narrativer Interviews4, bei denen weder nach ›Besonderheiten‹ oder ›Merkmalen‹ von Differenz noch nach dem Erleben von ›Differenz‹ gefragt wird, sondern nach der gesamten Lebensgeschichte der Befragten, lernen die Studierenden die Perspektive ihrer GesprächspartnerInnen auf sich und ihr Leben kennen. Vergleiche der Interviews ermöglichen es, den Blick auf die verschiedenen Umgangsweisen mit Lebenslagen, gesellschaftlichen Kategorisierungen, Zuschreibungen, Erwartungen und Diskriminierung zu richten.5 Da die Interviewten nicht auf Fragen antworten müssen, arbeiten sie sich nicht an Erwartungen der InterviewerInnen oder wissenschaftlich hergeleiteten Hypothesen ab. Sie setzen eigene Schwerpunkte und stellen thematische oder assoziative Verknüpfungen zwischen Erfahrungen und Ereignissen ihrer Lebensgeschichte her. Die Interviews lassen neben vielfältigen Arten und Weisen eines Umgangs mit den Lebensbedingungen auch das Gewordensein von Verhaltens- und Lebensweisen erkennbar werden. Im Rahmen des Moduls entstehen in jedem Semester mehrere hundert Interviews, darunter auch solche mit Personen, die Behinderung erfahren. ›Behinderung‹ wird in diesem Zusammenhang nicht als eine den Personen oder ihrem Körper anhaftende Eigenschaft aufgefasst, sondern als Praxis der Einschränkung6, der Personen ausgesetzt sein können, die aber überwiegend gesellschaftlich hervorgebracht wird: »Disability is social exclusion on the grounds of impairment. Impairment does not cause disability, surely not, but it is the raw material upon which disability works.« 7 Dieser Begriff von Behinderung hebt die sozial hergestellte Seite einer Praxis des Behindert-Werdens hervor. Er verweist auf das ICF-Modell (International Classification of Functio4 | Fritz Schütze, »Biographieforschung und Narratives Interview«, in Sozialwissenschaftliche Prozessanalyse Grundlagen der qualitativen Sozialforschung, Hg. Werner Fiedler u. A. (Opladen: Budrich, 2016), 55-60. 5 | Veröffentlichung über dieses Modul: Bettina Bretänder u. A., Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit. Perspektiven auf Inklusion (Stuttgart: Kohlhammer, 2015). 6 | Bettina Bretländer, »Menschen mit Behinderung oder behinderte Menschen?«, in Bretländer u. A., Vielfalt und Differenz, 90. 7 | Carol Thomas, »Developing the Social Relational in the Social Model of Disability: A Theoretical Agenda« in Implementing the Social Model of Disability: Theory and Research, Hg. Colin Barnes u. A. (Leeds: The Disability Press, 2004), 44.

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ning, Disability and Health), mit dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sich 2005 von einer Behinderungsdefinition als Krankheitsfolgenmodell abgewandt hat.8 Mit ihm erhalten die »Kontextfaktoren« der Aktivitäten einer Person eine bedeutende Rolle, zu denen nicht nur Umwelt-, sondern auch personenbezogene Faktoren wie Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter, Fitness, Lebensstil und Gewohnheiten gehören.9 Ein Teil des empirischen Materials, auf dem dieser Aufsatz basiert, ist zwischen 2015 und 2017 in Seminaren mit dem Schwerpunkt ›Befähigung – Behinderung‹ entstanden. Es handelt sich um Interviews mit Spätertaubten, von denen einige ihr Gehör noch nicht ganz verloren hatten, zum Teil einen Bestand an Restgehör durch technische Geräte verstärkten, und für deren Kommunikation das Lippenlesen eine Rolle spielte. Für die Studierenden war es daher möglich, die Interviews ohne Vermittlung über Gebärdensprache zu führen. Für diesen Aufsatz wurden neun Interviews einbezogen, die überwiegend mit jungen Gehörlosen geführt wurden.10 Sie lagen mir als Dozentin nicht im Original vor, sondern in Form sequenzieller Berichte, die eine streng am Ablauf des Interviews orientierte Zusammenfassung darstellen. Die Berichte zielen – orientiert am Verfahren der strukturellen Beschreibung Fritz Schützes – darauf, die präsentierten Erlebnisse, ihre (An-)Ordnung und Verknüpfung und das sprachliche ›Wie‹ der Selbstdarstellung festzuhalten.11 Sie spiegeln als Selbstpräsentation von Gehörgeschädigten erlebte Ereigniskonstellationen, an denen sie auf irgendeine Weise beteiligt waren, sowie deren biografische Aufschichtung. Nicht erfasst werden können mit diesen Interviews Routinen und Alltagshandlungen, die nicht bewusst geplant werden, sondern automatisch ergriffen werden – wie zum Beispiel ein unhinterfragtes, spontanes Meiden von zuvor bereits unangenehm erfahrenen Situationen. Solche Handlungsvollzüge sind so selbstverständlich, dass sie nicht reflektiert werden und – da sie vorbewusst bleiben – auch nicht erzählt werden können. Daher habe ich zusätzlich ethnografische Protokolle in die Auswertung einbezogen. Sie entstanden als Lehrbeispiele für die genannten Seminare und umfassen aus pragmatischen Gründen 8 | Jörg Michael Kastl, Einführung in die Soziologie der Behinderung (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 60–62. 9 | Bretländer, »Menschen mit Behinderung«, 90-91. 10 | Ich danke den Studierenden – die aufgrund der Anonymisierungszusagen an die InterviewteilnehmerInnen nicht persönlich genannt werden können – für das Engagement, mit dem sie die Interviews durchführten, und die mit großer Sorgfalt verfassten Berichte. 11 | Fritz Schütze, »Biographieforschung«, 58; Fritz Schütze, »Eine sehr persönlich generalisierte Sicht auf qualitative Sozialforschung«, in Sozialwissenschaftliche Prozessanalyse Grundlagen der qualitativen Sozialforschung, Hg. Werner Fiedler u. A. (Opladen: Budrich, 2016), 25-27.

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Selbstbeobachtungen. Dass diese Beobachtungen häufig Situationen mit Gehörlosen protokollieren, liegt vor allem daran, dass ich Tochter einer gehörlosen Mutter bin. Die Protokolle sind auf der Grundlage von Situationen entstanden, in denen ich sie begleitete. Im Zuge meiner Beobachtungen entwickelte ich Interesse, mit anderen Gehörlosen Kontakt aufzunehmen. Auf diesem Weg entstanden ausführliche Gedächtnisprotokolle weiterer Begegnungen. Die Auswertung dieser unterschiedlichen Daten folgt der Forschungslogik der Grounded Theory.12 Das methodische Vorgehen besteht in einer Zuordnung von Sequenzen – Sinnabschnitten – der verschriftlichten Beobachtungen und Interviews zu analytischen Konzepten. Der anschließende Vergleich der einem Konzept zugeordneten Sequenzen ermöglicht es, dass verschiedene Bedingungen des Zustandekommens eines Phänomens erfasst, unterschiedliche Verläufe wahrgenommen und Handlungsoptionen beschrieben werden können. Die Methode sieht vor, dass die Beobachtungen solange fortgesetzt werden, bis keine neuen Variationen des beobachteten Phänomens mehr entdeckt werden können. Erst dann kann davon ausgegangen werden, dass ein Phänomen in allen seinen Ausprägungen erfasst ist. Dies konnte im vorliegenden Fall aus forschungspraktischen Gründen nicht umgesetzt werden. Daher handelt es sich bei den nachfolgend vorgestellten Befunden um einen wahrscheinlich unvollständigen Ausschnitt der sozialen Realität: Das heißt, es sind weitere Möglichkeiten eines Umgangs mit den beobachteten ähnlichen Situationen durch Gehörlose denkbar, die ich nicht erfassen konnte. Dennoch kommt den Beobachtungen Bedeutung zu, denn sie sind – unabhängig von der Vollständigkeit – Teil sozialer Realität.

Theore tischer Z ugang Interaktion/Kommunikation In der Interaktionstheorie Meads spielt Sprache eine zentrale Rolle für soziales Handeln und für die Herausbildung von Persönlichkeit. Sie ist das Medium, in welchem Individuen einander Informationen zukommen lassen, indem sie auf gemeinsam geteilte, in der Sprache objektivierte Symbole zurückgreifen. Sie ist aber auch die Voraussetzung für die Einnahme eines reflektierenden Verhältnisses zu sich selbst. Als Bedingung für die Herausbildung von Identi-

12 | Anselm Strauss, Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung (München: Fink, 1998).

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tät kommt ihr daher in den Diskussionen über angeborene Gehörlosigkeit eine herausragende Rolle zu.13 Sprache ermöglicht es, das Denken über sich, die Anderen und die Welt von den Situationen zu lösen, auf die sich der sprachlich – zum Beispiel in Worten – symbolisierte Sinn bezieht.14 Selbst erlebte Situationen und die Aktionen anderer können daher im Nachhinein formuliert, interpretiert – in Worten denkend nachvollzogen – werden und damit zum Entstehen neuer, anderer Haltungen zum Vergangenen beitragen. Sprache als »System signifikanter Symbole«15 vermittelt eine Verständigung mit den Anderen und dabei den Austausch von erlebten, gedachten oder tradierten Sinnbeständen. Das Verwenden eines gemeinsamen Symbolsystems gestattet es, uns in unsere Gegenüber hineinzuversetzen, ihre Erwartungen denkend abzuwägen oder Reaktionen mit vorausgegangenen zu vergleichen. Sprache ist Voraussetzung für die Fähigkeit zur wechselseitigen und probeweisen Perspektivübernahme.16 Sprache dient somit auch der Stiftung, dem Ausbau und der Aufrechterhaltung von Beziehungen. Es muss sich dabei nicht um Lautsprache handeln, auch eine Gebärdensprache kann diese Rolle einnehmen.17 Das Nichtbeherrschen der Sprache eines sozialen Umfelds behindert indes die Kontaktaufnahme und damit die Entstehung von Beziehungen. Als Voraussetzungen für die sprachlich vermittelte Verständigung und die darauf auf bauende Herstellung und Veränderung von Beziehungen hob Bernd Ahrbeck folgende bereits in Meads Theorie enthaltene Punkte hervor: 1) 2) 3) 4)

Ein ›Ich-jetzt-hier-Bewusstsein und die Orientierung auf das Du hin‹, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, das Wissen um Rollenerwartungen, die Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten und die Bereitschaft, sich auf neue Beziehungsdefinitionen einzulassen, 5) die Fähigkeit zur Metakommunikation, 6) die Auswertung des Kontexthorizonts und 7) die Fähigkeit, para- oder außersprachliche Phänomene auszuwerten.18 13 | Bernd Ahrbeck, Gehörlosigkeit und Identität. Probleme der Identitätsbildung Gehörloser im Lichte soziologischer und psychoanalytischer Theorien (Hamburg: Signum, 1992). 14 | Ahrbeck, Gehörlosigkeit, 93, verweist unter Bezug auf Forschungen in der Tradition Jean Piagets darauf, dass Sprache gleichwohl nicht Voraussetzung für Denken überhaupt ist. Sie fördert jedoch als entwickeltes Symbolsystem die kognitive Entwicklung. 15 | Mead, Geist Identität und Gesellschaft, 85. 16 | Ebd., 301. 17 | Kastl, Soziologie der Behinderung, 177-179. 18 | Ahrbeck, Gehörlosigkeit, 94-95.

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Für den hier zu diskutierenden Zusammenhang werfen diese Voraussetzungen die Frage auf, was geschieht, wenn eine Sprache zwar beherrscht, der wechselseitige Austausch jedoch durch den Verlust des Gehörs beeinträchtigt ist. Es lässt sich vorwegnehmen, dass für Lippenlesende insbesondere die Punkte 6 (Auswertung des Kontexthorizonts) und 7 (Auswertung para- oderaußersprachlicher Phänomene) nicht leicht umzusetzen sind. Die notwendige visuelle Konzentration auf das Gesicht der Sprechenden schwächt die mögliche Aufmerksamkeit für Kontextinformationen. Die Unmöglichkeit, einen Teil der para- oder nicht-sprachlichen Phänomene wie Lautstärke, Intonation oder beigefügte Geräusche unmittelbar wahrzunehmen, mit denen Sprechende ihre Intensionen – unter Umständen im Widerspruch zur Mimik – anzeigen, erschweren die Auswertung dieser das ›Verstehen‹ unterstützenden Dimensionen von Verständigung. Allerdings entwickeln Nicht-Hörende im Lauf der Zeit eine Wahrnehmung von starken, durch Schall ausgelösten Schwingungen und eine ausgeprägte Aufmerksamkeit für visuell wahrnehmbare Phänomene, wie Ungeduld oder Ablenkungen, die zu einer besonderen Form der Auswertung von Kontextphänomenen führen. Die gesteigerte visuelle Sensibilität, die zum Teil auf der Zuordnung auditiver Erfahrungen zu mimischen Gesten beruht, die Lippenlesende als Noch-Hörende vornahmen, findet wiederum ihre Grenzen in der Fähigkeit von Individuen, ihre Gesten und Mimik zu kontrollieren oder – wie Erving Goffman es nannte – »dramatisch« zu gestalten.19 Eine Reihe von Fragen schließt an: Wie steht es um eine Kommunikation, in der die Perspektivübernahme (Punkt 2) und Rollenerwartungen (Punkt 3) zusätzlich zu geteilten Wissens- und Sprachbeständen davon abhängig ist, dass Mundbilder erkannt werden, die nicht das Symbol sind, das ein Gesprächspartner bemüht, sondern nur auf es hinweisen? Wie gestalten sich Gespräche, in denen das Vorwissen um die Varianten möglicher Bedeutungen von Mundbildern das Verstehen rahmt? Wie ist es um die wechselseitige Wahrnehmung von Rollenerwartungen bestellt? Was geschieht, wenn Kommunikationen stets mit einer weit größeren Unsicherheit über das ›richtige‹ Verstandenhaben einhergehen, als es durch auseinander laufende Definitionen von Welt in Kommunikationen ohnehin geschieht? Und wie bringen Lippenlesende Symbole unter, die sie nicht kennen?

Der Umgang mit Unbekanntem/Neuem Unmittelbares Verstehen setzt voraus, dass die Symbole, die ausgetauscht werden, bekannt sind. Um etwas zu verstehen, das ihnen noch nicht begegnete oder neu erscheint, ziehen Menschen unwillkürlich bereits vorhandenes Wissen heran. Unbekanntes wird in Sekundenschnelle mit vorhandenem Wissen 19 | Erving Goffman, Wir alle spielen Theater (München: Pieper, 1991 [1959]).

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verglichen, Wissensbestände aus verschiedenen Bereichen werden herangezogen und Synthesen hergestellt, um das Neue zu ›verstehen‹. Auch hinsichtlich neuer oder unbekannter Worte genügen diese Aktivitäten meist. Das Unbekannte wird ›nebenbei‹ oder gar unbewusst entschlüsselt. Kann aus dem Zusammenhang heraus einem unbekannten Wort Sinn vermittelt werden, werden Wort und Sinn in die eigenen Wissenszusammenhänge eingefügt. Dabei können neue Eindrücke oder Symbole in Typisierungszusammenhänge geraten, in die sie eigentlich nicht gehören: Missverständnisse entstehen oder es prägen sich Fehldeutungen ein, die schwer wieder zu ›überschreiben‹ sind. Wenn trotz solch spontaner Aktivitäten etwas nicht zuzuordnen ist, entsteht eine Verstehenskrise, die die Begegnung mit etwas Neuem bewusst werden lässt.20 In der Folge werden Strategien für die Entschlüsselung des Neuen oder Unverständlichen gesucht. Die Wahl einer Strategie orientiert sich daran, welche Relevanz dem Verstehen im Zusammenhang einer Situation zugeordnet wurde. Auch die Definition der sozialen Situation und Machtbalancen, in die eingebettet das Neue auftritt, spielt eine Rolle. Welche Klärungsversuche das Individuum unternimmt, hängt zudem davon ab, welche Mittel ihm biografisch zur Verfügung stehen. Eine mögliche Option in solchen Situationen ist das Nachfragen. Es setzt voraus, dass das Individuum keine Nachteile erwartet, wenn es zu erkennen gibt, dass es etwas nicht kennt oder weiß – oder ›nicht verstanden‹ hat. Eine weitere Option besteht darin, sich den Kontext zu merken, um später zu rekonstruieren, was das Neue bedeuten könnte und es sich außerhalb einer als problematisch wahrgenommenen Situation anzueignen. Je nachdem, wie umfangreich die Begegnungen mit Unbekanntem in einer Interaktion sind, ist es auch denkbar zu entscheiden, dass das Unbekannte ›nichts für uns ist‹. Es erscheint ›zu hoch‹ oder wird als uninteressant bewertet.21 Pierre Bourdieu beschrieb solche Prozesse, in denen etwas, das infolge sozialer Voraussetzungen ›unerreichbar‹ ist, als ›undenkbar‹ ausgeschieden und schließlich sogar abgelehnt und nicht mehr ›gewollt‹ wird. 22 Akteure entwickeln im Rahmen solcher Erfahrungen einen Sinn für die Möglichkeitsräume, die ihnen offen stehen, da sie die Ressourcen besitzen, in ihnen zu handeln. Dieser »sense of one’s place« führt zugleich dazu, dass sie sich von Dingen oder Kommunikationen abwenden, von denen sie intuitiv wissen, dass sie sie nicht verstehen werden, da ihnen der Zugang durch fehlende Fähigkeiten oder Wissensbestände verstellt ist. 20 | Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. I. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988 [1979]), 150. 21 | Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987 [1982]), 734-740. 22 | Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987), 100.

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Unbewusst werden damit die sozialen Grenzen anerkannt und reproduziert, die Dinge zu etwas Nicht-Erreichbarem werden lassen.23 Solche Situationen entstehen durchaus alltäglich: zum Beispiel, wenn wir in eine Diskussion von Spezialisten geraten, in der es von Dingen, von denen wir noch nie gehört haben, nur so wimmelt und wir uns auch unter größter Anstrengung keinen Reim auf das Gehörte machen können. Ist diese Situation nur eine einzelne, besondere Situation, ist eine weitere Möglichkeit denkbar, sich dem Neuen anzunähern: Ein Dolmetscher oder Experte kann herangezogen werden, um eine Brücke zwischen dem Nichtverstandenen und unseren schon vorhandenen Wissensbeständen herzustellen. Umso häufiger solche Situationen jedoch vorkommen, desto unwahrscheinlicher wird die Möglichkeit vollständiger ›Übersetzung‹. Mit zahlreichen kleinen Veränderungen, die sich in die Kommunikationen im Alltag einschleichen, gehen wir jedoch selbstbewusst ignorant um. Wir gehen davon aus, dass sich das Nichtverstandene schon irgendwie lösen wird. Wir lassen uns durch das Auftauchen von Symbolen, die das Verstehen des Zusammenhangs nicht stören, nicht verunsichern. Unter einer ›Cloud‹ in einem Satz über Datenspeicherung können wir uns bei der ersten Begegnung wenig vorstellen. Wenn aber bereits andere Gespräche mit Hinweisen auf Möglichkeiten externer Datenspeicherung vorausgingen, entsteht, auch wenn wir sie nicht ganz begreifen konnten, eine ungefähre Vorstellung, um was es sich handeln könnte. Die Vorankündigungen bereiten den Weg dafür, dass wir verstehen wollen und schließlich lernen, dass die ›Cloud‹ ein Servernetzwerk bezeichnet. Auch andere Veränderungen kündigen sich in den Kommunikationen im Alltag an. Lange bevor eine Freundschaft zerbricht, transportieren die Kommunikationen Zeichen des Auseinanderdriftens, die kaum merklich ankündigen, dass sich etwas verschiebt. Sie tragen dazu bei, dass wir nicht völlig unvorbereitet sind, wenn es zu einer Veränderung kommt. Ebenso verhält es sich bei Alltagstechniken, die sukzessive durch neue ersetzt werden. Lange bevor wir selbst mit einem Handy ein Gespräch führen, sind wir in zahllosen Kommunikationen auf Hinweise auf den Austausch von Daten ohne Bindung an Leitungen gestoßen. Sie ließen ein Gespräch als Austausch zweier Menschen an nahezu beliebigen Orten ›denkbar‹ werden. Solche Hinweise dringen in das Selbstverständliche ein, schaffen Raum für neue Worte und Vorstellungen. Sie führen keineswegs notwendig eine Anpassung an das Neue herbei, vermitteln aber die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit ihm. Welche Rahmenbedingungen die sozialen Praktiken der Kommunikation, in die Lippenlesende eingebunden sind, für die Begegnung mit neuen oder unbekannten Gegenständen eröffnen, ist eine weitere Frage, der ich im Folgenden nachgehen möchte. 23 | Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 734.

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L ippenlesen in I nter ak tionen Menschen formen beim Sprechen mit Mund, Lippen und Zunge Buchstaben, von denen sich einige optisch leicht unterscheiden lassen, andere weniger leicht. Je nachdem, aus welchen Buchstaben und Lauten ein Wort besteht, desto leichter und eindeutiger oder aber auch schwieriger kann es sein, es ›abzulesen‹. Nicht nur in der deutschen Sprache haben viele Wörter optisch betrachtet nahe Verwandte, bestehen aus Silben, die verwechselbar aussehen: Es ist schwer, »Baum, Paum oder Maum« zu unterscheiden, doch da zwei der drei Worte keinen Sinn ergeben, lässt sich das Wort erraten, besonders wenn der Kontext es nahe legt. 24 Anders sieht es mit »Raum« und »kaum« aus, und auch ein Unterschied zwischen »Eier« und »Reiher« lässt sich nicht von den Lippen ›absehen‹.25 Lippenlesen besteht zu einem erklecklichen Teil aus Raten, Erschließen aus dem Zusammenhang, Lückenfüllen. Aus der interaktionistischen Perspektive können diese Vorgänge als besonders nachdrückliche Versuche, die Perspektive des Anderen einzunehmen, bzw. vorauszusehen, verstanden werden. Diese Kunst lässt sich am besten vollziehen, wenn das Thema klar oder vorhersehbar ist, bzw. die Möglichkeiten, was die oder der andere sagen könnte, eng umrissen sind. Einkaufen ist daher oft völlig problemlos. Schwieriger wird es, wenn unvorhergesehene Dinge gesagt, Fragen ›aus dem Nichts‹ gestellt werden, oder mit Worten ›gespielt‹ wird. Wird das Unerwartete miteinander verknüpft, wie es bei scherzhaftem Reden, Komik oder kabarettistischen Inhalten der Fall ist, versagt das Vorhersehen, denn diese Formen des Sprechens legen es auf Überraschung an. Lippenlesen basiert aber auf Vorhersehbarkeit, auf Erahnen des Kommenden. Überraschende Situationen lassen LippenleserInnen oft ratlos zurück. Die für Gehörlose notwendigen Versuche einer vorausschauenden Perspektivübernahme können insbesondere angesichts scherzender oder ironisierender Inhalte Verstehen sogar verhindern, da sie das Mögliche und Erwartbare auf ein Sprachfeld eingrenzen, das die tatsächlich erfolgenden unkonventionellen oder überraschenden Wortkombinationen nicht umfasst. Lippenlesen kann aber auch dann an Grenzen stoßen, wenn der oder die Andere einfach nur unbekannt ist, sein oder ihr Mundbild die Unterscheidung von Silben und Buchstaben erschwert oder durch einen Dialekt vom Erwarteten abweicht. Lippenlesen setzt Blickkontakt voraus. Unterhalten sich mehrere Personen miteinander, ist es für Lippenlesende nicht möglich, die Abfolge der SprecherInnen vorauszusehen. Solange ihr Blick den aktuell Sprechenden sucht, ist Verstehen ausgeschlossen. Anfänge gehen verloren, das Einsteigen in den 24 | Simone Jung, Natalie oder der Klang nach der Stille (Frankfurt a.M.: Mabuse Verlag, 2014), 21. 25 | Ebd., 20-22.

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Redebeitrag wird erschwert. In Gruppengesprächen werden zusätzlich Sätze häufig nicht zu Ende gesprochen, Kommentare und Versatzstücke eingeworfen, die Unterbrechungen entstehen lassen. Sprechende setzen ihren Beitrag möglicherweise nach einem Einwurf weiter, ohne einen begonnenen Satz zu Ende geführt zu haben, beginnen etwas Neues, das den Zwischenruf voraussetzt und auf ihn auf baut. Meine gehörlose Mutter notierte: »In Großgruppen ist […] meist nur stichwortartiges Erfassen eines Themas möglich. Es bleiben viele ›Löcher‹. Mir blockiert ein plötzlicher Themensprung das verstehende Erfassen.«26 Gespräche oder Diskussionen unter Mehreren tendieren dazu, Lippenlesende auszuschließen, sobald sie nicht bewusst einbezogen und auf SprecherInnen aufmerksam gemacht werden. Für den Gang des Gesprächs wesentliche Einwürfe müssen, wenn sie außerhalb ihres Blickfeldes geschehen, für sie zugänglich gemacht werden, indem sie wiederholt werden. In Schulen, die auf gehörlose SchülerInnen Rücksicht nehmen, wird daher ein Kreis als Sitzordnung hergestellt, so dass der Mund aller anderen für die Gehörlosen sichtbar ist. Kurz wegschauen, dem Abgelesenen oder möglicherweise auch etwas nicht sicher Verstandenen hinterher denken, während das Sprechen der Anderen fortgesetzt wird, bedeutet, dass die Lücken größer werden, die Vorhersehbarkeit abnimmt. Lippenlesen ist eine Rekonstruktionsarbeit, die große Konzentration erfordert und das Nebenherdenken, Verarbeiten und ins Verhältnis zu Eigenem setzen, äußerst schwer macht. Zugleich stellt Nachfragen eine Unterbrechung des eigentlichen Austauschs von Argumenten dar, das schwer fallen kann. Umso mehr, wenn Emotionen im Spiel sind, um etwas gerungen oder gestritten wird, und Nachfragen eine Stilllegung dieser Emotionen für einen Augenblick bedeutet. Unsicherheit über das eigene Verstehen verlangt von Gehörlosen häufiger als von andern InteraktionsteilnehmerInnen, ihre emotionalen Reaktionen einzuklammern, da sie sich möglicherweise auf etwas Missverstandenes beziehen und somit Emotionen rational zu beherrschen. Lippenlesen läuft nicht ›nebenbei‹, wie das Hören; es verlangt Aufmerksamkeit und Konzentration. Das Erfassen des Kontexthorizonts ist in solchen Gesprächen oftmals kaum zu leisten, insbesondere, wenn sie häufig springen, Themen wechseln, zusätzliche Kontexte herangezogen werden oder auf solche verwiesen wird. Für Gehörlose, die von den Lippen Lesen, kommt es daher immer wieder zu Verunsicherungen. Sie wissen um die ›Löcher‹ in ihrem Ver-

26 | Notiz meiner Mutter, die sich nach über 40 Jahren Gehörlosigkeit ein Cochlea-Implantat einoperieren ließ und im Zuge der neuen Erfahrungen begann, vieles aufzuschreiben und zu reflektieren, worüber sie vorher selten gesprochen hatte. Ihr Körper akzeptierte das Implantat nicht, sie musste es nach wenigen Jahren wieder entfernen lassen.

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stehen und dies generiert Unsicherheit, ob wirklich alles Gesagte verstanden werden konnte. Das aber heißt, dass Situationen der Unsicherheit über den Umfang des eigenen Verstehens bei Gehörlosen in der Regel häufiger vorkommen, als es bei Menschen mit Gehör der Fall ist. Sich in die Situation einer ZuhörerIn hineinzuversetzen, die einen Vortrag in einer noch nicht gut beherrschten Sprache aus aufgeschnappten Teilen wie ein Puzzle zusammenzubauen versucht, kann ein Gefühl dieser Unsicherheit beim Lippenlesen vermitteln: Es ist kaum möglich, im Nachhinein all dem Nicht- oder Nicht-Sicher-Verstandenen nachzuspüren, all das Unsichere zu festigen. Doch während ein Sprachneuling sich die Sprache nach und nach aneignen und immer lückenloser verstehen kann, ist das rekonstruierende Lückenfüllen der Alltag von LippenleserInnen.

D er U mgang mit G ehörlosigkeit und L ippenlesen Um der »tiefgreifenden Verunsicherung«27 zu entgehen, die das alltägliche Lückenfüllen oft mit sich bringt, entwerfen Gehörlose Bewältigungsstrategien. Unter Rückgriff auf das vorliegende empirische Material werden im Folgenden zunächst Voraussetzungen, Bedingungen und soziale Prozesse, die das Gehörloswerden aus der Sicht der befragten Personen begleiteten, dargestellt. Im Anschluss werden Bewältigungsstrategien vorgestellt, Verhaltensweisen, mit denen die Betroffenen auf ihre Lebensumstände reagierten, die aber auch Positionierungen, Wünsche und Ängste sichtbar werden lassen.

Voraussetzungen 1: Gehörlosigkeit als Stigma Schon bevor die Diagnose ›Gehörverlust‹ gestellt wird, erfahren viele der Betroffenen Angst oder Schweigen als Reaktion ihres allernächsten Umfeldes – häufig auch seitens der Eltern. Mal wird die Wahrnehmung, dass sich etwas verändert hat, das Gehör »nicht mehr funktioniert […] nicht ernst« genommen (S., 16 Jahre28), mal erfolgt eine panische Reaktion. Selten wird bereits in dieser Phase an- und ausgesprochen, was sich mit einem Hörverlust verändern könnte und was daraus für das Leben aller Beteiligten folgt. Die Ungewissheit, was Nicht-Hören bedeutet, verbindet sich unter den Bedingungen von Sprachlosigkeit und Angst mit Befürchtungen, dass mehr als ›nur‹ das Gehör verloren gehen wird. Performativ wird mit dem Schweigen etwas voraus genommen, 27 | Jung, Natalie oder Der Klang nach der Stille, 23. 28 | Die InterviewpartnerInnen der Studierenden gaben sich selbst Phantasienamen, das Alter wurde jedoch angegeben und steht im Folgenden als Zahl hinter dem Namenkürzel.

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das als Ankündigung einer Zukunft ›in der Stille‹, die mit einem Kommunikations- und Beziehungsverlust einhergeht, gelesen werden kann. Es entsteht Angst, »anders behandelt [zu] werden«. Die Sorge, sogar »anders auszusehen«, spiegelt den Umfang der erwarteten Veränderungen (I., 22). Mit diesen Ängsten einher geht die Befürchtung, nicht wie bisher Freundschaften und andere Beziehungen eingehen und aufrecht erhalten zu können: »Immer wenn ich solche Strategien im Kopf spinne, im Bezug auf Männer, wird mir klar, dass ich mich noch nicht genug mit dem Thema auseinander gesetzt habe. Ich komme damit nicht klar«. I. führt ihre »Strategien« nicht genauer aus, deutlich wird dennoch, dass sie mit der Einordnung ihrer Gehörlosigkeit ringt: »Ich will nicht als ›behindert‹ gelten!« Von der Mutter zu erfahren, sie solle »froh sein, dass man es nicht sieht« (I., 22), bricht zwar das Schweigen, hilft aber kaum, die Veränderungen zu bewältigen. Es ist eher eine zweite Form der Dethematisierung, die auf den Wunsch, das Nicht-Hören-Können zu verbergen, hinausläuft. Einige der Betroffenen wurden von ihren Eltern »von Pontius zu Pilatus geschleppt, um alles zu versuchen, damit das Gehör nicht ganz verschwindet« (H., 73). Im zitierten Fall geschah dies in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als für die betroffene Familie Mangel herrschte. Der Wunsch, die Gehörlosigkeit der Tochter zu verhindern, veranlasste sie, ihr Tafelsilber für die Hoffnung auf ein Wunder zu veräußern. Heute, in Zeiten erheblich erweiterter Informationsmöglichkeiten, sind die Auffindbarkeit solcher Hoffnungsträger und auch der Glaube an die Lösbarkeit als medizinisches Problem noch gewachsen.29 »Meine Mutter hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, ist von Arzt zu Arzt mit mir. Da mein Opa auch Arzt war, musste ich zu vielen verschiedenen Ärzten – wir waren bei den seltsamsten Gestalten« (M., 24). Dass sie in der Folge dieser Hoffnungen als Kind oft allein in Krankenhäusern schlafen musste, hat M. sehr unangenehm in Erinnerung. In einem anderen Fall, in dem ein Studierender die Mutter eines früh ertaubten Kindes befragte, wurden zahlreiche Spezialisten und Sprachlernkurse besucht, um dem betroffenen Kind möglichst viele Lern- und Entwicklungschancen einzuräumen. Die Mutter des 5-jährigen N. (M.N., 28) berichtete: Der Junge »fragt […] täglich, welcher Arztbesuch heute ansteht« – wobei er auch die Besuche in einem Sprachzentrum als Arztbesuche wahrnahm. Es handelt sich bei all diesen Aktivitäten um zugewandte und fürsorgliche Handlungen, die den Kindern jedoch zugleich signalisieren, wie sehr der drohende Gehörverlust die Eltern beunruhigt oder

29 | Birgit Rommelspacher, »Behindertenfeindlichkeit«, in Lernen in der Begegnung Theorie und Praxis von Social-Justice-Trainings, Hg. Leah Carola Czollek u. A. (Düsseldorf: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA), 2008), 53-54

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auch ängstigt, wie viel Zeit und Energie es ihnen Wert ist, Gehörlosigkeit zu verhindern. Gegenwärtig ist das Cochlea-Implantat für viele als Hoffnungsträger zur Vermeidung von Gehörlosigkeit an die Stelle von ›Wunderärzten‹ oder anderen Heilungsversprechen getreten. Auch wenn die Höreindrücke nach einer Operation nicht den Umfang des menschlichen Gehörs erreichen, können die an das Implantat gesendeten Signale mitunter sogar die Hörnerven zum Lernen stimulieren und so Hörverluste in gewissem Ausmaß ausgleichen.30 Im Idealfall lernen mit dem Implantat daher sogar ohne Gehör Geborene etwas zu hören, wie A. (22) es erlebte, der bereits im Alter von zwei Jahren operiert wurde. Solche Erfolgsgeschichten stiften bei denjenigen, die mit Gehörverlust konfrontiert sind, große Hoffnungen auf eine medizintechnische Rückkehr in den hörenden Zustand. In einem der vorliegenden Fälle äußert ein junger Mann den Wunsch, die Operation so lange aufzuschieben, bis es nicht mehr anders geht: »Die Operation ist erst dann eine Option, wenn ich gar nichts mehr höre. Dann habe ich nichts mehr zu verlieren. (Pause) Das heb ich mir […] als letzten Trumpf noch auf (lacht)« (D., 19). Auf der einen Seite fürchtet D. die Operation, weil er weiß, dass bei der Durchführung der kleine Restbestand von Gehör, den er noch hat, verloren gehen kann. Auf der anderen Seite ist die Operation seine einzige Hoffnung. Konfrontiert mit einem rasant voranschreitenden Gehörverlust findet D. in seinem sozialen Umfeld keine Unterstützung, sich unabhängig von der Operation auf die Zukunft vorzubereiten. Er hofft darauf, dass die Gehörlosigkeit erst »Mitte, Ende zwanzig« eintritt. Und nur, wenn alles schief geht, »zur Not lern ich dann halt Gebärdensprache«. Bei den interviewten Gehörgeschädigten werden schon vor dem endgültigen Hörverlust Ängste vor Einschränkungen der eigenen Entwicklung oder Entfaltung sichtbar. Sie fürchten die Folgen der Gehörlosigkeit als irreversible, körperlich eingeschriebene ›Behinderung‹. Aus ihren Selbstdarstellungen gehen Befürchtungen hervor, in Zukunft »nicht richtig dazu zu gehören« (I., 22), bei der Arbeitssuche immer »als erste Frage ›Was haben Sie denn?‹ zu hören« (D., 19), auf eine Schule zu gehen, deren SchülerInnen »anders aussehen« (S., 16) oder von nun an »mit einem Gerät hinter dem Ohr herumlaufen zu müssen« (M., 24) und statt nach »Aussehen und Charakter« nur nach der »Hörschädigung« bewertet zu werden (S., 16). Eine der Interviewpartnerinnen entwickelte das Gefühl, die »Kontrolle über den eigenen Körper« verloren zu haben. »Irgendwie passieren Dinge, die ich nicht beeinflussen kann.« Sie erzählte, wie sie magersüchtig wurde – interpretierbar als Versuch der Rück30 | Markus Spöhrer, »Wie ich zum Cyborg wurde. Das Cochlea Implantat und die Übersetzungen des transhumanen Körpers«, Body Politics 3, Nr. 6 (2015), 311-318. »Cochlear Implantat«, Landesverband der Gehörlosen e.V., aufgerufen 27.12.2017, www. gl-hessen.de/download/cochlear_implantat_internet.pdf.

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gewinnung von Kontrolle über ihren Körper – und schließlich Angst davor entwickelte, »erwachsen zu werden« (I., 22). Mehrere dieser Zitate drehen sich um die Sichtbarkeit der Gehörlosigkeit als ›Mangel‹, durch die selbstverständliches Dazugehören infrage gestellt scheint. Die Betroffenen erwarten, dass ihnen die Möglichkeit, ein ›normales‹ Leben zu führen und bereits entstandene Zukunftsperspektiven weiter zu verfolgen, nicht mehr selbstverständlich offen steht.31 Gehörlosigkeit wird nicht von allen Betroffenen so häufig wie in den vorliegenden Interviews als »Schwäche und als Behinderung« (I, 22) wahrgenommen, als Stigma32, das Andersbehandlung und Diskriminierung nach sich zu ziehen droht und Wege verstellt. Diese Häufung kann aber als Indiz für die (Ab-)Wertung mangelnder Hörfähigkeit in unserer Gesellschaft angenommen werden. Sie gibt zu erkennen, dass Betroffene die Zukunft nicht länger als Zeit der Entwicklung und Entfaltung wahrnehmen, sondern mit Visionen der Einschränkung und Behinderung verbinden, die die Lust am Lernen und Sich-Entwickeln radikal beeinflussen. Christfried Rausch33 stellt die Fallgeschichte einer jungen Frau vor, die mit dem Prozess ihres Gehörverlusts ihre Studien- und Berufsziele immer weiter zurückschraubte. Für den Wechsel vom Medizin-Studium über mehrere Stufen bis zur Buchhändlerin sind auf den ersten Blick ihre körperlichen Probleme ausschlaggebend. Doch das genauere Hinsehen zeigt, dass es eher unflexible Lehrbedingungen sind, die ihr den Zugang zu einer an ihre Schulbildung und ihre Vorlieben anschließenden Ausbildung verstellen.

Voraussetzungen 2: Hineinwachsen in das Verbergen von Gehörlosigkeit Der Umgang mit abnehmendem Gehör ist in den vorliegenden Interviews sehr stark von Befürchtungen drohender Stigmatisierung geprägt. Leichter fällt der Umgang nur, wenn die Betroffenen noch Kinder sind. S. berichtet, dass sie früher in der Kirche ein »FM-Gerät«34 benutzt habe. Die in ein Mikrophon gesprochenen Worte des Pfarrers wurden verstärkt und per Funk auf einen Kopf31 | Vgl. auch: Susanne Bisgaard, »Coping with Emergent Hearing Loss. Expectations and Experiences of Adult, New Hearing Aid Users. An Anthropological Study in Denmark« (Dissertation, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt a.M., 2008), 104-106. 32 | Erving Goffman, Stigma. Über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1963). 33 | Christfried Rausch, »Hörbehinderung und Teilhabe. Hörschädigung: Einfluss auf Biografie und Potential für den Bildungsprozess« (Dissertation, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2011), 188-189. 34 | FM steht für Frequenzmodulierte Signalübertragung.

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hörer übertragen, so dass sie durch ihr noch vorhandenes Restgehör etwas verstehen konnte. Die heute 16-jährige setzt hinzu: »Heute würd‹ ich das nicht mehr in Anspruch nehmen, aber als Kind hat es mir nichts ausgemacht« (S., 16). Mehrfach werden Versuche sichtbar, sich gegen eine unterstützende, aber zugleich besondernde Behandlung zu wehren: z.B. gegen einen Nachteilsausgleich durch zusätzliche Zeit bei Diktaten (S., 16) oder gegen einen Drehstuhl, der ein schnelleres Zuwenden zu den Sprechenden ermöglicht (I., 22). D. (19) drückt aus, dass es ihm schwer falle, die Rücksichtnahme Anderer einzufordern, wenn er in seinem Beruf lärmintensive Arbeiten übertragen bekomme, die seinen kleinen Hörrest gefährden. Mehrere Personen formulieren Erleichterung darüber, dass ihnen der fortgeschrittene Hörverlust nicht anzusehen sei: »ich habe ja keine Behinderung« (D., 19), »man sieht es mir im Gesicht ja nicht an, dass ich irgendwie ein bisschen anders bin oder so« (S., 16). Der Wunsch, die Hörprobleme in ihrer Unsichtbarkeit zu belassen, zieht sich durch die vorliegenden Interviews mit Personen, die sich auf dem Weg in die Gehörlosigkeit befinden. Meine gehörlose Mutter erzürnte es, wenn ich sie als Kind in der Öffentlichkeit durch heftiges Winken auf mich aufmerksam zu machen suchte: »Fuchtel doch nicht so rum!« schimpfte sie und legte mir unauffälligeres Verhalten nahe. Das Verbergen von Hörbehinderung oder Gehörlosigkeit verwundert nur auf den ersten Blick. Obgleich wir heute von Behinderung Betroffenen häufiger begegnen als in den Jahrzehnten nach dem Nationalsozialismus, ist das Erschrecken über fehlende ›Normalität‹, ein Nichtvorhandensein eines idealisierten »Ebenmaßes« noch immer weit verbreitet.35 Die Umsetzung von Inklusion beendet zwar langsam die räumliche und institutionelle Separation von Menschen mit körperlichen oder psychischen Besonderheiten im Alltag, doch ihr Auftreten irritiert noch immer, ruft Ignoranz, Unsicherheit oder Verkrampfung hervor.36 Konfrontiert mit diesen Reaktionen entsteht das Anliegen der Betroffenen, nicht dauernd Aufmerksamkeit zu erregen, schon bevor die Gehörlosigkeit eintritt und führt dazu, dass sie hoffen, sich mit dem unauffälligen Lippenlesen durchs Leben bewegen zu können. Die Gebärdensprache wird nur von einem der Interviewten erwähnt. D. erzählt: »Meine Mutter hat da schon Tränen in den Augen gehabt. Naja, sie muss sie dann ja auch lernen, damit man sich dann noch verständigen kann. Und ab 35 | Kastl, Soziologie der Behinderung, 20, 31. 36 | Andreas Kuhlmann, »Die Risiken der Leidverleugnung. Zum Diskurs über Behinderung«, Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für Gesundheitsberufe 130 (März/April 2001): 59; Siegfried Saerberg, »Über die Differenz des Geradeaus. Alltagsinszenierungen von Blindheit«, in Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Hg. Anne Waldschmidt u. A. (Bielefeld: transcript, 2007), 216-218.

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dann fangen, denke ich, erst die Probleme an« (D., 19). Zum Ausdruck kommt die Befürchtung, dass die Mutter Schwierigkeiten mit dem Erlernen der Gebärdensprache haben könnte. Doch wird auch das eigene Erlernen hinausgeschoben, weil es keine Perspektive für die Aufrechterhaltung bestehender Beziehungen verspricht. M. erwähnt, dass er nicht auf eine »Behindertenschule« wollte, als klar wurde, dass er sein Gehör verlieren würde, um nicht von seinen Freunden getrennt zu werden: »ich hatte ja auch Freunde in der Grundschule gehabt und die sind dann auch alle mit mir in eine Klasse gekommen. Da wollt‹ ich nicht sagen, so ich geh jetzt« (M., 24). Eine Alternative, bei der er das nicht genannte Gebärden neben der Schule – vielleicht sogar mit den Freunden – hätte lernen können, gab es offenbar nicht. Für beide jungen Männer ist der Wunsch maßgeblich, die gewohnten Beziehungen und die in ihnen dominierenden Kommunikationsformen beibehalten zu können. Gebärden wird nicht einmal als zusätzliche Form und Unterstützung von Kommunikation wahrgenommen, sondern steht für Beeinträchtigungen und den Verlust bisheriger Beziehungen. Ein Mitlernen wird nur hinsichtlich Familienangehöriger, hier der Mutter, in Erwägung gezogen. Dies von Freunden oder Bekannten zu erwarten, scheint kaum denkbar. Ein Schwerbehindertenausweis, in dem die Gehörlosigkeit dokumentiert wird, ist nicht für alle erstrebenswert: »Vorteile sind, dass du nicht so leicht gekündigt werden kannst, bisschen steuerliche Vorteile hast, sowas halt. […] So lange das bei mir noch nicht diagnostiziert ist mit ›nem Schwerbehindertenausweis, muss ich’s nicht angeben. […] Wenn er [ein Arbeitgeber, A.N.] nicht fragt, muss ich nix sagen« (D., 19). Hinter diesen Worten zeigt sich die Befürchtung, dass ein solcher Ausweis dazu führen könnte, dass D.s Chancen auf dem Arbeitsmarkt schwänden. Um nicht als ›Behinderter‹ wahrgenommen zu werden, verzichtet D. freiwillig auf finanzielle Vorteile, die ihm die Anschaffung von Hilfsmitteln, wie z.B. einer Lichtsignal-Klingel, erleichtern würden. Möglicherweise aber richtet sich sein Blick nicht allein auf potenzielle Arbeitgeber. Die Manifestation von Behinderung kann auch als Festlegung auf ein Anders-Sein durch Kollegen gefürchtet werden: Furcht vor Sonderbehandlung oder Ausschluss aus Zusammentreffen, für die das Hören den Anderen wichtig erscheint; Furcht vor dem Verdacht, die Stelle nicht aufgrund von Fähigkeiten oder Leistungen bekommen zu haben, sondern aufgrund der Gehörlosigkeit weniger genau bewertet worden zu sein. Der als Ausgleich gedachte Status von ›Schwerbehinderten‹, die Anspruch auf Unterstützung oder Kompensationen erheben können, wird als Festlegung auf ›Behinderung‹ und als Hervorbringer paternalistischer Haltungen gefürchtet, die das Auftreten als selbständige Persönlichkeit erschweren.37

37 | Vgl. Kuhlmann, Risiken der Leidverleugnung, 58.

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Aus den Schilderungen von Situationen nach dem Eintreten der Gehörlosigkeit lässt sich auch erschließen, wie oft Gehörlose in Interaktionen spüren, dass die Erwartung einer funktionierenden Kommunikation ohne Besonderheiten oder Anstrengungen vorherrscht. So wird beispielsweise der Wechsel auf die Universität als »große Umstellung« erfahren, »da Gott und die Welt mich von der falschen Seite angequatscht hat« (M., 24). Es ist der Schritt aus dem überschaubaren Zusammenhang, wo jeder wusste, dass M. von vorne angesprochen oder angetippt werden muss, in eine Welt, in der das Hören vorausgesetzt wird. D. (19) erzählt, »immer, wenn ich wo hin muss, wo ich schlecht verstehe, […] nehme ich meine Mutter oder meine Freundin mit.« Es fällt ihm offenbar schwer, einzufordern, dass mit deutlichen Mundbewegungen mit ihm gesprochen wird. Die Erfahrungen, zunehmend andere Voraussetzungen als andere zu haben, hinterlassen Spuren: Sie zeigen sich auch im Bedürfnis, sich von Menschen, die Behindertenwerkstätten oder Schulen für Gehörgeschädigte besuchen, zu unterscheiden. M. (24) formuliert als Begründung für die bereits zitierte Entscheidung, nach der Grundschule nicht auf eine Schule für Gehörlose gehen zu wollen: »für mich ging’s gar nicht, dass man dann keine Pausenglocke mehr hat. […] das war für mich nichts!« (D., 19) M. passt sich der – vielleicht nur angenommenen – Erwartung der Anderen an, dass er sich von ihnen nicht unterscheide. Indem er die besonderen Hilfsmittel Gehörloser, auf die er mutmaßlich auch einmal angewiesen sein wird, als fremd kennzeichnet, betont er seine Zugehörigkeit zu den Hörenden. I. (22) sagt, »Ich möchte den Leuten vermitteln, dass alles gut ist. Die Leute woll’n ja hör’n, dass alles gut ist«. Sich als gehörlos zu ›outen‹ wird zum Synonym für ein Problem. Rausch stellt eine junge Frau vor, die von einem Klassenraum aus ihrer Zeit als Schülerin berichtet: »Das war n Raum wo z total hallte. M. Ich konnt das aber auch nich so/ich wusste, es is jetzt das Raumproblem und die Größe, aber ich konnt das nich irgendwie einfordern oder verändern.«38 »Das« steht für: eine Sonderrolle einfordern, den anderen etwas auferlegen, Kosten verursachen, Situationen und Räume für Viele nach den Bedürfnissen eines oder einer Einzelnen zu gestalten. Doch ohne solche Eingriffe geht es nicht: »Gerade wenn, wenn’s wichtig ist […] oder viele Leute da sind [merkt man halt], dass man einfach nichts hört. Gesprächen folgen ist schwer, gerade im Dunklen, wenn man die Person nicht angucken kann, dann hör ich gar nix« (D., 19). Auch in anderen öffentlichen Institutionen erfahren die Betroffenen, dass alles, was Interaktionen und Abläufe verlangsamt, oder besondere Zuwendung erfordert, als störend empfunden wird. Die Organisation von Abhilfe wird von den Gehörlosen selbst erwartet, sie sollen dafür sorgen, dass eine reibungslose 38 | Rausch, »Hörbehinderung und Teilhabe«, 216. Das Zitat wurde von Christfried Rausch übernommen, dessen Transkription sich eng an der Lautsprache orientierte.

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Kommunikation stattfinden kann. In einer Arztpraxis wurde meiner Mutter, die auf Nachfrage nach ihrer Telefonnummer erklärte, sie könne als Gehörlose nicht telefonieren, gesagt, sie müsse doch irgendeinen Mitbewohner haben, der ein Telefonat annehmen könnte. In einer Augenklinik, in der sie vor etwa zehn Jahren behandelt wurde, war man nicht in der Lage, ihr im Wartezimmer Bescheid zu geben, wenn sie an der Reihe war. Sie musste sich immer eine Begleitung organisieren, die sie auf den Lautsprecher-Aufruf ihres Namens aufmerksam machen konnte. Das Unsichtbar-Machen der Hörprobleme, das sich gerade in den Interviews mit jungen Menschen findet, kann als Reaktion auf solche Erfahrungen gelesen werden. Bereits auf dem Weg in die Gehörlosigkeit lernen sie, sich Erwartungen der Umwelt anzupassen, noch bevor diese überhaupt geäußert werden. Sie erleben es als schwierig, die Anderen fortwährend darauf hinweisen zu müssen, sie anzuschauen, langsamer und deutlicher artikuliert zu sprechen, um ihr Verstehen zu unterstützen: Der Satz »Ich versuche es charmant rüber zu bringen« (I., 22), spiegelt, dass für Lippenlesende unumgehbare Anliegen nicht einfach eingefordert, sondern gestaltet werden. Sie erhalten so eine wohlgeformte Verpackung, um bei den anderen nicht anzuecken. Wenn möglich, werden daher indirekte Wege des Verstehens bevorzugt: »Gerade, wenn [in einem Supermarkt, A.N.] viel los ist und ne Kassiererin bisschen nuschelt, hab ich Probleme. Da helfen mir die Displays oder ich zahl einfach mit großen Scheinen (lacht)« (D., 19).

Bewältigungsstrategien 1: ›Tun als ob‹ Erste Beobachtung: Ich stehe mit der damals 40-jährigen gehörlosen Schwester einer Bekannten an einem Bücher-Flohmarkt-Tisch in der Kirchengemeinde des Viertels, in dem sie wohnt. Die Pfarrerin der Gemeinde kommt hinzu und spricht uns an. Nachdem ich uns vorgestellt habe, erzählt sie uns von weiteren Aktivitäten der Gemeinde, schaut dabei bewusst G. an und fragt sie schließlich etwas. G. reagiert, indem sie sich schnell und etwas distanziert verabschiedet. Im Nachhinein wird klar: G. hat die Pfarrerin, die sich Mühe gab, ihre Worte ablesbar zu gestalten, nicht verstanden und hatte Verstehen gespielt, um sie nicht zu enttäuschen. Zweite Beobachtung: Wir sind nach einer Veranstaltung bei der Veranstalterin zum Essen eingeladen. Das Gespräch dreht sich weiter um das Veranstaltungsthema und ihre Familie beteiligt sich interessiert. Nach dem Essen richte ich eine Frage an die erwachsene Tochter, die das Gespräch aufmerksam verfolgt hat und bemerke, dass sie nur wenig vom Gesagten mitbekommen hat: Sie ist beinahe gehörlos. Die SprecherInnen hatten zu schnell gewechselt, erklärt sie mir.

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In Gesprächen meiner gehörlosen Mutter mit Anderen kam es wiederholt zu Situationen, in denen ich aus ihrer Reaktion schließen konnte: Sie hat nicht verstanden. Doch auch sie hielt eine Fassade des ›Verstehens‹ aufrecht, ein interessiert wirkendes Schauen, hinter dem ihr Nicht-Verstehen für weniger geübte InteraktionspartnerInnen verborgen blieb. Dies kam vor, wenn sie schon mehrfach etwas nachgefragt hatte, wenn jemand anwesend war, vor dem ihr wiederholtes Nachfragen unangenehm war, oder wenn Ungeduld bei den anderen – Ärzten, Behördenangestellten etc. – spürbar wurde. Es gab diese Situationen auch, wenn wir zu zweit waren. Fragte ich nach, wurde deutlich, dass sie ›Löcher‹ bemerkt hatte, doch war sie nicht sicher, ob sie verstanden hatte oder nicht. Für sie lagen Verstehen und Nichtverstehen nah beieinander, verbunden durch die Erwartung nachträglicher Bearbeitung. Ihr spontanes Verhalten war vom Wunsch nach ununterbrochener und unkomplizierter Kommunikation geleitet. Dahinter stand – sicher nicht immer bewusst – das Anliegen, die Wiederholung einer häufig gemachten Erfahrung abzuwenden, nämlich den Abbruch der Kommunikation durch die GesprächspartnerInnen. Doch kam es auch auf diesem Weg zu Kommunikationen, in denen die Wechselseitigkeit nicht funktionierte und die GesprächspartnerInnen sich – manchmal unbemerkt – voneinander entfernten. Dass es zu diesen Reaktionen nicht nur in Interaktionen mit Unbekannten kam, sondern auch in vertrauten Konstellationen, deutet darauf hin, dass es nicht allein darum ging, eine Fassade der Normalität für Andere aufzubauen. Nicht dauernd zu manifestieren, dass Kommunikation mit Lippenlesenden nicht immer mühelos ›nebenbei‹ vollzogen werden kann, ist auch eine Strategie der Bewältigung. Das Nicht-Zeigen setzt auf Später-Verstehen. Indem die Lippenlesenden die noch nicht hergestellte Wechselseitigkeit der Perspektiven weder für sich noch für die anderen zum Fakt werden lassen, verhindern sie, dass eine Spirale des Zweifelns an ihrem Verstehen angestoßen wird. Fatalerweise fallen Momente des Nicht-Verstehens seitens Gehörloser in einer Umwelt, in der Einseitigkeit und fehlende Perspektivübernahme viele Kommunikationen kennzeichnet, oft gar nicht auf. Auch in den eingangs aufgeführten Beobachtungen war das Nicht-Zeigen von Nicht-Verstehen von der Absicht gespeist, das Gefühl von Verunsicherung gering zu halten. Da diese Absicht im Verlauf der Interaktionen scheiterte, wurde ich als Beobachterin aufmerksam. Die Strategie, das Löcher-Füllen als Ungefähr-Verstehen wahrzunehmen und auf spätere Klärung zu vertrauen, funktionierte in diesen Fällen nicht. In vielen anderen Szenen, die ich nicht dokumentierte, weil sie reibungslos vonstatten gingen, vermieden es Gehörlose mit dieser Strategie erfolgreich, die eigene Aufmerksamkeit für die voranschreitende Kommunikation durch Zweifel zu beeinträchtigen und bei den anderen Unsicherheit auszulösen. Das ungefähr Verstandene erhöht die Wahrscheinlichkeit des Erkennens der nachfolgenden Worte und schafft damit eine

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größere Sicherheit, eine gute Voraussetzung für die Fortsetzung des Lippenlesens und Verstehens. Verstehen ohne besonderen Aufwand für die Anderen ist für gehörlose Lippenlesende gerade im Arbeitsleben bedeutsam. Häufiges Nichtverstehen sprachlich übermittelter Arbeitsaufträge erscheint bedrohlich, weil es ungewollte Ergebnisse nach sich ziehen kann und Zeit kostet. Umso mehr Ungeduld und Zeitdruck entstehen, desto häufiger entwickeln Gehörlose auch in diesem Zusammenhang Strategien, Nichtverstehen zu überspielen. G., die als Reinigungskraft in einem Hotel arbeitet, versuchte solche Situationen zu vermeiden, indem sie für die Kommunikation mit ihrem Arbeitgeber auf ›vage‹ Symbole zugriff, mit denen sie Verstehen mimte, ohne es ausdrücklich werden zu lassen. Sie ging davon aus, dass sie ohnehin wusste, was sie zu tun hatte. Im Nachhinein zeigte sich jedoch, dass ihre Kolleginnen ihr Nicht-Verstehen einplanten und sie Arbeiten ausführen ließen, die eigentlich ihnen aufgetragen worden waren. Während sie selbst Pausen einlegten, verlagerte sich das Arbeitsaufkommen auf die Schultern von G., die sich darüber beklagte, dass sie weit mehr arbeitete, als die anderen. Gehörlose greifen in vielen Situationen im Alltag zur Strategie des ›Tun als ob‹, weil sie fürchten, dass andere die Interaktion mit ihnen als schwierig empfinden und sie in der Folge nicht mehr einbeziehen. Das zugrunde liegende Problem, die fehlende Herstellung wechselseitigen Verstehens, wird damit jedoch befestigt. Es ist kein Problem, dessen Ursache ein Mangel an Ressourcen der Gehörlosen ist. Es entsteht vielmehr zwischen den Beteiligten an Interaktionen, wenn Nichtverstehen negativ gewertet wird und bei Gehörlosen die Erwartung hervorruft, dass sie schnell und reibungslos funktionieren müssen. Der Wunsch, Klarheit über etwas zu erlangen, kann sich – je nach Umfeld – für Gehörlose schnell mit einer Infragestellung ihrer Position verbinden. Das Beispiel von G. enthält eine weitere Ebene, denn sie ist auch Migrantin. Die Sprache, die sie von den Lippen lesen muss, ist nicht die Sprache, die sie erlernte, als sie noch hören konnte. Für sie hat die Bewältigungsstrategie des ›Tun als ob‹ zur Folge, dass sich Barrieren um neue Wörter bilden und ihr den Weg zu etwas verstellen, das für sie als Migrantin sehr hilfreich sein könnte: Das Nebenbei-Lernen der Sprache während der Arbeit, während der Interaktion mit Anderen. Ein verstellter Zugang zu etwas Neuem ist auch in den anderen Beobachtungen enthalten: G. lernt das unbekannte Angebot der um sie bemühten Pfarrerin nicht kennen, der Tochter entgingen die Details des Gesprächs über ein Thema, über das sie – wie sich im Nachhinein herausstellte – schon viel wusste und das sie beschäftigte. In all diesen Fällen geschah ein Verzicht auf Informationen durch Gehörlose, um den Fluss der Interaktion der Hörenden nicht zu stören.

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Sichtbar wird eine Variante des oben unter Bezug auf Bourdieu beschriebenen Sinnes für die Möglichkeitsräume und ihre Grenzen. Er ruft hier eine spontane Voranpassung der Gehörlosen an Regeln hervor, von denen sie intuitiv ›wissen‹, dass sie die Praxis des sozialen Feldes, auf dem sie sich gerade bewegen, bestimmen.39 Das Verhalten der Gehörlosen macht darauf aufmerksam, wie sehr alltägliche Kommunikation – nicht nur in der Öffentlichkeit – von Zeitmangel und Ungeduld geprägt ist. Mit ihrem Verzicht auf umfassendes Verstehen entlasten sich Gehörlose von schwer zu bewältigenden Erwartungen und arbeiten zugleich und ungewollt daran mit, dass sich die grundlegende Problematik nicht ändert.

Bewältigungsstrategien 2: Das Themenfeld bestimmen Infolge der Befürchtung, etwas oder jemanden nicht verstehen zu können, ergreifen Gehörlose mitunter die Initiative, indem sie zuerst sprechen und damit bestimmen, um welches thematische Feld es gehen wird. Sie grenzen damit ein, welche Wörter zu ›lesen‹ sein werden. Auf diese Weise kann die Wahrscheinlichkeit zu verstehen erheblich erhöht werden. Nicht immer entsprechen solche Initiativen den Wünschen oder Erwartungen der Anderen an die Interaktion. Der Versuch, sich selbst das Verstehen zu erleichtern, kann zur Verhinderung offener, von Wechselseitigkeit getragener Kommunikation führen. Simone Jung berichtet in ihrem Buch über die gehörlose Protagonistin ihres Filmes Natalie oder der Klang nach der Stille davon, dass Natalie in Gesprächen, in denen ihre Unsicherheit darüber überhandnahm, ob ihr das Grundsätzliche entgangen war, reagierte, indem sie »den Spieß einfach um[dreht]«. Sie »bestimmt […] das Thema, über das gesprochen wird. Spricht sie selbst am meisten, behält sie leichter die Kontrolle über die Wörter«.40 In diesem Fall tritt an die Stelle einer Interaktion mit offenem Ausgang eine aus der Not geborene Einschränkung. Meine Mutter griff zu Themensetzung und ›Vielsprechen‹ paradoxerweise insbesondere dann, wenn ihr sehr viel an einer GesprächspartnerIn lag. Bei für sie ›interessanten‹ Menschen wuchs ihre Befürchtung, sie durch mehrfaches Nichtverstehen in unvorhergesehenen Themenfeldern zu enttäuschen und die Beziehung in der Folge zu verlieren. Mit offensivem Sprechen die Gefahr des Nichtverstehens zu umgehen, ermüdete indes die Anderen, die sich aus dem zum Monolog tendierenden Gespräch zu befreien versuchten. Auch bei längerem Andauern oder häufigem Vorkommen thematisierten die Anderen das Problem jedoch nicht. Die Gehörlosigkeit meiner Mutter veranlass39 | Bourdieu, Sozialer Sinn, 107. 40 | Jung, Natalie oder Der Klang nach der Stille, 24.

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te sie, sich nicht ›wie üblich‹ zu verhalten. Das Thema zu wechseln oder das Wort für sich einzufordern, wäre für die Widerherstellung eines Dialogs aber notwendig. Dass dieses okkupierende Sprechen für meine Mutter eher ungewöhnlich war und einen Versuch darstellte, einen interessanten Anderen nicht zu verlieren, erschloss sich den InteraktionspartnerInnen nicht. In Gruppengesprächen, in denen Verstehen und Verfolgen des Gesprächsfadens besonders anstrengend ist, beobachtete ich mehrfach, dass Lippenlesende als Alternative zum gehetzten Hin- und Herschauen und Lückenverstehen die Möglichkeit suchten, einzelne GesprächspartnerInnen in ein Zwiegespräch zu verwickeln und ›festzuhalten‹, um ihr Abwandern zurück zum Gruppengespräch zu verhindern. In diesen Kommunikationen wurde mitunter Spannung spürbar, die ein Widerstreben der PartnerInnen spiegelte, sich auf das Gespräch einzulassen und dadurch das Gruppengeschehen zu verpassen. Eine lockere Atmosphäre kam dann nicht zustande. Es entstanden ungleiche Gespräche, in denen die Gehörlosen um die Aufmerksamkeit ihrer jeweiligen PartnerIn rangen, um nicht in die Einsamkeit neben einem für sie unzugänglichen Gruppengespräch zu fallen. Das Dilemma, das sich in solchen Situationen entwickelte, war wiederum, dass sich hörende Beteiligte selbst bei geringem Interesse nur unter erheblichen moralischen Schwierigkeiten aus solch ungleichen Gesprächen zu lösen wagten. Eine Zwickmühle zeichnet sich ab, denn ein Gespräch mit Lippenlesenden wird unter diesen Umständen zu etwas Besonderem. Es ist für die Gehörlosen durch eine vergleichsweise große Bedeutung des Kommunizierens ›an sich‹ gezeichnet und überträgt das Problem des Ringens um Beteiligung, aus dem sie durch häufige SprecherInnenwechsel ausgeschieden sind, auf ihre jeweilige hörende GesprächspartnerIn. Wenn dieser Zusammenhang nicht reflektiert wird, kann es dazu kommen, dass die Gehörlosen beim nächsten Zusammentreffen von vornherein isoliert werden und ihre Versuche, GesprächspartnerInnen zu finden, misslingen. Auf beiden Seiten können Unwohlsein und sogar Schuldgefühle entstehen, die ein unbeschwertes Miteinander der Gruppe verhindern. Das grundlegende Problem, das durch die beobachtete Bewältigungsstrategie sichtbar wird, ist die unausgesprochene aber selbstverständliche Übertragung der Aufgabe an die Gehörlosen selbst, das Funktionieren von Kommunikation sicher zu stellen. Sie können auf sich gestellt an dieser Aufgabe nur scheitern, denn die Lösung hängt nicht von ihnen allein ab. Nicht-Sofort-Verstehen wird zum Problem insbesondere in einer Praxis, die Kommunikationen als schnell, regellos und von Spontaneität gezeichnet idealisiert – auch wenn dies durchaus nicht alle kommunikativen Interaktionen kennzeichnet. Dieses Ideal wird durch eine Person, die nicht mithalten kann, bedroht – und das betrifft nicht nur Gehörlose, sondern ebenso beispielsweise Nicht-Muttersprachler. Aber statt gemeinsam an einer Alternative zu arbeiten, werden durch die

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Delegation der Herstellung von Problemlosigkeit an die gehörlose Person die Hindernisse für eine von Offenheit und Wechselseitigkeit gezeichnete Kommunikation verstärkt.

Bewältigungsstrategien 3: Rückzug Die nahezu gehörlose Schülerin P. lernte ich beim Wandern kennen. Sie erzählte mir von ihren Erfahrungen, nachdem sie mich als Tochter einer Gehörlosen ›entdeckt‹ hatte. Wir fielen immer weiter zurück, denn wir blieben oft stehen, damit sie meine Lippen besser sehen konnte, wenn ich sprach. Sie erzählte, dass sie auf dem Nachhauseweg mit ihren Freundinnen von der Schule oft darauf verzichte, alles mitzubekommen. Es sei anstrengend, dauernd nachzufragen und sie fürchte auch, die Unbeschwertheit des Miteinanders zu stören. Um nicht als ›anstrengend‹ wahrgenommen zu werden, ziehe sie sich häufig zurück. Die Erzieherin F. verlor ihr Gehör sukzessive vermutlich als sie etwa 30 Jahre alt war und bereits viele Jahre in einer Kindertagesstätte gearbeitet hatte. Dass ihr Arzt ihr von einer weiteren Ausübung ihres von Lärm gezeichneten Berufs abriet, schockierte sie. Vollständig aus der Bahn warf sie jedoch, dass, nach anfänglichen Bemühungen, die Menschen ihrer Umgebung gestresst auf ihre Verstehens- und Verständigungsprobleme reagierten. Es fiel ihr schwer, ihr durch das schwindende Gehör beeinträchtigtes Verstehen durch Lippenlesen zu unterstützen. Sie wurde immer seltener zu informellen Team-Angelegenheiten hinzugezogen, fühlte sich ausgeschlossen. Schließlich zog sie sich zurück, ließ sich krankschreiben und beschrieb sich als »vereinsamt«. Rückzug findet sich – nicht immer so umfassend – in vielen Alltagsinteraktionen Gehörloser. Er basiert auf der Befürchtung, als anstrengend zu gelten, Zeit in Anspruch nehmen zu müssen, immer wieder kämpfen, auf die eigenen Bedürfnisse hinweisen und sich durchsetzen zu müssen. Das ständige Kämpfen ist eine Aufgabe, die die Betroffenen nur überfordern kann. Es verlangt das Vorhandensein eines Selbstbewusstseins, das jedoch nur schwer aufzubauen ist, wenn sie in der Ausgangssituation übergangen worden waren. Die weiter oben bereits erwähnte Schülerin, von der Rausch berichtet, erlebte einen Höhenflug im Deutschunterricht, als für kurze Zeit Rahmenbedingungen geschaffen wurden, die ihr das Verstehen durch kreisförmiges Sitzen enorm erleichterten. Erstmals beteiligte sie sich aktiv am Unterricht. Doch dann erzählt sie davon, wie »dann zwei Kurse zusammengelegt wurden und dann war ich wieder still. […] Ich konnt das aber auch nich so/ich wusste, es ist jetzt das Raumproblem und die Größe, aber ich konnt das nicht irgendwie einfordern oder verändern.«41 Obwohl es sich bei der Herstellung guter Lernbe41 | Rausch, »Hörbehinderung und Teilhabe«, 206.

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dingungen um ein Interaktionsproblem handelt, das die Schülerin nicht allein lösen kann, wird es durch die Ignoranz ihrer Situation zu einem persönlichen Problem gemacht, vor dem sie hilflos resigniert. Ähnliche Probleme treten für Gehörlose bei Veranstaltungen, in der Diskothek, bei Geburtstags- und Familienfeiern oder beim Sport auf. Sie spiegeln sich auch in der Beschreibung des Abschieds von einer Walking-Gruppe durch die gehörlose Mit-Walkerin. Sie bezeichnet die Anderen als »Klöning«-Gruppe. Klönen kommt aus dem Norddeutschen und bedeutet, sich ungezielt über alles Mögliche zu unterhalten. Mit der Kennzeichnung der zentralen Aktivität der Gruppe jenseits des Ausgangsvorhabens, nämlich Sport zu treiben, macht sie darauf aufmerksam, dass hier aus dem Angebot des Turnvereins etwas geworden ist, an dem sie selbst nicht teilnehmen kann: Gleichzeitig auf einem holprigen, steinigen Weg gehen und auf den Mund der NachbarInnen schauen ist ihr unmöglich. Es entsteht ein Dilemma: Nimmt sie nicht teil, fühlt sie sich von den Aktivitäten der Gruppe ausgeschlossen, muss zudem die gewollte sportliche Bewegung anders organisieren. Nimmt sie teil, fühlt sie sich einsam in der Mitte der Gruppe (H., 73). Gehörlose ziehen sich in solchen Situationen häufig zurück, da es ihnen als Zumutung für die Anderen erscheint, eine gemeinsame Lösung einzufordern. In der Folge müssen sie vieles selbst organisieren: Einen Sport suchen, der im Kreis durchgeführt werden kann; Freizeitbeschäftigungen meiden, bei denen das Kreuz- und Quer-Reden nicht verhindert werden kann; gemeinsame Urlaube mit Bekannten ablehnen, in denen mangelnde Einbeziehung vorhersehbar ist. Aber auch Geburtstage werden nicht gern gefeiert: »da bin ich am Ende doch nur die Kellnerin, in dem ganzen Wirrwarr krieg ich sowieso nichts mit« (F., ca. 35). H. (73) trifft sich lieber einzeln mit ihren Bekannten: »Wenn ich mit ihnen einzeln reden kann, hab ich mehr davon.« Mit Rückzügen reagieren Gehörlose auf Situationen, von denen sie annehmen, dass ihnen eine Teilnahme ohnehin versagt bleibt, dass Beteiligung erhebliche Eigeninitiativen voraussetzt oder dass sie Aktivitäten der Anderen einfordern müssen. Rückzug kann dazu dienen, erwartete Abweisung oder Kränkung zu vermeiden und damit – im Sinn Bourdieus – einem Gespür für ohnehin verschlossene Möglichkeitsräume folgen. Es kann ebenso ein selbstbestimmtes Handeln darstellen, mit dem sich Lippenlesende eine Pause von den Anstrengungen des Verstehens verschaffen.

F a zit Lippenlesen stellt eine Ermöglichung für Spätertaubte dar, an sozialen Interaktionen teilzunehmen, die ihnen ohne diesen Zugang verstellt wäre. Es ermöglicht ihnen, sich weiterhin selbständig in der sozialen Welt, in die sie ein-

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sozialisiert wurden, zu bewegen. Lippenlesen ist jedoch keine Technik, die das Hörverstehen einfach ersetzen kann, sondern ein interaktives Geschehen, dessen Qualität von allen Teilnehmenden gestaltet wird. Es erfordert Aktivitäten aller InteraktionspartnerInnen. Die Auswertung der Berichte und Beobachtungen zeigt, dass gesellschaftliche Interaktionen von unausgesprochenen Voraussetzungen gezeichnet sind, die Grenzen für die Beteiligung von Lippenlesenden entstehen lassen, noch bevor diese ihre Fertigkeiten des Entschlüsselns von Mundbildern und des Erahnens wahrscheinlicher Inhalte einbringen können. Im Verlauf von Interaktionen in der Praxis werden diese Grenzen noch verstärkt. Unter den Voraussetzungen, die in unserer Gesellschaft den Erwartungshorizont für Kommunikation bilden, kommt dem Ideal, dass Kommunikation spontan, umkompliziert und reibungslos funktionieren müsse, große Bedeutung zu. Dieses Ideal lässt eine Definition von ›Normalität‹ entstehen, durch die jede Besonderheit oder Verzögerung von Kommunikation zu einer Störung wird. Der Charakter des Lippenlesens als bildinterpretierendes Verstehen ermöglicht es aber nur in wenigen Fällen, dass diesem Ideal entsprochen werden kann. Unter solchen Rahmenbedingungen gerät die Kommunikation unter einen Erfolgsdruck, der das Lippenlesen zusätzlich erschwert. Hintergrund für diese Entwicklung ist die Durchdringung vieler Bereiche des Lebens von Effektivierungs- und Optimierungszielen, die Zeitdruck und Zeitmangel entstehen lassen. Dies hat dazu beigetragen, dass Beschleunigung – als internalisierte und habitualisierte Verhaltensweise – in die Überzahl der Begegnungen des Alltags eingezogen ist. Beschleunigung prägt als unbewusste Voraussetzung selbst Situationen, in denen eigentlich genügend Zeit zur Verfügung steht. In der Folge werden Rastlosigkeit und Ungeduld auch in Interaktionen wirksam, in denen sie die Kommunikation behindern und damit kontraproduktiv werden. Das trifft Gehörlose, aber ebenso andere, wie z.B. SprachanfängerInnen. Ein weiteres – mit dem Phänomen der Beschleunigung verbundenes – Element, das Kommunikation für Gehörlose erschwert, ist das gesellschaftliche Festhalten an traditionell und institutionell gewachsenen Formen der Kommunikation, die einseitig und hierarchisch geprägt sind. Dazu zählen z.B. Frontalunterricht und Vorlesungen, das eilige Erteilen von Arbeitsaufgaben oder Aufrufe in Wartezimmern. Sie lassen Hürden entstehen, die durch ihren Charakter als Teil institutionalisierter Praktiken schwer zu überwinden sind, obgleich sie mit wenig Aufwand abgebaut werden könnten. Zugleich werden das Herstellen von Verständigung und das Beseitigen von Verstehenshindernissen in solchen Situationen in der Regel nicht als kollektive Aufgabe aller Beteiligten begriffen, sondern von den Gehörlosen erwartet. Das Problem, das zwischen den TeilnehmerInnen von Kommunikation entsteht, wird somit individualisiert. Die Erwartung, funktionierende Kommunikationsvorausset-

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zungen mitzubringen, wird an diejenigen gerichtet, deren Lebenslage genau dies unmöglich macht. Als Folge dieser Erwartungen wird Gehörlosigkeit von den Betroffenen selbst nicht als besondere Bedingung für Kommunikation, sondern als Hindernis für Beteiligung wahrgenommen. Die Furcht vor Stigmatisierung entsteht schon vor dem Eintreten von Gehörlosigkeit und geht einher mit der Befürchtung einer Reduktion der gesamten Person auf ein ›Anderssein‹, unabhängig davon, wer sie ist, was sie kann und will und wozu sie sich entwickeln möchte. Auf dieser Grundlage ist die Auseinandersetzung der Spätertaubenden und ihrer Bezugspersonen mit den auf sie zukommenden Veränderungen erheblich erschwert. An die Stelle von Versuchen, sich auf den Gehörverlust einzustellen, tritt im vorliegenden Datenmaterial besonders häufig ein Nicht-Wahrhaben-Wollen oder Verbergen der Hörprobleme. Das Sichtbarwerden von Gehörlosigkeit wird insbesondere von Jugendlichen als Problem gefürchtet und daher vermieden. Für sie verkompliziert die Möglichkeit, ›aus der Reihe zu fallen‹ oder gar Rücksichtnahme einfordern zu müssen, den ohnehin schwierigen Übergang ins Erwachsensein. Aus diesen Befürchtungen resultiert, dass Gehörlose und nahestehende InteraktionspartnerInnen – Angehörige, FreundInnen – einander und Außenstehenden signalisieren, dass sich nichts verändere, alle sich völlig ›normal‹ verhalten können, obwohl sich im Alltag beständig das Gegenteil ereignet: Verstehen ›normalen‹ Sprechens ist für die Gehörlosen kaum zu bewerkstelligen und Sich-Verständlichmachen verlangt von den Hörenden ein besonderes, ›theatralisches‹ Sprechen, unterstützende Gesten und ausgeprägte Mimik, die nicht als ›normal‹ bezeichnet werden können. Die Orientierung an der Normalität Hörender und damit an Unauffälligkeit verhindert, dass Auffälligkeit gewagt und das Gefühl der Peinlichkeit betonten Sprechens abgebaut werden können. In den vorliegenden Fällen zeigte sich, dass ein Festhalten an hörender Normalität das gemeinsame Ausprobieren von Möglichkeiten der Verständigung trotz veränderter Voraussetzungen verhinderte. Nur gemeinsam könnten aber Ansätze einer kollektiven Bewältigung probiert und das Selbstbewusstsein aller Beteiligten gestärkt werden, sich ›auffälliger‹ Praktiken, die die Kommunikation mit Gehörlosen erleichtern, in der Öffentlichkeit zu bedienen. Anhand des vorliegenden Materials konnte gezeigt werden, dass die individualisierende Zuschreibung der Verantwortung für den Umgang mit Schwierigkeiten bei den ForschungspartnerInnen zur Entwicklung von Bewältigungsstrategien führte, von denen drei herausgearbeitet wurden: ›Tun als ob‹ sie verstanden hätten; das ›Themenfeld bestimmen‹, um das zu Verstehende einzugrenzen; und ein ›Rückzug‹ aus der Kommunikation. Alle drei Strategien umfassen Aktivitäten, die Störungen der Wechselseitigkeit in den Kommunikationen nicht offen legen oder thematisieren, sondern – ungewollt – reproduzieren und festigen.

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Bezogen auf die interaktionstheoretischen Annahmen lässt sich schlussfolgern, dass der Wunsch der Lippenlesenden nach Teilnahme an Interaktionen dazu führt, dass sie häufig auf die kurzfristige Realisierung von Wechselseitigkeit – und damit auf die Möglichkeit der Perspektivübernahme – verzichten, um ihre Chancen für Anerkennung und langfristige Teilhabe zu erhöhen. Mit diesem Verzicht wird jedoch ihre Teilnahme als ›Eingeschränkte‹ (re-)produziert, die Entstehung von Missverständnissen provoziert und die Entwicklung von Beziehungen be- oder gar verhindert. Ungewollt tragen die vorgefundenen Strategien dazu bei, dass sich ein ›Anderssein‹ einschleicht, vor dessen Zuschreibung sie sich eigentlich fürchten. Kommunikationen, in denen durch häufiges Akzeptieren von Ungefähr-Verstehen auf beiden Seiten eine Perspektivübernahme nur rudimentär stattfinden kann, erschweren die Auseinandersetzung miteinander enorm. Solche Kommunikationen beeinträchtigen auch die Möglichkeiten, sich – oder die Sicht auf ›Welt‹ – weiter zu entwickeln. Die Gewöhnung daran, Unsicherheiten und Nicht-Verstehen zu verbergen, um Kommunikation aufrecht zu erhalten, birgt zudem die Gefahr, dass Neues und Unbekanntes nur eingeschränkt als solches wahrgenommen werden kann. Das Entstehen von Fragen – und damit der Zugang zu erweitertem Wissen – werden erschwert. Die Auseinandersetzung mit dem Lippenlesen macht kenntlich, dass es für die Inklusion von Menschen in besonderen Lebenslagen nicht ausreicht, technische Hilfsmittel bereitzustellen, sowie Institutionen zu öffnen und für ihre Teilnahme auszustatten. Es muss darüber hinaus auch mit uns Hörenden etwas geschehen: Interaktionen müssen als ein Geschehen wahrgenommen werden, das zwischen Beteiligten mit unterschiedlichen Voraussetzungen stattfindet. Die Verantwortung für ein Gelingen muss gemeinsam geteilt werden. Als wichtiger Schritt auf diesem Weg lässt sich im Anschluss an meine Ergebnisse die Entschleunigung von Kommunikation formulieren. Eine Minderung des Zeitdrucks könnte in vielen Situationen Raum für die Thematisierung von Problemen schaffen, zu denen auch Hemmungen, Berührungsängste und Verkrampfungen auf Seiten von Hörenden zu zählen sind. Als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, könnte die Herstellung der notwendigen Voraussetzungen von Kommunikation vor allem der vorherrschenden Individualisierung entgegen wirken und das gemeinsame Ansprechen und Suchen von Lösungen für Probleme zur Selbstverständlichkeit werden lassen.

B ibliogr afie Ahrbeck, Bernd. Gehörlosigkeit und Identität Probleme der Identitätsbildung Gehörloser im Lichte soziologischer und psychoanalytischer Theorien. Hamburg: Signum, 1992.

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Teil 2: Taube Akteure und Gehörlosenverbände in Interaktion mit der hörenden Mehrheitskultur

Die ›Lex Zwickau‹ Zwangssterilisierungsdebatten in der Gehörlosenbewegung Ylva Söderfeldt und Enno Schwanke §1. Kinder, die wegen angeborener Blindheit, angeborener Taubheit, wegen Epilepsie oder Schwachsinn als unfähig erkannt werden, am normalen Volksschulunterricht mit Erfolg teilzunehmen, sind, sobald wie möglich, einer Operation zu unterziehen, durch welche die Fortpflanzungsfähigkeit beseitigt wird. Dabei sind die für die innere Sekretion wichtigen Organe zu erhalten. (G ustav B oeters , L ex Z wickau I, 1924)

E inleitung Die Geschichte der Gehörlosen als Opfer nationalsozialistischer Verbrechen ist nach wie vor kaum geschrieben.1 Insbesondere waren Gehörlose Opfer von Zwangssterilisierungen und Euthanasie. Allerdings ist weder die genaue Anzahl zwangssterilisierter Gehörloser, noch die genaue Anzahl ermordeter Gehörloser im Rahmen der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Verbrechen bekannt. Dass Gehörlose noch kaum als eigenständige Opfergruppe der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ erforscht worden sind, liegt wesentlich daran, dass sie nie als bewusst zu tötende ›Patienten‹ durch die T4-Behörde klassifiziert wurden, sondern vielmehr im Zuge der allgemeinen Vernichtungspra1 | Dezidierte Untersuchungen finden sich bis dato kaum. Hervorzuheben sind jedoch Donna F. Ryan und John S. Schuchmann, Hg., Deaf People in Hitler’s Europe (Washington: Gallaudet University Press, 2002); Horst Biesold, Klagende Hände. Betroffenheit und Spätfolgen in bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der ›Taubstummen‹ (Solms-Oberbiel: Oberbiel, 1988). Bzgl. jüdischer Gehörloser: Vera Bendt, Öffne deine Hand für die Stummen. Die Geschichte der Israelitischen Taubstummen-Anstalt Berlin-Weißensee 1873-1942 (Berlin: Transit, 1993).

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xis in den Heil-und Pflegeanstalten durch Falschdiagnosen wie ›Schizophrenie‹ oder ›angeborener Schwachsinn‹ in den sich ausweitenden und um sich greifenden ›Euthanasie‹-Strudel gezogen wurden. Die Zahl der gehörlosen Zwangssterilisierten kann ebenfalls lediglich geschätzt werden – sie wurde von Horst Biesold auf 16.000 gesetzt.2 Dabei waren Gehörlose nicht ausschließlich Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch auf der Täterseite vertreten. Die Jahre von 1933 bis 1945 waren also eine Zeit der Widersprüche für die Gehörlosenbewegung. Bis heute wurde von den entsprechenden Nachfolgeorganisationen der Gehörlosen die Zeit des Nationalsozialismus noch nicht in umfassender Weise aufgearbeitet. Gleichwohl würde eine alleinige Fokussierung auf die Jahre 1933 bis 1945 diese Widersprüche nicht erschöpfend erklären können, weshalb wir für die Einbettung des Nationalsozialismus in einen breiteren historischen Kontext plädieren: Nicht erst 1933 begannen Experten, Politiker und Betroffene in Deutschland, sich mit Zwangssterilisierungen, Ausgrenzungsmechanismen und Stigmatisierungen sogenannter minderwertiger Teile der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der eingangs angeführte Ausschnitt aus dem postulierten Sterilisierungsgesetz des Zwickauer Medizinalrates Gustav Boeters (1869-1942) gibt erste Hinweise auf eine sozial- und biopolitische Erosion der Gesellschaft und steht dabei exemplarisch dafür, dass sich bereits in der Weimarer Republik erfolgreich ein Diskurs etabliert hatte, der darauf abzielte, bestimmte Gesellschaftsgruppen als erblich ›belastet‹ oder ›minderwertig‹ auszugrenzen.3 Im politischen Klima der Weimarer Republik hatten Gehörlose allerdings ganz andere Möglichkeiten als zur Zeit des Nationalsozialismus, ihre Meinung hierzu zu artikulieren. Gerade in Bezug auf die recht schmale Forschung zur Geschichte der Gehörlosen im Nationalsozialismus ist es daher lohnenswert, das Engagement und die Argumentationsmuster der Gehörlosenorganisation(en) im Zusammenhang mit Sterilisierungsdebatten unmittelbar vor deren Gleichschaltung ab 1933 in den Blick zu nehmen. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, die bestehende Forschungslücke weiter zu schließen und dabei auf ein dreifaches historisches Desinteresse hinzuweisen: 1. Die im deutschen Sprachraum dezidiert fehlende Auseinandersetzung mit der Gehörlosenbewegung im Nationalsozialismus und dabei vor allem die Fokussierung auf deren ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozia2 | Zur Schwierigkeit der Schätzungen vgl. Donna F. Ryan, »Introduction«, in Deaf People in Hitler’s Europe, ed. Ryan und Schuchmann, 4-5. Schuchmann beruft sich bei der Zahl ebenfalls auf Biesold, vgl., John S. Schuchmann, »Deafness and Eugenics in the Nazi Era«, in John Vickrey Van Cleve, Hg., Genetics, Disability, and Deafness (Georgetown: Gallaudet University Press, 2004), 72-78, hier 75. 3 | Michael Schwartz, »›Euthanasie‹-Debatten in Deutschland (1895-1945)«, VfZ 46, Nr. 4 (1998): 622.

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lismus – ein Themenkomplex, der wesentlich ›von außen‹ durch die US-amerikanischen Wissenschaftler Donna Ryan und John Schuchmann bzw. durch den Bremer Gehörlosenpädagogen Horst Biesold angestoßen wurde und nach wie vor in den USA seinen Schwerpunkt hat; 2. Die Betonung der Stigmatisierung von Gehörlosigkeit innerhalb der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Eugenikbewegung sowie die hier gedachten ›Lösungsansätze‹; und 3. die Einbeziehung einer Rezeptionsgeschichte der Eugenik durch die Betroffenen selbst, was im vorliegenden Beispiel bezüglich der Auswirkungen und Forderungen des vorgeschlagenen Sterilisationsgesetzes ›Lex Zwickau‹ zu Beginn der 1920er Jahre geschehen soll. Diese drei Themenfelder sollen nachfolgend zu einem Narrativ verwoben werden, wodurch unterschiedliche Aspekte der Verfolgung und Kollaboration Gehörloser näher beleuchtet werden können. Mit Blick auf die bisherigen Untersuchungen zur Gehörlosenbewegung im Nationalsozialismus wird deutlich, dass diese sich vorrangig mit der Beziehung zwischen Gehörlosigkeit und Eugenik aus der Perspektive der (hörenden) legislativen, administrativen sowie medizinischen Denker, Gestalter und Entscheider befassen.4 Unserer Auffassung nach verkennt ein solches Narrativ, dass es sich bei der Gehörlosenbewegung um eine reichsweit gut vernetzte Gemeinschaft handelte, die auf politische Stimmungslagen stets mit ihren jeweiligen Organen reagierte. Das spiegelte sich besonders bei solchen medizinischen und politischen Diskussionen wider, die Interessenschwerpunkte der Gehörlosenbewegung betrafen. Unter Gehörlosenbewegung fassen wir allgemein die organisierten Gruppen für Geselligkeit, Interessenvertretung, Sport und gegenseitige Unterstützung, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Gehörlosen in Deutschland getragen wurden. Es handelte sich hierbei also um eine sehr aktive, teils proaktive Bewegung und nicht nur um einen widerspruchslosen Spielball medizinischer oder staatlicher Entscheider. 4 | Vgl. z.B. Ryan und Schuchmann, Hg., Deaf People in Hitler’s Europe; Biesold, Klagende Hände; Bendt, Öffne deine Hand für die Stummen; Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert (Frankfurt a.M./New York: Campus, 1997); Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870-1945 (Cambridge: Cambridge University Press, 1989); Regina Wecker u.a., Hg., Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert (Wien: Böhlau, 2009); Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion (Darmstadt: WBG, 2001); Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986); Peter Emil Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich (Stuttgart/New York: G. Thieme, 1988); Heinz-Georg Marten, Sozialbiologismus. Biologische Grundlagen der politischen Ideengeschichte (Frankfurt a.M.: Campus, 1983).

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Ein besonderer Fokus liegt folglich auf der Rezeption der von außen angestoßenen eugenischen Diskussionen innerhalb der Gehörlosenbewegung. Diese lehnte die eugenisch indizierten Sterilisierungsdebatten keinesfalls kategorisch ab, sondern nahm sie vielmehr als sinnvoll wahr und diskutierte sie ernsthaft. Gleichzeitig versuchte man – so die These des Aufsatzes – einen direkten Einfluss auf die Gesetzgebung zu erlangen, indem die Befürwortung eugenischer Maßnahmen mit der Feststellung verknüpft wurde, dass Gehörlosigkeit kein Indikationsgrund für eine Sterilisierung sei. Die Protagonisten der Gehörlosenbewegung gingen davon aus, dass politischer Einfluss nur durch derartige Zugeständnisse möglich wäre.

Z entr alisierungsbestrebungen der G ehörlosenbe wegung bis zur W eimarer R epublik Zu den zentralen Fragen seit der Gründung des ersten ›Taubstummenvereins‹ Deutschlands im Jahr 1848 zählte zweifelsohne die Etablierung einer deutschlandweiten Organisation für Gehörlose. Gehörlosenvereine waren typischerweise kleine, lokale Gruppen, die sich rund um einen Stammtisch in einem bevorzugten Lokal trafen. Organisationssoziologisch unterschieden sie sich demnach in der Zeit des Kaiserreichs nicht von anderen Lokal- und Freizeitvereinen. Die reichsweit bestehenden, lokalen Gehörlosenvereine zu einer Zentralorganisation zu vereinen, gestaltete sich aber als eine äußerst schwierige Aufgabe. Wiederholte Versuche im 19. und frühen 20. Jahrhundert scheiterten weniger an inhaltlichen Differenzen als an internen Machtkämpfen. Der Wunsch nach einer Gesamtorganisation blieb dennoch bestehen, versprach man sich davon doch eine stärkere Vertretung gegenüber Behörden, Institutionen und der (hörenden) Öffentlichkeit. Gerade Dachorganisationen begründeten ihre Existenz mit der politischen Mobilisierung und Emanzipation, während die lokalen Vereine sich eher als Vermittler von Populärkultur, Freizeitgestaltung und Ermöglichungsraum für den Erfahrungsaustausch verstanden. Problematisch war, dass eine Dachorganisation Zugriff auf die ohnehin geringen finanziellen Ressourcen und Netzwerke der Lokalvereine hätte und somit die Eigenständigkeit und Selbstverwaltung der jeweiligen lokalen Ableger einschränken oder reglementieren würde. Obgleich keine dauerhafte Lösung gefunden werden konnte, waren die Aufrufe zur ›Einigkeit‹ stets integraler Bestandteil der Gehörlosenpresse des späten 19. Jahrhunderts. So entstand 1892 bereits der Arbeitsausschuss für die Gründung eines Zentralver-

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bandes der deutschen Taubstummenvereine; ihm folgte 1899 der Zentralverband der deutschen Taubstummen (1912 aufgelöst).5 Erneute Zentralisierungsbemühungen wurden direkt nach dem Ersten Weltkrieg unternommen, scheiterten aber vor allem daran, dass sich zwei politisch konkurrierende Dachorganisationen gegenüberstanden. So waren die Ziele des Reichsverbandes der Taubstummen Deutschlands (1918) auf Vermittlung und Zusammenarbeit mit Lehrern und Behörden ausgerichtet, während sich der als sozialistisch verstehende Taubstummen-Parteibund (1918) insbesondere als Interessenwahrer der gehörlosen Arbeiterklasse verstand. Keines dieser Bündnisse war besonders langlebig, und Mitte der 1920er Jahre zeichnete sich die Vereinslandschaft weiterhin durch eine Vielzahl lokaler und regionaler Gruppen aus. Dies war ein wesentlicher Unterschied zur sonstigen Vereinslandschaft in Deutschland, die sich seit Ende des Ersten Weltkrieges durch eine Verbandlichung des Vereinswesen auszeichnete, d.h. eine tiefgreifende Reorganisation der Vereine, die sich zunehmend durch die Schaffung komplexer Vereinsstrukturen inklusive Verbandspresse auszeichnete.6 1927 wurde schließlich der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (ReGeDe) gegründet, auf den noch zurückzukommen sein wird.7 Gemeinsamkeiten zu anderen Vereinen zeigten sich hingegen bei der hohen Verortung des Sportes in den jeweiligen Vereinsstrukturen. So existierten bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts etliche lokale Turn-, Radfahr- und Schwimmvereine innerhalb der Gehörlosenbewegung. Es folgten weitere Sport- und vor allem Fußballvereine. Der Verband Deutscher Taubstummenvereine für Leibesübungen (1910) gab eine eigene Zeitschrift heraus, und auch die Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift räumte Sportnachrichten in einer eigenen Rubrik beachtlichen Platz ein. Über Sport ließ sich gerade in der Weimarer Republik eine starke gesellschaftliche Anschlussfähigkeit herstellen, behielt er doch nach dem Krieg seine militärische Bedeutung und transportierte weiterhin Bilder von Leistung, Gemeinschaft und Männlichkeit. Gerade für gehörlose Männer war diese Funktion bedeutsam, da sie vom Militärdienst ausgeschlossen waren. Weil die Kategorie Sport in der Gehörlosenbewegung vorrangig den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit bespielte, hatte sie gewissermaßen eine zweifache Symbolkraft: Einerseits fungierten die Darstellungen der sportlichen Leistungen und die Fähigkeit, beeindruckende Veranstaltungen zu organisieren als Nachweis der Leistungskraft und Stärke 5 | Vgl. Ylva Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere. The German Deaf Movement 1848-1914 (Bielefeld: transcript, 2013), 178-183. 6 | Zum Vereinswesen im Kaiserreich vgl. Klaus Nathaus, Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), hier insbesondere 140ff. 7 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere, 269-270.

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für die Allgemeinheit,8 anderseits warb man über den Sport weitere Gehörlose für den Eintritt in die Vereinsstrukturen und politisierte sie somit auch für Emanzipationsbestrebungen.

E ugenikbe wegung im 19. und 20. J ahrhundert Das Streben der Gehörlosenbewegung nach gesellschaftlicher Anerkennung und gleichberechtigter Teilhabe sah sich jedoch seit Mitte des 19. Jahrhunderts – neben anderen Herausforderungen rund um das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt – mit einem rassenhygienischen Diskurs konfrontiert, dessen Vertreter auf der Basis erbbiologischer Spekulationen auch über die Unfruchtbarmachung sogenannter ›Entarteter‹ entscheiden wollten, zu denen sie auch Gehörlose zählten. In diesem Zusammenhang ist es von grundlegender Bedeutung, die historischen Vorläufer der verbrecherischen und biopolitisch motivierten Ausgrenzungspraxis der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu benennen, die in Bezug auf die Gehörlosenbewegung im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 erstmalig staatlich korporierte Form annahm.9 Als Adolf Jost (1874-1908) 1895 seine Streitschrift über Das Recht auf den Tod veröffentlichte und das »sociale Elend in seinen mannigfaltigen Gestaltungen«10 in einer Anstalt beschrieb, manifestierten sich erste Sagbarkeitsverschiebungen und ein sich wandelnder medizinischer Diskurs bezüglich Sterbehilfe. In den Mittelpunkt rückte nun die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Denn auch in den Räumen eines »Irrenhauses«, so Jost, »ist es doch möglich, daß jemand in die Lage kommt, in welcher das, worin er seinen Mitmenschen noch nützen kann, ein Minimum, das aber, was er unter seinem Leben noch zu leiden hat, ein Maximum wird, wo es also für alle nur wünschenswert ist, wenn sein Leben ein Ende nimmt.«11 Dieser ethische Wertewandel von individueller Sterbehilfe eines unheilbar Kranken, hin zu einer Sterbehilfe für das Kollektiv – der ›Erlösung‹ eines ›Unnützen‹ – passierte nicht plötzlich. Vorausgegangen war eine jahrzehntelange Suche im 8 | Zum Anlass der Deutschen Taubstummen-Kampfspiele 1925 schrieb die Allgemeine deutsche Taubstummen-Zeitschrift: »[Es liegt] im Interesse aller Gehörlosen, ob sie Sport betreiben oder nicht, die Kampfspiele zu einer machtvollen Kundgebung unserer Sache zu gestalten.« »An alle deutschen Gehörlosen-Vereine«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift 9 (1925): 40. 9 | Im GzVeN wurde »erbliche Taubheit« als einer der acht Indikationspunkte für die Zwangssterilisierung aufgelistet. 10 | Adolf Jost, Das Recht auf den Tod. Sociale Studie (Göttingen: Dietrich, 1895), 7. 11 | Ebd.

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19. Jahrhundert nach neuen bevölkerungspolitischen Maßnahmen sowie die Ausgrenzung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen innerhalb der Gesellschaft. Phänomene wie Industrialisierung, Urbanisierung, Pauperismus und das beklemmende Gefühl eines Bevölkerungszuwachses führten um 1900 seitens naturwissenschaftlich ausgerichteter Akademiker zu neuen Überlegungen einer gezielten Bevölkerungsentwicklung. Ausdruck hiervon sind sozialökonomische Theorien wie der Malthusianismus, die biologischen Vererbungslehren von Jean-Baptiste Chevalier de Lamarck (1744-1829) oder Charles Darwin (1809-1882) sowie die Entstehung der Rassenanthropologie auf der Grundlage von Joseph Arthur de Gobineaus (1816-1882) Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853-1855.12 Den grundlegenden bevölkerungspolitischen Ideen der Zeit war gemein, dass sie mehr oder minder naturwissenschaftliche Überlegungen und Befunde auf die Gesellschaft übertrugen und damit suggerierten, dass biologische Gesetzmäßigkeiten hier ebenfalls eine Gültigkeit besäßen. Die bis dahin geltende Denkfiguration vom sakrosankten Recht auf Leben und von der Sonderstellung des Menschen (Gottesebenbildlichkeit) wurde durch die rationalistische Aufklärung und die positivistischen Naturwissenschaften aufgegeben – der Mensch war fortan Teil der Zwangsläufigkeit einer unerbittlichen Natur.13 Damit wurden Staat und Gesellschaft, wie es Wolfang Eckart treffend beschreibt, in Analogie zum Organismus gesetzt.14 Am deutlichsten trat dies beim Sozialdarwinismus hervor, der in Deutschland seinen prominentesten Vertreter in dem Arzt und Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919) fand. In Anlehnung an Darwin argumentierte Haeckel, dass es auch in der Menschheitsgeschichte zu einer natürlichen Auslese komme; d.h. auf der Basis eines angenommenen, naturgegeben Ungleichheitspostulats kämpfe auch der Mensch um sein Dasein, wobei nur die Tauglichsten über12 | Aufgrund des begrenzten Umfangs des Artikels muss ein Überblick über verschiedene biopolitische Denkansätze auf einer kursorischen Ebene verbleiben. Siehe hierzu ausführlicher: Kühl, Die Internationale der Rassisten; Weindling, Health, Race and German Politics; Wecker u.a., Hg., Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?; Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich; Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus; Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene; Marten, Sozialbiologismus. 13 | Vgl. Klaus-Dietmar Henke, »Einleitung. Wissenschaftliche Entmenschlichung und politische Massentötung«, in Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Hg. Klaus-Dietmar Henke (Köln u.a.: Böhlau, 2008), 11. 14 | Vgl. Wolfgang U. Eckart, »Ein Feld der rationalen Vernichtungspolitik. Biopolitische Ideen und Praktiken vom Malthusianismus bis zum nationalsozialistischen Sterilisationsgesetz«, in Die nationalsozialistische Euthanasie Aktion T4 und ihre Opfer, Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwar t, Hg. Maike Rotzoll u.a. (Paderborn u.a.: Schöningh, 2010), 28.

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lebten.15 Bezeichnenderweise ist jedoch das darwinsche Prinzip des ›Survival of the Fittest‹ kein rein individuelles mehr, sondern fungiert im Sozialdarwinismus als Distinktionsmerkmal von Kollektiven (Klassen, gesellschaftliche Gruppierungen, ›Völkern‹, ›Rassen‹ usw.). Unter dem Primat vom Kampf ums Dasein entfaltete das alles beherrschende Prinzip des Sozialdarwinismus seine Wirkmächtigkeit seit den 1860er Jahren.16 Die wesentlichen Protagonisten waren Naturforscher, Anthropologen und Mediziner, die ihre Erkenntnisse mit dem Glauben an unbegrenzt möglichen Fortschritt legitimierten und damit die bestehenden religiösen und philosophischen Normen sowie korrespondierenden Gesetzgebungen generell zur Disposition stellten. Nationalistische, rassistische oder sozialdarwinistische Diskurse hielten seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch zunehmend Einzug in das Gehörlosenbildungswesen.17 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Pädagogik, mehr als die Medizin, als Hort des Wissens über und die Handhabung von Gehörlosen etabliert.18 Dennoch finden sich Hinweise darauf, dass die immer stärker werdende naturwissenschaftlich ausgerichtete Debatte selbst einen namhaften Gehörlosenlehrer wie Friedrich Moritz Hill (1805-1874) um den Verlust seiner Deutungshoheit fürchten ließ. In einer Schrift von 1866 verteidigt er gegenüber Ärzten durchgehend die Exklusivität der pädagogischen Kompetenz, Gehörlose eigenständig beurteilen und vor allem selbstständig beschulen zu können. Insbesondere den von medizinischer Seite proklamierten engen Zusammenhang von Gehörlosigkeit und Bildungsunfähigkeit wollte er nicht unwidersprochen stehen lassen: »Weil sich das geistige Leben jener Viersinnigen in Folge ihres Gebrechens nicht in derselben Weise äussert, wie es bei den Vollsinnigen der Fall ist, […] hält man sich zu dem Schlusse für berechtigt, dass ihnen mit dem Gehör auch die den Menschen charakterisierende geistige Befähigung versagt sei, sie also in die Kategorie der Blödsinnigen gehören.«19 Für Hill galt bereits die Vorgehensweise der Ärzte, die mittels Gutachtensystem eine Kategorisierung, Beschreibung und Erfassung forcierten, als 15 | Vgl. Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II (Stuttgart/New York: G. Thieme, 1990), 587. 16 | Vgl. Gerhard Baader, »Psychiatrie und Vernichtungsstrategien in der NS-Ideologie«, in Verwaltetes Morden im Nationalsozialismus. Verstrickung – Verdrängung – Verantwortung von Psychatrie und Justiz, Hg. Ulrich Jockusch und Lothar Scholz (Regensburg: Roderer, 1992), 19. 17 | Vgl. Douglas C. Baynton, Forbidden Signs. American Culture and the Campaign Against Sign Language (Chicago/London: University of Chicago Press, 1996). 18 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere, 65-66. 19 | Friedrich Moritz Hill, Der gegenwärtige Zustand des Taubstummen-Bildungs-Wesens in Deutschland. Eine Mahnung an die Taubstummen-Lehrer und ihre Vorgesetzten,

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grundlegend logischer Fehlschluss und falscher Zugang, um eine Bildungsunfähigkeit bei gehörlosen Kindern zu prognostizieren: »Diese den Aerzten eingeräumte Competenz führt zu Consequenzen, wodurch tbst. Kinder der grössten Gefahr falscher Beurtheilung, […] ausgesetzt sind; denn es ist nicht schwer nachzuweisen, dass die Aerzte mit seltenen Ausnahmen gänzlich unfähig sind, über das Vorhandensein der Taubstummheit und die Bildungsunfähigkeit der davon Betroffenen wohl begründete und darum berechtigte Urtheile abzugeben.«20 Neben der Problematik der Bildungs(un)fähigkeit erhielt auch die Idee eines Eheverbotes für Gehörlose Aufwind. Dass solche Vorschläge von den Gehörlosenpädagogen selbst kamen, verdeutlichte nicht nur deren ambivalentes Verhältnis zur aufstrebenden Vererbungslehre, sondern auch, dass solche Überlegungen gänzlich ohne Ärzte und Naturforscher auskommen konnten. Gerade in den USA war ein potenzielles Heiratsverbot unter den Gehörlosenpädagogen ab 1880 ein virulentes Thema. Besonders prominent trat dabei Alexander Graham Bells (1847-1922) international stark rezipiertes Werk Memoir upon the Formation of a Deaf Variety of the Human Race von 1884 hervor. Bell, bekannt als Erfinder des Telefons aber im Hauptberuf Gehörlosenlehrer, nutzte darin das Erblichkeitsargument, um für die Lautsprachmethode zu plädieren. Eine Ehe zwischen Gehörlosen lehnte er strikt ab. Sie müsse durch Maßnahmen innerhalb des Bildungswesens verhindert werden, da das Eheverbot staatlich schwer durchsetzbar und nur begrenzt nützlich sei. Zwar war noch keine Rede von Sterilisierung, Bells Überlegungen zeigen aber deutlich, dass man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Indikatorenpool erörterte, mit dem gesellschaftliche Gruppen nicht nur nach Nützlichkeitskriterien geordnet werden konnten, sondern über den gleichzeitig Methoden und Überlegungen auf- und angestellt wurden, um die ›Ausbreitung‹ der als ›weniger nützlich‹ Eingestuften zu begrenzen.21 Als Form weiterer Spezialisierung und Professionalisierung etablierte sich aus diesem szientistischen Diskussionsklima heraus spätestens in den 1890er Jahren in allen industrialisierten Staaten die Eugenik. Der Begriff selbst wurde vom britischen Naturforscher Francis Galton (1822-1911) geprägt und umfasste die Communal- und Kreis-Schulbehörden, die Geistlichen und Aerzte, die Staatsregierungen und Landesvertreter (Weimar: Böhlau 1866), 11. 20 | Ebd., 26. Hill warf den Ärzten allgemein vor, dass sie nicht in der Lage seien, zwischen »als blödsinnig erw[iesenen]« gehörlosen Kindern und denen, die »sehr gute Geistesfähigkeiten« besaßen, zu unterscheiden. Vgl. ebd. 21 | Alexander Graham Bell, Memoir upon the Formation of a Deaf Variety of the Human Race (National Academy of Science: 1884), 221-224. Vgl. auch Jonathan Rée, I See a Voice. Deafness, Language and the Senses – A Philosophical History (Metropolitan Books, Henry Holt and Company: New York, 1999), 221-224.

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»die Wissenschaft von der Aufwertung der menschlichen Rasse durch verbesserte Fortpflanzung«.22 Die Eugenik verstand sich also als eine Form der Menschenzüchtung im Sinne der Erschaffung zukünftiger biologischer Eliten.23 Dabei diente die sogenannte ›positive Eugenik‹ der Aufwertung des Genpools der Bevölkerung durch Fördermaßnahmen, die ›negative Eugenik‹ hingegen sollte der Verschlechterung der Erbanlagen vorbeugen.24 Im deutschsprachigen Raum führte Alfred Ploetz (1860-1940) den Begriff der ›Rassenhygiene‹ ein, der sich der »Erhaltung und Fortpflanzung der biologischen Rasse unter den günstigsten Bedingungen«25 verschrieb. Auch Ploetz unterschied Formen und Arten der Rassenhygiene. Die ›quantitative Rassenhygiene‹ diente der Mehrung, die ›qualitative‹ der Verbesserung des Volksbestandes. ›Positive‹ und ›negative Rassenhygiene‹ sollten dabei deckungsgleich mit Konzepten der ›Auslese‹ und ›Ausmerze‹ sein. Die Rassenhygiene war jedoch keine simple ›Eindeutschung‹ der Eugenik. Vielmehr fungierte die Eugenik als Art Hintergrundfolie, aus der sich Handlungsmaxime ableiten ließen. Die Rassenhygiene war daher von Beginn an auf Tatumsetzung ausgerichtet und nicht nur ein vorwissenschaftlich ausgelagertes Gedankenfeld. Damit waren ihre Vertreter nicht nur gewillt, erbbiologische ›Gefahren‹ für die Menschheit zu erkennen, sondern verfolgten auch einen gewissen Messianismus: Sie waren diejenigen, die die Welt vor diesen Gefahren schützen konnten. Die rasche institutionelle und ideologische Verankerung der Rassenhygiene bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges ist Ausdruck ihres enormen Mobilisierungspotenzials: 1904 gründeten Alfred Ploetz, Ernst Rüdin (18741952) und Richard Thurnwald (1869-1954) die Zeitschrift Archiv für Rassenund Gesellschaftsbiologie, 1905 wurde die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet, 1907 kam es zur Gründung vom Ring der Norda, der später zum Bogenclub München wurde und sich der Erbgesundheit auf sportlicher Basis widmete. Darüber hinaus bestanden enge Verbindungen zum Bund für Mutterschutz, dem Deutschen Monistenbund und der Deutschen Gartenstadtge22 | Eine Definition des amerikanischen Eugenikers Charles B. Davenport, zitiert nach: Henry Friedlander, »Holocaust Studies and the Deaf Community«, in Deaf People in Hitler’s Europe, Hg. Ryan und Schuchmann, 16-17. Davenports »minderwertig« schloss »deaf-mutism« ebenfalls ein. 23 | Vgl. Wolfgang Uwe Eckart, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, (Köln: Böhlau, 2012), 26. 24 | »This is precisely the aim of Eugenics. Its first object is to check the birth-rate of the Unfit, instead of allowing them to come into being, though doomed in large numbers to perish prematurely. The second object is the improvement of the race by furthering the productivity of the Fit by early marriages and healthful rearing of their children.« Francis Galton, Memories of My Life (London: Methuen, 1908), 323. 25 | Zitiert nach Eckart, Medizin in der NS-Diktatur (Köln: Böhlau, 2012), 26.

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sellschaft. Rassenhygieniker waren also vielfach interessiert und organisiert – sie beeinflussten auch Vereinigungen, die auf den ersten Blick keine rassenhygienischen Anliegen verfolgten. Als wichtige intellektuelle Multiplikatoren dienten akademische Vertreter wie beispielsweise Eugen Fischer (1874-1967, Anatom und ab 1905 Lehrstuhlinhaber für Anthropologie in Freiburg i.Br.) und Ignaz Kaup (1870-1944, ab 1912 Lehrstuhlinhaber für Sozialhygiene in München).26 Die Rassenhygieniker und Sozialdarwinisten waren untereinander gut vernetzt, hatten etliche personelle Überschneidungen bei den verschiedenen Organisationsformen und waren publizistisch außerordentlich aktiv. Spätestens mit dem Arzt Wilhelm Schallmayer (1857-1919) betrat um die Jahrhundertwende ein weiterer rassenhygienischer Akteur im deutschsprachigen Raum das Feld, der mit seinem späteren Standardwerk Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker (1903) die Rassenhygiene noch stärker biologistisch auflud. Nach Schallmayer war zwar die Vermehrung von Menschen mit dem bestmöglichen Erbgut notwendig, weitaus wichtiger war aber die Verhinderung der ›ungünstigsten‹ Variationen. Er formulierte erstmalig Überlegungen, die sich dezidiert gegen sogenannte ›minderwertige‹ und ›kranke‹ Menschen richteten. Um deren ›Ausbreitung‹ zu verhindern, schlug Schallmeyer u.a. Sterilisierungen, Zwangsasylierungen und Heiratsverbote vor. Denn gerade die Medizin, Pflegeeinrichtungen und Hygiene seiner Zeit waren ihm zuwider, verhinderten sie doch die ›natürliche Auslese‹ und förderten dadurch bewusst den Anteil der ›Minderwertigen‹ in der Gesellschaft.27 Entscheidend für die Einstufung als ›degeneriert‹ war dabei weniger ein pathologisierter Befund als die Beurteilung des Einzelnen hinsichtlich seiner ›Nützlichkeit‹ für die Gesellschaft.28 Vor diesem Hintergrund kann die Rassenhygiene als ›dienliche Sozialtechnologie‹ verstanden werden, mit der sich die ›nationale Effizienz‹ steigern ließe.29 Dieser Auslegung folgend, offerierte sie ideale Patentlösungen für Gegenwart und Zukunft und forderte stetiges Handeln ihrer Akteure. Das rassenhygienisch immanente ›Nützlichkeitsdenken‹ sollte sich auch bald gegen Gehörlose richten. 1911 verabschiedete der Deutsche Reichstag ein neues Gesetz über die Beschulung blinder und gehörloser Kinder und ließ im 26 | Siehe hierzu insbesondere Peter Weingart, Jürgen, Kroll und Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992), 188-216. 27 | Vgl. Wilhelm Schallmayer, Die drohende physische Entartung der Culturvölker und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes, 2. Auflage (Heuser, Berlin und Neuwied: 1895), 5-7. 28 | Vgl. Enno Schwanke, Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof. Die nationalsozialistische Euthanasie in Polen während des Zweiten Weltkrieges (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2015), 30-31. 29 | Vgl. Kühl, Die Internationale der Rassisten, 22.

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Subtext erstmalig mitschwingen, dass Gehörlosigkeit erblich sei. Zwar verweist Horst Biesold zurecht darauf hin, dass im Gesetzestext kein rassenhygienisches Vokabular vorkommt, im Anhang des Gesetzestextes findet sich jedoch ein Musterfragebogen, der an verschiedenen Stellen eindeutig auf die Erblichkeit von Gehörlosigkeit abzielt.30 Gänzlich lässt sich dabei nicht klären, ob der Gesetzestext ein Ergebnis der allgemeinen rassenhygienischen Diskursverschiebung war oder eher das Streben der Gehörlosenpädagogen nach erbbiologischer Erfassung ihrer Schülerinnen und Schüler widerspiegelte. Denn bereits seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war es eine weit verbreitete Praxis an Gehörlosenschulen, die Eltern und Verwandten der aufzunehmenden, gehörlosen Kinder durch – auch erbbiologische – Anamnesen zu erfassen.31 Eine solche Verfahrensart wurde an Schulen bereits seit 1897 von den Gehörlosenlehrern forciert und zeigt damit deutlich, in welch ambivalenten Spannungsverhältnis die Gehörlosenlehrer agierten. Zwar lässt sich konstatieren, dass die politischen und gesellschaftlichen Stützen des Kaiserreiches noch weitestgehend beständig gegen rassenhygienische Handlungsanleitungen waren, gleichzeitig hatte das Gesetz von 1911 in doppelter Hinsicht richtungsweisenden Charakter. Einerseits war es die Absegnung einer bereits etablierten Praxis, andererseits sollte es sich rückblickend für die Umsetzung des GzVeN bedeutsam zeigen, hatten doch die Schulbeamten dadurch eine gediegene Erfahrung in der Erfassung von Erblichkeitsdaten. Trotz des immensen nationalen und internationalen Vernetzungsgrades der Rassenhygieniker erfuhr ihr Denken erst durch den Ersten Weltkrieg starken gesellschaftlichen Aufwind. Gerade die generationellen Erfahrungen im Krieg, die mediale Konfrontation mit dem Massensterben der Soldaten sowie die ›nationale Kränkung‹ im Zuge der als ungerecht empfundenen Niederlage begünstigten wesentlich die Akzeptanz des sozialdarwinistischen Nützlichkeitsdenkens. Bezeichnenderweise waren es die biologisch-demografischen Auswirkungen des Krieges, die zu dem weitverbreiteten Ressentiment führten, dass die ›Stärksten‹ in die Stellungskriege ziehen mussten, während die ›Schwächsten‹ aufgrund ihrer ›Nutzlosigkeit‹ verschont blieben.32 Der Berliner Physiologe und Pazifist Georg Friedrich Nicolai (1874-1964) erfasste dieses Gefühl 1919 wie folgt: Der Krieg beschützt die Blinden, die Taubstummen, die Idioten, die Buckligen, die Skrofulösen, die Blödsinnigen, die Impotenten, die Paralytiker, die Epileptiker, die Zwerge, die Mißgeburten. All dieser Rückstand und Abhub der menschlichen Rassen kann ruhig 30 | Vgl. Biesold, Klagende Hände, 16. 31 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere, 37-38. 32 | Vgl. Johanna Bleker und Hans-Peter Schmiedebach, Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865-1985 (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 1987), 4-5.

Die ›Lex Zwickau‹ sein, denn gegen ihn pfeifen keine Kugeln. […] diese körperliche und geistige Krüppelgarde, die sich im freien Konkurrenzkampf des Friedens gegen ihre tüchtigen Mitbewerber kaum behaupten könnte, bekommt nun die fettesten Stellen und wird hoch bezahlt. 33

Für die Rassenhygieniker war der Weltkrieg also sowohl Bewährungsprobe ihrer Ideologie als auch propagandistische Chance. Unter dem Deckmantel der Demokratisierung und dem Anspruch einer angeblichen Gleichheit aller Staatsbürger in der Weimarer Republik setzte sich der rassenhygienische Diskurs mehr und mehr durch. Dabei wurden immer restriktivere Forderungen gegen sogenannte ›Minderwertige‹ formuliert.34

»I n die Tat umse t zen «: G ustav B oe ters und die ›L e x Z wick au ‹ Es reicht nicht aus, die zunehmende Popularität der Rassenhygiene in der Weimarer Republik allein mit den Kriegserfahrungen zu erklären, erkannten verschiedene Rassenhygieniker im Laufe des Krieges doch, dass dieser in ihrem Sprachgebrauch eher der ›kontraselektorischen Auslese‹ diente und eben nicht »zur Verbesserung des Menschenmaterials«35 beitrug. Hinzu kam, dass der Staat in den Kriegsjahren eher auf quantitative Bevölkerungspolitik setzte, als auf die rassenhygienisch-qualitative Politik. Die Ministerialbürokratie bespielte seit den Kriegsjahren vornehmlich die zwei bedeutendsten rassenhygienischen Themenfelder – die Ehegesundheit und die Geburtenkontrolle. Beide bezogen sich auf die gesamte Bevölkerung, was einer Absage an das rassenhygienische Postulat der ›erbbiologischen Unterschiedlichkeit‹ der Gesellschaft gleichkam.36

33 | Zitiert nach: Eckart, »Ein Feld der rationalen Vernichtungspolitik«, 33. Auch die Vertreter der Völkischen Bewegung nutzten diese Argumentationsfigur. Sie spiegelt also eine politisch und gesellschaftlich lagerübergreifende Vorstellung und Ansicht wider. Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, 120. 34 | Da die Grundrechte in der Weimarer Verfassung eher programmatischen Charakter hatten, galten sie nicht als unmittelbar bindendes Recht und waren demzufolge auch nicht einklagbar. Vgl. Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), 526. 35 | Vgl. Alfred Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen (Berlin: Fischer, 1895), 147. 36 | Vgl. Weingart, Kroll und Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 230.

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Die rassenhygienischen Protagonisten mussten also ihre Forderungen und Ideen anpassen, um den Diskurs in ihrem Sinne weiter mitbestimmen zu können. Ihr Erfolg nach 1918 erklärt sich vor allem daraus, dass sie weitaus programmatischer wurden und offen Stellung gegen die quantitative Bevölkerungspolitik des neuen Staates bezogen. In §18 der neu aufgestellten Leitsätze der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene wurde z.B. betont, dass auf die Unterschiede der erblichen Veranlagung zu achten sei, da man andernfalls »zur Abnahme der Rassentüchtigkeit [beiträgt], da alle solche Maßnahmen vorzugsweise die Fortpflanzung der minder Leistungsfähigen fördern«.37 Daher hielt man auch an rassenhygienisch indizierten Eheverboten fest (§26), sah zwar die Zeit für Zwangssterilisierungen noch nicht gekommen (§27), forderte aber zugleich die juristische Fixierung der Unfruchtbarmachung »krankhaft Veranlagter« (§28).38 Der publizistische und öffentlichkeitswirksame Aufwind von rassehygienischen Ideen blieb den jeweiligen Protagonisten nicht verborgen. Endlich war, wie der Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887-1976) anlässlich einer Tagung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege 1921 freudig anstimmte, »der Beginn einer neuen Epoche [der Rassenhygiene] eingetreten«.39 Das Verbot von eugenisch indizierten Sterilisierungen wurde von Rassenhygienikern durchweg als störende gesetzliche Hürde empfunden.40 Einen gewichtigen Einfluss auf die Legalisierungsdebatten hatte der Zwickauer Medizinalrat Gustav Boeters, der zwischen 1923 und 1932 etliche Versuche unternahm, seine Sterilisierungsvorschläge in Gesetzesform zu bringen. Während Medizinalverwaltung und Politik die Sterilisierung als staatliche Maßnahme vor allem mit dem Argument ablehnten, dass die Entwicklung der Erblehre

37 | Siehe Alfred Ploetz, Hg., »Leitsätze der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene«, ARGB 14 (1922), 372-375. 38 | Ebd. 39 | Als im September 1921 der Hygiene-Professor Philaetes Kuhn einen Vortrag über »Die Zukunft unserer Rasse« hielt, sah Lenz den Wiederaufstieg der Rassenhygiene gekommen. Zitiert nach: Klaus-Dieter Thomann, »Auf dem Weg in den Faschismus. Medizin in Deutschland von der Jahrhundertwende bis 1933«, in Medizin, Faschismus, Widerstand. Drei Beiträge, Hg. Barbara Bromberger, Hans Mausbauch und Klaus-Dieter Thomann (Köln: Mabuse, 1985), 88. 40 | Auf staatlicher Ebene legte am 4. Juli 1914 der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg dem Reichstag einen ersten Entwurf einer gesetzlichen Regelung von Sterilisierung und Abtreibung vor. Dieser bediente sich jedoch keiner eugenischen Begrifflichkeiten, sondern zielte rein auf die medizinische Indikation ab. Dennoch ließe dieser Entwurf sich als Beginn einer Legalisierungsdebatte kennzeichnen. Vgl. Eckart, »Ein Feld der rationalen Vernichtungspolitik«, 35.

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dafür noch nicht ausgereift genug sei,41 höhlten Boeters fortlaufende Agitationen in den 1920er Jahren die ablehnende staatliche Haltung zur Sterilisierung mehr und mehr aus. Der von Fritz Lenz und anderen Vertretern lang ersehnte Aufstieg der Rassenhygiene nahm hier seinen Anfang und führte zunehmend zu einer Erosion der staatlichen Argumentationshoheit in der Debatte. Am 21. Mai 1923 übersandte Boeters eine Denkschrift mit dem Titel »Die Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen« an die Sächsische Staatsregierung.42 Die besagte Denkschrift war ein 9-Punkte-Programm, das eine gesetzliche Regelung bezüglich zwanghafter Sterilisationen bei bestimmten ›erblichen‹ Krankheiten vorsah: bei (in seinem Sprachgebrauch) Blindgeborenen, Taubstummgeborenen, Blödsinnigen, Epileptischen, Geisteskranken, Sittlichkeitsverbrechern und Müttern, die mindestens zwei oder mehrere uneheliche Kinder ohne eindeutige Vaterschaft hatten. Hinzu kam die Forderung, dass eine Eheschließung bei Blindgeborenen, Taubstummgeborenen, Blödsinnigen, Epileptischen und Geisteskranken nur dann erlaubt sei, wenn diese sich vorher erfolgreich hatten sterilisieren lassen.43 Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, veröffentlichte Boeters sein 9-Punkte-Programm und weiterführende Erläuterungen in der Sächsischen Staatszeitung und sendete die gesammelten Artikel an das Reichsgesundheitsamt (RGA).44 Da die Behörden die Forderungen ignorierten, richtete er im Dezember 1923 einen Brief an das RGA, in dem er anmahnte: »Seit länger als 20 Jahren arbeite ich praktisch auf dem Gebiet der Rassenhygiene. […] Ich bin meines Wissens der erste deutsche Medizinalbeamte, der es gewagt hat, die Bestrebungen der praktischen Rassenhygiene in seinem Amtsbereich in die Tat umzusetzen. Bei uns in Zwickau werden unfruchtbarmachende Operationen bei geistig Minderwertigen usw. vorgenommen.«45 Er führte weiter aus: »da in vielen Fällen die elterliche usw. Erlaubnis um keinen Preis zu erlangen ist, obgleich die Notwendigkeit einer Operation jedem Nicht-Idioten einleuchtet, deshalb erstrebe ich die Einführung des gesetzlichen Zwanges«.46 Im gleichen Schreiben versuchte er sich auch gegen Widerspruch seiner For-

41 | Vgl. Weingart, Kroll und Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 291. 42 | Vgl. Gustav Boeters, »Die Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen«, abgedruckt in Joachim Müller, Sterilisation und Gesetzgebung bis 1933 (Husum: Matthiesen, 1985), 60-61. 43 | Vgl. ebd. 44 | Unter dem Titel »Die Unfruchtbarmachung der geistig Minderwertigen« oder abgewandelter Titel finden sich Boeters Vorschläge in der Ausgabe der Sächsischen Staatszeitung 157, 158, 159 (Juli 1923) sowie in den Ausgaben 202 und 203 (August 1923). 45 | Zitiert nach Klaus-Dieter Thomann, »Auf dem Weg in den Faschismus«, 136. 46 | Ebd.

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derungen zu immunisieren, denn »[d]ie wirtschaftliche Not verlangt geradezu nach einem Rassendiktator«.47 Da man staatlicherseits keine Dringlichkeit in der Sache sah und nach wie vor über keine geeignete Patentlösung verfügte, ignorierte man Boeters Forderungen.48 Enttäuscht von den ausbleibenden Reaktionen der staatlichen Behörden, intensivierte Boeters seine Publikationstätigkeiten in vielen medizinischen und nichtmedizinischen Zeitschriften und wendete sich damit an die medizinischen Praktiker, um den Druck auf den Gesetzgeber weiter zu erhöhen. Im Ärztlichen Vereinsblatt appellierte er an die Ärzte, dass »die Vernichtung der geistigen Blüte des deutschen Volkes [droht] […] die Verpöbelung unserer Rasse und damit das Ausscheiden Deutschlands aus der Reihe der Kulturnationen. Wer kann die drohende Gefahr in letzter Stunde noch abwenden? Niemand weiter als der deutsche Ärztestand.«49 Ohne einen Hehl aus seiner Verbitterung über die staatlichen Behörden zu machen, fuhr er fort: »Die Regierung des Reiches und der Länder haben anscheinend den Ernst der Lage noch gar nicht erkannt. […] Bei dieser Sachlage kann Deutschland Hilfe und Rettung nur erhoffen von seinen praktischen Ärzten! […] An alle Kollegen in Stadt und Land richte ich die dringende Bitte nach geistig Minderwertigen zu fahnden […] und so viele Fälle wie nur irgend möglich selbst zu operieren oder an geeignete Fachkollegen zuzuweisen.«50 Denn »[s]olange die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens noch nicht gelöst sei«, gehe es vorrangig um die »Verhinderung unwerten Lebens«.51 Insbesondere Boeters Veröffentlichung im Ärztlichen Vereinsblatt provozierte starke ärztliche Kritik, die vor allem auf die Sterilisierung und Gleichstellung von Gehörlosen und Blinden mit ›Schwachsinnigen‹ gerichtet war. Zwar teilte ein Großteil der Ärzte die Auffassung, dass geistige und körperliche Behinderungen erblich seien, sie lehnten das Erblichkeitspostulat für Blindheit und Gehörlosigkeit aber ab. Ähnlich verhielt es sich auch mit Sexualdelikten, Alkoholkrankheit, Tuberkulose oder Geschlechtskrankheiten – die 47 | Ebd. 48 | Zwar wurden das Sächsische Landesgesundheitsamt, das Preußische Volkswohlfahrtsministerium (insbesondere der Ausschuß für Bevölkerungswesen und Rassenhygiene) sowie das Thüringische Wirtschaftsministerium in Boeters Angelegenheit mit einer Eingabe ans RGA aktiv, allesamt erhielten aber negative Bescheide. Vgl. Weingart, Kroll und Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 291. 49 | Aufruf an die deutsche Ärzteschaft, in Ärztliches Vereinsblatt für Deutschland 51 (1924), zitiert nach: Jochen-Christoph Kaiser, Kurt Nowak und Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«. Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation (Berlin: Buchverlag Union, 1992), 96. 50 | Ebd. 51 | Gustav Boeters, zitiert nach Thomann, »Auf dem Weg in den Faschismus«, 136.

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meisten Mediziner sahen hierin zwar eine ›Entartung‹, führten diese jedoch auf die gesellschaftlichen Herausforderungen durch Nachkriegszeit und Wirtschaftskrise zurück. Darüber hinaus erschien vielen Ärzten die Umsetzung von Sterilisierungen ohne detaillierte staatliche Aufgabendefinition nicht durchführbar. Der ärztliche Widerspruch tat Boeters zunehmender Bekanntheit keinen Abbruch; unter Rassenhygienikern und einzelnen, sympathisierenden Ärzten nahm seine Unterstützer- und Anhängerschaft kontinuierlich zu. Trotz aller Widerstände und Ablehnungen, die er bis zu diesem Zeitpunkt erfahren hatte, legte er im Oktober 1925 dem Reichstag einen überarbeiteten Entwurf seines »Gesetzes über die Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen« vor. Es wurde unter dem Namen ›Lex Zwickau‹52 reichsweit bekannt. Boeters Gesetzesentwurf von 1925 unterschied sich nur minimal von seinen Forderungen zwei Jahre zuvor. Zwar wurde der Betroffenenkreis noch einmal erweitert, weitaus entscheidender war jedoch, dass erstmalig eine Aufgabendefinition für Mediziner in diesem Kontext Erwähnung fand. So bestimmte Boeters, dass nur geschulte Chirurgen und Frauenärzte operative Eingriffe durchführen dürften, und dass eine Sterilisierung ›vollwertiger‹ Menschen eine schwere Körperverletzung bedeutete. In diesen Festlegungen spiegelten sich sowohl die Vorstellungen der Gesellschaft für Rassenhygiene wider, als auch die beiden rassenhygienischen Paradigmen von ›Auslese‹ und ›Ausmerze‹. Boeters Vorstoß hatte jedoch wiederholt keinen direkten Erfolg. Das RGA, das auf Druck der Sächsischen Ministerien Stellung zu Boeters Forderungen nehmen sollte, blieb verhalten und hielt an der bisherigen Argumentation fest, dass die wissenschaftlichen Grundlagen bezüglich Eugenik und Sterilisierungen nach wie vor nicht ausreichen würden, um einen gesetzlichen Zwang einzuführen. Der Präsident des RGA Franz Bumm (1861-1942) verwies darauf, »daß in nicht wenigen Fällen nur fälschlich die Vererbung als Ursache angesprochen wird, während der wahre Grund ein ungünstiger Einfluß von Erziehung und Umwelt«53 sei. Der freiwilligen Sterilisierung war man laut internen Gutachten im RGA nicht abgetan, von der Einführung des Zwanges aber wollte man sich distanzieren, da man Widerstand in der Bevölkerung befürchtete. Dass es aber insbesondere im Raum Sachsen zahlreiche Befürworter von Zwangssterilisierungen nicht nur im konservativen politischen Spektrum gab, verdeutlicht illustrativ die Aussage einer sächsischen Sozialistin, die sich über die Kritik an Boeters Ausführungen beschwerte: Es sei nicht verwunderlich, dass Boeters eugenische Vorschläge am »grimmigsten […] aus bürgerlichen 52 | Zu den Mitautoren gehörten Fritz Dehnow und August Forel. 53 | Zitiert nach Thomann, »Auf dem Weg in den Faschismus«, 143.

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Lagern« attackiert würden und dabei insbesondere von den Vertretern der Anstaltsmedizin, »die aus der geistigen Minderwertigkeit im Volk ihren Profit schinden«.54 Es sei sozialdemokratische »Pflicht, für diesen großen Gedanken eines Menschenfreundes zu kämpfen, der sein Letztes hingibt, um das Volk von einem Erbübel zu befreien«.55 Trotz des stärker werdenden Zuspruchs zu seiner Person und seinen Forderungen scheiterte Boeters letztlich auch bei seiner Anstellung als Medizinalrat. 1925 wurde er wegen Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Labilität aus dem Dienst entfernt. Seinen Agitationen tat dies keinen Abbruch. 1928 reichte er einen dritten Sterilisierungsgesetzesvorschlag ein. Als wichtigste Erweiterungs- und Ausführungsbestimmung definierte er »erbliche Minderwertigkeit« nun als anzunehmen bei »Trunksucht, Morphium- und Kokainmißbrauch, unverbesserlicher Arbeitsscheu sowie [bei] Landstreichern und Zigeunern«.56 Ist Boeters mit seinen Forderungen durchgehend gescheitert?57 Zwar gelang es ihm nicht, die Verabschiedung eines Sterilisationsgesetz nach seinen Vorstellungen anzuschieben, seine Bemühungen hinsichtlich einer Diskursverschiebung und somit der weiteren Mobilisierung rassenhygienischer Inhalte waren hingegen weitaus erfolgreich: So ging es ab Mitte der 1920er Jahre nicht mehr um eine generelle Zulässigkeit eugenischer Sterilisationen, sondern grundsätzlich um die Frage nach Zwangssterilisationen aus eugenischen Gründen.58 Das Aufweichen der in der Weimarer Verfassung garantierten Schutzrechte – insbesondere die §224 und 225 RstGB (Reichsstrafgesetzbuch, schwere Körperverletzung) – wurden durch Boeters und viele weitere rassenhygienische und sozialdarwinistische Agitatoren zunehmend forciert. Bereits 1924 befand eine durch die Forensisch-Psychiatrische Gesellschaft Hamburg eingesetzte Kommission aus Juristen und Medizinern, die Kastration als legitime Behandlung zur Beseitigung ›abartiger‹ Triebe bei Sexualverbrechern zuzulassen.59 1925 wurde eine Änderung im Strafgesetzbuch vorgenommen, 54 | Zitiert nach Schwartz, »›Euthanasie‹-Debatten in Deutschland (1895-1945)«, 635. 55 | Ebd. 56 | Zitiert nach Thomann, »Auf dem Weg in den Faschismus«, 137-138. 57 | Boeters trat im Dezember 1930 zumindest der NSDAP bei. Seine Hoffnung hier etwas Anklang zu finden, sollte sich schnell zerschlagen. 1938 zog er dann nach Potsdam und starb ohne wichtigen Einfluss im Nationalsozialismus im Januar 1942 in Babelsberg. Zur NSDAP-Mitgliedschaft, vgl. Berlin Document Center, Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP, »Gustav Boeters«. BArch Berlin. 58 | Vgl. Ulrike Manz, Bürgerliche Frauenbewegung und Eugenik in der Weimarer Republik (Königstein: Helmer, 2007), 231. 59 | Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten« Lebens, 1890-1945 (Göttingen: Van-

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nach der Sterilisierungen aus sozialer und eugenischer Indikation zulässig waren, sofern sie nicht gegen die »guten Sitten« verstoßen würden. Im selben Jahr scheiterte im Preußischen Landtag ein Sterilisationsgesetz auf Initiative der Deutschvölkischen Freiheitspartei, der NSDAP und Wirtschaftlichen Vereinigung. 1927 schlug der sozialdemokratische Politiker und Sozialhygieniker Alfred Grotjahn (1869-1931) vor, die rassenhygienische Sterilisierung bei Einwilligung der Betroffenen und unter Zustimmung des zuständigen Medizinalbeamten explizit von der Köperverletzung auszunehmen.60 Wissenschaftliche Aufwertungen erfuhr die Rassenhygiene aber auch durch das Werk von Fritz Lenz, Erwin Baur (1875-1933) und Eugen Fischer Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene aus dem Jahr 1923. Es beeinflusste wesentlich den eugenischen und rassenhygienischen Diskurs in der Weimarer Republik und ermöglichte letztlich auch die Institutionalisierung der Rassenhygiene in Form des Kaiser Wilhelm Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem unter dem Direktorat von Eugen Fischer. Die von Boeters angestoßene Forderungen lagen also im Trend der Zeit und wurden von Gleichgesinnten akademisch, publizistisch und politisch verbreitet und unterstützt. Arthur Ostermann (1864-1941), Ministerialrat im preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt, konstatierte treffend: »Die zwangsweise Sterilisierung wird auch in Deutschland kommen, weil sie kommen muß.«61 Tatsächlich führten zu diesem Zeitpunkt Rassenhygieniker und Sterilisierungsmediziner de facto eugenisch indizierte Sterilisierungen bereits durch, auch wenn de iure eine Änderung erst zu Beginn der 1930er Jahre folgen sollte. So wurden nach ärztlicher Selbstbezichtigung und wahrscheinlich aus sozialer Indikation an der Frauenklinik in Freiburg i.Br. zwischen 1913 und 1925 ca. 1500 Frauen sterilisiert; Boeters bekannte sich zu mindestens 63 Sterilisationen in seiner Zwickauer Zeit.62 Insgesamt hat es vor 1933 Tausende eugenisch motivierter Sterilisationen gegeben.63 denhoeck & Ruprecht, 1992), 101. Bei der Kastration handelt es sich um die Entfernung der Keimdrüsen, im Unterschied zur Sterilisation, die diese erhält. 60 | Vgl. ebd., 102. 61 | A Ostermann, »Lex Zwickau«, Zeitschrift für Volksaufartung und Erbkunde 1 (1926): 79. 62 | Die Zahlen weichen hier etwas ab. Während er laut Schmuhl »nur« 63 Personen nach Selbstauskunft steriliserte, sind es bei Manz 300 und bei Zehmisch 250. Vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 101; Manz, Bürgerliche Frauenbewegung und Eugenik, 74; Heinz Zehmisch, »Das Erbgesundheitsgericht«, Ärzteblatt Sachsen 5 (2002): 206. 63 | Vgl. Bock, Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus: 48; Vgl. Müller, Sterilisation und Gesetzgebung bis 1933, 26-27.

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Da bei der Neuregelung des Strafgesetzbuches von 1927 die Sterilisation aus eugenischer Indikation in punkto Körperverletzung durch ärztliche Eingriffe bewusst vage gehalten wurde und sich in der Folgezeit keine grundlegende Änderung daran abzeichnete, entschloss sich Boeters, den Gesetzesgeber weiter unter Druck zu setzen. 1932 zeigte er den zuständigen Staatsanwalt an, weil dieser nicht gegen seine verbotene Sterilisierungspraxis vorging.64 Dass die durch Boeter losgetretene Debatte spätestens seit Ende der 1920er Jahre eine Eigendynamik entwickelte und immer aggressiver und revisionistischer wurde, verdeutlicht auch das Lob des Münchner Rassenhygienikers Fritz Lenz: »Es ist eine bahnbrechende Tat des Zwickauer Arztes Dr. Boeters, daß er in den letzten Jahren aus eigener Verantwortung eine Anzahl Sterilisierungen hat vornehmen lassen. […] Durch Sterilisierung aller Untüchtigen und Minderwertigen könnte unserem ›Volk ohne Raum‹ Lebensraum für mindestens 20 Millionen tüchtiger Menschen geschaffen werden. Man muß nur endlich den Mut haben, den Dingen ins Gesicht zu sehen.«65 Diesen »Mut« hatten seit der ›Lex Zwickau‹ etliche Autoren aus den verschiedensten Bereichen. In ihrer Argumentation blieben sie stets gleich und listeten zu Beginn ihrer Artikel immer fein säuberlich das Zahlenwerk, erblich Minderwertiger‹ nach Boeters Kategorisierung auf, was stets auch die Gehörlosen umfasste. In Bezug auf die Gehörlosen stand für diese Autoren im Mittelpunkt, dass »[d]ie Asylierung […] kostspielig [ist]. […] Bleibt also als letztes die Sterilisierung. Sicherlich ist sie humaner als Eheverbot und Asylierung.«66 Aus medizinischer Sicht wurde immer wieder betont, dass »eine Verhinderung der Fortpflanzung durchaus im Interesse der Gesellschaft liegen [würde], zumal dort, wo neben der angeborenen Taubheit noch eine hochgradige geistige Minderwertigkeit besteht«.67 Andere Autoren wiederum behaupteten, dass gehörlose Eltern zu »100  % kranke Kinder«68 bekommen würden und sahen daher die Notwendigkeit von Sterilisierungen als auch eine gesetzlichen Zwang für diese. Gehörlose Menschen wurden demnach von Medizinern, Ju64 | Vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 101. 65 | Zitiert nach Thomann, »Auf dem Weg in den Faschismus«, 143. 66 | A. Ostermann, »Das Problem der Sterilisierung Geisteskranker und Krimineller«, Juristische Rundschau 2, Nr. 17 (1926): 636. Ostermann erwähnt in diesem Artikel auch die 18.000 »Taubstummen« die unter seine Forderung der »humaneren« Methode fallen würden. 67 | Karl Otto Kankeleit, »Künstliche Unfruchtbarmachung aus rassenhygienischen und sozialen Gründen«, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 98, Nr. 1 (1925): 243. Kankeleit verwahrt sich gegen eine zwangsweise Sterilisierung nur, weil auch »sozial wertvolle« Personen in dieser Gruppe sind. 68 | Rainer Fetscher, »Sterilisierung aus eugenischen Gründen«, Zeitung für die gesamte Strafrechtswissenschaft 52, Nr. 1 (1932): 412.

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risten, Ökonomen etc. in der Weimarer Republik von Beginn an als ›minderwertig‹ gedacht und wurden – je dynamischer die Sterilisierungsdebatte verlief – nicht mehr aus dieser Klassifizierung herausgenommen.

E ine » unerhörte H er abwürdigung «: D ie E rbgesundheitsdebatte und die G ehörlosenbe wegung Die zunehmende Erosion der politischen Verhältnisse sowie der (Wieder)aufstieg der Rassenhygiene als potenzielles bevölkerungspolitisches Instrument wirkten sich auch auf die Gehörlosengemeinschaft aus. Die oben bereits zitierten eugenischen Arbeiten Bells konnten zwar zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung in Deutschland kaum Wirkkraft entfalten, da das oralistische Programm hier schon längst dominierte, gleichwohl ist es für die spätere Rezeption eugenischer Gedanken in Deutschland bedeutsam, dass Bells Werke vergleichsweise früh einen engen Zusammenhang zwischen Eheverbot, Familiengründung und Gehörlosengemeinschaft proklamierten. Zum Status des (Klein-)Bürgertums, den gebildete Gehörlose im 19. Jahrhundert für sich in Anspruch nahmen, gehörte auch die Gründung einer eigenen Familie. Deshalb waren ›gelungene Ehen‹ unter den Identitätsmerkmalen zu finden, die in der jungen Gehörlosenpresse gerne hervorgehoben wurden.69 Nicht zuletzt deshalb, weil Kommunikationsbarrieren die Gemeinschaft innerhalb der Ursprungsfamilie beeinträchtigten, war der gebärdensprachige Haushalt eine symbolisch wie strukturell wichtige Institution in der Gehörlosenwelt – eine Ansicht, die weder von Vertretern des Bildungswesens noch von staatlichen Entscheidungsträgern geteilt wurde. Auch wenn die Einführung der ›reinen Lautsprachmethode‹ in Deutschland weniger von eugenischen Gedanken geprägt war als in den USA, kam es auch hier zu einzelnen staatlichen Interventionen. So wurde beispielsweise die staatliche Förderung für die populären Kirchenfeste der Gehörlosengemeinschaft eingestellt, da die hiesigen Massentreffen zugleich als Heiratsmarkt fungierten.70 Als die ersten Informationen über die ›Lex Zwickau‹ die Gehörlosenpresse erreichten, reagierten die Autoren anfangs zögerlich und irritiert: In ihrer Wahrnehmung war die Einbeziehung von Taubheit ein grundlegender Fehler und müsse daher ein großes Missverständnis sein. Dass man Gehörlosigkeit mittels Sterilisierung Gehörloser ›bekämpfen‹ wollte, implizierte, dass ein 69 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere, 213-215. 70 | In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden jährlich gebärdete Gottesdienste in Berlin gehalten, zu denen Gehörlose kostenlos mit der Bahn anreisen konnten. Da diese Massentreffen auch eine Rolle als Heiratsmarkt spielten, wurden sie von Gehörlosenlehrern bekämpft. Vgl. Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere, 183-186.

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nennenswerter Teil der Gehörlosen ihre Taubheit von einem tauben Elternteil geerbt hätte. Die meisten Mitglieder der Gehörlosenbewegung hatten allerdings hörende Eltern, daher war ihnen klar, dass Erblichkeit kaum eine Rolle spielen konnte. Wie sollte die Sterilisation Gehörloser also dazu führen, dass weniger taube Kinder geboren werden? Bruno Schott plädierte 1926 in der Allgemeinen Deutschen TaubstummenZeitschrift für statistische Untersuchungen, die Boeters und Gleichgesinnten zeigen sollten, dass die Zahl der Gehörlosen nicht mit ihrer Unfruchtbarmachung gesenkt werden könne. Schott hatte angefangen, selbständig Daten über die Familien Gehörloser zu sammeln und präsentierte einige Auszüge dieser Datensammlung im genannten Beitrag. Mit einer umfassenderen Studie, so hoffte er, würde man deutliche Beweise vorlegen können, um das Missverständnis, auf dem die ›Lex Zwickau‹ beruhte, aufzuklären.71 Insbesondere Fragen und Antworten bzgl. des Vererbungsmusters charakterisierten eine Vielzahl der Artikel innerhalb der Gehörlosenpresse. Zumeist drehten sie sich hauptsächlich um die Frage, wie eigentlich zwischen erworbener und vererbter Taubheit unterschieden werden könne. Der Autor Paul Hoppe fragte daher provokant, warum nicht auch hörende Eltern gehörloser Kinder von dem Gesetz erfasst werden würden.72 Die Gehörlosenpresse verfolgte dabei das Ziel, die fachliche Kompetenz Boeters in Erbfragen grundlegend in Frage zu stellen: Denn wenn er mit der Sterilisation Gehörloser erhoffte, Taubheit ausrotten zu können, hatte er offensichtlich nicht verstanden, wie sie entsteht. Indem sie Boeters’ Expertenstatus unterminierten, wählten gehörlose Autoren ähnliche Strategien wie die Gehörlosenlehrer. Gehörlose verbündeten sich in einer bis dahin noch nicht da gewesenen Intensität mit der Lehrerschaft und bildeten damit eine äußerst bemerkenswerte Allianz. Während sich der langjährige Kernstreitpunkt zwischen beiden Gruppen immer wieder um die Thematik manueller vs. lautsprachlicher Methoden entzündete,73 fand man in der Gegnerschaft zur ›Lex Zwickau‹ und damit im Widerspruch zur Medizin nun einen gemeinsamen Nenner. Unter Gehörlosenlehrern gewannen eugenische Gedanken zunehmend an Einfluss, jedoch nur in einem Kontext, der die Vormachtstellung der Lehrer über Gehörlose nicht weiter bedrohte. Dem naturwissenschaftlich geprägten ›Zeitgeist‹ wollte man sich nicht vollends verschließen. So findet sich auf einer 71 | Bruno Schott, »Lex Zwickau«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift 10 (1926): 39-40. 72 | Paul Hoppe, »Gegen die ›Lex Zwickau‹«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift 1926 (24): 97-98; vgl. auch Fritz Albreghs, »Offener Brief an Herrn Kreisarzt Sanitätsrat Dr. Boeters, Zwickau i. Sa.«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift 22 (1926): 89. 73 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere, 219-266.

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Vorschlagsliste für Verbandsaufgaben des Bundes deutscher Taubstummenlehrer im Jahr 1923 unter den 15 eingereichten Themen auch die Forderung nach der Beschäftigung mit der »Taubheit im Lichte der modernen Vererbungslehre«.74 Anlässlich statistischer Erfassungen über Beruf und Fortbildung von Gehörlosen in Baden fragte der Taubstummenlehrer Neuert stellvertretend für seinen Berufsstand »Sollen Taubstumme heiraten?« und problematisierte in diesem Zusammenhang die Unzulänglichkeit der Vererbungslehre für den Versuch, die Entstehung von Taubheit zu erklären: »Die Befürchtung, daß Taubstummenehen taubstumme oder sonst abnorme Kinder entspringen, scheint, sofern beide Elternteile sonst gesund sind, nicht begründeter als bei Vollsinnigen zu sein; jedenfalls bieten medizinische Wissenschaft und Statistik noch nicht genügend Anhaltspunkte für eine sichere Bejahung oder Verneinung der Frage.« 75 Noch ging es nicht um chirurgische Eingriffe, aber die Behandlung des Themas zeigt, dass Gehörlosenlehrer neben sozioökonomischen zunehmend auch erbbiologische Aspekte als relevant für die Familiengründung Gehörloser betrachteten. Parallel zur Gehörlosenpresse fanden sich aber bei den Lehrern ähnliche Abwehrreaktionen und identische Argumentationsfiguren gegen die ›Lex Zwickau‹. Anders als bei den qualvollen Methodendebatten, war es gerade die Umdeutung von Taubheit zu einem biomedizinischen ›Problem‹, die lagerübergreifend abgelehnt wurde. Paul Schumann, einer der führenden Gehörlosenpädagogen der Zeit, nahm die ›Lex Zwickau‹ zum Anlass, eine ausführliche Abhandlung zu verfassen, die zeigen sollte, dass Boeters sich nicht genug mit der Materie befasst hatte.76 Schumann wandte sich sowohl gegen die Auffassung, Gehörlose seien ›minderwertig‹ als auch gegen ein vereinfachtes Verständnis von deren Erblichkeit. Sein Kollege Herbert Weinert ergänzte, dass die Erblichkeitsfrage von der zeitgenössischen Wissenschaft nicht ganz verstanden würde. Weinert setzte dem Konzept der Zwangssterilisierung die erbbiologische Eheberatung unter Miteinbeziehung der Gehörlosenvereine entgegen. Damit sprach er der Medizin ihre Geltungsansprüche in der ›Gehörlosenfrage‹ ab: Sie vermöge weder Erklärungen noch Lösungen zu präsentie-

74 | Ernst Schorch, »Bund deutscher Taubstummenbildung. Verbandsaufgaben«, Blätter für Taubstummenbildung 36, Nr. 5 (1923): 66. 75 | G. Neuert, »Beruf und Fortbildung der Taubstummen in Baden« Blätter für Taubstummenbildung 36, Nr. 7 (1923): 111. Neuert bezog seine Frage nach Ehemöglichkeiten für Gehörlose zwar vorrangig auf deren dadurch bedingte gesellschaftliche und ökonomische Festigung, zeigt aber auch deutlich durch die aufgeworfene Frage, wie sehr der eugenische Diskurs ein Nützlichkeitsdenken evozierte. 76 | Paul Schumann, »Die ›Lex Zwickau‹ und die Taubstummen«, Blätter für Taubstummenbildung Nr. 14 (1926): 225-230.

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ren, daher sollte stattdessen ein pädagogischer Weg eingeschlagen werden.77 Offensichtlich meinte es Weinert mit diesem Vorschlag ernst. So wandte er sich 1930 an die Leserschaft der Gehörlosenzeitschrift Die Stimme mit der Aufforderung, sich beim namhaften Eugeniker Rainer Fetscher (1895-1945), Leiter der Ehe- und Sexualberatungsstelle in Dresden, vorzustellen.78 Schumanns Artikel wurde zeitnah auch in der Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift abgedruckt und fortan häufig in der Gehörlosenpresse zitiert.79 Gerne wurde auf Schumann als große Autorität auf dem Gebiet Bezug genommen – mehr oder weniger explizit sprach man Boeters damit die Berechtigung ab, über Gehörlose zu urteilen. Nur der Pädagoge mit Anstaltserfahrung war nach Sicht dieser Autoren qualifiziert, sich tatsächlich ein Urteil über die Gehörlosengemeinschaft bilden zu können: Mit welchem Recht maßt man sich an die Taubstummen in ihrer Gesamtheit zu entrechten? Mit dem Recht des höherstehenden Geistes, des Studierten? Mit dem Recht des Volkswirtschaftlers? Mit dem Recht eines ›Menschenfreundes‹?? – – Mit gar keinem! Jawohl, mit gar keinem Recht. Demjenigen, der es sich dennoch anmaßt, mag er sein, wer es will, spreche ich hier ohne weiteres die Fähigkeit ab, die Taubstummen zu kennen, wie uns unsere Erzieher, unsere Anstaltsdirektoren und Lehrer kennen. 80

Diese, wenn auch opportunistische, Anerkennung war bemerkenswert, bedenkt man die Auseinandersetzungen zwischen Gehörlosen und Gehörlosenlehrern um methodische Ansätze in der Gehörlosenbildung und die Frage nach der Rolle von Gebärden(sprachen). Auch bei den Lehrern tauchen in diesem Zusammenhang zuvor undenkbare positive Wertungen der Gehörlosengemeinschaft und Gebärdensprache auf, wie beispielsweise Weinerts Anregung zur Zusammenarbeit mit Gehörlosenvereinen zeigt. Am weitesten ging allerdings Schumann, der im Januar 1933 einen Aufsatz veröffentlichte, in dem er der Gebärdensprache »den Cha77 | Herbert Weinert, »Erbliche Taubheit und ihre Bekämpfung«, Blätter für Taubstummenbildung Nr. 7 (1930): 121-126. 78 | H. Weinert, »Eheberatung für Taubstumme«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 2 (1930): 1. 79 | Paul Schumann, »Die ›Lex Zwickau‹ und die Taubstummen«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift Nr. 15 (1926): 59-60; Nr. 16 (1926): 63; vgl. auch Albreghs, »Offener Brief«; O. V., »Die Unfruchtbarmachung Minderwertiger!«, Die Stimme. Zeitschrift für alle Gehörlosen Deutschlands Nr. 18 (1927): o.P.; Pegasus. »Randbemerkungen«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 23 (1931): 114. 80 | Josef Gebel, »Menschenrecht – Menschenpflicht!«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift Nr. 25 (1926): 102.

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rakter einer psychologisch gleich zu wertenden Sprache« zusprach.81 Nach diesem Zugeständnis prangerte er Diskriminierung und Vorurteile gegen Gehörlose an, um am Ende des Textes einen Bogen zur negativen Wirkung dieser auf das Bildungswesen zu schlagen. Unter Bezugnahme auf den vom Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (ReGeDe) produzierten, in Schumanns Worten »wahrlich berechtigten und notwendigen«,82 Film Verkannte Menschen von 1932 wehrte er sich gegen eugenisch motivierte Vorwürfe, dass die Gehörlosenschulen volkswirtschaftlich nicht von Nutzen seien. Schumann schlussfolgerte, dass das Gehörlosenbildungswesen unter den Vorurteilen gegenüber Gehörlose litt. Mit dieser Befürchtung stand er nicht allein da. Der Schlüsselbegriff war ›Kontraselektion‹. Die Schulbildung Gehörloser sei nach Boeters Argumentation nicht nur eine kostspielige Investition in ›minderwertige‹ Personen, sondern auch gesellschaftlich schädlich, da ausgebildete Gehörlose in die Lage gebracht würden, Familien gründen zu können.83 Boeters’ Vorschlag wurde also aus gutem Grund als eine Abwertung ihres Berufsstands wahrgenommen. In der Fachzeitschrift Blätter für Taubstummenbildung wurde Boeters alarmierende Aussage zitiert, dass »für das Volksganze […] die viele entsagungsvolle Arbeit [der Lehrer] herzlich wenig Wert«84 habe. Seit ihrer Entstehung war es in der Gehörlosenpresse unüblich gewesen, Gehörlosigkeit als harmlos oder gar wertvoll darzustellen. Landläufig bezeichnete man sich als ›Leidens‹- oder ›Schicksalsgenossen‹ und akzeptierte die Auffassung, dass Taubheit ein – wenn auch ausgleichbarer – Makel sei. Die Abkehr von einer Pathologisierung und somit positiven Umdeutung, die heute bei Gehörlosen und anderen Behindertengruppen zentral ist, war ab dem frühen 19. Jahrhundert und bis in die jüngste Vergangenheit höchstens ein Randphänomen. In der Wut gegen die ›Lex Zwickau‹ wurde aber auch diese Argumentationslinie gebraucht. Alfred Locher äußerte in der Allgemeinen Deutsche Taubstummen-Zeitschrift (ADTZ), dass Gehörlose gerade wegen ihrer Taubheit wertvolle Gesellschaftsmitglieder seien. Er begründete dies einerseits mit der moralischen Funktion des durch sie hervorgerufenen Mitleids, ande-

81 | Paul Schumann, »Der Lebensraum der Taubstummen – der Lebensraum der Taubstummenbildung«, Blätter für Taubstummenbildung Nr. 1 (1933): 1-12, Zitat S. 2. 82 | Ebd., 12 83 | August Abend, »Was sagt die Rassenhygiene dem Taubstummenlehrer?«, Blätter für Taubstummenbildung Nr. 7 (1925): 104-12. 84 | »Zeitschriftenschau. Dr. Boeters«, Blätter für Taubstummenbildung Nr. 17 (1927): 292.

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rerseits mit der Idee, dass ohne Taube und Blinde die »Ersatzsinne« Geruch und Gefühl im Laufe der Evolution verloren gegangen wären.85 Wenn man diese Argumente anachronistisch mit gegenwärtigen Perspektiven wie ›Deaf Gain‹, ›Deafhood‹, oder ›Deaf Pride‹ vergleicht, erscheinen sie kaum radikal zu sein. Nichtsdestotrotz stellen sie einen deutlichen Kontrast zu der damals auch unter Gehörlosen weitaus prominenteren Strategie der partiellen Zustimmung zu eugenischem Gedankengut dar. In mehreren Beiträgen hoben gehörlose Autoren z.B. hervor, dass negative Eugenik, auch mit Zwangssterilisationen als Mittel, notwendig oder gar wünschenswert wäre – nur sollte die eigene Gruppe nicht miteinbezogen werden. Andere Gruppen aber, wie Verbrecher, psychisch Kranke, oder geistig Behinderte, sah man als legitime Ziele einer solchen Politik.86 Damit wird ein weiterer Grund des Zorns Gehörloser gegen die ›Lex Zwickau‹ angeschnitten: Sie verwahrten sich dagegen, in einen Topf mit den genannten Gruppen geworfen zu werden. Die Assoziation mit ihnen wurde als kränkend empfunden; als Verteidigung wurde die Tüchtigkeit der eigenen Gruppe hervorgehoben, auch auf Kosten anderer potenziell Betroffener und Stigmatisierter. In der ADTZ schrieb der spätere REGEDE-Vorsitzende Fritz Albreghs (1892-1945), dass es wünschenswert wäre »Parasiten« wie »unheilbar Kranke […], Kretins und berufsmäßige […] Verbrecher […]«87 zu sterilisieren, aber es sei »eine unerhörte Herabwürdigung für die Gehörlosen, sie mit Geisteskranken, Epileptikern und Blödsinnigen in einem Atem zu nennen!« 88 In der Folge negierte man zunehmend auch in der Gehörlosenbewegung die Abgrenzung zwischen Personen, deren ›Minderwertigkeit‹ man nicht in Frage stellte, und solchen, die zu Unrecht von der ›Lex Zwickau‹ betroffen waren. Es wurde eingeräumt, dass es ›schwachsinnige‹ Gehörlose gäbe, die man wohl als ›minderwertig‹ einstufen müsste.89 Anfang der 1930er tauchen dann in der Gehörlosenpresse Beiträge auf, die alternative eugenische Maßnahmen zur Vermeidung der Vererbung von Taubheit vorschlugen. Der oben genannte Artikel des Gehörlosenlehrers Weinert gehört dazu, ebenso wie die Aufforde85 | Alfred Locher, »Gegen die ›Lex Zwickau‹«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift Nr. 21 (1926): 85. 86 | Vgl. bspw. Fritz Albreghs, »Offener Brief«; o. V., »Die Unfruchtbarmachung Minderwertiger!«; La., »Was nun?«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Die Stimme Nr. 17 (1933): o.P. 87 | Albreghs, »Offener Brief«. 88 | Fritz Albreghs, »Drohende Entrechtung«, Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift Nr. 19 (1926): 78. 89 | Josef Gebel, »Menschenrecht – Menschenpflicht!«, 102 (Nr. 25), 105-106 (Nr. 26); o. V. »Die Unfruchtbarmachung Minderwertiger!«, Die Stimme. Zeitschrift für alle Gehörlosen Deutschlands Nr. 18 (1927): o.P.

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rung August Schäfers, dass zwei Taubgeborene nicht einander heiraten sollten.90 Der radikalste Schritt wurde 1932 unter dem Pseudonym »Prometheus« vorgeschlagen: eine Auflockerung des §218, sodass Paare, die schon ein taubes Kind bekommen hatten, alle weitere Schwangerschaften abbrechen könnten. Auf diese Weise – so heißt es im Text – könne man den Sterilisationszwang noch vermeiden.91 Diese Strategie der Ausgrenzung hatte in der deutschen Gehörlosenbewegung eine lange Vorgeschichte. Das Vereinsleben wurde dominiert von einer kleinen Gruppe, die sich selbst als Elite unter den Gehörlosen betrachtete. Üblicherweise waren sie in sprachlicher und sozioökonomischer Hinsicht der hörenden Norm gut angepasst. Gute Deutschkenntnisse, insbesondere im Ablesen und Artikulieren, gehörten ebenso dazu wie eine ökonomisch sichere Stellung. Gehörlose, die nicht in dieses Bild passten, wurden ausgegrenzt, entweder durch explizite Distanzierung, oder aber durch eine paternalistische Fürsorgehaltung – eine eigene Stimme wurde ihnen nicht zugebilligt.92 Während die Gehörlosenbewegung des 19. Jahrhundert sich an einem klassisch bürgerlichem Ideal von ›Besitz und Bildung‹ orientiert hatte, änderte sich das im 20. Jahrhundert grundlegend. Deutlich von der Arbeiterbewegung beeinflusst, identifizierten sich Gehörlose nun an erster Stelle als respektable und tüchtige Arbeiter.93 Als solche versuchten sie sich gegen Vorwürfe der ›Minderwertigkeit‹ zu wehren, was aber dazu führte, dass die vorherrschenden eugenischen Vorstellungen nicht in Frage gestellt wurden. Nicht grundsätzlich, sondern aufgrund ihrer Arbeitsfähigkeit und sonstiger körperlicher Stärke, sollten Gehörlose nicht sterilisiert werden.94 Konfrontiert mit ›Schicksalsgenossen‹, die nicht den Tüchtigkeitsidealen entsprachen, lag die Konsequenz daher nahe, ihre Unfruchtbarmachung zu billigen. Das ›wir‹ schrumpfte.

90 | August Schäfer, »Auslese – Anpassung«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 9 (1932): 46. 91 | Prometheus, »Ein Ausweg aus der Lex Zwickau?«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 17 (1932): o.P. 92 | Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere. 93 | Ebd., 242-243. 94 | Vgl. hierzu insbesondere auch die Bemerkung, dass von Geburt an Taube sogar besonders stark und tüchtig seien, bei Fritz Mehle, »Zum Fall Boeters Nr. 2«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 17 (1931): 8.

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»E rfüllung der völkischen P flichten .« D er R e G e D e und das G ese t z zur V erhütung erbkr anken N achwuchses (G z V e N) Fritz Albreghs, 1892 geboren und angeblich95 im 7. Lebensjahr ertaubt, war schon seit jungen Jahren auf regionaler Ebene aktives Mitglied der Gehörlosenbewegung gewesen.96 Als sich die Debatte um die ›Lex Zwickau‹ entfaltete, wurde er erstmals auch in der überregionalen Gehörlosenpresse sichtbar, und zwar als einer der stärksten Opponenten des Vorschlages. Wie oben bereits beschrieben, lehnte er nicht zuletzt auf Kosten anderer Betroffenengruppen die ›Lex Zwickau‹ ab. Als Teil seiner Argumentation in dieser Frage stellte Albreghs von Anfang an eine Forderung: die nach einem Reichsverband. Dass eine »starke, einheitliche Reichsorganisation«97 fehlte, war, so Albreghs, auch ein Grund für die Auffassung, dass Gehörlose ›minderwertig‹ seien. Die ›Lex Zwickau‹ wurde bei Albreghs zum dringenden Anlass, eine solche Organisation zu gründen. Albreghs Vorschlag kam genau zur richtigen Zeit; in der von der ›Lex Zwickau‹ hervorgerufenen Krise brauchte die Gehörlosenbewegung einen Handlungsplan. Dass Albreghs einen solchen präsentieren konnte und sehr deutlich die beiden Fragen miteinander in Verbindung brachte, war 1927 vermutlich ein wichtiger Faktor bei der Gründung des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands (ReGeDe) und Albreghs’ Wahl zum Vorsitzenden. Spätere Quellen lassen darauf schließen, dass die ›Lex Zwickau‹ den wesentlichen Impuls zur Verbandsgründung gab.98 In den ersten Jahren entwickelte sich der ReGeDe allerdings nicht zu der einheitlichen und starken Organisation, die Albreghs und auch viele andere sich erhofft hatten. Schon 1928 legte Albreghs sein Amt nieder. Die Gründe dafür sind nicht eindeutig feststellbar. In der gegenwärtigen Forschung findet sich wiederholt die Angabe, Albreghs wäre wegen seiner zumindest rechten oder gar nationalsozialistischen Einstellung unbeliebt gewesen.99 So propa95 | Angaben zur Ertaubung sind aufgrund der Stigmatisierung angeborener Taubheit immer mit Vorsicht zu genießen. 96 | Fritz Mehle, »Dem Führer der Gehörlosen Deutschlands Pg. Fritz Albreghs zu seinem 41. Geburtstag«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Die Stimme Nr. 33 (1933): 171; Jacob Dols, »Fritz Albreghs und sein Werk«, Die Stimme. Zeitschrift für alle Gehörlosen Deutschlands Nr. 22 (1927): o.P. 97 | Albreghs, »Drohende Entrechtung«. Hervorhebung im Original. 98 | Pegasus, »Randbemerkungen«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 23 (1931): 114. 99 | Vgl. z.B. Jochen Muhs, »Deaf People as Eyewitnesses of National Socialism«, in Deaf People in Hitler’s Europe, Hg. Ryan und Schuchmann, 81-82.

Die ›Lex Zwickau‹

gierte es auch der spätere, gleichgeschaltete ReGeDe. In einer Biografie zu Albreghs’ 41. Geburtstag 1933 stellte Fritz Mehle eine Liste von Anfeindungen und Schwierigkeiten auf, denen Albreghs aufgrund seiner »nationalen Gesinnung« ausgesetzt gewesen sei.100 Dazu gehörte, laut Albreghs selbst, auch sein Rücktritt vom Posten als ReGeDe-Vorstand, was er auf die »Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten« zurückführte.101 Dieses Narrativ passte natürlich sehr gut in die Selbstdarstellung eines nationalsozialistischen Verbandsführers. Dass er sich schon lange zu rechten Ideologien bekannt hätte und dafür auch angefeindet worden sei, stellte ihn als besonders loyalen und überzeugten Nationalsozialisten dar. Persönliche Schicksalsschläge oder Versagen, wie verlorene Arbeitsstellen und Ehrenämter, konnten als Martyrium dargestellt werden. In zeitgenössischen Quellen lässt sich allerdings keine klare Aussage zu den Rücktrittsgründen finden. Albreghs’ Beiträge gegen ›Lex Zwickau‹ verwendeten eine Sprache, die sehr wohl einer deutschnationalistischen Einstellung hätten entspringen können, andererseits aber nicht erheblich vom allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit abwich: Das deutsche Volk steht heute im Mittelpunkt schwerster innen- und außenpolitischer Kämpfe, es ringt um seine Weltmachstellung als Nation von hoher kultureller Bedeutung. Ueberall regen sich die Kräfte der Besten, um mit den friedlichen Waffen des Geistes und der Arbeit die Wunden der jüngsten Vergangenheit zu heilen. Diese Aufgabe wird gelingen, wenn alle Gruppen in einiger Geschlossenheit sich für das Wohl auch der Aermsten im Lande einsetzen. Wir aber, wir Gehörlosen, wir wollen als nützliche Mitglieder des Volkskörpers mit den anderen, den Vollsinnigen, Schulter an Schulter redlich kämpfen, wenn man uns auch das Recht dazu nicht vorenthält. Unser Führer im Kampfe aber soll und muß werden: ›Der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands‹.102

Auch wenn Albreghs zu dieser Zeit schon überzeugter Nationalsozialist war, bedeutete das nicht unbedingt, dass es einen Zusammenhang mit seinem Rücktritt als ReGeDe-Vorsitzender gab. In der Gehörlosenpresse wird eher der Eindruck erweckt, dass es sich um einen persönlichen Machtkampf handelte: Albreghs habe Ämter nach seinen Gutdünken besetzt und sei machtgierig gewesen.103 Wie bedeutsam die politische Dimension war, bleibt dabei offen. 100 | Mehle »Dem Führer der Gehörlosen Deutschlands Pg. Fritz Albreghs«. 101 | Ansprache Albreghs’ zum 2. Gehörlosen-Tag in Breslau 1937, zitiert nach Biesold, Klagende Hände, 99-100. 102 | Albreghs, »Drohende Entrechtung«. 103 | Vgl. »Nichts gelernt und nichts vergessen!«, Allgemeine Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Nr. 16 (1928): o.P.; Willi Hesse, »Leipzig – ein zweites Weimar?«, Allgemeine Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Nr. 7 (1929): o.P.

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In den folgenden Jahren versuchte der ReGeDe unter einem neu gewählten Vorstand seine Arbeit zu stabilisieren und vor allem einzelne Vereine und Verbände dazu zu bringen, sich ihm anzuschließen. Die Streitigkeiten wurden nicht seltener, waren aber, wie in der Vergangenheit auch, weniger inhaltlich als auf die interne Struktur bezogen.104 Eine besondere Leistung des Verbandes war zweifellos die Realisierung des erwähnten Filmprojektes Verkannte Menschen (1932).105 Ab 1931 wurden die Nationalsozialisten im Verbandsorgan Die Stimme thematisiert und zwar in Verbindung mit der fortgesetzten Erbgesundheitsdebatte. Wilhelm Dankert und die anonyme Signatur »Ebbe« warnten dort wiederholt vor der NSDAP aufgrund ihrer »rassengesundheitspolitischen Forderungen«.106 Ebbe richtete sogar einen Brief direkt an Adolf Hitler mit der Bitte um Stellungnahme zur Gehörlosenpolitik.107 Offensichtlich wurde die Redaktion daraufhin sowohl von Parteifunktionären als auch von nationalsozialistischen Lesern unter Druck gesetzt.108 Zu Ostern 1933 tagte der ReGeDe in Berlin. Hier trat der bis dahin viele Jahre in der Organisation wie in der Gehörlosenpresse unsichtbare Fritz Albreghs wieder auf. Als »Reichsverbandsführer« ordnete er die Angliederung der ReGeDe an die NSDAP an. Die Gleichschaltung scheint schlagartig beschlossen worden zu sein und wurde am 1. Mai unter der Rubrik »Die Umstellung des Regede« als Leistung von Albreghs und Ludwig Herzog, Gehörlosenlehrer aus München, präsentiert: Mit Meisterschaft haben sie die außerordentlich verwickelte Lage des Reichsverbandes zur schnellen und schmerzlosen Lösung gebracht und sozusagen im Handumdrehen 104 | Vgl. u.a. Edmund Kersten, »Die Gehörlosen und ihre Organisation«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Die Stimme Nr. 10 (1930): o.P.; Fritz Ellmers, »Interessenpolitik«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Die Stimme Nr. 8 (1931): o.P.; Karl Mutterer, »Göttinger Brief!«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Die Stimme Nr. 23 (1931): o.P. 105 | John S. Schuchmann, »Misjudged People: The German Deaf Community in 1932«, in Deaf People in Hitler’s Europe, Hg. Ryan und Schuchmann, 98 –113. 106 | Ebbe, »Rassengesundheitslehre und Vererblichkeit der Taubstummheit«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 24 (1931): 119-120, hier 120. Vgl. auch Wilhelm Dankert, »Noch einmal ›Lex Zwickau‹«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 9 (1932): 45; Ebbe, »Die Wahrheit über die Lehre von Ernst Mann und die rassegesundheitlichen Forderungen der NSDAP«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 10 (1932): 50. 107 | Ebbe, »Die Wahrheit über die Lehre von Ernst Mann«. 108 | Ebd.; »Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 11 (1932): 53.

Die ›Lex Zwickau‹ das große Werk der Umstellung im gesamten Taubstummenwesen überhaupt vollbracht. […] Herzog und Albreghs sind Führer, die ihre Herzen bei uns haben und auf nationalsozialistischem Boden bereits alte Kämpfer sind. Ihnen folgen wir und ihrem Beispiel: Der Schicksalsgemeinschaft unser ich zu opfern, getreu dem obersten und heiligsten Grundsatz der Nationalsozialisten: Gemeinnutz geht vor Eigennutz!109

Damit war der ReGeDe eine Unterorganisation der NSDAP geworden, die alle jüdischen Mitglieder und politisch Oppositionelle ausschloss.110 Die äußere Erscheinung des Verbandsorganes wurde im Sommer gleichen Jahres verändert: Die Zeitschrift erschien nun wöchentlich und ergänzt durch eine propagandistische »Bilder-Beilage«. Als das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses angekündigt wurde, bedauerte die Stimme zuerst den Beschluss: »Das Sterilisierungsgesetz ist da. Unser jahrelanger Kampf gegen die ›Lex Zwickau‹ hat also keinen Erfolg gehabt. Auch die Taubstummen sollen unfruchtbar gemacht werden. Das ist betrüblich und es steht schlecht um unsere Sache.«111 Der Verfasser räumte zwar dem Staat das Recht ein, sich vor Erbkrankheiten in der Bevölkerung zu schützen, vermutete aber, dass ein Irrtum vorliegen müsse, wenn Gehörlose miteinbezogen werden sollten. Diese Sichtweise unterschied sich kaum von den im Jahr 1926 ausgedrückten Meinungen, auch wenn der Ton jetzt deutlich weniger konfrontativ war. In den folgenden Ausgaben wandelten sich die Meldungen über das Sterilisationsgesetz zu Entwarnungen. Die schon lange in der Gehörlosenbewegung tradierte Bereitschaft, Teile der Gemeinschaft zu opfern, wurde dabei konsequent fortgeführt. So versicherte z.B. Die Stimme ihren Leser: »Es ist deshalb als sicher anzunehmen, daß nur die stark geistig geschädigten Taubstummen unfruchtbar gemacht werden«. Der Versuch einer positiven Umdeutung folgte auf dem Fuß: »Es kann uns mit der Sterilisierung mit der Zeit auch nützen, indem sich nach Verringerung der schwachsinnigen Taubstummen zeigen wird [,] daß der geistig normale Gehörlose, der sich selbst ernährt, und normale Kinder zeugt, auch ein vollwertiger Mensch ist.«112 In den folgenden Jahren sollte jede Spur von öffentlicher Opposition aus dem ReGeDe verschwinden. Der vorhandenen Forschung zur Geschichte gehörloser Menschen im Nationalsozialismus ist zu entnehmen, dass der Verband unter Albreghs Führung als äußerst williger Mittäter bei der Umsetzung 109 | Fritz Mehle, »Die Umstellung des Regede«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 9 (1933): o.P. Hervorhebung im Original. 110 | Muhs, »Deaf People as Eyewitnesses of National Socialism«, 81-83. 111 | La., »Was nun?«. 112 | La., »Das Gesetz und die Erbkrankheiten«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift Die Stimme Nr. 20 (1933): o.P.

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des GzVeN sowie bei der Verfolgung und Hetze gegen Juden auftrat.113 Albreghs, der einst in kräftigen Worten die ›Lex Zwickau‹ verurteilt hatte, forderte Gehörlose nun öffentlich dazu auf, sich als »selbstverständliche Erfüllung der völkischen Pflichten« sterilisieren zu lassen.114 Laut Berichten von Betroffenen haben ReGeDe-Vertreter sogar andere Gehörlose bei den Erbgesundheitsgerichten angezeigt; Albreghs und Mehle wurden namentlich als Anzeiger genannt.115 Auch die Gehörlosenlehrer, die in den 1920er Jahre den Sterilisierungsgesetzen noch kritisch gegenüberstanden, passten sich schnell an. Die Lehrerorganisation begrüßte enthusiastisch die Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Lehrer standen zu einem beachtlichen Teil hinter den Anzeigen an die Erbgesundheitsgerichte. Die oben bereits zitierten Lehrer Schumann und Weinert äußerten sich ab 1933 ebenfalls ausschließlich positiv zum Sterilisationszwang.116 Weinert beschrieb 1934 unter dem Titel »Das Sterilisierungsgesetz« das GzVeN als »Erfüllung von jahrelangen geäußerten Vorschlägen und Wünschen, vor allem der Eugeniker aber auch der öffentlichen Fürsorgeeinrichtungen«.117 Er biederte sich den neuen Machthabern an, indem er eine Übersicht von 15 Titeln in der eigenen Standespresse anbot, die den Nachweis erbringen sollte, dass »die Taubstummenlehrerschaft an eugenischen Problemen interessiert war und ist.«118 In einer weiteren Publikation verwies Weinert auf die neue Funktion der Eheberatungsstellen, die er noch 1930 als Alternative zum Sterilisationszwang in der Gehörlosenpresse empfohlen hatte. Er berichtet stolz davon, dass von Februar 1930 bis November 1932 dank seiner Vermittlung 31 Personen dort aufgenommen wurden, von denen sich acht der Sterilisierung unterzogen hätten: »Die mir bekannten Sterilisierten äußern sich immer wieder zufrieden damit, daß sie diesen Schritt getan haben.«119 Hier empfahl er sich als schneller Erfüllungsgehilfe. Weinert ging sogar noch weiter und forderte die Einrichtung 113 | Biesold, Klagende Hände, 91-104; Muhs, »Deaf People as Eyewitnesses of National Socialism«. 114 | In einem Vortrag in Hamburg im Jahr 1939, zitiert in Iris Groschek, Unterwegs in eine Welt des Verstehens. Gehörlosenbildung in Hamburg vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Hamburg: Hamburg University Press, 2008), 163. 115 | Biesold, Klagende Hände, 98-99. 116 | Vgl. ebd., 9-20, 41; Ernst Schorsch, »Umformung!«, Blätter für Taubstummenbildung Nr. 10 (1933): 145-152 117 | Herbert Weinert, »Das Sterilisierungsgesetz«, Blätter für Taubstummenbildung 47, Nr. 1 (1934): 1, 3. 118 | Ebd. 119 | Herbert Weinert, »Eheberatung und Familienforschung im Dienste der Taubstummen und Schwerhörigen«, Blätter für die Wohlfahrt der Gehörlosen Nr. 1 (1933): 7.

Die ›Lex Zwickau‹

von »Eheberatungsstellen, […] an einzelnen Taubstummenanstalten«.120 Der im GzVeN bereits als Anlage enthaltene, aber zunächst nicht obligate erbbiologische Fragebogen sollte Weinert zufolge an allen Taubstummenschulen eingeführt und erweitert werden. Er selbst schlug vor, »noch andere eventuell vorkommende Leiden in dem Bogen [zu vermerken]«, damit »Familienaufnahmen nicht nur vorgenommen werden, wenn ein Ratsuchender fragt, sondern daß man vorarbeitet«.121 Dies würde auch eine »karteimäßige Erfassung aller Erbkranken« ermöglichen, damit »im Laufe der Zeit die Gesamtheit der erblich Gehörschädigten erfass[t] und damit der Eugenik ein […] große[r] Dienst [getan werden kann]«.122 Der noch in den 1920er Jahren von Vertretern der Lehrerschaft angeprangerte mangelnde medizinische Wissensstand bezüglich Erblichkeit war nun kein Problem mehr. So beendete Weinert sein Plädoyer damit, dass zwar »der Erbgang der verschiedenen Gehörleiden noch nicht endgültig gelöst [sei]. Jedoch zwingt die Tatsache der Erblichkeit zu praktischen Gegenmaßnahmen«.123 Biesold zeigte ausführlich, dass fortan auch die Gehörlosenlehrer eifrige Helfer der Erbgesundheitsgerichte waren. Wie das Beispiel Weinerts nahelegt, hatte dieser Berufsstand nach 1933 im Allgemeinen keine Schwierigkeiten, die vorherige Konkurrenz mit der Ärzteschaft um die Deutungshoheit über die Gehörlosen aufzugeben. Für die Gehörlosenbewegung bedeutete die Gleichschaltung, dass es nun die eine, einheitliche Reichsorganisation gab, die so lange Streitgegenstand gewesen war. Unter dem neuen Regime gab es weitgehende Repressionsmöglichkeiten gegen Mitglieder, die sich nicht folgsam zeigten.124 So wurde der gleichgeschaltete ReGeDe zu einer radikalen Lösung für die fehlende Einigkeit der Gehörlosenorganisationen. Die so erreichte ausgeweitete Macht der Verbandsführung mag erklären, warum ihre Bereitschaft so außerordentlich groß war, Verbrechen gegenüber großen Teilen der Gehörlosen zu billigen und aktiv mitzutragen.

120 | Ebd., 113 121 | Ebd., S. 15 122 | Ebd. 123 | Ebd. 124 | Wie ReGeDe-Vertreter innerhalb des Vereinswesens als Denunzianten agierten wird beispielhaft dargestellt in der Fallgeschichte von August Veltmann, vgl. Biesold, Klagende Hände, 69-71.

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S chluss Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das GzVeN keine Überraschung für die deutsche Gehörlosengemeinschaft war. Eugenische Diskurse und die möglichen Konsequenzen daraus für die eigene Gruppe wurden bereits in den 1920er Jahre in der Gehörlosenpresse rezipiert und besprochen. Man war sich bewusst, dass Gehörlose von rassenbiologisch motivierten Zwangsmaßnahmen bedroht waren; die Einführung des GzVeN kann daher als das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses interpretiert werden, der schon weit vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten seinen Anfang genommen hatte. Die Empörung über den vorgeschlagenen Sterilisationszwang innerhalb der Gehörlosenbewegung und unter Gehörlosenlehrern galt nicht nur dem Eingriff an sich, sondern richtete sich vorrangig gegen die Klassifizierung der Gehörlosen als ›minderwertig‹. Die Debatte nahm daraufhin zwei parallel laufende Entwicklungen ein: erstens, die Hervorhebung der eigenen Tüchtigkeit; zweitens, die Distanzierung von anderen Betroffenen. Als Teil der ersten Argumentationslinie wurden auf körperlicher Funktionalität beruhende Hierarchien infrage gestellt. Gleichzeitig wurde diese Position durch die damit einhergehende zweite Strategie zunehmend begrenzt; d.h. im Versuch, sich selbst zu ›retten‹, wurde die ›Minderwertigkeit‹ anderen – auch anderen Gehörlosen – zugesprochen. Die Opposition zur ›Lex Zwickau‹ basierte also weniger auf einer grundsätzlichen Ablehnung rassenbiologisch begründeter Zwangsmaßnahmen, sondern eher auf dem Gefühl einer persönlichen Bedrohung. Obwohl manch zeitgenössische Autoren die ›Lex Zwickau‹ mit dem nationalistischen, völkischen und nationalsozialistischen Spektrum assoziierten und sich daher auch gegen sie wandten, ist die ablehnende Haltung gegenüber den Sterilisierungsvorschlägen nicht gleichbedeutend mit einer kritischen Distanzierung zu rechten Ideologien. Zumindest bei Albreghs liegt es nahe, dass die zentralistische Ausrichtung der Gehörlosenbewegung – vorzugsweise unter seiner eigenen Führung und mit weitgehenden Machtbefugnissen für die Verbandsspitzen – schon seit geraumer Zeit zentrales Anliegen war; die ›Lex Zwickau‹-Debatte war dabei dienliches Mittel zum Zweck. Mit der Ernennung zum Führer des gleichgeschalteten ReGeDe war für ihn dieses Ziel erreicht und die Opposition gegen den Sterilisationszwang konnte nun leicht geopfert, beziehungsweise in die explizite Befürwortung desselben gedreht werden. Auf Teile der Bewegung, die selbst sterilisiert wurden oder dies zumindest nach dem Machtantritt der NSDAP befürchten mussten, traf dies nicht zu. Nach 1933 haben wir nur sehr begrenzt Zugang zu ihren Sichtweisen.125 125 | Spätere Berichte von Betroffenen sowie Personen, die stellvertretend für andere Widerstand geleistet haben, finden sich bei Biesold, Klagende Hände.

Die ›Lex Zwickau‹

Deshalb bietet die Debatte um die ›Lex Zwickau‹ in der Gehörlosenpresse der 1920er Jahre eine einzigartige Perspektive auf die gehörlosen Betroffenen. Abgesehen von der Verflechtung mit der Organisationsfrage, wird deutlich, dass in der Gehörlosenbewegung keine grundsätzliche Ablehnung rassenbiologischer Gedanken stattfand; dies schloss auch die Befürwortung von Zwangsmaßnahmen ein. Im Mittelpunkt stand stets der Schutz und das Abwehrverhalten der eigenen Gruppe. Die Aufnahme von Gehörlosen in ein irgendwie geartetes Sterilisierungsgesetz sei falsch, einerseits weil die Erblichkeit nur eine kleine und darüber hinaus nicht hinreichend verstandene Taubheitsursache sei, andererseits weil Gehörlose aus eugenischer Sicht zu den ›Vollwertigen‹ gerechnet werden mussten. Dieses ambivalente Verhältnis fassten verschiedene Autoren 1932 treffend zusammen: Die Gehörlosen werden Gegner der Rassenkundler sein, so lange sie selbst mit Eheverbot und Sterilisationen bedroht werden.126

B ibliogr afie Bundesarchiv Berlin (BArch) Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP, »Gustav Boeters«.

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126 | Vgl. Ebbe, »Rassengesundheitslehre und Vererblichkeit der Taubstummheit«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E. V. Nr. 24 (1931): 119 –120; sowie ähnlich auch Kommentar der Schriftleitung zu Ebbe, »Die Wahrheit über die Lehre von Ernst Mann und die rassegesundheitlichen Forderungen der NSDAP«, Die Stimme. Zentralorgan des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands E.V. Nr. 10 (1932): 50.

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Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenvertretungen der Gehörgeschädigten und Blinden in der SBZ und frühen DDR, 1945-1957 Anja Werner und Carolin Wiethoff

E inleitung Im Frühjahr 1957 wurde in Halle (Saale) der Allgemeine Deutsche Gehörlosen-Verband der DDR (ADGV) gegründet. Der erste Präsident des ADGV war von 1957 bis 1960 der Gehörlose Günter Wöller (geb. 1922).1 Zeitgleich fand ebenfalls in Halle der Gründungskongress des Allgemeinen Deutschen Blindenverbands der DDR (ADBV) statt.2 Der bis zu seinem Tode im Jahr 1986 amtierende Präsident des ADBV, Helmut Pielasch (1917-1986),3 war 1941 infolge einer Kriegsverletzung erblindet.4 Er konnte durch seine Tätigkeit als Hauptreferent in der Abteilung Sozialfürsorge im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung »Regierungs- und Verbandsarbeit gezielt« miteinander ver-

1 | Begründung des Präsidiums für die Abberufung des jetzigen Präsidenten Günter Wöller, Schreibmaschinendurchschlag, ohne Datum. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag.; vgl. auch Wöller (Präsident Allgemeiner Deutscher Gehörlosen-Verband Zentralvorstand) an Bezirksvorstände und Geschäftsleiter (innen), 20.1.1960. Bundesarchiv (BArch) Berlin, DQ 1/23906, unpag. 2 | Helmut Pielasch, »Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Blinden-Verbandes sowie des Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verbandes«, in Arbeit und Sozialfürsorge (AuS) 12, (1957): 411-412. 3 | Elke Reuter und Helmut Müller-Enbergs, »Pielasch, Helmut«, in Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Bd. 2, Hg. Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst und Ingrid Kirschey-Feix (Berlin: Ch. Links, 2010), 1005-1006. 4 | E. S., »Abschied von Helmut Pielasch«, gemeinsam 30, Nr.7 (Juli 1986), 11.

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binden.5 In dieser Funktion war Pielasch auch zentral für die Schaffung beider Verbände.6 Die Gründung von zwei separaten Verbänden für Blinde bzw. Gehörlose war keineswegs von vornherein festgelegt, denn von staatlicher Seite hatte man zunächst auch die Option eines Gesamtverbandes für alle »schwergeschädigten« oder »sinnesgeschädigten« Bürger der DDR erwogen.7 Pielasch hatte noch im Februar 1956 »die gesellschaftliche Betreuung der Schwerbeschädigten, insbesondere aber der Schwerstbeschädigten« als »ungenügend« kritisiert.8 Aus diesem Grund hätten »sich einige Schwerbeschädigtengruppen verstärkt an die Innere Mission der Kirche« gewandt und »von dort auch eine entsprechende organisierte Betreuung« erfahren.9 Neben der Kirche sei auch der Westen ein Anlaufpunkt: »Ferner nehmen eine ganze Reihe von Schwerbeschädigten, die sich vereinsamt fühlen, Verbindung auf mit den Schwerbeschädigtenorganisationen in Westdeutschland, das trifft in der Hauptsache für die Gehörgeschädigten und Blinden zu.«10 Aus der »Gefahr«, blinde und hörgeschädigte Menschen an die Kirchen und den »Klassenfeind« zu »verlieren«, wurde die Schlussfolgerung gezogen, in der DDR »dem Gedanken der Bildung einer Schwerbeschädigtenorganisation näher zu treten«. Dies solle »nach dem Vorbild der Sowjetunion und der Volksdemokratien« auch »den Wünschen der Schwerbeschädigten Rechnung tragen«.11 Anstelle der angeregten »Schwerbeschädigtenorganisation« entstanden schließlich separate Blinden- und Hörgeschädigtenorganisationen, was zumindest im Fall der Gehörgeschädigten auch stark dem Engagement der Betroffenen selbst geschuldet war – aufgrund der andersartigen kommunikativen Bedürfnisse gehörloser und schwerhöriger Menschen ist die Verbandsarbeit ein besonders wichtiger Bestandteil ihres Soziallebens. Spätestens seit dem Volksaufstand vom 17.  Juni 1953 sahen verschiedene staatliche Akteuren zunehmend eine Dringlichkeit, solche Bedürfnisse auf staatlicher Ebene anzuerkennen – und dadurch die betreffenden Menschen und ihre Organisationen unter Kontrolle zu haben. So wurde Mitte der 1950er Jahre in einem vom Mi5 | Michael Schwartz, »Vertriebene, Evakuierte, Bombengeschädigte, Kriegsheimkehrer sowie Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene«, in Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949-1961. Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus, Hg. Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Baden-Baden: Nomos, 2004), 592-641, 598. 6 | E. S. »Abschied von Helmut Pielasch«, 11. 7 | Pielasch, Aktenvermerk, 3.2.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 8 | Ebd. 9 | Ebd. 10 | Ebd. 11 | Ebd.

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nisterium für Arbeit und Berufsausbildung der DDR angefertigten »Protokoll über die Beratung zur Bildung einer Gehörlosen- und Blindenorganisation am 4. Okt. 1956« festgestellt, dass »[a]lle anwesenden Kollegen [sich] im Prinzip mit der Notwendigkeit der Bildung solcher Organisationen einverstanden« erklärt hätten.12 Etwa 1957 wurde in einer »Disposition zum Referat anlässlich der Aktivtagungen der Blinden und Gehörlosen« bekräftigt, dass die »Bildung eines Blinden[-] und eines Gehörlosen-Verbandes […] ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis geworden« sei.13 Als Zielstellungen der Verbandstätigkeit wurden die gesellschaftliche Betreuung, kulturell-erzieherische Aufgaben, die Einbeziehung in den Arbeitsprozess und die soziale Betreuung definiert. Involviert in die Vorbereitung der Verbandsgründungen waren zahlreiche Akteure des Staats- und Parteiapparates.14 Dies hatte zur Folge, dass im Vorfeld der Gründungskongresse auch unterschiedliche Ansichten zur Rolle der Verbände ins Spiel kamen. Im Ministerium für Gesundheitswesen befürchtete man beispielsweise, dass bei einer Betonung der »gesellschaftspolitischen Aufgaben« in der Bundesrepublik Deutschland »der Eindruck entstehen [könnte], daß diese Organisationen eine getarnte ›kommunistische Aktion‹ darstellen. Deshalb wird empfohlen, die kultur-politische Erziehung in den Vordergrund zu stellen«.15 Aus dem Ministerium für Kultur wurde die Forderung laut, den Verbänden von Blinden und Gehörlosen »bei der Durchführung von Kulturveranstaltungen immer eine Unterstützung von seiten des Staates« zuteil werden zu lassen.16 Bezüg12 | Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, »Protokoll über die Beratung zur Bildung einer Gehörlosen- und Blindenorganisation am 4. Okt. 1956«, 5.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 13 | »Disposition zum Referat anlässlich der Aktivtagungen der Blinden und Gehörlosen«, [Sommer 1957]. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 14 | Neben dem Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung (MfAB) waren dies die Ministerien für Gesundheitswesen (MfG), Volksbildung (MfV), Kultur (MfK), Finanzen (MfF) und des Innern (MdI) sowie der Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport, das Zentralkomitee (ZK) der SED (Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Werner Lüdde an ZK der SED, 25.8.1955. Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. Vgl. auch Entwurf – wiederholte Forderungen der Gehörlosen, eine Org. zu bilden, von Pielasch am 10.9. vorgelegt, jetzt intern ministeriell, 21.9.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 15 | Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, »Protokoll über die Beratung zur Bildung einer Gehörlosen- und Blindenorganisation am 4. Okt. 1956«, 5.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 16 | Ebd.

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lich der »Gesamtdeutsche]n] und internationale[n] Arbeit« gab es hier hingegen »keine Einwände«.17 Insgesamt war man also bestrebt, eine ideologische Kontrolle auszuüben, diese Bemühungen aber nicht allzu offenkundig werden zu lassen. Der rechtliche Status und die Struktur der Verbände mussten vorab sorgfältig geklärt werden. Ausgangspunkt war Artikel 12 der Verfassung der DDR18, der den Bürgern die Bildung von Verbänden oder Gesellschaften »zu Zwecken, die nicht den Strafgesetzen zuwiderlaufen«19, erlaubte. Rechtliche Weichen für die beiden Verbandsgründungen wurden im Oktober 1956 gestellt. Die im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Überlegung, die Verbände mithilfe eines Ministerratsbeschlusses für rechtsfähig zu erklären,20 wurde offenbar rasch wieder fallen gelassen. Stattdessen sollte dies letztlich durch eine Anordnung des Ministers für Arbeit und Berufsausbildung erfolgen.21 Vorüberlegungen gab es 1956 bezüglich zwei weiterer Gruppen, nämlich der Sehschwachen und der Schwerhörigen: Inwiefern sollten oder könnten diese in einen Blinden- bzw. Gehörlosen-Verband integriert werden? Das Ministerium für Gesundheitswesen hatte bezüglich sehschwacher Menschen »erhebliche Bedenken, weil es zu viele Sehschwache gibt, die sich als Blinde fühlen und es notwendig wäre, Institute zu errichten, um die ganzen Schwindler in dieser Hinsicht zu entlarven. Allerdings sollte auch festgehalten werden, daß in erster Linie auch für die Schwerhörigen und Sehschwachen gesorgt werden müßte.«22 Die Überlegungen und Anschuldigungen deuten an, wie vielseitig Sinnesschädigungen sein können – bei Hörgeschädigten und Blinden handelt es sich keineswegs um zwei klar definierbare Gruppen mit einheitlichen Interessen.

17 | Ebd. 18 | Vgl. z.B. Günter Uschwa (Volkskorrespondent) an Staatssekretär Josef Hegen (Regierung der DDR, Ministerium des Innern Verwaltung Inneres), 16.4.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 19 | Artikel 12 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, Artikel 12, Zugriff 22.1.2018, www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1949.html#b1. 20 | Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, »Protokoll über die Beratung zur Bildung einer Gehörlosen- und Blindenorganisation am 4. Okt. 1956«, 5.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 21 | Abt. Sozialfürsorge, Aktenvermerk, 28.12.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 22 | Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, »Protokoll über die Beratung zur Bildung einer Gehörlosen- und Blindenorganisation am 4. Okt. 1956«, 5.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag.

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Schwerhörige Menschen wurden ab 1961 durch den ADGV repräsentiert. In einem Rundschreiben des Zentralvorstandes des ADGV an seine Bezirksorganisationen vom 6. Mai 1961 zum Thema »Einbeziehung der Schwerhörigen in unseren Verband« hieß es: Gemäß dem Beschluß des Zentralvorstandes vom 2.10.1960 ist unseren schwerhörigen Freunden die Möglichkeit gegeben, Mitglied unserer Organisation zu werden. Als Schwerhörige im Sinne dieses Beschlusses sind Gehörgeschädigte anzusehen, die auf Grund eines ärztlichen Gutachtens auf einen Hörapparat angewiesen sind. 23

Weiterhin wurde in dem Rundschreiben darüber informiert, dass innerhalb der Kreisorganisationen jeweils zwei Betreuungsgruppen – so die Wortwahl seitens der Vertreter des ADGV – zu bilden seien, und zwar die der Gehörlosen und die der Schwerhörigen. Allerdings sei dies nur sinnvoll, wenn auf Kreisebene wenigstens 15 schwerhörige Mitglieder vorhanden wären.24 Somit hatten schwerhörige DDR-Bürger keinen eigenen Verband, konnten sich aber seit den frühen 1960er Jahren im ADGV organisieren. Ab 1974 wurde dieser in »Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR« umbenannt. Es gab spezielle Schwerhörigen-Arbeitsgruppen innerhalb des Verbands.25 Ab der Ausgabe 7a 1974 hieß das Publikationsorgan des Verbands dann auch nicht mehr DGZ (Deutsche Gehörlosen-Zeitung, ursprünglich: Der Deutsche Gehörlose) sondern gemeinsam.26 Diese Repräsentation von schwerhörigen und gehörlosen Menschen in einem Verband war aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen nicht unproblematisch. Die Schwerhörigen waren u.a. bestrebt, zusammen mit HNO-Ärzten und Ansprechpartnern in den Ministerien über die Versorgung mit Hörgeräten und andere Maßnahmen zu ihrer Integration in die hörende Mehrheitsgesellschaft zu sprechen.27 Gehörlose zielten hingegen auf die 23 | Schliebenow, Zentralvorstand, Allgemeiner Deutscher Gehörlosen-Verband (ADGV) an Bezirksorganisationen, ADGV, 6.5.1961. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 24 | Ebd. 25 | »Der Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR ein aktiver Mitgestalter der sozialistischen Gesellschaft! Unser Bekenntnis zum Staat muß uns Auftrag sein«, Deutsche Gehörlosen-Zeitung 18, Nr. 1 (1974): 2-3. 26 | Die Umbenennung in Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR wurde von westdeutschen Gehörlosen in ihrer Verbandszeitschrift kommentiert. Ha—s, »Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR«. Deutsche Gehörlosen-Zeitung 102, Nr. 4 (20. Feb. 1974): 49-50. 27 | Vgl. z.B. »Protokoll der Sitzung der Kommission für Schwerhörigenfragen vom 30. November 1962«. BArch DQ 1/23907, unpag. Siehe auch Anja Werner, »Otologie und Taubheit in der DDR am Beispiel der Fachzeitschrift HNO-Praxis«, in Medizin- und Wis-

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Stärkung der Gehörlosengemeinschaft und Gebärdensprache ab. Sie drängten ohne Kontakte mit Ärzten auf finanzielle Unterstützung beim Einsatz von Gebärdendolmetschern sowie auf gebärdensprachliche kulturelle Angebote.28 Sehschwachen Menschen wurde 1961 der Zugang zum Allgemeinen Deutschen Blindenverband ermöglicht. Ab 1968 konnten auch Personen ohne eine Behinderung Mitglieder der Verbände werden, so sie sich »als Angehörige, ehrenamtlich oder professionell Tätige aktiv für die Belange der Betroffenen einsetzten«.29 1969 erfolgte die Umbenennung des ADBV in »Deutscher Blinden- und Sehschwachen-Verband«, vier Jahre später in »Blinden- und Sehschwachen-Verband der DDR«.30 Die Entwicklungen der beiden Verbände bis zur Gründung und Erweiterung für weitere Gruppen verliefen parallel. Doch wie kam es überhaupt zur Gründung dieser Verbände, welche Organisationsformen bestanden zuvor, und welche Rolle spielten gehörlose und blinde Menschen in diesem Prozess? Bisher gibt es keine fundierte historische Studie hierzu.31 Im Folgenden soll daher ein Anfang gemacht werden, indem die Vorgeschichte des ADGV und des ADBV skizziert wird. Wir legen dabei das Augenmerk auf überschneisenschaftsgeschichte in Mitteldeutschland. Beiträge aus fünf Jahren Mitteldeutscher Konferenz, Hg. Florian Steger (Leipzig: Universitätsverlag, 2016), 181-200. 28 | Vgl. z.B. Aktiv der Gehörlosen u. Gehörgeschädigten der ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozial-Fürsorge Freiberg an Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, Sg. Sozialwesen, Schwerbesch., 10.5.1956. BArch Berlin, DQ 1/2213, unpag. 29 | Ulrich Lohmann, Die Entwicklung des Sozialrechts in der DDR (Opladen: Leske + Budrich, 1996), 28. 30 | Martin Jaedicke und Helmut Pielasch, 30 Jahre Blinden- und Sehschwachen-Verband. Eine Jubiläumsschrift (Leipzig: Dt. Zentralbücherei für Blinde, 1986), 31. 31 | Einen sehr guten Überblick über die Geschichte des ADGV bzw. GSV bietet HansUwe Feige, »Der Allgemeine Deutsche Gehörlosenverband der DDR (1957-1989)«, Das Zeichen 71 (2005): 344-351. Außerdem gibt es z. B. Festschriften zu Regional- und Lokalverbänden von Gehörlosen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR: Hans-Uwe Feige, Festschrift 140 Jahre 1. Leipziger Gehörlosen-Verein »1864« e.V.: 1864-2004. Festveranstaltung, am 18. September 2004 im Kulturhaus »Samuel Heinicke« Leipzig (Leipzig: 1. Leipziger Gehörlosen-Verein 1864, 2004); Gehörlosenverein Bautzen e.V. 1912, Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Gehörlosenvereins Bautzen e.V. 1912: 09.06.1912 (Bautzen: Gehörlosenverein Bautzen e.V. 1912, 2012); Ines Reimann, 1893-2008 – Gehörlosenverein Niederschlesien Görlitz e.V.: 115 Jahre Gehörlosenverein Görlitz e.V. [DVD] (Görlitz: Gehörlosenverein Niederschlesien, 2008); Gehörlosenverein Suhl, 1957-2007: vom »Allgemeinen Deutschen Gehörlosenverband – Kreisorganisation Suhl« zum »Gehörlosenverein Suhl e.V.« (Suhl: Gehörlosenverein, 2007); Günter Wöller, 40 Jahre Landesverband der Gehörlosen Berlin e.V. (Berlin: Landesverband der Gehörlosen, 1992).

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dende und gemeinsame Entwicklungen. Auffallend ist das Engagement nicht staatlich angestellter gehörloser Aktivisten; von den blinden Aktivisten waren zumindest Helmut Pielasch und Johannes Hausdorf nachweislich in Ministerien tätig. Verhinderten althergebrachte Klischees von der angeblich geringeren Intelligenz bzw. »Spracharmut« hörgeschädigter Menschen auf Seiten der hörenden Funktionäre eine solche Anstellung gehörloser Aktivisten? Aus den Akten lässt sich zumindest klar erkennen, wie geschickt und aufmerksam Gehörlose in den 1950er Jahren mit staatlichen Vertretern kommunizierten, um ihre Interessen durchzusetzen. Im Gegensatz zu den blinden Aktivisten schienen die gehörlosen also zu einem geringeren Grad Teil des neuen politischen Systems gewesen zu sein. Dafür waren sie umso entschlossener, sich darin durch beharrliches Nachfragen und Entgegenkommen eine Nische einzurichten. Dieser Punkt ist besonders relevant, da die gehörlosen Akteure der 1950er Jahre selbst Verfolgung und Zwangssterilisierungen zur Zeit des Nationalsozialismus miterlebt hatten. Sie erwarteten vom neuen sozialistischen Regime nichts weniger, als ihr Schicksal nun selbst in die Hand nehmen zu können. Dieser Aufsatz versteht sich an erster Stelle als ein Werkstattbericht, der vornehmlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen im Bundesarchiv sowie von Publikationen beider Verbände basiert. In der weiterführenden Forschung wäre es lohnenswert, Materialien in den Verbandsarchiven aufzuspüren sowie Zeitzeugeninterviews zu führen. In unsere Darstellung werden wir aus Gründen der Chronologie auf der Basis der verwendeten Quellen zuerst auf den Blinden- und alsdann den Gehörlosenverband eingehen.

D ie O rganisation von B lindenverbänden in der SBZ und der DDR bis 195732 Entstehung von Blindenausschüssen in der SBZ und Erster Blindenkongress 1950 In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) waren anstelle von Blindenverbänden und Wohlfahrtsorganisationen für Blinde zunächst auf der Kreisebene, später dann auch auf Landesebene, sogenannte Blindenausschüsse als Interessenvertretung der Blinden entstanden. Diese wurden durch die Landesregierungen finanziell unterstützt. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung in

32 | In dieses Kapitel sind Ergebnisse von Carolin Wiethoffs 2017 publizierten Dissertation eingegangen, vgl. Carolin Wiethoff, Arbeit vor Rente. Soziale Sicherung bei Invalidität und berufliche Rehabilitation in der DDR (1949-1989) (Berlin: bebra wissenschaft verlag, 2017), 74-78.

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Sachsen. Dort hatten sich bereits Ende 1945 Kreisblindenausschüsse bei den Stadtverwaltungen in Chemnitz, Dresden und Leipzig gebildet.33 Ein wichtiger Vertreter der Blinden in Sachsen war Johannes Hausdorf (1903-1970)34, der dem dortigen Landesblindenausschuss vorstand.35 Hausdorf war 1912 infolge einer schweren Augenverletzung erblindet36 und seit Oktober 1945 bei der Abteilung Sozialfürsorge der Landesverwaltung Sachsen als Sachbearbeiter für Blindenfragen tätig. Seit Frühjahr 1946 leitete er die dortige Abteilung für Schwerbeschädigtenfragen. Im Juni 1950 avancierte er zum Leiter der Abteilung Sozialwesen im Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge der Landesregierung Sachsen.37 Die Blindenausschüsse finanzierten sich über Haushaltsmittel der jeweiligen Verwaltung sowie über Zuschüsse durch die Volkssolidarität. Auch in den anderen Ländern entstanden Landesblindenausschüsse, zunächst Ende 1946 in Thüringen unter der Leitung von Dr. Walter Warnecke, im April 1947 in Mecklenburg – Leiter war Ernst Puchmüller – und schließlich im Spätsommer 1947 in Sachsen-Anhalt. In Brandenburg wurde per Rundverfügung vom 23. Februar 1948 festgelegt, dass die Blinden- und Schwerbeschädigtenausschüsse eng miteinander verbunden sein sollten (es kann zu diesem Zeitpunkt nur vermutet werden, dass sich die Schwerbeschädigtenausschüsse auch um Gehörlose kümmerten).38 Durch die Blindenausschüsse wurde auch die im Krieg zerstörte »Zentrale für Blindenhilfsmittel« wieder eingerichtet. Sie versorgte die Blinden in der SBZ mit Hilfsmitteln aller Art und darüber hinaus setzte sich der Landesblindenausschuss Sachsen für eine Produktion der Hilfsmittel in Betrieben der SBZ ein.39 Ferner wurde die Deutsche Zentralbücherei für Blinde in Leipzig (DZB) wieder aufgebaut. Das Volksbildungsamt Leipzig setzte am 20. September 1945 Max Schöffler zum kommissarischen Direktor der DZB ein. Schöffler war vor dem Zweiten Weltkrieg Leiter des Bayerischen Blindenbundes gewesen. Er übernahm auch die Schriftleitung der Blindenzeitschrift Die Gegenwart, die ab 1947 bei der DZB in Leipzig erschien. Ab Mai 1947 wurde 33 | Helmut Pielasch und Martin Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens in Deutschland und der DDR (Leipzig: Deutsche Zentralbücherei für Blinde, 1972), 180. 34 | Helmut Schiller, 100 Jahre DZB. Die wechselvolle Geschichte der ersten deutschen Blindenbücherei (Leipzig: Deutsche Zentralbücherei für Blinde, 1994), 79. 35 | Protokollarische Notizen über die Sitzung der Vorsitzenden der Landesblindenausschüsse der ehem. Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands beim Zentralsekretariat der SED am 1.11.1949. BArch Berlin, DQ 2/3758, unpag. 36 | Schiller, 100 Jahre DZB, 79. 37 | Pielasch und Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, 180. 38 | Ebd., 182-183. 39 | Ebd., 192-193.

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Die Gegenwart auch in begrenztem Umfang in Blindenschrift (Braille) herausgegeben. 1949 besaß die Zeitschrift ca. 2.400 Leser in Ost- und Westdeutschland.40 Die Blindenausschüsse unterstützen die staatlichen Stellen vorrangig bei der Integration von Blinden in den Arbeitsprozess.41 Dies geschah entweder über Produktionsgenossenschaften oder durch eine Berufsausbildung und Umschulung im Betrieb. Daneben war eine Ausbildung in besonderen Werkstätten möglich. Das Ausbildungsspektrum beschränkte sich auf einige wenige Berufe.42 Die Blindenausschüsse organisierten zudem kulturelle Veranstaltungen. Es entstanden Literaturzirkel und Clubheime für Blinde, in denen politische Vorträge gehalten wurden und Kulturveranstaltungen stattfanden. Im Juli 1949 schlossen sich einige Künstler in der Sowjetischen Besatzungszone zur »Konzertgemeinschaft Blinder Künstler« zusammen, die auf Veranstaltungen der Blinden auftraten. Die Konzertgemeinschaft wurde am 1. Januar 1959 dem Allgemeinen Deutschen Blindenverband angeschlossen.43 Die Arbeit in den Blindenausschüssen auf Kreis- und Landesebene unterschied sich regional. Obwohl versucht wurde, mit sogenannten »Zonenarbeitstagungen« den Austausch zu fördern, wurde zunehmend deutlich, dass eine Dachorganisation und einheitliche Richtlinien fehlten.44 Daher fand 1950 ein Blindenkongress unter Trägerschaft staatlicher Stellen und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) statt, an dem Vertreter aus allen Ländern der DDR teilnahmen.45 Auf dem Kongress wurde ein Arbeitsausschuss für Blindenfragen gebildet, der aus vier Mitgliedern bestand. Den Vorsitz hatten Johannes Hausdorf aus Dresden und der Leiter der Deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig, Max Schöffler, inne. Ferner waren im Ausschuss der Leiter des Landesblindenverbandes Thüringens, Dr. Walter Warnecke aus Erfurt, und Georg Hiller, Sachbearbeiter für Blindenfragen bei der Versicherungsanstalt Berlin, vertreten. Schöffler und Hausdorf hatten sich beide bereits in der Weimarer Republik für das Blindenwesen engagiert. Während Hausdorf in der NS-Zeit zum Geschäftsführer der Konzertgemeinschaft Blinder Künstler Mitteldeutschlands avancierte, wurde Schöffler, der vor der Machtübernahme Geschäftsführer des Bayerischen Blindenbundes war, abgesetzt und mehrfach verhaftet.46 40 | Ebd., 206. 41 | Ebd., 189. 42 | Ebd., 190-192. 43 | Ebd., 202-203. 44 | Ebd., 186-187. 45 | Ebd., 216. 46 | Schiller, 100 Jahre DZB, 80-81.

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Der Arbeitsausschuss hatte die Aufgabe, die Tätigkeit der Blindenausschüsse auf regionaler Ebene zu koordinieren und sich für die Bedürfnisse und Rechte der Blinden einzusetzen. Dafür verhandelten die Mitglieder mit den staatlichen Stellen, insbesondere mit dem damaligen Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen sowie den nachfolgenden Ministerien.47 Bei diesen Verhandlungen ging es neben den Renten auch um die Versorgung nicht rentenberechtigter Blinder und blinder Personen, die nicht mehr arbeiten konnten. Im Vordergrund stand die Forderung nach einem Sonderpflegegeld für Blinde mit »doppeltem Körperschaden«, also Blinde mit einer weiteren Behinderung. Diesbezüglich entwarf der Arbeitsausschuss eine Verordnung, die das Ministerium für Arbeit sowie der Bundesvorstand des FDGB guthießen, welche jedoch 1952/53 zunächst »dem Feldzug für strengste Sparsamkeit« in der Sozialversicherung zum Opfer fiel.48

Haltung zur Interessenvertretung der Blinden im Ministerium für Arbeit Bereits in der SBZ bestanden Spannungen zwischen den Blindenorganisationen und den Verwaltungsstellen.49 Mit der Gründung der DDR verschärfte sich die Situation. Auf einer Sitzung beim Zentralsekretariat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im November 1949, an der Vertreter der Blinden, des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesen, des Magistrates von Berlin und der Versicherungsanstalt Berlin teilnahmen, kritisierte Hausdorf eine fehlende Unterstützung von staatlicher Seite.50 Die Bereitstellung von Geldern zur Unterstützung der Arbeit der Blindenausschüsse war ein zentraler Streitpunkt zwischen dem Arbeitsausschuss für Blindenfragen und dem Ministerium für Arbeit. 1951 wandte sich Hausdorf als Vorsitzender des Arbeitsausschusses an dessen Mitglieder und die Vorsitzenden der Landesblin47 | 1949-1950 Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen, 1950-1954 Ministerium für Arbeit, ab 1954 Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, 1958 Auflösung, Siehe Friedrich P. Kahlenberg und Dierk Hoffmann, »Sozialpolitik als Aufgabe zentraler Verwaltungen in Deutschland – Ein verwaltungsgeschichtlicher Überblick«, in Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 1: Grundlagen der Sozialpolitik, Hg. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Baden-Baden: Nomos, 2001), 103-182, 169-170. 48 | Wiethoff, Arbeit vor Rente, 79-80. 49 | Schöffler an Puchmüller, 11.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 5760, hier 57-58. 50 | Protokollarische Notizen über die Sitzung der Vorsitzenden der Landesblindenausschüsse der ehem. Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands beim Zentralsekretariat der SED am 1.11.1949. BArch Berlin, DQ 2/3758, unpag.

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denausschüsse und machte darauf aufmerksam, dass der Arbeitsausschuss es ablehne, »gelegentlich wohlwollend mehr oder weniger niedrige Beträge für unsere Aufgaben zur Verfügung gestellt zu erhalten«. Angesichts der »wertvollen Arbeit für unsere Schicksalsgenossen« forderte er, dass die Ministerien für Arbeit und Finanzen entsprechende Mittel bereitstellen müssten.51 Mitarbeiter des Ministeriums für Arbeit lehnten hingegen die bestehenden Organisationen von Blinden grundsätzlich ab. Anfang Oktober 1951 machte der Referent für Sozialfürsorge im Ministerium für Arbeit, Paul Zumpe,52 in einem Schreiben an die Leiterin der Abteilung Arbeiterversorgung des FDGBBundesvorstandes, Grete Groh-Kummerlöw (1909-1980)53 deutlich, wie wenig eine eigenständige Vertretung von »Schwerbeschädigten« erwünscht war. Diese widerspreche »den Prinzipien unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung«.54 Gleichzeitig lässt sich anhand von Zumpes Ausführungen erkennen, dass die fehlende finanzielle Unterstützung damit zusammenhing, dass der Staat die Blindenausschüsse nicht privilegieren wollte: Das Ministerium für Arbeit kann sich gegenüber den materiellen Anforderungen, die vorwiegend aus den Kreisen der Blinden an die staatlichen Verwaltungsstellen herangetragen werden, nur ablehnend verhalten. Wir können nicht öffentliche Mittel für einen verhältnismäßig kleinen Kreis der Schwerbeschädigten (17.000 Blinde von ca. 400.000 Schwerbeschädigte [sic!] in der Deutschen Demokratischen Republik) verwenden, wenn wir nicht gleichzeitig alle bisherigen Grundsätze unserer Auffassung beseitigen und einer privilegierten Fürsorge das Wort reden wollen. 55

Die Tatsache, dass in der Sowjetunion eigene Organisationen für Blinde und Gehörlose bestanden, rechtfertigte Zumpes Ansicht nach eine entsprechende Entwicklung in der DDR nicht. Stattdessen sah er eine Gefahr in solchen Organisationen:

51 | Hausdorf an die Mitglieder des Arbeitsausschusses für Blindenfragen und die Vorsitzenden des Landesblindenausschusses (Durchschriftl. an das Ministerium für Arbeit der DDR), 20.7.1951. BArch Berlin, DQ 2/3783, unpag. 52 | Zu Zumpe vgl. Matthias Willing, »Sozialistische Wohlfahrt«. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945-1990) (Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 43, Anm. 120. 53 | Andreas Herbst und Helmut Müller-Enbergs, »Groh-Kummerlöw, Grete«, in Wer war wer in der DDR, 432. 54 | Abt. Sozialfürsorge (Zumpe) an Bundesvorstand des FDGB (Groh-Kummerlöw), Betr.: Besondere Betreuung der Blinden und Taubstummen, 1.10.1951. BArch Berlin, DQ 2/4110, unpag. 55 | Ebd.

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Anja Werner und Carolin Wiethoff Es liegt eine Reihe von Erfahrungen vor, dass die in Westdeutschland bestehenden Schwerbeschädigtenorganisationen politisch missbraucht werden gegen die Interessen unseres Aufbaus und die Zersetzung, vor allem des Kreises der Blinden, durch Care-Pakete im Lande Sachsen-Anhalt unerwünschte Auswirkungen gezeigt hat. 56

Die im Ministerium für Arbeit vorherrschende ablehnende Haltung wurde den Blindenausschüssen gegenüber nicht offen vertreten. Dies belegt ein Bericht über eine »Aussprache« zwischen Friedel Malter (1902-2001)57, Staatssekretärin im Ministerium für Arbeit, mit Vertretern des Arbeitsausschusses für Blindenfragen. Darin wurde festgehalten, dass die »besonderen Ausschüsse für Blinde und Taubstumme […] bestehen bleiben« sollten, »weil dieser Personenkreis auf besondere Art betreut werden muss«.58 Die Ausschüsse, denen der »Charakter eines Hilfsorgans« eingeräumt wurde, sollten dabei die beiden als vordringlich klassifizierten Aufgaben für den Personenkreis übernehmen: die »Eingliederung in den Produktionsprozess« und die »kulturelle Betreuung«. Hierbei waren eine enge Zusammenarbeit mit dem FDGB und eine Finanzierung durch Haushaltsmittel vorgesehen. Allerdings waren die Mittel, die für das Jahr 1953 eingeplant werden sollten, »in erster Linie« für »Aufwendungen für den Schriftverkehr mit Blinden« vorgesehen und somit offenbar knapp bemessen. Bis auf ein Pflegegeld für »doppelt« Pflegebedürftige (»Taubblinde, Ohnhänder, Blindgelähmte«) und die Befreiung von den Rundfunkgebühren wurden Forderungen von Seiten des Arbeitsausschusses, beispielsweise Renten für jugendliche Blinde, vom Ministerium abgelehnt.59 Als Begründung wurde angeführt, dass derartige Regelungen das Versicherungsprinzip durchbrechen würden und auf die »Tatsache« verwiesen, dass »bei einer Zustimmung ein unabsehbarer Personenkreis von Menschen mit anderen Leiden die gleichen Forderungen erheben könnten«. Die Sozialversicherung sei einer derartigen finanziellen Belastung nicht gewachsen.60

56 | Ebd. 57 | Andreas Herbst und Helmut Müller-Enbergs, »Malter, Frieda (Friedel), geb. Raddünz«, in Wer war wer in der DDR, 838. 58 | Bericht über die Aussprache mit den Vertretern des Zentralen Arbeitsausschusses für Blindenfragen der DDR (…), am 21.2.52. BArch Berlin, DQ 2/4110, unpag. 59 | Ebd. 60 | Ebd.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

Bildung eines Referates für Blindenfragen im Ministerium für Arbeit 1952 leitete die Staats- und Parteiführung einen harten Sparkurs in der Sozialversicherung ein, der erst 1953 aufgegeben wurde.61 Infolge des Sparkurses, der auch Kürzungen bei den Leistungen für Blinde vorsah, kam es zu offenen Protesten der Blindenausschüsse.62 Auch auf zentraler Ebene erreichte der bereits schwelende Konflikt eine neue Dimension, als der Arbeitsausschuss für Blindenfragen Mitte 1952 Pläne zur Gründung eines Zentralen Deutschen Blindenausschusses verkündete. Zudem forderten die Mitglieder des Arbeitsausschusses die Bildung eines eigenen Sekretariats im Ministerium für Arbeit.63 Das Ministerium stimmte diesem Vorschlag nicht zu, sondern schlug im Gegenzug die Bildung eines Referats für die soziale Betreuung der Blinden vor, welches dem Hauptreferat Sozialfürsorge angeschlossen werden sollte.64 Die Idee war nicht neu: Bereits 1949 war die Entstehung einer eigenen Abteilung für Schwerbeschädigte im Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen diskutiert worden. Das Zentralsekretariat der SED hatte zudem festgestellt, dass die bestehenden Ausschüsse »im Zeichen der Demokratisierung der Gesetzlichkeit […] wesentlich an der Neubearbeitung der sozialpolitischen Verordnungen und Gesetze mitarbeiten müssen«.65 Fachausschüsse »für Blinde, Gehörgeschädigte und ggf. Hirnverletze« sollten einem geplanten »Zentralbeirat für Schwerbeschädigtenfragen« beim Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen unterstellt werden.66 61 | Dierk Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ/DDR. Der Umbau der Sozialversicherung 1945-1956 (München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1994) 287300. 62 | Michael Schwartz, »SED-Sozialabbau und Bevölkerungsprotest: Strukturbedingungen und Eskalation des Konflikts zwischen SED-Regime und Schwerbeschädigten im Vorfeld des Juni-Aufstandes von 1953«, in Aufstände im Ostblock: Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Hg. Henrik Bispinck, Jürgen Danyel, Hans-Hermann Hertle und Hermann Wentker (Berlin: Ch. Links Verlag, 2004), 75-96, hier 87. 63 | Friedel Malter und Elisabeth Rudolf an ZK der SED, Genossin Gurgeit, 29.1.1953. SAPMO BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 14-18, hier 14. 64 | Stellungnahme der Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen im ZK zur Tätigkeit der Genossen Schöffler, Hausdorf, Dr. Warnicke [sic!] und Hiller im Arbeitsausschuss Blindenfragen in der DDR, 13.10.1953. SAPMO BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 143-151, hier 144-145. 65 | Protokollarische Notizen über die Sitzung der Vorsitzenden der Landesblindenausschüsse der ehem. Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands beim Zentralsekretariat der SED am 1.11.1949. BArch Berlin, DQ 2/3758, unpag. 66 | Ebd.

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Die Mitglieder des Arbeitsausschusses für Blindenfragen lehnten den Vorschlag des Ministeriums für Arbeit ab. Daher wurde am 16. Januar 1953 eine »Aussprache« mit dem Arbeitsausschuss in der Abteilung Arbeit des Zentralkomitees (ZK) der SED anberaumt. Bei dieser hielt der Arbeitsausschuss weiterhin an der Bildung eines Zentralen Deutschen Blindenausschusses fest.67 Staatssekretärin Malter unterbreitete hingegen am 29. Januar 1953 dem ZK der SED den Vorschlag, ein Referat für Blindenangelegenheiten einzurichten. Hierbei machte sie auf die Risiken einer eigenständigen Organisation für Blinde aufmerksam: Sie betonte, dass der Arbeitsausschuss für Blindenfragen eine Körperschaft darstelle, die praktische Entscheidung fälle, sich also »operative Funktionen« angeeignet habe, die von keiner Stelle kontrolliert werden könnten.68 Die bestehenden Blindenausschüsse sollten ihrer Ansicht nach in Beiräte bei den Räten der Kreise umgewandelt werden. Die Aufgaben des Referates sah sie darin, Blinde in den Arbeitsprozess einzugliedern, Gesetzesmaterialien zu erarbeiten sowie auf die Herstellung und Verteilung von Hilfsmitteln für Blinde und die Planung der Blindenhunde Einfluss zu nehmen. Darüber hinaus sollte das Referat auch Erfahrungen der Sowjetunion zur kulturellen und fachlichen Entwicklung im Bereich des Blindenwesens auswerten.69 Für die leitenden Mitglieder des Arbeitsausschusses waren die Auseinandersetzungen mit den staatlichen Stellen belastend. Max Schöffler schilderte 1953 in einem Brief an Ernst Puchmüller den »harten und aufreibenden Kampf« mit dem Ministerium für Arbeit: Erst war es die Gen. Matern [Jenny Matern], die aber bis 1950 als wir noch keine DDR hatten […] besondere staatspolitische Gesichtspunkte beachten mußte, weil in der SBZ damals für unsere Bewegung kein staatsrechtliches Fundament gegeben war. Seit einigen Jahren haben wir es im gleichen Ministerium mit der Gen. Fr. Malter [Friedel Malter] zu tun. Diese Frau hat absolut kein inneres Verhältnis zu unseren Aufgaben und betreibt uns gegenüber eine Politik und bietet uns eine Behandlung an, die wir uns bisher von niemandem haben bieten lassen. Ich habe mich während der Nazizeit gegen eine solche Entmündigung ohne Rücksicht auf meine Person im Interesse der Blindensache gewehrt

67 | Stellungnahme der Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen im ZK zur Tätigkeit der Genossen Schöffler, Hausdorf, Dr. Warnicke [sic!] und Hiller im Arbeitsausschuss Blindenfragen in der DDR, 13.10.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 144. 68 | Friedel Malter und Elisabeth Rudolf an ZK der SED, Genossin Gurgeit, 29.1.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 14-18, hier 14. 69 | Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen an Genossen Hengst, 18.3.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 45-46.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen und ich wehre mich gegen die Behandlung dieser Frau, Gott sei es geklagt, daß sie Genossin ist, mit der gleichen Entschiedenheit.70

Das Ministerium für Arbeit hatte nach Absprache mit der zuständigen Abteilung für Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen des Zentralkomitees (ZK) der SED ausgerechnet den Empfänger dieser Beschwerde, Ernst Puchmüller, als Leiter für das geplante Referat vorgesehen. Puchmüller, der sich zunächst auch für einen Deutschen Blindenausschuss ausgesprochen hatte,71 geriet damit in den Konflikt zwischen dem Arbeitsausschuss und den zentralen Stellen. Deutlich wird dies an der Übernahme des Referates durch Puchmüller. Denn dieser wollte den Posten als Referatsleiter nicht annehmen. Stattdessen hatte er Helmut Pielasch, zu diesem Zeitpunkt Leiter des Kreissozialamtes im Kreis Schöneberg/Grevesmühlen, hierfür vorgeschlagen.72 Anfang Juli 1953 lehnte Puchmüller die Übernahme des Referates sogar schriftlich ab.73 Schöffler hatte ihn zuvor davor gewarnt, die Stelle zu übernehmen, da er nicht stillschweigend zusehen könne, wie sich Puchmüller »aus Unkenntnis der Sachlage« »heißlaufen« müsse und »nur als Handlanger der aggressiven Haltung von Frau Malter uns gegenüber dienen« könne.74 Auch Hausdorf hatte sich aus diesem Grund an Puchmüller gewandt: Du hast die Referentenstelle im Min. für Arbeit nicht übernommen. Ich war bestürzt, daß Du, ohne mit uns vorher die Dinge zu besprechen, diesen Vorschlag überhaupt angenommen hast. Das ist eben die Taktik der Beseitigung eines, wenn auch gerechten Widerstandes. Spalten und dann beseitigen.75

Konflikte zwischen dem Arbeitsausschuss und dem Staatsund Parteiapparat und der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Schöffler und Hausdorf hatten nicht nur Forderungen nach einem Deutschen Blindenausschuss erhoben, sondern auch gegen verschiedene staatliche Maßnahmen im Rahmen des Sparkurses heftig protestiert. Mithilfe des Sparkurses und der als »Demokratisierung der Verwaltung« bezeichneten Beseitigung 70 | Schöffler an Puchmüller, 11.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 5760, hier 58. 71 | Puchmüller an ZK-Abteilung Wirtschaft/Gurgeit, 16.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 55-56, hier 56. 72 | Ebd., Bl. 55. 73 | Malter an Grotewohl, 7.7.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 66-69, hier 68. 74 | Schöffler an Puchmüller, 11.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 59. 75 | Hausdorf an Puchmüller, 7.8.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 96.

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letzter Reste parlamentarischer Demokratie innerhalb des Verwaltungsapparates76 sollte der Organisation von Blinden der Boden entzogen werden. Bereits im Januar 1953 hatte sich der Leiter des Bezirks-Blindenausschusses in Leipzig an Walter Ulbricht (1893-1973) gewandt und die »Zerschlagung der Blindenbetreuung« beklagt. Diese »besorgniserregende Auswirkung der Demokratisierung der Verwaltung« habe seit Mitte 1952 eingesetzt; seither seien sechs »aktive blinde Genossen aus der öffentlichen Verwaltung ausgeschaltet worden, die seit 1945 erfolgreich an verantwortlicher Stelle tätig waren«. Nun sei Anfang des Jahres auch dem zuständigen Mitarbeiter im Sachgebiet »Betreuung der Blinden, Gehörgeschädigten-Tauben und Hirnverletzten« der Abteilung Sozialwesen beim Rat des Stadtkreises Leipzig gekündigt worden. In Leipzig waren zu diesem Zeitpunkt etwa 1.300 blinde Menschen, 600 »Gehörgeschädigte-Taube« und 800 »Hirnverletzte« erfasst worden. Durch die Dezentralisierung in der Verwaltung könne die Betreuung dieser Gruppen nun nicht einmal »auch nur in der einfachsten und notwendigsten Weise erfolgen«, denn es fehle sowohl an Personal als auch an Fachkenntnis.77 Andere Bezirksblindenausschüsse hatten ähnliche Schreiben an Ulbricht gerichtet. Im Ministerium für Arbeit war daraufhin die Vermutung laut geworden, dass es sich um eine von Schöffler und Hausdorf initiierte Kampagne handele.78 Die Bemühungen der Bezirksblindenausschüsse blieben ohne Erfolg. Stattdessen hielt die Hauptreferentin für Sozialfürsorge im Ministerium für Arbeit, Elfriede Krellwitz, die Referate Sozialwesen bei den Räten der Bezirke im April 1953 dazu an, die finanzielle Unterstützung der Bezirks- und Kreisblindenausschüsse komplett einzustellen. Weder »der Charakter dieser Ausschüsse, als beratende Organe des staatlichen Sozialwesens, noch die Einhaltung des Prinzips der strengsten Sparsamkeit« rechtfertige die Ausgabe von Mitteln des Staatshaushaltes für diese Zwecke.79 Zudem hatte Staatssekretärin Malter eine Zusammenkunft des Arbeitsausschusses mit den Blindenausschüssen auf Be-

76 | Oliver Werner, »Die ›Demokratisierung des Verwaltungsapparates‹ der DDR als Beispiel administrativer Mobilisierung (1949-1961)«, in Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des »Dritten Reiches« 1936-1945, Hg. Oliver Werner (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013), 303-323, hier 309. 77 | Bezirks-Blindenausschuss Leipzig an den stellvertr. Ministerpräsidenten Genosse Walther [sic!] Ulbricht gleichzeitig in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der SED, 21.1.1953. BArch Berlin, DQ 2/4110. unpag. 78 | Ministerium für Arbeit (Krellwitz) an ZK der SED, »z.Hd. d. Genossin Gurgeit«, 14.3.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 79-80. 79 | Abschrift: HR Sozialfürsorge vom 7. April 1953, Betreff: Finanzierung der Blindenausschüsse, 22.5.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 53.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

zirksebene untersagt.80 Die Beschwerden des Arbeitsausschusses wurden von staatlicher Seite nicht beachtet, obwohl sich auch hochrangige Funktionäre der SED, wie Erich Mückenberger (1910-1998)81, für die Arbeit des Ausschusses einsetzen.82 Zum Verhängnis wurde den Mitgliedern des Arbeitsausschusses ein Artikel, den sie nach dem Politbüro-Kommuniqué vom 9. Juni 1953 verfasst hatten. Das Politbüro-Kommuniqué selbst kann als einer der Auslöser, die zum Volksaufstand am 17. Juni des Jahres führte, gesehen werden. Darin hatte das Politbüro nämlich Fehler eingestanden und »Gesetze und Maßnahmen, die einzelne Berufs- und Bevölkerungsgruppen drangsaliert hatten« wieder zurückgenommen.83 Per Ministerratsbeschluss wurde ein »Neuer Kurs« angeordnet, der innerhalb der Bevölkerung allerdings als »Bankrotterklärung der Herrschenden« aufgefasst wurde.84 Zudem betraf der »Neue Kurs« auch nicht die Erhöhungen der Arbeitsnormen, womit die Industriearbeiter weiterhin »die Hauptlasten der wirtschaftlichen Krise tragen« sollten.85 Dies war laut Michael Schwartz ein »konfliktstimulierendes Signal«.86 Zuvor in den Betrieben der DDR laut werdende Proteste hatten zwar bis dahin eingedämmt werden können, doch mit dem Kurswechsel änderte sich die Situation »schlagartig«.87 Heftigen Diskussionen in den Betrieben folgten offene Proteste,88 die schließlich im Volksaufstand vom 17. Juni 1953 kulminierten: Gegen die SED-Diktatur gerichtete Demonstrationen breiteten sich über das gesamte Land aus; der Ruf nach freien Wahlen wurde laut. Sowjetische Truppen, unterstützt von Truppen 80 | Hausdorf an Malter, Abschrift, 4.5.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 51. 81 | Helmut Müller-Enbergs, »Mückenberger, Erich«, in Wer war wer in der DDR, 904. 82 | Mückenberger an Schellhorn, 7.7.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 63. 83 | Henrik Bispinck »Republikflucht Flucht und Ausreise als Problem für die DDR-Führung« in Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, Hg. Dierk Hoffmann, Michael Schwartz und Hermann Wentker (München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2003), 285-309, hier 292. 84 | Andreas Malycha und Peter Jochen Winters, Die SED. Geschichte einer deutschen Partei (München: Verlag C.H. Beck, 2009), 114. 85 | Malycha und Winters, Die SED, 115. 86 | Schwartz, »SED-Sozialabbau und Bevölkerungsprotest«, 91. 87 | Ilko-Sascha Kowalczuk und Armin Mitter, »›Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt!‹ Die Arbeiterschaft während der Krise 1952/1953«, in Der Tag X – 17. Juni 1953. Die »innere Staatsgründung« der DDR als Ergebnis der Krise 1952/1954, Hg. Ilko-Sascha Kolwaczuk, Armin Mitter und Stefan Wolle (Berlin: CH. Links Verlag, 1995), 31-74, hier 48. 88 | Kowalczuk und Mitter, Arbeiterschaft während der Krise, 50.

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der kasernierten Volkspolizei der DDR, griffen schließlich ein, um die Herrschaft der SED wieder herzustellen.89 Auch die Mitglieder des Arbeitsausschusses hatten in ihrem Artikel, der in der Mai/Juni-Ausgabe der Gegenwart erschienen war, scharfe Kritik an der Politik der SED geübt und die Korrektur der »auf dem Gebiet der Sozialpolitik gemachten Fehler« begrüßt. Der Sparkurs in der Sozialversicherung wurde dabei als »sozialpolitischer Abbau«90 offen angeprangert und die Beseitigung von Ermäßigungen, Steuervergünstigungen, Sonderbeihilfen, die Streichung von Mitteln für Blindenausschüsse und die Zurückstellung eines Sonderpflegegeldes an Blinde »mit weiteren schweren Körperschäden« kritisiert.91 Daneben thematisierten die Mitglieder auch offen »Schwierigkeiten, die uns vom Ministerium für Arbeit gemacht wurden.« Das Ministerium habe die Tätigkeit der Blindenausschüsse »nicht nur rechtlich, sondern auch praktisch unterbunden«. Mit dem Politbüro-Kommuniqué verband der Arbeitsausschuss die Hoffnung, »endlich auch in dieser Beziehung eine grundsätzliche Revision in der Frage der sozialrechtlichen Stellung der Blindenausschüsse herbeizuführen«.92 Die Mitglieder des Arbeitsausschusses forderten daher von der Regierung eine weitgehend selbstständige Arbeitsweise, finanzielle Unterstützung und Betreuungsstellen auf regionaler Ebene. Ferner wollten sie die personelle Besetzung des Referates im Ministerium für Arbeit mithilfe eines Gutachtens beeinflussen.93 Schöffler hatte bereits vor Erscheinen des Artikels offen gegen die Vorgehensweise des Ministeriums für Arbeit protestiert und angekündigt, Beschwerde beim »Hohen Kommissar der SU« in Deutschland einzulegen, um »dafür Sorge zu tragen, dass Frau Malter in der Blindensache nicht mehr einzugreifen hat«.94 In einem Schreiben an den Leiter der Zentralen Parteikontrollkommission, Hermann Matern (1893-1971)95, hatte Schöffler den Arbeitsausschuss für Blindenfragen in der DDR als das »demokratische Organ der 89 | Für mehr Informationen zum Volksaufstand, vgl. Jens Schöne, Volksaufstand. Der 17. Juni 1953 in Berlin und der DDR (Berlin: Berlin-Story-Verl., 2013); sowie Ilko-Sascha Kowalczuk und Gudrun Weber, 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen, Abläufe, Folgen (Bremen: Edition Temmen, 2003). Eine knapper Übersicht der Ereignisse und Folgen des Volksaufstands findet sich Online unter: Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, »17. Juni 1953 – Volksaufstand in Der DDR«, Zugriff 4.9.2018, https://www.lpb-bw.de/17_ juni.html. 90 | Abdruck: »Die neue Lage«, Zeitschrift für Blindenfragen »Die Gegenwart« 5/6 (Mai/ Juni 1953). SAPMO, BArch Berlin, DY 30/71148, Bl. 30-37, hier 31. 91 | Ebd., Bl. 31-32. 92 | Ebd., Bl. 35. 93 | Ebd., Bl. 36-37. 94 | Schöffler an Puchmüller, 11.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 59. 95 | Helmut Müller-Enbergs, »Matern, Hermann«, in Wer war wer in der DDR, 849.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

Blinden« bezeichnet, »mit welchem alle behördlichen Stellen in den für ihr [sic!] Bereich auftauchende Blindenfragen zu arbeiten haben«.96 Auch die Ablehnung der Verordnung über ein Sonderpflegegeld für die ca. 600 bis 800 Blinden mit doppeltem Körperschaden im Rahmen des Sparkurses wollte Schöffler nicht einfach hinnehmen. Er drohte dem Finanzministerium nicht nur damit, in der Gegenwart einen »ausführlichen Sachstand über die Angelegenheit« zu veröffentlichen, sondern auch eine Konferenz für den betroffenen Personenkreis einzuberufen und diese nicht eher aufzulösen, »bis diese Menschen eindeutig erfahren haben, wer die längst fällige Verordnung aufhält«.97 Hausdorf hingegen forderte von der zuständigen ZK-Abteilung eine »Aussprache« und drohte anderenfalls mit dem Rücktritt des Arbeitsausschusses. Zudem verwies er darauf, dass eine Behinderung der Arbeit des Arbeitsausschusses die Bemühungen der Kirche, insbesondere der Inneren Mission, stärke.98 Der Konflikt zwischen den Kirchen und der SED schwelte ebenfalls schon länger und verstärkte sich 1952/53, da sich die SED zum Ziel gesetzt hatte, »die Kirchen als gesellschaftlich und politisch relevante Kräfte zu liquidieren.«99 Ein Treffen zwischen Hausdorf, der ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen und dem Ministerium für Arbeit fand schließlich am 25. August 1953 statt.100 Hausdorf, der zu diesem Treffen allein vorgeladen worden war, thematisierte dabei sozialpolitische Probleme, insbesondere die fehlende Absicherung der etwa 400 in der DDR lebenden »Blinden mit weiteren Körperschäden«.101 Auf von Hausdorf gestellte Forderungen gingen die Anwesenden in keiner Weise ein. Horst Petruschka, Vertreter der Abteilung für Sozialpolitik innerhalb der ZK-Abteilung, vertrat stattdessen den Standpunkt, dass der Arbeitsausschuss »niemals als eine selbstständige Organisationen der Blinden anerkannt« werden könne. Hierzu bestehe auch keine Notwendigkeit, denn der Staat selbst habe diese Aufgabe zu lösen.102 Petruschka summierte 96 | Schöffler an ZPKK, z.Hd. Hermann Matern, 27.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 62. 97 | Schöffler an Ministerium der Finanzen, 8.7.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 64. 98 | Hausdorf an ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, Schellhorn, 18.12.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 174. 99 | Thomas Olk (unter Mitarbeit von Michael Eckardt), »Soziale Infrastruktur und soziale Dienste«, in Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8, 659-689, hier 674. 100 | Handschriftliche Notizen. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 78-79. 101 | Hausdorf an ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, 16.6.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 85. 102 | Ebd.

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schließlich, man sei auf einen Nenner gekommen und legte Hausdorf das Einverständnis in den Mund, dass er mit der Bildung von Beiräten beim Ministerium, sowie bei den Räten der Bezirke und Kreise, einverstanden sei.103 Hausdorf legte drei Tage später, nach einer Beratung mit den anderen Mitgliedern des Arbeitsausschusses, schriftlich dar, dass er generell die Bildung eines Referates für Blindenfragen beim Ministerium für Arbeit begrüße. Mit der Umwandlung von Blindenausschüssen in Beiräte erklärte er sich hingegen nicht einverstanden, weil dadurch die Initiative der Funktionäre in den Blindenausschüssen unterbunden werde. Hausdorf forderte eine »Anerkennung der Tätigkeit der Blindenausschüsse nicht als gelegentlich zu hörende Beiräte, sondern als operativ wirkende Ausschüsse, die eigene Initiative entwickeln«.104 Sollte das Ministerium Beiräte einsetzen, werde er es nicht zulassen, dass eine »wilde Wahl« erfolge. Gleichzeitig drohte er erneut mit einem Rücktritt des Arbeitsausschusses und bat um eine weitere Zusammenkunft mit der ZK-Abteilung.105 Diese Bitte wiederholte er im Dezember 1953 in einem Schreiben an den Leiter der ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, Fritz Schellhorn (1919-2007).106 Als Grund hierfür gab er an, dass dieser Hausdorfs Tätigkeit als »parteifeindlich« charakterisiert und die Mitglieder des Arbeitsausschusses mit den Vorgängen des 17. Juni in Verbindung gebracht habe.107

Absetzung des Arbeitsausschusses für Blindenfragen Die Mitglieder des Arbeitsausschusses wurden Anfang 1954 vor die Zentrale Parteikontrollkommission geladen und ihnen »ernste politische Fehler« vorgeworfen.108 Insbesondere Schöffler, der »nicht nur seine Feindschaft gegenüber der Partei und der Regierung sowie seine grenzenlose Überheblichkeit« zum Ausdruck gebracht habe, sollte für seine »parteifeindlichen Artikel« zur Verantwortung gezogen werden.109 Über den Arbeitsausschuss urteilte die ZKAbteilung: 103 | Ebd., Bl. 92. 104 | Hausdorf an ZK Abteilung Arbeit, 28.8.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 108-117, hier 115. 105 | Ebd., Bl. 136. 106 | Helmut Müller-Enbergs, »Schellhorn, Fritz«, in Wer war wer in der DDR, 1346-1347. 107 | Hausdorf an ZK-Abteilung Arbeit, z.Hd. Schellhorn, 18.12.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 174. 108 | Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, Betreff: Vorschläge zur Regelung der Blindenfragen in der DDR, 3.2.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 193-196, hier 193. 109 | Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, Betreff: Vorschläge zur Regelung der Blindenfragen in der DDR, 3.2.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen Die 4 Genossen bieten keinerlei Gewähr dafür, dass in dieser wichtigen zentralen Leitung des Blindenwesens in der DDR eine richtige und konstruktiv politische, kulturelleerzieherische Tätigkeit entwickelt wird, vielmehr konzentrieren sie seit vielen Monaten ihre ganze Tätigkeit auf die Verschärfung von Gegensätzen zwischen sich selbst und leitenden Genossen des Staatsapparates und versuchen, diese Gegensätzlichkeit auch nach unten in die Kreis- und Bezirks-Blindenausschüsse zu entwickeln; sie lähmen damit jede positive politische Arbeit.110

Die Mitglieder des Arbeitsausschusses sollten abgelöst und auch die Redaktion der Zeitschrift Gegenwart neu besetzt werden. Ferner sollte geprüft werden, ob Schöffler weiterhin Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde bleiben könne.111 Dieser hatte die Auseinandersetzung vor der Zentralen Partei-Kontrollkommission (ZPKK) als »Vernehmung von Untersuchungsgefangenen« kritisiert112, und legte die Leitung der Redaktion der Gegenwart schließlich nieder. Hausdorf informierte die Mitglieder des Arbeitsausschusses am 25. Januar 1954 darüber, dass der Ausschuss nicht weiter tätig sein könne. Auch die Gegenwart müsse ihr Erscheinen einstellen, da außer Schöffler niemand die Lizenz zur Herausgabe der Zeitschrift besitze.113 Der Arbeitsausschuss für Blindenfragen erklärte schließlich am 2. März 1954 seinen Rücktritt. Die Redaktion der Zeitschrift Gegenwart war an ein vom Ministerium für Arbeit eingesetztes Redaktions-Kollektiv übergeben worden. Mittlerweile war zudem das Referat für Blindenfragen beim Ministerium für Arbeit eingerichtet worden.114 Ernst Puchmüller hatte sich inzwischen »trotz schwerster Bedenken« doch dafür entschieden, das Referat zu leiten.115 Welche Faktoren diese Entscheidung letztlich beeinflussten, bedarf weiterer Nachforschungen. Er kritisierte die Mitglieder des ehemaligen Arbeitsausschusses für Blindenfragen scharf und forderte, dass das neue Referat das gesamte Blindenwesen umfassen sollte: »Die Genossen des Arbeitsausschusses haben sich in ihrer opportunistischen, sektiererischen und daher parteifeindlichen Einstellung so weit von der realen Wirk193-194. 110 | Ebd., Bl. 193-196, hier 194. 111 | Ebd., Bl. 196. 112 | Abteilung Arbeit, Sozial-und Gesundheitswesen, Betr.: Schlußfolgerungen aus dem Verhalten der ehem. Mitglieder des Arbeitsausschusses für Blindenfragen in der DDR, 5.6.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/71148, Bl. 88-89, hier 88. 113 | Hausdorf an die Mitglieder des Arbeitsausschusses für Blindenfragen, 25.1.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 186-187, hier 186. 114 | Hausdorf an ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, 2.3.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 203-205, hier 205. 115 | Puchmüller an Malter, 20.7.1953. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 72.

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lichkeit, insbesondere aber von der Partei entfernt, daß sie unmöglich als entscheidender Faktor bei der Lösung aller Blindenprobleme in Erscheinung treten können.«116 Puchmüller hatte daher Mitglieder für einen neuen Arbeitsausschuss vorgeschlagen, der sich am 5. April 1954 mit dem Ministerium für Arbeit beraten hatte.117 Innerhalb des neuen siebenköpfigen Ausschusses waren nur drei Personen vertreten, die eine Funktion im Blindenwesen innehatten: Helmut Pielasch als Leiter der Blindenanstalt Neukloster, Erwin Mante, Vorsitzender des Bezirksblindenausschusses Berlin, und Karl Herkle, welcher der Produktionsgenossenschaft des Blindenhandwerks »Ernst Thälmann« in Halle (Saale) vorstand. Zudem gehörten dem Ausschuss Vertreter staatlicher Stellen und gesellschaftlicher Organisationen an.118 Die Handlungsfähigkeit des neuen Ausschusses war deutlich eingeschränkt. So untersagte ein Entwurf zu den Richtlinien des Ausschusses diesem, Anweisungen oder Anordnungen vorzunehmen.119 Auch auf regionaler Ebene waren Veränderungen geplant. Arbeitsminister Fritz Macher (geb. 1922)120 übersandte die Richtlinien im September an die Abteilungen Arbeit und Berufsausbildung. Er wies darauf hin, dass nicht vorgesehen sei, die bestehenden Ausschüsse auf regionaler Ebene aufzulösen, diese sollten aber »auf ihre Zweckmäßigkeit hin« überprüft und die einzelnen Mitglieder offiziell bestätigt werden. Dabei sollte auch gegebenenfalls die Satzung der Ausschüsse geändert werden.121 Den Mitgliedern des aufgelösten Arbeitsausschusses wurde vorgehalten, die Tätigkeit des neu gebildeten Ausschusses behindert zu haben.122 Im Juni 1954 folgte das Urteil der Zentralen Parteikontrollkommission. Während Georg Hiller und Walter Warnecke lediglich verwarnt wurden, erhielt Hausdorf »wegen Versöhnlertum und Unehrlichkeit der Partei gegenüber« eine 116 | Ebd. 117 | Malter an Grotewohl, 28.4.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 240241, hier 240. 118 | Friedel Malter an ZK-Abteilung Arbeit, Schellhorn, 13.7.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81418, Bl. 201. 119 | Malter: Entwurf. Richtlinien für die Tätigkeit des Arbeitsausschusses für Blindenfragen, 29.6.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81418, Bl. 202-203, hier 202. 120 | Andreas Herbst, »Macher, Friedrich«, in Wer war wer in der DDR, 830. 121 | Macher an Rat des Bezirkes, Abteilung Arbeit und Berufsausbildung, Betr.: Richtlinie für die Tätigkeit der Bezirks- und Kreisblindenausschüsse, 3.9.1954. BArch, DQ 2/4110, unpag. 122 | ZK Abteilung Arbeit, Schlussfolgerungen aus dem Verhalten der ehemaligen Mitglieder des Arbeitsausschusses für Blindenfragen, 5.6.1954. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/71148, Bl. 3-6, hier 5-6.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

Rüge. Schöffler hingegen wurde mit einer strengen Rüge »wegen Doppelzünglerei, Verleumdung von Funktionären der Partei und Veröffentlichung von Artikeln, die sich gegen die Politik der Partei richten« bestraft und ihm für zwei Jahre jegliche Funktion im Blindenwesen untersagt.123 Er verlor nach anfänglicher Beurlaubung infolge des Parteiverfahrens im März 1955 seinen Posten als Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde124 und widmete sich in der folgenden Zeit der Herausgabe eines Buches über Blinde in der Gesellschaft, das 1956 im Uraniaverlag erschien.125

G ehörlose A k teure und die G ründung des A llgemeinen D eutschen G ehörlosen -V erbands (ADGV) 126 Westkontakte in der SBZ und während der ersten Jahre der DDR Im Gegensatz zu den Organisationsformen der Blinden findet sich für die Zeit von 1945 bis 1955 im Bundesarchiv wenig Material zu gehörlosen und schwerhörigen Menschen in der SBZ und frühen DDR – d.h. auf Ebene der Ministerien für Volksbildung, Arbeit und Berufsausbildung sowie Gesundheitswesen bzw. deren Vorläufer in der SBZ. Aus zusätzlichen Materialien – wie den Publikationen von Gehörlosenverbänden im Westen – lässt sich erschließen, dass sich Gehörlose in der SBZ und frühen DDR auch in dieser Zeit aktiv auf lokaler Ebene organisierten. Die im Bundesarchiv verfügbaren Quellen wiederum weisen darauf hin, dass bei staatlichen Stellen Unwissenheit über die Bedürfnisse Gehörloser herrschte – was natürlich auch Möglichkeiten eröffnete. Aus Sicht der staatlichen Stellen gab es zwei wesentliche Ziele: einerseits Gehörlose in den Arbeitsprozess einzubinden, was bedeutete, ihnen ein Entgegenkommen zu signalisieren. Andererseits sollte sichergestellt werden, dass Gehörlose in einer eigenen Organisation nicht zu eigenständig wurden. Gehörlose Aktivisten in der DDR mussten also in ihrem Bestreben, eine überregionale Interessenvertretung zu gründen, die Gratwanderung zwischen den ideologischparteilichen Vorgaben auf staatlicher Ebene und den Interessen ihrer Basis meistern. Das bedeutete letztlich einen Lernprozess für beide Seiten. Wie im 123 | Ebd. 124 | DZB an ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen, Abschrift, 14.11. 1955. SAPMO, BArch Berlin, DY 30/81419, Bl. 290. 125 | Max Schöffler, Der Blinde im Leben des Volkes: Eine Soziologie der Blindheit (Leipzig: Urania Verlag, 1956). 126 | In dieses Kapitel sind Erkenntnisse aus dem laufenden Forschungsprojekt von Anja Werner zu Expertendiskursen über Gehörlosigkeit im geteilten Deutschland unter Einbeziehung der Perspektiven gehörloser Menschen eingeflossen.

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verbleibenden Teil dieses Artikels gezeigt werden soll, setzten die gehörlosen Aktivisten dabei geschickt die Rhetorik der SED-Diktatur zur Durchsetzung ihrer Interessen ein. In Abwesenheit eines übergeordneten Verbands wandten sich Gehörlosengruppen in der SBZ und frühen DDR an westdeutsche Gehörlosenverbände und deren Zeitschriften. Diesen Quellen lässt sich entnehmen, dass es nach dem Krieg lokale und regionale Organisationsstrukturen der Gehörlosen gab, wie z.B. einem Bericht über die Ortsgruppe Stendal zu entnehmen ist, der 1950 unter der Überschrift »Bericht aus der Ostzone« in der westdeutschen Gehörlosenzeitschrift Der Gehörlose. Zeitschrift zur Sprachpflege der Taubstummen erschienen war. Darin heißt es: Auf Anregung des Gehörlosenfreundes Hans-Peter Scharte (Flüchtling aus Breslau) wurde am 12. Juni 1949 in Stendal ein neuer Gehörlosenverein gegründet. Es ist das erstemal [sic!] nach dem Kriege, daß sich jetzt alle Gehörlosen aus Stendal und Umgebung zu einer Gründungsversammlung zusammenfanden. Bis jetzt sind wir 50 Mitglieder und haben jeden Monat am 4. Sonntag unsere Versammlung, welche immer gut besucht ist. Der Verein heißt »Altmärkische Gehörlosen-Gemeinschaft in Stendal« und stellt sich die Aufgabe, die Gehörlosen in sprachlicher Hinsicht weiterfortzubilden und kulturelle Unterhaltungsabende zu veranstalten.127

Der Wunsch nach geselligem Beisammensein motivierte zur Selbstorganisation, begründet in den kommunikativen Bedürfnissen gehörloser Menschen – bei sozialen Zusammenkünften gemeinsam mit Gleichgesinnten entspannt (gebärdensprachlich) kommunizieren zu können. Klaus Burmeister aus Stralsund veröffentlichte zum Jahreswechsel 1949/1950 ebenfalls einen deutschdeutschen Gruß in Der Gehörlose, der mit der Anrede »Liebe gehörlose Kameraden in der Ost- und Westzone« begann. Darin äußerte er den Wunsch, dass [d]ie Ostzonen-Kameraden […] gerne die Gehörlosen im Westen wiedersehen [möchten,] und Euch in der Westzone geht es sicher ebenso. Leider versperren die Zonengrenzen noch den Weg. Wir wollen alle hoffen und wünschen, daß uns das Jahr 1950 die langersehnte Einheit unseres Vaterlandes wiederbringt! Bis dahin soll die Zeitschrift »Der Gehörlose« unser geistiges Band sein.128

Ähnliche deutsch-deutsche Schreiben finden sich selbst nach dem Mauerbau gelegentlich in den westdeutschen Gehörlosenzeitschriften. So wurde in der 127 | Sch., »Bericht aus der Ostzone«, Der Gehörlose. Zeitschrift zur Sprachpflege der Taubstummen 78, Nr. 1 (Januar 1950): 14. 128 | Klaus Burmeister, »Liebe gehörlose Kameraden in der Ost- und Westzone«, Der Gehörlose. Zeitschrift zur Sprachpflege der Taubstummen 78, Nr. 1 (Januar 1950): 15.

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Deutschen Gehörlosen-Zeitung (DGZ), dem amtlichen Organ des Deutschen Gehörlosen-Bundes in der BRD, von einer Westberliner Jugendgruppe berichtet, die Anfang 1962 auf dem Weg nach Schweden durch Ostberlin gereist war und sich während des kurzen Zwischenstopps mit gehörlosen ostdeutschen Freunden verabredet hatte. Man hatte sich seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen.129 Alles in allem enthält die DGZ der BRD aber nur wenige Informationen aus dem Osten; man war eher mit der inneren Einheit der Gehörlosen in der BRD beschäftigt.130 Eine Möglichkeit, den Kontakt über die innerdeutsche Grenze hinweg zu wahren, bot der Sport, der überhaupt eine wichtige Rolle für gehörlose Menschen spielt: »Während der Hörende viele Möglichkeiten hat, sich in Vereinen oder Gemeinschaften zu bestätigen, sind solche bei den Gehörlosen gering. […] Der Sport gibt ihm Gelegenheit, öfters mit seinen Kameraden zusammen zu sein. Er kann sich austoben, kann sein Können, seine Leistung erproben und wird sich seiner Stärke im sportlichen Wettkampf bewußt.«131 Im Gehörlosen-Sport, dem Mitteilungsblatt des Deutschen Gehörlosen-Sportverbandes, das als Teil der westdeutschen DGZ erschien, war z.B. im August 1950 zu lesen, dass »[a]m 19./20. August […] in Magdeburg das 1. Gehörlosen-Sportfest der Deutschen Demokratischen Republik durchgeführt [wird], zu dem auch die westdeutschen Gehörlosensportler eingeladen sind.«132

Gehörloser Aktivismus und die Schaffung einer überregionalen Organisation und Zeitschrift Gehörlose DDR-Bürger engagierten sich aktiv für die Schaffung eines Verbandes. Einen wichtigen Anfang stellte ein Schreiben vom 25. August 1955 an das Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) dar, welches von fünf Gehörlosen unterzeichnet worden war. Der Absender des Schreibens war der Gehörlose Werner Lüdde aus Magdeburg.133 Neben Lüdde 129 | J. M., »Wiedersehen hinter der Mauer«, Deutsche Gehörlosen-Zeitung 13, Nr. 4 – Der junge Gehörlose 2 (20. Feb. 1962): 49-50. 130 | Ernst Barth, »Einigkeit«, Deutsche Gehörlosen-Zeitschrift 1, Nr. 4 (Oktober 1950): 51. Die Notiz bezieht sich auf einen Beitrag in der Gehörlosen-Zeitung Unser Freund über die Tagung des Niedersächsischen Taubstummen-Fürsorgeverbandes. 131 | Ha—s, »Gehörlosen-Sport – Ein Weg ins Leben«, Deutsche Gehörlosen-Zeitung 13, Nr. 13 (5. Juli 1962): 189. 132 | »Gehörlosen-Sportfest in Magdeburg«, Gehörlosen-Sport. Mitteilungsblatt des Deutschen Gehörlosen-Sportverbandes 8, Nr. 3 (August 1950): 22. Diese Ausgabe des Gehörlosen-Sport war Teil der Deutschen Gehörlosen-Zeitschrift mit Sport. Amtliches Organ des Deutschen Gehörlosen-Bundes 1, Nr. 2 (August 1950). 133 | Die handschriftlichen Unterschriften sind nicht alle eindeutig zu entziffern. Neben Lüdde hatten Schliebenow und vermutlich Schütze und Meurer unterschrieben.

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setzten sich in der Folgezeit die Gehörlosen Heinz Meurer aus Leipzig, Günter Wöller und Bruno Schliebenow aus Berlin, Arthur Schütze aus Dresden sowie der Vater eines gehörlosen Kindes, Günter Uschwa aus Halle, aktiv für die Schaffung eines Gehör­losenverbands ein.134 Aus diesen Aktivisten rekrutierten sich auch die ersten Funktionäre des späteren ADGV. So sollte Wöller offenbar aufgrund von Schwächen in seinem Führungsstil nur kurzzeitig als erster Präsident tätig sein; er wurde bereits Anfang 1960 von Schliebenow abgelöst.135 Mitte der 1950er Jahre scheint die Zusammenarbeit der gehörlosen Aktivisten mit dem Ziel der Schaffung eines Verbands sehr gut funktioniert zu haben. Im Schreiben vom 25. August 1955 hieß es: »Wir gestatten uns […], darum zu bitten, unserem Ersuchen zur Bildung einer ›Organisation der Gehörlosen‹, die ca. 20.000 Bürgern in der DDR kulturellen und gesellschaftlichen Halt im Sinne unserer fortschrittlichen Arbeiter- und Bauernmacht vermitteln soll, stattzugeben.«136 Die Verfasser wiesen darauf hin, dass die bis dahin bestehenden »sogenannten Gehörlosenausschüsse […] auch die Aufgabe [hatten], dem gehörlosen Menschen entsprechend seiner Bedürfnisse und unter Berücksichtigung ihrer besonderen Eigenart (Mentalität) kulturelle und soziale Hilfeleistungen zu gewährleisten bezw. zu beschaffen«.137 Dieses Ansinnen würde »[v]om Standpunkt eines Vollsinnigen, gesunden Menschen […] im wesentlichen unterschätzt, denn um dies zu verstehen braucht man eine tiefergehende Einfühlung in das WeDie fünfte Unterschrift war von Waldemar Duda. Vgl. Werner Lüdde an ZK der SED, Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik, 25.8.1955. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 134 | Günter Wöller an Abt. Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, 27.7.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. Vgl. auch »Ziele und Aufgaben des Gehörlosen-Verbandes der DDR«. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 135 | Günter Wöller (Präsident Allgemeiner Deutscher Gehörlosen-Verband Zentralvorstand) an Bezirksvorstände und Geschäftsleiter (innen), 20.1.1960; vgl. auch »Begründung des Präsidiums für die Abberufung des jetzigen Präsidenten Günter Wöller«, Schreibmaschinendurchschlag, kein Datum. BArch Berlin, DQ 1/23906. Wöllers Führungsstil war offenbar problematisch; z.B. scheint die Zusammenarbeit des ADGV unter seiner Leitung mit Helmut Pielasch schwierig gewesen zu sein, wie einem apologetischen Schreiben Wöllers aus dem Jahr 1959 zu entnehmen ist (Günter Wöller an Helmut Pielasch, Eingang am 26.11.1959, ebd.). Wie wichtig Pielasch dennoch für die Gehörlosengemeinschaft der DDR war, ist dem Nachruf in der gemeinsam nach Pielaschs Tod im Jahr 1986 zu entnehmen. E. S., »Abschied von Helmut Pielasch«, 11. 136 | Werner Lüdde an ZK der SED, Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik, 25.8.1955. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 137 | Ebd.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

sen der gehörlosen Mitmenschen«.138 Damit war ausgedrückt, dass gehörlose DDR-Bürger aktiv ihre Umwelt mitgestalten wollten, zumal – so erinnerten sie die hörenden DDR-Behörden – letztlich die Gehörlosen selbst am besten wissen mussten, wie ihren speziellen Bedürfnissen begegnet werden sollte. Dieser Punkt ist ein zentrales Thema in der Geschichte gehörloser Menschen, der nicht nur auf die DDR zutrifft: Inwiefern können sie innerhalb der hörenden Mehrheitsgesellschaft aktiv ihre Leben selbst mitbestimmen? Um ihrem Ruf nach einem Verband Gehör zu verschaffen, machten die Verfasser des Schreibens vom August 1955 außerdem auf die Beiträge gehörloser »Werktätiger« beim Auf bau des Sozialismus aufmerksam. So wiesen sie darauf hin, »daß auch der gehörlose Werktätige im Berufsleben zum Nutzen des Auf baus unserer DDR vorbildliches leistet. Die Zahl derer ist nicht klein, die als Aktivisten, zum Teil als mehrfache, ausgezeichnet worden sind.«139 Allerdings müssten sie dennoch im Berufsleben ihre besonderen kommunikativen Bedürfnisse zurückstellen, wofür sie Verständnis zeigten, was aber gleichzeitig die Notwendigkeit von Alternativen betonte: Die kulturelle Betreuung der Werktätigen in unserer DDR, die eine Errungenschaft unserer neuen fortschrittlichen Arbeiter- und Bauernmacht darstellt, ist dem derzeitigen Entwicklungsstadium gemäß im allgemeinen zwar mustergültig, aber dem gehörlosen Werktätigen gegenüber vollkommen unzureichend. Es ist klar und wir haben dafür auch Verständnis, daß z.B. bei einer kulturellen Veranstaltung in einem Großbetrieb nicht erst Rücksicht auf ein paar taubstumme Belegschaftsmitglieder genommen werden kann.140

Diese Herausforderungen bestünden nicht nur im beruflichen Alltag sondern auch in der Freizeit; es »sind dem Gehörlosen fast alle Dinge versagt, die einem Vollsinnigen die sogenannte Zerstreuung bezw. Lebensfreude bieten, wie z.B. Theater, Musik, Radio, Vorträge, Versammlungen usw«.141 Mit der Beobachtung, dass Gehörlose einen Beitrag zum Auf bau des Sozialismus leisten konnten, stießen Gehörlose in der DDR Mitte der 1950er Jahre keineswegs auf ›taube Ohren‹. Es lässt sich auch aus überliefertem Schriftverkehr auf ministerieller Ebene bezüglich der Neuausrichtung der Gehörlosenbildung in der jungen DDR schließen: Hier wurde explizit davon gesprochen, dass die »gehörlosen Menschen […] auch begeistert am Auf bau des sozialistischen Vaterlandes teilnehmen« sollten.142 138 | Ebd. 139 | Ebd. 140 | Ebd. 141 | Ebd. 142 | »Empfehlungen des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts zur Arbeit der Gehörlosenschulen mit dem zur Zeit gültigen Lehrplanentwurf bis zur endgültigen Einfüh-

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Als ein weiteres Argument für eine Gehörlosenorganisation verwiesen die gehörlosen Verfasser des Antrags vom August 1955 schließlich auf die Situation in anderen Ländern – nicht nur im Ostblock. So bestünden »[i]n fast allen volksdemokratischen Ländern, mit denen unsere DDR enge, freundschaftliche Beziehungen unterhält[, …] bereits derartige Organisationen«, wie ein »Allrussischer Verband der Taubstummen, Moskau, Polnischer Verband der Taubstummen und seiner Förderer, Warschau, Tschechoslowakischer Verband der Gehörlosen, Prag«. Daneben machten die Verfasser darauf aufmerksam, dass, »in fast allen anderen Ländern Europas, z.B. Jugoslawien, Frankreich, Holland, Italien, Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen, Schweiz u.a. mehr«143 entsprechende Verbände existierten, die auch international vernetzt seien: Alle diese »Länder einschließlich der Volksdemokratien sind im Weltbund der Gehörlosen vereinigt, der z. Zt. seinen Sitz in Rom hat«.144 Die »geplante Organisation der Gehörlosen« sollte daher auch auf den »gemachten Erfahrungen in den Volksdemokratien einschließlich der UDSSR […] aufbauen«.145 Das bedeutete die Schaffung eines Zentralvorstands, »der nach unten Bezirksstellen bildet, die sowohl mit hauptamtlichen als auch ehrenamtlichen gehörlosen und schwerhörigen Funktionären besetzt werden.«146 Mit ihrem Antrag waren die gehörlosen Aktivisten auf lange Sicht erfolgreich, auch wenn sich die Realisierung des Vorhabens teilweise schleppend147 hinzog und sie immer wieder nachfragen mussten. Im Lauf des Jahres 1956 nahmen die Pläne für eine eigenständige Organisation schließlich Gestalt an. Uschwa hatte im April 1956 erneut beim Ministerium des Inneren nachgefragt und seinem Schreiben eine »kurze Übersicht unserer bisherigen fruchtlosen Bemühungen, sei es die Schaffung einer ›Gehörlosenzeitschrift‹ oder die der ›Organisation der Gehörlosen‹«, beigelegt.148 Diese Auflistung begann mit rung eines Lehrplans«, ca. 1955, Bibliothek für Bildungsgeschichliche Forschung – BBF/ DIPF/Archiv, Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut (DPZI) 1140. Vgl. auch Anja Werner, »›Die gehörlosen Menschen sollen auch begeistert am Aufbau des sozialistischen Vaterlandes teilnehmen‹. Gehörlosenpädagogik in Ostdeutschland, 1945-1990«, Das Zeichen 99 (März 2015): 6-21. 143 | Werner Lüdde an ZK der SED, Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik, 25.8.1955. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 144 | Ebd. 145 | Ebd. 146 | Ebd. 147 | Staatssekretär Josef Hegen (Regierung der DDR, Ministerium des Innern Verwaltung Inneres) an Günter Uschwa, 4.4.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 148 | Uschwa an Josef Hegen, 16.4.56, Betr.: Bildung der »Organisation der Gehörlosen in der DDR«. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag.

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einem Brief an Walter Ulbricht vom 31. Dezember 1954, in dem die Notwendigkeit der Schaffung einer Gehörlosenzeitschrift erläutert wurde. Nachdem dies am 17. Januar 1955 mit der Begründung »Papiermangel« abgelehnt worden war, hatte man Bemühungen diesbezüglich in Auseinandersetzung mit dem Ministerium für Volksbildung weiterverfolgt und gleichzeitig mit dem oben bereits zitierten Schreiben an das ZK der SED vom 25. August 1955 die Gründung einer Gehörlosenorganisation in Angriff genommen.149 Dabei wurde neuerlich auf die Notwendigkeit einer Zeitschrift verwiesen: Es wird eine monatliche allgemeine Gehörlosen-Zeitschrift herausgegeben. Diese Zeitschrift ist schon immer eine dringende Notwendigkeit gewesen, da verständlicherweise der taubstumme Mensch auf Grund seiner Mentalität nicht in der Lage ist, dem Inhalt einer Tageszeitung zu folgen. Die geplante Zeitschrift soll neben notwendigen organisatorischen Informationen deshalb in einfacher, leicht verständlicher Art die Ereignisse auf politischem, wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet erläutern. Finanziell würde sich diese Zeitschrift auf eigene Füße stellen und die Redaktion von einem verantwortungsbewußten gehörlosen Genossen geleitet werden.150

Die gehörlosen Interessenvertreter wiesen »[b]ei dieser Gelegenheit […] noch darauf hin[…], daß wir schon versucht haben, in dieser Richtung vorwärtszukommen, doch scheiterten unsere Bemühungen an den Stellen des Ministeriums für Arbeit und Sozialfürsorge«.151 Sie schlossen ihren Antrag mit der Beteuerung, dass sie »durchaus gewillt [seien], in unseren Bemühungen nicht nachzulassen, auch dem gehörlosen Menschen in gesellschaftlicher Hinsicht unter Berücksichtigung deren Mentalität ein glückliches Leben in unserer neuen Gesellschaftsordnung zu schaffen«.152 Da daraufhin scheinbar keine unmittelbare Reaktion erfolgt war, hakte Meurer am 18. November 1955 mit einem Schreiben an das ZK der SED nach, was aus der Anfrage zu einer »Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik« geworden sei: »Da wir bis auf Ihr Schreiben vom 29.9.55 […], in dem Sie uns mitteilten, daß unsere Vorschläge vom Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten geprüft werden, nichts wieder von Ihnen hörten, erlauben wir uns die Anfrage, wieweit die

149 | »Schaffung einer Gehörlosenzeitschrift«, »Schaffung einer Gehörlosen-Organisation«. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 150 | Werner Lüdde an ZK der SED, Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik, 25.8.1955. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 151 | Ebd. 152 | Ebd.

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Angelegenheit inzwischen gediehen ist.«153 Am 24. März 1956 wandte sich Meurer nochmals mit Verweis auf den Antrag vom August 1955 an das Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, Abteilung Sozialfürsorge, mit dem Vorschlag einer »Absprache« zur geplanten Organisation der Gehörlosen.154 Eine solche Aussprache fand im Sommer 1956 statt. Entwürfe zur Bildung der Gehörlosen-Organisation wurden in einem Kollektiv aus den sechs bereits oben aufgelisteten Gehörlosen gestaltet, nämlich Uschwa, Meurer, Wöller, Schliebenow, Schütze und Lüdde.155 Außerdem verfassten Lüdde, Uschwa und »Koll. Speth« (der hörende stellvertretende Direktor der Halberstädter Gehörlosenschule) am 17. April 1956 eine vierseitige Information zu Gehörlosigkeit und Taubheit sowie zur Lage der etwa 20.000 gehörlosen DDR-Bürger.156 Weitere Schreiben folgten, die den schrittweisen Erfolg des Antrags zur Gründung einer Organisation dokumentieren. Mit dem Betreff »Bildung der ›Organisation der Gehörlosen‹ und Schaffung der ›Gehörlosenzeitschrift‹ in der DDR« wandte sich Uschwa z.B. am 15. Juni 1956 an Staatssekretär Josef Hegen (1907-1969) im Ministerium des Innern und verwies darauf, dass verschiedene Minister bisher noch nicht auf die Anfragen der Gehörlosen reagiert hätten. Mit der Begründung, dass »eine derartige Arbeitsweise nicht dazu angetan ist, unseren Staatsapparat weiter zu festigen und eine ernste Verletzung der demokratischen Prinzipien hinsichtlich der Sorge um die Menschen darstellt«, bat Uschwa Staatssekretär Hegen, »weiterhin Ihre spürbare Hilfe auch in diesem Fall wieder zur Anwendung zu bringen«.157 Uschwa endete sein Schreiben mit der Bemerkung, »[w]enn uns jedoch in absehbarer Zeit, die zuständigen Stellen wieder mit einer konkreten Antwort im Stich lassen, sehen wir uns veranlasst, übergeordnete Organe in Anspruch zu nehmen«.158 Das war 1954 mit dem erwähnten Brief direkt an Walter Ulbricht schon einmal realisiert worden.159 Die fünfseitige »Niederschrift über die Besprechung mit Gehörlosen über die Bil153 | Ebd. 154 | Meurer an Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, Abteilung Sozialfürsorge, Organisation der Gehörlosen, 24.3.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 155 | Wöller an Abt. Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, 27.7.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. Vgl. auch »Ziele und Aufgaben des Gehörlosen-Verbandes der DDR«. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 156 | Lüdde, Uschwa, Speth, »Gehörlosigkeit – Taubheit«, 17.4.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 157 | Günter Uschwa an Regierung der DDR, Ministerium des Innern, Verwaltung Inneres, Herrn Staatssekretär Hegen persönlich, 15.6.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 158 | Ebd. 159 | Günter Uschwa an Josef Hegen, Betr.: Bildung der »Organisation der Gehörlosen in der DDR«, 16.4.56. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag.

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dung einer Organisation der Gehörlosen am 28. Juni 1956 im Ministerium für Arbeit u. Berufsausbildung« vom 6. Juli 1956 belegt, dass es nun tatsächlich zu einer Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen mit dem Ziel der geplanten Verbandsgründung kam.160

Staatliche Interessen an einem Verband der Gehörlosen Bevor die Verbandsgründung im Mai 1957 in die Tat umgesetzt werden konnte, gab es einige Hürden zu meistern und zu klären, warum ein eigenständiger Verband mit Zeitschrift notwendig wäre. Vertreter verschiedener Ministerien nahmen an der Diskussion teil, in deren Verlauf unterschiedliche Ansichten abgewogen und noch im Februar 1956 verschiedene mögliche Zusammenschlüsse von verschiedenen Gruppen von »Sinnesgeschädigten« (»Blinde, Gehörgeschädigte und Hirnverletzte«161) überlegt wurden. Allerdings mussten die gehörlosen Aktivisten, wie oben aufgezeigt, sich immer wieder in Erinnerung bringen, um die Diskussion in Gang zu halten. Zu Beginn der 1950er Jahre war man sich in der DDR zumindest auf Bezirksebene darüber im Klaren, dass es Interessenvertretungen der Gehörgeschädigten geben müsse. So war am 19. Juni 1953 – also zwei Tage nach dem Aufstand vom 17. Juni – die Notwendigkeit eines »Zentralen Beirates für Gehörgeschädigte« im Gespräch. Dementsprechend wurde der Abteilung Arbeit und Berufsausbildung des Rates des Bezirkes Leipzig als Antwort auf eine Beschwerde des Bezirksauschusses Leipzig der Gehörgeschädigten und Gehörlosen mitgeteilt: »Über die Bildung des Zentralen Beirates für Gehörgeschädigte und Gehörlose herrscht prinzipiell Klarheit, und die Berufung der Mitglieder dieses Beirates wird nach Überwindung einiger zeitlicher und technischer Schwierigkeiten auch in absehbarer Zeit erfolgen.«162 In der DDR hatte es bis etwa 1955 »Fachausschüsse für Gehörlosenfragen« gegeben, deren Aufgaben nun den Räten der Bezirke bzw. Kreise übertragen

160 | Niederschrift über die Besprechung mit Gehörlosen über die Bildung einer Organisation der Gehörlosen am 28.6.1956 im Ministerium für Arbeit u. Berufsausbildung, 6.7.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 161 | Richter, Abteilungsleiter, Abt. Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, an das Ministerium des Innern, Sekretariat des Ministers, 27.2.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 162 | Krellwitz, Hauptreferent, HR Sozialwesen an Rat des Bezirkes Leipzig, Abt. Arbeit und Berufsausbildung, Referat Sozialwesen, Betr. Beschwerde des Herrn Strenge, Bezirksausschuss Leipzig der Gehörgeschädigten und Gehörlosen, 19.6.1953. BArch Berlin, DQ 1/2213, unpag.

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werden sollten.163 Gehörlose Aktivisten äußerten sich dazu in ihrem oben erwähnten Antrag zur Gründung eines Gehörlosenverbandes vom August 1955: Wir sind der Meinung, daß dieser Beschluß im Prinzip richtig ist, zumal es Aufgabe der öffentlichen staatlichen Organe ist und sein muß, die Belange der Staatsbürger und somit auch der Gehörlosen in Bezug auf Arbeit, Berufsausbildung und ähnlicher lebensnotwendiger Belange im Rahmen der bestehenden Gesetze unserer Regierung zu wahren.164

Es war eine kluge Entscheidung, sich bei den Bemühungen um einen eigenen Verband als loyale Staatsbürger zu präsentieren. Ein von oben nicht kontrollierter Aktivismus wurde hingegen auf ministerieller Ebene ungern gesehen. Auch unter gehörlosen Aktivisten, die sich für die Schaffung eines Verbands engagierten, war man besorgt, ob solche Alleingänge sich nicht ungünstig auswirken würden, wie ein Beispiel von Anfang Februar 1957 belegt. So habe der »Koll[ege] Meurer«, der im VEB Saline, Bad Dürrenberg bei Halle, beschäftigt sei unbefugter Weise unter der Bezeichnung ›Arbeitsgemeinschaft des Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verbandes‹ mit einer ganzen Anzahl gehörloser Kollegen eine Besprechung für den 9.2.57 um 17,00 Uhr in Leipzig einberufen. Diese Beratung erfolgt nicht in unserem Auftrag. Der Koll. Meurer hat seine Kompetenz überschritten und hat sofort die eingeladenen Gehörlosen abzubestellen. Die festgelegte Besprechung darf nicht stattfinden.165

Meurer selbst wandte sich in dieser Angelegenheit am 10. Februar 1957 an Pielasch. Er erklärte, dass er alle Eingeladenen umgehend abbestellt hätte, dass es sich aber gar nicht um eine in »unbefugter Weise« einberufene Versammlung gehandelt habe, da es schon früher ähnliche Besprechungen gegeben habe.166 Zum Zeitpunkt dieses Vorfalls stand die Gründung des ADGV bereits fest; es wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen einzelne Aspekte geklärt. Der Idee zur Gründung eines eigenständigen Verbands standen einige ministerielle Stellen bereits Ende 1955 positiv gegenüber. Aus der Rechtsabteilung 163 | Werner Lüdde an ZK der SED, Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik, 25.8.1955. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 164 | Ebd. 165 | »Nachstehend der Text des Telefongespräches mit dem VEB Saline, Bad Dürrenberg b. Halle, in dem der Koll. Meurer beschäftigt ist, vom 6.2.1957«. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 166 | Meurer an Pielasch, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, Abt. Sozialfürsorge, 10.2.1957. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

des Staatssekretariats für Innere Angelegenheiten im Ministerium des Inneren wurde am 30. Dezember 1955 dem Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung mitgeteilt, dass [n]ach Prüfung der eingesandten Unterlagen und Erwägung der Tatsache, daß Mittel und Wege geschaffen werden müssen, um die Taubstummen und Tauben in der Deutschen Demokratischen Republik in umfassender Weise in das gesellschaftliche Leben einzugliedern, wird Ihnen vorgeschlagen, sehr ernst die Frage der Gründung einer Vereinigung für Taubstumme und Taube zu prüfen. Diese Prüfung müßte mit dem Ministerium für Gesundheitswesen und der Abteilung Erlaubniswesen des Ministeriums des Innern, Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, erfolgen. Uns erscheint es jedoch nicht sehr angebracht, die Gründung einer Vereinigung der Taubstumme und Tauben damit abzulehnen, daß durch ihre Mitarbeit in den Aktivs der Ständigen Kommissionen ihre Interessen weitgehend gewahrt werden.167

Dies war insofern bedeutsam, als hier unmissverständlich festgestellt wurde, dass eine Mitarbeit in anderen Organisationen für die Durchsetzung der Interessen Gehörloser nicht ausreichend sei und stattdessen eine eigenständige Organisation notwendig wäre. Eine Antwort aus der Abteilung Sozialfürsorge des Ministeriums für Arbeit und Berufsausbildung erfolgte am 27. Februar 1956 durch den Abteilungsleiter. Es wurde festgestellt, dass es zur Gründung einer Organisation der Gehörlosen in der DDR »unterschiedliche Meinung[en]« gebe. Eine »Rücksprache […] mit dem Kollegen Hödling, Abteilung Erlaubniswesen« habe gezeigt, »daß man der Bildung der o.a. Organisation ablehnend bzw. sehr skeptisch gegenübersteht«.168 Im Ministerium des Innern favorisiere man stattdessen die Bildung einer »Schwerbeschädigtenorganisation«. Die Situation der Sinnesgeschädigten (»Blinde, Gehörgeschädigte und Hirnverletzte«) wurde besonders hervorgehoben: Die Schwerstbeschädigten, insbesondere die Sinnesgeschädigten, fühlen sich vereinsamt und suchen für gewöhnlich eine Verbindung mit den Schwerbeschädigtenverbänden Westdeutschlands. Wie wir aus den Fachzeitschriften der westdeutschen Schwerbeschädigtenverbände entnehmen, bemüht man sich dortseits sehr emsig um die »notleidenden Schwerbeschädigten Mitteldeutschlands«. […] Es muß auch fest167 | Henoch, Abteilungsleiter, Ministerium des Innern, Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten, Rechtsabteilung, an Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, 30.12.1955. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 168 | Richter, Abteilungsleiter, Abt. Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, an das Ministerium des Innern, Sekretariat des Ministers, 27.2.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag.

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Anja Werner und Carolin Wiethoff gestellt werden, daß sich die Kirche in letzter Zeit in verstärktem Maße der Schwerbeschädigtenbetreuung widmet. Das gilt besonders für die Betreuung der Blinden und Gehörgeschädigten.169

Dieses Schreiben nahm Gedanken auf, die Pielasch, wie eingangs zitiert, Anfang Februar 1956 in einem Aktenvermerk notiert hatte.170 Eine Aussprache mit dem Zentralausschuss des Deutschen Roten Kreuzes habe inzwischen bestätigt, »daß die gesellschaftliche Betreuung der Schwerbeschädigten mangelhaft sei und daß dadurch eine Unzufriedenheit dieses Personenkreises besteht.«171 Auch der Aspekt der internationalen Vergleich- und Sichtbarkeit, den die gehörlosen Aktivisten in ihrem Antrag vom August 1955 ebenfalls angesprochen hatten, fand in den internen Diskussionen auf ministerieller Ebene nun Berücksichtigung. Eine interessante Schlussfolgerung wurde im Februar 1956 überlegt: Auf Grund des Fehlens einer Organisation haben wir keine Möglichkeit, am internationalen Geschehen teilzunehmen. Beispielsweise können wir dadurch nicht am [sic!] Weltrat für Blinde und Gehörgeschädigte und der Unesco angehören. Außerdem wird uns die Teilnahme an internationalen Kongresse[n] versagt. Das bedeutet zugleich, daß wir an den internationalen Errungenschaften nicht teilhaben können. Gegenwärtig ist der Erfahrungsaustausch mit der Sowjetunion, den Volksdemokratien und anderen Ländern kaum möglich, da auch hierfür die autorisierte Stelle fehlt.172

Die Idee, gehörlose Aktivisten zur Unterstützung des Auf baus des Sozialismus zu gewinnen, konnte ebenfalls nicht von der Hand gewiesen werden: »Wir sind der Meinung, daß wir ausreichend fortschrittliche und qualifizierte Genossen und Kollegen haben, die die Organisation im Sinne unserer Partei und Regierung lenken und leiten würden. Sie wäre ein positives Mittel zur Bewußtseinsbildung der zu betreuenden Schwerbeschädigten.«173 Dennoch könnten die staatlichen Organe der DDR die Aufgabe nicht alleine übernehmen, sondern bräuchten gesellschaftliche Unterstützung in Form einer Organisation der Betroffenen.174 169 | Ebd. 170 | Pielasch, Aktenvermerk, 3.2.56. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 171 | Richter, Abteilungsleiter, Abt. Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, an das Ministerium des Innern, Sekretariat des Ministers, 27.2.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 172 | Ebd. 173 | Ebd. 174 | Ebd.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

Ende des Jahres 1956 waren die Weichen für die Gründung eines Gehörlosen-Verbandes gestellt; zu klären war nun, wie die Vorbereitungen und der eigentliche Verband zu gestalten waren. Die gehörlosen Verbandsgründer blieben aktiv und wandten sich mit ihren Anregungen und Vorstellungen an staatliche Stellen. Wöller schrieb im Oktober 1956 an Pielasch von der Abteilung Sozialfürsorge im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung: […] damit wir uns mit allen gegenwärtigen Verhältnissen und Erfahrungen im In- und Ausland vertraut machen können, halten wir eine Informationsreise von 2-3 gehörlosen Genossen nach Westdeutschland für notwendig. Vorgesehen sind Absprachen mit führenden Mitgliedern des westdeutschen Gehörlosenverbandes, vor allem mit dem Präsidenten und dem Verantwortlichen des Fachorgans. Die Reise würde ca. 6 Tage in Anspruch nehmen, als Termin schlagen wir Ende November oder Anfang Dezember vor. Diese Informationsreise würde uns sehr wertvolle Hinweise geben. Die finanzielle Frage könnte in Verbindung mit dem Deutschen Sportausschuß gelöst werden, zumal ich in sportlichen Angelegenheiten auch verschiedenes zu verhandeln habe. Ich bitte Sie über diese Frage um eine baldige Nachricht oder um eine persönliche Rücksprache.175

Einem undatierten Aktenvermerk zufolge wurde dieses Ersuchen in einer persönlichen Aussprache mit Wöller in Anwesenheit einer Dolmetscherin abgelehnt: Dem Kollegen Woeller wurde klar gemacht, dass es nicht möglich ist, in der Frage des zu bildenden Gehörlosenverbandes nach Westdeutschland zu reisen, um dort die Organisationsform und Arbeitsmethoden des westdeutschen Gehörlosenverbandes zu studieren. Anlässlich der Beratung über die Grundsätze des zu bildenden Gehörlosenverbandes mit einer Arbeitsgruppe von Gehörlosen wurde ausdrücklich betont, dass die zur Beratung stehenden Grundsätze zunächst streng vertraulich behandelt werden müssen. Das trifft auch selbstverständlich für evtl. Informationen gegenüber Westdeutschland zu. […] Gegen die Führung von Besprechungen mit westdeutschen Sportlern ist unsererseits nichts einzuwenden, darüber hat das Komitee für Körperkultur und Sport über eine evtl. Fahrt zu befinden [sic!].176

Hier werden zwei Dinge deutlich: Man wollte den westlichen Einfluss bzw. Westkontakte gering halten, und der Sport hatte eine eigenständige, in diesem Fall eher unpolitische Bedeutung. Die gehörlosen Aktivisten verstanden und passten ihre Äußerungen an: Nach der Gründung des ADGV würden die Gehörlosen in der Verbandstätigkeit sorgfältig darauf bedacht sein, sich nach 175 | Günter Wöller an Pielasch, Abt- Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, 24.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 176 | Aktenvermerk. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag.

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außen hin im Sinne einer ›sozialistischen Staatsraison‹ zu präsentieren. Dies bedeutete die Betonung eines 1945 erfolgten Bruchs mit der deutschen Vergangenheit in der SBZ. Dementsprechend beteuerte man u.a., dass der ADGV keine Weiterführung älterer Organisationsstrukturen der Gehörlosen darstelle, sondern als eine neue, sozialistische Organisationsform anerkannt werden solle. In diesem Sinne wandten sich Wöller und Schliebenow z.B. im November 1957 an Max Richter aus Leipzig: Um unsere strittigen Fragen von Anfang an in das rechte Licht zu rücken, bedarf es nur einer Berichtigung[,] und die ist, dass der Allgemeine Deutsche Gehörlosen Verband keine Nachfolgeorganisation früherer Verbände ist. Demzufolge lehnen wir die Auslegung, daß es »endlich wie früher« wieder einen Verband der Gehörlosen gibt, ab. Vergleiche mit einer früheren Struktur sind für uns in keiner Beziehung diskutabel.177

Dieser in der DDR unvermeidbare Ansatz der Kooperation mit staatlichen Erwartungen lässt sich bis zum Ende der DDR verfolgen. Dementsprechend wurde die Führungsebene des ADGV/GSV von der Verbandsbasis auch als Repräsentanten der SED-Diktatur wahrgenommen. Der Zentralvorstand und das Präsidium des GSV als Nachfolgeorganisation des ADGV traten bereits im Dezember 1989 nur einen Monat nach dem Mauerfall zurück, wie in der Verbandszeitschrift unter der Überschrift »Rücktritt wurde erzwungen. Mängel in der Leitungsarbeit führten zu erheblichem Vertrauensverlust« im Januar 1990 mitgeteilt wurde.178 Am 16. Oktober 1956 fand im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung eine Besprechung zwischen Pielasch und den Gehörlosen Wöller, Meurer, Schliebenow (mit Ehefrau als Dolmetscherin), Lüdde sowie Uschwa statt. Bei dieser Gelegenheit wurde »[a]uf Grund der durchgeführten Beratung am 4.10. durch alle zuständigen und interessierten Dienststellen [… der] Schaffung eines Gehörlosen, sowie Blindenverbandes zugestimmt«.179 Der Zentralvorstand des Gehörlosenverbandes solle in »Groß-Berlin« sein, denn »[s]chon allein die zentrale und politische Lage macht dieses unbedingt erforderlich«.180 177 | Günter Wöller und Bruno Schliebenow an Max Richter (Leipzig), 27.11.1957. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag. 178 | »Rücktritt wurde erzwungen. Mängel in der Leitungsarbeit führten zu erheblichem Vertrauensverlust«, gemeinsam 34, Nr. 1 (1990): inneres Deckblatt. 179 | »Protokoll über die a. 16.10.56 durchgeführte Beratung im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung«, Halle, 18.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 180 | Ebd. Vgl. auch Arbeitsgruppe der Gehörlose zur Bildung einer allgemeinen Organisation in der Deutsche Demokratischen Republik, Auswertung der Besprechung im

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

Die »Schaffung der Gehörlosenzeitschrift« würde »nach der Bildung des Verbandes erfolgen«.181 Während der Sitzung der Arbeitsgruppe für Gehörlose am 10. Januar 1957 wurden Vorschläge für die Mitglieder eines vorbereitenden Komitees aufgelistet sowie Delegierte für den Gründungskongress zusammengestellt.182 Damit waren die wesentlichen Hürden für eine Verbandsgründung genommen. Im März, April und Mai 1957 erschien jeweils ein Mitteilungsblatt zum Stand der Vorbereitung der Verbandsgründung.183 Über den Gründungskongress des ADGV im Mai 1957 und die nun erforderliche organisatorische Arbeit auf Kreis- und Bezirksebene berichtete der Verbandspräsident Wöller in der neuen Verbandszeitschrift, die mit dem später noch mehrfach geänderten Namen Der Deutsche Gehörlose erstmals im Juli 1957 erschien.184

F a zit An der Ausschaltung des Arbeitsausschusses für Blindenfragen zeigt sich, dass aufgrund der rigiden Politik der SED Anfang der 1950er Jahre keine eigenständigen Organisationen erwünscht waren. Ein wichtiges Datum für beide Verbandsgründungen war folglich der Aufstand vom 17. Juni 1953, der offenbar zu einem Umdenken auf staatlicher Ebene beitrug. War man vorher nur wenig an offiziellen Organisationsformen »schwergeschädigter« bzw. »sinnesgeschädigter« Menschen in der DDR interessiert, änderte sich dies nun. Eigenständige Organisationen gaben den Betroffenen in begrenztem Maße Raum, sich zu entfalten. Gleichzeitig bedeutete dieses Entgegenkommen staatlicher Stellen aber auch, diese Personengruppen zu organisieren und über verlässliche »Genossen« (d.h. Angehörige der SED in der Verbandsführung) zu kontrollieren. Auch die Tatsache, dass es internationale Organisationen gab, spielte eine Rolle: Man würde über den ADGV und den ADBV auch im Ausland bei Ministerium für Arbeit und Berufsfürsorge – am 16. Oktober 1956 – über die Bildung eines »Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verbandes«, 28.12.56. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 181 | Protokoll über die a. 16.10.56 durchgeführte Beratung im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung«, Halle, 18.10.1956. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 182 | Pielasch, Protokoll über die Sitzung am 10.1.1957 der Arbeitsgruppe für Gehörlose. BArch Berlin, DQ 1/23906. Vgl. auch Heinz Meurer an das Ministerium für Arbeit und Berufsbildung Abt. Sozialfürsorge, 16.1.1957. BArch Berlin, DQ 1/23906, unpag. 183 | Mitteilungsblatt des vorbereitenden Komitees des Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verbandes 1 (März 1957); 2 (April 1957); 3 (Mai 1957). 184 | Günter Wöller, »Der Allgemeine Deutsche Gehörlosenverband ist gegründet«. Der Deutsche Gehörlose 1, Nr. 1 (Juli 1957): 1-2.

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Fragen zu Gehörlosigkeit und Blindheit mitreden bzw. internationalen Trends in diesen Bereichen besser folgen können. Solche Überlegungen machten es möglich, dass 1957 der Allgemeine Deutsche Blindenverband (ADBV) sowie der Allgemeine Deutsche Gehörlosen-Verband (ADGV) gegründet werden konnten. Zum Vorsitzenden des ADBV avancierte Helmut Pielasch, zu dessen Stellvertreter Ernst Puchmüller. Pielasch hatte Puchmüller bereits zuvor in seinem Amt als Referatsleiter im Ministerium für Arbeit abgelöst. Der Vorsitz des ADGV ging an Günter Wöller, einer der Gehörlosen, die sich aktiv für die Verbandsgründung engagiert hatten. Schon im Vorfeld der Verbandssgründungen war durch den Staats- und Parteiapparat als »Ziel und Zweck« beider Verbände festgelegt worden, ihre Mitglieder zu »bewußten Staatsbürgern und Erbauern des Sozialismus« zu »erziehen«.185 Die Politik des ADBV, der sich vor allem auf eine internationale Vernetzung konzentrierte, immerhin aber ein Sonderpflegegeld für Blinde mit weiteren Körperschäden durchsetzen konnte, war daher von Konformität gezeichnet. Mit Helmut Pielasch stand diesem ein linientreuer Funktionär vor, dessen Arbeitsweise von seinen eigenen Mitarbeitern als »Verzicht auf jede eigenständige Verbandspolitik«186 charakterisiert wurde. Der ADGV wiederum war auch stark dem Aktivismus gehörloser Menschen zu verdanken. Diese präsentierten sich als verlässliche und loyale Staatsbürger, die den »Auf bau den Sozialismus« unterstützten. Dennoch bedeutete die Verbandsgründung für gehörlose DDR-Bürger die Schaffung einer Nische, in der sie mit staatlicher Unterstützung ihre kommunikativen Bedürfnisse realisieren konnten. Der ADGV distanzierte sich dabei – gestützt von den zuständigen Abteilungen in den DDR-Ministerien – explizit von der Wahrnehmung, dass es nun, »›endlich wie früher‹ wieder einen Verband der Gehörlosen gibt«.187 Mit dem ADGV entstand ein von oben legitimierter, zentraler Hörgeschädigtenverband, dessen Führungsebene mit staatlichen Stellen zusammenarbeitete. Der Verband war auf staatlicher Seite dadurch motiviert, Kontakte gehörloser und schwerhöriger Menschen in den Westen sowie mit kirchlichen Stellen weitgehend zu unterbinden und gehörlosen DDR-Bürgern kontrollierte und kontrollierbare Freiräume zu gewähren. Die Gründung des Verbands bedeutete auch, dass eine Zeitschrift für Hörgeschädigte herausgegeben wurde. Außerdem entstanden auf regionaler und lokaler Ebene offiziell gestützte Organisationsstrukturen, die gehörlosen und schwerhörigen Menschen eine Plattform so-

185 | Protokoll zur 21. Kollegiumssitzung des Ministeriums für Arbeit und Berufsausbildung am 9.11.1956. BArch Berlin, DQ 2/478, unpag. 186 | Martin Jaedicke, »Zur Geschichte des BSV– einige Thesen und Probleme«, in horus 2 (1991), Zugriff 4.4.2012, www.dvbs-online.de/horus/1991-2-1959.htm. 187 | Wöller an Max Richter, Leipzig, 27.11.1957. BArch Berlin, DQ 1/3016, unpag.

Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenver tretungen

wohl für ihre kulturelle Betätigung als auch für Dialoge mit staatlichen Stellen für ihre spezifischen Anliegen bot.

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Gebärdensprachforschung in der Schweiz Eine Erfolgsgeschichte mit vielen Vätern. Der Beitrag von kleinen Playern am Beispiel des Vereins zur Unterstützung der Gebärdensprache der Gehörlosen (VUGS) Michael Gebhard

E inleitung Ab Mitte der 1970er Jahre erlebte die Gebärdensprache in der Schweiz einen großen Aufschwung. Inmitten dieser Auf bruchsstimmung wurde 1983 der Verein zur Unterstützung des Forschungszentrums der Gebärdensprache (VUFGZ) gegründet. 1992 erfolgte die Umbenennung in den Verein zur Unterstützung der Gebärdensprache (VUGS), den der Verein bis zu seiner Auflösung 2015 tragen sollte. Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Aufsatz durchgehend die bekanntere Bezeichnung VUGS verwendet. VUGS passte mit seinem programmatischen Schwerpunkt »Gebärdensprache« gut in eine Zeit, die vom Erstarken der Gebärdensprache geprägt war. Dennoch gingen die Aktivitäten von VUGS über die Unterstützung der Gebärdensprache hinaus. Auch bestehende Organisationen wie der Schweizerische Gehörlosenbund (im folgenden sgb-fss, gegründet 1946) oder Neugründungen wie die Stiftung »Treffpunkt der Gehörlosen TdG« (gegründet 1987) wurden unterstützt. VUGS verstand sich von Anfang an als Forschungsverein, der sich mit und für die Gehörlosen für die Erforschung der Gebärdensprache einsetzte. Zudem wurden in den Gründungsstatuten Mehrheitsverhältnisse für die Gehörlosen im Vorstand und die Gebärdensprache als Vereinssprache verankert, um die Mitbestimmung der Gehörlosen bei der Umsetzung der Vereinsziele zu stärken. Gerade weil VUGS seinen Schwerpunkt auf die Gebärdensprache und seit 1992 auch auf die Gehörlosenkulturforschung legte, war seine Geschichte eng mit der jüngeren Gebärdensprachbewegung verbunden. An dieser Bewegung nahmen verschiedene Organisationen aus dem Gehörlosenwesen, sowohl von Hörenden wie auch von Gehörlosen, teil. VUGS war zudem in einer Zeit ak-

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tiv, in der sich die Gebärdensprachforschung professionalisierte und sich im Hochschulbereich etablieren konnte. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die Initiativen von VUGS die schweizerische Gebärdensprachbewegung beeinflussten; außerdem profitierte VUGS von internationalen und nationalen Einflüssen. Die Nachhaltigkeit der Ziele und Aktivitäten von VUGS lässt sich nur erklären, wenn das Umfeld von VUGS, dessen Organisation sowie die Aktivitäten selbst in die Analyse mit einbezogen werden. Dieser Artikel nähert sich deshalb der Aufarbeitung der Geschichte des »VUGS« auf drei Ebenen an: Ebene Gebärdensprache in der Schweiz. Diese Ebene befasst sich mit den nationalen und internationalen Einflüssen, die auf die Schweizer Gehörlosengemeinschaft einwirkten und die Schweizer Gehörlosengemeinschaft sowie die Sichtweise auf die Gebärdensprache veränderten. In diesem Zusammenhang werden auch Persönlichkeiten vorgestellt, die neben VUGS in der Schweizer Gebärdensprachbewegung eine wichtige Rolle spielten. Ebene Menschenbild. Wie oben bereits erwähnt, sahen die Gründungsstatuten von VUGS eine aktive Mitbeteiligung der Vereinsmitglieder bei der Umsetzung der Vereinsziele und im Vorstand vor. Die Ebene Menschenbild geht der Frage nach, welches Menschenbild die Gründer von VUGS von den Gehörlosen besaßen und wie VUGS seine Forderung nach Einbezug der Gehörlosen in die Vorstandsarbeit umsetzte. Bei der Erforschung der Gebärdensprache sollen bezüglich des Menschenbilds zwei Aspekte im Umgang mit den Gehörlosen berücksichtigt werden: Erstens, wie bezog VUGS die Gehörlosen als Forschende in die wissenschaftliche Untersuchung ihrer Sprache und Kultur ein? Zudem stellt sich, zweitens, die Frage, wie VUGS die Gehörlosen als Träger der Gebärdensprache gewissermaßen als Forschungsobjekt betrachtete. Institutionelle Ebene. Diese Ebene widmet sich der Vereinsgeschichte von VUGS. VUGS wirkte oft im Hintergrund. In diesem Abschnitt wird aufgezeigt, wie VUGS seine Schwerpunkte bei der Erforschung der Gebärdensprache setzten, und wie nachhaltig die Ergebnisse auf das Gehörlosenwesen ausstrahlten. Da die Tätigkeit von VUGS auch von seiner Haltung gegenüber den Gehörlosen geprägt wurde, lassen sich die Ebene Menschenbild und die institutionelle Ebene nicht immer sauber voneinander trennen. Die Vereinsgeschichte von VUGS ist kaum erforscht, und folglich gibt es zu VUGS keine Überblicksdarstellungen. Diese Forschungslücke kann und will der Artikel nicht schließen, auch wenn verschiedene Fallbeispiele aus der Vereinsgeschichte herausgegriffen werden. Diese Fallbeispiele sind jedoch nicht als Höhepunkte aus der über 30-jährigen Geschichte zu verstehen. Vielmehr sollen an Hand dieser Beispiele aufgezeigt werden, wie VUGS Einfluss auf die Förderung der Gebärdensprache nehmen konnte, und wie seine Handlungen die Haltung des Vereins gegenüber den Gehörlosen als Forschungsobjekt und als Forschende illustrieren.

Gebärdensprachforschung in der Schweiz

Da, wie oben erwähnt, Forschungsliteratur fehlt, muss sich dieser Artikel vorwiegend auf das kaum erforschte Quellenmaterial des Vereinsarchivs stützen. Das VUGS-Archiv ist nicht erschlossen. So fehlen Signaturen, um ein genaues Zitieren zu ermöglichen. Es wird deshalb versucht, die berücksichtigten Quellen durch Umschreibung oder durch Nennung von konkreten Informationen möglichst genau zu belegen. Für die Erläuterung des Umfelds, in dem VUGS agiert, wird auf die entsprechende Forschungsliteratur verwiesen.

G ebärdenspr ache in der S chweiz In der Gebärdensprachbewegung der 1970er Jahre kulminierten Entwicklungen, die zum Teil bis in die 1950er zurückreichen. Dazu gehören, erstens, internationalen Kontakte und Einflüsse, etwa der internationale Austausch, der die Schweizer Gehörlosen mit ausländischen Gehörlosen in Verbindung brachte und ihnen einen alternativen Zugang zur Gebärdensprache bot. Zweitens ist dies ein Wandel in der Gehörlosenbildung, der ein Umdenken bezüglich des Einsatzes von Gebärden beinhaltete. Drittens ist dies die Gebärdensprachforschung selber. Schließlich ist der vierte Faktor die Anerkennung der Gebärdensprache. Erstens: Internationale Einflüsse. Bereits ab den 1950er Jahren intensivierte sich die internationale Vernetzung der schweizerischen Gehörlosen, die einen großen Einfluss auf die Identität, die Nutzung und die Erforschung der Gebärdensprache hatte. Der Gehörlosensport spielte als Wegbereiter für einen ungezwungenen Umgang mit der Gebärdensprache eine wichtige Rolle. Die den Gehörlosen wichtigen Großanlässe wie die »Taubstummenspiele« – beziehungsweise heute die Deaflympics – boten den Schweizer Teilnehmenden die Gelegenheit, sich neben dem Wettkampf mit ihren gehörlosen Konkurrenten aus dem Ausland auszutauschen und dabei die Gebärdensprache einzusetzen. Wie sich der Austausch an einem internationalen Sportanlass abspielte, zeigte sich in einem Beitrag der damals einflussreichen Schweizerischen Filmwochenschau, der unter dem Titel »Olympiade der Taubstummen« am 6. Februar 1959 ausgestrahlt wurde.1

1 | »Olympiade« der Taubstummen (0855-2), Schweizer Filmwochenschau (SFW) vom 6. Februar 1959. Michael Gebhard weist die Mitwirkung von Schweizer Gehörlosen bis in die 1930er Jahren nach. Vgl. Veronika Kuhn, Matthias Müller Kuhn und Michael Gebhard, Mit den Augen hören: Menschen in der Gehörlosengemeinde – damals und heute: 100 Jahre reformiertes Gehörlosenpfarramt im Kanton Zürich (Zürich: Theologischer Verlag, 2009), 121-123.

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Michael Gebhard Die Schweizer Filmwochenschau (SFW) zählt zu den wichtigsten audiovisuellen Beständen der Schweiz und ist das Kernstück der audiovisuellen politischen Information […] in den Jahren 1940 bis 1975. Vom Vorläufer der Tagesschau, der SFW, wurde zwischen 1940 und 1975 wöchentlich eine Ausgabe in dt.[deutsch]/frz. [französisch]/ital. [italienisch] produziert. Sie wurde in allen Kinosälen des Landes als Vorprogramm gezeigt und war damals, neben Radio und Zeitung, die einzige Möglichkeit der Information über das aktuelle Zeitgeschehen. Die »offiziellen« Filmnachrichten prägten über Jahrzehnte das Bewusstsein der Menschen. […]. Die über 6'600 Beiträge geben Einblicke in das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Schweiz in diesen wichtigen Jahren der Kriegszeit und des anschliessenden Aufschwungs. 2

Während noch das Gebärdensprachverbot in der Schweiz konsequent durchgesetzt wurde, sah man in diesem schweizweit beachteten Medium im oben erwähnten Beitrag »Olympiade der Taubstummen«, wie gehörlose Zuschauer in Gebärdensprache kommunizieren oder ein gehörloser Slalomfahrer einem Funktionär seinen Namen mit dem Fingeralphabet mitteilt.3 Neben dem Sport boten die internationalen Gastauftritte des 1951 gegründeten Mimenchors des Zürcher Gehörlosenpfarramtes, der noch heute in der Schweiz auftritt, den Schweizer Gehörlosen Gelegenheit, mit ausländischen Gehörlosen in Kontakt zu treten. Aus den Schilderungen der Auslandsreisen des Mimenchors lässt sich entnehmen, dass der Austausch mit Gehörlosen ein wichtiger Bestandteil der Auslandreisen des Mimenchors war und die Gehörlosen durchaus mit ausländischen Gehörlosen gebärdend in Kontakt traten. Der Gründer des Mimenchors, der Gehörlosenpfarrer Pfarrer Eduard Kolb (1918-2000) studierte 1971 am Gallaudet College und brachte von dort neue Impulse für die Kommunikation der Gehörlosen mit. Der Austausch sah vor, dass im Gegenzug der am Gallaudet College als Seelsorger wirkende amerikanischen Pfarrer Daniel Pokorny (1937-1990) Kolb während seiner Abwesenheit vertreten würde. Pokorny hatte die feste Absicht, den Schweizern Gehörlosen die »amerikanische Zeichensprache« näherzubringen. Dies gelang ihm, auch wenn einige gehörlose Kirchenhelfer gegen die Gebärde protestierten.4 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Gehörlosen oft auch ihre Ferien im Ausland verbrachten und dort den Kontakt mit Gehörlosen suchten. Ab den 1970er/1980er Jahren wurden nun auch zunehmend (Bildungs-)Reisen 2 | Das Zitat entstammt einem Bestandesbeschrieb, der die Bedeutung der Schweizer Filmwochenschau für die Schweiz einordnet. Memoriav – Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz. »Schweizer Filmwochenschau, 1940-1975«, Zugriff 26.1.2018, http://memoriav.ch/projects/schweizer-filmwochenschau-1940-1975/. 3 | »Olympiade« der Taubstummen (0855-2), Schweizer Filmwochenschau vom 6. Februar 1959. 4 | Kuhn, Kuhn und Gebhard, Mit den Augen hören, 105, 158-160.

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ans Galllaudet College unternommen. Solche Bildungsreisen stießen auch bei hörenden Gehörlosenfachleuten auf großes Interesse.5 Der internationale Austausch wurde in den 1960er und 1970er Jahren durch die Zuwanderung von gehörlosen Gastarbeitern aus Italien, Spanien, Deutschland und dem ehemaligen Jugoslawien verstärkt. Die ausländischen Gehörlosen waren es gewohnt, privat die Gebärdensprache zu benutzen. So forderten die »ausländischen« Gehörlosen ihre Schweizer Kollegen auf, auch im öffentlichen Raum die Gebärdensprache einzusetzen. Zudem brachten sie den Wunsch nach einem eigenen Zentrum für ihre Treffen und kulturellen Aktivitäten mit. Die bestehenden Angebote genügten den ausländischen Gehörlosen eindeutig nicht. Zu einer Zeit, in der die Gehörlosen in der Schweiz noch keinen Treffpunkt für ihre sozialen und kulturellen Aktivitäten besaßen, fanden Begegnungen oft in Restaurants statt. So kam es vor, dass die Restaurantbesitzer den Gehörlosen den Einsatz der Gebärdensprache verbieten wollten, da sich die hörenden Gäste belästigt fühlen könnten. Es brauchte seine Zeit, bis die Restaurantbesitzer sich an die Gehörlosen gewöhnt hatten und sie gelegentlich mit Gebärden begrüßten.6 Der Wunsch nach einem eigenen Gehörlosenzentrum blieb dennoch wach und führte 1987 zur Gründung der Stiftung »Treffpunkt der Gehörlosen TdG«, die als Träger für ein Gehörlosenzentrum fungieren sollte. Neben dieser Kernaufgabe unterstützte die Stiftung die Etablierung der Selbsthilfe in der Deutschschweiz, in dem sie gehörlose Mitarbeitende und Geschäftsführer beschäftigte oder dem sgb-fss preisgünstige Büroflächen vermietete.7 Diese Impulse der ausländischen Gehörlosen dürfen nicht vernachlässigt werden, legten sie doch den Boden zum Entstehen einer selbstbewusst gebärdenden Schweizer Gehörlosengemeinschaft. Zweitens: Stärkung der Gebärdensprache im Unterricht: Bereits in den 1950er Jahren lässt sich in einigen Gehörlosenschulen eine Lockerung des Gebärdensprachverbots ausmachen, auch wenn das Primat der Lautsprache weiterhin vehement verteidigt wurde. Wie stark der Wandel von überzeugten Persönlichkeiten abhielt, lässt sich exemplarisch am Beispiel von Gottfried Ringli (1928-2016) aufzeigen. Als Ringli 1959 Leiter und Lehrer der neu gegründeten Sekundarschule (heute Sek3) und 1961 Direktor der kantonalen Gehörlosenschule Zürich (heute Zentrum für Gehör und Sprache) in Zürich wurde, zeigte er bereits früh seine Skepsis gegenüber der rein oralen Methode. Hartnäckig, mit Überzeugungsarbeit, viel Engagement und Weiterbildung seiner Lehrkräf5 | Michael Gebhard, Hören Lernen – hörbehindert bleiben: Die Geschichte von Gehörlosen- und Schwerhörigenorganisationen in den letzten 200 Jahren (Baden: hier und jetzt, 2007), 95. 6 | Zdrawko Zdrawkow, Gehörlos in Zürich: Chronik 25 Jahre Stiftung Treffpunkt der Gehörlosen TdG 1980-2005 (Zürich: Sichtbar Gehörlose, 2008), 4. 7 | Ebd., 18-20.

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te, setzte er sich für zusätzliche Methoden zum Spracherwerb ein. Dass Ringli als Unterstützung zum Spracherwerb im Gegensatz zu seinen Kollegen in Genf auf lautsprachbegleitende Gebärden setzte – eine Methode, die er selber zu den lautsprachlichen Methoden zählte – dürfte auch damit zusammenhängen, dass zum Zeitpunkt der Einführung von Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) keine in Deutsch-Schweizer Gebärdensprache (DSGS) geschulten Lehrpersonen zur Verfügung standen. Der erste Gebärdensprachkurs in der Deutschschweiz fand erst 1985 statt, die Ausbildung für Gebärdensprachlehrer wurde in der Deutschschweiz ebenfalls erst 1986 angeboten.8 Dennoch bezeichnete Benno Caramore, langjähriger Präsident von VUGS, die Einführung von LBG als Paukenschlag im Gehörlosenwesen, der im Gehörlosenwesen allerdings nur schlecht verstanden wurde.9 Ringli war aber von seinem Verständnis eines gebärdensprachorientierten Ansatzes überzeugt und nahm gegenüber hörenden Fachpersonen, die das rein oralistisch geprägte Schulsystem befürworteten, kritisch Stellung.10 Ringli war weiter davon überzeugt, dass nur der Einbezug von Gehörlosen die Unterrichtsqualität verbessern würde. Dazu gehörte unter anderem die Anstellung gehörloser Lehrkräfte und, wie 1979 geschehen, die Wahl seines ehemaligen Schülers Peter Hemmi als gehörloses Mitglied in die Aufsichtskommission der kantonalen Gehörlosenschule.11 Neben Ringlis fachlichem Hintergrund war auch seine Grundeinstellung gegenüber gehörlosen Menschen bemerkenswert. Sein Schüler Beat Kleeb hob in seinem Nachruf auf Ringli hervor, dass dessen Aufforderung an die Gehörlosen, Fragen zu stellen, besonders bemerkenswert war. Gerade weil dies bei Gehörlosenlehrern nicht selbstverständlich war, blieb diese Aufforderung prominent in Erinnerung.12 Dieses Lob musste in noch viel stärkerem Masse für die Vorstandstätigkeit von 8 | Penny Boyes Braem, Tobias Haug und Patty Shores, »Gebärdenspracharbeit in der Schweiz: Rückblick und Ausblick«, Das Zeichen 90 (2012): 67. www.sgb-fss.ch/ wp-content/uploads/2015/06/Boyes-Braem-Haug-Shores-2012.pdf; Rebecca Hesse und Martin Lengwiler, Aus erster Hand, Gehörlose und Gebärdensprache in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, Schlussbericht des Projekts »Verbot der Gebärdensprache in der Schweiz« zuhanden des Schweizerischen Gehörlosenbundes (SGB-FSS) (Basel: Departement Geschichte, Universität Basel, 2017), 45-52. 9 | Benno Caramore, »Die deutschschweizerische Gebärdensprache und ihre Bedeutung für die Bildung und Kultur der Gehörlosen«, in 100 Jahre Sonos … im Einsatz für Gehörlose und Schwerhörige! 1911 bis 2011: Festschrift, Hg. Sonos (Zürich: Schweizerischer Verband für Gehörlosen- und Hörgeschädigtenorganisationen, 2011), 27. 10 | Hesse und Lengwiler, Aus erster Hand, 45-52. 11 | Ebd. 12 | Martina Raschle, »Erinnerung an Gottfried Ringli«, visuell plus (Februar/März 2017): 23-25.

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Ringli gelten, amtete dessen Schüler Beat Kleeb gleichzeitig als Kassier des Vereins.13 Drittens: Erforschung der Gebärdensprache: Die Erforschung der Gebärdensprache selber war eine verhältnismäßig junge Entwicklung. Eine wichtige Person in der Schweizer Gebärdensprachforschung war die Linguistin Penny Boyes Braem. Geboren 1942, studierte sie in Harvard und schloss ihren PhD an der University of California in Berkeley ab. Sowohl in ihrer Masterarbeit wie auch in ihrer Doktoratsarbeit beschäftigte sie sich mit der American Sign Language. Seit 1974 lebt sie in der Schweiz. Von 1982 bis 1986 war sie in Lausanne und Genf Leiterin für die Ausbildung der Gebärdensprachdolmetscher und Gehörlosenlehrer und gründete 1982 das noch heute existierende Forschungszentrum für Gebärdensprache in Basel. Daneben war sie in der internationalen Gebärdensprachforschung gut vernetzt und baute dieses Beziehungsnetz laufend aus. Neben VUGS förderte und gründete sie weitere Institutionen wie die GS Media, die Medien in Gebärdensprache herstellte und vertrieb. Zudem hatte sie Einsitz in die Gebärdensprachkommission des Schweizerischen Gehörlosenbundes (heute sgb-fss).14 Eine der entscheidenden Fragen für die Schweizer Gebärdensprachforschung war der Umgang mit dem Gebärdensprachpluralismus. In der Schweiz wurden und werden drei nationale Gebärdensprache (Deutschschweizerische Gebärdensprache – DSGS, Langue des Signes Française – LSF und Lingua Italiana dei Segni – LIS) verwendet, die ihrerseits in verschiedene Dialekte unterteilt werden können. Bereits im 1. Forschungsbericht des Forschungszentrums für Gebärdensprache Basel nahm Boyes Braem indirekt zum Umgang mit dem Schweizer Gebärdensprachpluralismus Stellung. Darin legte sie nicht nur dar, dass die DSGS eine eigenständige Sprache mit Grammatik und Syntax sei. Sie setzte sich auch vehement dafür ein, dass die Gebärdensprachforschung in der Deutschschweiz vor allem die Erforschung der Gebärdensprachdialekte sein müsse. Sie machte dafür kulturelle und politische Gründe geltend15:

13 | Werbeschreiben der Präsidentin Emily Zuberbühler an interessierte Neumitglieder des Vereins vom 5. Dezember 1982, in der unter anderem auch die Vorstandsmtitglieder namentlich aufgeführt sind, VUGS-Archiv. 14 | Zur Biografie von Penny Boyes Braem vgl. Center for Sign Language Research – Forschungszentrum für Gebärdensprache, FZG, »People«, Zugriff 26.1.2018, www.fzg research.org/staff.html. Die biografischen Daten über Penny Boyes Braem sind weiter der Kurzbiographie entnommen, die dem Protokoll der Mitgliederversammlung vom 24. November 1984 beigelegt waren, VUGS-Archiv. 15 | Für das Folgende, vgl. 1. Forschungsbericht des Forschungszentrums für Gebärdensprache Basel, 18-20, VUGS-Archiv.

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• Da es vier verschiedene Gebärdensprachdialekte in der DSGS gebe, müsste für eine Standardgebärdensprache zuerst die Unterschiede und Gemeinsamkeiten analysiert werden. Erst aus diesen Untersuchungen ließe sich eine Standardgebärdensprache ableiten. Dies sei aber nicht zielführend. • Ebenso sei es nicht sinnvoll, eine der vier Gebärdensprachdialekte als Standardsprache zu bestimmen. In der föderalen Schweiz würde ein solcher Standarddialekt zu Unverständnis bei den Benutzern der nicht berücksichtigten Gebärdensprachdialekten führen. Ein designierter Standarddialekt könnte so leicht als »Prestigedialekt« missverstanden werden. • Daneben sprächen aber auch praktische Gründe für die Dialektforschung. Denn unter den Gehörlosen bestehe ein großes Bedürfnis nach Dienstleistungen in der Gebärdensprache. Für den Auf bau von Gebärdensprachkursen oder die Ausbildung von Dolmetschenden sei es wichtig, die verschiedenen Dialekte genau zu kennen. Nur so ließe sich entscheiden, welche Inhalte in die Gebärdensprachkurse und der Dolmetscherausbildung berücksichtigt werden sollen. Die Geschichte gab Penny Boyes Braem recht. Die Dialektforschung setzte sich durch. Mit den Forschungsergebnissen gelang es ihr nicht nur, die Gebärdensprachforschung an die Hochschule für Heilpädagogik (damals Heilpädagogisches Seminar, HPS) zu ziehen und durch Beiträge des Nationalfonds zu finanzieren. Als positiver Nebeneffekt konnte der Auf bau der Gebärdensprachforschung wissenschaftlich unterstützt, die Ausbildung von Gehörlosen als Gebärdensprachlehrer professionalisiert und Gehörlose als forschende Fachkräfte angestellt werden.16 Viertens: Anerkennung der Gebärdensprache. Angesichts der verschiedenen Institutionen, mit denen Boyes Braem zusammenarbeitete, erstaunt es nicht, dass die Rolle von VUGS sich wandelte. Die von Boyes Braem gewonnen Informationen ließen sich auch gut für politische Forderungen wie die Anerkennung der Gebärdensprache benutzen. Exemplarisch lässt sich dies an der Petition zur Anerkennung der Gebärdensprache aufzeigen, die der sgb-fss am 18. Juni 1993 bei der Kommission für Bildung, Wissenschaft und Kultur (WBK) im eidgenössischen Parlament einreichte.17 Gleich zu Beginn meisterte die Petition eine wichtige Hürde. Bei der Anhörung vor der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats (WBK) gelang es einer Delegation des sgb-fss, bestehend aus vier Gehörlosen sowie Dolmetscherinnen, die Mitglieder der WBK für zwei Stunden in ihren Bann zu ziehen. Aus dem Routinegeschäft keimte die klare Erkenntnis, 16 | Boyes Braem, Haug und Shores, »Gebärdenspracharbeit in der Schweiz«, 58-70. 17 | Amtliches Bulletin, 94.2027 Petition Schweizerischer Gehörlosenbund, Anerkennung der Gebärdensprache.

Gebärdensprachforschung in der Schweiz

dass die Gebärdensprache nicht nur der Kommunikation unter den Gehörlosen selbst diente, sondern auch die Integration der Gehörlosen in die Welt der Hörenden verbessert. Die WBK verabschiedete nicht nur die eher unverbindliche Petition an den Bundesrat, sondern überwies zusätzlich und einstimmig ein griffigeres Postulat mit gleichem Inhalt zur Prüfung an den Bundesrat.18 Die Petition bearbeitete das Eidgenössische Departement des Innern (EDI). Diesem Departement stand die am 10. März 1993 in den Bundesrat gewählte Sozialdemokratin Ruth Dreifuss (geb. 1940) vor. Das EDI bat in einem Schreiben vom 23. März 1995 die Schweizerische Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK), den schweizerischen Nationalfonds (SNF) sowie die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG, heute SRF), das Anliegen der Petition umzusetzen. Die EDK ersuchte schließlich mit Schreiben vom 11. April 1995 die Zentralstelle für Heilpädagogik (SZH), Vorschläge für ein mögliches Vorgehen zu unterbreiten.19 Die SZH führte dazu mehre Expertengespräche mit Vertretern der Selbsthilfe und der Bildungsinstitutionen. Der Bericht kam zu folgenden Ergebnissen:20 • Die Gebärdensprache ist ein vollwertiges Sprachsystem; auch zu erwähnen ist die soziokulturelle Funktion der Gebärdensprache für Gehörlose. Zudem fördert der Einsatz der Gebärdensprache den Einbezug der Gehörlosen in die Kommunikation mit Hörenden. Damit gesteht der Bericht der SZH ein, dass Gehörlose in einer Versammlung mit Hörenden selbst mit perfekten Ablesekenntnissen den Diskussionen nicht folgen könnten. • An der lautsprachlichen Kommunikationspflicht für Gehörlose wird festgehalten, wobei technische Hilfsmittel eine stark unterstützende Rolle spielen würden. • Im Zusammenhang mit der Verwendung der Gebärdensprache wird vor allem auf die schulische Situation eingegangen und auf die große Heterogenität bei der Verwendung der Gebärdensprache im Unterricht hingewiesen. Insbesondere werden rein lautsprachlich orientierte Institutionen wie die Gehörlosenschule St. Gallen oder die Schule für Hörgeschädigte in Meggen aufgezählt, aber auch auf die Kantonale Gehörlosenschule Zürich mit ihrem gebärdensprachlichen Ansatz hingewiesen.

18 | Notiz aus Bern, Gehörlose finden Gehör. Zeitungsartikel von Nationalrätin Barbara Haering, ohne Datum, handschriftlich datiert auf den 31. Mai 1994, VUGS-Archiv. 19 | Vgl. Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik, Hg., Vorschläge zum Einsatz der Gebärdensprache vom 29. Mai 1997, 2 (Kapitel 1), VUGS-Archiv. 20 | Die aufgezählten Punkte sind eine Zusammenfassung nach: Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik, Hg., Vorschläge zum Einsatz der Gebärdensprache vom 29. Mai 1997, 2-12, VUGS-Archiv.

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• Die Vorschläge zielen auf die Anerkennung der Gebärdensprache als vollwertiges Sprachsystem und die Gewährleistung der Methodenvielfalt. Es wird aber auch die wissenschaftliche Begleitung des Gebärdensprachunterrichts und die Förderung der Dolmetscherausbildung gefordert. Unabhängig von einer Förderung der Gebärdensprache soll die Gebärdensprache nicht als Erstsprache gelernt werden. Ruth Dreifuss verschickte die Stellungnahme des SZH am 4. September 1997 an den sgb-fss. Im Begleitschreiben heißt es: »Nachdem […] bereits die zuständige Parlamentskommission seinerseits zum Schluss gekommen ist, dass es nicht darum gehen könne, die Gebärdensprache im Sinne einer schweizerischen Amtssprache aufzuwerten, sondern höchstens darum, diese ›Sprache‹ im gesellschaftlichen Leben und vor allem im Ausbildungsbereich aufzuwerten, möchte ich meinerseits das anstehende Dossier schließen.«21 Der sgb-fss reagierte auf dieses Schreiben zweigleisig. Am 16. März 1998 bedankte er sich im Namen des Kopräsidiums (Ruedi Graf und Gilles Ephrati) bei der Bundesrätin für deren Bemühungen. Der sgb-fss könne einige gute Ansätze in der Studie des SZH erkennen. Allerdings seien nicht alle Experten durch das SZH berücksichtigt worden, der sgb-fss würde nun diese Experten anfragen und wiederum mit Verbesserungsvorschlägen vorstellig werden.22 Nun kam Benno Caramore als Experte ins Spiel, der den Brief von Ruth Dreifuss und das weitere Vorgehen beurteilen sollte. In seiner Antwort vom 2. Januar 1998 beurteilte Caramore den »Dreifussbrief« zwar positiv, sah darin aber auch problematische Züge. So teilte er nicht die Ansicht, dass für die Bildung ausschließlich die Kantone zuständig seien. Das treffe sicherlich auf die gehörlosen Kinder zu, nicht aber auf die erwachsenen Gehörlosen. So würden die Dolmetscherausbildung und die Ausbildung zur Gebärdensprachausbildnern ausschließlich über den Bund finanziert. Allerdings seien die Teilfinanzierung der Löhne dieser Ausbildung nicht befriedigend gelöst, vielmehr sollte der Bund die gesamten Betriebskosten übernehmen. Dadurch könnten die Träger der Ausbildung, insbesondere der sgb-fss und der Hörbehindertenverband sonos23, finanziell entlastet werden. Zudem hatte Caramore erhebliche Zweifel daran, dass Dreifuss aufgrund der Fixierung auf die Schulbildung auch verstand, wie stark die erwachsenen Gehörlosen von der Anerkennung der Gebärdensprache betroffen seien. Hier müsse man mit der Departementsvorste21 | Schreiben von Ruth Dreifuss an den Schweizerischen Gehörlosenbund vom 4. September 1997, VUGS-Archiv. 22 | Schreiben sgb-fss an Bundesrätin Ruth Dreifuss vom 16. März 1998, VUGS-Archiv. 23 | Heute sonos, Schweizerischer Hörbehindertenverband. Ältester Schweizerischer Dachverband der Fach- und Selbsthilfe für Menschen mit einer Hörbehinderung. Für weitere Informationen siehe https://hoerbehindert.ch/ueber-uns.

Gebärdensprachforschung in der Schweiz

henden (gemeint ist Ruth Dreifuss) und den Departementsverantwortlichen noch genauer abklären, wie deren offizielle Haltung aussehe. Erst dann könne man überlegen, wie man sich politisch und strategisch bei der Anerkennung der Gebärdensprache verhalten solle.24 Natürlich bedeutete das Scheitern dieser Petition längst nicht das Ende des Kampfes um die Anerkennung der Gebärdensprache. Auf Basis der verschiedenen Einschätzungen, die den sgb-fss auf den »Dreifuss-Brief« erreichten, wurde eine Arbeitsgruppe unter Mitwirkung von Penny Boyes Braem und Benno Caramore gebildet. Am Ende dieses Prozesses stand die Resolution zur »Anerkennung der Gebärdensprache« vom 25. September 1999. Darin wurde der Bundesrat »[…] ersucht, die Gebärdensprache zur Integration von Gehörlosen und hörbehinderten Menschen zu anerkennen und sie, nebst der Lautsprache in Bildung, Ausbildung, Forschung und Vermittlung zu fördern«.25 Dass mit dieser Resolution nicht alle Wünsche der Gehörlosen erfüllt worden sind, zeigt sich bis in die heutige Zeit. Am 25. September 2017 reichte der sgb-fss bei der Bundeskanzlei, der Stabsstelle des Bundesrates, eine Petition mit 2700 Unterschriften ein. Die Unterschriften für diese Petition hatte der sgb-fss am Tag der Gebärdensprache (23. September 2017) in der gesamten Schweiz gesammelt. In dieser Petition fordert der sgb-fss, dass die Inhalte des Abstimmungsbüchleins und die Stellungnahmen zu den Abstimmungsvorlagen zusätzlich in die nationalen Gebärdensprachen Deutschschweizerische Gebärdensprache (DSGS), Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS) übersetzt werden.26 Es dürfte nicht die letzte Petition gewesen sein, um der Anerkennung der Gebärdensprachen in der Schweiz zum Durchbruch zu verhelfen.

24 | Schreiben von Benno Caramore an den sgb-fss vom 2. Januar 1998, VUGS-Archiv. 25 | Anerkennung der Gebärdensprache, Resolution vom 25. September 1999, VUGS-Archiv. 26 | SGB-FSS Schweizerischer Gehörlosenbund, »Petition an den Bundesrat: Politische Informationen in Gebärdensprache«, Zugriff 26.1.2018, www.sgb-fss.ch/ mehrzumthema/petition-politische-informationen/ und www.sgb-fss.ch/petition-anden-bundesrat/.

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VUGS und die G ehörlosen als M itglieder , F orschende und Z iel des F orschungsinteresses Gehörlose Mehrheit im Vorstand und kooperierende Hörende 1982 wurde das heute noch existierende »Forschungszentrum für die Erforschung der Gebärdensprache« in Basel gegründet; ein Jahr später folgte die Gründung des Unterstützungsvereins für das Forschungszentrum.27 Besonders bemerkenswert an dieser Gründung des Unterstützungsvereins war nicht nur die Tatsache, dass der Vorstand vorwiegend aus Gehörlosen bestand und die wissenschaftliche Erforschung der Gebärdensprache zum Ziel hatte. Vielmehr hielten die Vereinsstatuten ausdrücklich fest, dass die Gehörlosen die Mehrheit stellen sollten (Art. 8) und die Gebärdensprache neben Deutsch, Englisch und Französisch offiziell zu den im Verein verwendeten Sprachen zählte (Art. 12).28 Diese Konstellation stellte sowohl hörende wie gehörlose Vorstandsmitglieder vor große Herausforderungen: • eine Kommunikation zwischen Gehörlosen und Hörenden auf Augenhöhe in Gebärden- und Lautsprache zu ermöglichen, • fachliche Kenntnisse in einem neuen und äußerst umstrittenen Forschungsobjekt »Gebärdensprache« zu erstellen und nicht zuletzt • die Bereitschaft, den Spagat zwischen den Forschungsergebnissen des Vereins, neuen Forderungen bezüglich Gebärdensprachunterricht und den Beharrungskräften des oralistischen Systems auszuhalten. Der Verein hatte in dieser Hinsicht großes Glück mit seinen hörenden Vorstandsmitgliedern. Dies lässt sich an zwei hörenden Vorstandsmitgliedern zeigen, die den Verein zu Beginn stark mitprägten, aber auch außerhalb des Vereins eine entscheidende Rolle spielten. Mit Gottfried Ringli amtete eine ausgewiesene Fachperson zur Gehörlosenpädagogik im Vorstand, der in seiner beruflichen Tätigkeit bereits durch die Herausforderungen der Einführung der Gebärdensprache wichtige Erfahrungen gesammelt hatte, gleichzeitig aber auch den Gehörlosen auf Augenhöhe zu begegnen wusste. Zum anderen hatte VUGS mit Penny Boyes Braem eine international bestens vernetzte Linguistin 27 | Eine gute Zusammenfassung über die Gründung des Forschungszentrums sowie das Umfeld findet sich unter Center for Sign Language Research – Forschungszentrum für Gebärdensprache, FZG, »About«, Zugriff 26.1.2018, www.fzgresearch.org/about. html. 28 | Statuten des »Vereins zur Unterstützung des Forschungszentrums für Gebärdensprache«, angenommen von der Gründungsversammlung am 26. April 1983 in Zürich, VUGS-Archiv.

Gebärdensprachforschung in der Schweiz

als Geschäftsführerin. Mit ihrem Fachwissen konnte sie wichtige Impulse für die Vereinsarbeit, aber auch beim Auf bau der Schweizer Gebärdensprachforschung liefern.

Gehörlose: Forschende an der Gebärdensprache und als Träger der Gebärdensprache auch Ziel des Forschungsinteresses Der Einbezug der Gehörlosen als Kompetenzpersonen für die Gebärdensprache und als Forschende war ein weiteres zentrales Anliegen, das sich durch die Geschichte des VUGS zieht. Sowohl dem Vorstand wie auch Penny Boyes Braem als ausführender Forscherin war klar, dass die Forschungsarbeit nur mit und für die Gehörlosen betrieben werden konnte. Konsequenterweise waren bei der Analyse der Gebärdensprache nicht nur die Sprache an sich, sondern auch die Gehörlosen als Träger der Gebärdensprache Ziel des Forschungsinteresses. Eines der ersten von VUGS finanzierten Projekte waren Videoaufnahmen von Gebärden langjähriger Gebärdensprachbenutzer. Als Ziel sollte das Projekt aufzeigen, dass es regionale Unterschiede in der Gebärdensprache gibt. Bis zum Vorliegen eines Budgets wurden 500 Franken als Starthilfe zugesprochen.29 Der an der Vorstandsitzung vom 30. November 1985 diskutierte Projektvorschlag zeigt auf, wie gehörlose Mitarbeitende in die Erforschung ihrer Sprache einbezogen würden. So sah das Forschungsprojekt acht gehörlose Versuchspersonen vor. Die Auswertung wurden von zwei gehörlosen Mitarbeitenden unterstützt. Zudem wurden die Videoaufzeichnungen von einer hörenden und einer gehörlosen Forscherin überprüft. Ein großer Teil der vorgesehenen Entschädigungen ging somit an die gehörlosen Forschenden und Versuchspersonen.30 Penny Boyes Braem hob die Leistungen der gehörlosen Forschenden im Jahresbericht zum Vereinsjahr 1984-1985 hervor: […] Die Geschichten wurden teilweise von P. Boyes Braem mit der Assistenz von Gehörlosen transkripiert [Verschriftlichung der Gebärdensprachinterviews]. […] Diese gehörlosen Lehrkräfte haben sich als Gruppe verschiedentlich mit Frau [Boyes] Braem in Zürich und einzeln in Basel in Aufnahmesessionen und Diskussionen hinsichtlich der Gebärdensprache und Notationsprobleme getroffen. Sie haben auch bei der Transkription der aufgenommenen Geschichten geholfen. 31

In eine ähnliche Richtung zielte die bewusste Förderung von Gehörlosen, z.B. durch die Finanzierung von Forschungsreisen. Mit dieser Finanzhilfe ermög-

29 | Vorstandsitzung vom 10. Juli 1984, VUGS-Archiv. 30 | Vorstandsitzung vom 30. November 1985, VUGS-Archiv. 31 | Jahresbericht des Vereinsjahrs 1984-1985, VUGS-Archiv.

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lichte VUGS den unterstützten gehörlosen Personen, neue Erkenntnisse und Motivation für die Gebärdensprachforschung in der Schweiz zu gewinnen.32 Daneben war es ein zentrales Anliegen, dass die Gehörlosen die Erforschung der Gebärdensprache durch die Mitgliedschaft im Verein und durch Spenden mitfinanzierten. Mit dem aktiven Einbezug der Gehörlosen bei der Finanzierung des Vereins und seiner Projekte sollte sichergestellt werden, dass die Erforschung der Gebärdensprache von den Gehörlosen gefördert und die Gehörlosen direkt von der Forschung profitierten. Die Werbebriefe zur Unterstützung des Forschungszentrums sprachen daher oft die Gehörlosen selbst an. Ein Werbebrief aus dem Jahr 1985 zählte dazu die negativen Klischees der Gebärdensprache auf, die das Forschungszentrum mit seiner Forschungstätigkeit alle widerlegt habe. Anschließend wurde das Forschungszentrum als Ort angepriesen, an dem die verschiedenen Fragen zur Gebärdensprache wissenschaftlich analysiert würden. Weiter führte der Werbebrief die Aktivitäten auf, die der Verein in den zwei Jahren seines Bestehens bereits durchgeführt hatte. Im Werbeschreiben wurde betont, dass die Mitglieder über die Informationshefte an dieser wissenschaftlichen Erforschung teilhaben und mit Mitgliederbeiträgen die Forschung finanziell unterstützen könnten.33 Die Idee, das kollektive Wissen der Gehörlosen zu nutzen und den Gehörlosen den Zugang zu ihrer Kultur und Geschichte zu öffnen, zeigte sich im Projekt »Gehörlose forschen selber«. Inspiriert wurde das Projekt einerseits durch das von Regula Herrsche initiierte Konzept Pro G34, das die Vermittlung der Gehörlosenkultur für alle gehörlosen Kinder forderte. Andererseits nutzte das Projekt die Erfahrung aus der Archivpädagogik, um Gehörlose in die Welt der Archivquellen einzuführen.35 Im Zusammenhang mit »Gehörlose forschen selber« wurden von 2007 bis 2011 Exkursionen ins Sonos-Archiv in Riehen (heute im Sozialarchiv, Zürich), ins Staatsarchiv Aargau sowie ins Museum zur Geschichte der Gehörlosen & Schwerhörigen in Frankfurt unternommen. Ziel dieser Exkursionen war es, den Gehörlosen Quellen zu 32 | Dankesschreiben vom 27. Juli 1987. VUGS unterstützte eine gehörlose Person finanziell, damit diese Person am Symposium in Lappeenranta (Schweden) teilnehmen konnte, VUGS-Archiv. 33 | Werbebrief von 1985, VUGS-Archiv. 34 | Zu Pro G, vgl. Regula Herrsche-Hiltebrand, »Zuhause in zwei Welten: Ziele und Inhalte des Stoffplans Pro G«, in Gleiche Chancen für hörgeschädigte Kinder: Arbeitsweise und Ziele der Hörgeschädigtenpädagogik in der deutschen Schweiz, Hg. Beat Näf und Werner Bütikofer (Luzern: Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik, 2001), 77-80. 35 | Michael Gebhard, »Archivpädagogik in der Schweiz. Eine Untersuchung und Überlegungen« (Unveröffentlichte Masterarbeit der Weiterbildung »MAS in Archival and Information Science, 2008-2010«, Universitäten Bern & Lausanne, 2010), 27-28.

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ihrer eigenen Geschichte zu präsentieren. Die Bilanz aus diesen Exkursionen war allerdings durchwachsen. Um erste Erfahrungen zu sammeln, wurden die Teilnehmenden auf einige wenige Personen beschränkt. Aus dem Projekt konnte aber die Erkenntnis gewonnen werden, dass mit verhältnismäßig bescheidenen Mitteln den Gehörlosen die Archive als Schatzkammern der Gehörlosengeschichte geöffnet werden konnten. Auch stieß das Projekt bei den teilnehmenden Gehörlosen auf großes Interesse. Dieses Interesse wurde nicht durch die Tatsache geschmälert, dass die Dokumente teilweise schwierige Formulierungen enthielten. Welche neuen Erkenntnisse sind möglich, wenn Laienforschende und Historiker gemeinsam historische Themen im Bereich der Gebärdensprache analysieren? Der Schreibende, selber schwerhörig, war bei VUGS für den Bereich »Gehörlose forschen selber« verantwortlich und unterstützte dabei einen gehörlosen Laienforscher bei Besuchen in den Staatsarchiven Luzern, St. Gallen und Zürich. Der gehörlose Laienforschende besuchte die Gehörlosenschulen und ist als Gebärdensprachbenutzender in der Gehörlosenkultur verwurzelt, während der Schreibende die Schulen und das Geschichtsstudium mehrheitlich mit Hörenden besuchte und deshalb lautsprachlich orientiert lebt. Als Historiker suchte der Schreibende einen professionellen und analytischen Zugang zur Gehörlosengeschichte, der gehörlose Laienforschende sah in den historischen Dokumenten die Ähnlichkeiten zu seiner Schulzeit in den Gehörlosenschulen. Die Herausforderung bei der gemeinsamen Erforschung der Gehörlosengeschichte bestand deshalb weniger im fachlichen Unterschied zwischen Laien und Historiker, sondern vielmehr in den unterschiedlichen biografischen Hintergründen. Während der gemeinsamen Forschung wurde deutlich, dass gerade die unterschiedlichen Lebenserfahrungen eine qualitative Verbesserung der Ergebnisse herbeiführt. Denn so flossen die Erlebnisse und Bekanntschaften aus den Gehörlosenschulen und der Gehörlosenkultur in die Forschung ein, die dem Schreibenden aufgrund seiner Biografie verschlossen waren. Im Staatsarchiv St. Gallen befinden sich beispielsweise in den Beständen auch Fotos der damaligen Taubstummenanstalt St. Gallen. Diese Fotos sind teilweise nur summarisch metadatiert und enthalten oft nur die notwendigsten Angaben wie Zeitraum oder Ort, in diesem Fall die Gehörlosenschule St. Gallen. Für den Schreibenden enthielten diese Fotos kaum einen Erkenntnisgewinn, während der gehörlose Laienforscher die gehörlosen Schüler und die Lehrer genau benennen konnten. Mit diesem Pionierprojekt konnte somit auch kollektives Wissen zur Gehörlosengeschichte bewahrt werden.36

36 | Z. B. StASG, A 451/7 Fotodokumentation der Sprachheilschule St. Gallen, 1890 (ca.)–2000.

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Die Zusammenarbeit mit gehörlosen Laien war aber auch sinnvoll, um sich immer wieder die ethischen Standards und die Auswirkungen von Forschungsergebnissen bewusst zu machen. Bei der Analyse der sich im Staatsarchiv Luzern befindlichen Bestände des Ohrenarztes und Stammbaumforscher Kurt Graf-Byland (1916-1996)37 wurden etwa ethische Dilemmas deutlich. Der oben erwähnte Bestand enthält besondere Personendaten wie etwa die Familiengeschichte der untersuchten gehörlosen Kinder. Das Staatsarchiv Luzern erlaubte die Einsicht in die Unterlagen nur unter Auflagen, damit sowohl die Interessen der Betroffenen geschützt und die Forschung an diesem Bestand möglich gemacht werden konnten. Eine dieser Auflagen lautete, dass die Inhalte nicht an betroffene Personen kommuniziert und Forschungsergebnisse anonymisiert werden. Tatsächlich stießen die Forschenden bei der Analyse des Bestandes wiederholt auf Namen aus dem privaten Umfeld der Forschenden. Gerade weil das Thema Eugenik im Gehörlosenwesen heute noch sehr sensibel ist, ergaben sich spannende Diskussionen zum Umgang mit und zur Nutzung der Informationen aus den Graf-Byland-Beständen sowie zur Geheimhaltung dieser Informationen gegenüber Betroffenen. Damit die Betroffenen Einsicht in ihre Unterlagen hätte verlangen können, müssten sie zuerst Kenntnis von diesen Unterlagen haben. Doch gerade die Weitergabe dieser Information würde zu einem Bruch der Auflage führen, die erst die Einsichtnahme in diesen Bestand möglich machte. Letztendlich drehten sich die Diskussionen um die ethischen Standards, die beim Einbezug von gehörlosen (Laien-)Forschenden bei der Erforschung der Gehörlosengeschichte eingehalten werden müssen. Neben dem Bereich »Gehörlose forschen selber« entstand aus dem reichen und noch praktisch kaum genutzten kollektiven Wissen der Gehörlosen eines der wohl faszinierendsten Projekte von VUGS. Die Verbandszeitschrift des sgbfss, visuell plus beziehungsweise deren Vorgängerzeitschrift SGB-Nachrichten veröffentlichte umfangreiches von Gehörlosen gestaltetes Bildmaterial. Dieses Bildmaterial wurde durch Benno Caramore und den ehemaligen Chefredaktor von visuell plus, Peter Hemmi, digitalisiert und analysiert. In die Auswertung flossen rund 300 Bilder ein. Eine erste Präsentation der Ergebnisse erschien im VUGS-Informationsheft Bilder sagen Gehörlosen mehr als viele Worte. Das Bilderprojekt ist nicht nur eine Reise in die Zeit der Emanzipation der Gebärdensprache und der Gehörlosen in den 1980er Jahren und damit eine Sicherung ihres kulturellen Erbes. Vielmehr zeigt sich in den Bildern, wie stark die kollektive Erfahrung der Gehörlosen und die Benutzung der Gebärdensprache

37 | StALU, PA 311 Graf, Kurt, Prof. Dr. med., »Taubstumme im Kanton Luzern (18381868)«, sowie PA 331 Graf, Kurt, Prof. Dr. med. »Nachlass (Gehörlosenforschung) (1700-1993)«.

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die Gestaltung dieser Bilder beeinflusste. Die Bilder bieten damit einen völlig neuen Zugang zur Identität der Gehörlosen.38

E influss und B reitenwirkung von VUGS VUGS widmete sich neben der Forschung vor allem der Publikation von Forschungsergebnissen. Außerdem versuchte der Verein, die Gehörlosen selber zur Forschung zu bewegen. Aufgrund der breiten Vernetzung und dem Fachwissen seiner Vorstandsmitglieder, insbesondere Penny Boyes Braems oder Benno Caramores, wirkte VUGS zudem als eine Art »unabhängiger Thinktank«. Schließlich wollte VUGS es seinen Mitgliedern ermöglichen, sich selber Wissen zur Gebärdensprache und zur Gehörlosenkultur anzueignen. Bei der Informationsvermittlung setzte VUGS vor allem auf die schriftliche Verbreitung seiner Forschungsergebnisse. In den frühen Jahren hielt etwa Penny Boyes Braem im Anschluss an eine Generalversammlung einen Vortrag, der große Beachtung fand.39 Auch organisierte VUGS vereinzelt Fachvorträge von Experten. So gelang es VUGS in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund (sgb-fss), die gehörlose Sprachforscherin Carol Padden (geb. 1955) am 18. November 1989 zu einem Vortrag in die Schweiz zu holen.40 Padden hatte ein Jahr zuvor ihre Pionierarbeit Deaf in America: Voices from a Culture publiziert und damit einen visionären neuen Zugang zur Gehörlosigkeit ermöglicht.41 Ihr Vortrag gab der Gebärdensprachforschung in der Schweiz wichtige Impulse. Zudem dürfte allein die von Padden verbreitete Idee einer Gehörlosenkultur den Kampf für die Benutzung und die Anerkennung der Gebärdensprache gestärkt haben. Denn dass die Schweiz 1989 bezüglich der Benutzung der Gebärdensprache noch Lücken hatte, zeigte sich nicht zuletzt bei der Organisation des Vortrags von Carol Padden. Padden benutzte während des Vortrags die internationale Gebärdensprache. VUGS als Organisator musste zu eigenem Bedauern auf eine Übersetzung verzichten, da es 1989 keine Dolmetscher gab, die simultan in DSGS und internationale Gebärdensprache übersetzen konnten. Die Vereinsmitglieder wurden aber bereits im Einladungsschreiben informiert, dass der Vortrag in einem der nächsten 38 | Siehe dazu auch Benno Caramore und Peter Hemmi, Bilder sagen Gehörlosen mehr als viele Worte: Ein Einblick in das Leben und in die Kultur gehörloser Menschen in der deutschen Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Arbeiten zur Sprache, Kultur und Geschichte Gehörloser, Band 49 (Zürich: VUGS, 2015). 39 | Boyes Braem, Haug und Shores, »Gebärdenspracharbeit in der Schweiz«. 40 | Einladungsschreiben vom 31. Oktober 1989, undatierte Einladung, VUGS-Archiv. 41 | Vgl. Carol Padden und Tom L. Humphries, Deaf in America: Voices from a Culture (Cambridge/London: Harvard University Press, 1988).

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Informationshefte publiziert würde.42 Der Vortrag erschien 1992 als Informationsheft 20 unter dem Titel Was ist gehörlose Kultur?.43 Außerdem hielt Stefan Erni am 28. November 1997 einen Vortrag über seine Erfahrungen am Gallaudet College. Erni war dort im Wintersemester 1995/96 als »Research-Teacher« tätig gewesen. Der Vortrag wurde am 6. November 1996 als interner Fortbildungsvortrag an der Berufsschule für Hörgeschädigte in Zürich gehalten und auf Initiative von VUGS nochmals für eine breitere Öffentlichkeit wiederholt.44 Bereits bei der Gründung des Vereins setzten sich die Vorstandsmitglieder das Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse aus der Forschung an die Gehörlosengemeinschaft weiterzugeben. Doch es zeigte sich schon in den Gründungsjahren, dass die Forschungsergebnisse für die oft gehörlosen Vereinsmitglieder in der Regel kaum verständlich waren. Deshalb führte man ab 1983 Informationshefte ein, um die Gehörlosen in einfacher Sprache über die Erkenntnisse zu ihrer Sprache zu informieren. Zeitweise wurden die Informationshefte in Gebärdensprache übersetzt und auf Videokassette aufgenommen. Hauptsächlich für die Gehörlosen gedacht, richtete sich das Angebot auch an Hörende, die die Gebärdensprache kennen oder lernen wollten. Hörende Mitglieder zahlten einen Kostenbeitrag für die Materialkosten, während die Gehörlosen die Videokassetten kostenfrei erhielten.45 Daneben organisierte der Verein auf Anfrage Informationsabende zur Gebärdensprache und zur Gebärdensprachforschung. Dennoch blieb das Niveau für die gehörlosen Vereinsmitglieder oft zu hoch. Der Vorstand führte etwa den Austritt des einen oder anderen gehörlosen Mitglieds auf die trotz aller Einfachheit immer noch abstrakten Inhalte der Informationshefte zurück.46 Ein gehörloses Mitglied begründete seinen Austritt explizit damit, dass es zu alt für Weiterbildung sei.47 Zwar wurden die Informationshefte neben den verschiedenen Informationsangeboten aus der Notwendigkeit heraus geboren, die Forschungserkenntnisse an die gehörlosen Mitarbeitenden möglichst nutzerorientiert weiterzugeben. Doch da VUGS als kleiner Verein nicht über die Mittel verfügte, um mehr 42 | Einladungsschreiben vom 31. Oktober 1989, undatierte Einladung, VUGS-Archiv. 43 | Carol Padden, Was ist gehörlose Kultur?, Informationsheft Nr. 20 (Zürich, VUGS: 1992). 44 | Einladung zum Vortrag, undatiert, publiziert zwischen dem 6. November 1996 und dem 28. Februar 1997 und Skript zum internen Fortbildungsvortrag der Berufsschule für Hörgeschädigte vom 6. November 1996, VUGS-Archiv. 45 | Vgl. hierzu z.B. Einladung zur Generalversammlung des Vereinsjahrs 1989/1990 vom 16. Juli 1990 VUGS-Archiv. 46 | Schreiben vom 7. Dezember 1984 an die Vereinsmitglieder, Protokoll der ersten Mitgliederversammlung vom 31. März 1984, VUGS-Archiv. 47 | Austrittsschreiben vom 21. November 1985, VUGS-Archiv.

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als kleine Pilotprojekte vollständig zu finanzieren, wurden schriftliche Veröffentlichungen zur Gebärdensprache zunehmend zur eigentlichen Vereinsaufgabe.48 Mit den Informationsheften entstand eine noch heute bedeutende Quelle zum kulturellen und sprachlichen Verständnis der Gehörlosengemeinschaft.49 Dies zeigt sich allein an der beeindruckenden thematischen Breite, die vermutlich in ihrem gesamten Umfang noch kaum richtig ausgewertet wurde. Vermutlich dürften auch die Übersetzungen der Informationshefte in Gebärdensprache, die im Vereinsarchiv auf Video vorliegen, noch kaum für Forschungsarbeiten berücksichtigt worden sein. Allein aus diesen Videos ließen sich vermutlich neue Erkenntnisse zur Gebärdensprachentwicklung ab den 1980er Jahren gewinnen. Der Verein verstand die VUGS-Hefte – so der umgangssprachliche Name für die Informationsreihe – auch als Publikationsplattform für gehörlose Forschende. 1983 wurde explizit festgehalten, Beiträge von gehörlosen und von hörenden Forschenden zu publizieren. Im Protokoll der ersten Mitgliederversammlung vom 31. März 1984 heißt es dazu: »Frau [Boyes] Braem macht den Vorschlag: Jeder, der interessante Information über die Gebärdensprache besitzt, soll die Information zur Veröffentlichung in den Berichten zur Verfügung stellen. Der Informationsaustausch wird dynamischer als wenn immer nur das Forschungszentrum allein berichtet.«50 Von diesem Entscheid profitierten gehörlose Forschende ebenso wie die gehörlosen Absolventen der Hochschule für Heilpädagogik, deren Abschlussarbeiten als Informationshefte aufgelegt wurden. Als Beispiele wären unter anderem die Arbeiten von Katja Tissi über die Namensgebärden in der Schweiz sowie von Doris Hermann oder von Siv Fosshaug zum bilingualen Unterricht zu nennen.51

48 | Boyes Braem, Haug und Shores, »Gebärdenspracharbeit in der Schweiz«, 65. 49 | Hesse zählt in ihrer Auftragsarbeit zur Unterdrückung der Gebärdensprache insbesondere die Informationshefte von VUGS zu den wertvollen Veröffentlichungen au der Gehörlosenbewegung. Hesse und Lengwiler, Aus erster Hand, 11. 50 | Protokoll der 1. Mitgliederversammlung des Vereins zur Unterstützung des Zentrums für Gebärdensprache vom 31. März 1984, VUGS-Archiv. 51 | Katja Tissi, Sammlung und Illustration von Grundgebärden der Gebärdensprache der Gehörlosen in der Deutschschweiz, Informationsheft Nr. 19 (Zürich: VUGS, 1991); Doris Hermann, Bilinguale und bikulturelle Frühförderung gehörloser Kinder unter Einbezug von gehörlosen und hörenden Sozialpädagogen/Sozialpädagoginnen, Informationsheft 45 (Zürich: VUGS, 2008); Siv Fosshaug, Entwicklung der gebärdensprachlichen Kompetenz eines gehörlosen Kindes in einer bilingual geführten Schulklasse: eine Logitudinalstudie, Informationsheft Nr. 47 (Zürich: VUGS, 2010).

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A nstelle eines F a zits : S purensuche zur A uflösung von VUGS Das Schlusswort hat im Zusammenhang mit VUGS eine doppelte Bedeutung. Denn VUGS wurde 2015 aufgelöst. Dieses Kapitel soll die Leistungen des VUGS würdigen und gleichzeitig die Gründe für die Auflösung genauer analysieren. Das Schlusswort ist somit auch eine Spurensuche, weshalb VUGS trotz seiner ruhmreichen Geschichte keinen Platz mehr im Gehörlosenwesen hat. Die Spurensuche soll an denjenigen Punkten erfolgen, die die Vereinsgeschichte immer wieder geprägt haben. ERSTENS: ADMINISTRATION UND FINANZIERUNG. VUGS war seit seiner Gründung eine Organisation mit einer verhältnismäßig hohen Grundadministration. Neben der Unterstützung von Forschenden oder Forschungsprojekten mussten Informationshefte publiziert und, in der Anfangsphase, auf Videobändern zur Verfügung gestellt werden. Außerdem wurden Vorträge organisiert.52 Um diese Administration zu bewältigen, war VUGS von 1983 bis 1992 für einen Teil der Administration dem Forschungszentrum für Gebärdensprache angeschlossen.53 Ab Ende der 1980er Jahre erkannte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Selbsthilfeorganisationen als subventionsberechtigt an. Die Subventionen ermöglichten es etwa Selbsthilfeorganisationen wie dem sgb-fss oder der Stiftung »Treffpunkt der Gehörlosen TdG«, gehörlose Mitarbeitende anzustellen.54 Der VUGS-Vorstand erkannte, dass sich mit den Subventionen des BSV Strukturen und Gebärdensprachforschung professionalisieren ließen. Er beschloss deshalb, sich beim BSV um Subventionen zu bewerben. Da die Subventionen über die dem BSV unterstellte Invalidenversicherung (IV) ausgeschüttet wurden, war in den Vereinsunterlagen jeweils von der IV-Berechtigung die Rede. Bereits bei den ersten Abklärungen des Vorstands um 1991 war klar, dass die bestehenden Strukturen des VUGS für die IV-Berechtigung nicht genügen würden.55 Neben einer Namensänderung, um die Unabhängigkeit des Vereins vom Forschungszentrum für Gebärdensprache zu garantieren, mussten auch die Strukturen professionalisiert werden. Selbst als sich abzeichnete, dass die IV VUGS nicht als subventionsberechtig anerkennen würde, wurde ein pro52 | Vgl. hierzu auch die voranstehenden Abschnitte. Zur Videoproduktion siehe auch Vorstandssitzung vom 10. Juli 1996 und 21. Oktober 1996, VUGS-Archiv. 53 | Bis 1992 wurde zumindest ein Teil der Administration, z.B. die Organisation der Vorstandsitzungen oder der GV, über das Forschungszentrum der Gebärdensprache abgewickelt. 54 | Zdrawkow, Gehörlos in Zürich, 21; Gebhard, Hören lernen – hörbehindert bleiben, 106. 55 | Einschätzung Benno Caramore vom 22. Oktober 1991, VUGS-Archiv.

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fessionelles Sekretariat als wichtige Voraussetzung für das Wachstum für den Verein angegeben.56 Langfristig ließ sich das Sekretariat ohne zusätzliche Mittel nicht halten. 2012 musste der Vorstand die gesamte Administration ohne zusätzliche Unterstützung stemmen. Ein eigenes Sekretariat stand zwar nicht zur Diskussion. Tatsächlich war der administrative Druck auf die Vorstandsmitglieder aber so groß geworden, dass etwa Varianten wie Outsourcing, eine Vergrößerung des Vorstands zur Entlastung der Vorstandsmitglieder und eine weniger aufwendige Rechtsform in Form einer Interessengemeinschaft diskutiert wurden. Letztendlich kam der Vorstand in dieser Frage nicht weiter, die Administration blieb einer der Hauptgründe für die Auflösung.57 Somit dürften das fehlende Sekretariat beziehungsweise die nicht vorhandenen finanziellen Mittel für die Strukturen eines professionellen wissenschaftlichen Betriebs ein wichtiger Grund für die Auflösung des Vereins gewesen sein. ZWEITENS: GEHÖRLOSE ALS TRÄGER DER GEBÄRDENSPRACHFORSCHUNG. Für VUGS war die Erforschung der Gebärdensprache und der Gehörlosenkultur mit und für die Gehörlosen immer ein zentrales Anliegen. Bereits in den ersten Werbebriefen wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, dass VUGS gehörlose Forschende unterstützte, sich aber auch die Erforschung der Gebärdensprache und deren Vermittlung insbesondere an Gehörlose zum Ziel gesetzt hatte. Die Finanzierung sollte – gerade um die Gehörlosen in allen Bereichen einzubeziehen – vor allem über die Gehörlosen erfolgen.58 Betrachtet man allein die Finanzierung, so standen die Gehörlosen dem Verein bis zur Auflösung loyal gegenüber. Bis zur Auflösung wies VUGS trotz tendenziell sinkenden Mitgliederzahlen jeweils einen Überschuss aus.59 Anders sah die Sache bei der Besetzung des Vorstands aus. Während der Feier zum 25-jährigen Bestehen des VUGS wurde darauf hingewiesen, wie revolutionär noch im Jahre 2008 die Bestimmung im Gehörlosenwesen sei, dass Gehörlose im Vorstand die Mehrheit haben müssten. »Durch diesen Entscheid wollte man die Gehörlosen direkt in die Vereinsarbeit einbinden, sie ernst nehmen und sie davor bewahren, dass eine hörende Mehrheit über ihre Köpfe hinweg entscheidet.«60 Tatsächlich wurde jedoch die Besetzung des Vorstands mit Gehörlosen immer schwieriger, da viele gut vernetzte Gehörlose eine Vorstandstätigkeit bei VUGS ablehnten. Als in der Generalversammlung 2012 eine mögliche Auf56 | Protokoll der Generalversammlung vom 21. November 1992, Vorstandsitzung vom 21. Oktober 1996, VUGS-Archiv. 57 | Vorstandsitzung vom 17. Juli 2012 und 23. August 2012, VUGS-Archiv. 58 | Diverse Werbebrief ohne Datum, ca. 1983-1993, VUGS-Archiv. 59 | Per 30. Juni 2012 wies VUGS gemäß Unterlagen der 29. Generalversammlung ein Vermögen von CHF 38 302 aus, VUGS-Archiv. 60 | Zitat und voranstehender Abschnitt: Festrede 25 jähriges Jubiläum VUGS, VUGS-Archiv.

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lösung überlegt wurde, wurden Rücktritte aus dem Vorstand und die Schwierigkeit der Neubesetzung explizit als Gründe für die Diskussion zur Auflösung genannt.61 Schließlich griff die Argumentation für die Vereinsauflösung auch den Kern von VUGS selbst an. VUGS als Marke sei zwar für die Vergangenheit sehr wichtig gewesen. Nicht zuletzt die bis 2012 produzierten 48 Informationshefte seien ein Grund, stolz auf VUGS zu sein. Dennoch sei es jetzt Zeit, dass nun wieder näher an der Basis und nicht theoretisch gearbeitet würde. Nicht zuletzt habe VUGS seine Ziele erreicht.62 Insbesondere der letzte Punkt – die Zielerreichung – lässt sich heute nicht ganz wegdiskutieren. 1983 stellte Zdrawko Zdrawkow in der Gründungsversammlung den Antrag, dass der Verein für sämtliche Versammlungen einen Dolmetschenden zur Verfügung stellen solle. Die Gründungsversammlung lehnte diesen Antrag jedoch ab, da in der Deutschschweiz keine ausgebildeten Dolmetschenden zur Verfügung stünden.63 Noch sechs Jahre später verzichtete VUGS beim Vortrag von Carol Padden auf Dolmetschende, da die Dolmetschenden 1989 nicht gleichzeitig in DSGS und internationale Gebärdensprache übersetzen konnten.64 Diese Szenarien sind heute nicht mehr der Fall. Dies ist auch das Verdienst von VUGS sowie der Weitsicht von Penny Boyes Braem zu verdanken, die schon in der Gründungsphase des VUGS und bei den ersten Grundlagenprojekten die Dolmetscherausbildung als wichtigen Anwendungsbereich vor Augen hatte. Dass VUGS sich von der Basis entfernt hätte, dürfte jedoch nur teilweise der Fall sein. VUGS war seit seiner Gründung ein Forschungsverein und sprach eine wissenschaftlich interessierte Zielgruppe an, auch wenn der Verein sich um eine verständliche Verbreitung seiner Gebärdensprach-Forschung bemühte. Zudem bot VUGS bis zu seiner Auflösung mit den Informationsheften eine wichtige Plattform, um Beiträge von Gehörlosen zur Gebärdensprache wie auch zur Gehörlosenkultur zu veröffentlichen. Insbesondere das letzte VUGS-Heft zum oben erwähnten Bilderprojekt von Peter Hemmi und Benno Caramore65 ist ein gutes Beispiel dafür, dass erst durch eine Forschungsplattform wie VUGS die Veröffentlichung bahnbrechender Ergebnisse von gehörlosen Laienforschern möglich wurde. Daneben hatte VUGS bereits 2007 damit begonnen, seine Aktivitäten mit Archivführungen oder bei der Unterstützung 61 | Quo vadis? Die Zukunft von VUGS, Handout für die 29. Generalversammlung 2012, VUGS-Archiv. 62 | Argumentarium zur Vereinsauflösung, präsentiert an der 29. Generalversammlung 2012, VUGS-Archiv. 63 | Protokoll der Gründungsversammlung vom 26. April 1983 in Zürich, VUGS-Archiv. 64 | Einladungsschreiben vom 31. Oktober 1989, undatierte Einladung, VUGS-Archiv. 65 | Caramore und Hemmi, Bilder sagen Gehörlosen mehr als viele Worte. Siehe auch obigen Abschnitt zu Gehörlosen als Mitarbeitende.

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von gehörlosen »Laienforschern« zu diversifizieren. Diese Aktivitäten kamen gerade eben jener Basis zu Gute, von denen sich VUGS angeblich entfernt hatte. Nicht zuletzt hatte sich der Verein immer darum bemüht, Informationen über die Erforschung der Gebärdensprache möglichst gehörlosengerecht zu verbreiten. Mit der Übersetzung der Informationshefte in Gebärdensprache und der Überspielung auf Videokassette setzte VUGS bereits früh die Forderung von Gehörlosen um, Informationen in Gebärdensprache anzubieten. VUGS war somit auch ein Pionier, was die gehörlosengerechte Verbreitung von Informationen anbelangte. Ab 2007 bot VUGS in loser Folge Veranstaltungen zur Gehörlosengeschichte an. Daneben gab es Überlegungen, das Wissen von Gehörlosen mit Interviews aufzuzeichnen und so für Forschende und Gehörlose zu bewahren. Auch die Zusammenarbeit mit gehörlosen Laienforschern hätte die Möglichkeit geboten, mit verhältnismäßig geringen Mitteln Grundlagenforschung im wenig erforschten Feld der »Gehörlosengeschichte« zu betreiben und Fachwissen und Kompetenzen auf bauen. Ob der Verein überlebt hätte, falls sich der Vorstand konsequent hinter die Gehörlosengeschichte als zusätzlichen Forschungsschwerpunkt zur Gebärdensprache gestellt hätte, ist allerdings fraglich. Einerseits hätten die finanziellen, personellen und administrativen Probleme auch dann weiter bestanden, wenn die Generalversammlung zweimal für das Weiterbestehen von VUGS gestimmt hätte. Andererseits verdankte VUGS seine Existenz der Frage, inwiefern die Gehörlosen einen Forschungsverein wie VUGS finanziell und als Vorstandsmitglieder mitzutragen bereit waren. Offensichtlich stuften die Gehörlosen das bestehende Forschungsangebot und den Einbezug der Gehörlosen in die Forschungsinstitutionen 2015 gegenüber 1983 als wesentlich besser ein, da sie diese Frage mit »nein« beantworteten. Ironischerweise könnte man deshalb das Fazit ziehen, dass VUGS seinem eigenen Erfolg zum Opfer fiel: die professionelle Gebärdensprachforschung zu fördern und die Gehörlosen an dieser Forschung zu beteiligen.

B ibliogr afie Quellen Schweizerisches Bundesarchiv »Olympiade« der Taubstummen (0855-2), Schweizer Filmwochenschau (SFW) vom 6. Februar 1959; aus: Filmbestand Schweizer Filmwochenschau (1940 – 1975) – Fonds film du Ciné-Journal suisse (1940-1975) – Fondo film Cinegiornale svizzero (1940-1975), Zugangsprojekt »Schweizer Filmwochenschau«, J2.143#1996/386#855-1#2*.

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Staatsarchiv Luzern (St ALU) PA 311 Graf, Kurt, Prof. Dr. med. »Taubstumme im Kanton Luzern, 1838-1868«. PA 331 Graf, Kurt, Prof. Dr. med. »Nachlass (Gehörlosenforschung), 17001993«.

Staatsarchiv St. Gallen (St ASG) StASG, A 451/7.5.03 A 451/7 Fotodokumentation der Sprachheilschule St. Gallen, 1890 (ca.)–2000.

VUGS-Archiv (nicht erschlossen, ohne Signatur)

Links Center for Sign Language Research – Forschungszentrum für Gebärdensprache, FZG. »About«. Zugriff 26.1.2018. www.fzgresearch.org/about.html. Center for Sign Language Research – Forschungszentrum für Gebärdensprache, FZG. »People«. Zugriff 26.1.2018. www.fzgresearch.org/staff.html. Memoriav – Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz. »Schweizer Filmwochenschau, 1940-1975«. Zugriff 26.1.2018. http://memoriav.ch/projects/schweizer-filmwochenschau-1940-1975/. SGB-FSS Schweizerischer Gehörlosenbund. »Petition an den Bundesrat: Politische Informationen in Gebärdensprache«. Zugriff 26.1.2018. www.sgb-fss. ch/mehrzumthema/petition-politische-informationen/ und www.sgb-fss. ch/petition-an-den-bundesrat/. Sonos Schweizerischer Hörbehindertenverband, https://hoerbehindert.ch.

Sekundärliteratur Amtliches Bulletin, 94.2027 Petition Schweizerischer Gehörlosenbund. Anerkennung der Gebärdensprache. Boyes Braem, Penny, Haug Tobias und Patty Shores. »Gebärdenspracharbeit in der Schweiz: Rückblick und Ausblick«. Das Zeichen 90 (2012): 58-74. www. sgb-fss.ch/wp-content/uploads/2015/06/Boyes-Braem-Haug-Shores-2012. pdf. Boyes Braem, Penny et al. Romantik und Wirklichkeit: Soziolinguistische Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zwischen der Deutschschweizerischen Gebärdensprache DSGS und dem Rätoromaischen. Informationsheft Nr. 30. Zürich: VUGS, 1997. Caramore, Benno. »Die deutschschweizerische Gebärdensprache und ihre Bedeutung für die Bildung und Kultur der Gehörlosen«. In 100 Jahre Sonos … im Einsatz für Gehörlose und Schwerhörige! 1911 bis 2011: Festschrift, Hg.

Gebärdensprachforschung in der Schweiz

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Die Erinnerung an die jüdische Gehörlosengemeinschaft und den Deaf Holokaust wiederfinden Eine Frage der Menschenrechte entsprechend der UN-BRK, unter Abgrenzung von den Zwangssterilisationen und der »Aktion T4« 1 Mark Zaurov

M enschenrechte und die R echte behinderter P ersonen Die Vereinten Nationen wurden 1945 angesichts der Zerstörung und der unzähligen Toten durch die beiden Weltkriege gegründet. Eines der Ziele war es, verbindliche Menschenrechte zu schaffen, auf die sich die 51 Mitgliedsstaaten einigten. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen adaptierte am 10.12.1948 zusätzlich zu ihrer eigenen Charta die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 1966 wurden weitere Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt), und bürgerliche, sowie politische Rechte (Zivilpakt) verabschiedet, die jedoch in verbindlicher Form erst im Jahre 1976 in Kraft traten.2 Obwohl behinderte Menschen sich formal in diesen Menschenrechten wiederfinden, wurden ihre »garantierten« Rechte in der Praxis kaum gewährt. Daher trat im Jahre 2006 zusätzlich die Behindertenrechtskonvention der 1 | Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark überarbeite deutsche Übersetzung von Mark Zaurov, »The Current Situation of Human Rights for Deaf People with Respect to the Deaf Holocaust«, International Graduate Students’ Conference on Holocaust and Genocide Studies Papers, Paper 9, (2012), Zugriff 29.9.2018, http://commons.clarku. edu/chgs_papers/9. 2 | Peter Ridder, »Die Menschenrechtspakte«,  Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert (Mai 2015), Zugriff 29.9.2018, www.geschichte-menschenrechte.de/schluesseltexte/die-menschenrechtspakte/.

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Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kraft, die von 175 Staaten und der EU ratifiziert wurde und somit völkerrechtlich bindend ist.3 Darin werden behinderte Menschen zum ersten Mal auf der menschenrechtlichen Ebene nicht-Behinderten gleichgestellt. Gebärdensprachen werden darin explizit als eigenständige Sprachen, gleichwertig mit den nationalen Lautsprachen, angeführt. Die UN-BRK schreibt das Recht auf Bildung und Zugang zu öffentlichen Informationen auch in Gebärdensprachen fest, sowie das Recht auf barrierefreien Zugang durch professionelle Gebärdensprachdolmetscher z.B. bei Arbeit und Beschäftigung. Das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe (Inklusion) unter Berücksichtigung des Gebots, die kulturelle und linguistische Identität der Gehörlosengemeinschaft zu fördern, wird explizit formuliert (all die erwähnten Punkte finden sich u.a. in den Artikeln 1, 2, 3, 4, 5, 8, 9, 21, 24, 26, 27, 30). Die Behindertenrechtskonvention betont klar, dass taube Menschen ohne sprachliche und kulturelle Menschenrechte ihre weiteren Rechte nicht wahrnehmen können. Es ist bedauerlich, dass dieser Umstand erst etwa drei Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Sozial- und Zivilpaktes im Jahr 1976 bemerkt und berichtigt wurde. Im folgenden wird erläutert, warum der Rückgriff auf die UN-BRK und Art. 30, Abs. 4 für die Historiographie des Holokausts bezüglich der tauben jüdischen Gemeinschaft vonnöten ist, insbesondere für das Verständnis des Deaf Holokaust, der in Abgrenzung zu den Zwangssterilisationen und »Aktion T4« zu sehen ist.

H olok austforschung Die deutsche Holokaustforschung brauchte fast ebenso lange wie die Festschreibung der Menschenrechte Behinderter, um aus der Asche der Kriege emporzusteigen. Insbesondere die Forschung in Deutschland unterlag den Tabus kultureller Traumata, anstelle Vorreiter zu sein. Das Ringen mit der eigenen Vergangenheit nahm zwar mit den Nürnberger Prozessen in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre seinen Anfang,4 jedoch wurden sowohl Täter als auch

3 | Vereinte Nationen, »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen«, 13.12.2006, Zugriff 29.9.2019, https://www.behindertenrechtskonvention. info; United Nations, »15. Convention on the Rights of Persons with Disabilities«, Zugriff 29.9.2018, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREAT Y&mtdsg_no= IV-15&chapter=4&clang=_en. 4 | Annette Weinke, »Nürnberger Prozesse«, publiziert am 19.8.2013 in Historisches Lexikon Bayerns, Zugriff 29.9.2018, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/Nürnberger_Prozesse.

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Opfer erst nach 1961, dem Jahr des Eichmannprozesses5, zum Objekt wissenschaftlicher Betätigung. In diesem Jahr erschien in den USA Raul Hilbergs (1926-2007) Hauptwerk The Destruction of the European Jews (dt. »Die Vernichtung der europäischen Juden«), das aber schon 1954 als Dissertation vorgelegen hatte.6 Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland wurde seine Arbeit von den Verlagen lange abgelehnt. Erst 1982 wurde sie auf Deutsch veröffentlicht; 1990 folgte die Taschenbuchausgabe. 1963 erschien Hannah Arendts (1906-1975) Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, das vom Eichmann-Prozess berichtete.7 Zwischen 1963 und 1966 fanden die Auschwitzprozesse8 statt, die von dem jüdischen Staatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968)9, der mehrere Internierungen überlebt hatte, vorangetrieben wurden. Das Thema wurde somit seitens der Justiz und nicht von den Historikern angestoßen.10 All dies hatte einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der deutschen Gesellschaft, beispielsweise auf die Studentenbewegung der 1960er Jahre. Als eine Reaktion auf die Studentenbewegung, die einforderte, sich der Vergangenheit zu stellen und die Diskussion in der akademischen und politischen Arena in Gang zu bringen, wurde die Forschung zum Nationalsozialismus intensiviert. Der Fokus seitens der Historiker lag dabei nicht auf dem Holokaust, sondern auf Themen wie Aufstieg und Machtergreifung der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) oder der Kriegsführung. Erst nach 1986 nahm die Forschung ein umfassendes Bild des Holokausts in ihren Blick.11 5 | Bundeszentrale für politische Bildung, »50 Jahre Eichmann-Prozess«, publiziert am 15.12.2011, Zugriff 29.9.2018, www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/ 68641/50-jahre-eichmann-prozess-15-12-2011. 6 | Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews (Chicago/Illionis: Quadrangle Books, 1961). 7 | Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (München: Pieper Verlag, 2006). 8 | Devin O. Pendas, Der Auschwitz-Prozess: Völkermord vor Gericht (München: Siedler Verlag, 2013). 9 | Ronen Steinke, Fritz Bauer: oder Auschwitz vor Gericht (München: Piper Verlag, 2015). 10 | Ulrich Herbert, »Holocaust-Forschung in Deutschland: Geschichte und Perspektiven einer schwierigen Disziplin«, in Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Hg. Frank Bajohr und Andrea Löw (Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2015), 42. 11 | Ulrich Herbert, »Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte«, in Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, Hg. Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (München: C. H. Beck, 2003), 101; Siehe auch Herbert, »Holocaust-Forschung«, 43-44.

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Weitere Impulse, die Holokaustforschung zu intensivieren, kamen von U. S.-amerikanischen Historikern und Medien. 1979 gelangte durch das Fernsehen ein Eindruck des Holokausts in deutsche Wohnzimmer: Die amerikanische Miniserie Holocaust, die, unter der Regie von Marvin Chomsky (geb. 1929), zuerst 1978 in den USA und 1979 in Deutschland ausgestrahlt wurde, erzählte die fiktive Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie im Nationalsozialismus.12 Diese Miniserie zog weitere Debatten über die Vergangenheit nach sich. Der Historiker Frank Bösch verweist darauf, dass im Nachgang der Ausstrahlung dieser Miniserie der Deutsche Bundestag 1979 die Verjährungsfrist für Mord aufhob.13 Unter anderem ausgelöst durch den Artikel des Historikers Ernst Nolte (1923-2016) vom Juni 1986 über das Andauern der Vergangenheitsdiskussion14, brach 1986/87 in Deutschland der sogenannte »Historikerstreit«15 aus, bei dem die Singularität des Holokausts zur Diskussion stand. Die Frage nach der Bedeutung des Holokausts für die nationale Identität des deutschen Staates erregte auch die Gemüter der breiten Öffentlichkeit und führte auf akademischer Ebene ein Jahr lang zu einer hitzigen Kontroverse. Vergleiche von Konzentrationslagern (KZ) mit sowjetischen Gulags wurden von dem Philosophen Jürgen Habermas (geb. 1929) als »historischer Revisionismus« entlarvt, d.h. als Versuch, durch Parallelen zu anderen Völkermorden und damit der Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, den Deutschen eine neue nationale Identität zu verschaffen. Eine NS-Forschung, die im Interesse eines neokonservativen Geschichtsbildes den Holokaust auf lediglich einen Völkermord unter vielen reduzierte und die Verbrechen der Nationalsozialisten als verständliche Reaktionen auf gegebene Umstände darstellte, wollte sich damit durch die Umschreibung der Geschichte der kollektiven Schuld entledigen.16 Die Singularität des Holokaust wird hingegen u.a. charakterisiert durch die staatlich verordnete und von willigen Beamten durchorganisierte Struktur des 12 | Jürgen Wilke, »Die Fernsehserie ›Holocaust‹ als Medienereignis«, Zeitgeschichte-online (März 2004), Zugriff 29.9.2018, www.zeitgeschichte-online.de/thema/ die-fernsehserie-holocaust-als-medienereignis.  13 | Frank Bösch, »Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft«, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (Januar 2007): 2. 14 | Ernst Nolte, »Vergangenheit, die nicht vergehen will«, Frankfurter Allgemeine Zeitung (6. Juni 1986). 15 | Ernst Reinhard Piper, Hg., »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung (Piper Verlag: München/Zürich, 1987). 16 | Jürgen Habermas, »Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung«, Die Zeit 29 (11. Juli 1986): 40, www.zeit. de/1986/29/eine-art-schadensabwicklung.

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Massenmords, die Entrechtung der deutschen Juden als deutsche Staatsbürger und die Beschlagnahmung ihres Vermögens ohne Entschädigung, sowie ihre Deportation zu den Todeslagern unter den Augen der übrigen Bevölkerung.

D e af H olok aust : G ehörlosengeschichte (D e af H istory) und der H olok aust Noch vor Ende der 1980er Jahre kam die Deutsche Holokaustforschung schließlich in Fahrt. Ganz gewöhnliche Menschen lasen über den Holokaust und diskutierten darüber. Die Frage, was Taubheit im Dritten Reich und Holokaust bedeutete, blieb davon jedoch fast gänzlich unberührt. Der Gehörlosenpädagoge Horst Biesold (1939-2000) forschte zur Zwangssterilisation tauber Menschen während des nationalsozialistischen Regimes. Seine Dissertation wurde, als ein Meilenstein in diesem Gebiet, 1988 in Deutschland veröffentlicht.17 Ein kleines Kapitel daraus beschäftigte sich erstmals wissenschaftlich mit tauben Juden. 1994 wurde die erste Ausstellung über die ehemalige Israelitische Taubstummen-Anstalt Berlin-Weissensee (ITA) 1873 bis 1942 durchgeführt.18 1998 wurde zum ersten Mal ein internationaler Kongress mit dem Titel »Deaf People in Hitlers Europe« vom United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) und der Gallaudet Universität in Washington D. C. veranstaltet. Im bescheidenen Kreise der Deaf Historiker war dieser Kongress der erste Schritt zur Sammlung von Daten und Fragestellungen betreffend Zwangssterilisierungen und Verfolgung tauber Personen (einschließlich tauber Juden).19 Es bestärkte mich persönlich, in diesem Bereich zu forschen. Auf dem darauf folgenden 6th Deaf History International Kongress in Berlin 2006, den ich aufgrund der Impulse der Tagung von 1998 initiierte und organisierte, wurden diese oft vage formulierten komplexen Themen erstmals als Hauptthemen innerhalb der Reihe der Deaf History Kongresse angegangen. In der Keynote führte ich den Begriff Deaf Holokaust ein, um die Erfahrung tauber Juden während der nationalsozialistischen Ära von angrenzenden Themen abzusetzen und sie so als eigenständigen und nicht zu ignorierenden For-

17 | Horst Biesold, Klagende Hände: Betroffenheit und Spätfolgen in Bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der ›Taubstummen‹ (Solms: Jarick Oberbiel, 1988). 18 | Vera Bendt und Nicola Galliner, Hg., ›Öffne Deine Hand für die Stummen‹. Die Geschichte der israelitischen Taubstummen-Anstalt in Berlin-Weissensee (Berlin: Transit Buchverlag, 1993). 19 | Donna F. Ryan und John S. Schuchman, Hg., Deaf People in Hitler’s Europe (Washington D.C.: Gallaudet University Press, 2002).

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schungsbereich innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaften und der Holokaustforschung zu etablieren.20 Allzu oft werden alle Gewaltakte des Dritten Reichs zum Holokaust gezählt. Obwohl die Zwangssterilisierung in der Tat eine unfassbar unmenschliche Grausamkeit war, gehört sie nicht zum Holokaust. Diejenigen, die die Sterilisation am eigenen Körper erfahren mussten, jedoch niemals die Todeslager zu Gesicht bekamen, waren also, streng genommen, keine Holokaustüberlebenden. Auch haben taube Zwangssterilisierte den Deaf Holokaust nicht erfahren. Ein plakativer Unterschied zwischen Zwangssterilisierung und Deaf Holokaust ist, dass es taube Personen gab, die sich freiwillig sterilisieren ließen, während es keine tauben Juden gab, die sich freiwillig für den Tod im KZ meldeten. Taube Juden wurden aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit im Holokaust verfolgt und deportiert; ihre Taubheit lieferte in der Selektion einen den Ausschlag gebenden Grund für ihre unmittelbare Ermordung im Lager, während hörende Inhaftierte eine vergleichsweise höhere Überlebenschance hatten. Die Benutzung der Gebärdensprache oder der Hinweis auf Taubheit reichte aus, um aufzufallen und seinen Tod zu riskieren. Diejenigen tauben Zeitzeugen, von denen wir das wissen, verdanken ihr Leben dem Umstand, dass sie ihre Taubheit völlig verschleiern konnten (so überlebten manche durch ihre Begleiter, die für sie dolmetschten und insistierten, dass sie nicht sprächen oder gebärdeten). Dem liegt die Frage der »Arbeitsfähigkeit« zugrunde.21 Im KZ reichte es, eine falsche Reaktion auf die Fragen und Befehle der Aufseher zu zeigen, geschweige denn zu gebärden, um auf der Stelle ermordet zu werden. So musste sich eine taube jüdische Überlebende im KZ aufgrund von »Ungehorsam« auspeitschen lassen, da sie die Befehle des Lageraufsehers nicht hören konnte. Um zu überleben unterließ sie es, sich als taube Person kenntlich zu machen.22 Insbesondere während der Selektion war es entschei20 | Mark Zaurov, »Deaf Holokaust«, in Overcoming the Past, Determining its Consequences and Finding Solutions for the Present: Proceedings of the 6th Deaf History International Conference July 31 – August 04, 2006 at the Humboldt University, Berlin, Hg. Mark Zaurov und Klaus-B. Günther (Hamburg: Signum Verlag, 2009), 173-197. 21 | Mark Zaurov, »Die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen als Beispiel von Volksgemeinschaftsbildung im Nationalsozialismus. Und heute?«, 4. Intern. Konferenz zur Holocaustforschung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), in Kooperation mit der Universität Flensburg und der Humboldt-Universität zu Berlin »Volksgemeinschaft Ausgrenzungsgemeinschaft, »Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933«, dbb Forum Berlin, 27. – 29. Januar 2013, Zugriff 29.9.2018, https://www.bpb.de/ veranstaltungen/dokumentation/154224/ein-recht-auf-die- eigene-geschichte. 22 | Mark Zaurov, »›Deaf Holocaust‹: Deaf Jews and Their ›True‹ Communication in Nazi Concentration Camps«, in Interpreting in Nazi Concentration Camps, Hg. Michaela Wolf (New York: Bloomsbury Press, 2016), 135-145.

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dend, ob man als »arbeitsunfähig« wahrgenommen wurde und somit in die Gaskammern geschickt wurde. Auch wenn man also jung, gesund und ebenso gut körperlich gebaut war, wie die als »arbeitsfähig« geltenden hörenden Insassen, war die Taubheit das entscheidende Kriterium für das Todesurteil. Dies ist die Grundlage für die Unterscheidung des Deaf Holokaust vom Holokaust. Der Begriff Deaf Holokaust eröffnet eine neue Perspektive, ein neues Feld für Geschichts-wissenschaftler auch ohne betreffende Spezialisierung.23 Günther List betont, dass »the specific minority history of the deaf also has to be integrated into the setting of ›general history‹ below the level of the Holocaust«.24 Obwohl Deaf History eine globale Disziplin ist, ist sie klein und marginal verglichen zum Kanon nationaler Historiografen; kaum ein Historiker der Mehrheitsgeschichtsschreibung kennt sich damit aus bzw. erkennt deren Relevanz. Dies trifft auch auf das Standardwerk zum Holokaust von Frank Bajohr und Andrea Löw aus dem Jahr 2015 zu, das eigentlich beansprucht »umfassend und auf dem neuesten Stand der Forschung in die Geschichte des Holocaust«25 einzuführen. Günther List definierte noch 1993 die von ihm bezeichnete »unterdrückte Geschichte der Gehörlosen« als verlorenes Interesse Hörender für die historische »Relevanz von Gehörlosengemeinschaften und Gebärdensprachen aus dem öffentlichen, wissenschaftlich versorgten Geschichtsbewusstsein, wo sie sehr wohl einmal präsent war«.26 Diese Unkenntnis verleitet dazu, alles, was mit tauben Menschen zu tun hat, im Gesundheits- oder Sozialwesen anzusiedeln, und zu erwarten, dass Information über taube Menschen, auch wenn sie in mühsamer akademischer Arbeit gesammelt wurde, kostenlos zur Verfügung stehen muss. So wurde nach List das angekündigte Pilotprojekt BISSGEN (Biographien zur Sprachlichen Sozialisation Gehörloser in Nordrhein-Westfalen) zu »Lebensgeschichten Gehörloser in einer oralistischen Welt« mangels Förderung nicht umgesetzt, obgleich die historische Forschung zur Taubheit bisher »kaum über Anfänge hinausgekommen ist«.27 Doch auch wenn diese 23 | Siehe Rezension von Leon Stein, »Overcoming The Past, Determining Its Consequences and Finding Solutions for the Present: A Contribution for Deaf Studies and Sign Language Education, edited by Mark Zaurov and Klaus-B. Günther (Seedorf: Signum Verlag, 2009)«, Holocaust and Genocide Studies 26, Nr. 2 (1. August 2012): 318320, https://doi.org/10.1093/hgs/dcs045. 24 | Günther List, »Minorization and integration: Deaf History within the Scope of General History«, in Overcoming the Past, Hg. Zaurov und Günther, 3. 25 | Frank Bajohr und Andrea Löw, Hg., Der Holocaust (Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2015), Pretext. 26 | Günther List, »Arbeitsfeld und Begriff der ›Deaf history‹ – ein Klärungsversuch«, Das Zeichen 25 (1993): 294. 27 | Günther List, »Lebensgeschichten Gehörloser in einer oralistischen Welt. Vorbemerkungen zu einem Pilotprojekt«, in Blick zurück. Ein Reader zur Geschichte von Ge-

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junge Disziplin wahrgenommen wird, ist der Blick von außen immer noch geleitet von allgemein vorherrschenden und entwertenden Vorurteilen über taube Menschen. Eines dieser klassischen Vorurteile setzt taube Menschen mit geistig behinderten Menschen gleich.

Z wangssterilisierung Um die Unterschiede zur Zwangsterilisation zu erklären, muss auf die nationalsozialistische Einteilung in »Volljuden« und »Halbjuden« (sog. »Mischlinge«) sowie nichtjüdische taube Menschen zurückgegriffen werden. Unabhängig vom Hörstatus wurden »gesunde Volljuden«, nach den Daten, die ich bis jetzt zusammengetragen habe, nicht zwangssterilisiert; taube »Halbjuden«, bzw. »Mischlinge«, jedoch schon. Die Zwangssterilisierung bei tauben »Halbjuden« wurde in der Praxis unterschiedlich gehandhabt. Insbesondere wenn diese heiraten wollten, mussten sie sich einer Zwangssterilisation unterziehen. »Volljuden« galten gemäß dem Arierparagrafen nicht als Deutsche und fielen somit nicht unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, mit dem die Zwangssterilisierung von »erbkranken Taubstummen« legitimiert wurde. Sie sollten das Land verlassen. Nachdem die Grenzen geschlossen worden waren, war geplant, Juden, einschließlich tauber Juden, in Konzentrationslager zu deportieren. Demnach waren keine weiteren Maßnahmen wie Zwangssterilisationen notwendig. Nichtjüdische erbkranke taube Menschen, mit und ohne taube Verwandte, wurden ebenfalls zwangssterilisiert. Auch in diesem Fall gab es willkürliche Anordnungen, vor allem wenn sie die einzigen tauben Menschen in der Familie waren. Neben dem Generalverdacht auf Erblichkeit der Behinderung waren für die Entscheidung der Ärzte althergebrachte Haltungen wie Ableism (Leistungsunfähigkeit) und Audism (Taube seien aufgrund ihrer Sinneseinschränkung minderwertig, unmündig und geistig behindert) maßgeblich.28 Als zwangssterilisierte Personen durften diese tauben Menschen aber nach der Operation weiterhin arbeiten und in das gesellschaftliche Leben zurückfinden. Zumindest hatten sie somit eine Überlebenschance. Nicht wenige gehörlose Anhänger der zeitgenössischen eugenischen und nationalsozialistischen Ideologie ließen sich sogar freiwillig sterilisieren29, um ihre vermeintlichen Erbkrankheiten nicht weiter zu verbreiten. Der Begriff hörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen, Hg. Renate Fischer und Harlan Lane (Hamburg: Signum Verlag, 1993), 594. 28 | Hans-Uwe Feige, »Taubstumme als Objekte medizinischer Experimente (ca. 200 v. Chr.–1815)«, Das Zeichen 74 (2006): 368-375. 29 | Biesold, Klagende Hände, 102.

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Zwangssterilisation unterschlägt dieses Phänomen. Nicht-deutsche Gehörlose in den jeweilig besetzten Ländern wie Frankreich oder Polen, mussten nichts befürchten, sie wurden nicht sterilisiert. Eine deutsche taube Frau konnte beispielsweise durch die Vermählung mit einem tauben Tschechen der Sterilisierungsanordnung entkommen.30 Dies verdankte sie dem »Ehegesundheitsgesetz«, dort stand in §5 (1): »Die Vorschriften dieses Gesetzes finden keine Anwendung, wenn beide Verlobten oder der männliche Verlobte eine fremde Staatsangehörigkeit besitzen.«31 Nicht-jüdische taube Menschen, die eine zusätzliche Behinderung hatten wie »Geisteskrankheit« oder Schizophrenie, fielen in einen weiteren nationalsozialistischen Aktionsplan: T4, von dem später die Rede sein wird. Relevant ist nun, dass diese Personen mit Zwangssterilisationen nichts zu tun hatten. Sie wurden aus der Gesellschaft isoliert, in Anstalten festgehalten und dem Tode geweiht.

Taube J uden Taube »Volljuden« waren aufgrund ihres Status als »Nichtarier« wie alle Juden von der auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 festgelegten »Endlösung« betroffen. Jüdische und nicht-jüdische taube Menschen waren vor 1933 in separaten Verbänden organisiert, gleichzeitig aber auch in gemeinsamen Vereinen aktiv. Antisemitismus war kein neues Phänomen, und die Riten und Bräuche der jüdischen Gemeinde wurden zumeist unter Ausschluss der nicht-jüdischen Mitgliedern der Gehörlosengemeinschaft zelebriert – vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten stand allerdings die kulturelle Identifikation mit der gesamten Gehörlosengemeinschaft deutlich im Vordergrund. Taube Juden und Nicht-Juden zelebrierten und pflegten ihre gemeinsame Sprache und Kultur in einem regen Vereinsleben miteinander.32 Bedingt durch das ab 1933 zunehmend institutionalisierte antisemitische Klima geriet die jüdische Identität tauber Juden zunehmend in den Vordergrund. Sie wurden nicht nur von hörenden Personen diskriminiert, sondern auch von ihren tauben nicht-jüdischen Freunden und Bekannten ausgegrenzt, welche die nationalsozialistische Ideologie teilweise schon vor Hitlers Machtergreifung angenommen hatten. 1927 wurde Fritz Albreghs (1892-1945) erster Präsident des im selben Jahr gegründeten Reichsverbands der Gehörlosen in 30 | Ebd., 89. 31 | Ebd., Fußnote 40, 230. Gemäß RGBl, Jg. 1935, Teil I, 1246. 32 | Jüdische Rundschau, 15.8.1933; siehe auch Biesold, Klagende Hände, 201; Anne C. Uhlig, Ethnographie der Gehörlosen. Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft (Bielefeld: transcript Verlag, 2012).

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Deutschland (REGEDE). Nachdem er ein Jahr später ein jüdisches Vorstandsmitglied antisemitisch angegriffen hatte, trat er zurück, um anschließend mit anderen ein Sektionsbüro der NSDAP für Gehörlose in Berlin zu etablieren, das 200 Mitglieder gewann.33 In den lokalen und regionalen Vereinen und im REGEDE mussten ab 1933 Führungspositionen an nicht-jüdische Mitglieder abgegeben werden. Alle jüdischen Mitglieder wurden ausgeschlossen.34 Nun war es unmöglich, innerhalb der Gehörlosengemeinschaft beides gleichermaßen zu sein: taub und jüdisch. Eine der Identitäten musste vorrangig, die andere nachrangig sein, um sich in der Gesellschaft verorten zu können. Noch heute konkurrieren die beiden Identitäten, denn die Vorstellung, dass alle tauben Menschen aufgrund ihrer Behinderung eine »Schicksalsgemeinschaft« bilden, lässt wenig Platz für Diversität innerhalb dieser Gemeinschaft. Das Vorurteil, alle tauben Menschen seien sich gleich, wird in der Forschung unter dem Stichwort »Deaf Same« gerade dekonstruiert.35 Dieses Bedürfnis nach einer Homogenität innerhalb der Gehörlosengemeinschaft spielt auch heute bei der Aufarbeitung bzw. Verdrängung des Themas T4 eine entscheidende Rolle, worauf noch einzugehen sein wird. Vor allem seitens größerer jüdischer Organisationen wurden taube Juden aufgrund von althergebrachten orthodoxen Einstellungen zur Hörfähigkeit seit jeher schwerwiegend diskriminiert. Sie bekamen z.B. keine Unterstützung bei der Emigration nach Palästina oder in die USA, da sie als »behinderte« und folglich nicht erwerbstätige Menschen dem Staat auf der Tasche lägen (so spiegeln es Einwanderungsregeln auch heute noch wider).36 Aufgrund von Antisemitismus und dem Wunsch, unter sich zu sein, gründeten taube Juden ihre eigenen Vereine und Institutionen. Sie stießen damit seitens der nicht-jüdischen tauben Gemeinschaft immer wieder auf Unverständnis und Kritik. Folgende Vereine und Institutionen gehörloser Juden bestanden in Berlin:

33 | Mark Zaurov, »Taube Juden als transnationale ›hybrid imagined community‹ – Ein Forschungsgegenstand im Spannungsfeld von Deaf History und Deaf Studies«, Das Zeichen 94 (2013): 246-255. Siehe auch Nachtrag der Redaktion hierzu in Das Zeichen 95 (2013): 401. 34 | Biesold, Klagende Hände, 201. 35 | Mark Zaurov, »Deaf Jewish Space and ›Deaf-same‹: The International Conferences of Deaf Jews in the Twentieth Century«, in It’s a Small World: International Deaf Spaces and Encounters, Hg. Michele Friedner und Annelies Kusters (Washington D.C.: Gallaudet University Press, 2015), 34-36. 36 | Douglas C. Baynton, Defectives in the Land: Disability and Immigration in the Age of Eugenics (Chicago: University of Chicago Press, 2016).

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1. Die Israelitische Taubstummen-Anstalt Berlin-Weissensee (ITA) von 1873 bis 1942; 2. Der Verein zur Förderung der Interessen der israelitischen Taubstummen Deutschlands e.V., der 1896 gegründet wurde und noch 1936 sein 40. Jubiläum feiern konnte; 3. Der Verein ehemaliger Zöglinge der Israelitischen Taubstummen-Anstalt zu Weissensee e.V. (VEZ), der von 1908 bis 1935 existierte. Er hatte zudem eine eigene Jugendsektion und Sportabteilung; 4. Ein Altersheim für jüdische Taubstumme mit eigener Synagoge, das 1912 errichtet wurde; 5. Eine Wärmestube für bedürftige taube Juden in Rosenthaler Strasse 19, die ebenso für gesellige Feiern benutzt wurde; 6. Die Zeitschrift für taube Juden mit dem Titel Das Band, die bis 1937 erschien37; 7. Der Weltbund der jüdischen Taubstummen, gegründet 1931. Diese Organisationen waren von Anfang an in ein internationales Netzwerk eingebettet. Zusammen mit Vertretern von Vereinen tauber Juden in Polen, der Tschechoslowakei, Frankreich, Ungarn und weiteren Ländern, gründeten deutsche taube Juden in Prag 1931 einen Weltverband. Der dem Gründungskongress folgende Kongress war für 1934 in Berlin geplant. Nach Hitlers Machtergreifung waren dem Verband jedoch die Hände gebunden. 1977 fand sich die Gemeinschaft in der World Organization of Jewish Deaf (WOJD) wieder zusammen, die ausgerechnet von zwei ehemaligen deutschen Schülern der Israelitischen Taubstummen-Anstalt in Berlin-Weissensee (ITA), die noch rechtzeitig ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina auswandern konnten, gegründet wurde.38 Vor dem zweiten Weltkrieg gab es also eine blühende, transnationale imaginierte taub-jüdische Gemeinschaft; und sie war alles andere als homogen: Man kommunizierte in vielerlei Sprachen und Soziolekten Europas, in gesprochener oder geschriebener Form, auf Hebräisch, oder bediente sich spezifischer Ausdrucksformen der Gebärdensprachgemeinschaft (Lippenlesen, internationale Gebärden und die jeweiligen nationalen Gebärdensprachen samt ihren Dialekten). Ethnische und religiöse Affiliationen waren ebenso vielfältig unter 37 | Das genaue Ersterscheinungsdatum ist ungewiss. Da 1928 vom 3. Jahrgang gesprochen wurde, kann vermutet werden, dass die 1. Ausgabe 1926 veröffentlicht worden war. 38 | Zaurov, »Deaf Jewish Space« wie auch Mark Zaurov »A Postcolonial Approach to Deaf Jews as a Cultural Minority in the Field of Deaf Studies«, in Conference Proceedings of »Deaf Studies Today! 2010: Beyond Talk, Orem«, UT, Hg. Bryan K. Eldredge et al. (Utah Valley: University Press, 2015), 273-283.

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dem großzügigen Label der jüdischen Diaspora. Es bestand und besteht ein hoher Grad an Hybridität: Das Jüdisch-Sein ist ein Identitätsraum für sich, und das Taub-Sein ein zweiter; Hybridität stiftet einen dritten Raum, der beide Identitäten sowohl heterogen als auch in Kontinuitäten in sich vereinigt.39 Es war eben nicht das Thema, entweder jüdisch oder deutsch, polnisch oder ungarisch zu sein und dabei entweder taub, schwerhörig oder spätertaubt, an der hörenden Welt orientiert, oder an der Gebärdensprachgemeinschaft, säkular atheistisch oder orthodox – diese Identitäten flossen ineinander über, und man war all dies mehr oder weniger gleichzeitig. 1936 wurden die oben unter 2. und 3. genannten unabhängigen Organisationen mit dem Verein zur Förderung der Interessen der israelitischen Taubstummen Deutschlands e.V. und dem Verein ehemaliger Zöglinge der Israelitischen Taubstummen-Anstalt zu Weissensee e.V. (VEZ) zur Selbsthilfegruppe der jüdischen Gehörlosen, kurz S.j.G gleichgeschaltet und mit den deutsch-jüdischen Vereinen der Schwerhörigen, Körperbehinderten und Blinden zusammen unter die Leitung der Selbsthilfegemeinschaft der jüdischen Körperbeschädigten in Deutschland gestellt, die von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden gegründet worden war – ein historischer Umstand, der nicht einmal in der Chronik zum 100jährigen Bestehens der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST)40 erwähnt wurde.41 Durch das Überstülpen des Stigmas der Behinderung machte das nationalsozialistische Regime die vielfältigen taub-jüdischen Identitäten zunichte, bremste Vorstöße zu ihrer Emanzipation aus, und machte die Pflege ihrer eigenen Kulturen und Sprachen unmöglich. An dieser Stelle möchte ich resümieren, dass taube Juden zur Zeit des Nationalsozialismus von der hörenden Mehrheit in der Gesellschaft nicht als gleichwertig, sondern als »Andere« stigmatisiert wurden. Darüber hinaus wurden sie weder von der ebenso verfolgten jüdischen Minderheit als Teil einer hörenden (jüdischen) Mehrheit, noch von ihren nichtjüdischen tauben Mitbürgern akzeptiert. Diese doppelte Diskriminierung dringt durch den omnipräsenten Opferstatus von einerseits jüdischen und andererseits gehörlosen Menschen kaum in das öffentliche Bewusstsein.42 Es gab durchaus viele taube 39 | Homi Bhabha, The Location of Culture (London: Routledge, 1994). 40 | Die heute bekannte Abkürzung »ZWST« bezieht sich auf die erst nach dem Kriegsende geänderte Namensbezeichnung der Organisation. 41 | Verena Buser, 100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (19172017). Eine Chronik (Frankfurt a.M.: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.), Zugriff 29.9.2018, www.zwst.org/medialibrary/pdf/zwst-100-jahre-chronik-RZupdate-web.pdf. 42 | Mark Zaurov, Gehörlose Juden – Eine doppelte kulturelle Minderheit (Frankfurt: Peter Lang Verlag, 2003).

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Menschen, die dem Nazi-Regime enthusiastisch zujubelten, der Hitlerjugend und der SA beitraten, sich freiwillig sterilisieren ließen und ihre jüdischen Bekannten denunzierten. Es gab in Ungarn taube Pfeilkreuzler (eine paramilitärische Organisation ungarischer Bürger, ähnlich wie SA und SS in Deutschland), die taube Juden verfolgten.43 Zur Rechenschaft wurde in Deutschland deswegen bislang niemand gezogen, im Gegensatz zu Ungarn, wo Gerichtsverfahren gegen taube Pfeilkreuzler angestrengt, Urteile gefällt und damit der generelle Opferstatus relativiert wurde.44

D er G edenkort »A k tion T4« Die Praxis, das Stigma der Behinderung verschiedenen Opfergruppen zusammenfassend überzustülpen, findet ihren Nachhall in der heutigen Erinnerungspolitik zur »Aktion T4«. Ein Gedenkort, an dem alle behinderten Menschen als Opfer in einer Kategorie zusammengefasst werden, in die scheinbar alle hineinpassen, ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Auf diese Weise erfahren auch »taube Täter« eine Würdigung als »taube Opfer«. Die nationalsozialistischen Maßnahmen zur Euthanasie sind bekannt als »Aktion T4«. Sie wurden nach dem Planungs- und Verwaltungsgebäude in der Berliner Tiergartenstrasse 4 so benannt.45 Die »Aktion T 4« verfolgten das Ziel der »Rassenreinheit« durch die Tötung sogenannten »lebensunwerten Lebens«: Diejenigen, die in Anstalten schon sozial isoliert lebten, sollten getötet werden‹ um dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen. Sie galten als »arbeitsunfähige ›Schmarotzer‹«.46 Geistig behinderte, mehrfachbehinderte, unheilbar psychisch und physisch kranke Menschen, darunter sogar Arier und Kinder, wurden beispielsweise durch Todesspritzen, in Spezialfahrzeugen mit Kohlenmonoxidkammern oder einfach durch Verhungern und Vernachlässigung ermordet. Unter der Vielzahl der T4-Opfer fand sich auch eine äußerst geringe Anzahl tauber Menschen, die gleichzeitig mentale Einschränkungen hatten, also mehrfachbehindert waren, und dadurch als »nicht arbeitsfähig« galten. 43 | Zaurov, »Taube Juden«, 250. 44 | Gespräch des Autors mit dem tauben ungarischen Deaf Historiker Adrian Kacsinko am 5. Oktober 2014 in Budapest. 45 | Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Landesverband Berlin e.V., »Gedenkort–T4.eu«, 2018, Zugriff 29.9.2018, www.gedenkort-t4.eu/de. Siehe auch zum Hintergrund des Krankenmords Ernst Klee, »Euthanasie« im Dritten Reich. Die Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, vollständig überarbeitete Neuausgabe (Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 2010 [1983]). 46 | O.V., »Graue Todesbusse erinnern an Opfer der Nazis«, 26.1.2007, Zugriff 29.9.2018, http://archive.fo/GAJda.

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Nur ein verschwindend geringer Teil der T4-Opfer war zusätzlich zu ihrer schwerwiegenden Behinderung, auch taub. Und dennoch erlebe ich es als Aktivist aus meiner persönlichen Erfahrung bis heute oft, dass, wenn es um die Diskussion des Deaf Holokaust geht, Entscheidungsträger und Forscher taube Menschen im Nationalsozialismus grundsätzlich als Euthanasieopfer sehen. Rainer Klemke von der Berliner Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten, beispielsweise, verstand die Tiergartenstraße 4 (Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde) als den Ort, an dem taube Menschen zusammen mit anderen Gruppen von Menschen mit Behinderung schon einen Gedenkort hätten; daher sei ein eigenes Denkmal, bzw. ein eigener Gedenkort überflüssig.47 Die Zwangssterilisierungen wurden aber bereits mit dem schon 1933 verabschiedeten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses legitimiert, während die »Aktion T4« erst 1939 einsetzte. Keine der Maßnahmen innerhalb der »Aktion T4« betraf konkret die Zwangssterilisierungen, stattdessen ging es um die Ermordung psychisch kranker Menschen sowie Menschen mit Behinderungen. Die nicht näher erläuterte Erwähnung von Zwangssterilisierungen im Rahmen der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Euthanasie stützt diese falsche Annahme, anstatt einen differenzierten Blick freizugeben. Der folgende Text, der sich auf Zwangssterilisationen bezieht, ist z.B. am Gedenkort T4 angebracht und lässt dadurch die Schlussfolgerung zu, dass Zwangssterilisationen zur »Aktion T4« gehörten: »Aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 wurden bis zu 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert weil sie angeblich an ›angeborenem Schwachsinn‹, ›Schizophrenie‹, ›erblicher Taubheit‹, einer anderen als erblich geltenden Krankheit oder schwerem Alkoholismus litten.«48 Es wäre wünschenswert, den Informationstext des Gedenkortes dahingehend zu differenzieren, dass taube nicht-behinderte NichtJuden und Juden nicht unter die »Aktion T4« fielen. Die undifferenzierte Nennung von geistig behinderten Menschen in einem Zuge mit tauben Menschen speist sich aus dem hartnäckigen, althergebrachten Stigma, taube Menschen wären grundsätzlich in ihrer Denk- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt und unmündig. Dieses Stigma legitimiert medizinische Intervention. Der selbständige taube jüdische Tischlermeister Marcus Milet beispielsweise war schon im Rentenalter, als er 1943 aufgrund von Zwangsarbeit an Frostbeulen litt und ins Berliner Jüdische Krankenhaus eingeliefert wurde. Er wurde dort von seinen vier tauben Söhnen und anderen 47 | Diese Äußerungen führten dazu, dass ich 2011 eine Tagung über die Erinnerungspolitik der Gedenkstätten und Museen über taube Juden initiierte. Die Diskussionen dieser Tagung überzeugten Herrn Klemke. Auf die auch Dank seines Einsatzes schließlich aufgestellten digitalen Info-Tafel komme ich noch zu sprechen. 48 | Auszug aus dem Informationstext des Gedenkortes T4 in Berlin.

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tauben Juden besucht49, bis er plötzlich nicht mehr da war. Auf Nachfrage erfuhr sein Sohn von der Krankenschwester, dass er eingeschläfert worden war und die Deportation wegen der Diabetes sowieso nicht überlebt hätte.50 Bei einem mündigen, nicht tauben Menschen wäre diese »Sterbehilfe« nicht geleistet worden, daher handelt es sich auch in diesem Fall um Euthanasie. Auch gegenwärtig ist das oben genannte Stigma präsent. Gentests ermutigen Abtreibungen. Hörprothesen sollen Kleinkindern auch gegen den Willen ihrer Eltern implantiert werden; aufgrund einer Klage wird dies gerade juristisch ausgefochten.51 Bereits im Jahr 2010 befürworteten Sabine Müller und Ariana Zaracko in einem Artikel das Recht des Kindes auf ein Cochlea Implantat (CI), welches durch den Staat durchgesetzt werden solle.52 Dem gegenüber warnt Jürgen Habermas vor der Praxis einer »liberalen Eugenik«, wenn er die Frage stellt, ob »wir auf diesem Wege das normative Selbstverständnis von Personen, die ihr eigenes Leben führen und sich gegenseitig die gleiche Achtung entgegenbringen, unterminimieren«.53 Nach meiner persönlichen Erfahrung lässt sich der Einbezug der tauben zwangssterilisierten Opfer in den Gedenkort T4 mit internalisierten Ausgrenzungsmechanismen der Mehrheitskultur bezüglich Minderheitenkulturen wie der Gehörlosenkultur, begründen. Wie oben erwähnt, reproduziert die Minderheit der Gehörlosengemeinschaft das Ideal der Homogenität in Bezug auf ihre eigenen Mitglieder. Grundsätzlich identifiziert sie sich dabei als kulturell-sprachliche Minderheit. Im Falle des Gedenkorts T4 weichen die vereinspolitischen Vertreter dieser Gemeinschaft allerdings von diesem Ideal ab. Um ein Minimum an Anerkennung zu erlangen, nehmen sie die Eingruppierung mit Behindertengruppen in Kauf. Obwohl Ausgrenzung und Antisemitismus innerhalb der Gehörlosengemeinschaft an der Tagesordnung sind, interessieren sich die Verbände meiner Ansicht nach noch zu wenig für eine differenzierte Aufarbeitung der NSZeit. Der Deutsche Gehörlosenbund (DGB) hat sich als Nachfolgeverband des REGEDE (Reichsverband der Gehörlosen in Deutschland) erst 2008, nach 49 | Es existiert ein Foto dieses Besuchs mit Erwin Kaiser, dem damaligen Vorsitzenden des Vereins zur Förderung der Interessen der israelitischen Taubstummen, der 1937 aufgelöst wurde und in dem Milet Mitglied war (Privatbesitz). 50 | Persönliche Kommunikation mit dem tauben Enkel in Berlin. 51 | Thomas Mitterhuber, »Die Pforte zum CI-Zwang«, DGZ 11 (2017), http://gehoerlo senzeitung.de/zwang-cochlea-implantat-familiengericht/. 52 | Sabine Müller und Ariana Zaracko, »Neuroethik & Neurophilosophie: Haben gehörlose Kleinkinder
ein Recht auf ein Cochleaimplantat?«, Nervenheilkunde 4 (2010): 173-256. 53 | Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 1. Auflage (Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2005), 54-55.

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etlichen Aufforderungen, in Anwesenheit von mir als Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Gehörlose jüdischer Abstammung in Deutschland e.V. (IGJAD), dem deutschen Nachfolgeverband des damaligen Vereins für deutsche taube Juden und dem Israelischen Gehörlosenverband, für den damaligen Ausschluss formal entschuldigt. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Verfolgung tauber Juden innerhalb des REGEDE hat es seitens des DGB allerdings seither nicht gegeben. Der allgemeine Opferstatus, an dem sowohl die hörende Mehrheitsgesellschaft, als auch die Gehörlosengemeinschaft trotz einzelner Hinweise von beispielsweise Jochen Muhs54 festhalten, steht somit einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Gehörlosengemeinschaft im Wege. Der Einbezug von Zwangssterilisation in den Gedenkort T4 dient verschiedenen Interessen. Die Mehrzahl der als zunächst »arbeitsfähig« kategorisierten deutschen tauben Opfer im Nationalsozialismus war, wie schon dargestellt, von Zwangssterilisierung und Deaf Holokaust betroffen. Die generelle Einordnung tauber Opfer in den Gedenkort T4 lässt allerdings die Opfergruppe der tauben Juden außen vor. Außerdem blendet sie die Möglichkeit aus, taube Menschen auch als Täter zu sehen. Denn gehörlose Nazis, die sich aus Überzeugung heraus freiwillig sterilisieren ließen, sind keine Opfer.55 Obwohl eine differenzierte Erinnerung an zusätzliche Aspekte der tauben Erfahrung der NS-Zeit schon durch die Errichtung weiterer Gedenkorte oder Mahnmale ermöglicht werden könnte, werden weitere Gedenkorte von den zuständigen Behörden als konkurrierende Orte verstanden, deren Wert mit jedem weiteren inflationär verfiele.56 Neben willkommenen Kosteneinsparungen bestärkt meines Erachtens die in Betroffenenverbänden verankerte Vorstellung einer einheitlichen tauben Opfergruppe das ebenso willkommene Selbstverständnis des normierenden unversehrten und potenten Körpers. Auf diese Weise wird im gleichen Zuge noch heute eine Stigmatisierung und Diskriminierung tauber Menschen entgegen der UN-BRK gebilligt.

54 | Jochen Muhs, »Deaf People as Eyewitnesses of National Socialism, translated by Robert Harmon«, in Deaf People in Hitlers Europe, Hg. Donna F. Ryan und John S. Schuchman (Washington D.C.: Gallaudet University Press, 2002), 78-97. 55 | Siehe auch Mark Zaurov »Der ›erbkranke‹ Schläger«, DGZ 5 (2018): 16-18. 56 | Korrespondenz der Berliner Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten vom 10. September 2010 und Email vom 29. Mai 2017 an mich als Vorsitzenden des IGJAD.

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D ie jüdische G ehörlosengemeinschaf t im H olok aust erinnern und wiedererfinden – eine F r age der M enschenrechte Nach langwierigem Kampf gelang es Minderheiten wie den Sinti und Roma, homosexuellen Menschen und Euthanasieopfern, Anerkennung durch ihnen gewidmete Gedenkorte und Denkmäler zu finden. Ihre Erfahrungen werden neben denen der Juden schon in einschlägigen Institutionen und Museen repräsentiert – die Erfahrung der Gehörlosengemeinschaft wird dort jedoch nicht erzählt. Außerhalb der Deaf History und Deaf Studies gibt es – zumeist aus Geldmangel – keine Foren für Konferenzen, die sich mit dem Deaf Holokaust beschäftigen, es gibt keine Ausstellungen oder anderweitiges Material, das der allgemeinen Öffentlichkeit frei verfügbar wäre. Nach Art. 30, Abs. 2 und 4 der UN-BRK haben taube Menschen ein Recht auf ihre Kultur und Identität. Das schließt das Recht auf eine für die gesamte Gesellschaft zugängliche unverzerrte Repräsentation ihrer Vergangenheit ein: Artikel 30 […] Absatz 2: Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft. […] Absatz 4: Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschließlich der Gebärdensprachen und der Gehörlosenkultur. 57

Nicht nur wird ungenügend an den Deaf Holokaust erinnert, auch Teilhabe an die Erinnerung an andere Opfergruppen ist tauben Menschen nur unzureichend möglich. So mangelt es an vielen Gedenkorten immer noch an einer Präsentation der Informationstexte in Gebärdensprache. Ein Grund dafür ist die fehlgeleitete Annahme, dass Schrifttexte genügen, denn taube Menschen könnten doch lesen.58 Auch wenn der Text in leichter Sprache vorhanden ist, 57 | Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Hg., »Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen«, Dezember 2011, Zugriff 29.9.2018, www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/ a729-un-konvention.pdf?__blob=publicationFile. 58 | Während der Tagung »Preserving Survivors´ Memories Digital Testimony Collections about Nazi Persecution History, Education and Media« am 22. November 2012 sprach die Vertreterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen vollmundig von Barrierefreiheit.

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muss die Gedenkstätte im Sinne der Barrierefreiheit und der UN-BRK (Selbstbestimmung und Recht auf die eigene Sprache) mit Gebärdensprache, etwa auf Video, ausgestattet sein. Vor allem jedoch fehlen sowohl ein Gedenkort für taube Juden, wie auch ein Museum, das die komplexe Bandbreite der Geschichte der Gehörlosen in Deutschland wiedergibt. Beispielsweise müsste im Sinne der Diversität und in Berücksichtigung der UN-BRK im Ort der Information des Holokaust Denkmals in Berlin ein Platz für taube Juden bereitgehalten werden. Auch Ressourcen für Forschung, die nach einer Notwendigkeit für weitere Mahnmale fragt, sind kaum vorhanden. Forschung zum Thema Deaf Holokaust gestaltet sich immer noch als extrem mühselig. Archive, wie beispielsweise das Bundesarchiv, markieren das dort vorhandene relevante Material nicht mit Schlüsselwörtern wie »taub« und machen damit eine statistische Erhebung unmöglich. Als Grund für die Ablehnung solcher Schlüsselwörter wurde angegeben, dass diese einer Stigmatisierung wie in NS-Zeiten gleichkäme.59 Diese Unterlassung bedeutet, dass das Bundesarchiv die kulturelle Minderheit der Gehörlosen verkennt und sie stattdessen, legitimiert durch einen Behindertenstatus, als behinderte Opfer betrachtet. Opfer wie diejenigen der »Aktion T4« stehen unter besonderem Datenschutz: Zum Schutz von Angehörigen und Nachkommen werden Namen nicht angegeben.60 Für die Forschung stellt das eine Barriere dar. Eine statistische Erhebung wäre notwendig, um mit einer soliden Quellenbasis zu gehörlosen Juden die Forschung voran zu treiben. Dafür werden entsprechende Ressourcen benötigt. Während meines European Holocaust Research Infrastructure (EHRI)-Fellowships wurde mir von vor Ort in Yad Vashem tätigen Mitarbeitern mitgeteilt, dass im Interview-Projekt mit tauben Holokaust-Überlebenden bevorzugt höAls ich zum Thema Gebärdensprach-Filme nachfragte, stieß ich allerdings auf Barrieren. Untertitel seien ausreichend, versicherte sie. Jahre später bei der Tagung »Zwangsarbeit« im Museum der Arbeit in Hamburg kam im Gespräch auf, dass es taube Häftlinge im KZ Bergen-Belsen gab, und man werde diese in der Ausstellung thematisieren. Allerdings wurde das mit Verweis auf eine Haushaltssperre nie umgesetzt. Erinnerungsschreiben blieben vom Leiter bislang unbeantwortet. 59 | Persönliche Kommunikation mit Herr Dr. N. Zimmermann vom Bundesarchiv bei der internationale EHRI-Tagung »Public History of the Holocaust. Historical Research in the Digital Age« im Jüdischen Museum Berlin, 9. Juli 2013. 60 | Udo Dittmann, »Bericht zur Veranstaltung ›Den Opfern einen Namen geben – Gedenken und Datenschutz im Zusammenhang mit der öffentlichen Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken‹ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, Berlin am 29. Juni 2016«, Nov. 2016, Zugriff 29.9.2018, https://docplayer.org/54873973-Den-opfern-einen-namen-geben.html. Persönliche Kommunikation von Udo Dittmann an Mark Zaurov, Email vom 12.12.2016.

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rende Interviewer eingesetzt wurden, da einmal mit einer tauben Interviewerin, die keinerlei akademische Qualifikationen im Bereich Geschichte hatte, schlechte Erfahrungen gemacht worden seien. Hörenden Interviewern wurden sogar zusätzliche Mittel für Dolmetscher zur Verfügung gestellt. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass ein Dolmetscher Distanz schafft. Kulturelle Unterschiede zwischen hörenden und Gehörlosenkulturen können leicht Missverständnisse im Interview verursachen und verhindern, dass Vertrauen im Gespräch aufgebaut wird. Dieser Vertrauensverlust hat zur Folge, dass Interviews mit hörenden Interviewern und Dolmetschern oberflächlicher bleiben, als Interviews zwischen zwei tauben, direkt kommunizierenden Gesprächspartnern. Die Qualität des Zeitzeugenberichts bleibt dabei auf der Strecke. Dabei wäre das peer-to-peer-Verhältnis entsprechend der UN-BRK zu fördern.61 In meiner Analyse von Interviews mit tauben Holokaust-Überlebenden mittels Gebärdensprachdolmetschern aus dem Fortunoff-Archiv der Yale-Universität wurden verschiedene Einflussfaktoren von Dolmetschern auf Interviews festgestellt, beispielsweise Auslassungen, Hinzufügungen sowie Vorannahmen und Projektionen auf die Gesprächspartner. Die bei diesen Interviews eingeblendeten englischen Untertitel basierten auf dem Translat des Dolmetschers und den Äußerungen des hörenden Interviewers, nicht jedoch auf den gebärdensprachlichen Äußerungen der Zeitzeugen.62 Bei vielen anderen Interviews im Archiv von Yad Vashem wurde aufgrund der Verdolmetschung aus der jeweiligen Gebärdensprache in die akustische Sprache keine Untertitelung finanziert. Das baut Barrieren für taube Forscher auf, die die Gebärdensprachen der Zeitzeugen (zumeist die israelische oder russische) nicht beherrschen. Trotz des Gebotes der UN-BRK wird ihnen so der freie Zugang zu Wissenschaft und Bildung verwehrt.63 Das beruht auf der irrigen Annahme, dass es nur eine universelle Gebärdensprache gäbe, die alle tauben Forscher verstünden. Dabei gibt es wie bei Lautsprachen gravierende linguistische Unterschiede zwischen nationalen Gebärdensprachen. Interviews mit hörenden Überlebenden, die mit tauben Eltern oder Geschwistern aufgewachsen sind (CODA – Children of Deaf Adults, auch SODAs – Siblings of Deaf Adults), weisen leider auch keine Untertitel auf. Dabei sind diese Quellen unmittelbar relevant für Deaf History und Deaf Holocaust Studies, um 61 | Mark Zaurov, »Against Audism in Interviews with Deaf Holocaust Survivors«, in ILOHA – The Israel Oral History Association No. 9, Hg. The Oral History Division, The Hebrew University Jerusalem (Dezember 2012): 16-21. Siehe auch Mark Zaurov, »Against Audism in Interviews with Deaf Holocaust Survivors«, European Holocaust Research Infrastructure (EHRI), Zugriff 29.9.2018, https://ehri-project.eu/against-audism. 62 | Dittmann, »Bericht zur Veranstaltung ›Den Opfern einen Namen geben‹«. 63 | Gespräche mit der Verantwortlichen wurden mit dem Hinweis abschlägig beschieden, dass dann anderweitig Gelder fehlen würden.

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Wissen über die tauben jüdischen Eltern und Familienmitglieder zu sammeln. Hörende Familienmitglieder fungieren oft als Sprachmittler und können viel Aufschluss über die Kommunikationssituationen und vieles andere geben. Laut UN-BRK ist aber nicht nur der Zugang tauber Menschen zur hörenden Gesellschaft sicher zu stellen, sondern auch der umgekehrte Informationsfluss. Eine kürzlich von mir erstellte DVD mit Unterrichtsmaterial über taube Menschen in der NS-Zeit mit dem Titel Deaf Holokaust. Deutsche taube Juden und taube Nationalsozialisten. In Deutscher Gebärdensprache 64 wurde nach langem Ringen mit Projektmitteln der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), der Jewish Claims und der Berliner Staatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft realisiert. Allerdings wurden Mittel für eine Untertitelung, diesmal für hörende Rezipienten, die keine oder nur rudimentäre Gebärdensprachkenntnisse haben, für nicht notwendig erachtet. Durch ein Folgeprojekt könnten Untertitel hinzugefügt werden, wenn die Träger den Gewinn für die allgemeine Gesellschaft wertschätzen könnten, den ein solch intensiver Einblick in eine relativ unbekannte und dennoch allgegenwärtige Kultur und Sprache mit sich bringt. Wichtiger noch ist die neue Perspektive auf die Vergangenheit und Gegenwart, die diese DVD allen Betrachtenden bietet, die zusammen mit weiteren Perspektiven aus der deutschen Gesellschaft erst das detaillierte Selbstbild einer vielfältigen Gesellschaft entstehen lässt. Die Ratifizierung von Menschenrechten für behinderte Personen ist von fundamentaler Bedeutung, insbesondere für solche Länder, in denen die entsprechende nationale Gesetzgebung große Lücken aufweist, wie beispielsweise Israel. Yad Vashem setzt zwar Dolmetscher zur Gewährleistung von Barrierefreiheit ein. Doch aus wirtschaftlichen Gründen werden deren angemessenes Ausbildungsniveau, eine am Sprachbedarf der tauben Senioren orientierte Qualifikation sowie professionelle Arbeitsbedingungen nicht berücksichtigt. Man müsste sich den Aufschrei der Empörung vorstellen, wenn Dolmetscher unter solchen Bedingungen bei den Vereinten Nationen eingesetzt würden! Hier kann im Umgang mit tauben Menschen nur von einer Fassade der Barrierefreiheit gesprochen werden. Einschlägige Institutionen, wie Yad Vashem, die hiesige Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas oder das Deutsche Historische Museum sehen keinen Grund, den oben genannten Artikel 30, Abs. 4 auf die Inhalte ihrer Workshops, Symposien oder ihrer ständigen Ausstellung anzuwenden und somit den Deaf Holokaust anzuerkennen. Kostengründe werden diesbezüglich vorgeschoben, so dass der Eindruck entsteht, dass taube Menschen nicht zu den Prioritäten der Institutionen gehören. Wäre 64 | Mark Zaurov, »Deaf Holokaust. Deutsche taube Juden und taube Nationalsozialisten. In Deutscher Gebärdensprache«, (DVD und Begleitheft) produziert von der Interessengemeinschaft Gehörlose jüdischer Abstammung in Deutschland e.V. (IGJAD), 2015, Zugriff 29.9.2018, www.ig jad.de/deutsch/dvd_bestellen.html.

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das Thema wichtig, wären Kosten kein Hindernis. Hier wäre das Bundeskultusministeriums (BKM) in der Pflicht, Signale durch die Verteilung von Mitteln an einschlägige Institutionen zu setzten. Diese Chance wurde jedoch kürzlich bei der Neugestaltung des Orts der Information vertan. Um Aufmerksamkeit für diese Diskrepanz zu erregen, organisierte ich über die Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland e.V. (IGJAD) am 10. Novvember 2011 eine Tagung zur Politik der Erinnerung an gehörlose Juden in der NS-Zeit im Ort der Information im Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die im Vorfeld mit hohen Barrieren verbunden war.65 In anderen Staaten stellt sich die Frage nach der Implementation der gegebenen nationalen Gesetze auf lokaler Ebene ebenso wie die Frage, ob die Rechte, die in den Gesetzen gewährt werden, auch einklagbar sind. Beispielsweise haben die USA ihre Antidiskriminierungsgesetze im Americans with Disabilities Act (ADA) von 1990, auf dessen Basis Betroffene vor Gericht ihr Recht einfordern können. Der Rückhalt für die Einführung des ADA wuchs nach langen Kämpfen unterschiedlicher Minderheiten, allen voran die Bürgerrechtsbewegung der afro-amerikanischen Bevölkerung. Die gesellschaftliche Haltung, die aus dem Gesetz spricht, wird in der U.S.–amerikanischen Gesellschaft gelebt. Das bedeutet im Vergleich zu Deutschland und Osteuropa weniger Barrieren für Betroffene in Forschung und Lehre, beispielsweise bei der Auswahl für Fellowships, sowie Einladungen für Kongresse und Vorträge für taube Wissenschaftler. Auf der Basis des ADA werden Dolmetscher auch während der Kaffeepausen und Bankette gewährt, da diese Zeit für das Networking unter den Kongressbesuchern außerordentlich wichtig ist.66 Außerdem gibt es bei Konferenzen in den USA zusätzlich zu Gebärdensprachdolmetschern auch so genannte »Schriftdolmetscher«, die live das gesprochene Wort niederschreiben. Auf diese Weise sind in den USA taube Forscher im Wissenschaftsbetrieb inkludiert. Sie werden bei Einladungen zu Kongressen, Vorträgen und Stipendien mit eingeschlossen.67 Allerdings enthält das ADA nicht das explizite Gebot, die Gehörlosenkultur zu fördern, wie es in der UNBRK Art. 30, Abs. 4 festgeschrieben ist. Daher ist auch in der ständigen Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) der Deaf Holokaust nicht repräsentiert. Ausländische taube Forscher wie mich schließt das ADA im Prinzip ebenfalls nicht ein. Daher sind diese vom guten Willen 65 | Mark Zaurov, Hg., Erinnerungspolitik an Gehörlose Juden in der NS-Zeit (Berlin: Frank & Timme Verlag, in Vorbereitung). 66 | USC Shoah Foundation: Bei der 2 ½ tägigen Konferenz 2014 wurden für insgesamt 19 Std. Gebärdensprachdolmetscher und Schriftdolmetscher eingesetzt. 67 | Es gibt dort eine Universität (Gallaudet University in Washington DC), an der taube Wissenschaftler in Gebärdensprache ausgebildet werden. Dort und an anderen Universitäten können sie dann lehren und forschen.

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der einzelnen Akteure in den beteiligten Institutionen abhängig und müssen sich glücklich schätzen, wenn bei einer mehrtägigen Konferenz ein paar Stunden lang Dolmetscher eingesetzt werden.68 Ein aufwendiges Widerspruchverfahren würde sich jahrelang hinziehen – unzumutbar für ausländische Akademiker, die nur für eine Tagung kommen wollen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Holokaustforschung bislang mangelnde Diversität aufweist, wie im oben genannten Standardwerk von Bajohr und Löw. Auf EU-Ebene müsste der Art. 30, Abs. 4 der UN-BRK im Portal des European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) umgesetzt werden. Allein schon die Bereitstellung von Dolmetschern für meinen individuellen Bedarf führte zu langen, harten Diskussionen, die mit einer offiziellen Entschuldigung der EU-Kommission für die Diskriminierung seitens der EHRI-Projekteiter endeten. Das Kämpfen gegen die Barrieren kann sich zwar lohnen, aber bis zur tatsächlichen Umsetzung des Art. 30, Abs. 4 ist es noch ein langer Weg.69

F a zit »Ableism«, in Bezug auf Behinderung allgemein, und »Audismus«, in Bezug auf Gehörlosigkeit, sind noch heute gerade in der deutschen Mentalität tief verankert. Sie kulminierten lediglich in der nationalsozialistischen Ideologie. Tatsächlich sind sie das Erbe jahrhundertelang gepflegter Ideologien, die zur Entmündigung tauber Menschen durch das Rechtswesen, die Medizin bzw. Pädagogik 70 führten. Dies bezeugt ein kürzlicher Eklat in Braunschweig 71: 68 | Bei ihrer zweitägigen Konferenz 2012 hat die Clark University mir lediglich für vier Stunden pro Tag Dolmetscher gewährt. 69 | Siehe auch das Interview Annette Vorwinckel und Mark Zaurov, »Deaf Gain und Visual History. Ein Interview mit Mark Zaurov«, Visual History (15.1.2018), Zugriff 29.9.2018, https://www.visual-history.de/2018/01/15/deaf-gain-und-visual-history/. 70 | Zu dieser Pädagogik zählt die berüchtigte ›orale‹ deutsche Methode, siehe Siegmund Prillwitz, »Der lange Weg zur Zweisprachigkeit Gehörloser im deutschen Sprachraum«, in Gebärdensprache in Forschung und Praxis. Bericht des internationalen Kongresses, Hamburg, 23. – 25. März 1990. Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser. Band 14, Hg. Siegmund Prillwitz und Tomas Vollhaber (Hamburg: Signum Verlag, 1991), 17-32. Siehe auch H-Dirksen L. Bauman, »Auf Deaf Studies hören (Teil I)«, Das Zeichen 79 (2008): 222-231. 71 | Werner Heise, »Klinik-Eklat: Erinnerung an behindertenfeindliche Tendenzen«, Regionalnachrichten aus Goslar, 18.11.2017, Zugriff 29.9.2018, http://regionalgos lar.de/klinik-eklat-erinnerung-an-behindertenfeindliche-tendenzen/; Anika Geisler, »Warum diese Eltern gegen eine Hörprothese für ihren tauben Sohn kämpfen«, Stern,

Die Erinnerung an die jüdische Gehörlosengemeinschaf t

Als taube Eltern sich weigerten, der Empfehlung eines Arztes zu folgen und ihr taubes Baby mit einem Cochlea Implantat zu versehen, zeigte der Arzt diese kurzerhand wegen Gefährdung des Kindeswohls beim Jugendamt an. Nun wird gerichtlich und über Gutachter entschieden, ob der elterliche Wunsch gilt, oder die Eltern aufgrund ihrer Taubheit entmündigt werden, indem ihr »erbkranker« Nachwuchs ihnen entzogen und zu seinem eigenen, von Behörden bestimmten, Wohl einer Operation unterzogen wird, im Versuch diese Taubheit verschwinden zu lassen. Das Urteil wäre ein Präzedenzfall.72 So lange sich in den gesellschaftlichen Institutionen und im Wissenschaftsbetrieb die beschriebene, noch immer vorherrschende Grundeinstellung zur Behinderung nicht ändert, kann Inklusion nicht praktiziert werden. Die UNBRK ist also lediglich ein Meilenstein auf dem Weg zur Inklusion, nicht ihre Garantie. Da, wo Deutschland vor 15 Jahren stand – vor der Ratifizierung der UN-BRK – steht die Emanzipationsbewegung tauber Menschen in Osteuropa oder Israel heute. Nachhaltige Inklusion könnte durch die Gründung eines deutschen Instituts für Deaf Cultural Studies und Deaf History auf Grundlage der UN-BRK Art. 30, Abs. 4 geschaffen werden, in dem die Forschungsfragen nicht auf linguistische Fragestellungen beschränkt sind. Dieses könnte beispielsweise staatlich über das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) oder über wissenschaftsfördernde Institutionen wie die Max-PlanckGesellschaft finanzieren werden. Nur so kann Deaf History nachhaltig etabliert werden. Förderungen von Einzelprojekten wie einmalig eine Unterrichts-DVD oder einmal ein akzeptierte Vortrag auf einer hiesigen Tagung fließen zwar in die Erfüllung der UN-BRK ein, aber nachhaltig sind diese Maßnahmen nicht. Ein aktuelles Beispiel ist in der gegenwärtigen Verweigerungshaltung gegenüber der Forderung nach zusätzlichen Info-Tafeln in Gebärdensprache an verschiedenen historisch wichtigen Orten in Berlin zu sehen. Nach einer auf meine Initiative zurückgehenden Konferenz im Jahr 2011 wurde Dank des Einsatzes des oben erwähnten Rainer Klemke sowie anderen Unterstützern 2013 an einem für taube Menschen wichtigen Ort in Berlin-Mitte eine digitale Info-Tafel mit Deutscher Gebärdensprache und International Sign, äquivalent zu Deutsch und Englisch, errichtet.

https://www.stern.de/gesundheit/medizin/tauber-zweijaehriger---aerzte-sind-fuerhoerprothese--eltern-sind-dagegen-7838504.html. 72 | Mitterhuber, »Die Pforte zum CI-Zwang«.

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Abbildung 4: Info-Tafel mit Mark Zaurov

© Mark Zaurov

Abbildung 5: Einweihung der Info-Tafel 2013

Von links nach rechts: Senator Andre Schmitz und Mark Zaurov bei der Einweihung der Info-Tafel 2013. © Mark Zaurov.

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Leider wurde sie nach ca. einem Jahr aufgrund eines technischen Defekts der Batterie entfernt und seither nicht wieder eingesetzt. Die Info-Tafel funktionierte als Alternative zu Info-Tafeln mit Fotos und Texten über ein solarbetriebenes Display, um Informationen auch gebärdensprachlich übermitteln zu können. Sie funktioniert jedoch nicht ohne Stromanschluss, da die Batterie durch Regenwasser defekt wurde. Alternativen wie Verlegungen scheiterten bisher.73 Trotzdem wurde ein Stromanschluss bislang nicht gewährt, obwohl dies die optimale Lösung wäre und im Sinne von Inklusion rechts einzusetzen wäre neben einer bereits bestehende Info-Tafel für den Protest der Frauen links am Eingang. Um »[…] [eine] Ausgewogenheit von Tafelstandorten in Ost und West sowie Geschlechtergerechtigkeit zu erzielen und die Diversität der Stadt widerzuspiegeln […]« 74 soll die digitale Info-Tafel, falls sie einmal repariert werden sollte, die einzige bleiben. Darüber entscheidet der Berliner Historische Beirat, in den aber kein tauber Historiker eingebunden ist. Ein taub-jüdischer Forscher ist ein Vertreter einer doppelten kulturellen Minderheit. Er bringt Geschichten ans Tageslicht, die er als »Insider« aus eigener Erfahrung kennt, für die die Mehrheit jedoch wenig Verständnis hat – so fehlt ein Verständnis des Deaf Holokaust in Abgrenzung zur Zwangssterilisation und zur »Aktion T4«. Diese Geschichten zur Sprache zu bringen, hat gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Mit seinen Forschungsergebnissen sticht der taub-jüdische Forscher in ein Wespennest, gilt als Nestbeschmutzer und wird von der Gesellschaft isoliert. Wie Fritz Bauer einem Freund anvertraute: »Wenn ich mein [Dienst-]Zimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland.« 75

B ibliogr afie Arendt, Hannah. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper Verlag, 2006. Bauman, H-Dirksen L. »Auf Deaf Studies hören (Teil I)«. Das Zeichen 79 (2008): 222-231.

73 | Letzter Stand bezüglich der Info-Tafel vom 26.6.2018 ist, dass diese in Abstimmung zwischen dem Bezirk Berlin-Mitte und dem Land Berlin einschließlich der Denkschutzmalbehörden – aber ohne IGJAD einzubeziehen und damit ohne Zustimmung von IGJAD – in der Rosenstr. 16-17 aufgestellt werden soll, also außerhalb des Parks. 74 | Persönliche Kommunikation mit der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Email vom 24.11.2017. 75 | »Feindliches Ausland«, Der Spiegel 31 (31. Juli 1995): 42-43, www.spiegel.de/ spiegel/print/d-9205805.html.

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Teil 3: Hörende Perspektiven auf Gehörlosigkeit neu bewerten: Interdisziplinäre Quellen und Ansätze

Die strafrechtliche Schuldfähigkeit von drei tauben Mördern in Preußen zwischen 1727 und 1828 1 Raluca Enescu

E inleitung Gerichtsakten sind eine noch kaum systematisch für die Erforschung der Geschichte gehörloser Menschen ausgewertete Quelle.2 Dabei kann z.B. der in solchen Akten dokumentierte Umgang mit tauben Straftätern wertvolle Erkenntnisse gerade für die Wahrnehmung von Gehörlosigkeit in der hörenden Gesellschaft liefern: Gehörlose Kriminelle fanden sich in einem hörenden Umfeld wieder, in dem die Rechtspflege von hörenden Akteuren bestimmt wurde. Der Umgang mit gehörlosen Straftätern muss im Kontext des Rechtssystems seiner Zeit verstanden werden – wobei sich die Frage stellt, welche Faktoren hier im Lauf der Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte Änderungen bewirkten. In der Frühen Neuzeit zählten Mord, schwere Brandstiftung und Diebstahl in Deutschland zu den Kapitalverbrechen. Es wurden mehr Diebe als Mörder hingerichtet, da es mehr davon gab. Genaue Zahlen stehen allerdings nicht zur Verfügung.3 Dieben, die zum Tod durch den Strang oder durch Enthauptung verurteilt wurden, blieben Folter und körperliche Qualen erspart.4 So wurden 1 | Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Englisch verfasst und von Marion Schmidt und Anja Werner ins Deutsche übersetzt. 2 | Für Informationen zu gehörlosen Straftätern in Sachsen, vgl. z.B. Hans-Uwe Feige, »Gehörlose Insassen des Kurfürstlichen Sächsischen Zuchthauses Waldheim«, in Denn taube Personen folgen ihren thierischen Trieben… (Samuel Heinicke): Gehörlosen-Biografien aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Hans-Uwe Feige (Leipzig: Gutenberg Verlag, 1999), 58-72. 3 | Richard Ward, Hg., A Global History of Execution and the Criminal Corpse (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2015), 1-36. 4 | Michel Foucault, Surveiller et punir (Paris: Gallimard, 1975), 21-23.

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1571 in Leipzig zwei taube Pferdediebe auf frischer Tat ertappt und ohne Verhör und Gerichtsverfahren gehängt.5 Warum? Eine sorgfältige Analyse von Gerichtsakten könnte hier Antworten liefen. In diesem Artikel werden drei Gerichtsverfahren von gehörlosen, des Mordes beschuldigten Personen im Königreich Preußen vorgestellt. Der erste Fall geschah im Jahr 1727, der zweite 1764 und der dritte 1828. Es werden jeweils die Gerichtsverhandlung beschrieben, sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestellt, die auf Grenzen des Strafrechtssystems im Umgang mit gehörlosen Menschen verweisen. Wie kommunizierten Polizei und Gerichte mit den Angeklagten? Wurde den Angeklagten ein Anwalt gestellt? Wie wurde ihre strafrechtliche Schuldfähigkeit beurteilt, und inwiefern beeinflusste diese sogenannte Expertise ihre Strafe? Die hier besprochenen Gerichtsverhandlungen beleuchten die Wahrnehmung tauber Mörder – und deren Veränderungen – seitens hörender Gesetzgeber, Polizeibeamter, Richter und Experten in einer Zeit, in der einerseits neue Gesetze und Kodifizierungen verabschiedet wurden, sowie andererseits entscheidende Entwicklungen in der (Aus-)Bildung von Gehörlosen stattfanden.

R echtlicher K onte x t im H eiligen R ömischen R eich Das Heilige Römische Reich bestand aus einer sich wandelnden Anzahl von Territorien, die dem Reich vom frühen Mittelalter bis zu seiner Auflösung im Jahre 1806 beitraten oder es verließen. Während dieser Jahrhunderte entwickelte sich das Reich zu einer aus zahlreichen Fürstentümern, Herzogtümern, Grafschaften etc. zusammensetzten, dezentralisierten Monarchie.6 Die Macht des Kaisers war eingeschränkt; obwohl die verschiedenen Fürsten-, Herzog- und Bistümer sowie Städte des Reichs Vasallen des Kaisers waren und diesem ihre Treue geschworen hatten, besaßen sie gleichzeitig zahlreiche Privilegien, die die Unabhängigkeit ihrer Territorien garantierten.7 Kaiser Franz II. (1768-1835) dankte nach einer militärischen Niederlage bei Austerlitz ab und löste am 6. August 1806 das Heilige Römische Reich auf. Die Abdan5 | Hans-Uwe Feige, »Der Fall Philipp Dörr«, Das Zeichen 19, Nr. 69 (2005): 6-9. Pferdediebstahl war ein lukratives und daher weit verbreitetes Delikt: zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels – also bis etwa ins frühe 19. Jahrhundert – konnte der Preis für ein gutes Pferd dem von sieben gesunden Männern entsprechen. 6 | Joachim Whaley, Germany and the Holy Roman Empire. The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich, 1648-1806 (Oxford: Oxford University Press, 2012), 513-516. 7 | John G. Gagliardo, Reich and Nation: The Holy Roman Empire as Idea and Reality, 1763-1806 (Bloomington: Indiana University Press, 1980), 3-15.

Die strafrechtliche Schuldfähigkeit von drei tauben Mördern in Preußen

kung wurde zwar als legal angesehen, die Auflösung des kaiserlichen Bunds hingegen nicht, und mehrere Staaten weigerten sich, das Ende des Reiches anzuerkennen. Unter Ausnahme Preußens und Österreichs reorganisierte Napoleon Bonaparte (1769-1821) das Reich im Rheinbund, der von deutschen Fürsten regiert wurde. Nach Napoleons Niederlage 1813 in Leipzig wurde der Rheinbund von verbündeten Gegnern Napoleons aufgelöst.8 Die deutschen Staaten blieben unabhängig, aber es gab keine politische Abstimmung, noch weniger eine rechtliche, bis zur Gründung des Deutschen Bundes im Jahre 1815, dessen Mitgliedstaaten völlig unabhängig waren.9 Da das Heilige Römische Reich aus vielen unabhängigen territorialen Einheiten bestand, folgten die Gesetze verschiedenen lokalen Traditionen und Religionen. Diese Gesetze wurden lokal in mehr als dreitausend Sammlungen von ländlichen Gesetzen kodifiziert, die auch als ›Weistümer‹ oder ›Dingrodel‹ bezeichnet werden. Prozessordnungen gab es nur für das Reichskammergericht. Der Sachsenspiegel war das wichtigste Gesetzbuch des Heiligen Römischen Reiches. Es handelte sich dabei um eine Sammlung von im Reich üblichem Gewohnheitsrecht und repräsentierte somit eine Rechtspraxis, die von relevanten Akteuren als Gesetz angesehen wurde. Da das Buch deskriptiv und nicht präskriptiv war, wurde es metaphorisch mit einem Spiegel verglichen, in dem richtiges und falsches Handeln wahrgenommen werden konnte. Der Sachsenspiegel wurde zwischen 1220 und 1235 von dem sächsischen Stiftvogt Eike von Repgow, einem gut ausgebildeten Laien, der eng mit dem anhaltinischen Hof verbunden war, aus der leider verlorenen lateinischen Version ins Mittelniederdeutsche übersetzt. Diese umfangreiche Arbeit wurde auf Anordnung seines Lehnsherrn Graf Hoyer von Falkenstein durchgeführt, der dem sächsischen Hochadel angehörte – daher der Name des Buches, der den Einfluss des Herrschers auf die Gesetzgebung unterstreichen sollte. Auf diese Weise sollte die bis dahin mündlich entwickelte Tradition der regionalen Rechtsprechung verstetigt werden. Aufgrund seines langen Anwendungszeitraums – in einigen Gegenden wurde der Sachsenspiegel teilweise bis 1900 genutzt – war dessen Einfluss auf die spätere Gesetzgebung (z.B. den Deutschen Spiegel und den Schwabenspiegel) erheblich.10 8 | Jonathon P. Riley, Napoleon and the World War of 1813: Lessons in Coalition Warfighting (London: Routledge, 2013), 206. 9 | Hans A. Schmitt, »Germany without Prussia: A Closer Look at the Confederation of the Rhine«, German Studies Review 6, Nr. 4 (1983): 9-39. 10 | Dieter Pötschke, »Utgetogen Recht steiht hir. Brandenburgische Stadt- und Landrechte im Mittelalter«, in Stadtrecht, Roland und Pranger. Zur Rechtsgeschichte von Halberstadt, Goslar, Bremen und Städten der Mark Brandenburg, Hg. Dieter Pötschke (Berlin: Lukas Verlag, 2002), 109-164, hier 135.

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Der Sachsenspiegel war für Gesetzeshüter gedacht. Er gliedert sich in zwei Teile, nämlich das Lehnrecht mit spezifischen Regeln für Lehen und das Landrecht mit allgemeineren Regeln. Im Gegensatz zu Rechtsbüchern aus dem 18. Jahrhundert, wie das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR), stellte der Sachsenspiegel unsystematisch verschiedene Rechtsangelegenheiten zusammen, die sich teilweise überschnitten, unter anderem Strafrecht, Erbrecht, Eherecht und Eigentumsrecht. Die Verbreitung dieser Gesetze erfolgte vor allem in Nord-, Mittel- und Ostdeutschland, aber auch außerhalb der Grenzen (so gibt es Übersetzungen ins Polnische, Tschechische, Niederländische und Russische).11 Gleichwohl blieb das deutsche Recht übermäßig fragmentiert, bis Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Bayerischen Strafgesetzbuch (Codex Juris Criminalis) von 1751 und der Zivilprozessordnung aus dem Jahr 1781 (Corpus Juris Fredericianum, benannt nach Friedrich dem Großen), eine Tendenz hin zu einer nationalen Kodifizierung einsetzte.12 Allerdings brachten diese Gesetze keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen bis 1794 das ALR in Preußen verkündet wurde.13 Aufgrund seines Anspruchs, ein neues Regelwerk zu schaffen, ist das ALR das erste große Gesetzbuch, das in den deutschen Ländern weit verbreitet Anwendung fand. Diese sehr detaillierte Kodifizierung mit mehr als siebzehntausend Paragrafen, die 1814 auch in Westfalen eingeführt wurde, umfasste neben anderen Rechtsgebieten das Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht. Es bedeutet fraglos einen großer Schritt hin zur Vereinheitlichung der Gesetze für einen deutschen Staat und die Entwicklung einer nationalen Identität.14 Einerseits umfasste das Strafrecht 1577 Abschnitte, die schwerpunktmäßig den Ermessensspielraum von Richtern bei der Entscheidungsfindung einschränkten, wie z.B. §9, der besagt: »Handlungen und Unterlassungen, welche nicht in den Gesetzen verboten sind, können als eigentliche Verbrechen nicht angesehen werden, wenn gleich Einem oder dem Andern daraus ein wirklicher Nacht-

11 | »Women’s bodies, Women’s property, German Customary Law Books Illustrated in the Fourteenth Century. The Sachsenspiegel Lawbook«, Tufts University, Zugang 9. September 2017, http://dca.lib.tufts.edu/features/law/books/index.html. 12 | Yves Cartuyvels, »Eléments pour une approche généalogique du code pénal«, Déviance et société 18, Nr. 4 (1994): 373-396, https://doi.org/10.3406/ds.1994.1356; Friedrich Ebel, 200 Jahre preußischer Zivilprozeß. Das Corpus Juris Fridericianum vom Jahre 1781 (Berlin: de Gruyter, 1982), 6-18. 13 | Thomas Vormbaum and Michael Bohlander, Hg., A Modern History of German Criminal Law (Berlin: Springer Verlag, 2014), 29. 14 | Roger Stuart Berkowitz, The Gift of Science: Leibniz and the Modern Legal Tradition (Cambridge: Harvard University Press, 2005), 70-86.

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heil entstanden seyn sollte.«15 Andererseits wurde die Todesstrafe betont, und §102 ALR II 20 gab sogar Foltermethoden in den sogenannten »geschärften Todesstrafen« an: »[Er] soll zum Richtplatze geschleift, mit dem Rade von unten herauf getötet, und der Körper auf das Rad geflochten werden.«16 Diese Betonung der Todesstrafe hatte eine lange Tradition in der Gesetzgebung. In diesem Zusammenhang zu nennen wären die 1499 von Maximilian I. (14591519) erlassene Halsgerichtsordnung und der Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507. Beide Codices bildeten die Grundlage der Constitutio Criminalis Carolina, die 1532 unter Karl V. (1500-1558) erlassen wurde. In allen drei Gesetzeswerken kam die Todesstrafe bei Angeklagten zur Anwendung. Im Heiligen Römischen Reich hatten die als Halsgerichte bekannten Justizbehörden das Recht, die Todesstrafe zu verhängen und Folter sowie schwere Körperstrafen anzuordnen. Ursprünglich war dieses Recht den Königen vorbehalten gewesen, aber ab dem 13. Jahrhundert wurde es den Vasallen und ihren Lehen und später den Richtern übertragen. Was die strafrechtliche Schuldfähigkeit von Gehörlosen anbelangte, so stellten die Gesetze des Rechtsgelehrten Johann Christian von Quistorp (17371795) aus dem Jahr 1782 in §25 eine Ähnlichkeit zwischen taub geboren Individuen und wahnsinnig Menschen fest: »Taub und stumm geborene, sollen ihrer begangenen Verbrechen wegen, den sinnlosen und wahnsinnigen Leuten völlig gleich geachtet, und folglich mit ersteren auf gleiche Weise, als von den letzteren vorgeschriebenen worden […], verfahren werden.«17 Nur ›wahnsinnige‹ und von Geburt an taube Menschen waren non compos mentis, also aufgrund von ›Wahnsinn‹ nicht schuldfähig, das heißt, dass man ihnen das Urteilsvermögen absprach. Die lateinische Formulierung bedeutet wörtlich, dass man keine Kontrolle über seinen Verstand hat. Folglich verurteilte man sie zu milderen Strafen, was allerdings nicht unbedingt bedeutete, dass ihnen die Todesstrafe erspart blieb.18 Es bedeutete eher, dass der Gesetzgeber darauf verzichtete, die furiosi der allgemein gebräuchlichen Folter zu unterwerfen. Dem römischen Recht sind verschiedene Begriffe entlehnt, die den lateinischen Terminus furiosi als Bezeichnung für »geisteskranke« Individuen verwenden.19 So besagt der bekannte Ausdruck furiosi nulla voluntas est, dass »geisteskranke« Menschen keinen freien Willen haben, also nicht den notwendigen Ver15 | Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1794, Zweyter Theil, Zwangzigster Titel. Von den Verbrechen und deren Strafen. §9. 16 | Ebd., §102. 17 | Johann Quistorp, Ausführlicher Entwurf zu einem Gesetzbuch in peinlichen und Strafsachen (Rostock und Leipzig: 1782), 26. 18 | Foucault, Surveiller et Punir, 18. 19 | Charles Sumner Lobingier, »The Reception of the Roman Law in Germany«, Michigan Law Review 14, Nr. 7 (1916): 562-569.

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stand – mens rea – besitzen, um an einem Rechtsakt beteiligt zu sein oder überhaupt ein Verbrechen zu begehen: »Der Wahnsinnige ist willensunfähig und daher ausser Stande, ein Rechtsgeschäft abzuschliessen […], da bei ihm von einem agere im Sinne bewusster auf Hervorbringung von Rechtsfolgen gerichteter Tätigkeit überhaupt nicht die Rede sein kann.«20 Einem Lexikon für Juristen aus dem Jahr 1915, das lateinische Begriffe beschreibt, die häufig in vom römischen Recht beeinflussten Rechtssystemen verwendet werden, kann entnommen werden, dass sich die Bedeutung dieser Idee seit dem 17. Jahrhundert nicht verändert hat. Es gibt folgende Begriffserläuterung: »Es muss als einen wesentlichen Bestandteil einer Straftat einen tadelnswerten Zustand des Geistes geben, und ein solcher Geisteszustand kann nicht einfach den Irren unterstellt werden, die auf natürliche Weise unfähig sind, zwischen gut und böse zu unterscheiden.«21 In dieser Definition fließt die Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven strafrechtlichen Schuldfähigkeit ein, die erstmals im 17. Jahrhundert von Samuel von Pufendorf (1632-1694) gemacht worden war: Die subjektive Schuldfähigkeit repräsentierte den freien Willen, und die objektive Schuldfähigkeit war das unrechtmäßige Ergebnis. Zur Zeit der nachfolgend beschriebenen Fälle lag es daher im Interesse der Gerichte, die Frage nach dem Geisteszustand des Angeklagten zu erörtern.22

D rei S tr afsachen , die die Todesstr afe erforderten 1. Der Fall des Johann Christoph Eggert aus dem Jahr 1727 In Klintz, einem Dorf in der Nähe von Magdeburg im Königreich Preußen, wurde am 19. Februar 1727 die Frau eines einheimischen Hirten tot aufgefunden. Ihr nackter Körper wies insgesamt zweiundvierzig Messerstichwunden auf, ihr linker Arm war fast komplett vom Körper abgetrennt, und ihr Kopf hing in den Ästen eines nahen Baumes. Mit den begrenzten forensischen Mitteln der Zeit konnte nicht festgestellt werden, ob das Opfer vergewaltigt worden war. Nach der belastenden Aussage des Gastwirts aus dem gleichen Dorf, dass 20 | Svein Atle Skalevag, »The Matter of Forensic Psychiatry: A Historical Enquiry«, Medical History 50 (2006): 49-68; Heinrich Buhl, Salvius Julianus: Erster Teil. Einleitung. Personenrecht (Berlin: G. Koester Verlag, 1886), 170. 21 | E. Hilton Jackson, Latin for Lawyers (London: Sweet and Maxwell, 1915), 161; Edwin R. Keedy, »Insanity and Criminal Responsibility. II«, Harvard Law Review 30, Nr. 7 (1917): 735. Unsere Übersetzung. 22 | Hans-Heinrich Jescheck, »The Doctrine of Mens Rea in German Criminal Law. Its Historical Background and Present State«, Comparative and International Law Journal of Southern Africa 8, Nr. 1 (1975): 112-120.

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ein taubstummer Tatverdächtiger ein blutiges Messer und Bernstein-Korallen bei sich gehabt habe, ordneten die Behörden umgehend eine Fahndung durch berittene Polizeibeamten an, und nur einen Tag nach dem Verbrechen wurde der Verdächtigte, Johann Christoph Eggert, gefasst. Nach seiner Festnahme wurden Tücher, Schuhe, Geld und Strümpfe des Opfers bei ihm gefunden. Eggert leugnete die mörderische Tat kategorisch ab und erklärte, dass die blutigen Flecken, die mit Kot auf seiner Hose vermischt waren, von Nasenbluten und geschlachteten Fischen stammten, was damals unmöglich zu bestätigen oder zu bestreiten war. Aufgrund der vorliegenden Beweise wurde der Tatverdächtige in Arnsburg inhaftiert – allerdings ohne einen Rechtsanwalt gestellt zu bekommen, worauf er in dieser Zeit auch keinen gesetzlich festgeschriebenen Anspruch hatte.23 Man konnte damals durchaus gesetzliche Vertreter verpflichten, aber das war eher den privilegierten Klassen und vor allem hörenden Personen vorbehalten. Das Gericht schickte Eggert zwei »Dolmetscher« als Vertreter der staatlichen Behörden in seine Zelle, nämlich den Bürgermeister von Arnsburg und einen Rathsmann, der einen tauben Bruder hatte, »beyde von der Arth mit Stummen durch Zeichen zu sprechen gute Wissenschaft besitzen«.24 Weiterführende Informationen zur Kommunikation mit Eggert und der verwendeten Gebärden bzw. Gebärdensprache gibt es nicht. Im frühen 18. Jahrhundert gab es weder Schulen für Gehörlose noch standardisierte Gebärdensprachen. Tatsächlich wurde der Gründer der deutschen Gehörlosenbildung, Samuel Heinicke, erst 1727 geboren, also in dem Jahr, in dem Eggerts Prozess stattfand. Heinicke würde am 14. April 1778 in Leipzig die erste staatlich gestützte Gehörlosenschule Deutschlands gründen.25 Im frühen 18. Jahrhundert war hingegen noch nicht entschieden, ob gehörlose Menschen überhaupt erzogen werden konnten. Vereinzelte Versuche, Gehörlose zu bilden, hatte es bis dahin vornehmlich in Klöstern und durch Theologen gegeben; erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen systematischere und auch staatlich geförderte Projekte der Gehörlosenbildung.26 Ge23 | Andreas Wolfgang Wiedemann, Preußische Justizreformen und die Entwicklung des Anwaltsnotariats in Altpreußen 1700-1849 (Köln: Schmidt, 2005), 3. 24 | Johannes Paul Kreß, Kurtze juristische Betrachtung von dem Recht der Taub- und Stumm gebohrnen. Absonderlich was es mit selbigen in der Criminal Juris-Prudenz, und Peinlichen Bestraffung vor eine Beschaffenheit habe. Bey einem sich in dem Hertzogthum Magdeburg eräugneten sonderlichen Fall (Wolfenbüttel: Meissner, 1729), 3. 25 | Roland, Itterheim, »Brücken über die Stille. Samuel Heinecke – Anwalt der Gehörlosen«, Ärzteblatt Thüringen 20, Nr. 3 (2009): 204-206. 26 | Agnes Villwock, »Die historische Sicht kirchlicher Vertreter auf Gehörlosigkeit und Gebärdensprache: ›Christliche Nächstenliebe‹ oder ›Verdammung aus der Gemeinschaft‹?«, Das Zeichen 94 (2013): 176-187.

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hörlose Personen entwickelten individuelle Gebärden, um mit ihrem zumeist vornehmlich hörenden Umfeld zu kommunizieren. Solche individuellen Gebärdensprachen waren strukturierter, wenn andere gehörlose Menschen in der Nähe lebten und sich so durch ihre Kommunikationsbedürfnisse komplexere Formen einer visuellen Sprache entwickeln konnten. Ohne Schulen speziell für Gehörlose lebten taube Menschen jedoch eher vereinzelt. Individuelle Gebärden konnten daher sehr stark variieren und eine Verständigung mit Ortsfremden, die andere individuelle Gebärden entwickelt hatten, erschweren oder gar unmöglich machen.27 Im vorliegenden Fall wurde ein »Dolmetscher« mit einem tauben Bruder gerufen, was aufgrund der erwähnten individuellen Gebärdensprachen zu dieser Zeit nicht unbedingt bedeutete, dass dieser Eggerts Gebärden verstehen oder sich mit ihm verständigen können würde. Die Einbeziehung dieses Dolmetschers verdeutlicht, dass es im frühen 18. Jahrhundert in Preußen keinen einheitlichen (Sprach-)Unterricht für Gehörlose gab. Im Strafjustizsystem wurden sie als unbedeutende Fälle behandelt, auf die nicht angemessen reagieren werden konnte. Eggert leugnete das Verbrechen weiter, fügte jetzt aber hinzu, dass er einen bärtigen Mann gesehen habe, der den Mord begangen und ihm später die Habseligkeiten des Opfers übergeben habe. Damit gab es eine erste plausible Erklärung für die Beweise, die bei Eggert gefunden worden waren. Außerdem lässt sich daraus schließen, dass eine Verständigung zwischen dem Angeklagten und seinen Dolmetschern möglich war. Der Rathsmann gewann schließlich Eggers Vertrauen und brachte ihn dazu, die Tat zu gestehen, indem er ihm versprach, dass das Geständnis geheim gehalten und der Rathsmann intervenieren würde, um ihn zu befreien. Laut seinem Geständnis stieß Eggert auf dem Weg von Rathenau nach Klintz auf die Frau des Hirten, packte sie mit ausgestreckten Armen und streichelte ihre Wangen. Nachdem sie sich befreit hatte, griff sie ihn mit ihrem Spazierstock an, was Eggert so erzürnte, dass er sie heftig zu Boden stieß. Es konnte nicht geklärt werden, ob Eggert das Opfer vergewaltigt hatte, da er die Frage nicht verstand. Der Rathsmann informierte das Gericht unmittelbar nachdem er das Geständnis des Mordes gehört hatte. Obwohl er sich betrogen fühlte, stritt Eggert die Fakten nicht länger ab und glaubte, wie versprochen, dass er dennoch freigelassen würde. Schließlich wurde ein Anwalt – Defensor – für diesen Fall benannt. Es ist nicht bekannt, ob dieser Anwalt Eggert in Anwesenheit eines Dolmetschers traf, oder ob er eine Gebärdensprache kannte. Er spielte während der Gerichtsverhandlungen keine Rolle. Viele Anwälte übten diesen Beruf ohne eine entsprechende Ausbildung aus. Als sogenannte ›Winkelkonsulenten‹ war ihre juristische Beratung so schlecht, dass sie damit den ganzen 27 | Hans-Uwe Feige, »Die Lebenswirklichkeit Gehörloser von der Antike bis zur Frühen Neuzeit«, in Denn taube Personen folgen ihren thierischen Trieben, Feige, 11-28.

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Berufsstand in Verruf brachten.28 Grundsätzlich scheint damals die Kommunikation eines Angeklagten mit seinem Anwalt und dessen Rolle im Prozess die Justizbehörden nicht vorrangig interessiert zu haben, was auch daran gelegen haben könnte, dass Friedrich Wilhelm I. (1688-1740) 1713 (also in seinem ersten Regentschaftsjahr) 720 von insgesamt 1200 Anwälten in Preußen entlassen hatte.29 Eggert wiederholte sein Geständnis vor Gericht »durch den Examinanten beckandten Zeichen und Weisungen an sich und seinem Leibe selbst«.30 Die von ihm genutzten Gebärden hatte er selbst entwickelt, da er weder in einer Gebärdensprache noch in Lippenlesen und Artikulation unterwiesen worden war. Ein Gutachten der Juristischen Fakultät der Universität Halle untersuchte bedauerlicherweise nicht, inwiefern Eggert verstand, dass man einen anderen Menschen nicht töten durfte. Stattdessen verfochten die halleschen Professoren die zeitgenössische Ansicht, dass ein Taubstummer bei Mord nicht voll schuldfähig war. Sie empfahlen daher, dem Angeklagten die für solche Verbrechen üblicherweise vorgesehene Todesstrafe zu ersparen und ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus mit erträglicher Arbeit zu verurteilen.31 Das Gericht in Arnsburg folgte dem Sachverständigengutachten und gab ein entsprechendes Urteil ab. Allerdings sorgte das preußische Verfahren bei Kapitalverbrechen für eine interessante Wendung: Das Urteil konnte nicht sofort vollstreckt werden, da es erst vom Landesherrn bestätigt werden musste. Zu diesem Zweck musste das Urteil zunächst dem in Berlin-Spandau ansässigen Criminal-Collegium des Königs vorgelegt werden.32 Das Collegium kritisierte das vorangegangene Urteil, da das Gericht in Arnsburg wichtige Fragen nicht geklärt hatte, wie das Alter des Beschuldigten, seine Adresse, seine Bildung und seine Vernunft (ob er immer zurechnungsfähig gewesen sei). Es wurde weiterhin bemängelt, dass 28 | Christian Grahl, Die Abschaffung der Advokatur unter Friedrich dem Großen. Prozeßbetrieb und Parteibeistand im preußischen Zivilgerichtsverfahren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Materialien zum Corpus Juris Fridericianum von 1781 (Göttingen: Wallstein-Verlag, 1994), 28. 29 | Grahl, Die Abschaffung der Advokatur unter Friedrich dem Großen, 29; Adolf Weissler, Umbildung der Anwaltschaft unter Friedrich dem Großen (Königshütte: F. Ploch, 1891), 40. 30 | Kreß, Kurtze juristische Betrachtung von dem Recht der Taub- und Stumm gebohrnen, 5. 31 | In den zeitgenössischen Quellen wird von »Arbeit« gesprochen; gemeint ist nach heutigem Verständnis »Zwangsarbeit«. 32 | Thomas Carlyle, »Criminal Justice in Preussen and Elsewhere«, in History of Friedrich II of Prussia. Frederick The Great, Thomas Carlyle, vol. 2, book 8 (London: Chapman and Hall, 1858), 317-329.

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es keine Zeugenaussagen zu Eggerts Lebenswandel gegebenen hätte und auch keine Überprüfung der belastenden Zeugen (Gastwirt und die beiden Dolmetscher), um festzustellen, ob letztere den Angeklagten wirklich verstehen konnten, und ob sie zuverlässig und unvoreingenommen waren. Schließlich war nicht untersucht worden, ob die bei Eggert gefundenen Gegenständen, die man dem Opfer zugeschrieben hatte, tatsächlich diesem gehört hatten, zumal der Ehemann nicht verhört worden war. König Friedrich Wilhelm I., der von 1713 bis 1740 regierte, zentralisierte die bis dahin über ganz Preußen verstreute Verwaltung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die letzte richterliche Gewalt in seiner Residenzstadt Berlin lag. Im Einklang mit dieser Logik lehnte Friedrich Wilhelm I. das Urteil des Arnsburger Gerichts ab und ordnete ein neues Verfahren vor dem königlichen Bezirksgericht Berlin-Spandau an, »um in diesen Criminal Proceß desto behutsamer zu gehen«.33 In den folgenden zwei Jahren wurde der Fall berühmt und zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Der König hatte aufgrund seines Gerechtigkeitssinns eingegriffen und nicht wegen des Urteils. Tatsächlich war er kein Befürworter der Aufklärung und verlor keine Zeit mit humanistischen Betrachtungen. Er war bekannt als der Soldatenkönig, für den jeder Bürger auch ein Soldat war.34 Am besorgniserregendsten empfand Friedrich Wilhelm I., wie nachlässig das vorherige Gericht und die halleschen Juristen den Fall im Vergleich mit ähnlichen Fällen mit hörenden Angeklagten abgehandelt hatten. Für den neuen Prozesses in Berlin-Spandau wurden von Anfang an zwei Dolmetscher ernannt, ein Priester und ein Diakon, »welche beyde geraume Zeit mit Tauben und Stummen umgegangen sind und an selbigen gearbeitet haben«.35 Sie sollten feststellen, ob der Angeklagte geistig gesund war. Um seine geistige Gesundheit zu beurteilen, teilten sie ihm mit, dass er mit dem Schwert hingerichtet werden könnte. Eggert bekam Angst von der Beschreibung seiner Hinrichtung und wurde daraufhin von den Dolmetschern für geistig gesund erklärt. Sein Lebenslauf wurde ebenfalls vervollständigt: Er war 27 Jahre alt, wuchs mit zwei hörenden Schwestern auf und ertaubte in seiner frühen Jugend nachdem er eine giftige Pflanze – den Schierling – gegessen hatte. Er hatte keinerlei Schulbildung erfahren und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Betteln, Bier-Ausschank und Kegel-Aufstellen in Gasthöfen. Mehrere Leumundszeugen sagten aus, dass er einige Jahre zuvor einem Mädchen die Kehle hatte durchschneiden wollen. 33 | Kreß, Kurtze juristische Betrachtung von dem Recht der Taub- und Stumm gebohrnen, Vorrede. 34 | Heinz Kathe, Der Soldatenkönig. Friedrich Wilhelm I. 1688-1740. König in Preußen (Berlin: Akademie-Verlag, 1976), 71. 35 | Kreß, Kurtze juristische Betrachtung von dem Recht der Taub- und Stumm gebohrnen, 8.

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Das Urteil des Spandauer Gerichts ähnelte dem des vorherigen Gerichts: lebenslange Haft mit Arbeit, verschärft durch eine öffentliche Bestrafung auf dem Marktplatz, wo er auf einer Plattform an den Pranger gestellt und hart ausgepeitscht werden sollte. Dieses zusätzliche Strafmaß wurde dadurch gerechtfertigt, dass der Beschuldigte ein ausreichendes Verständnis für den kriminellen Charakter seiner Tat besäße. Das Geheime Raths Collegium als höchste Justizbehörde des Königreichs stimmte diesem Urteil zu. Dennoch missbilligte es der König erneut: Er untersagte die öffentliche Auspeitschung, da Juristen, Ärzte und Philanthropen mit ihrer Meinung zum Fall öffentlich Druck ausgeübt hätten. Einer dieser Teilnehmer an der öffentlichen Debatte war Brandan Meibom (1678-1740), der von seinen Zeitgenossen als sehr anständiger Mensch beschrieben wurde. Er war Leibarzt des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg und Professor für Medizin an der damals bedeutenden Julia-Carolina-Universität Helmstedt. 1729 veröffentlichte er eine umfangreiche Schrift über seine Ertaubung nach dem Verzehr der gleichen Pflanze wie Eggert mit dem Titel Begründetes Bedencken von einem Menschen, welcher im anderem Jahre seines alters von der Schirlings Wurtzel genossen und hernach beständig taub und stumm gewesen. Meibom plädierte für eine mildere und angemessenere Strafe für Eggert, der bereits durch seinem Hörverlust gestraft sei und nicht ganz verstanden habe, dass seine Tat falsch sei. Außerdem behauptete Meibom, dass der Angeklagte keine mens rea habe, also die subjektive Schuldfähigkeit, die ein Grundbestandteil einer kriminellen Handlung sei.36 Die strafrechtliche Schuldfähigkeit drückt sich in der Formulierung actus reus non facit reum nisi mens sit rea aus, die besagt, dass eine Tat nur dann schuldhaft sein kann, wenn der Verstand schuldig ist. Es muss sowohl eine schuldhafte Handlung – actus reus – als auch ein schuldiger Geist – mens rea – gegeben sein, um einen Angeklagten eines Verbrechens zu überführen.37 Meiboms Schrift und andere Gnadengesuche veranlassten den König, die Auspeitschung aufzuheben, da ein Verbrechen nicht absichtlich begangen werden kann, wenn man die Tat nicht vollständig versteht. Anders gesagt, das Strafmaß wurde reduziert, weil Eggert die Tat nicht verstand; er wurde dennoch bestraft, da er trotz allem ein Verbrechen begangen hatte. Eine taube Person wurde somit als nur bedingt zurechnungsfähig angesehen und stand mit psychisch Kranken bzw. Minderjährigen auf einer Stufe, oder, wie es der König formulierte, »nur wie auch bey Kindern und Unsinnigen practicable, 36 | Hermann Mannheim, »Mens Rea in German and English Criminal Law«, Journal of Comparative Legislation and International Law 17, Nr. 1 (1935): 82-101; Jescheck, »The Doctrine of Mens Rea in German Criminal Law. Its Historical Background and Present State«, 112-120. 37 | Foucault, Surveiller et Punir, 27.

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bloß mit einer impressione doloris einger Massen gebändigt und in Furcht gejagt werden mag«.38 Das Moralverständnis gehörloser Menschen galt im besten Fall als unbekannt, im schlechtesten als mangelhaft. Diese Voreingenommenheit basierte auf der Annahme, dass taube Menschen jähzornige oder impulsive Halbmenschen seien, die in »unvernünftig viehischer Wuth« leicht Unrecht begehen könnten.39 Eggert habe sein Verbrechen aus erhitzten Gefühlen heraus begangen und nicht böswillig geplant. Das war nach Ansicht des Königs aus der Tatsache ersichtlich, dass Eggert das Opfer auf grausame Weise erstochen hatte. Meiboms Schrift und andere Gnadengesuche veranlassten den König, die Auspeitschung aufzuheben. Zwei Jahre nach dem Verbrechen wurde Eggert zu lebenslanger Haft verurteilt.

2. Der Fall des Johann Georg Brüning aus dem Jahr 1764 Am Rand der Straße, die von Nedlitz nach Behlitz bei Magderburg führt, fand am 3. Dezember 1764 ein 12jähriger Reiter die Leiche eines teilweise nackten Mannes. Der Körper wies mehrere Messerwunden auf, insbesondere an der Kehle. Durch die Befragung von Zeugen konnte die Identität des Opfers geklärt werden: Es handelte sich um einen Messerhändler namens Blankmeyer. Sehr schnell wurde ein taubstummer Uhrmacherassistent der Tat verdächtigt, weil er mit dem Opfer in einem nahe gelegenen Gasthaus gesehen worden war. Am selben Tag wurde ein Suchbefehl ausgestellt, und zwei Tage später, am 5. Dezember 1764, wurde der Verdächtige festgenommen und mit der Leiche Blankmeyers konfrontiert. Der Tatverdächtige konnte seinen Namen auf einem Brett niederschreiben – Johann Georg Brüning. Als er gefragt wurde, ob er das Verbrechen begangen habe, weinte er, zeigte auf die Wunden des Opfers und auf sich selbst und nickte dabei mit dem Kopf.40 Der ihn verhörende Beamte, Hof- und Criminalrath Werner, schloss daher, dass der Taubstumme das Verbrechen gestanden habe. Am nächsten Tag wurde Brüning an den Tatort gebracht, wo er allerdings erklärte, dass er zwar dem Mord an Blankmeyer beigewohnt, das Verbrechen aber nicht selbst begangen habe. Die erste richtige Befragung Brünings fand am 7. Dezember durch denselben Beamten und zwei Beisitzer statt. Ähnlich wie im Fall Eggerts wurde kein Gebärdendolmetscher und kein Verteidiger zur Verfügung gestellt. 38 | Kreß, Kurtze juristische Betrachtung von dem Recht der Taub- und Stumm gebohrnen, 10. 39 | Ebd., 58. 40 | Carl Philipp Moritz, »Merkwürdiges Bekenntnis eines Tauben und Stummen von seiner verübten Mordthat«, Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 2, Nr. 2 (1784): 40-65.

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Wie sein Vater Friedrich Wilhelm I. war Friedrich II. (1712-1786) sehr kritisch gegenüber der schlechten Praxis von Anwälten eingestellt und versuchte, das Rechtssystem zu verbessern, bevor er die Notwendigkeit von Anwälten gesetzlich regelte.41 Eggert kommuniziert mit dem Beamten und den Beisitzern mittels Gebärden und Körpersprache, aber es ist unklar, inwiefern diese gebärdete Sprache verstehen konnten. Der Versuch, schriftlich zu kommunizieren, scheiterte, weil Brüning auf diesem Weg nur teilweise antwortete, auch wenn er den Wortlaut der Fragen verstanden zu haben schien. Schließlich erklärte Brüning, dass Blankmeyer ihn, während er in der Herberge schlief, ausgeraubt habe, und dass er ihm daraufhin in einem, wie er selbst es einschätzte, berechtigten Wutausbruch die Kehle durchgeschnitten habe. Der Beamte bat Brüning, den Tathergang zu skizzieren, und die Zeichnungen wurden den offiziellen Unterlagen des Falles hinzugefügt.42 Um den Charakter und die Vorgeschichte Brünings besser zu verstehen, wies der verhörende Beamte einen Hofmeister namens Erdmann Cracko an, heimlich Brünings Vertrauen zu gewinnen und so neue Hinweise zu ermitteln. Diese Strategie war auch 1727 erfolgreich in Eggerts Fall angewendet worden – neue Beweise waren von einem falschen Vertrauten gesammelt worden. 1764 nun wurde mit demselben Ziel der Hofmeister Cracko zum Dolmetscher ernannt, obwohl er keine besonderen Kenntnisse einer Gebärdensprache hatte. Da Cracko aber früher viel mit dem Angeklagten in Verbindung gestanden hatte (die Gründe für diese frühere Bekanntschaft wurden nicht angegeben), hatte er die Fähigkeit entwickelte, sich mit Brüning über Zeichen und Gesten zu verständigen.43 Bald beschrieb der Angeklagte ausführlich und aus freien Stücken den Verlauf der Ereignisse. Er erwähnte auch Gegenstände, die er dem Opfer abgenommen habe, und erklärte, dass er vor Blankmeyer bereits drei andere Personen hatte ermorden und ausrauben wollen. Schließlich erklärte er, dass er mit einem jüdischen Komplizen einen Raubüberfall begangen habe. Das Gericht entschied, diese letzte Information über den Raub nicht zu überprüfen. Am 17. Januar 1765 fand die Hauptuntersuchung Brünings mit einem vorsitzenden Richter, Cracko als seinem Dolmetscher, einem Protokollführer, zwei Beisitzern und der Stiefmutter des Angeklagten statt. Brüning zeichnete mit Tusche Skizzen als Antwort auf schriftliche Fragen zum Verlauf der Ereig41 | Wiedemann, Preußische Justizreformen und die Entwicklung des Anwaltsnotariats in Altpreußen 1700-1849, 21-23; Lukas Gruszewicz, »Die Anwaltschaft in der preußischen Rechtsgeschichte«, (Seminararbeit, Ruhr-Universität Bochum, 2009), 6. 42 | Moritz, »Merkwürdiges Bekenntnis eines Tauben und Stummen von seiner verübten Mordthat«, 43-45. 43 | Christian Friedrich Voss, »Praejudicia juris«, Beiträge zu der juristischen Litteratur in den Preußischen Staaten 5, Nr. 1 (1780): 9-10.

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nisse. Da der Fall geklärt schien, fehlte nur noch das Urteil. Der Hintergrund des Angeklagten war allerdings noch unbekannt. Während eines Besuch des Untersuchungsrichters in Brünings Zelle am 23. Januar konnte der Angeklagte die Umstände seiner Taubheit mitteilen: Wie Eggert war er nicht taub geboren worden. Er verlor sein Gehör durch eine von einer Schrotkugel verursachte Verletzung. Bestätigt wurde dies später vom Bruder des Angeklagten, einem beeidigten Vollstreckungsbeamten in Brandenburg. Erst später stellte der vorsitzende Richter fest, dass aufgrund der Schwere der Tat ein Anwalt zu stellen sei. Dementsprechend wurde am 31. Januar das Gericht gebeten, einen Verteidiger zu nennen, der fast drei Monate später, am 27. April, seinen Mandanten zum ersten und letzten Mal in Anwesenheit eines Hof buchhalters und eines Predigers besuchte. Ein Dolmetscher war nicht anwesend, weil der Prediger in Gebärden kommunizieren konnte. Am 24. Mai, nach mehreren Mahnungen, war die Verteidigungsschrift endlich fertig. Bedauerlicherweise ist sie nicht mehr auffindbar; das Gutachten des Predigers ist aber erhalten: Er sollte klären, inwiefern Brüning fähig war, die kriminelle Natur seiner Handlung zu verstehen. Dieses Dokument enthält eine wichtige zeitgenössische Aussage zur Einschätzung gehörloser Menschen durch ihre hörenden Mitmenschen. Der Kleriker schrieb, dass Brüning nicht wie ein hörendes Individuum denken könne, sondern dass jeder einzelne seiner Gedanken eine ganze Idee, ein Bild umfasse, »in welchem sich alles, was zu demselben gehört, auf einmal in seinem Zusammenhang vorstellt«.44 Im Vergleich zu hörenden Individuen seien seine Gedanken außerdem viel lebendiger, viel schneller und nicht so fragmentiert. Er zog einen Vergleich zwischen hörenden und gehörlosen Menschen, in dem letztere wegen ihres angeblichen impulsiven Charakters als benachteiligt erschienen. Eggert, aus dem obigen Fall, war ebenfalls als impulsiv wie ein Kind oder wie ein wahnsinniger Mensch eingeschätzt worden, was zeigt, dass sich die Gleichsetzung von Taubheit und Impulsivität zwischen den 1720er und den 1760er Jahren nicht verändert hatte. Zusammenfassend wurde festgestellt, dass Brüning antwortbereit sei, sobald er die Gebärden der Verhörenden verstanden habe. Der Kleriker beschrieb die Gebärdensprache des Angeklagten als eine symbolische Sprache, in der Bilder seiner Fantasie in Gebärden umgewandelt würden. Seine Skizzen wurden als Geständnis des Mordes aufgefasst. Anders als andere Gehörlose sei er zwar religiös und bibelfest und verfüge über Verstand und Urteilskraft. Nichtsdestotrotz würde sein Handeln durch bloße Mutmaßungen und natürliche Triebe gesteuert, wovon keine den Wert eines Gesetzes behaupten könne.45 Die Experten stellten fest, dass Brüning wusste, dass Mord eine Sünde sei, fanden 44 | Moritz, »Merkwürdiges Bekenntnis eines Tauben und Stummen von seiner verübten Mordthat«, 52. 45 | Ebd., 64.

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aber mildernde Umstände in der Tatsache, dass das Opfer Brünings Eigentum gestohlen habe. Brüning zufolge vollzog er nur das Urteil für einen Dieb – damals das Todesurteil – und sah sich selbst als Helden. Der Hintergrund des Angeklagten blieb während des gesamten Verfahrens unklar. Es war unumstritten, dass er Uhrmacher war, wie er selbst aussagte, aber seine Bildung und Konfirmation waren immer noch unbekannt. Zu jener Zeit war eine Konfirmationsbestätigung für eine Lehrlingsausbildung notwendig. Das traf besonders auf höfische und exklusive Berufszweige wie das Uhrmachertum zu – Uhren waren, vierhundert Jahre nachdem die erste mit mechanischer Hemmung hergestellt worden war, ein noch immer seltenes und teures Luxusgut. Es konnte nicht festgestellt werden, ob Brüning eine Grund- oder weiterführende Schule besucht oder Privatunterricht genossen hatte. Wo er seine Ausbildung als Uhrmacher gemacht hatte, konnte ebenfalls nicht festgestellt werden; außerdem wurden keine seiner Lehrer oder Uhrmacherkollegen als Zeugen geladen. Damals wurden gehörlose Menschen in Deutschland entweder von Kirchenmännern ausgebildet oder von Pädagogen wie Johann Ludwig Ferdinand Arnoldi (1737-1783) in Großlinden, der 1759 Erfolge als Privatlehrer eines gehörlosen Generalssohnes in Rabenau erzielt hatte. Nachdem Arnoldi 1768 Pastor geworden war, widmete er sich verstärkt der Bildung gehörloser Menschen und beschrieb in einigen Büchern seine Methode, die auf visuellen Anweisungen beruhte, wobei er aber gegen das auf der Lautsprache beruhende Fingeralphabet eingestellt war.46 Bei Brüning konnten keine Anzeichen solcher Bildungsversuche entdeckt werden, und seltsamerweise schienen weder er noch seine Verwandten Hinweise zu seiner Bildung gegeben zu haben. Die Verhandlung fand im Juni 1765 statt, und die Zeugen der Anklage, darunter der Besitzer des Gasthofes, in dem der Angeklagte und das Opfer die Nacht verbracht hatten, beschuldigten Brüning schwer, ohne dass Brünings Anwalt eingriff. Der Anwalt schwieg selbst dann noch, als Brüning aufgerufen wurde. Dies war typisch für den schlechten Zustand des zeitgenössischen Rechtsbeistands, trotz der Verbesserungsversuche Friedrichs II.47 Der Angeklagte beantwortete zwanzig Fragen zu seinen Beweggründen, der Waffe, die vom Opfer gestohlenen Gegenstände und dem Mord. Er beantwortete alle Fragen ausführlich mit Gebärden oder Körpersprache. Auch machte er Skizzen auf Papierstücken. Die letzte Frage zielte darauf ab, ob er verstünde, dass er 46 | Johann Ludwig Ferdinand Arnoldi, Praktische Unterweisung, taubstumme Personen reden und schreiben zu lehren (Gießen: Krieger, 1777); Johann Ludwig Ferdinand Arnoldi, Fortgesetzte Unterweisung für Taube und Stumme, mit hinzugefügten Anmerkungen (Gießen: Krieger, 1781). 47 | Wiedemann, Preußische Justizreformen und die Entwicklung des Anwaltsnotariats in Altpreußen 1700-1849, 21-22.

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für sein Verbrechen die Todesstrafe verdiene. Brüning zeigte sich entsetzt und schlug sich auf seine Brust, kniete nieder, zeigte zum Himmel und machte Gesten mit den Händen, die als Reue für sein Verbrechen gedeutet werden konnten sowie als Versprechen, dass er eine solche Handlung nicht wieder begehen wolle. Der 24-jährige Uhrmacher wurde zu lebenslanger Haft ohne Arbeit verurteilt. Da er nicht taub geboren war und laut Gericht die kriminelle Natur seines Handelns verstehen konnte, konnten die mildernden Umstände des Sachsenspiegels nicht auf seinen Fall angewendet werden. Sein Urteil kann als für die damalige Zeit relativ mild angesehen werden.48 Die Ähnlichkeit des Urteils zu dem des Falles von 1727 zeigt, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten eine zweitrangige Rolle in der Entscheidung des Gerichts spielte. Trotz der Tatsache, dass beide jung ertaubten und ihre Opfer in einem Wutausbruch ermordet hatten, widersprachen sich die Fachmeinungen: nicht oder nur teilweise schuldfähig in Eggerts Fall; voll schuldfähig in Brünings. Der Fall des letzteren fiel in die Regierungszeit des neuen König Friedrich II., der die Folter abschaffte während er gleichzeitig die Grundlagen für das preußische Staatsrecht von 1794 schuf. Anders als sein Vater griff er jedoch nicht in den Fall ein; auch Stimmen prominenter Bürger, die 1727 für ein milderes Urteil plädiert hatten, waren dieses Mal nicht zu hören. Eine Erklärung für das milde Urteil könnte dennoch im Fall Eggert zu finden sein – möglicherweise hatte sich die Erinnerung an die damaligen Fürsprachen durch einflussreiche Persönlichkeiten günstig auf Brünings Urteil ausgewirkt.

3. Der Fall des Johannes Schmidt im Jahr 1828 Anders als die vorherigen Angeklagten war Johannes Schmidt seit seiner Geburt im Jahr 1800 taub. Er kam aus einer guten Familie im Königreich Preußen, das inzwischen von Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) regiert wurde. Dieser König hatte das Kabinett aus persönlichen Beratern aufgelöst und es durch Ministerien ersetzt; so entstand 1808 auch das erste Justizministerium.49 Außerdem ordnete er 1826 eine Revision der Gesetzgebung an, um diese zu modernisieren.50 Johannes Schmidts Geburtsstadt Krefeld war das Zentrum der Leinen- und Seidenproduktion, aus der sie ihren Reichtum schöpfte. Schmidt war der jüngste von drei Brüdern. Er wuchs behütet und verwöhnt in einem liebevollen familiären Umfeld auf; Fehler sah man ihm nach. Sein 48 | Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Hg., Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste (Leipzig: Brockhaus, 1834), 20. 49 | Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947 (München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2007), 374. 50 | Wiedemann, Preußische Justizreformen und die Entwicklung des Anwaltsnotariats in Altpreußen 1700-1849, 173-175.

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ältester Bruder Georg entwickelte eine eigene Gebärdensprache, die dann von der ganzen Familie genutzt wurde, um sich mit Johannes zu verständigen.51 Schmidt wuchs also abgeschirmt zu einem gutmütigen und umgänglichen jungen Mann heran. Die Erziehung seiner Familie hatte ihm auch moralische Grundsätze vermittelt, wie die biblischen Gebote »Du sollst nicht stehlen«, »Du sollst nicht lügen«, »Du sollst nicht töten«. Tatsächlich entwickelte Schmidt einen so starken Sinn für Gerechtigkeit, dass er in Streitereien mit Gleichaltrigen geriet, um Schwächere zu verteidigen. Schmidts idyllische Kindheit endete 1815 abrupt, als er in die katholische Knabenschule anstatt auf die Krefelder Privatschule für Taubstumme geschickt wurde. Letztere wurde von Carl August Dietrich Heinicke (1768-1838) geleitet, einem Sohn Samuel Heinickes. Waren die Schulgebühren für die Familie zu hoch oder wussten sie nichts von Carl Heinicke, der 1793 nach einem Streit Leipzig verlassen hatte und im selben Jahr die erste Schule für Taubstumme in den Rheinprovinzen eröffnet hatte? Die Schule überlebte bis 1835 mit sechzehn Schülern, deren Familien hohe Schulgebühren zahlen mussten. In einer Stadt von 80.000 Einwohnern war Carl Heinicke wohlbekannt, zumal sein Schüler Peter van der Herberg, Sohn eines Fabrikbesitzers, 1797 die Prüfung für die Zulassung zur Heiligen Wassertaufe der Mennoniten bestanden hatte.52 Die Mennoniten, eine protestantische Bewegung, die in Abgrenzung zum evangelischen Glauben lutherischer Ausprägung die erwachsene Wassertaufe durchführte, war zu der Zeit im religiösen Leben Krefelds sehr präsent.53 Selbst wenn die katholische Familie Schmidt keine Verbindungen mit den Mennoniten der Stadt hatte, war Carl Heinicke ihnen höchstwahrscheinlich bekannt. Es bleibt letztlich unklar, warum sie sich entschieden, ihr Kind in eine katholische Schule und nicht in das örtliche Taubstummeninstitut zu geben. Schmidts Schulerfahrungen waren traumatisch – weder Lehrer noch Mitschüler konnte ihn verstehen. Er wurde selbst aus den Spielen der anderen Schüler ausgeschlossen. Der Gegensatz zu seiner heimischen Umgebung, wo die ganze Familie versuchte, mit ihm in Gebärdensprache zu kommunizieren, hätte nicht extremer sein können. Sein älterer Bruder Georg versuchte vergeblich, einen Ausgleich für die Misshandlungen in der Schule zu schaffen. Schmidt lernte kaum lesen und schreiben, noch viel weniger, Dinge zu verstehen. Er war beispielsweise überzeugt, dass die Juden, denen er auf der Straße begegnete, diejenigen waren, die Jesus Christus ans Kreuz geschla51 | Jacob Venedy, »Der taubstumme Mörder«, in Volkskalender auf das Jahr 1849, Hg. Gustav Nieritz (Leipzig: Georg Wigand’s Verlag, 1848), 1-24. 52 | Hans-Uwe Feige, »Ein Mennonit aus Krefeld: Peter van der Herberg«, Krefelder Jahrbuch 74 (2003): 46-52. 53 | Hans-Uwe Feige, »Der Fall Johannes Schmidt«, Das Zeichen 19, Nr. 70 (2005): 173.

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gen hatten. Außerdem war er der einzige Junge seines Alters, der nicht zur Kommunion zugelassen wurde und konnte den Grund dafür nicht verstehen, was sein Gefühl der ungerechten Behandlung verstärkte. Seither entwickelte er Wahnvorstellungen und einen starken Verfolgungswahn. Obwohl er kein Kommunionszeugnis besaß, konnte er eine Handwerksausbildung – Schuhmacherei – in seiner Heimatstadt beginnen, höchstwahrscheinlich aufgrund der Beziehungen seines Vaters. Damit bot sich ihm die für einen gehörlosen Mann damals eher seltene Gelegenheit, mit dem Schuhmacherhandwerk einmal einer ordentlichen Beschäftigung nachgehen zu können. Als Schmidt sich in eine Frau verliebte, war es ihm nicht möglich, seine Gefühle klar auszudrücken, weshalb sie diese nicht erwiderte. Er war so enttäuscht, dass er Angst vor allen Frauen entwickelte. Mit der Zeit wurden Frauen für ihn zunehmend zur Verkörperung des Bösen. Nach einem Theaterbesuch in Mainz mit seinem Vater festigte sich diese Überzeugung weiter: In dem Stück vergiftete eine junge Frau ihren Liebhaber. Schmidt glaubte bald, dass er von allen Frauen verfolgt wurde. Er dachte, er könne ihnen nur entkommen, indem er in entfernte Länder reiste. Nach dem Tod von Schmidts Eltern wurde sein ältester Bruder Georg zu seinem gesetzlichen Vormund bestimmt. Schmidts Verfolgungswahn weitete sich aus. Er war jetzt entschlossen, nach Brasilien zu entkommen; sein Bruder war jedoch dagegen. Johannes’ Wahn verstärkte sich durch diesen Widerstand, und er begann sich zu erbrechen und Blut zu husten. Frauen seien für seine Krankheit verantwortlich, behauptete er; sie hätten seinen Arzt bestochen, ihm Gift zu geben. Nachdem er sich erholt hatte, floh er unbemerkt aus seinem Elternhaus, streunte in Mainz, Andernach und Kreuznach herum und begann auch, dort zu arbeiten. Schließlich ließ er sich im Dezember 1828 in Bonn nieder, und nach langer Suche – kaum jemand wollte einen taubstummen Arbeiter einstellen, und Kontakte hatte er keine – fand er eine Anstellung beim Schuhmacher Anton Führer, von dem ein anderer Angestellter wiederholt geflohen war, nachdem er von Führer mit einem Messer angegriffen worden war. Im Rheinland gab es keine 50-Thaler-Taubstummenprämie für die Einstellung von Gehörlosen wie in Sachsen seit 1811 oder in Brandenburg seit 1817. Führer war ein bekannter Tyrann und Trinker, der seine eigene Familie und die Nachbarschaft terrorisierte. Bei geringstem Anlass misshandelte er seine minderjährigen Söhne. Die Wutanfälle seines Meisters, beschrieben als die eines wilden »Thiermenschen«, verbunden mit dem starken Verfolgungswahn Schmidts ließen diesen bald um sein Leben fürchten.54 Die Wutanfälle erinnerten ihn an das Theaterstück, das er in Mainz mit seinem Vater gesehen hatte, und er kam zu dem Schluss, dass Führer von seinen weiblichen Verfolgern bestochen worden war, um ihn zu foltern und schließlich umzubringen. 54 | Venedy, »Der taubstumme Mörder«, 15.

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Warum lief Schmidt nicht fort, um der Schikane seines Meisters zu entkommen? Sein zweitältester Bruder Andreas diente in Bonn als Freiwilliger bei der Uhlan, einer Elitetruppe der Kavallerie, die in verschiedenen europäischen Armeen diente. Er hatte Johannes endlich in der Unterkunft des Schuhmachers gefunden, und Johannes gefiel es, in derselben Stadt zu leben wie sein Bruder, der einzigen Person, mit der er kommunizieren konnte. Andreas erzählte ihm, dass sein ältester Bruder, der als Lehrer in Ausbildung in Münster lebte, ihm die Flucht aus dem Elternhaus vergeben habe und an Ostern nach Bonn kommen wolle. Andreas versprach seinem jüngeren Bruder auch, dass er ihm helfen würde, einen neuen Arbeitsplatz mit einem besseren Meister zu finden. Am 24. Dezember 1828 war Andreas sogar in der Schuhmeisterwerkstatt, um bei der Frau des Schuhmachers ein gutes Wort für seinen Bruder einzulegen. Die Geschäfte gingen gut an jenem Weihnachtstag. Als Führer zum Arbeitsplatz seines taubstummen Gesellen Schmidt kam, sah er, dass er einen Stiefel mit einer doppelten anstatt einer einfachen Naht genäht hatte. Er zog die Naht heraus und begann, die Städte Mainz und Kronach zu beschimpfen, wo Schmidt sein Handwerk erlernt hatte. Schmidt war unfähig, die furchtbaren Gesten seines Meisters, »dem die Augen zum Kopfe hervorglotzen«, noch länger zu ertragen und drehte ihm plötzlich den Rücken zu, was seinen Meister noch mehr erboste.55 Der Schuhmacher packte ihn, woraufhin Schmidt seine Beherrschung verlor und eine Ahle von einem Tisch nebenan griff. Er stieß sie tief in die Brust seines Meisters, der sein Gleichgewicht verlor und aus der Werkstatt taumelte, bevor er hinstürzte. Schmidt wurde umgehend von der Polizei verhaftet und eingesperrt. Als sein Bruder Andreas ihm im Gefängnis erzählte, dass das Opfer gestorben sei, blieb Schmidt ruhig. Er war überzeugt, dass Gott seine Hand geleitet habe, um seinen Meister für dessen Bosheit zu bestrafen. Sieben Monate später, am 14. August 1828, begann der Prozess in Köln. Der Angeklagte wurde als netter junger Mann beschrieben, von mittlerer Größe, mit einem offenen Gesicht, schwarzem Haar, und blauen, klaren und lebhaften Augen.56 Mit dem Kölner Taubstummenlehrer Johann Joseph Gronewald (1804-1873) stand ihm von Anfang an ein Dolmetscher bei, der ihm aber mit Gebärden nur wenige Teile des Prozesses verständlich machen konnte. Wie ein Prozessbeobachter bemerkte, wurde Gronewald seiner Rolle offensichtlich nicht gerecht.57 Die Anklage forderte die Todesstrafe, weil Taubstumme genauso gut wie hörende Leute zwischen richtig und falsch unterscheiden könnten und dementsprechend auch verstünden, dass Mord ein Kapitalverbrechen darstelle. 55 | Ebd., 16. 56 | Ebd., 19. 57 | Ebd., 21.

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Mehrere Zeugen attestierten sowohl Schmidts liebenswerte und kindliche Persönlichkeit als auch die Bösartigkeit des Opfers; beides wurde zugunsten des Angeklagten ausgelegt. Ein medizinischer Experte aus Bonn, Dr. Felden, spielte eine wichtige Rolle in der Entscheidungsfindung des Gerichts: Er stellte fest, dass taubstumme Menschen sich später entwickelten als hörende, und dass sie selbst dann, wenn sie sich vollständig entwickelt hätten, »unter der gewöhnlichen Entwicklungsstufe« hörender Menschen blieben. Felden sagte sogar aus, dass Taubstumme im besten Fall den Stand von Idioten und Schwachsinnigen erreichten und deshalb unfähig seien, richtig und falsch zu unterscheiden.58 Dieses Gutachten widersprach offenkundig der Meinung des Anklägers, dass selbst gehörlose Individuen die Schwere des Verbrechens verstehen könnten. Schmidts Anwalt bemerkte weiterhin, dass sein Mandant die Gesetze nicht kenne, und dass niemand nach Gesetzen, die er nicht kenne, verurteilt werden solle. Das Ansehen von Anwälten hatte sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts gebessert, und ihr Rat wurde besser bewertet, wenn es darum ging, komplexe Gerichtsverfahren zu navigieren.59 Eine Aussage des Angeklagten war ebenfalls ausschlaggebend für das Urteil: »Tiefe Nacht legte sich auf mein Gehirn, die vielleicht Gott zur Strafe des Meisters veranlasst haben mag.«60 Am nächsten Tag sprach die Jury den Angeklagten frei. Ihrer Meinung nach war Johannes Schmidt nicht zurechnungsfähig – non compos mentis. Anders gesagt, er war nicht schuldfähig, als er das Verbrechen beging.

S chluss Der erste Angeklagte, Eggert, der früh ertaubt war, wurde durch eine Täuschung zu einem Geständnis gebracht, nachdem ihm zwei Dolmetscher ohne Kenntnis seiner Gebärdensprache zur Verfügung gestellt worden waren. Sein Urteil folgte den Empfehlungen eines Gutachtens der Hallenser juristischen Fakultät aus dem Jahr 1727. Das Gutachten stellte ohne weitere Untersuchungen fest, dass gehörlose Individuen die kriminelle Natur eines Mordes nicht verstehen könnten und deshalb nicht zum Tode sondern nur zu lebenslanger Haft mit Arbeit verurteilt werden sollten. Die fehlende Schuldfähigkeit negierte nicht den Bedarf nach Strafe, sondern reduzierte nur deren Härte. Der preußische König widerrief das erste Urteil, da der Fall durch das vorherige Gericht nachlässig gehandhabt worden sei. Zwei neue Dolmetscher wurden gestellt, um zu überprüfen, ob Eggert zurechnungsfähig sei. Die Me58 | Ebd., 20. 59 | Erich Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500 (Berlin: Duncker und Humblot, 1953), 117. 60 | Venedy, »Der taubstumme Mörder«, 22.

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thode zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit war seltsam: Man schreckte den Angeklagten mit seiner möglichen Exekution ab. Da dieser sich tatsächlich erschrocken zeigte, wurde geschlussfolgert, dass der Angeklagte zurechnungsfähig sei. Das Urteil des zweiten Gerichtes ähnelte nichtsdestotrotz dem des ersten: lebenslange Haft mit Arbeit, ergänzt durch öffentliches Auspeitschen auf dem Marktplatz. Durch das zweite Gutachten für zurechnungsfähig erkannt, wurde Eggert nun für fähig gehalten, die kriminelle Natur seiner Tat zu verstehen; jedoch war es ungewöhnlich für jene Zeit, dass dieses neue Element der Schuldfähigkeit nicht zu einem Todesurteil, sondern zu einer zusätzlichen, ebenfalls wie bei einer Hinrichtung öffentlich ausgeführten Strafe führte. Dank der Fürsprache einflussreicher Personen, die für eine mildere Strafe plädierten, griff der König erneut zu Eggerts Gunsten ein, indem er die öffentliche Bestrafung zurücknahm. Seinen Unterstützern zufolge konnte Eggert die kriminelle Natur seiner Tat nicht verstehen und hatte unter großem emotionalem Druck gehandelt; daher war er nicht voll schuldfähig. Nach einer langen prozeduralen Verfahren, das eine Nuancierung der kriminellen Schuldfähigkeit – von nicht zurechnungsfähig und nicht schuldfähig zu zurechnungsfähig und teilweise schuldfähig – zuließ, blieb das endgültige Urteil gleich: lebenslange Haft mit Arbeit. Im zweiten Fall von 1764 wurde kein Dolmetscher gestellt, stattdessen brachte eine mit der von Brüning gebrauchten Gebärdensprache vertraute Amtsperson ihn zum Geständnis. Brünings Anwalt erstellte in Gegenwart eines Brüning bekannten Predigers ein Gutachten, nach dem Brüning die sündhafte Natur des Mordes verstünde. Nichtsdestotrotz wurde Brüning wie Eggert zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Eggert und Brüning hatten gemein, dass beide hörend geboren waren, und dass ihre Fähigkeit, die kriminelle Natur ihres Handelns zu verstehen, erst festgestellt werden musste. Die Schuldfähigkeit des ersten wurde schließlich als begrenzt, die des zweiten als vollständig eingestuft. Ihre Ausbildung und ihr Lebenswandel waren ebenfalls recht verschieden. Eggert hatte keine Bildung erhalten und lebte vom Betteln, während Brüning ein Handwerk erlernte und als Uhrmacher lebte. Der dritte Fall von 1828 lag anders. Der Angeklagten Schmidt war taub geboren und hatte dank der Beziehungen seiner Familie ein Handwerk erlernen können. Ihm wurde ein Dolmetscher gestellt, der sich jedoch als nicht kompetent erwies. Im Gegensatz zur Darstellung der Anklage behauptete ein medizinischer Experte, dass taube Menschen nicht den Entwicklungsstand hörender Individuen erreichen könnten; er verglich sie mit »Idioten«, die unfähig seien, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Eine kriminelle Schuldfähigkeit sei dementsprechend nichtexistent, und Schmidt könne nicht schuldig gesprochen werden. Die Jury folgte dieser Empfehlung und sprach den Angeklagten frei; ein ganz anderes Ergebnis als bei den zwei älteren Fällen. Anders als im Fall Brünings, der ebenfalls ein Handwerk erlernt hatte, wurde im Falle

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Schmidts bei der Beurteilung seiner Fähigkeit, die kriminelle Natur seines Verbrechens zu verstehen, die Tatsache, dass er eine Ausbildung durchlaufen hatte, durch seine Gehörlosigkeit aufgewogen. In der zeitgenössischen Strafjustiz kontrastierten zwei gegenläufige Kräfte: Wenn gehörlose Angeklagte für zurechnungsfähig und damit für fähig gehalten wurden, ihre Verbrechen zu verstehen, wurden sie zum Tode verurteilt; wurden sie freigesprochen, bedeutete dies, dass sie als unfähig betrachtet wurden, ihre Verbrechen zu verstehen, wie »Idioten«, Tiere oder Kinder. Der zeitgenössische Preis, von der Justiz als zurechnungsfähig betrachtet zu werden, war also nicht weniger als das eigene Leben. In chronologischer Reihenfolge betrachtet verdeutlichen die hier vorgestellten Gerichtsverfahren, dass gehörlose Angeklagte im Königreich Preußen im Falle Eggerts 1727 zuerst als nicht schuldfähig, dann als zurechnungsfähig aber nur teilweise schuldfähig; im Falle Brüning 1764 als schuldfähig und zurechnungsfähig; und im Falle Schmidt 1828 als unterentwickelt und »idiotisch« eingestuft wurden. Die hinzugezogenen Experten kamen zu drei verschiedenen Kategorisierungen für gehörlose Mörder: nicht schuldfähig, teilweise schuldfähig und voll schuldfähig. Ein weiterer nennenswerter Unterschied zwischen den Fällen lag in den Urteilen. Die lebenslange Haft war 1727 und 1764 sicherlich eine mildere Strafe als die Todesstrafe für einen des Mordes beschuldigten hörenden Angeklagten; 1828 wurde der gehörlose Angeklagte wegen mangelnder Schuldfähigkeit aufgrund seiner Taubheit freigesprochen. Die Todesstrafe wurde üblicherweise für Kapitalverbrechen verhängt, und gehörlosen Menschen blieb diese Strafe nicht immer erspart, obwohl sie laut Gesetz bei Gehörlosigkeit von Geburt an in dieselbe Kategorie wie ›geisteskranke‹ Kriminelle gehörten.61 Tatsächlich war den Angeklagten in den hier besprochenen Fällen die höchste Strafe erspart geblieben, obwohl zwei von ihnen nicht taub geboren sondern früh ertaubt waren. Die deutschen Gesetzesbücher wie der Sachsenspiegel von 1235, die Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 und die Constitutio Criminalis Carolina von 1523 ließen den legalen Gebrauch von Folter zu, wobei ein zurechnungsfähigen Verstand vorausgesetzt wurde. Bei unzurechnungsfähigen Personen erwartete der Gesetzgeber nicht, unter Folter Informationen zu erhalten, die für die Aufklärung oder Bestrafung von Kapitalverbrechen hilfreich wären. Der Sachsenspiegel stellte von Geburt an gehörlose Menschen mit ›geisteskranken‹ Menschen gleich, weshalb festgestellt werden musste, ob Eggert und Brüning fähig waren, ihre Verbrechen zu verstehen. Zur damaligen Zeit war die Ansicht weit verbreitet, dass gehörlose Menschen ähnlich wie geistig behinderte Menschen intellektuell eingeschränkt seien. Erst allmählich setzte sich die Idee durch, dass gehörlose Menschen durch Bildung zur Kommunikation und geistigen 61 | Hans-Uwe Feige, »Der Fall Philipp Dörr«, Das Zeichen 19, Nr. 69 (2005): 6.

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Entwicklung gebracht werden können, was letztlich der Gründung von Gehörlosenschulen Auftrieb gab. Wie Ernst Adolf Eschke (1766-1811), Schwiegersohn Samuel Heinickes und Gründer einer Gehörlosenschule in Berlin, es 1810 ausdrückte: »Wer mit Taub- und Stummgebornen umgegangen ist, der weiß, wie wenig ein solcher Mensch, mitten unter vernünftigen Menschen, ohne Sprache zu Ideen der Vernunft gelangt, und in welcher thierischen Wildheit alle seine Treibe bleiben.«62 Anders gesagt: taube Menschen brauchen eine spezielle Bildung, da sie die vorherrschende Lautsprache in einem hörenden Umfeld nicht ebenso wie Hörende durch Zuhören und Nachahmen erlernen können. Die Bedeutung von Eggerts Fall von 1727 kann leicht herausgestellt werden. Er repräsentiert den ersten Versuch eines gerechten Verfahrens für einen gehörlosen Angeklagten mit einer Abschätzung aller Aspekte seiner Persönlichkeit. Bis zu diesem Zeitpunkt war nicht einmal auf die Frage, wie überhaupt mit einem gehörlosen Zeugen oder Angeklagten kommunizieren werden sollte, eingegangen worden. Die Verständigung mit gehörlosen Personen stand in der Rechtsprechung nicht im Vordergrund. Gehörlose Menschen, die eines Kapitalverbrechens für schuldig befunden worden waren, wurden üblicherweise ohne Bedenken erhängt oder mit dem Schwert hingerichtet. Die deutsche Justiz überkam diese Herangehensweise im frühen 18. Jahrhundert. Sie war die erste in Europa, die diese Problematik ernst nahm. Dem Fall Eggert kommt somit eine entscheidende Rolle in der deutschen Rechtsgeschichte zu. Auch das 1794 ausgerufene deutsche Landrecht war von der Handhabe in diesem Verfahren beeinflusst und beinhaltete Paragrafen, die einen starken rechtlichen Schutz gehörloser Menschen sicherstellen sollten.63 Dennoch blieb die Kommunikation mit gehörlosen Angeklagten bei Befragungen oder Anhörungen problematisch und konnte ihre faire Behandlung nicht garantieren. Die Urteile basierten oft auf äußerst fragwürdigen Gutachten, die dennoch zu vorteilhaften Entscheidungen für den Angeklagten führen konnten. Das wird besonders deutlich im Fall Schmidt. Ohne Zweifel wäre ein hörender Angeklagter zum Tode verurteilt worden. Die Anklage stellte die Fähig62 | Ernst Adolf Eschke, »Von der besten Methode, Taubstumme zu unterrichten«, Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 31, Nr. 8 (1810): 1-51, hier 33. 63 | Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1794, Zweyter Theil, Achtzehnter Titel. Von Vormundschaften und Curatelen. »§15. Taub­ und Stummgeborne, ingleichen diejenigen, welche vor zurückgelegtem Vierzehnten Jahre in diesen Zustand gerathen sind, müssen, sobald sie nicht mehr unter väterlicher Aufsicht stehen, vom Staate bevormundet werden. §16. Diejenigen, welche erst in spätern Jahren taubstumm geworden sind, müssen nur alsdann unter Vormundschaft genommen werden, wenn sie sich durch allgemein verständliehe Zeichen nicht ausdrücken können, und daher ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen ganz unfähig sind.«

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keiten eines hörenden und gehörlosen Angeklagten, die Gesetze zu verstehen, auf eine Stufe und ermöglichte damit die gleiche Strafe für gleiche Verbrechen. Einerseits bedeutete die Aussage der Anklage einen wichtigen Schritt hin zur Anerkennung der Fähigkeit gehörloser Menschen, ihr Verbrechen zu verstehen. Sie wurden nicht mehr als geistig gestörte Individuen mit einem eingeschränkten Verständnis von richtig und falsch und einer Unfähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, betrachtet. Auf der anderen Seite, der des Urteils, waren dies sehr schlechte Nachrichten. Gehörlose Angeklagte konnten nun mit derselben Strenge bestraft werden wie hörende Kriminelle. Der Ankläger forderte deshalb die Todesstrafe für Schmidts Mord an seinem tyrannischen Meister. Glücklicherweise rettete ihn ein medizinischer Experte aus Bonn – wiederum ein doppelschneidiges Schwert, das sich aus einer Mischung von nichtjuristischem Wissen und juristischer Macht ergab.64 Indem er behauptete, dass gehörlose Menschen im Vergleich zu hörenden unterwickelt seien und sich auf einer Ebene mit ›Idioten‹ befänden, schaffte der medizinische Experte Dr. Felden Raum für mildernde Umstände. So sagte er aus, dass gehörlose Menschen niedriger eingestuft werden sollten als hörende; ihre Fähigkeit eine Situation zu verstehen und ihre Gefühle zu kontrollieren sei ernsthaft beeinträchtigt. Allerdings rettete genau dieses Vorgehen den gehörlosen Täter vor der Todesstrafe und führte zu Schmidts Freispruch. Die Experten aus Halle erreichten nicht die gleiche Milde für Eggert im Mordfall von 1727: Obwohl Eggert als nicht zurechnungsfähig und nicht schuldfähig für sein Verbrechen erklärt wurde, sprach das erste Gericht eine lebenslange Haftstrafe mit Zwangsarbeit aus. Nachdem der König diese Entscheidung widerrufen hatte und ein zweites Gutachten durch zwei Kleriker vorbereitet worden war, erklärte ein zweites Gericht in Berlin den Angeklagten für zurechnungsfähig. Dieses Gutachten erkannte die Fähigkeit gehörloser Menschen an, die kriminelle Natur einer Straftat zu verstehen, und ermöglichte es somit wiederum, auch bei gehörlosen Tätern in einem Mordfall die Todesstrafe anzuwenden. Dank der Einmischung prominenter Individuen wie Brandan Meibom, der behauptete, dass Eggert schon durch seine Gehörlosigkeit bestraft sei, und dass gehörlose Menschen ihr Verbrechen nicht vollständig verstünden, wurde der Angeklagte schließlich zur selben Strafe verurteilt wie vom ersten Gericht, nämlich lebenslange Haft mit Arbeit. Das Gutachten über Brüning von 1764 wurde von einem Kleriker verfasst, der aussagte, dass der Angeklagte zurechnungsfähig sei und sein Verbrechen voll verstünde. Obwohl dies zu einer Todesstrafe hätte führen können, setzte das Gericht wie im früheren Fall lebenslange Haft als Strafmaß an. Die Fähigkeit, ihr Verbrechen zu verstehen, bzw. der Mangel eines solchen Verständnisses beeinflusste die Strafentscheidung der Gerichte nicht durchge64 | Foucault, Surveiller et punir, 30.

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hend einhellig. Die Gutachten scheinen folglich zweitrangig gewesen zu sein gegenüber Überlegungen zur Fähigkeit gehörloser Menschen, ihre kriminellen Handlungen überhaupt zu verstehen. Nachdem nämlich die Gutachten zu dem Urteil gekommen waren, dass die gehörlosen Täter ihr Fehlverhalten verstehen könnten, blieb den gehörlosen Angeklagten die Todesstrafe aufgrund ihrer festgestellten Einschränkungen (d.h. eingeschränkte intellektuelle Entwicklung und Taubheit) erspart. Im letzten Fall von 1828 unterstützten die Gutachten sogar einen Freispruch und verdeutlichten somit eine Tendenz in Richtung mildere Behandlung von Gehörlosen durch das Justizsystem. Nicht zuletzt zeigen diese Gerichtsverfahren eine zunehmende Hinwendung zu der Idee, dass gehörlose Menschen dasselbe Verständnis wie hörende Menschen erreichen können, wenn sie eine richtige Ausbildung genossen.65 Hier zeigt sich also, dass Entwicklungen in der Rechtsprechung Tendenzen im Bildungssystem bestärkten.

B ibliogr afie Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1794, Zweyter Theil, Achtzehnter Titel. Arnoldi, Johann Ludwig Ferdinand. Praktische Unterweisung, taubstumme Personen reden und schreiben zu lehren. Gießen: Krieger, 1777. Arnoldi, Johann Ludwig Ferdinand. Fortgesetzte Unterweisung für Taube und Stumme, mit hinzugefügten Anmerkungen. Gießen: Krieger, 1781. Berkowitz, Roger Stuart. The Gift of Science: Leibniz and the Modern Legal Tradition. Cambridge: Harvard University Press, 2005. Buhl, Heinrich. Salvius Julianus: Erster Teil. Einleitung. Personenrecht. Berlin: G. Koester Verlag, 1886. Carlyle, Thomas. History of Friedrich II of Prussia. Frederick The Great. London: Chapman and Hall, 1858. Cartuyvels, Yves. »Eléments pour une approche généalogique du code pénal«. Déviance et société 18, Nr. 4 (1994): 373-396. https://doi.org/10.3406/ ds.1994.1356. Clark, Christopher. Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2007. Döhring, Erich. Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500. Berlin: Duncker und Humblot, 1953.

65 | Eschke, »Von der besten Methode, Taubstumme zu unterrichten«, 1-2.

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Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik in der Habsburger Monarchie Florian Wibmer

E inleitung und historische B egriffe Vorweg ist festzuhalten, dass die Geschichte von gehörlosen und schwerhörigen Personen im deutschsprachigen Raum noch an intensiver Erforschung bedarf. Zwar gibt es schon einige geschichtswissenschaftliche Beiträge zu diesem Themenbereich, jedoch bleiben viele Aspekte unbeleuchtet. Im folgenden Artikel wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung der österreichischen Gehörlosenpädagogik im 18. und 19. Jahrhundert geliefert. Dabei wird das Hauptaugenmerk vor allem auf das k.k. (kaiserlich königliche) Taubstummeninstitut in Wien gelegt. Dieses war nicht nur die erste staatlich gegründete Gehörlosenschule, sondern nahm auch eine bedeutsame Rolle im Ausbau des Unterrichtswesens für gehörlose Menschen in der Habsburger Monarchie ein. Grundlage für diesen Artikel ist meine Masterarbeit »Unterricht für gehörlose Personen im 18. und 19. Jahrhundert. Das k.k. Taubstummeninstitut als Startpunkt der österreichischen Gehörlosenpädagogik«1, die 2016 an der Universität Wien angenommen wurde. Zentrale Fragen dieser Arbeit waren: Wann und wo wurden Taubstummeninstitute im 18. und 19. Jahrhundert in der Habsburger Monarchie gegründet? Welche Methoden – also Laut- oder Gebärdensprache – wurden im Unterricht vorwiegend angewendet? Damit verbunden stellten sich auch die Fragen, woher das Wissen über den Unterricht von gehörlosen Personen bezogen wurde und welche Chancen der Unterricht gehörlosen Personen eröffnete. Um die Geschichte der Gehörlosenpädagogik besser zu verstehen, beschäftigte ich mich in der Masterarbeit auch mit der Geschichte der Gehörlosen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.

1 | Florian Wibmer, »Unterricht für gehörlose Personen im 18. und 19. Jahrhundert: Das k.k. Taubstummeninstitut als Startpunkt der österreichischen Gehörlosenpädagogik« (MA Thesis, Universität Wien, 2016).

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In geschichtswissenschaftlichen Arbeiten geht es auch darum, Begriffe zu kontextualisieren. Selbstverständlich gab es auch bei den Begriffen »Taubheit« und »Schwerhörigkeit« unterschiedliche Konnotationen. Daher habe ich in meiner Masterarbeit zum Einstieg unter anderem »Definitionen und Perspektiven über gehörlose Personen im 18. und 19. Jahrhundert« rekonstruiert. So untersuchte ich beispielsweise Besprechungen der Begriffe »Taubheit«, »Stummheit« oder »Taubstummheit« im Zedler’schen Universallexicon oder im Wörterbuch Adelung. Das Wiener Taubstummeninstitut selbst definierte den Begriff »taubstumm« 1801 wie folgt: »Diejenigen Menschen, welche ohne Gehör geboren werden, oder dasselbe in ihrer ersten Kindheit, ehe sie vollkommen sprechen lernen, verlieren, heißen Taubstumme.«2 Diese Definition klassifizierte Menschen, die nichts hören und dadurch das Sprechen nicht lernen konnten, als Taubstumme. Die Bezeichnung »taubstumm« gilt heute als überholt, weil in den meisten Fällen die Stimmorgane bei gehörlosen Menschen funktionieren und damit der Begriff falsch ist.3 Eine Abgrenzung zum Wort »Schwerhörigkeit« konnte beispielsweise im Zedler’schen Universallexicon nicht gefunden werden, vielmehr sind die Bezeichnungen »schweres Gehör«, »schwer hören« oder »schwer hörend« im Beitrag zur »Taubheit« zu lesen.4 Es ist zu vermuten, dass die Differenzierung zwischen »Taubheit« und »Schwerhörigkeit« ein Phänomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist – insbesondere aber des 20. Jahrhunderts, als Hörgeräte zunehmend entwickelt und verwendet wurden. Eine etymologische und historische Untersuchung des Begriffes »Schwerhörigkeit« ist jedoch noch ausständig. Bei der historischen Analyse ist die Verwendung dieser Begriffe aber unumgänglich, da nicht immer erkennbar ist, ob eine Schülerin oder ein Schüler nach heutiger Definition gehörlos, taub oder taubstumm war, wobei nicht die Absicht verfolgt wird, historische und allenfalls medizinische Perspektiven und Definitionen zu rezipieren. Im Folgenden werde ich kurz die Gründungsphase des k.k. Taubstummeninstituts darstellen. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf die methodischen Ansätze gelegt und die »Wiener Methode« innerhalb der methodischen Auseinandersetzungen des späten 18. Jahrhunderts verortet werden. Darüber hinaus wird auf weitere Konflikte innerhalb der österreischischen Gehörlosenbildung eingegangen. Im zweiten Teil dieses Artikels widme ich mich der Gründung weiterer Institutionen in der Habsburger Monarchie im Lauf des 19. 2 | BIG Archiv I 995, Kurze Nachricht von der Verfassung und Einrichtung des kaiserl. königl. Taubstummen-Instituts zu Wien, Wien 1801, 3. 3 | Valerie Clarke, Unerhört: eine Entdeckungsreise durch die Welt der Gehörlosigkeit und Gebärdensprache (Augsburg: ZIEL, 2006), 9-10. 4 | Johann Heinrich Zedler, Carl Günther Ludovici und Johann Peter von Ludewig, Universallexicon, Bd. 42 (Halle und Leipzig: Zedler, 1731-1754), 202.

Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik

Jahrhunderts. Das Ziel ist es, einen Einblick in die Vielfalt der methodischen Diskurse, Entwicklungen und regionale verschiedenen Standorte innerhalb der Gehörlosenbildung in der Habsburger Monarchie zu geben.

D ie G ründung und A nfangszeit des k . k . T aubstummeninstituts in W ien Nach derzeitiger Quellenlage und -interpretation wurde das Taubstummeninstitut in Wien per Hofdekret am 31. März 1779 gegründet.5 In der Ausgabe des Wienerischen Diariums, dem Vorläufer der bis heute existierenden Wiener Zeitung, vom 22. Mai 1779 erfährt man von der Gründung der Schule in Wien: Nachricht. Ihre kaiserl. königl. Apostol. Majestät haben aus landesmütterlicher Vorsorge den Johann Friderich Stork, Priester der hiesigen erzbischöflichen Kur, zum Unterricht der Stummen und Tauben nach der von ihm hierzu sich eigen gemachten Fertigkeit zu bestimmen, ihm auch den Joseph May als Gehilfen in sothanem 6 Unterrichte beyzugeben, und hiezu ein eigenes Zimmer in dem Burgerspitale allhier in Wien einräumen zu lassen allergnädigst geruhet.7

Welche Gründe und Überlegungen gab es für die Errichtung einer solchen Schule? Die häufigste Erklärung ist, dass Joseph II. anlässlich seines Besuchs bei seiner Schwester, Marie Antoinette und seines Schwager Louis XVI., König von Frankreich, 1777 von der Schule des Charles Michel Abbé de l’Épée (1712-1789) gehört haben soll. Gustav Pipetz, ein Taubstummen-Lehrer im 19. Jahrhundert, behauptet, Joseph II. habe aus eigener Initiative die Gehörlosenschule besucht.8 Die Erzählung, dass Joseph II. grundsätzlich sehr neugierig war, war weit verbreitet. Die Regierungszeit von Joseph II. wird als Josephinismus oder als aufgeklärter Absolutismus bezeichnet, da in diesem Zeitraum bis heute wichtige Reformen durchgeführt wurden.9 Reformiert wurde in 5 | Wibmer, »Unterricht«, 50. 6 | Das Wort »sothanem« könnte »solchem« bedeuten, womit es hieße: »…als Gehilfen in ›solchem‹ Unterrichte«. 7 | »Nachricht vom 7. May 1779«, Wienerisches Diarium, 22.5.1779, 8. 8 | BIG Archiv I 388, Gustav Pipetz, Entwicklung des Taubstummen-Bildungswesen in den Ländern Österreich, Graz 1902, 5. 9 | Helmut Reinalter, »Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus – ein Forschungsproblem? Gesellschaftlicher Strukturwandel und theresianisch-josephinische Reformen« in Josephinismus – eine Bilanz/Èchecs et réusistes du Joséphisme: Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Hg. Wolfgang Schmale, Renate Zedinger und Jean Mondot (Wien: Böhlau, 2008), 32.

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allen möglichen Bereichen, so auch im Armen- und Fürsorgewesen. In Wien wurde das Bürgerspital, wo zunächst das Taubstummeninstitut untergebracht war (jedoch nicht organisatorisch), durch das Allgemeine Krankenhaus ersetzt. Vorbild war das Pariser »Hotel Dieu«, welches Joseph II. ebenfalls in Paris 1777 kennen gelernt hatte.10 Wie bereits ausgeführt, sollte die Idee zur Gründung des Wiener Taubstummeninstituts ebenfalls ein Ergebnis dieses Besuches sein.11 Eine andere Version, die wahrscheinlich aber auch auf die Darstellung von Pipetz zurückgeht, erzählt Walter Schott in seinem 1995 erschienenen Buch über das Wiener Institut. Joseph II. habe am französischen Hofe von der Schule des Abbé de l’Épée gehört und dabei an ein gehörloses adeliges Mädchen in Wien gedacht, für welche er sich um eine Ausbildungsmöglichkeit bemühte.12 Auch diese Version ist plausibel, weil wir aus einem Verzeichnis des Wiener Institutes wissen, dass zu den ersten Schülerinnen auch ein adeliges Mädchen gehörte.13 Jedoch ist noch eine weitere Überlegung ins Treffen zu führen: Es ist zu vermuten, dass Joseph II. die Gründung des Instituts auch deshalb anordnete, damit gehörlose Kinder der allgemeinen Schulpflicht nachkommen konnten, die im Zuge der Reform des Schulwesens eingeführt worden war. Die »Allgemeine Schulpflicht« galt ab 1774 für die Erbländer der Habsburgermonarchie. Sie war durch die Allgemeine Landeschulordnung vorgeschrieben und sah vor, dass »Kinder, beiderlei Geschlechts, […] sobald sie das 6te Jahr angetreten haben, von welchen an sie bis zu vollständiger Erlernung der für ihren künftigen Stand, und Lebensart erforderlichen Gegenstände die deutschen Schulen besuchen müssen«.14 Die Schulzeit sollte zwischen sechs und sieben 10 | Paul Pfeiffer, Das Allgemeine Krankenhaus in Wien von 1784: Vor dem Hintergrund der Geschichte des Hospitalwesens und der theresianisch-josephinischen Gesundheits- und Fürsorgepolitik im 18. Jahrhundert (Berlin: n.n., 2012), 37. 11 | Wibmer, »Unterricht«, 43. 12 | Walter Schott, Das k.k. Taubstummeninstitut: dargestellt nach historischen Überlieferungen und Dokumenten mit einem Abriß der wichtigsten pädagogischen Strömungen aus der Geschichte der Gehörlosenbildung bis zum Ende der Habsburgermonarchie (Wien: Böhlau, 1995), 55. 13 | Wibmer, »Unterricht«, 55-56. 14 | »Nro. 1629. Den 6. Christmonat 1774. Schulordnung für die deutschen Normal-Haupt- und Trivialschulen«, in Sammlung aller k.k. Verordnungen und Gesetze vom Jahre 1740 bis 1780, die unter der Regierung des Kaisers Josephs des II. theils noch ganz bestehen, theils zum Teile abgeändert sind, als ein Hilfs- und Ergänzungsbuch zu dem Handbuche aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die k.k. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer Chronologischen Ordnung, Siebenter Band (Wien: Mößle, 1786), 117.

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Jahre betragen und den Schülerinnen und Schülern Kenntnis über die Buchstaben, das Lesen, das Rechnen und die Sittsamkeit bringen. Gelehrt werden sollte nach dem Prinzip des Katechismus. Wie noch zu besprechen ist, sind diese Vorgaben für das Wiener Taubstummeninstitut nicht unwesentlich. Die »Schulordnung für die deutschen Normal- Haupt- und Trivialschulen« (Allgemeine Landesschulordnung), verfasst von Johann Felbiger, dem Abt eines Klosters in Sagan (Schlesien), verfolgte auch ein staatliches Interesse: Ziel sei, so die Verordnung, die Steigerung der »Glückseligkeit der Nationen« durch Bildung der Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeit; die Schulpflicht diene zur »Erreichung des so nöthigen als gemeinnützigen Endzwecks«.15 Zur Umsetzung der Schulpflicht wurden »Schulzwangsdekrete« erlassen.16 Ob »taube« und »stumme« Kinder dieser Verordnung Folge leisten mussten, konnte bisher nicht geklärt werden.17 Denkbar ist, dass sie vom Schulbesuch befreit waren. Erst durch die Errichtung eigener, speziell für ihre »Bedürfnisse« ausgerichteter Schulen konnte die Schulpflicht langsam auch auf sie ausgedehnt werden. Der Staat konnte so seiner eigenen Verordnung Folge leisten. Wie im Wienerischen Diarium beschrieben, wurden Friedrich Stork und Joseph May beauftragt, im Wiener Bürgerspital taube und stumme Menschen zu unterrichten. Das betreffende Hofdekret über Storks und Mays Ernennung, datiert auf den 31. März 1779, liegt heute im Österreichischen Staatsarchiv. Aus diesem kann man nicht nur das Gehalt der beiden Lehrer ablesen, sondern auch erfahren, dass sie laufend Bericht »mit Bemerkung ihres [gemeint sind SchülerInnen] gemachten Fortgangs« zu erstatten hatten.18 Ein vom November 1779 erhaltenes Verzeichnis über die Schülerinnen und Schüler gibt Auskunft darüber, dass im ersten Jahr insgesamt 17 »Zöglinge« – davon zehn männlichen und sieben weiblichen Geschlechts – am Wiener Taubstummeninstitut unterrichtet wurden. Die »Zöglinge« waren zwischen neun und 38 Jahre alt. Im betreffenden Verzeichnis wurde zudem die soziale Herkunft der Eltern oder der nächsten Angehörigen der »tauben« und »stummen« SchülerInnen verzeichnet. Bemerkenswert ist die soziale Durchmischung: Neben Kindern von Tagelöhnern finden sich auch Kinder von Handwerksmeistern

15 | Sammlung aller k.k. Verordnungen und Gesetzte vom Jahre 1740 bis 1780, Nro. 1629. Den 6. Christmonat 1774. Schuldordnung für die deutschen Normal- Haupt und Trivialschulen, 116. 16 | Ludwig Boyer, Schulordnungen, Instruktionen und Bestallungen: Quellen zur österreichischen Schulgeschichte vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Band V. 1769 bis 1779 (Wien: Jugend & Volk, 2008), 55–57. 17 | Wibmer, »Unterricht«, 46-47. 18 | OeStA/AVA/StHK/105/21/202/31, März 1779, zitiert in: Wibmer, »Unterricht«, 50.

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oder Bediensteten.19 Manche von ihnen wurden direkt im Bürgerspital aufgenommen, einige wohnten in den Vorstädten Wiens. Letzteres wissen wir aus einem Schreiben von 1779, indem über die schlechte Winterbekleidung einiger SchülerInnen beklagt wird, die für den Schulweg nicht geeignet wäre.20 Waren am Anfang nur 17 »Zöglinge« am Institut, so waren es zehn Jahre später, also 1789, bereits 48.21 Die SchülerInnenzahl stieg im Laufe der Jahre, was mit den Gebäuden, in denen das Institut untergebracht war, zu tun hatte. In folgenden Gebäuden war das Institut untergebracht: Bürgerspital, «,Stöger’sche Hause Nr. 789‹ in der ›Nähe des Stubentores‹«, das ehemalige Kloster der Pazmaniten am Dominicanerplatz, dann im Windhagischen Stiftungshaus und schließlich ab 1821 auf der Wieden (heute 4. Wiener Gemeindebezirk), wo das Institut bis zur Errichtung einer neuen Schule im 13. Wiener Gemeindebezirk im Jahr 1912 blieb.22 Stork und May wurden in Paris bei Charles Michel Abbé de l’Épée ausgebildet. Stork arbeitete zuvor als Zeremoniär des Wiener Erzbischofes Graf von Migazzi, ehe er zum Katechet des Wiener Taubstummeninstituts ernannt wurde – über seinen Werdegang beziehungsweise Abgang werde ich weiter unten mehr berichten. Joseph May war, nach derzeitigem Wissenstand, als Lehrer an der Pariser Militärschule tätig und stellte sich anlässlich des Besuchs Josephs II. dem Kaiser vor, da er nach Wien zurückkehren wollte. In den ersten Jahren des Wiener Taubstummeninstituts gab es keinen starren, festgeschriebenen Lehrplan. Erst nach der Entlassung Storks als Direktor im Jahr 1792 wurden spezielle »Grundgesetze« für das Institut erlassen. Aus einer Einladung zur Beiwohnung der öffentlich abgehaltenen Prüfung am Wiener Institut im Dezember 1779 erfährt man, welche Gegenstände abgeprüft wurden: »[Stork wird] seine Schüler zum erstenmal aus dem sechstätigen Werke der Erschaffung der Welt und einigen damit verbundenen Wahrheiten: dann aus den allgemeinen Kenntnißen der deutschen Sprachlehre […] öffentlich prüfen lassen.«23 Der Fokus lag also auf dem Erlernen der Religion und der Sprache. Die Kenntnis der Religion und verbunden damit die Zulassung zum Abendmahl sind im Umgang mit gehörlosen Personen zentrale zeitgenössische Diskussionspunkte, auf welche ich noch zurückkommen werde. Zuvor möchte ich auf die Sprachenlehre näher eingehen, danach fragen, welche Bedeutung das Erlernen der Sprache am Wiener Taubstummeninstitut hatte. Mit »Kenntnißen der deutschen Sprachlehre« könnte, so meine Interpretation 19 | OeStA/AVA/StHK/105/21/303. 20 | OeStA/AVA/StHK/105/21/303/29.X.1779. 21 | OeStA/AVA/StHK/105/21/294/November 1791/Allerunterthänigster Vortrag Nr. 1426. 22 | Wibmer, »Unterricht«, 59-60. 23 | Wienerisches Diarium, 18.12.1779, 7, in Wibmer, »Unterricht«, 69.

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nach der Quellenlage, nicht nur die Schrift- und die Lautsprache, sondern auch »die« Gebärdensprache gemeint sein, da diese 1779 als Attraktion in der »neuen« Kunst des Gehörlosenunterrichts galt. Auf jeden Fall gilt: »Sprache« dominierte im Unterricht für gehörlose Personen – Inhalte schienen zweitrangig gewesen zu sein. Allerdings wissen wir aus der vorhandenen Literatur und aus verschiedenen Quellen, dass die Frage nach der richtigen Unterrichtsmethode und nach der Rolle von Sprache im weitesten Sinne immer wieder diskutiert wurde.

Ü ber die » richtigen « M e thoden Der in der Historiografie der Gehörlosenpädagogik viel beachtete Methodenstreit zwischen Charles Michel Abbé de l’Épée, dem Gründer des Pariser Instituts, und Samuel Heinicke, dem Gründer des Leipziger Taubstummeninstituts, zeigt, dass schon zu Beginn unterschiedliche Standpunkte über die »richtige« Methode und die entsprechende Anwendung von Sprachen im Unterricht existierten. Allerdings wurde der Methodenstreit verkürzt dargestellt, wie Petra Berger in ihrem für die Gehörlosengeschichtsforschung wichtigen Buch Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) in der Zeit der Auf klärung bemerkt hat. Neben der »französischen« und »deutschen« Methode spricht sie außerdem von der »Wiener Methode«. Die von Joseph May – ursprünglich, wie oben erwähnt, Gehilfe von Johann Friedrich Stork am neugegründeten k. k. Taubstummeninstitut in Wien – angelegte Wiener Methode setzt sich aus den Vorteilen der französischen und deutschen Methode zusammen. Grundlage der Sprachvermittlung waren die Schriftsprache und das Handalphabet inklusive einiger Begriffe in Gebärdensprache. Die Lautsprache sollte nach May dann beigebracht werden, sobald die Schriftsprache entsprechend vermittelt worden war.24 Nach Berger wurde in der bisherigen Geschichtsschreibung die Mitmischung Friedrich Storks im Methodenstreit zwischen l’Épée und Heinicke ignoriert.25 Das hat meiner Meinung nach auch vor allem mit einem Ausbleiben einer geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema in und aus Österreich zu tun – wären entsprechende Arbeiten verfügbar gewesen, wären diese Erkenntnisse auch vermutlich eingeflossen. Nach den Untersuchungen Bergers habe Stork im Methodenstreit ebenso Stellung bezogen, beispielsweise als er der Wiener philosophischen Fakultät einen »›attischen‹ Brief« von Heinicke an l’Épée vorlegte und um eine Stellungnahme bat. Diese 24 | Wibmer, »Unterricht«, 66. 25 | Petra Berger, Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) in Zeit der Aufklärung (Graz: Leykam, 2006), 128-129.

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blieb aber aus, da man zunächst Beweise abwarten wollte. Daraufhin reiste Stork mit drei Zeugen nach Leipzig um sich ein besseres Bild zur Heinickes »Tonsprache«- »Zeichensprache«- und »Schriftsprache«-Methode machen zu können. In seinem negativen Gutachten über Heinicke kritisierte Stork, dass hauptsächlich die »Sprachwerkzeuge« (Stimme) und die Hände zum Schreiben trainiert werden und alles »mechanisch gelernt« werde. Der Vorwurf des Nachahmens von Begriffen fiel jedoch von beiden Seiten. Bergers Fazit zum Methodenstreit ist, dass die bisherige Historiographie sowohl Wiens Rolle relativiert als auch ignoriert habe, dass l’Épée und Heinicke eine reine Lautsprachenmethode ablehnten.26 Die zweite (»österreichische«) Auseinandersetzung über die richtige Methode fand zwischen Wien und Tirol statt: Bisher völlig unbeachtet in der Geschichte der Gehörlosen blieb die »katholische Normalschule für die Taubstummen« in Hall in Tirol, die vom Franziskanerpater Romedius Knoll initiiert wurde, wie Berger aufdeckte. Unbeeinflusst von den Gründungen in Paris, Leipzig und Wien fand in den 1780er Jahren Unterricht für taube und stumme Kinder in Hall in Tirol unter Leitung des Paters Knoll statt, der dort als Krankenpater arbeitete. Dort soll er mit gehörlosen Kindern in Kontakt getreten sein und von ihnen auch die (»natürliche«) Gebärdensprache gelernt haben. Knoll verfasste zwei Bücher über seinen Unterricht: zum einen das Explicatio Catechismi Catholici Surdum Mutorum (1787) und zum anderen die Katholische Normalschule für die Taubstummen, die Kinder, und andere Einfältigen, zum gründlichen sowohl als leichten Unterricht in dem Christenthume, durch vierzig Kupferstiche (1788).27 Seine Unterrichtsmethode fußte hauptsächlich auf der »natürlichen« Gebärde. Er selbst wusste später von Wien und verglich sogar in der Katholischen Normalschule seine und die Stork’sche Wiener Methode.28 Knoll erbat eine Stellungnahme von Stork, welcher nicht postalisch antwortete, sondern ihm bei seiner Reise nach Paris 1788 einen Besuch in Hall abstattete. Zunächst hatten sich die Lehrer noch freundschaftlich ausgetauscht, nach Paris änderte Stork aber seine Haltung gegenüber Pater Knoll. Durch ein negatives Gutachten musste die Knoll’sche »Normalschule« schließen29; Knoll verfasste aber 1790 noch eine »Schutzschrift«. Durch diese war Knoll laut Berger im »internationalen« Methodendiskurs eingebunden. Knoll verbündete sich mit Heinicke und damit gegen seinen neuen Gegner Stork. Obwohl Heinicke in der Öffentlichkeit als lautsprachlich-orientiert bekannt war, verfasste er eine Stellungnahme pro Knoll und votierte quasi für die »natürliche« Gebärdensprache – wörtlich hieß es »Herr Knoll hat die wahre Methode sicher erfun26 | Ebd., 130-131. 27 | Ebd., 115-117. 28 | Ebd., 132. 29 | Ebd., 116 und 132.

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den«.30 Die Stellungnahme Heinickes diente offenbar nur zu einem Zweck, wie Berger überzeugt ist, nämlich ausschließlich zur Schwächung l’Épées und Storks – obwohl Heinicke in der Öffentlichkeit als lautsprachlich-orientiert bekannt war.31 Wie bereits erwähnt, erwirkte Stork die Schließung der Schule von Knoll.32 Berger ortet hier vor allem die Gründe in Fragen um »Macht und Prestige«.33 Eine Schule in Hall in Tirol sollte es erst wieder dreißig Jahre später geben.34 In diesem Zusammenhang möchte ich auf die von Berger ausfindig gemachte älteste Abbildung der Gebärde »Gott« in der Habsburger Monarchie, die von Knoll selbst stammt, hinweisen.35 Einen dritten Streit gab es im nach Berger benannten »Fall Stork«. Dabei ging es einerseits um die Person Stork selbst, und andererseits auch um »seine« Methode. Bevor Stork sich der Gehörlosenpädagogik widmete, hatte er als Weltpriester bei der »Cur« in St. Stephan zu Wien gedient und als Zeremoniär des Erzbischofes von Wien, Graf von Miggazi.36 Berger vermutet, dass die Bestellung eines Priesters für den Unterricht für gehörlose Personen im Zusammenhang mit der kirchenpolitischen Situation unter Joseph II. zu tun hatte: Joseph II. habe 1778 den Erzbischof beauftragt, eine geeignete Person hierfür zu finden.37 Stork fungierte, wie bereits erwähnt, von 1779 bis 1785 als Katechet des Wiener Taubstummeninstituts; 1785 wurde er zum Direktor ernannt. Schon wenige Jahre später, 1792, wurde er ohne Entschädigung entlassen.38 Die Gründe für seine Entlassung sind zum einen bei der veränderten politischen Situation zu finden und zum anderen am Institut selbst: Dem Direktor Stork wurde 1792 von Johann Strommer, einem Lehrer am Institut, eine mangelhafte und unkorrekte Führung des Instituts in einer Art Anklageschrift unter dem Titel »Aktenmäßige Beweise, daß die Verfassung des Taub30 | Ebd., 134-135. 31 | Ebd., 136. 32 | Ebd., 116 33 | Ebd., 132. 34 | Wibmer, »Unterricht«, 93. 35 | Berger, Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), 133. 36 | Alexander Venus, Das kaiserl. königl. Taubstummen-Institut in Wien seit seiner Gründung bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte nebst einer einleitenden Geschichte des Taubstummen-Unterrichtes und einer kurzen historisch-statistischen Darstellung der in dem österreichischen Kaiserstaate bestehenden Taubstummen-Anstalten (Wien: Braumüller, 1854), 20. 37 | Berger, Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), 93. 38 | Irmbert Fried, »Das Metropolitankapitel zu St. Stephan in Wien in seiner personellen Zusammensetzung in der Zeit von 1722-1900« (Dissertation, Universität Wien, 1952), 168-169.

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stummen-Instituts unter der Leitung des Weltpriesters, Friedrich Stork, der freyen Künste und der Weltweisheit Doktors zweckwidrig und sowohl den Taubstummen, als dem Staate höchst schädlich ist« vorgeworfen.39 Nach dem Erheben sämtlicher Vorwürfe prüfte die Stiftungs- und Städtische Hof buchhalterei die Einnahmen und Ausgaben des Institutes.40 Außerdem drängte sich methodischer Zweifel hervor: May, der zusehends die vermehrte Verwendung der Lautsprache befürwortete, wollte eine andere Methode verwendet wissen. Stork wurde 1792 durch eine Stellungnahme des Vorsitzenden der Studienhofkommission (zuständige Behörde für den Unterricht) entlassen. Einer der weiteren Gründe für die Entlassung war auch das gute nahe Verhältnis von Friedrich Stork zu Joseph II., denn die Entlassung fand zwei Jahre nach dem Tod des Kaisers statt.41 Viele der josephinischen Reformen wurden in dieser Zeit wieder zurückgenommen oder Personen ersetzt, wie Stork beispielsweise durch May. Letzterer wurde beauftragt, Grundgesetze zu verfassen, die er für die Festigung seiner lautsprachlich orientierten Methode nützte. Interessant ist die Hinwendung Mays zum erhöhten Einsatz von Lautsprache.42 In der Erklärung des Entwurfs zu den Grundgesetzen erwähnte May Juan Pablo Bonnet43, der 1620 ein Buch über den Unterricht von gehörlosen Kindern verfasst hatte. Bonnet hatte selbst keine gehörlosen Kinder unterrichtet, sondern die Fragen theoretisch abgehandelt.44 Mays Abkehr von der l’Épée’schen Methode inklusive den Abwandlungen von Stork hatte wohl auch pragmatische Gründe, denn sie sei zu kompliziert gewesen, konstatierte Nina Reinberger in ihrer Diplomarbeit über die »Bereiche der historischen Entwicklung der sonder-/ heilpädagogischen Disziplin, insbesondere der Gehörlosenpädagogik«.45 Berger zeigte auf, dass das Wort »Krankheit« in der Stork’schen »›methodischen Zeichen‹-Sprache« sechs Gebärden benötigte.46 Die »neu« entwickelte Methode ging als »Wiener Methode«47 ein und spielte im Ausbau der Gehörlosenpädagogik in Österreich eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zum einem weil sie direkt am Wiener Institut angewandt 39 | OeStA/AVA/StHK/842/21/849/Aktenmässige Beweise. 40 | OeStA/AVA/StHK/21/489. 41 | Berger, Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), 140-142. 42 | OeStA/AVA/StHK/842/21/Copia ad 6604 Gr/7bri 17892/Augusto 1793. 43 | OeStA/AVA/StHK/842/21/Copia ad 6604 Gr/B Welches ist die eigentliche den Taubstummen nützlichste Lehrart? 44 | Nina Reinberger, »Bereiche der historischen Entwicklung der sonder-/heilpädagogischen Disziplin, insbesondere der Gehörlosenpädagogik im 18. und 19. Jahrhundert« (MA Thesis, Universität Wien, 2010), 62. 45 | Reinberger, »Bereiche«, 87. 46 | Berger, Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), 107. 47 | Reinberger, »Bereiche«, 87.

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wurde und somit den Fortgang von tauben und stummen SchülerInnen beeinflusste, zum anderen, weil das Wiener Institut Ende des 18. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Ausbildungsstätte für viele Lehrer war.

Ü ber die U nterrichtsgegenstände Aus dem Jahr 1798 erhalten ist eine weitere Einladung zu einer öffentlichen Prüfung am Wiener Taubstummeninstitut, nach der die Schule in drei Klassen strukturiert war und aus der hervorgeht, welche Gegenstände abgeprüft wurden: In der ersten Klasse wurden unter anderem das »Schreiben und Aussprechen der Buchstaben, Sylben und Wörter« und auch das »Zählen und Schreiben der Zahlen mit Ziffern und Buchstaben« abgefragt. In der zweiten Klasse hatten die »Zöglinge« zudem »in den 4 Rechnungsarten in benannten Zahlen« und auch »aus der Religionslehre nach Anleitung des kleinen Katechismus« ihr Können unter Beweis zu stellen. In der dritten Klasse hatte die Aussprache eine größere Bedeutung. In diesem Zusammenhang wurde eine »Erklärung der verschiedenen Stände, Gewerbe und Geschäfte des bürgerlichen Lebens« abverlangt. Die »Zöglinge« der dritten Klasse mussten auch »aus dem Büchelchen: Anleitung zur Kenntniß und Verehrung Gottes« lesen und selbiges beschreiben.48 Damit waren die Gegenstände Sprache, Rechnen und Religion. Teilweise deckt sich dies mit der Allgemeinen Landesschulordnung von 1774 in welcher das Rechnen aber auch die Religionslehre, nach dem Katechismus, verankert war. Wie bereits angemerkt, spielte die Religion beziehungsweise die Vermittlung von religiösen Inhalten im Gehörlosenunterricht eine wichtige Rolle. Wie Hermann Czech 1840 in der Schrift Nothwendigkeit der allgemein einzuführenden Elementar-Bildung der Taubstummen veröffentlichte, zur Bedeutung der Religion bemerkte: »Denn ist die Religion wirklich nothwendig, so ist sie es für alle Menschen, für die Taubstummen ebenso, wie für die Vollsinnigen.«49 Mit der Frage nach dem Erlernen der wesentlichen religiösen Inhalte beschäftigte sich ein Lemma im Zedler, dem erwähnten, weit verbreiteten Universallexikon des 18. Jahrhunderts. Im entsprechenden Beitrag über »Stumme« ist zu lesen: »Bey uns Christen pfleget von den Stummen die Frage aufgeworffen zu wer-

48 | N.n., Einladung zur öffentlichen Prüfung, welche Samstags den 18. August 1798 im k.k. Taubstummen-Institute zu Wien auf dem Dominicaner Platze Vormittags von 9 bis 12 Uhr gehalten wird (Wien: K.k. Taubstummen-Instituts-Buchdruckerei, 1798), 9. 49 | Franz Hermann Czech, Nothwendigkeit der allgemein einzuführenden Elementar-Bildung der Taubstummen, aus dem Verhältnissen derselben zum Staate und zur Kirche (Prag: 1840), 15.

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den: Ob sie zum Heil. Abendmahl gehen können?«50 Es geht hier auch um die Überlegung, ob »taube« und »stumme« Personen das Wort Gottes hören und Gebete sprechen könnten – für den Verfasser des Eintrags im Zedler war diese Frage nicht eindeutig zu beantworten, weil nicht klar war, ob man »taube« und »stumme« Menschen unterrichten könne. Mitte des 19. Jahrhunderts wiederum meinte der Direktor des Prager Taubstummeninstituts, Wenzel Forst, zur Frage nach der Kommunikation mit Gott, dass gehörlose Personen mit hörenden Menschen in Lautsprache kommunizieren sollten, mit Gott jedoch mit »der Gebärdensprache, der Muttersprache der Taubstummen«.51 Im Übrigen wird dem Direktor zugeschrieben, eine eigene Methode für den Unterricht entwickelt zu haben, die aus einem »Mittelweg zwischen der deutschen und französischen Schule« bestand.52 Die Erforschung des Verhältnisses von Religion und Gehörlosigkeit ist ausbaufähig.53 Kommunikation im weitesten Sinne war eine der wesentlichsten Fragen im Unterricht für gehörlose Personen. Alexander Venus, der zur Mitte des 19. Jahrhunderts Direktor des Wiener Taubstummeninstituts war, argumentierte so in seinem 1854 erschienenen Buch über den Unterricht für »taube« und »stumme« SchülerInnen. Venus wählte einen gemischten Weg für die Unterrichtsmethode und verwendete sowohl Gebärdensprache, artikulierte Sprache und als auch Schriftsprache. Bilder wurden ebenso für die Vermittlung hinzugezogen.54 Alsbald die Schriftsprache entsprechend beigebracht wurde, sah Venus die Namenlehre und folgende weitere Inhalte vor: Nach einem erlangten Vorrath von Haupt-, Bei- und Zeitwörtern wird er [d.h. SchülerIn] zu Bildung einfacher Sätze angeleitet, worauf dann erst der eigentliche Sprachlehrunterricht beginnt. Er wird geübt durch Pantomimen dargestellte Handlungen oder das, was er bei Spaziergängen sieht und beobachtet. Vorkommnisse und Begebenheiten aus seinem Leben, bildliche Darstellung schriftlich und auch mündlich mitzutheilen. Daran reihen sich Übungen in den zum bürgerlichen Leben nothwendigsten, schriftlichen Aufsätzen. Ferner wird mit ihm noch das Wesentlichste aus der Naturgeschichte, der Geographie und Geschichte, der Naturlehre, der Kenntniß von den Naturerzeugnissen, deren Gewinnung und Verarbeitung, überhaupt alles das, was auf seine künftige Bestimmung als Handwerker vorzüglich Bezug nimmt, durchgenommen. 55 50 | Zedler et al., Universallexicon, Bd. 40, 1350. 51 | Pipetz, Entwicklung, 69. 52 | Ebd. 53 | Dazu ist folgender Artikel empfehlenswert: Agnes Villwock, »Klöster und ihr Beitrag zur Gehörlosenbildung. Eine historische Untersuchung vom frühen Mittelalter bis heute«, Das Zeichen 90 (2012): 10-27. 54 | Venus, Das kaiserl. königl. Taubstummen-Institut, 46. 55 | Ebd., 47.

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Es lässt sich erkennen, dass gegenüber dem Lehrplan aus den 1790er Jahren ein umfangreicheres Paket an Wissen vermittelt wurde. Die Gegenstände Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Naturlehre und Kunde im Umgang mit Rohstoffen und Materialen sind neu. Der Zweck der Schulbildung war also nicht nur der Kommunikation alleine gewidmet, sondern galt insbesondere auch für das Vorbereiten für die spätere Erlernung eines Handwerksberufes beziehungsweise für den Besuch einer Lehre. Die Möglichkeit, eine Lehre zu absolvieren, gab es am Wiener Taubstummeninstitut spätestens seit der Nutzung des Gebäudes am Dominicaner Platz (heute im 1. Wiener Gemeindebezirk). Dabei ging es um zwei Aspekte: Zum einen sollten gehörlose Männer selbstständig leben und ihr eigenes Leben finanzieren können, und zum anderen ging es um die gesellschaftliche Anerkennung eines gehörlosen Mannes als Mitbürger. Diese Intention lässt sich in den Grundgesetzen des Wiener Taubstummeninstitutes nachzeichnen. In Artikel 1 derselben ist zu lesen, dass Erstens: Der Endzweck, den der Staat durch das k.k. Taubstummen-Institut zu erreichen sucht, ist: gehör- und sprachlosen Kindern, nach einer eigenen, ihren Organisationsfehlern angemessenen Lehrart, Unterricht und Uebung in gemeinnützlichen, und zum bürgerlichen Leben unetbehrlichen Kenntnissen so lange zu verschaffen, bis sie im Stande sind, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu erwerben, und wieder anderen Unglücklichen dieser Art im Institute Platz zu machen. 56

Die Schule hatte somit die Aufgabe »taube« und »stumme« Kinder soweit zu unterrichten, dass sie eben sich selbst erhalten konnten. Hierfür sollte eine »angemessenen Lehrart« verwendet werden, auch um ein »bürgerliches Leben« führen zu können. Diesen Ansatz vertrat auch der bereits zitierte Hermann Czech in seiner 1840 veröffentlichen Schrift: Eine Ausbildung sei vor allem deshalb so wichtig, da »taube« und »stumme« Menschen sonst »nie zum Genuße der Menschen- und Bürgerrechte gelangen könn[t]en«.57 Czech plädierte für die Ausbildung von gehörlosen Personen auch aus präventiven Gründen: Würde ein Schulbesuch ausbleiben, führe das zu einer Verarmung.58 Einen Handwerksberuf zu erlernen bedeutete nicht nur einen sozialen Aufstieg, sondern schuf die Möglichkeit, sich entsprechend selbstständig zu ernähren. Anfangs bemühte sich das Wiener Taubstummeninstitut um Lehrstätten für seine Schüler und übernahm die Kosten. Diese Praxis währte zumindest bis 1799, danach ist der entsprechende Passus in einer der Kurzen

56 | BIG Archiv I 995, Kurze Nachricht, Wien 1801, 8-9. 57 | Czech, Nothwendigkeit, 11. 58 | Ebd., 12.

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Nachrichten aus dem Wiener Institut nicht mehr zu finden. Aus einer Nachricht von 1798 wissen wir, dass folgende Lehren besucht wurden: Gegenwärtig sind in der Lehre: bey dem Schneiderhandwerke fünf; bey dem Drechslerhandwerke einer; bey der Buchdruckerey zwey; bey dem Sattlerhanderwerker einer; bey einem Uhrblad-Schmelzarbeiter einer; und drey besuchen die k.k. Academie der bildenden Künste, wo sie sich im Zeichnen vervollkommen. Zwey lernen in einer Seidenzeugfabrik. 59

Die Auflistung zeigt, dass recht unterschiedliche Handwerke erlernt wurden. Es entsteht auch der Eindruck, dass Lehren individuell ausgesucht wurden. Für weibliche »Zöglinge« am Institut gab es keinen Zugang zu einer Lehre. Ein solcher blieb Frauen insgesamt verwehrt, wie Sigrid Kretschmer in ihrem Buch über die Wiener Handwerksfrauen feststellte.60 Aus den Grundgesetzen des Instituts aber geht hervor, dass weibliche »Zöglinge« sehr wohl ihren Unterhalt verdienen sollten, und zwar im Elternhaus oder im Dienst in einem bestimmten Haushalt. Dazu wurden am Institut folgende Gegenstände gelehrt: »Die weiblichen Zöglinge müssen in allen weiblichen Arbeiten, als: Nähen, Stricken, Werken, Spinnen, Kochen usw. unterrichtet, und dadurch in Standgesetz werden, bey dem Austritte aus dem Institute sich selbst ihren Unterhalt bey ihrem Aeltern oder in Diensten auf die thunlichste Weise zu verschaffen.«61 Gehörlose Frauen hatten Ende des 18. Jahrhundert keinen Zugang zu einer Lehre. Stattdessen war vorgesehen, wie bereits erwähnt, bei den Eltern oder in bestimmten Diensten zu arbeiten, wozu sie im Institut vorbereitet wurden. Eine Geschlechtertrennung im Unterricht für gehörlose Personen fand bei der Ausbildung für das spätere Erwerbsleben statt – beim Regelunterricht wurden Mädchen und Buben gemeinsam unterrichtet. Die Vorschrift, Buben und Mädchen zu unterrichten, ist im Übrigen in der bereits erwähnten Landesschulordnung von 1774 verfestigt.62

59 | N.n., Einladung zur öffentlichen Prüfung, 7. 60 | Sigrid Kretschmer, Wiener Handwerksfrauen: Wirtschafts- und Lebensformen von Frauen im 18. Jahrhundert (Wien: Milena, 2000), 23. 61 | Grundgesetze 1798, Artikel 12, in n.n., Einladung zur öffentlichen Prüfung, 7. 62 | Sammlung aller k.k. Gesetze 1740-1780, 117.

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D er A usbau des G ehörlosenunterrichtes in der H absburger M onarchie Bekannt ist das Wiener Taubstummeninstitut nicht nur aufgrund seiner Sonderstellung als erste staatliche Schule für den Unterricht für gehörlose Personen, sondern auch, weil es eine besondere Rolle beim Ausbau des Unterrichts in der Habsburger Monarchie innehatte. Zu welchem Zeitpunkt genau die Idee zu einem weiteren Ausbau des Gehörlosenunterrichts aufkam, konnte bisher noch nicht exakt nachgezeichnet werden. Erhalten ist ein Schreiben von Friedrich Stork an den Kaiser im Dezember 1779, in dem ersterer vorschlägt, weitere Institute zu gründen. Es ist zu vermuten, dass dieses Schreiben lediglich eine Erinnerung an eine mündlich getätigte Überlegung an die Behörden war. Viele Lehrer der entstehenden Taubstummeninstitute in der Habsburger Monarchie lernten in Wien.63 Die Residenzstadt hatte noch eine weitere Bedeutung aufgrund einer in den 1820er Jahren stattgefundenen Ausschreibung erzielt: Die Direktoren der Schulen in Wien, Linz und Waitzen (Ungarn) wurden per Dekret 1820 aufgefordert, ein Methodenbuch zu verfassen, welches als »Leitfaden bei den Vorlesungen mit h. [hohen] Studienhof-Kommissions-Dekrete« zu dienen hatte. Der Wiener Direktor Michael Venus gewann 1827 den Zuschlag. Die Folge dieses Dekrets war, dass werdende Lehrer in Wien eine achtmonatige Ausbildung zu absolvieren hatten.64 Anhand des Klagenfurter Taubstummeninstituts lässt sich die Vernetzung zwischen verschiedenen Schulen recht gut erkennen: Einer der Lehrer, Georg Hartl, studierte in Wien, während ein weiterer Lehrer sich in Graz unterweisen lies.65 Die Praxis einer Ausbildung von acht Monaten taucht immer wieder auf: Schon Stork und May hatten in Paris acht Monate lang bei l’Épée studiert – weitere Lehrer taten dasselbe.66 Gewissen Einfluss dürfte die Wiener Schule auch international gehabt haben. Für die Gründung der St. Petersburger Schule wurde ein Lehrer nach Wien zum Erlernen der Methoden entsandt. In einer Schrift über das Prager Institut wird außerdem erzählt, dass München eine »Colonie der Wiener« gewesen sei.67 Letzterer Aspekt ist noch Untersuchungsgegenstand. In Folge sollen nun einige Institute vorgestellt werden, die in der Habsburger Monarchie Ende des 18. und im 19. Jahrhundert gegründet wurden. Die in diesem Zeitraum errichteten Schulen wurden jedoch nicht immer von staatlicher Seite aus gegründet, sondern sind auch durch Privatinitiativen entstanden. In meiner Masterarbeit konnte ich für die nachstehenden Schulen die 63 | Wibmer, »Unterricht«, 84. 64 | Venus, Das kaiserl. königl. Taubstummen-Institut, 86. 65 | Pipetz, Entwicklung, 50. 66 | Wibmer, »Unterricht«, 65. 67 | Ebd., 85.

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Gründungsgeschichte nachzeichnen, in manchen Fällen sogar, welche Methoden angewandt wurden.68 Die Schulen, die in der Masterarbeit näher untersucht wurden, sind: Prag, Waitzen, Brünn, Graz, St. Pölten, Linz, Hall in Tirol, Triest, Görz, Verona, Klagenfurt, Salzburg, Wiener Neustadt, und Wien (k.k. Taubstummeninstitut, Allgemeines österreichisch-israelitisches Taubstummeninstitut, Wien-Oberdöbling und weitere kleine Schulklassen). Die Liste ist allerdings nicht vollständig – die historiografische Erforschung der Gehörlosenschulen in der Habsburger Monarchie bedarf auch hier noch an weiterer Untersuchung. Damit der Rahmen dieses Artikels nicht gesprengt wird, wird in den nächsten Absätzen eine Auswahl an Kurzbeschreibungen einiger der bereits genannten Gehörlosenschulen zusammengestellt. Zuvor möchte ich aber noch in Wien verweilen und kurz auf die Entwicklung des Gehörlosenschulwesens in Wien eingehen: Das k.k. Taubstummeninstitut Wien hatte laut seinen Statuten »Bewerber aus allen Teilen des Reiches auf[zu]nehmen« konnte dem aber aufgrund seiner Kapazitäten nicht nachkommen.69 Der notwendig gewordene Ausbau von Gehörlosenschulen in der Habsburger Monarchie hat mit zwei Aspekten zu tun: Zum einen nahm die Zahl der Bevölkerung in der Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich zu, zum anderen gab es auf juristischer Ebene eine Reform des Schulwesens. 1869 wurde das so genannte Reichsvolksschulgesetz eingeführt, wozu ich später noch berichten werde. Der »Andrang« führte dazu, dass in Wien und Umgebung weitere Gehörlosenschulen errichtet wurden. Auf Bestreben und Einreichens einer Petition im Jahr 1880 des 1865 gegründeten Wiener Taubstummen Unterstützungsvereins (heute WITAF) hin, beschloss der niederösterreichische Landtag die Errichtung einer Schule in Oberdöbling (heute 19. Wiener Gemeindebezirk).70 Doch auch diese Schulen reichten nicht aus, weshalb noch zwei »Spezialabteilungen« an Wiener Schulen eingerichtet wurden. Eine war vorerst in der Gemeinde Währing (18. Wiener Gemeindebezirk) untergebracht und musste aus Platzgründen in den heutigen 15. Wiener Gemeindebezirk übersiedeln. Diese Abteilung wurde 1882 eingerichtet. Die andere wurde in Wien Alsergrund (9. Wiener Gemeindebezirk) auf die Beine gestellt. Beide Abteilungen waren in einer Volksschule untergebracht. Die gehörlosen SchülerInnen wurden jedoch nach einem separaten Lehrplan unterrichtet. In Wien gab es außerdem das »Allgemeine österreichisch-israelitische Taubstummeninstitut«. Das Institut war für gehörlose Schülerinnen und Schüler jüdischen Glaubens, vorerst in Nikolsburg (heute Mikulov, Tschechien) eingerichtet, ehe es nach 1852 nach Wien übersiedelte. Die Schule hielt 68 | Ausführlicher zu den Schulen vgl. Wibmer, »Unterricht«, 84-101. 69 | Pipetz, Entwicklung, 20. 70 | Wibmer, »Unterricht«, 100.

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zunächst öffentliche Prüfungen ab. Das so genannte Öffentlichkeitsrecht, worunter das Recht Zeugnisse auszustellen, die den öffentlichen Schulen gleichgestellt sind, verstanden wird, wurde erst 1879 ausgestellt. Das Institut wurde im Nationalsozialismus 1939 in die »Allgemeine Stiftung für jüdische Fürsorge in Wien« eingegliedert und aufgelöst. Eine Wiedereröffnung nach 1945 gab es nicht.71 1903 wurde in Niederösterreich eine weitere Gehörlosenschule errichtet, nämlich in Wiener Neustadt. Der Direktor dieses Instituts, Georg Kraft, schrieb dazu, dass dies notwendig sei, da »Erhebungen über unterrichtspflichtige taube und stumme Kinder in der österreichischen Reichshälfte« zeigten, dass ein Großteil der Kinder noch nicht in entsprechenden Schulen untergebracht war.72 Das zweite staatlich gegründete Taubstummeninstitut wurde auf Anordnung von Joseph II. im Jahr 1786 in Prag gegründet. Der erste Lehrer, Karl Berger, lies sich auf eigene Kosten am Wiener Taubstummeninstitut ausbilden – was wiederum den Einfluss der Wiener und Stork’schen Methode belegt. Das Prager Institut war ebenfalls durch Grundgesetze organisiert und war gegenüber dem Wiener Institut deutlich klarer auf Lautsprache fokussiert. Interessant ist auch ein weiteres Detail: Die Prager Schule sah die Bezahlung von Schulkosten in Höhe von 100 Gulden für das gesamte Schuljahr vor – selbst die Aufnahme kostete 25 Gulden. Auch in Prag war es männlichen »Zöglingen« möglich eine Lehre zu besuchen.73 Die Prager Schule blieb nicht die einzige im heutigen Tschechien. Für Böhmen und Mähren wurde überdies in Brünn ein Institut errichtet. Hierbei fiel auch der bereits erwähnte Name Johann Strommer, der Lehrer am Wiener Institut war und durch den so genannten »Fall Stork« bekannt ist. Das »mährisch-schlesische TaubstummenInstitut« arbeitete zunächst provisorisch, bis es 1832 offiziell eröffnet wurde. In dieser Zeit wurde ein früherer Wiener Lehrer, Joseph Handschuh, Direktor dieser Unterrichtsanstalt. Das Institut wurde aufgrund großen Zulaufs 1876 vergrößert.74 1802 wurde in der Nähe von Budapest in der Stadt Vác beziehungsweise Waitzen eine Gehörlosenschule gegründet. Die Notwendigkeit der Schulgründung wurde von Eduard Schmalz (1801-1871), seines Zeichens Arzt des Dresdner Taubstummeninstitutes75, mit den Worten beschrieben: »Bei dem 71 | Ebd., 98-99. 72 | Ebd., 98. 73 | Ebd., 86-87. 74 | Ebd., 87-88. 75 | Eduard Schmalz, »Erfahrungen über die Krankheiten des Gehöres und ihre Heilung«, Zugriff 27.9.2018, www.medicusbooks.com/2-Medizin/Hals-Nasen-Ohrenheilkunde/Ohrenheilkunde/Schmalz-Eduard-Erfahrungen-ueber-die-Krankheiten-des-Gehoeres-und-ihre-Heilung:7280.html.

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Andrange so vieler Taubstummen in das Wiener Institut wurde das Bedürfnis fühlbar, auch für das Königreich Ungarn eine dergleichen Anstalt zu gründen.« 76 Schmalz zeigt hier, dass Wien nie hätte allein den gesamten Unterricht in der Habsburger Monarchie übernehmen können. Diese Erkenntnis ist insofern bedeutsam, da man 1779 vermutlich noch nicht abschätzen konnte, wie viele »Taubstumme« tatsächlich in der Monarchie lebten und wie die Versorgung mit Bildung auszusehen hatte. In der steirischen Landeshauptstadt Graz wurde 1831 ein Taubstummeninstitut eröffnet. Die Schule war für gehörlose und stumme Kinder »jeden Standes« zugänglich – finanziert wurden die Schulplätze durch Stipendien, die durch Stiftungen gedeckt wurden. Unterrichtet wurden die Schülerinnen und Schüler, welche laut einem Verzeichnis von 1833 alle aus der Steiermark kamen, ziemlich sicher nach dem Venus’schen Prinzip (Methodenbuch von 1827). Die Unterrichtszeit betrug sechs Jahre und die Unterrichtsgegenstände waren »Schreiben, Sprechen, Rechnen, Lesen und in der Religion« – jeweils aufgeteilt in drei Klassen. Für die Aufnahme war es der Institutsleitung offenbar wichtig, dass nicht nur die »Anlage zum Sprechen, sondern überhaupt die Intelligenz des Taubstummen« vorhanden war.77 Letzteres deckt sich im Übrigen mit der Tendenz, wonach die Bildungsfähigkeit eines gehörlosen Menschen zunehmend bedeutsam für eine Aufnahme an einem Institut war.78 Das Taubstummeninstitut in Linz wurde 1815 mit Geheiß der Hofkanzlei in Wien gegründet – personifiziert durch den Lehrer Michael Reitter. Er selbst lernte die Gebärdensprache und lies sich in Wien zum »Taubstummenlehrer« ausbilden.79 Reitter hatte im Zuge der erwähnten Ausschreibung von 1820 ein eigenes Buch unter dem Titel Methoden-Buch zum Unterricht für Taubstumme verfasst, welches noch erhalten ist.80 Wie bereits erwähnt wurden »taube« und »stumme« Kinder in Tirol bereits unter dem Franziskanerpater Romedius Knoll unterrichtet. Die Schule musste auf Hinwirken von Friedrich Stork geschlossen werden. Erst einige Jahre später, 1821, wurde ein Antrag in Wien für eine (Neu-)Gründung in Tirol eingebracht. Eine lange Bearbeitungszeit des Antrags machte die Eröffnung des 76 | Eduard Schmalz, Ueber die Taubstummen und ihre Bildung in ärztlicher, statistischer, pädagogischer und geschichtlicher Hinsicht. Nebst einer Anleitung zur zweckmäßigen Erziehung der taubstummen Kinder im älterlichen Hause (Dresden/Leipzig: Arnold, 1838), 401. 77 | Wibmer, »Unterricht«, 89-92. 78 | Im 19. Jahrhundert tauchte der Begriff »Bildungsfähigkeit« vermehrt auf, vgl.: Wibmer, »Unterricht«. 79 | Wibmer, »Unterricht«, 92-93. 80 | Michael Reitter, Methoden-Buch zum Unterricht für Taubstumme (Wien: Heubner, 1828).

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Instituts erst 1830 möglich. Initiiert wurde dieser von Franz Holdenheim – ein Stifter, der auch die Gründung der Grazer Schule vorwärts trieb. Das Institut wurde zunächst in Brixen eingerichtet, ehe 1834 das Gebäude für ein k.k. Militärhospital umgebaut wurde. Die Schule übersiedelte 1835 nach Hall in Tirol. Bemerkenswert am Haller Institut war, dass Kinder, deren Eltern italienischsprachig waren, auch in Italienisch unterrichtet wurden. Dieser Unterricht wurde aber abgeschafft, weil eine eigene Schule in Trient (Italien) eingerichtet wurde.81 In den italienischen und kroatischen Städten Triest, Görz, Verona und Trient wurden zum Teil staatliche, zum anderen Teil private Anstalten gegründet. Die Görzer Schule sollte den Unterricht in der gefürsteten Grafschaft Görz und Gradiska sowie der Markgrafschaft Istrien abdecken. Sie wurde 1840 gegründet und hatte nach Gustav Pipetz einen besonderen Ruf erworben, »weil in demselben [nämlich der Görzer Schule] mit der bisher üblichen Gebärden-Methode gebrochen wurde und der reine Lautsprach-Unterricht zur Einführung gelangte«.82 Hier lässt sich die zunehmende Tendenz, den Unterricht in Lautsprache zu führen, erkennen. Wie noch aufgezeigt werden wird, setzten sich in der Diskussion über die richtige Methode die Befürworter der Lautsprachenmethode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Die katholische Privatschule in Trient wählte laut Pipetz vorerst die »gemischte Methode«, ehe sie um die Jahrhundertwende nach einer Umstrukturierung völlig zum Lautsprachenunterricht überging.83 Im italienischsprachigen Gebiet der Monarchie gab es überdies auch eine eigene Schule in Verona. Im Österreichischen Staatsarchiv liegt zwar kein Akt über die Gründung der Schule auf, jedoch ein Ansuchen für eine »Errichtung einer geistlichen Corporation zur Ertheilung der Taubstummen der Stadt und Provinz von Verona«.84 Ein entsprechendes Methodenbuch von dieser Schule und dem Lehrer Antonio Provolo findet sich in italienischer Sprache im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek. Über die noch bestehende Schule konnte bisher keine weitere deutschsprachige Literatur oder Quellen gefunden werden.85

81 | Wibmer, »Unterricht«, 93-94. 82 | Pipetz, Entwicklung, 57. 83 | Wibmer, »Unterricht«, 95-96. 84 | OeStA/AVA/StHK/845/21/Venezia-Padua/Gesuch an den Kaiser vom August 1839 zur Errichtung einer Congregation. 85 | Wibmer, »Unterricht«, 95-96.

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Ü ber G ese t ze , V erordnungen und R eformideen Der Ausbau der Schulen in der Habsburger Monarchie verteilte sich über das gesamte 19. Jahrhundert. Die Entscheidung, wann Schulen gegründet werden, oblag der Studienhofkommission in Wien – die Initiative jedoch ging nicht immer von staatlicher Seite aus. Auf juristischer Ebene gab es sozusagen auch einen Ausbau: Das Reichsvolksschulgesetz 1869 und die Ministerial-Verordnung vom 6. Juli 1880 gehen auf die »Besonderheit« des »Taubstummenunterrichts« ein und fordern nicht nur einen eigenen entsprechenden Lehrplan, sondern sehen auch die Notwendigkeit des Ausbaues vor. Das Reichsvolksschulgesetz hatte zum Ziel, Schülerinnen und Schüler »zu ›tüchtigen Menschen und Mitgliedern des Gemeinwesen‹ zu erziehen«.86 §29 des Gesetzes regelte die Organisation und Zuständigkeit des Unterrichtes für gehörlose und blinde Menschen: »§29 […] Außerdem sind die Zöglinge dort, wo sich dazu die Gelegenheit findet, mit der Methode des Unterrichtes für Taubstumme und Blinde, sowie mit der Organisation einer gut eingerichteten Kleinkinderbewahranstalt [d.h. Kindergarten, Anm.] bekannt zu machen.«87 Wie zu lesen ist, sah das Gesetz den Unterricht nach der »Methode des Unterrichtes für Taubstumme« vor. Es ist allerdings nicht geklärt, von welcher Methode die Rede ist und wer sie bestimmte. Diese Frage ist vor allem in Hinblick auf die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen in der Geschichte der Gehörlosenpädagogik rund um die »richtige« Unterrichtsmethode interessant. Bemerkenswert ist auch, dass der Paragraph vorsichtig von einer »Gelegenheit« spricht. Das deckt sich mit dem vorhandenen Mangel an Schulen im Hoheitsgebiet des Gesetzes. Dies moniert auch Eduard Partisch, seines Zeichens »Oberlehrer und Leiter am mährisch-schlesischen Taubstummeninstitute in Brünn«, in seiner 1888 erschienenen »Anleitung für Volksschullehrer« im Zusammenhang mit dem Gehörlosenunterricht: Es ist eine allgemeine und gerechtfertigte Klage der Taubstummenanstalten Österreichs, dass sie den großen Andrang von Bewerbern um Aufnahme taubstummer Kinder nicht bewältigen, dass sie ihre Zöglinge nicht in dem für den Beginn eines geregelten Unterrichts geeignetsten, sondern erst in einem vorgerückteren, in Bezug auf den Unterrichtserfolg weniger zuträglichen Alter und zwar aus dem erklärlichem Mitleidsgefühl, welches keine dieser Unglücklichen unberücksichtigt lassen möchte, aufnehmen können; dass sie endlich ihre Zöglinge oft in einem verwahrlosten, thierischen Zustande erhalten, demzufolge ein bedeutender Theil der ihnen kurz bemessenen kostbaren Zeit lediglich zur Aneignung der wichtigsten Lebens- und Anstandsregeln, zur Erzielung der 86 | RGBl. 24/1869, Gesetz vom 14. Mai 1869 durch welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volkschulen festgestellt werden, §1, 277. 87 | Ebd., §29, 281.

Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik für den zu beginnenden ernsten Unterricht erforderlichen Vorkenntnisse und Fertigkeiten verwendet werden muss. Die Behebung der beiden erstgenannten Übelstände kann nur erfolgen durch die Errichtung einer, den factischen Bedürfnissen entsprechenden Anzahl neuer Taubstummenanstalten. 88

Scheinbar gab es mehr zu unterrichtende gehörlose und stumme Kinder als verfügbare Schulplätze. Der Schulbesuch war einerseits im erwähnten Reichsvolksschulgesetz vorgesehen – eine eindeutige und explizite Verordnung betonte, dass die Schulpflicht auch für gehörlose Kinder gelte: Da die Schulpflichtigkeit für alle Kinder gesetzlich bestimmten Alters ausnahmslos besteht und nach §23 des RVG (-156-) [d.h. Reichsvolksschulgesetz] unter bestimmten Voraussetzungen und hierangeknüpften Verpflichtungen nur individuelle Befreiungen vom Besuche der öffentlichen Volksschule gestattet sind, so haben auch die nicht vollsinnigen Kinder im allgemeinen an dem Volksschulunterrichte teilzunehmen. Beim Unterrichte und bei der Erziehung blinder oder taubstummer Kinder sind aber besondere Rücksichten zu beobachten und spezielle Aufgaben zu lösen, so daß für die allseitige Bildung solcher Kinder eigenartige Anstalten eine unabweisbare Notwendigkeit sind. Die Zahl und die Ausdehnung der bestehenden Blinden- und Taubstummenerziehungsinstitute ist aber erfahrungsgemäß für den Bedarf nicht ausreichend. 89

In den 1880er Jahren war einerseits der Schulbesuch verpflichtend, andererseits hatte man nicht genügend Plätze zur Verfügung. Die Verordnung versuchte pragmatisch dem Umstand gerecht zu werden und gab de jure die Möglichkeit gehörlose Kinder in Volksschulen zu schicken, damit sie zumindest ihrer Pflicht, die Volksschule zu besuchen, nachkommen konnten. Von Eduard Partisch überliefert ist eine Statistik auf Basis der Volkszählung von 1880. Demnach lebten »29.958 ›Taubstumme‹ in den Ländern Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Triest und Gebiet, Görz und Gradiska, Istrien, Tirol, Vorarlberg, Böhmen, Mähren, Schlesien, Gali-

88 | Eduard Partisch, Anleitung für Volksschullehrer zur erziehlichen und unterrichtlichen Behandlung taubstummer Kinder als Vorbildung für die Taubstummen-Anstalt, 2. Aufl. (Wien: Kaiserl.- Königl. Schulbücher-Verl., 1888), 3. 89 | BIG Archiv I 2284, Handbuch der Reichsgesetze und der Ministerialverordnungen über das Volksschulwesen. Nr. 357. Ministerialerlass vom 6. Juli 1881, Z. 6464 betr. den Unterricht und die Erziehung blinder und taubstummer Kinder an den Volksschulen, Wien 1911, 253.

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zien, Bukowina und Dalmatien«. Von ihnen waren aber lediglich 1.141 in 16 Anstalten untergebracht.90 Die Frage nach der »richtigen« Unterrichtsmethode trat im letzten Drittel des Jahrhunderts erneut und etwas deutlicher zum Vorschein. Im zitierten Reichsvolksschulgesetz war die Rede von der »Methode des Unterrichts für Taubstumme« – die Entscheidung, welche eingesetzt wurde, oblag offenbar dem jeweiligen Institut selbst. Zumindest ist vom Wiener Taubstummeninstitut ein Beschluss überliefert, der die Verwendung der Lautsprachenmethode vorsah. 1866 hielt man am Wiener Institut eine Konferenz »unter dem Vorsitze des Reformators des Taubstummenunterrichtes in Deutschland Friedrich Moritz Hill«, bei welcher man sich für die von ihm erläuterte deutsche Methode entschied. Laut einer Festschrift aus dem Jahr 1929 wurden die neuen Statuten, die diese Änderung beinhalteten, für das Institut 1872 genehmigt.91 Der Mailänder Kongress von 1880 spielte somit für das Institut keine direkte Rolle, auch, weil Österreich-Ungarn nach derzeitigem Wissensstand gar nicht dabei war.92 Die Lautsprachenmethode als fixen Bestandteil im Unterrichtswesen an den österreichischen Taubstummenschulen einführen zu wollen war auch das Bestreben des Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten Vereins österreichsicher Taubstummenlehrer. Der Verein organsierte ab 1873 Kongresse, in welchen unterschiedliche Agenden besprochen wurden. Die Vereinigung entwickelte »Leitsätze zur Aufstellung eines Normal-Lehrplanes für Taubstummenschulen«, die 1901 veröffentlicht wurden.93 In der Publikation ist nachzulesen, welche Rolle die Gebärdensprache für den Verein innehaben sollte: 3. Stellung der Geberdensprache. Die natürliche Geberde ist im Verkehre mit den jüngeren Schülern als Verständigungsmittel unentbehrlich, hat aber in den Maße zurückzutreten, als die Lautsprachenerlernung einen mündlichen Verkehr ermöglicht. Eine schulmäßige Entwickelung der natürlichen Geberdensprache findet in der Taubstummenschule nicht statt. 94

90 | Wibmer, »Unterricht«, 111. 91 | BIG Archiv, Festschrift zum 150 jährigen Bestande des Taubstummen-Institutes in Wien, XIII. Selbstverlag des Taubstummen-Institutes. Wien, XII., Speisingerstraße 105, Wien 1929, 16. 92 | Im Zusammenhang mit dem Mailänder Kongress sei auf den Artikel von Anni Quandt verwiesen: Anni Quandt, »Der Mailänder Kongress und seine Folgen. Teil 2«, Das Zeichen 89 (2011), 204-217. 93 | BIG Archiv I 422, Verein Österreichischer Taubstummenlehrer, Leitsätze zur Aufstellung eines Normal-Lehrplanes für Taubstummenschulen, Wien 1901. 94 | Leitsätze 1901, 4.

Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik

Der zuständige Referent des Vereines Anton Druchba, später Direktor des Wiener Instituts, wollte die Gebärdensprache zwar für Neuzugänge verwenden, damit eingangs überhaupt eine Kommunikation mit ihnen möglich wurde, jedoch sollte sie nicht weiter verwendet und damit die Lautsprache im Unterricht forciert werden. Was genau in diesem Zusammenhang unter Gebärdensprache zu verstehen ist, ist unklar. Einerseits könnte es sich um die »natürliche« Gebärdensprache handeln, andererseits auch um jene, die im 19. Jahrhundert in Österreich (und eventuell in Ungarn) in den Schulen und Organisationen, Vereinen verwendet wurde. Der Unterricht selbst sollte nach den Leitsätzen recht umfangreich ausfallen: Religion, Articulieren in Verbindung mit Ablesen, Lesen und Schreiben, Unterrichtssprache in Verbindung mit Geschäftsaufsätzen, Rechnen und geometrischen Formenlehre, Das für die Taubstummen fasslichste und Wissenswerteste aus der Naturgeschichte, Naturlehre, Erdkunde und Geschichte mit besonderer Rücksichtnahme auf das praktische Bedürfnis und die künftige Lebensstellung des Taubstummen, Freihandzeichnen, Schreiben, Turnen und Arbeitsunterricht für beide Geschlechter. 95

Eine starke Abweichung des Unterrichts gegenüber dem erwähnten Lehrplan von Venus gab es nicht, lediglich die Erlernung eines Handwerkerberufes für männliche »Zöglinge« schien nicht mehr zu den Vermittlungsaufgaben der Institute zu zählen. Die Leitsätze sind jedoch auch nach einem bestimmten System aufgebaut und mehr oder weniger vom tatsächlichen Lehrplan abgeleitet. Aus dem Klassenbuch des Wiener Taubstummeninstituts des Schuljahres 1901/1902 lässt sich ermitteln, welche Fächer die Schülerinnen und Schüler hatten: »Religion, Deutsche Unterrichtssprache – gegliedert in Artikulation, Ablesen, Lesen, Sprachenlehre und Aufsatz – Rechnen, Geographie, Geschichte, Naturgeschichte, Naturlehre, Gewerbelehre, Freihandzeichnen, Geometrie und geometrisches Zeichnen, Schönschreiben, Turnen, weibliche Handarbeiten, und Handfertigkeitsunterricht.«96 Einen großen Teil des Unterrichtes nahm somit der Deutschunterricht ein, der hinsichtlich der Erlernung der Lautsprache aufgebaut war. Die Analyse der Klassenbücher von 1901/1902 und 1910/1911 zeigen beispielsweise, dass das Fach »Artikulation« in allen sieben Klassen durchgehend unterrichtet wurde.97 Es ist nicht belegt, ob die besprochenen Leitsätze für das Institut eine Bindungswirkung hatten. Doch anhand des Vergleichs mit den Klassenbüchern kann zumindest gesagt werden, dass die Lautsprachenmethode einen hohen Stellenwert hatte und dass um die

95 | Leitsätze 1901, 3-4. 96 | Wibmer, »Unterricht«, 113-114. 97 | Ebd., 114.

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Jahrhundertwende Gebärden beziehungsweise Gebärdensprache im Lehrplan nicht vorzufinden waren.

F a zit Die Diskussionen rund um die »richtige« Methode, also die Frage ob man nun Lautsprache oder Gebärdensprache im Unterricht verwenden sollte, flammte im Lauf der Geschichte der österreichischen »Taubstummenbildung« immer wieder auf. Das zeigt sowohl die Auseinandersetzungen um die Methode in den 1770er Jahren, an der neben Heinicke und de l’Epée auch Österreicher beteiligt waren; das zeigen aber auch die zahlreichen Schriften des 19.  Jahrhunderts, die in Österreich bereits vor 1880 für Lautsprachlichkeit tendierten. Hauptargument der Befürworter der Lautsprachenmethode war die Kommunikation mit hörenden Personen. Es ist jedoch immer zeitlich zu unterscheiden, wer welche Argumente, aus welchen Motiven heraus, gewählt hat. Betonen möchte ich, dass die Methodenentwicklung keine Kontinuität aufweist, sondern mal stärker pro und mal stärker gegen die Gebärdensprache beziehungsweise die Lautsprache votiert wurde. Klar ist aber, dass, nachdem das Wiener Taubstummeninstitut die Lautsprachenmethode einführte, die Gebärdensprache zum Zweck des ersten Kommunikationsauf baus weiterhin präsent blieb. Zumindest in der ersten Zeit sollte sie zu Zwecken der Kommunikation verwendet werden. Auch der Ausbau von Gehörlosenschulen ist kein kontinuierlicher. Das heißt, es gab keinen konkreten Plan wie der Ausbau geschehen sollte, zur Gründung neuer Schulen bedurfte es stets an Einzelinitiativen. »Höhepunkte« der Schulgründungen sind in den 1830er und 1880er Jahren zu verorten. Für die Schulgründungen in den 1880er Jahren war vor allem der große »Andrang« und die Ministerial-Verordnung von 1880 wichtig. Letztere schrieb den Ausbau von Schulen für gehörlose Schülerinnen und Schüler vor, damit »auch die nicht vollsinnigen Kinder«98 der vorgeschriebenen Schulpflicht Folge leisten konnten.

98 | BIG Archiv I 2284, Handbuch der Reichsgesetze und der Ministerialverordnungen über das Volksschulwesen. Nr. 357. Ministerialerlass vom 6. Juli 1881, Z. 6464 betr. den Unterricht und die Erziehung blinder und taubstummer Kinder an den Volksschulen, Wien 1911, 253.

Zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik

B ibliogr afie Abkürzungsverzeichnis BIG – Bundesinstitut für Gehörlosenbildung, Wien. OeStA – Österreichisches Staatsarchiv

Archivquellen OeStA/AVA/StHK/21/489. OeStA/AVA/StHK/105/21/202/31. März 1779. OeStA/AVA/StHK/105/21/303. OeStA/AVA/StHK/105/21/303/29.X.1779. OeStA/AVA/StHK/105/21/294/November 1791/Allerunterthänigster Vortrag Nr. 1426. OeStA/AVA/StHK/842/21/849/Aktenmässige Beweise. OeStA/AVA/StHK/842/21/Copia ad 6604 Gr/7bri 17892/Augusto 1793. OeStA/AVA/StHK/842/21/Copia ad 6604 Gr/B Welches ist die eigentliche den Taubstummen nützlichste Lehrart? OeStA/AVA/StHK/845/21/Venezia-Padua/Gesuch an den Kaiser vom August 1839 zur Errichtung einer Congregation. RGBl. 24/1869, Gesetz vom 14. Mai 1869 durch welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volkschulen festgestellt werden.

Gedruckte Quellen BIG Archiv I 388. Gustav Pipetz, Entwicklung des Taubstummen-Bildungswesen in den Ländern Österreich. Graz: 1902. BIG Archiv I 422. Verein Österreichischer Taubstummenlehrer. Leitsätze zur Aufstellung eines Normal-Lehrplanes für Taubstummenschulen. Wien: 1901. BIG Archiv I 995. Kurze Nachricht von der Verfassung und Einrichtung des kaiserl. königl. Taubstummen-Instituts zu Wien. Wien: 1801. BIG Archiv I 2284. Handbuch der Reichsgesetze und der Ministerialverordnungen über das Volksschulwesen. Nr. 357. Ministerialerlass vom 6. Juli 1881, Z. 6464 betr. den Unterricht und die Erziehung blinder und taubstummer Kinder an den Volksschulen. Wien: 1911. BIG Archiv. Festschrift zum 150 jährigen Bestande des Taubstummen-Institutes in Wien, XIII. Wien: Selbstverlag des Taubstummen-Institutes. Wien, XII., Speisingerstraße 105, 1929.

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Georg Wilhelm Pfingsten »Vater« der Hörgeschädigtenpädagogik in Schleswig-Holstein Ingo Degner

Abbildung 6: Ölgemälde von G. W. Pfingsten, (1826)

Quelle: Im Schulbesitz

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V orbemerkung Georg Wilhelm Pfingsten (1746-1827) (Abb. 6) – der Namens- und Gründungsvater des heutigen Landesförderzentrums Hören und Kommunikation, Georg-Wilhelm Pfingsten Schule in Schleswig – begann seine pädagogische Lauf bahn 1787 in Lübeck als Winkelschulmeister, d.h. als Lehrer an einer privat organisierten Schule. Pfingsten legte den Grundstein für die Bildung hörgeschädigter Menschen in Schleswig Holstein als er 1799 unter staatlicher Aufsicht das »Königliche Taubstummen-Institut« in Kiel eröffnete, das 1810 nach Schleswig verlegt wurde. Damit einher ging die Einführung der Schulpflicht für alle Taubstummen1 durch den dänischen König. In einer Zeit des Umbruchs sorgte Pfingsten mit seinen unkonventionellen und kreativen pädagogischen Ansätzen auch am dänischen Königshof für Begeisterung. Er stellte schon damals den Schüler mit seinen individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunkt und entwickelte davon ausgehend didaktische und methodische Ansätze. Bemerkenswert ist seine große Offenheit in Bezug auf das Erlernen von Sprache: »Alles, was von außen her einen Eindruck auf mein Gehör, Gesicht oder Gefühl machte, hielt meine Phantasie für eine Sprache.«2 Pfingsten lebte und wirkte in einer Zeit, da die ersten Schulen für Gehörlose überhaupt gegründet wurden. Das eröffnete Freiräume, methodisch zu experimentieren. Durch Reisen zu anderen Taubstummen-Instituten informierte sich Pfingsten über die dort angewandten Methoden. So reiste Pfingsten 1803 nach Leipzig und Berlin. Nach seiner Rückkehr äußert er sich besonders ablehnend über die in Leipzig vorherrschende »orale Methode«.3 Auch als Ergebnis dieses Austauschs mit anderen Bildungsstätten änderte sich Pfingstens eigene Methode im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit. Das Ziel der Lautspracherwerbung, das er zunächst verfolgt hatte, auch wenn er in den Unterricht über die Gebärde einstieg, trat immer mehr zurück. »Die Gebärdensprache, anfangs nur als Helfer gewürdigt, wurde nun überwiegend gepflegt und weiterentwickelt.«4 Außerdem wurden die Schüler mit dem Fingeralphabet zur Schriftsprache geführt, die zunehmend ein wichtiges Ausdrucksmittel wurde. »Die Lautsprache war nicht 1 | Heute würde man von »Gehörlosen« oder »Tauben« sprechen – da der Begriff »taubstumm« zur Zeit Pfingstens gebräuchlich war, wird er nachfolgend auch ohne Anführungszeichen verwendet. 2 | Georg Wilhelm Pfingsten, Kleine Schriften über Telegraph, Galvanismus, und über Taubstumme u.s.w., gesammelt von G. W. Pfingsten (Kiel: o. V., 1805), 42. 3 | Paul Schumann, Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt (Frankfurt a.M.: Diesterweg, 1940), 630. 4 | Arno Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung in Schleswig-Holstein. Festgabe zur Feier des 150jährigen Bestehens der Landesgehörlosenschule mit Heim, Schleswig, als öffentliche Bildungseinrichtung am 8. November 1955 (Schleswig: o. V., 1955), 21.

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mehr Prinzip, sondern wurde zum Fach, das nur noch mit geeigneten Schülern betrieben wurde.«5 Es ging ihm also nicht um das einzig »richtige« Kommunikationsmittel, wie es dem gegenüber in der polarisierenden Fachdiskussion jener Zeit der Fall war. Als Sprache galten für ihn sowohl verbale als auch nonverbale Mittel; im Mittelpunkt stand für ihn die Bildung hörgeschädigter Menschen. Der besondere Werdegang Pfingstens zeichnet sich durch Innovation, Mut und nicht zuletzt durch den unermüdlichen Einsatz für taubstumme Menschen aus. Menschen, die stumm blieben, weil sie gehörlos oder nahezu taub waren, hat es zu allen Zeiten gegeben. Über Taubstumme besitzen wir Zeugnisse aus dem Altertum und aus der Bibel. Aber über viele Jahrhunderte hinweg wurde die Abhängigkeit der Stummheit von Taubheit bzw. Gehörlosigkeit nicht erkannt. Aus dem Mittelalter sind uns allerdings Bildungsversuche an Taubstummen bekannt, um ihnen das Sprechen zu lehren. Es handelte sich dabei aber fast immer um Personen hohen Standes, und so blieben diese Unternehmungen Einzelversuche.6 Von einer eigentlichen Taubstummenbildung kann man erst mit Ausgang des 18. Jahrhunderts sprechen, als einzelne Männer besondere Schulen für Taubstumme gründeten. Das Werk dieser Männer fußte auf den Vorstellungen der Aufklärung, die besonders durch das Bestreben geprägt war, das Denken mit den Mitteln der Vernunft von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen, Vorurteilen und Ideologien zu befreien. In den Ideen der Aufklärung liegen auch die Anfänge der Taubstummenbildung in Schleswig-Holstein.

D ie A nfänge der Taubstummenbildung in S chleswig -H olstein Der Beginn einer Taubstummenbildung in Schleswig-Holstein ist untrennbar mit dem Namen Georg Wilhelm Pfingsten verbunden. Es ist allein dem unermüdlichen Einsatz und seinen damals Aufsehen erregenden Unterrichtserfolgen zu verdanken, dass die Taubstummenbildung in Schleswig-Holstein zu einer staatlichen Angelegenheit wurde. Georg Wilhelm Pfingsten entstammte einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Militärmusiker in holsteinischen Diensten und durch seinen Beruf zu 5 | Ebd. 6 | Vgl. auch Schumann, Geschichte des Taubstummenwesen, 18-119; Jochen Muhs, »Die Geschichte der Gebärdensprache – von der Römerzeit bis heute«, Zugriff 18.8.2018, www.deafkrause.de/deaf-history/; Daniel Haase, »Die Heilung eines Taubstummen. Jesu Öffnung zu den Heiden«, Zugriff 18.8.2018, https://www.bibelwissenschaft.de/ bibelkommentar/beitraege-im-obk/detailansicht/.

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häufigem Ortswechsel gezwungen. Pfingsten selbst wurde am 5. März 1746 in Kiel geboren. Seine Mutter starb im Wochenbett, und auch die Stiefmutter verlor er bereits in seinem 8. Lebensjahr. So wuchs der Junge bei Pflegeeltern auf. Die Pflegeväter waren ehemalige Soldaten, die sich nun als Handwerker mehr schlecht als recht durchschlugen. Ihnen waren das Pflegegeld eine willkommene Einnahmequelle und der Junge eine billige Arbeitskraft; aber um seine Erziehung und Schulbildung kümmerten sie sich wenig. Teilweise nahmen die Zurücksetzungen und Quälereien einen solchen Umfang an, dass das Pflegekind, dessen Vater als Musiker fern der Heimat – in St. Petersburg – weilte, die Behörden um Hilfe bat. Bis zu seinem 14. Lebensjahr war Pfingsten in nicht weniger als neun verschiedenen Pflegestellen in Kiel, Neustadt, Oldenburg und Hamburg. Auf einer Stelle suchten ihn die Pflegeeltern zum Diebstahl anzuhalten und auf einer anderen wurde er Zeuge sexueller Übergriffe.7 Es zeugt von einem gesunden moralischen Kern in dem jungen Pfingsten, dass er dabei nicht selbst auf die schiefe Bahn kam. Im Jahre 1760 holte der Vater seinen Sohn Georg Wilhelm und seinen jüngeren Stiefbruder nach Petersburg. Der Vater war dort Musiker in einer Kapelle der holsteinischen Truppen, die der Zar Peter III, ein gebürtiger Herzog von Holstein, nach Russland hatte nachkommen lassen.8 In Petersburg begann für Georg Wilhelm eine Zeit des intensiven Lernens. Mit großer Freude konnte er sich hier seiner Lieblingsbeschäftigung, der Musik, hingeben. Im Trommel- und Flötenspiel entwickelte er dabei so viel Talent, dass ihm bereits mit 16 Jahren die vakante Stelle eines Flötisten in der Hofkapelle angeboten wurde. Aber die Ermordung des Zaren im Jahre 1762 zerschlug alle beruflichen Aussichten. Die Holsteiner wurden verhaftet und aus Russland ausgewiesen. Nach abenteuerlicher Seefahrt kehrte Vater Pfingsten mit seinen beiden Söhnen über Schweden und Dänemark in die Heimat zurück. Sie hatten fast ihre gesamte Habe verloren. Obwohl sich Georg Wilhelm stark zum Beruf eines Musikers hingezogen fühlte, schien ihm das Erlernen eines Handwerks doch größere Sicherheiten zu bieten. Er trat 1763 mit 17 Jahren in Kiel bei einem Perückenmacher in die Lehre. Drei Jahre später ging er als Geselle auf Wanderschaft und fand dann in Hamburg eine Anstellung. Aber seine Liebe zur Musik ließ Pfingsten nicht zur Ruhe kommen. Er trug sich mit dem Gedanken, wieder nach St. Petersburg auszuwandern und dort in eine Kapelle reicher Privatleute einzutreten. Zu diesem Zwecke ging er zunächst nach Lübeck, um sich von hier aus einzuschiffen. Vorteilhafte Angebote aber, die ihm hier gemacht wurden, veranlassten Pfingsten allerdings, sich stattdessen in Lübeck als Perückenmacher niederzulassen.9 Am 27. August 1773 wurde er Meister und Bürger von Lübeck. Drei Wochen später, am 16. September, verheiratete er sich mit Cathari7 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 21 8 | Vgl. ebd. 9 | Vgl. ebd.

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na Engel, geborene Börs (Abb. 7), die sich – wie noch gezeigt werden wird – aktiv in die Taubstummenbildung einbringen würde. 10 Im Laufe der Zeit wurden den Eheleuten acht Kinder geboren, von denen aber sechs bereits im jugendlichen Alter verstarben. Als das Perückentragen aus der Mode kam, musste Pfingsten sein Handwerk aufgeben. Die Not trieb ihn dazu, Winkellehrer zu werden. Pfingsten erteilte Unterricht im Lesen, in Musik und im Tanzen. Seine musikalischen Fähigkeiten öffneten ihm dabei auch die vornehmsten Häuser Lübecks und brachten ihn mit einflussreichen Männern zusammen, die ihm mit Rat und Tat zur Seite standen. Unermüdlich arbeitete Pfingsten an seiner persönlichen Weiterbildung; er war ein Autodidakt voller Ideen und Tatkraft, motiviert auch durch seine ökonomische Situation. Unter anderem erfand er eine Trommel- und Signalsprache. Abbildung 7: Catharina Pfingsten

Quelle: Ölbild im Schulbesitz

10 | Archiv der Hansestadt Lübeck (=AHL), Altes Senatsarchiv Nr. 2550 (Bürgereidbuch 1763-1800).

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Durch öffentliche Vorführungen in Lübeck, Kiel, Schleswig, Hamburg, Lüneburg und Kopenhagen suchte er 1786 mit seinem 11-jährigen Sohn als Assistenten bei Nacht die Brauchbarkeit seiner Erfindung für die Nachrichtenübermittlung nachzuweisen.11 Pfingsten erregte zwar viel Aufsehen bei seinen Zeitgenossen – die damaligen Zeitungen berichteten ausführlich über die Vorführungen – aber er fand mit seiner Erfindung nicht das erwünschte Interesse staatlicher, vor allem militärischer Stellen. Daher suchte er denn seine Erfindung auf einem anderen Gebiet nutzbar zu machen: als Unterstützung der Gebärdensprache im Unterricht Taubstummer.12 Wie schon sein Vater in Lüneburg in privatem Umfeld, so war auch Georg Wilhelm Pfingsten mehrfach in Kiel, St. Petersburg und Kopenhagen mit Taubstummen in Berührung gekommen.13 Beispielsweise berichtet er: »[ich bin] viele Jahre im Ausland [umher]gewandert; an jedem Orte, wo ich mich eine zeitlang aufhielt, mich nach Taubstummen erkundigte, ihren Umgang suchte, ihre Pantomimensprache untersuchte, ihre Denkart erforschte, ihnen nützlich wurde und gerne half, wo ich konnte […]«.14 Pfingsten hatte sich in die Denk- und Ausdrucksweise dieser Menschen, um die sich damals kaum jemand kümmerte, eingelebt und verstand es bald meisterhaft, sich mit ihnen mit Hilfe von Gebärden zu unterhalten. Dabei handelte es sich um eine Mischung aus natürlichen, angenommenen und selbst entwickelten Gebärden. Pfingsten sah darin ein vorzügliches Mittel, den »verhüllten Geist«15 der Gehörlosen zu wecken, ihr Denken anzuregen und sie so allmählich für den Unterricht vorzubereiten.16 11 | Anonym, »Etwas über die neue Erfindung einer Gehör- Zeichen- oder Trommel- und Fahnensprache«, Journal aller Journale, 187-195, in Kleine Schriften über Telegraph, Galvanismus, und über Taubstumme u.s.w. gesammelt von G. W. Pfingsten (Kiel: 1805), ohne Seitenangabe. 12 | Vgl. Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung. 13 | Vgl. Gust Wende, Hg., Deutsche Taubstummenanstalten, -Schulen und -Heime in Wort und Bild (Halle: Marhold, 1915); August Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig in ihrer geschichtlichen Entwicklung von 1787 bis 1905. Festschrift zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens als öffentliche Landesanstalt am 8. November 1905 (Schleswig: o. V., 1905); Georg Wilhelm Pfingsten, Über den Zustand der Taubstummen, der älteren und jüngeren Zeit: oder der erste Taubstummen Lehrer, ein protestantischer Geistlicher und Zeitgenosse von Dr. M. Luther (Schleswig: o. V., 1817). 14 | Pfingsten, Über den Zustand der Taubstummen, 39. 15 | C. A. Overbeck, Bericht über Herrn Pfingsten und dessen Fortschritte im Unterricht der Taubstummen, gelesen in der literarischen Gesellschaft von C. A. Overbeck d.z. Direktor, 1791 den 29. März, ohne Seitenangabe. Archiv der Hansestadt Lübeck (=AHL), 05.4-28 Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit Nr. 134 16 | Pfingsten, Über den Zustand der Taubstummen.

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In dem Arzt Dr. Wallbaum, seinem Nachbarn in Lübeck, fand Pfingsten einen steten Förderer seiner Ideen. Dieser übergab Pfingsten im Jahre 1787 einen taubstummen Jungen, der bereits ein paar Jahre die Schule besucht hatte, dessen früherem Lehrer es allerdings nicht gelungen war, auch nur einen einzigen artikulierten Laut aus ihm herauszubringen. Pfingsten brachte das Kind innerhalb von sechs Monaten zum deutlichen Sprechen. Über die von ihm in diesem Fall genutzte Methodik und Didaktik ist wenig bekannt. Ein ehemaliger Schüler Pfingstens, der bekannte Pädagoge Otto Friedrich Kruse (1801-1880) berichtete im Nachhinein, dass Pfingsten es verstand, »die Lautsprache und Gebärdensprache aufs Engste miteinander [zu verknüpfen], ohne der einen oder anderen das Übergewicht einzuräumen und wußte sich hierdurch schon von den Extravaganzen fernzuhalten, in welche sowohl de L’Epée als auch Heinicke verfallen sind.«17 Pfingstens Erfolg in der Sprachunterweisung des taubstummen Jungen führte schnell dazu, dass man ihm weitere Taubstumme anvertraute. So konnte er im Jahre 1788 in der Johannisstraße in Lübeck – heute »Dr.-Julius-Leber-Straße« – ein kleines Privat-Institut eröffnen, dessen Schülerzahl schnell auf sieben anstieg. Pfingsten begann seinen Unterricht in der Gebärden- bzw. Zeichensprache. Mittels Zeichen erteilte er den Kindern Befehle, die sie auszuführen hatten, und stellte Fragen, die in der Zeichensprache zu beantworten waren. War so eine sichere Verständigung angebahnt, begann Pfingsten mit dem mündlichen Unterricht. Pfingsten hatte sich dabei angewöhnt, in einer dreifachen Art durch Zeichen zu sprechen, nämlich durch hörbare Laute, durch sichtbare Zeichen und durch fühlbare Empfindungen.18 Leider sagen die Quellen nichts über die Art des Vorgehens beim Artikulationsunterricht. Pfingstens Ziel war ursprünglich also eindeutig das Erlernen der Lautsprache in ihrer mündlichen und schriftlichen Form über die Gebärde. Überhaupt betrieb Pfingsten den Unterricht der Taubstummen am Anfang nur nebenbei. Um seine große Familie ernähren zu können, musste er den Unterricht Hörender fortsetzen, ohne allerdings damit die ständigen wirtschaftlichen Sorgen beheben zu können. Pfingstens bedrückende wirtschaftliche Lage rief die »Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Täthigkeit in Lübeck« auf den Plan. Der Vorstand dieser Gesellschaft stellte Pfingsten im Jahre 1791 ein öffentliches Zeugnis aus, um ihm »ein seinen Fähigkeiten angemessenes Amt und eben dadurch für sein menschenfreundliches Geschäft die nöthige Muße zu verschaffen«.19 Im Sep17 | Otto Friedrich Kruse, Über Taubstumme, Taubstummen-Bildung und Taubstummen-Anstalten nebst Notizen aus meinem Reisetagebuche (Schleswig: Bruhn, 1853), 392. Sowohl de L´Epeé (1712-1789) als auch Heinicke (1727-1790) positionierten sich im Rahmen der Taubstummenbildung zu jeweils einer Sprache. 18 | Vgl. Pfingsten, Über den Zustand der Taubstummen. 19 | Pfingsten, Kleine Schriften über Telegraph, 51.

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tember 1791 ernannte das Domkapitel zu Lübeck Pfingsten zum Organisten, Küster und Schulhalter in Hamberge, etwa acht km südwestlich von Lübeck gelegen (Abb. 8). Abbildung 8: Schulgebäude in Hamberge. Auf der Rückseite des Fotos befindet sich folgender Vermerk: »Kantorhaus in Hamberge kann nur leihweise überlassen werden u. ist zurückzusenden an Hauptl. Strakerjahn in Lübeck.« Heinrich Strakerjahn war in Lübeck Lehrer für taubstumme, geistesschwache und sprachlich zurückgebliebene Kinder und wurde 1889 mit der Leitung der BehrendSchrödersche Schule betraut, in der die Hansestadt Lübeck behinderte Kinder zusammenfasste. Er hatte in seiner Dienstzeit enge Kontakte mit der Schleswiger Schule und überwies zahlreiche Schüler dorthin

Quelle: Das vor 1889 nach Schleswig verbrachte Bild wurde nicht zurückgeschickt und befindet sich heute – gerahmt, ohne erkennbare Beschriftung – im Schulbesitz

Pfingsten nahm vier taubstumme Kinder mit nach Hamberge. Von 1791 bis 1799 unterhielt er die Schule in Hamberge und förderte neun taubstumme Kinder nebenbei so weit, dass sie später im Leben ohne fremde Hilfe bestehen konnten. Ein wichtiges Erfolgskriterium für die Erziehung war die Konfirmandenprüfung. Erst durch deren Bestehen wurden die Jugendlichen endgültig zum Mitglied der christlichen Gemeinde und somit zu einem »vollwertigen« Menschen. Daher hatte die Konfirmation zweier taubstummer Schüler in den

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Jahren 1794 und 1795 nicht nur für die beiden Jugendlichen eine herausragende Bedeutung, sondern auch für das Ansehen Pfingstens. Eine »Instruktion« der Kieler Seminardirektion, der das Taubstummen-Institut unterstand, regelte die Rechte und Pflichten des neuen Vorstehers. Besonders in methodischer Hinsicht zeichnete sich diese Instruktion durch eine fast modern anmutende Einstellung aus. Sie billigte Pfingsten völlige methodische Freiheit zu, erwartete aber, dass seine Lehrmethode »den natürlichen Anlagen und Geistesbedürfnissen seiner Schüler angemessen sei und sie zu verständigen, denkenden Menschen bilde«.20 Bloßer Mechanismus und gedankenloses Lernen wurden ausdrücklich verworfen. Pfingsten unterrichtete seine neun Schüler in drei Klassen in den Fächern Sprechen, Absehen, Schreiben und Lesen. Mit der obersten Abteilung, deren Schüler schon drei bis vier Jahre Unterricht erhalten hatten, begann er den Unterricht im Rechnen und in der Religion. Pfingsten hielt wöchentlich 36 feste Lehrstunden; Ferien gab es nur drei Tage im Jahr. Allmählich wurde Pfingstens Bemühen im Lande bekannter. Sein Ruf als hervorragender Lehrer der Taubstummen drang bis an den Königshof in Kopenhagen. Pfingsten selbst schrieb ein Gesuch an seinen Landesherrn. Darin äußert er folgenden Wunsch: »Mein Institut für Taubstumme auf eigenen Kosten in mein Vaterland Holstein zu verlegen, es für dasselbe gemeinnütziger und zu meinem Hauptgeschäfte zu machen.«21 Durch Fürsprache und Vermittlung der Grafen von Reventlow und von Stolberg wurde König Christian VII. für die Errichtung eines eigenen Taubstummen-Institutes in den Herzogtümern Schleswig und Holstein gewonnen und Pfingsten am 9. März 1799 zum Vorsteher und Lehrer des neugegründeten »Königlichen Taubstummen-Institutes« in Kiel berufen. Im Altonaischen Mercurius kündigte Pfingsten an, »Taubstumme im Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen, in der Religion und in gemeinnützigen Kenntnissen sowie in Handarbeiten zu unterrichten.«22 1802 berichtet er: »[A]ußer der Fertigkeit im Lesen, Schreiben und Rechnen, Kenntnis der Religion und des sogenannten gemeinnützigen Wissens, konnten doch alle sich durch die artikulierte Tonsprache noch außer der Schriftsprache verständlich machen.« Sein Ziel war es, die taubstummen Schüler so weit zu fördern, dass sie ihr Leben als Erwachsene aus eigener Kraft bewältigen konnten. Das Aufnahmealter sollte nicht über acht Jahre sein. Kinder armer Eltern aus Schleswig und Holstein müssten nur die Verpflegung 20 | Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig, 11. 21 | Johannes Wichert und Ute Jarchow, Staatliche Internatsschule für Hörgeschädigte. Festschrift 1805-1980 zum 8. November (Schleswig: Staatlichen Internatsschule für Hörgeschädigte, 1980), 10. 22 | Altonaischer Mercurius, 13. Juni 1799, 1449, in Pfingsten, Kleine Schriften über Telegraph.

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bezahlen. Pfingsten stand am Anfang einer außerordentlichen beruflichen Lauf bahn.

G eschichte und E nt wicklung der L andesgehörlosenschule S chleswig Die Errichtung eines »Königlichen Taubstummen-Instituts« in Kiel erfolgte also 1799 auf Erlass Königs Christian VII. (1749-1808). Auch die Bestallung des ersten Vorstehers Pfingsten wurde direkt vom König ausgesprochen. Das neue Institut war der Direktion des Kieler Lehrerseminars unterstellt, die auch die Schulaufsicht ausübte. Der Vorsteher hatte jährlich eine öffentliche Prüfung mit seinen Schülern abzuhalten, einen ausführlichen Bericht über die Verhältnisse und Fortschritte seiner Lehranstalt vorzulegen und die Seminaristen mit der Theorie und Praxis des Taubstummenunterrichts bekanntzumachen. Hier war zumindest im Keim die Graser’sche Idee der Verallgemeinerung des Taubstummenunterrichts vorweggenommen, die als Startpunkt der Inklusion bezeichnet werden kann. Der Bayreuther Schulrat Johann Baptist Graser (1766-1841) machte 1830 seine Forderung publik, überall im Lande ausgebildete Volksschullehrer nebenamtlich mit dem Unterricht der Taubstummen zu betrauen und so besondere Taubstummenanstalten entbehrlich zu machen.23 Schritt für Schritt wuchs Pfingstens Institut zu einer eigenständigen Bildungseinrichtung. Die Wirtschaftsführung des Instituts war dem Ermessen Pfingstens überlassen. Seiner Bestallung gemäß war er aber gehalten, für das recht bescheidene Jahreseinkommen von 300 Reichstalern alle in den Herzogtümern gebürtige taubstumme Kinder von vermögenslosen Eltern unentgeltlich zu unterrichten. So findet sich in den damaligen Jahresberichten die

23 | Vgl. Johann Baptist Graser, Dringender Nachruf an väterlich gesinnte Regierungen und einsichtsvolle Schulmänner um baldige: Einführung des Taubstummenunterrichts in Schulen. Nebst einer besonderen Anweisung für Lehrer zur Benützung der Schrift: »Der Durch Gesicht- und Tonsprache der Menschheit wieder gegebene Taubstumme« (Bayreuth: Auf Kosten des Verfassers, 1830); sowie Johann Baptist Graser, Der Durch Gesicht- und Tonsprache der Menschheit wiedergegebene Taubstumme (Bayreuth: Grau’sche Buchhandlung, 1829). Vgl. auch Ingo Degner, Zur Arbeit der Integrativen Abteilung der Staatlichen Internatsschule für Hörgeschädigte in Schleswig auf Grundlage schulrechtlicher Veränderungen seit 1990 (Schleswig: o. V., 1994). Gemeint ist hier die Idee, taubstumme SchülerInnen wohnortnah und allgemein zu beschulen.

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häufige Klage über die wirtschaftliche Lage, und es wird immer erneut die Bitte um zusätzliche Unterstützung vorgetragen.24 Für die weitere Entwicklung des Königlichen Taubstummen-Institutes war das Patent vom 8. November 1805 von entscheidender Bedeutung. Christian VII. führte durch dieses »Patent betreffend den Unterricht und die Versorgung der Taubstummen für die Herzogthümer Schleswig und Holstein, die Herrschaft Pinneberg, Grafschaft Ranzau und Stadt Altona«25 den Schulzwang für alle Taubstummen ein. Er legte fest, dass alle bedürftigen Taubstummen vom 7. bis zum 15. Lebensjahr in Pfingstens Institut zu unterrichten und auf Staatskosten im Internat unterzubringen seien. Die Wirkung des Patents wurde in der Schülerzahl deutlich, die 1808 auf 35 und bis 1825 weiter auf 94 SchülerInnen anstieg.26 Somit wurde ein gesetzlicher Schulzwang für Taubstumme ausgesprochen, Maßnahmen für deren Fürsorge festgelegt und ein Taubstummen-Institut zu einer öffentlichen Bildungsanstalt erhoben. Wie wegweisend dieses Patent für die Bildung Taubstummer war, zeigt sich darin, dass eine allgemeine Schulpflicht in ganz Deutschland erst im Jahr 1919 durch die Weimarer Verfassung festgelegt wurde. Die Unterbringungs- und Beschulungskosten für bedürftige Kinder wurden nunmehr dem Lande auferlegt, für die notwendige Erstausstattung einzuschulender Kinder hatten die Kommunen zu sorgen. Das alles gab dem Institut entscheidenden Auftrieb. 1809 hatte es bereits 35 Schüler. Aber die wirtschaftlichen Verhältnisse blieben trotzdem angespannt. Sie veranlassten Pfingsten im Jahre 1810, seine Lehranstalt nach Schleswig zu verlegen, wo die Grundstückspreise niedriger lagen als in Kiel. Mit eigenem Geld – 8500 Reichsbanktaler – erwarb er den Von-der-Maasen-Hof in Schleswig-Friedrichsberg (Abb. 9). Das große Gebäude bot Platz für etwa 100 Schüler und hieß im Volksmund bald der »Stummenhof« (Abb. 10). Ein 3. Stockwerk konnte Dank einer großzügigen Stiftung des Flensburger Kaufmannes Wilhelm Valentiner errichtet werden, der taubstumme Geschwister hatte, die ohne jegliche Ausbildung hatten aufwachsen müssen. Auf ihn wird noch zurückzukommen sein.27

24 | LAS, Abt. 65, Deutsche Kanzlei zu Kopenhagen, Nr. 963, Taubstummeninstitut in Schleswig: Jahresberichte 1803–1828. 25 | Wichert und Jarchow, Staatliche Internatsschule für Hörgeschädigte, 12. 26 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung. 27 | Ebd., 21.

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Abbildung 9: Von-der-Maasen-Hof in Schleswig-Friedrichsberg (»Stummenhof«), Schleswig Friedrichsberg, 1923 abgerissen

Quelle: Bild im Besitz des Landesförderzentrums

Abbildung 10: Der »Stummenhof« nach dem Aufsetzen eines 3. Stockwerkes

Quelle: Bild im Besitz des Schularchivs

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Pfingstens Erfolge waren hart erarbeitet. Er »unterrichtet 42 Stunden wöchentlich, seine Frau 24 Stunden Handarbeit, seine Tochter 18 Stunden in Buchstabenkenntnis, Lesen und Begriffsentwicklung durch Zeichen- oder Pantomimensprache«.28 Dieser Einsatz konnte dennoch nur dann zum Erfolg führen, wenn ihm ein effektives pädagogisches Konzept zu Grunde lag. Pfingsten setzte Gebärden ein, insbesondere im Anfangsunterricht, aber auch, um die Begriffsbildung abzusichern. Sein Ziel war darüber hinaus die Lautsprache. Offenbar unterrichtete er auch Artikulationsunterricht. Vom Einzellaut ausgehend kam man zu den Wörtern und den Namen der Gegenstände. Beim Laut- bzw. Schriftspracherwerb »kam es auf eine Sammlung von Wörtern an, und zwar zuerst auf die Kenntnis von Haupt-, dann von Eigenschafts- und endlich Zeitwörtern. Der Gang des Sprachunterrichts war streng genommen ein grammatischer«.29 Erst in höheren Klassen wurde katechisiert, kleine Erzählungen gelesen und Niederschriften angefertigt. »Hier lernten die Schüler die Formen der Sprache, die sie bisher nur vereinzelt und nacheinander kennengelernt hatten, nun in ihrem Zusammenhang fassen.«30 Bei der Erklärung der zu entwickelnden Begriffe fand die Gebärde reichliche Anwendung, wenn auch die Schriftsprache die Grundlage des Sprachunterrichts bildete. Hinzu kam ein hoher persönlicher Einsatz für das Wohlergehen der Kinder. So fuhr er die etwa acht Kilometer von Hamberge zu einem Arzt in Lübeck mit dem Pferdewagen in 26 Wochen rund 75 mal hin und zurück, um eine Schülerin vor dem Erblinden zu bewahren. In der Hoffnung, Taubstummheit vielleicht heilen oder wenigstens mindern zu können, wandte sich Pfingsten dem Galvanismus zu. Galvanismus bedeutete die Behandlung von Mund, Ohren und Kehlkopf mit schwachem Gleichstrom. Im Anschluss daran musste eine Haube mit Metallketten getragen und der Patient mit Duschen und Brennnesseln behandelt werden.31 Pfingsten wurde Mitglied der Galvanischen Gesellschaft zu Paris. Ernst Adolf Eschke (1766-1811) experimentierte hierzu zeitgleich in Berlin unter der Leitung eines Dr. Diener.32 Pfingstens hatte eine gute Beobachtungsgabe, und so kamen ihm bald Zweifel an den Erfolgen. 1804 fragte er kritisch, »was denn aus den vielen, angeblich […] geheilten Taubstummen geworden sei, ob sie reden gelernt hätten; denn darauf

28 | Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig, 24. 29 | Schumann, Geschichte des Taubstummenwesens, 193. 30 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 20. 31 | Vgl. Ylva Söderfeldt, »The Galvanic Treatment of Deafness and the Trials at the Berlin Royal Deaf-Mute Asylum in 1802«, European Archives of Oto-Rhino Laryngology 270, Nr. 6 (2013), 1953-1958. 32 | Vgl. Ernst Adolf Eschke, Galvanische Versuche (Berlin: Taubstummeninstitut, 1803).

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käme es schließlich an«.33 Um Täuschungen zu entgehen, entwickelte er ein »Akumeter«: eine Methode, den Grad des Hörvermögens auf Grund rein auditiv wahrgenommener Sprachlaute zu bestimmen. 1811 stellte er fest, dass seine galvanischen Bemühungen keinen Erfolg gehabt hatten – sondern einen unwiederbringlichen Zeitverlust für seine Schüler. Als 1805 die Trommelfellperforation Mode wurde, war er vorsichtiger und ersparte seinen Schülern diese Prozedur.34 Schritt für Schritt wurde in Schleswig der »Lehrkörper« aufgebaut. Darunter waren auch gehörlose Menschen. Die taubstumme Margarethe Hüttmann (1789-1854) wurde als Unterlehrerin eingestellt und ihr der Unterricht in der Zeichen-, Pantomimen- und Gebärdensprache anvertraut, »welche Sprache in einer Lehranstalt für Taubstumme nicht entbehrt werden kann, und worin: die Hüttmann sehr geübt ist«.35 Fraglos hat zu dieser Anstellung aber auch die von Pfingsten gefühlte Verpflichtung beigetragen, »wenigstens diesem begabten Mädchen«36 eine ständige Versorgung zu sichern. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch der bereits erwähnte Otto Friedrich Kruse, der ab 1808 zunächst als Schüler, dann von 1817 bis 1880 als Lehrer tätig war. Kruse, der selbst immer wieder schrieb, dass er Pfingsten seine beruflichen Erfolge verdanke, wurde im Laufe seines Lebens hoch dekoriert mit Orden von Dänemark, Schweden, Belgien und Deutschland. Er war außerdem der erster deutscher Ehrendoktor des damaligen Gallaudet College in Washington, DC (heute Gallaudet University).37 An dem Umzug nach Schleswig nahm auch der Kandidat Hans Hensen (1786-1846) (Abb. 11) teil, der Pfingsten seit 1809 als Lehrer zur Seite stand. Hensen, cand-jur. und späterer Schwiegersohn Pfingstens, übernahm den Unterricht im Schreiben, Rechnen, in der Geographie und in der Naturgeschichte. »Es gelang ihm auch bald, die Mittel und Wege kennenzulernen, einen Taubstummen die Buchstaben artikuliert sprechen zu lehren. Er hatte sich bald in die Zei-chensprache hineinversetzt, dass es ihm nicht schwer wurde, den Unterricht zu betreiben.«38 Der Einfluss Hensens, eines systematischen Kopfes mit kaufmännischem Geschick und Talent zum Verwalten, machte sich bald bemerkbar. 33 | Georg Wilhelm Pfingsten, Gehörmesser zur Untersuchung der Gehörfähigkeit galvanisierter Taubstummen, in besonderer Rücksicht auf die Erlernung der artikulierten Tonsprache und auf deren Elementen gegründet (Kiel: Mohr, 1804), 12. 34 |  Georg Wilhelm Pfingsten, Vieljährige Beobachtungen und Erfahrungen über die Gehörfehler der Taubstummen, als Winke beim Galvanisieren zu gebrauchen, nebst Beschreibung einer neuen Art von Hörrohr (Kiel: C. F. Mohr, 1802), 9-17. 35 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 18. 36 | Ebd. 37 | Vgl. Helmut Vogel, »Otto Friedrich Kruse (1801-1880). Gehörloser Lehrer und Publizist (Teil 1)«, Das Zeichen Nr. 56 (2001): 198-207. 38 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 19.

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Ab 1811 sind die Jahresberichte von Hensen mitunterzeichnet, und nach 1813 sind auch alle amtlichen Schreiben an Pfingsten und Hensen gemeinsam gerichtet. Abbildung 11: Hans Hensen, Ölbild

Quelle: im Schulbesitz

Pfingsten klagte darüber, dass er bald nicht mehr wisse, was aus seinen konfirmierten Schülern werden solle. Um diesen Missstand abzumindern, entwickelte er eine bahnbrechende Idee: die Einrichtung der sogenannten Industrieanstalten.39 Hier kann ein Bezug zu den preußischen Bildungsreformen dieser Zeit hergestellt werden, die ausgehend von Überlegungen Wilhelm von Humboldts (1767-1835) auf den eigenverantwortlichen, standesunabhängigen Menschen abzielten.40

39 | Vgl. ebd. 40 | Wilhelm von Humboldt, Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König, Dezember 1809: »Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichtum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseins.« O. V., »Wilhelm von Humboldt. Tief im Bau der Sprachen«, Tagesspiegel, 30.6.2017. Zu den preußischen Schulreformen allgemein, vgl. z.B. Hans-Georg Herrlitz, Wulf Hopf, Titze,

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Bei der Verwirklichung der Industrieanstalten hatte Hensen einen entscheidenden Anteil. Um den taubstummen Schulabgängern eine Ausbildung zu ermöglichen, hatte man ursprünglich potentiellen Lehrmeistern als Anreiz eine jährliche Prämie von 24 Reichstalern gezahlt, wenn sie einen taubstummen Lehrling einstellten. Bei gebührenfreier Ein- und Ausschreibung in die Lehrlingsrolle wurde jede Beschränkung in Bezug auf die Anzahl taubstummer Lehrlinge und Gesellen bei einem Meister aufgehoben. Gehörlose Gesellen waren vom Zwang des Wanderns und des Meisterwechsels befreit und besonders tüchtige Gesellen konnten als Freimeister Konzessions- und Niederlassungsfreiheit in Anspruch nehmen. Schon bald aber wurden Klagen laut: Die Lehrherren strichen zwar die Prämie ein, überließen aber die taubstummen Lehrlinge sich selbst. Eine Lösung des Problems bestand darin, Industrie mit der Taubstummen-Anstalt zu verbinden. Dem Königlichen Taubstummen-Institut wurden daraufhin angegliedert: eine Drechslerei (1810), eine Weberei (1812), eine Werkstatt für feinere weibliche Handarbeiten (1813), eine Schneiderei (1813), eine Strickerei (1813), eine Spinnerei (1813), eine Metalldreherei (1817), eine Druckerei (1818) und eine Schuhmacherei (1826). Die Einrichtung der Industrieanstalten erfolgte, »um den Zögling des Institutes Gelegenheit zu geben, sich für ein künftiges Gewerbe in ihren Mußestunden vorzubereiten«.41 Pfingsten hob zwar später mehrfach hervor, dass der Hauptzweck seiner Schule die Geistesbildung wären, aber in der Praxis schob sich der ökonomische Gesichtspunkt auf Kosten des Bildungszweckes immer stärker in den Vordergrund. Dennoch wurden die Kinder nicht als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Man muss sich überhaupt hüten, moderne Maßstäbe auf die damaligen Zeiten und Verhältnisse zu übertragen. Die Kindheit als Eigenwert war noch nicht »entdeckt« und alles, was Pfingsten und Hensen taten, entsprang der Absicht, helfen zu wollen, entsprechend eigener Einsicht und den Überzeugungen der Zeit. Bei der Einrichtung der schuleigenen »Industrie« spielte auch der Gesichtspunkt eine Rolle, sich von dem Druck wirtschaftlich ungünstiger Verhältnisse zu befreien. Persönliches Gewinnstreben schlossen Pfingsten und Hensen indes völlig aus. Die Vorsteher brachten im Gegenteil im Dienste des Instituts außerordentliche persönliche Opfer. So waren beispielsweise die Einnahmen Hensens in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit so gering, dass er beim König um die zusätzliche Übertragung einer Advokatur nachsuchte. Dies wurde ihm aber als unvereinbar mit seinen Berufspflichten abgelehnt.42

Hartmut und Ernst Cloer, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung, 5., überarbeitete Auflage (München: Weinheim: Juventa, 2005). 41 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 20. 42 | Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt, 24.

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Fest steht, dass die schulentlassenen Taubstummen in der Folgezeit gern von Handwerksmeistern als Lehrlinge eingestellt wurden. Sicherlich handelte es sich dabei um die befähigteren Jugendlichen, aber für die Schwachbegabten blieb die Möglichkeit, in den Industrie-Anstalten des Institutes weiter Lohn und Brot zu finden. Für sie – wie allgemein für die Unterstützung armer und kranker Taubstummer – wurde im Jahre 1813 ein Unterstützungsfonds gegründet. Schleswig erweiterte damit erstmalig den Fürsorgegedanken auf eine Art und Weise, die später an vielen Anstalten Nachahmung fand. Unter dem Einfluss Hensens wandelte sich auch die Unterrichtsmethode. Das Ziel des Lautspracherwerbs, das Pfingsten trotz Einstiegs über die Gebärde zunächst verfolgt hatte, trat langsam zurück. Die Gebärden, anfangs nur als Helfer gewürdigt, wurde nun um ihrer selbst willen gepflegt und weiterentwickelt. Über die Nutzung des Fingeralphabet wurde die Schriftsprache vermittelt, die bald zum wesentlichen Ausdrucksmittel wurde. Die Lautsprache war nicht mehr Prinzip, sondern wurde zum Fach, das nur noch mit geeigneten Schülern betrieben wurde. Die Schriftsprache, deren pantomimische Erklärung sowie Gebärden, bildeten die Grundlage des Unterrichts. Diese Grundsätze wurden auch außerhalb des Taubstummen-Instituts durch die Herausgabe gedruckter Leitfäden für den Unterricht verbreitet.43 Infolge der Einrichtung der industriellen Ausbildung sowie der wachsenden Schülerzahl wurde das Gebäude in Schleswig bald zu klein. So musste u.a. ein und das selbe Zimmer als Ess- und Lehrstube dienen, und ein Teil der Schüler musste in Nebengebäuden schlafen. Der notwendig gewordene Ausbau konnte dank einer großmütigen Stiftung vorgenommen werden. Der Flensburger Kaufmann Wilhelm Valentiner besaß zwei taubstumme Geschwister, die ohne jegliche Ausbildung hatten aufwachsen müssen. Das Schicksal der Schwestern bewog ihren Bruder, sein später erworbenes Vermögen dem Taubstummen-Institut in Schleswig zu vermachen. Valentiner verstarb am 15. November 1818 und hinterließ dem Institut rund 36000 Reichstaler; ein stattliches Vermächtnis. Zu seinem Andenken wurde von 1820 an bis in den 2. Weltkrieg hinein der mit einer Prämienverteilung an die Schüler verbundene »Valentiner Tag« jeweils am 15. November eines jeden Jahres gefeiert. Mit Hilfe des Valentiner-Fonds wurde im Jahre 1818 die Druckerei eingerichtet und auch der Ausbau des Hauptgebäudes finanziert, der aber erst unter Hensen im Jahre 1828 vollendet wurde. Im Jahre 1825 zählte das Institut 85 Zöglinge und neun erwachsene Taubstumme, von denen zwei als Lehrer, die übrigen in der Industrie und im Hause beschäftigt wurden. Mit Pfingsten teilten sich sieben Lehrer den Unterricht. Neben Frau Pfingsten waren vier hörende Meister und ein Geselle in den Industrie-Anstalten tätig, deren Erzeugnisse teilweise selbst

43 | Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 20.

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ins Ausland verkauft wurden und regelmäßig einen Überschuss abwarfen, der dem Institut zugutekam.44 Die nach Umfang und Wirksamkeit wichtigste der Industrieanstalten war die Druckerei. Äußerer Anlass zu ihrer Gründung im Jahre 1818 wurde das Angebot der Schleswig-Holsteinischen Bibelgesellschaft auf freie Lieferung von Stereotyp-Platten zum Bibeldruck, zusammen mit der Zahlung eines namhaften zinsfreien Zuschusses für die Einrichtung. Ein königliches Privileg sicherte die Druckrechte und damit die Wirtschaftlichkeit. Im Jahre 1819 waren schon sechs Pressen an der Arbeit, und man ging auch bald zum Drucken mit beweglichen Lettern über. Neben Bibeln wurden Gesangbücher, Katechismen, periodische Schriften, wie das Staatsbürgerliche Magazin und die SchleswigHolsteinischen Blätter, eine Reihe wissenschaftlicher Werke, Broschüren u.a. m. in Schleswig gedruckt. In den besten Jahren hatte die Druckerei über 30 Beschäftigte, unter ihnen eine ganze Anzahl Taubstummer. In der Zeit des Bestehens der Druckerei von 1818 bis 1881 wurden unter anderem rund 150 000 Bibeln, 100 000 Katechismen und 300 000 Gesangbücher von Schleswig aus vertrieben.45 Als der 80jährige Pfingsten im Jahre 1825 beim König um seinen Abschied bat, konnte er mit Wehmut und Stolz sagen: 40 Jahre bin ich nun Taubstummenlehrer gewesen, darin sind 26 Jahre eingeschlossen, die ich als erster Lehrer und Vorsteher dem Institut, dessen Stifter ich war, gedient habe. Mit einem Zögling fing ich an, mein Wirken endige ich nun, indem ich meinem Nachfolger eine in allen Zweigen vollendete Anstalt für Taubstumme hinterlasse. Voll des innigsten Dankes gegen Gott, gegen Ew. Königliche Majestät und gegen die mir vorgesetzte Behörde, welche immer die Redlichkeit meines Strebens erkannt und nach Kräften unterstützt hat, trete ich jedoch nicht ohne den festen Vorsatz ab, noch ferner und solange ich lebe nicht aufzuhören, alles zu tun, was, ich zum Wohle des Instituts beizutragen vermag. 46

König Friedrich VI. (1768-1839) sprach zum 20. Dezember 1825 Pfingstens ehrenvolle Entlassung aus unter Beilegung eines jährlichen Wartegeldes von 600 Reichstalern. Pfingsten starb nur zwei Jahre später, am 27. November 1827, im gleichen Jahr wie seine Frau, an Altersschwäche und fand auf dem Friedhof Schleswig-Friedrichsberg seine letzte Ruhestätte. 44 | Jahresberichte, LAS, Abt. 64.2, Nr.1-5, 30-32. Vgl. auch Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig, 28-32. 45 | Jahresberichte, LAS, Abt. 64.2, Nr.1-5, 30-32. Vgl. auch Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig; Blau, 150 Jahre Taubstummenbildung, 22. 46 | Engelke, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig, 32.

Georg Wilhelm Pfingsten

F a zit Georg Wilhelm Pfingsten ist zu Lebzeiten mit Ehrungen überhäuft worden. So wurde ihm 1812 der Professorentitel verliehen. Pfingsten war Danebrogsmann und Ritter des Danebrogordens – Dänischer Verdienstorden für treue Diener des dänischen Staates. Aus kleinen Verhältnissen kommend und aus den ungünstigen Verhältnissen heraus, erkämpfte er sich aus eigener Kraft einen ungewöhnlichen Aufstieg. Als Begründer einer der ersten staatlichen Taubstummeneinrichtungen in Europa zählt er zu den Pionieren der deutschen Taubstummenbildung. Als Pfingsten 1825 in den Ruhestand ging, war sein Taubstummeninstitut in den Herzogtümern fest etabliert. Durch die staatliche Trägerschaft und durch Stiftungsmittel war seine Existenz für die Zukunft abgesichert. Pfingstens Schwiegersohn Hans Hensen setzte dessen erfolgreiche Arbeit fort. Das noch heute bestehende Institut, jetzt Landesförderzentrum Hören und Kommunikation, hat im Jahr 2008 durch ministerlichen Erlass den Namenszusatz »Georg-Wilhelm-Pfingsten Schule« erhalten und hält dadurch den Namen des »Vaters« der Hörgeschädigtenpädagogik in Schleswig-Holstein zu Recht in Erinnerung. Wie schon eingangs beschrieben, nutzte Pfingsten sowohl Gebärden als auch Laut- und Schriftsprache, um damals taubstumme SchülerInnen zu bilden. Hier lässt sich eine Parallele zur aktuellen pädagogischen Arbeit im Landesförderzentrum Hören und Kommunikation herstellen: Im selben Haus herrscht mehr als 200 Jahre später ein ähnliches pädagogisches Leitbild, nach dem die SchülerInnen mit ihren individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunkt gestellt und die Wahl der Kommunikationsmittel von deren individuellen Fähigkeiten abgeleitet wird.

B ibliogr afie Ungedruckte Quellen Archiv der Hansestadt Lübeck (=AHL) Overbeck, C. A. Bericht über Herrn Pfingsten und dessen Fortschritte im Unterricht der Taubstummen, gelesen in der literarischen Gesellschaft von C. A. Overbeck d.z. Direktor, 1791 den 29. März, ohne Seitenangabe. AHL, 05.4-28 Ge. Altes Senatsarchiv Nr. 2550 (Bürgereidbuch 1763-1800). AHL, 1.1-1

Landesarchiv Schleswig-Holstein (L AS) ABT. 11, Regierungskanzlei (Obergericht) zu Glückstadt, Nr. 11625 bis 11627

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ABT. 18, Generalsuperintendent für Schleswig, Nr. 459 Landschulen allgemein, Nachrichten und Verfügungen zum Taubstummeninstitut in Schleswig, 1811-1815 ABT. 18, Generalsuperintendent für Schleswig, Nr. 510 gedruckte Nachrichten zum Taubstummeninstitut in Schleswig ABT. 47.1 Christian-Albrechts-Universität Kiel-Kuratorium, Nr. 151 und Nr. 228 ABT. 65.2, Deutsche Kanzlei zu Kopenhagen, Nr. 958 bis 966

Gedruckte Quellen Anonym, »Etwas über die neue Erfindung einer Gehör- Zeichen- oder Trommel- und Fahnensprache«, Journal aller Journale: 187-195, reproduziert in Lorenz R. Kraft, Georg Wilhelm Pfingsten: Bunte Blätter aus dem Leben des Begründers der ersten Taubstummenschule in Schleswig-Holstein im Jahre 1787 (Schleswig: Selbstverl. der Landes-Taubstummenanstalt, 1925), ohne Seitenangabe. Blau, Arno. 150 Jahre Taubstummenbildung in Schleswig-Holstein. Festgabe zur Feier des 150jährigen Bestehens der Landesgehörlosenschule mit Heim, Schleswig, als öffentliche Bildungseinrichtung am 8. November 1955. Schleswig: o. V., 1955. Degner, Ingo. Zur Arbeit der Integrativen Abteilung der Staatlichen Internatsschule für Hörgeschädigte in Schleswig auf Grundlage schulrechtlicher Veränderungen seit 1990. Schleswig: o. V., 1994. Engelke, August. Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Schleswig in ihrer geschichtlichen Entwicklung von 1787 bis 1905. Festschrift zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens als öffentliche Landesanstalt am 8. November 1905. Schleswig: o. V., 1905. Eschke, Ernst Adolf. Galvanische Versuche. Berlin: Taubstummeninstitut, 1803. Graser, Johann Baptist. Dringender Nachruf an väterlich gesinnte Regierungen und einsichtsvolle Schulmänner um baldige: Einführung des Taubstummenunterrichts in Schulen. Nebst einer besonderen Anweisung für Lehrer zur Benützung der Schrift: »Der Durch Gesicht- und Tonsprache der Menschheit wieder gegebene Taubstumme«. Bayreuth: Auf Kosten des Verfassers, 1830. Graser, Johann Baptist. Der Durch Gesicht- und Tonsprache der Menschheit wiedergegebene Taubstumme. Bayreuth: Grau’sche Buchhandlung, 1829. Haase, Daniel. »Die Heilung eines Taubstummen. Jesu Öffnung zu den Heiden«. Zugriff 18.8.2018. https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkommen tar/beitraege-im-obk/detailansicht/. Herrlitz, Hans-Georg, Wulf Hopf, Titze, Hartmut und Ernst Cloer. Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 5., überarbeitete Auflage. München, Weinheim: Juventa, 2005. Jahresberichte der Landesanstalt Schleswig, LAS.

Georg Wilhelm Pfingsten

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Die Relikte von Oralismus und Behindertendiskriminierung in Österreich Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber

V orbemerkung : »Taubsein « von de l’E pée bis heute Wir können davon ausgehen, dass bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fast alle hochgradig schwerhörigen Menschen und wahrscheinlich auch mittelgradig Schwerhörige mit spezifischen Schwierigkeiten bei der Perzeption gesprochener Sprache als »taub« bewertet wurden und in den »Taubstummenanstalten« landeten. Eine erste österreichische Schwerhörigenschule war erst 1921 in Wien gegründet worden.1 Aus dieser Sicht erscheint die Metapher des »Methodenstreits« in der Hörbehindertenpädagogik in einem neuen Licht: Orale Methoden waren vor allem deswegen teilweise erfolgreich, weil viele SchülerInnen genügend Resthörvermögen besaßen, um zumindest Teile der gesprochenen Sprache perzipieren zu können. Was den Nutzen einer Hörhilfe für eine hörbehinderte Person betrifft, sind die meisten publizierten Daten bis heute nicht besonders hilfreich: In vielen Untersuchungen wird nur der Hörstatus ohne Hörhilfe aufgeführt und die Testpersonen danach gruppiert. Es wird nicht der Hörstatus ohne und mit Hörhilfe vergleichend angegeben. Damit sind viele Forschungsergebnisse nur schlecht interpretierbar, sowohl, was die manchmal großen Unterschiede innerhalb einer nach Hörstatus ohne Hörhilfe definierten Gruppe bei Testung mit Hörhilfe betrifft, als auch, was den Vergleich verschiedener Gruppen hörbehinderter Menschen betrifft. Dazu kommt, dass die Perzeptionsleistung bezüglich gesprochener Sprache oft ausschließlich mithilfe isolierter Wörter und Phrasen und nicht bezüglich alltäglicher gesprochener Kommunikation überprüft wird. In diesem Artikel widmen wir uns der Stellung gehörloser Österreicher, die die Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) nutzen, innerhalb der österrei1 | Paul Schumann, Geschichte des Taubstummenwesens: vom deutschen Standpunkt aus dargestellt (Frankfurt a.M.: M. Diesterweg, 1940), 621.

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chischen Gesellschaft. Dabei stehen Bildungsmöglichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart sowie die rechtliche Absicherung Gehörloser im Vordergrund.

S pr achliche M enschenrechte Es gibt fundierte allgemeine Darstellungen zu sprachlichen Menschenrechten, wonach das Recht auf eine Muttersprache zu den Menschenrechten zählt. Allerdings werden sprachliche Menschenrechte von den Sprechern einer Mehrheitssprache als gegeben hingenommen. Ein Interesse daran, sie zu definieren und schützen, kommt oft erst dann auf, wenn sprachliche Minderheiten die gleichen Rechte einfordern.2 Wird eine Person in der Verwendung ihrer Muttersprache bzw. bevorzugten Sprache behindert oder wird ihr diese gar verboten, entsteht eine Benachteiligung bei der Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Information im weitesten Sinn, welche zu psychischen und sozialen Problemen der betroffenen Personen etwa bei der Identitätsfindung und der Eingliederung in die Gesellschaft führt.3 Gehörlose Menschen, die eine nationale Gebärdensprache wie die ÖGS als Muttersprache nutzen, stellen eine sprachliche Minderheit dar. Innerhalb eines erweiterten Muttersprachkonzepts, welches auf die vollständige Zugänglichkeit der Bildungssprache abstellt, muss demnach das Recht gehörloser Menschen auf Verwendung einer nationalen Gebärdensprache in einem bi-

2 | Vgl. Tove Skutnabb-Kangas, »Language Rights«, in Handbook of Pragmatics Highlights, Volume 7, Society and Language Use, Hg. Jürgen Jaspers, Jan-Ola Östman und Jef Verschueren (Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2010), 212-240; und Tove Skutnabb-Kangas, »Linguistic Human Rights«, in Oxford Handbook on Language and Law, Hg. Larry Solan und Peter Tiersma (Oxford: Oxford University Press, 2012), 235-247. 3 | Vgl. Marijana Kresić, Sprache, Sprechen und Identität (München: Iudicium, 2006); Adriana Val und Polina Vinogradova, »What Is the Identity of a Heritage Language Speaker?«, University of Maryland Baltimore County, Center for Applied Linguistics, 2010, Zugriff 18.9.2018, www.cal.org/heritage/pdfs/briefs/what-is-the-identity-of-aheritage-language-speaker.pdf; Marc Marschark und Patricia E. Spencer, Hg., Oxford Handbook of Deaf Studies, Language, and Education (Oxford: Oxford UP, 2003); für gehörlose Kinder, vgl. Marc Marschark, Raising and Educating a Deaf Child, 3rd ed. (Oxford: Oxford UP, 2018); Pamela Knight und Ruth Swanwick, Working with Deaf Children: Sign Bilingual Policy Into Practice (London: Routledge, 2013); für gehörlose Erwachsene, vgl. Katharina Adlassnig, Sprache – Identität – Leben: Der Späterwerb einer Gebärdensprache bei Gehörlosen (Hamburg: Kovač, 2015).

Die Relikte von Oralismus und Behinder tendiskriminierung in Österreich

lingualen Kontext für Frühförderung, Kindergarten und Schule formuliert werden.4

D ie A uswirkungen spr achlicher D iskriminierung auf bilingual orientierte hörbehinderte M enschen Kindern mit einer hochgradigen Hörbehinderung ist es nicht möglich, eine gesprochene Sprache akustisch so ausreichend wahrzunehmen, dass sie diese auf natürlichem Weg über das Hören erlernen können. Dies bedeutet, dass hörbehinderte Menschen durchaus eine gesprochene (also im akustischen Kanal übertragene) Sprache mit einer Kompetenz des Niveaus C des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen erlernen können; dafür benötigen sie allerdings spezielle Fördermaßnahmen – wie z.B. eine visuelle Sprache (eine Gebärdensprache) als Instruktionssprache in Verbindung mit einer besonderen Gewichtung der schriftlichen und mündlichen Varianten einer gesprochenen Sprache. Eine gesprochene Unterrichtssprache wie Deutsch kann ihnen hingegen nicht als ausschließliche schulische Instruktionssprache oder gar als vermeintliche Muttersprache aufgezwungen werden. Personen mit Hörbehinderung ist auf ihren Antrag hin ein ausreichendes Maß an Gebärdensprache als reguläre Unterrichtssprache anzubieten, damit sie in ihren Lernmöglichkeiten nicht eingeschränkt sind und ihre sprachliche Identität gleichberechtigt mit hörenden Menschen entwickeln können. Wenn einer hörenden Person eine bestimmte gesprochene Sprache verweigert wird, sind die Auswirkungen weit weniger gravierend als wenn eine 4 | Bezüglich bilingualer Bildung, vgl. Tove Skutnabb-Kangas, »Language Rights and Bilingual Education«, in Encyclopedia of Language and Education, 2nd Edition, Volume 5, Bilingual Education, Hg. Jim Cummins und Nancy Hornberger (Dordrecht: Kluwer, 2007), 117-131; bezüglich der bilingualen Bildung gehörloser Kinder, vgl. Jim Cummins, »Pedagogies of Choice: Challenging Coercive Relations of Power in Classrooms and Communities«, International Journal of Bilingual Education and Bilingualism 12 (2009): 261-271; Ofelia Garcia, Bilingual Education in the 21st Century: A Global Perspective (Oxford: Blackwell, 2009); Verena Krausneker, Taubstumm bis gebärdensprachig. Die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspektive (Klagenfurt: Drava, 2006); Annelies Kusters et al., On »Diversity« and »Inclusion«: Exploring Paradigms for Achieving Sign Language Peoples‹ Rights (Max Planck Working Papers WP 15-02 2015), Zugriff 18.9.2018, www.mmg.mpg.de/publications/working-papers/2015/wp-15-02/; sowie Tove Skutnabb-Kangas, »Bilingual Education and Sign Language as the Mother Tongue of Deaf Children«, in English in International Deaf Communication, Hg. Cynthia J. Kellett Bidoli und Elana Ochse (Bern: Peter Lang, 2008), 75-94.

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Gebärdensprache einer hörbehinderten Person verweigert wird, deren Hörbehinderung so groß ist, dass sie eine gesprochene Sprache nicht ausreichend perzipieren kann, um sie auf natürlichem Weg zu erlernen: Für die hörende Person kann der Zwang, eine andere als die eigene gesprochene Sprache verwenden zu müssen, zwar gravierende Folgen für die Identitäts- und die soziale Entwicklung haben; für sie ist aber das Erlernen der aufgezwungenen Sprache nicht durch ein Zugänglichkeitsproblem eingeschränkt: Als hörender Person ist ihr die aufgezwungene Sprache vollständig zugänglich und daher auf natürlichem Weg erlernbar. Für die hörbehinderte Person hingegen bedeutet die Verweigerung einer Gebärdensprache, dass sie in ihrer kommunikativen, sprachlichen, intellektuellen und sozialen Entwicklung auf dramatische Weise behindert wird. Mit ›Verweigerung einer Gebärdensprache‹ ist die Verweigerung eines für eine hörbehinderte Person ohne Einschränkungen zugänglichen visuellen Kanals für die sprachliche Kommunikation gemeint, sowie der damit einhergehende Zwang, stattdessen eine nicht ausreichend zugängliche gesprochene Sprache zu verwenden. Dieses Nicht-Ausweichen-Können in Richtung einer gesprochenen Sprache erzeugt stetig anwachsende Entwicklungsrückstände und führt zu großen Einschränkungen der Lebens- und Berufschancen: Die betroffene Person kann aufgrund der erworbenen Informations- und Lerndefizite weder eine Orientierung in der Welt erreichen, welche der durchschnittlicher hörender Personen entspricht, noch mit diesen in der Berufswelt konkurrieren. Sozialpolitisch hat das zur Folge, dass gehörlose Menschen oft lange arbeitslos sind und daher manchmal in relativ jungen Jahren nur aus diesem Grund frühpensioniert werden, was massive psychische und finanzielle Auswirkungen hat. Damit wird die Verweigerung des sprachlichen Grundrechts auf eine vollständig perzipierbare Sprache auf Dauer zu einer Diskriminierung der Person in ihrem gesamten Lebensvollzug. Die (Aus)Bildung von Gehörlosen erfordert das Abgehen vom üblichen Verständnis des ›sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ – d.h. ein Abgehen vom Klischee hörbehinderter Personen als geistig bzw. sprachlich nicht leistungsfähiger Personen (das wäre letztlich auch für andere Formen von Behinderung notwendig). Vielmehr muss geprüft werden, wie das individuelle Recht auf gleichberechtigte Teilhabe für gehörlose und hochgradig schwerhörige Menschen umgesetzt werden kann. Für diese Personengruppen sind akustische Informationen nicht oder nur unzureichend zugänglich, und damit auch gesprochene Sprache. Daher muss ihre Inklusion über den Einsatz einer visuellen Sprache in einem speziellen bilingualen Modell geschehen. Ein hörbehindertes Kind bzw. einen Erwachsenen einfach durch ›Dabeisein‹ integrieren zu wollen, ist für die hörbehinderte Person eine zusätzliche, strukturelle Diskriminierung, weil nicht auf ihre speziellen Kommunikationsbedürfnisse eingegangen wird.

Die Relikte von Oralismus und Behinder tendiskriminierung in Österreich

Z ur G eschichte der G ehörlosenbildung in Ö sterreich Die »Österreichische Methode« Josef II. (1741-1790) besuchte 1778 als Mitregent seiner Mutter Maria Theresia (1717-1780) die von Abbé Charles-Michel de l’Epée (1712-1789) gegründete erste Taubstummenschule Europas in Paris und veranlasste daraufhin die Ausbildung vor Ort von Johann Friedrich Stork (1746-1823) als Gehörlosenlehrer; Maria Theresia gründete 1779 die Taubstummenschule in Wien als dritte staatliche Schule in Europa (nach Leipzig 1778). Bis 1847 folgten gut ein Dutzend weitere Schulgründungen in der Österreich-Ungarischen Monarchie.5 Tatsächlich lässt sich die rasche Einführung und Verbreitung der auf Abbé de l’Epées basierenden neuen Unterrichtsmethode unter Verwendung von Gebärden nicht nur mit der Aufklärung6, sondern auch mit der »utraquistischen Methode« des Sprachunterrichts in der vielsprachigen Monarchie erklären: »beide (Sprachen) zusammen« bedeutete eine Art »sanfter Assimilierung«, bei der die jeweilige Volksgruppensprache und Deutsch bzw. Ungarisch zu Beginn der Schulzeit gleichberechtigt nebeneinander verwendet, danach aber zugunsten einer der beiden Verwaltungssprachen eingeschränkt bzw. aufgegeben wurden.7 Bei der Gewichtung von Gebärdensprache bzw. gesprochener und geschriebener Sprache nahmen die österreichischen Schulen mit der von Joseph May (1755-1820) und Michael Venus (1744-1850) entwickelten »gemischten Methode« eine Position zwischen der oral orientierten »deutschen« und der gebärdensprachlich orientierten »französischen« Methode ein. In den österreichischen Schulen wurde damit zwar die Gebärdensprache als zentral angesehen, aber auch die Schrift- und Lautsprache (vermittelt über das Fingeralphabet) eingesetzt. Im Gegensatz zu de l’Épées »methodischen Gebärden«8

5 | Walter Schott, Das k.k. Taubstummeninstitut in Wien (Wien etc.: Böhlau, 1995). Eine zeitgenössische Quelle ist Johann Mücke, Kurze Uibersicht der gegenwärtig bestehenden Lehr- und Erziehungsanstalten für Taubstumme (Prag: Gersabeck, 1827). 6 | Vgl. Petra Berger, Die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) in der Zeit der Aufklärung (Graz: Leykam, 2002). 7 | Vgl. Brigitta Busch, »Mehrsprachige Bildung in Österreich: Ein Fokus auf Curricula, Lehr- und Lernmaterialien«, in Ecoles plurilingues – multilingual schools: Konzepte, Institutionen und Akteure. Internationale Perspektiven, Hg. Jürgen Erfurt, Gabriele Budach und Melanie Kunkel (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2008), 81-99. 8 | Vgl. dazu Renate Fischer, »The Dictionary of the Abbé de l’Épée and His ›Methodical Signs‹«, in Progress in Sign Language Research, Hg. Rolf Schulmeister und Heimo Reinitzer (Hamburg: Signum, 2002), 47-61.

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unterschied Venus die »natürliche Geberdensprache«, als universelle Mimik und Körpersprache zum Ausdruck von Gefühlen von der »künstlichen«: Zur Mittheilung seiner Gedanken und Empfindungen bedarf der Taubstumme nebst der natürlichen auch noch einer künstlichen Geberdensprache, deren Zeichen aus der Natur und nach dem Leitfaden der Analogie genommen sind. Die künstliche Geberdensprache muß daher wie jede andere Sprache erlernet werden, in so fern sie eben wie jede andere Sprache, Zeichenkenntniß ist, und folglich ohne Verabredung oder Übereinkunft nicht verstanden werden kann. Durch die Geberdensprache wird dem Taubstummen die Tonsprache, zu deren Erlernung ihm die Natur den Gehörsinn versagt hat, einiger Maßen bis auf einen gewissen noch unbestimmten Grad ersetzt. Mittelst der Geberdensprache werden den Taubstummen nicht nur die sinnlichen, sondern auch alle übersinnlichen Begriffe erkläret. Die Auflösung übersinnlicher Begriffe geschieht durch die Analyse, d. i. durch die Auflösung und Auseinandersetzung eines zusammengesetzten Begriffes in seine Theile. 9

Obwohl Venus in der »Tonsprache« auch für Gehörlose praktisch die alleinige Möglichkeit sah, Begriffe im Gedächtnis zu behalten, argumentierte er, sie mittels Gebärdensprache zugänglich zu machen: Durch die Tonsprache wird in den Sprachwerkzeugen der Taubstummen eine Erschütterung erzeugt, die sich zitternd dem Gehirne mittheilet, und das dadurch erzeugte Gefühl tritt an die Stelle des Gehörs. Der Taubstumme wird dann durch das Gefühl, so wie wir durch das Gehör, auf die Vorstellung aufmerksam gemacht, und so lernt er seine Vorstellungen und Begriffe mit articulirten Tönen verbinden und durch Übung auf eine bleibende Weise seinem Gedächtnisse einprägen. […] der Lehrer kann daher die Aussprache der Laute, Sylben und Wörter mit dem Schüler nicht eher anfangen, als bis dieser in der Zeichensprache einige Fertigkeit erlanget hat. Auch würde der Schüler durch den anhaltenden Sprachunterricht zu sehr ermüdet, und die Begriffsentwicklung wegen der mangelnden Zeichensprache zu sehr leiden.

Nichtsdestotrotz begann der Unterricht mit Erlernen der Buchstaben zusammen mit dem Fingeralphabet. Im nächsten Schritt folgte das Lernen von Begriffen (beginnend mit Körperteilen) anhand von szenischer Illustration und mithilfe des Einsatzes von Gebärden, die sowohl zur Erklärung der Aufgabenstellung als auch der Begriffe dienten. Vor- und Nachsilben wurden mithilfe von solchen darstellenden »methodischen« Gebärden unterrichtet. Venus schrieb hierzu:

9 | Venus, Methodenbuch, 33–34. Nachfolgendes Zitat ebd.

Die Relikte von Oralismus und Behinder tendiskriminierung in Österreich Er lernt die Zeichensprache, und bedarf, um sich andern verständlich zu machen, nur der Haupt-, Bey-, Zeit- und Nebenwörter; alle übrigen Redetheile bedarf der Taubstumme zu seiner Verständlichkeit nicht, muß aber doch, um sich in der Schriftsprache ausdrücken zu lernen, sich ihrer zu bedienen verstehen. Da der Taubstumme in der Zeichensprache nur einige, in der Schriftsprache aber alle Redetheile in ihrer Verbindung zu gebrauchen verstehen muß; so wird der Unterricht in der Schriftsprache für ihn sehr schwer, und fordert von Seite des Schülers eine sehr gute Lehrfähigkeit, viel Fleiß, und sehr viele Übung.10

Hier deutete Venus an, dass Gebärden als sprachliche Kommunikation einer ganz anderen Logik folgen als »Ton-« bzw. Lautsprachen, Gehörlose letztere somit nur unter großen Anstrengungen erlernen können. Franz Czech (1788-1847) wiederum vertrat 1836 in seiner Versinnlichten Denk- und Sprachlehre die Ansicht, dass […] die natürliche Geberdensprache […] nicht, wie conventionelle Sprachen, Sache des Gedächtnisses [ist], deren wissenschaftliche Erlernung großen Zeit- und Müheaufwand erfordert, sondern sie ist ein in der Natur des Menschen liegendes Vermögen, seine Vorstellungen, Gefühle und Gesinnungen durch Geberden und Mienen nicht nur in manchen Fällen – wo er es unwillkührlich und ohne sich dessen bewusst zu seyn, thut – sondern jederzeit absichtlich und bestimmt so zu äußern, dass dadurch dieselben Vorstellungen, Gefühle und Gesinnungen in der Seele anderer Menschen erzeugt werden. Dieses Vermögen braucht nur geweckt zu werden; ist es einmal geweckt, dann wird es zur unversiegbaren Quelle, woraus der Lehrer jeder zeit nach Bedürfniß schöpfen kann.11

Wir sehen hier einen frühen schriftlichen Nachweis für die auch heute noch weit verbreitete fälschliche Annahme, Gebärdensprachen seien – wohl aufgrund ihrer Ikonizität – universell und könnten ohne weiteres Lernen von allen verstanden werden. Wie man heute weiß, mag das bestenfalls auf vereinzelte Gebärden für konkrete Tätigkeiten wie »essen« oder »trinken« zutreffen, doch sind tatsächliche Gebärdensprachen als komplexe sprachliche Systeme mit eigener Grammatik und interner Logik keineswegs für Nichtgebärdensprachler verständlich. Einig war sich Czech mit Venus über das Ziel des Unterrichts mittels Gebärden – nämlich das Erlernen der Lautsprache zu befördern:

10 | Ebd., 143. 11 | Franz H. Czech, Versinnlichte Denk- und Sprachlehre, mit Anwendung auf die Religions- und Sittenlehre und auf das Leben (Wien: Mechitaristen-Congregations-Buchhandlung, 1836), XII.

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Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber Die natürliche Geberdensprache ist zwar die Grundlage des Taubstummen Unterrichtes, allein der Lehrer soll, des Zweckes des Unterrichtes eingedenk, sie mit Maß und nur als Mittel zur Entwickelung der Begriffe gebrauchen, und sie allmählig durch die Ton- und Schriftsprache ersetzen. Je weiter der Taubstumme in der Bildung fortschreitet, desto entbehrlicher muß für ihn die Geberdensprache seyn. Der Lehrer nehme daher von dem Taubstummen keine Mittheilung mittelst der Geberden an, wo er überzeugt ist, dass sie der Taubstumme bereits durch die Schrift oder durch artikulirte Laute ersetzen kann.12

Czech unterschied die »methodische oder künstliche Geberdensprache« de l’Épées von der »mechanisch-methodischen« Gebärdensprache: Die methodische oder künstliche Geberdensprache ist eine nach den Regeln der Grammatik, nach dem Genius der Wortsprache gebildete und geordnete Zeichensprache. Der unsterbliche Abbé de l’Epée und nach ihm mehrere Andere verbanden mit den natürlichen Geberdenzeichen für ein jedes Wort zugleich die ihm entsprechende Analyse, und fügten ihm noch besondere willkührliche Zeichen zur Bezeichnung der grammatischen Formen, der technischen Benennung und syntaktischen Bestimmung bei. Zusammengesetzte Wörter zergliederten sie in ihre Bestandtheile, und bildeten darnach stellvertretende pantomimische Zeichen. De l’Epée’s Schüler und Nachfolger Abbé Sicard hielt sich bei der Bildung der Geberdenzeichen nicht an die grammatischen Elemente, aus welchen die Wörter zusammengesetzt sind, sondern an den Wortbegriff selbst, den er durch natürliche Geberden zergliederte und erklärte, und ihm besondere Zeichen für die grammatischen Formen beifügte. Er gebrauchte beim Unterrichte zweierlei Zeichen, nämlich begriff= entwickelnde und Erinnerungszeichen. Beide waren natürlich und bezeichneten die Begriffe selbst, jene waren jedoch weitläufig und enthielten alle Merkmale des Begriffes, diese hingegen waren kurz, enthielten nur die wesentlichsten Merkmale, und hatten die Bestimmung jene zu vertreten. Andere Taubstummen-Lehrer passen die Zeichensprache der Wortsprache mechanisch an. Sie bezeichnen die Wurzelwörter durch natürliche Geberden, jedoch ohne Rücksicht auf die durch Zusammensetzung oder Ableitung veränderte Bedeutung der Wörter. Die Zeichen für die Wurzelwörter bleiben immer unverändert; so wie bei der Schriftsprache das Wurzelwort immer dasselbe bleibt […].13

Ein Beispiel hierfür wäre, dass auch für Wörter wie »Verbrechen« oder »Aufbrechen« als Grundwort das Verb »brechen« gebärdet wird.

12 | Ebd., 39. 13 | Ebd., 49-50.

Die Relikte von Oralismus und Behinder tendiskriminierung in Österreich

Während er den methodischen Zeichen pädagogisch-didaktischen Wert zumaß, stand Czech den mechanisch-methodischen Zeichen negativ gegenüber: […] ist auch zugleich ihr Gebrauch schädlich, indem sie leicht zu einem bloßen Abrichtungsmittel wird, und zu mancherlei Mißbräuchen führt. Wenn sich der Unterricht auf das Aussprechen, Erklären und Uebertragen der Schrift in die Geberdensprache, und auf das Diktiren der Wörter und Sätze mittelst künstlicher Geberdenzeichen beschränkt, so führt er nicht zum Zwecke; denn der auf diese Weise unterrichtete Taubstumme gelangt nie zur Fertigkeit im schriftlichen Ausdrucke eigener Gedanken, was doch der einzige Zweck des Unterrichtes in der Schrift- und Tonsprache seyn sollte.14

Beide, methodische wie mechanisch-methodische Zeichen, wären aber als »Conversationssprache« für die Gehörlosen unbrauchbar15, da sie deren »natürliche« Gebärdensprache unverständlich mache. Czech erklärte auch, wie Lehrer sich die Gebärden der Gehörlosen zugänglich machen können: Der Taubstumme wird sich darnach umsehen, und da er sie nicht gewahr wird, so wird er – wenn er lebhaft und unbefangen ist – diese Gegenstände sogleich durch dieselben Geberdenzeichen ausdrücken, die er zu ihrer Bezeichnung zu Hause mit den Seinigen schon gebraucht hat. Auf diese Geberdenzeichen richte der Lehrer seine Aufmerksamkeit, prüfe, worauf sie gegründet sind; und findet er sie naturgemäß und charakteristisch, so nehme er sie von dem Taubstummen an, und gebrauche sie in der Folge selbst, wo er ihrer bedarf.16

Wir können annehmen, dass die LehrerInnen zumindest z.T. der Empfehlung Czechs folgten und existierende Gebärden aus der Gehörlosengemeinschaft übernahmen, anstatt von sich aus neue zu erfinden. Umgekehrt hat die Erweiterung der Sachthemen durch den Unterricht wohl auch dazu geführt, dass die SchülerInnen von den LehrerInnen entwickelte Gebärden übernahmen und sie – wo sich das als ökonomisch herausstellte – im Lauf der Zeit an das System ihrer Gebärdensprache anpassten. Trotz mangelnder Belege ist hier vielleicht das Bild der von den SchülerInnen in die Schule eingebrachten Gebärdensprachvariante(n) als »Substrat« und der von den LehrerInnen konstruierten »Unterrichtsgebärdensprache« als »Superstrat« sinnvoll.

14 | Ebd., 54. 15 | Ebd., 53. 16 | Ebd., 62.

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Eduard Schmalz (1801-1871) beschrieb 1830 die Wiener Taubstummenschule17, die Prager Schule und kurz auch Schulen in Ungarn (der Standort Vácz blieb unerwähnt), Linz, Brünn, Brixen und Graz.18 Er verwies auf eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Unterrichtspraxis: »Die Methode des Unterrichtes war früher ganz die Epéesche, jetzt legt man indeß mehr Werth als früher auf die Tonsprache. Überdieß aber betrachtet man die Geberdensprache als ein sehr wichtiges Bildungsmittel, und ist daher sehr auf ihre Ausbildung bei den Zöglingen bedacht.«19 Neben der aufklärerischen Motivation schilderte Schmalz auch eine praktische Zielsetzung für diese »unglückliche Menschenklasse« (damals ein sehr häufiges Topos): »Man bemüht sich, die Taubstummen bürgerlich brauchbar zu machen, daher unterweiset man sie im Schreiben, Lesen, Sprechen, Rechnen, Zeichnen und in der Religion.«20 Daneben wurden handwerkliche Fertigkeiten vermittelt. Es findet sich auch ein früher Hinweis auf einen Dolmetscher: »Der zweite Lehrer, Herr J. B. Fischbach, ist zugleich beeideter gerichtlicher Dolmetscher der Taubstummen.«21 Die »gemischte Methode« wurde 1867 – also bereits vor dem Mailänder Kongress von 188022 – zugunsten der »deutschen« aufgegeben.23 Wohl im Gefolge der sprachlichen Diskriminierung der gehörlosen Menschen und der Entlassung der gehörlosen LehrerInnen entstanden ab ca. 1865 Gehörlosenvereine; Wien – mit geschätzten 1000 Gehörlosen – wurde das wichtigste Zentrum der österreichischen Gehörlosenkultur. 1919 formierte sich auch ein revo-

17 | Eduard Schmalz, Kurze Geschichte und Statistik der Taubstummenanstalten und des Taubstummenunterrichtes nebst vorausgeschickten ärztlichen Bemerkungen über die Taubstummheit (Dresden: Hilscher, 1830),145-150. Eine weitere historische Quelle ist Leopold Chimani, »Das k. k. Taubstummen-Institut in Wien«, Neue theologische Zeitschrift 5, Bd. 2 (1832): 273-290. 18 | Schmalz, Kurze Geschichte, 151-154. 19 | Ebd., 149. 20 | Ebd.; der kursive Textteil ist im Original gesperrt. 21 | Ebd., 147. 22 | Die Beschlüsse des Mailänder Kongresses wurden bekanntlich erst 2010 mit Bedauern zurückgenommen; vgl. International Congress on Education of the Deaf (ICED) Vancouver 2010 Organizing Committee und British Columbia Deaf Community, »Vancouver 2010 Resolution, A New Era of Deaf Participation and Collaboration«, Zugriff 18.9.2018, https://www.kestner.de/n/verschiedenes/presse/2010/ICED-StatementofPrinciple.pdf. 23 | Vgl. Verena Krausneker, Viele Blumen schreibt man »Blümer«. Soziolinguistische Aspekte des bilingualen Wiener Grundschul-Modells mit Österreichischer Gebärdensprache und Deutsch (Hamburg: Signum, 2004), 293-295.

Die Relikte von Oralismus und Behinder tendiskriminierung in Österreich

lutionärer Taubstummenrat, der die Wiedereinführung der »österreichischen Methode« forderte.24

Die pädagogische »Normalität« zwischen 1867 bzw. 1880 und 1938 Wir können annehmen, dass die orale Gehörlosenbildung im Rahmen der allgemein vorherrschenden autoritär bzw. nationalistisch geprägten pädagogischen Orientierung stattfand, also ebenso autoritär und nationalistisch war.25 Gegen den Einsatz von Gebärdensprachen wurden Argumente und Denkbilder eingesetzt, die heute z.T. bereits vergessen sind, z.T. immer noch – allerdings kaum mehr »offiziell« – eingesetzt werden; z.B., dass Gebärdensprache die Inklusion in die Gesellschaft und das Lernen der Schrift- und der gesprochenen Sprache verhindere, oder dass die SchülerInnen den Unterricht auch ohne Gebärdensprache verstünden, wenn man ihnen einige visuelle Hilfsmittel anbiete.26 Unseres Wissens gab es auch keine reformpädagogischen Ansätze zur Überwindung des Oralismus. Ein interessanter Findling – allerdings für Deutschland – ist Emil Reuscherts (1861-1918) Die Gebärdensprache der Taubstummen und die Ausdrucksbewegungen der Vollsinnigen von 1909. Reuschert setzt sich ausführlich mit der Gebärdensprache und der Geschichte der Gehörlosenbildung auseinander. In einer Zeit der vollen Ausprägung des Oralismus bezieht er – der »österreichischen Methode« entsprechend – überraschend klar zugunsten der Verwendung der Gebärdensprache Stellung.27 Erwähnenswert ist außerdem Adolf Freunthaller (1887-1965), der eine bedeutende Rolle sowohl in der Gehörlosenbildung als auch 1929 bei der Gründung des WITAF (»Wiener Taubstummen-Fürsorge-Verband«, gegründet 1865 als Wiener Unterstützungs- und Taubstummenverein)28 spielte. Freunthaller entwickelte die soge24 | Zur Geschichte der Gehörlosenbildung vgl. Krausneker, Taubstumm, Kap. 4, zu Österreich vgl. Kap. 5. 25 | Eine ähnliche Situation in Japan schildert Karen Nakamura, Deaf in Japan: Signing and the Politics of Identity (Ithaca: Cornell University Press, 2006). 26 | Vgl. Franz Dotter, »Gebärdensprache in der Gehörlosenbildung: Zu den Argumenten und Einstellungen ihrer Gegner«, Das Zeichen 5 (1991): 321-332. Verena Krausneker und Katharina Schalber, »Sprache Macht Wissen«, Forschungsprojekt »Status der ÖGS« Österreichische Gebärdensprache in Schule und Forschung 2006-07 (Wien: 2007), Zugriff 18.9.2018, www.univie.ac.at/oegsprojekt/. 27 | Emil Reuschert, Die Gebärdensprache der Taubstummen die Ausdrucksbewegungen der Vollsinnigen (Leipzig: H. Dude, 1909). 28 | Vgl. z.B. Adolf Freunthaller, Der gegenwärtige Stand der Taubstummheit auf Wiener Boden; eine im Auftrag des Kuratoriums für die Wohlfahrt der Taubstummen in

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nannte »Signalmethode«, welche seine Nichte Susanne Schmid-Giovannini (geb. 1928) in ihrer auf den Lautspracherwerb ausgerichteten »auditiv-verbalen« Methode weiterentwickelte.29

Nationalsozialismus Nach dem »Anschluss« Österreichs an das deutsche Reich 1938 führte das »rassenhygienische« nationalsozialistische »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) vom 14. Juli 1933 sowie die »Führerermächtigung« zur »Aktion T4« und deren dezentrale Fortsetzung auch hier zur Sterilisierung (GzVeN) bzw. Tötung (T4) von als »erblich gehörlos« eingestuften Menschen. Auch die NS-Gleichschaltung betraf die Organisationen Gehörloser: Es wurden bestehende, dem NS-Regime nicht genehme Vereine, Verbände oder Institutionen entweder aufgelöst, entsprechenden NS-Organisationen eingegliedert oder deren Führung durch NS-Funktionäre übernommen; jüdische Mitglieder wurden hinausgeworfen. Manche Organisationen führten diese Maßnahmen freiwillig durch, andere unter Androhung von Repressalien.30 Die Nationalsozialisten verboten nach dem »Anschluss« 1938 die jüdischen Vereine bzw. veranlassten den Ausschluss jüdischer Mitglieder aus anderen Verbänden; fast alle jüdischen Gehörlosen (etwa 200) wurden ermordet.31 Sie spalteten die österreichische Gehörlosenbewegung weiterhin dadurch, dass die »nicht erblichen« Gehörlosen gezwungen wurden, sich dem »Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands« anzuschließen, bzw. dass für gehörlose Wien durchgeführte Untersuchung auf Grund der Angaben in den Aufnahmeblättern des Taubstummenfürsorgeverbandes (Witaf) (Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk, 1933). Dass sich Informationen zu Freunthallers Rolle bei der Gründung des WITAF am ehesten bei Wikipedia finden, zeugt von der dringenden Notwendigkeit, die österreichische Gehörlosengeschichte weiter systematisch aufzuarbeiten und zugänglich zu machen: O. V., »Adolf Freunthaller«, Zugriff 18.9.2018, https://de.wikipedia.org/wiki/ Adolf_Freunthaller. 29 | Vgl. Susanne Schmid-Giovannini, Bildergeschichten für taube, schwerhörige und sprachgestörte Kinder unter Verwendung der Signalmethode von Professor Adolf Freunthaller (Wien: Jungbrunnen, 1964); Susanne Schmid-Giovannini, Hören und Sprechen: Anleitungen zur auditiv-verbalen Erziehung hörgeschädigter Kinder ([Meggen, Luzern]: [Internationales Beratungszentrum Schmid-Giovannini], 1996). 30 | Vgl. Dirk Erb, Hg., Der Nazi-Terror gegen Gewerkschaften und Berufsverbände 1930-1933 (Steidl: Göttingen, 2001). 31 | Vgl. Verena Krausneker und Katharina Schalber, 2009. Gehörlose ÖsterreicherInnen und Österreicher im Nationalsozialismus. 8 Kurzfilme in Österreichischer Gebärdensprache mit deutschen UT (Wien: Universität, 2009), Zugriff 18.9.2018, www. univie.ac.at/gehoerlos-im-ns.

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Jugendliche sogar eine spezielle Hitlerjugend gegründet wurde.32 Gehörlose Menschen mussten sich als »nicht erblich gehörlos« und als »wertvolle Volksgenossen« erweisen, um unbehelligt zu bleiben. Dass dies psychische Auswirkungen hatte, ist nachvollziehbar. Doch übernahmen manche Gehörlose unter diesen Umständen auch die nationalsozialistische Ideologie. Andere lehnten den Nationalsozialismus ab bzw. leisteten Widerstand. Die Folgen dieser Spaltung der Gehörlosengemeinschaft sind bis heute spürbar: So seien die Funktionäre des damaligen »Verbands der Taubstummen und Gehörlosen Österreichs« (die Umbenennung in »Österreichischer Gehörlosenbund« erfolgte 1969) angeblich dem Nationalsozialismus gewogen gewesen, während der WITAF, der 1938 aufgelöst wurde, ihm entgegen gestanden hätte. Andrea Runggatscher zitiert die »panische Angst« von Eltern schwerhöriger Kinder, dass ihre Kinder als »erbkrank« bzw. »gehörlos« klassifiziert werden könnten. Runggatschers Arbeit bietet einen guten regionalhistorischen Eindruck von den vielfältigen Bedrohungen hörbehinderter Kinder bzw. ihrer – in Tirol oft von der Katholischen Kirche gestellten – BetreuerInnen.33 Die NS-Gleichschaltung betraf auch die »Taubstummenlehrer«. Im Zuge der Gleichschaltung wurde am 17. September 1933 der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) gegründet. Dies bedeutete in der Folgezeit neben der Bedrohung durch Sterilisation, dass auch zwei Gruppen gehörloser Kinder bedroht wurden: im Rahmen des nationalsozialistischen Krankenmords als nicht bildungsfähig erkannte sowie jüdische gehörlose Kinder. Für Österreich gibt es allerdings noch keine Untersuchung zu Zwangssterilisationen und dem Verhalten der Lehrer an Gehörlosenschulen während der Zeit des Nationalsozialismus, wie sie für Deutschland von Horst Biesold vorgelegt wurde.34 Es wurde auch kein Versuch einer »Reinwaschung« der »Taubstummenlehrer« von Biesolds Vorwürfen publiziert (für Deutschland hatte Frank A. Brodehl 2014 einen solchen Versuch unternommen).35 Die Tötung behinderter Kinder 32  |  Vgl. Helmut Vogel, »Schule und Hitlerjugend«, TaubWissen, Universität Hamburg, Zugriff 18.9.2018, www.taubwissen.de/content/index.php/geschichte/gehoerlose-in-der -zeit-des-nationalsozialismus/schule-und-hitlerjugend/587-nazischulehitlerjugend. html. 33 | Andrea Runggatscher, Lebenssituationen Gehörloser Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in Tirol (Diplomarbeit, Universität Innsbruck, 2003). 34 | Horst Biesold, Klagende Hände: Betroffenheit und Spätfolgen in bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der »Taubstummen« (Solms: Oberbiel, 1988); vgl. aber Krausneker und Schalber, Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus. 35 | Vgl. Franz Dotter, »Rezension von Widerstand, Anpassung, Pflichterfüllung? von Frank A. Brodehl«, socialnet Rezensionen, 2014, Zugriff 29.11.2018, https://www. socialnet.de/rezensionen/17120.php.

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in Österreich im Rahmen der nationalsozialistischen Euthanasie wurde erst sehr spät aufgearbeitet.36

Österreich nach 1945 Schule Die autoritären pädagogischen Methoden fanden erst in den 1960er Jahren ein allmähliches Ende; in der Gehörlosenbildung mit einer Verzögerung von etwa 20 Jahren sogar noch später.37 Es ist nicht bekannt, ob im Rahmen der Entnazifizierung GehörlosenlehrerInnen von ihren Posten entfernt oder mit einem zeitlich begrenzten Berufsverbot belegt wurden, wie das in der Lehrerschaft nach 1945 gehandhabt wurde. Der ja vor der Zeit des Nationalsozialismus bereits vorhandene pädagogische Autoritarismus wurde jedenfalls im Laufe der Jahre – insbesondere durch den Eintritt neuer Lehrergenerationen in den Schuldienst – nur langsam abgebaut. SchülerInnen, die mit der autoritären oralen Methode einigermaßen zurechtkamen, wurden gefördert und rechtfertigten in den Augen der LehrerInnen sowohl die Methoden als auch die dahinterstehende orale Ideologie.38 Ein paradoxes Ergebnis war, dass nicht wenige VertreterInnen der Gehörlosengemeinschaft der in den späten 1980er Jahren entstehenden österreichischen Gebärdensprachbewegung skeptisch gegenüberstanden. Trotz starker Betonung der oralen Methode wurde die Verwendung der Gebärdensprache zwischen den SchülerInnen – insbesondere im privaten Bereich bzw. innerhalb der Internate, in die bis in die 1960er und 1970er Jahre viele gehörlose Kinder aufgenommen wurden – geduldet. Wir können auch annehmen, dass einige wenige LehrerInnen – etwa, wenn sie CODAS (Children of Deaf Adults) waren – unter bestimmten Umständen Gebärdensprache einsetzten, um den Unterricht für die SchülerInnen verständlicher zu machen. Die meisten LehrerInnen besaßen aber damals keine Kompetenz in Österrei-

36 | Vgl. etwa Mathias Dahl, Endstation Spiegelgrund. Die Tötung behinderter Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in Wien 1940 bis 1945 (Wien: Erasmus, 2004). 37 | Vgl. Krausneker, Taubstumm; Franz Dotter und Ingeborg Okorn, »Austria’s Hidden Conflict: Hearing Culture vs. Deaf Culture«, in Many Ways to Be Deaf, Hg. Leila Monaghan, Constanze Schmaling, Karen Nakamura und Graham H. Turner (Washington DC: Gallaudet University Press, 2003), 49-66; Helene Jarmer »Bilingualismus und Bikulturalismus: ihre Bedeutung für Gehörlose« (Masterarbeit, Universität Wien, 1997). 38 | Vgl. Bundes-Taubstummeninstitut Wien, Hg., Taubstummeninstitut Wien 17791979. 200 Jahre Gehörlosenbildung (Wien: Bundes-Taubstummeninstitut, 1979); Schott, Taubstummeninstitut.

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chischer Gebärdensprache (ÖGS).39 Die ÖGS konnte daher nur in den Gehörlosenvereinen tatsächlich gepflegt werden. Was die Sprachkompetenz der SchülerInnen angeht, dürfen wir – abhängig von der Art der Hörbehinderung – eine recht niedrige Lautsprachkompetenz annehmen, sowie für die Kinder hörender Eltern keine wie immer geartete Kompetenz in Gebärdensprache. Nur die gehörlosen und schwerhörigen Kinder gehörloser Eltern werden eine Kompetenz in Gebärdensprache mitbekommen haben, welche derjenigen der Eltern entsprach. Für die Schülerkommunikation in Schulen bzw. Internaten ist daher eine Art »Koiné« anzusetzen, die aus der regionalen Gebärdensprache, dem Eigenerwerb der Gebärdensprache durch die SchülerInnen in ihren sozialen Kontexten und den angebotenen Lehrervarianten entstand. Die entscheidende Komponente war die durch die gehörlosen Kinder gehörloser Eltern eingebrachte regionale Gebärdensprache. Durch all diese Faktoren gingen letztlich die sprachlichen Merkmale nicht verloren, und die ÖGS konnte sich auch in einem gewissen – gemessen an den konkurrierenden gesprochenen Sprachen, sehr eingeschränkten – Umfang entwickeln. Die Leiden vieler gehörloser Menschen unter der autoritär-oralen Methode sind wenig aufgearbeitet40 und schon gar nicht in der hörenden Mehrheitsbevölkerung bekannt (daher besteht auch keine Bereitschaft, diese durch Gedenkstätten zu würdigen). Die Arbeit von Gertraud Migsch zeigt, dass dem Leiden der Gehörlosen in ihren Schulen auch eine z.T. große Frustration der LehrerInnen entsprach.41 Wie den nachfolgend beschriebenen Zeitzeugenberichten zu entnehmen ist, wurde das offizielle Verbot der Verwendung einer Gebärdensprache im Unterricht erst in den 1990er Jahren informell gelockert. Ein seltenes Zeugnis für das Bewusstsein der Diskriminierung der Gehörlosen in Österreich ist Heinrich Prochazkas Artikel »1963 – Ein halbes Jahrhundert Gehörlosen-Organisation in Österreich«.42 Prochazka verwies auf zwei entscheidende Gründe für die geringe Effizienz des Widerstands der Gehörlosen: mangelndes Selbstbewusstsein der Gehörlosen und fehlende Unterstützung der Behörden.

39 | Krausneker und Schalber, »Sprache Macht Wissen«, 23. 40 | Vgl. Christin Adlaßnig, Differenzierung in Integrationsklassen mit hörbeeinträchtigten Kindern (München/Ravensburg: Grin, 2012). 41 | Gertraud Migsch, »Die Verstummung des Widerspruchs. Ein qualitativer Beitrag zur beruflichen Sozialisation von Gehoerlosenlehrern« (Dissertation, Universität Salzburg, 1987). 42 | Heinrich Prochazka, »1963 – Ein halbes Jahrhundert Gehörlosen-Organisation in Österreich«, in 75 Jahre Österreichischer Gehörlosenbund 1913-1988, Hg. Österreichischer Gehörlosenbund (Wien: Österreichischer Gehörlosenbund, 1988), 71-88.

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Forschung In der gehörlosenpädagogischen Forschung blieb Österreich lange ein »Anhängsel« Deutschlands: Es fand praktisch keine eigenständige Forschung statt; lediglich die Ergebnisse der oralen deutschen Forschung wurden übernommen. Dementsprechend wurde auch in Österreich die Metapher des »Methodenstreits« verwendet, um oralistische und bilinguale Methoden als zwei gleichberechtigte, unterschiedliche »Meinungen« darzustellen. Uns ist eine größere Arbeit bekannt, die bei schwerhörigen und gehörlosen Kindern einen sehr schwachen Bildungsstand feststellte, aber – wahrscheinlich deswegen – weitgehend unbeachtet blieb.43 Die Forschungssituation verbesserte sich erst in den 1990er Jahren, als in Graz die Dolmetschausbildung für ÖGS eingeführt wurde und in Klagenfurt das Zentrum für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation seine Arbeit aufnahm. Später wurde auch am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien die Möglichkeit einer Spezialisierung bezüglich Gebärdensprache und Gehörlosenbildung geschaffen. Hauptsächlich an diesen Orten entstanden Diplomarbeiten, welche ein Aufholen Österreichs in der internationalen Forschung ermöglichten. Was die verwendete Literatur betrifft, besteht fast so etwas wie eine Segregation: Während die Arbeiten an den genannten Institutionen die internationale, speziell angloamerikanische Literatur rezipierten, wurde diese von den in der deutschen oralistischen Tradition stehenden ExpertInnen praktisch völlig ignoriert oder entstellt präsentiert.44 Eine erste eigenständige Untersuchung zur Lage gehörloser Frauen wurde 2001 von Marion Breiter vorgelegt.45 Die Untersuchung von Verena Krausneker und Katharina Schalber aus dem Jahr 2007 ist der Beleg dafür, dass der »oralistische Geist« an manchen Schulen auch noch nach dem Jahr 2000 anzutreffen war bzw. ist und Österreich bezüglich einer angemessenen Bildung und Integration hörbehinderter Kinder noch großen Nachholbedarf besitzt.46 Das Institut für Sinnes- und Sprachneurologie des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder führte 2004-2006 eine Querschnittuntersuchung zum 43 | Ingeborg Gelter, »Wortschatz und Lesefähigkeit gehörloser Schüler«, Der Sprachheilpädagoge 3 (1987): 37-42. 44 | Vgl. Franz Dotter, »Hörbehindert = gehörlos oder resthörig oder schwerhörig oder hörgestört oder hörgeschädigt oder hörsprachbehindert oder hörbeeinträchtigt?«, SWS-Rundschau 49 (2009): 347-368; Franz Dotter, »Rezension von Einführung in die Hörgeschädigtenpädagogik, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage von Annette Leonhardt«, socialnet Rezensionen, 2011, Zugriff 18.9.2018, https://www.socialnet. de/rezensionen/10500.php. 45 | Marion Breiter, Muttersprache Gebärdensprache (Wien/Mülheim: Guthmann-Peterson, 2001). 46 | Krausneker und Schalber, »Sprache Macht Wissen«.

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Stand der Gesamtentwicklung aller mittelgradig schwerhörigen bis gehörlosen Kinder im Pflichtschulalter durch (CHEERS).47 Diese ergab z.T. deutliche Entwicklungsrückstände hörbehinderter Kinder im Vergleich zu hörenden und wurde in Kärnten in geringerem Umfang wiederholt.48 Konsequenzen wurden aus diesen Erhebungen keine gezogen. Im engeren Bereich der schulbezogenen Forschung hat das vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) finanzierte Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens49 bislang keine Forschungen im Bereich Gehörlosigkeit bzw. Schwerhörigkeit durchgeführt und sich in seiner Arbeit (z.B. Sprachstandsfeststellungen) auch nicht nach internationalen Standards ausgerichtet. Bildungspolitik und regierungsbestimmte Institutionen bleiben damit nach wie vor von internationalen Entwicklungen abgekoppelt.

Lehrerausbildung In der Lehrerausbildung ist die ÖGS immer noch schwerwiegend unterrepräsentiert; es gibt in ganz Österreich kein Studium der Gebärdensprache, sondern nur aufeinander auf bauende Kurse, welche maximal bis zum Niveau B1 oder B2 führen, die für LehrerInnen aber keine Pflicht sind – ein Entschließungsantrag des Nationalrats vom 28. Juni 2017 verlangt nun eine Qualitätssicherung.50 Das Interesse an der ÖGS ist bei den Studierenden (insbesondere denen für das Lehramt) aber groß; nicht wenige erwerben selbstständig Kenntnisse der ÖGS.51 Aktuell läuft ab Herbst 2018 ein Hochschullehrgang 47 | Die Dokumente zu dieser Studie finden sich auf Barmherzige Brüder, Konventhospital Linz, »Wissenschaftliche Arbeiten und Projekte. Publikationen«, Zugriff 18.9.2018, https://www.barmherzige-brueder.at/unit/issn/sprachundtherapiezentrum/wissenschaft; vgl. auch Daniel Holzinger et al., »Gebärden in Familie und Schule. Ergebnisse der CHEERS-Studie in Oberösterreich«, Das Zeichen 21 (2007): 444-453. 48 | ZGH (Zentrum für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation), Bericht zum Projekt Erhebung der Gebärdensprachkompetenz von hörbeeinträchtigten Kindern in Kärnten (Klagenfurt: ZGH, 2010), Zugriff 18.9.2018, http://docplayer. org/17965403-Erhebung-der-gebaerdensprachkompetenz-von-hoerbeeintraechtigten-kindern-in-kaernten.html. 49 | Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens (BIFIE), https://www.bifie.at/. 50 | Österreichischer Gehörlosenbund (ÖGLB), »Österreichischer Gehörlosenbund begrüßt parlamentarische Entschließung«, 29.6.2017, Zugriff 18.9.2018, www. oeglb.at /ak tuelles/news/news/beitrag /oesterreichischer-gehoerlosenbund-be gruesst-parlamentarische-entschliessung/. 51 | Florian Schweitzer, Schreibkompetenz gehörloser SchülerInnen (Diplomarbeit Universität Wien, 2014): 32-33.

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»Inklusive Gebärdensprachpädagogik«, dessen Ziel es ist, das bisher Gelernte zu vertiefen, die ÖGS-Kompetenz bis zum Niveau B1 zu gewährleisten sowie Grundbegriffe der American Sign Language (ASL) zu vermitteln. Durchgeführt wird der Lehrgang von der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems (KPH Wien/Krems) in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Salzburg (PH Salzburg). Allerdings ist er freiwillig. Die Inhalte der allgemeinen sonderpädagogischen wie auch der schwerhörigen- und gehörlosenpädagogischen Ausbildung sind Großteils noch immer oral beeinflusst 52; eine Aufarbeitung der in Lehrbüchern weiterhin verbreiteten veralteten bzw. diskriminierenden Inhalte ist dringend nötig. Eine wichtige Rolle spielt die in der wissenschaftlichen Literatur ständig wiederholte – scheinbar »neutrale« – direkte Verknüpfung zwischen einer Hörbehinderung und der »Sprachentwicklung«, womit aber nur gesprochene Sprachen gemeint sind. Die Diagnose einer Hörbehinderung führt damit quasi automatisch zu einer schlechten Prognose für »Sprache«, wobei kaum jemals erwähnt wird, dass hier eine Kompensation mit einer visuellen Sprache möglich wäre.

D er Par adigmenwechsel in der B ehindertenpolitik und seine A uswirkungen Als Auswirkung der stärkeren Selbstvertretungsaktivitäten behinderter Menschen und der Entstehung von Disability Studies sowie unter dem Einfluss von Entwicklungen vornehmlich in den USA und Schweden veränderte sich auch in Österreich die Haltung der Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen.53

Gesetzliche Reformen Von 1997 bis 1999 wurden diskriminierende Bezeichnungen und Bestimmungen aus den österreichischen Gesetzen gestrichen und das Recht gehörloser Menschen auf Dolmetschung vor Gericht und bei Verwaltungsverfahren verankert. Das öffentlich rechtliche Fernsehen (ORF) führte Untertitel und einzelne Sendungen mit Gebärdensprachdolmetschung ein, wesentliche gesellschaftliche Bereiche wie Sport und Kultur sind aber bis heute nicht barrierefrei. 2005 wurde die ÖGS per Verfassungsbestimmung anerkannt.54 Aller52 | Vgl. Dotter, Rezension zu Leonhardt und als Beispiel Heinz Gruber und Viktor Ledl, Allgemeine Sonderpädagogik (Wien: Jugend und Volk, 2004). 53 | Vgl. Ursula Naue, »Österreichische Behindertenpolitik im Kontext nationaler Politik und internationaler Diskurse zu Behinderung«, SWS-Rundschau 49 (2009): 274-292. 54 | Den Weg zur Anerkennung dokumentiert Krausneker, Taubstumm, Kap. 7.

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dings wurde dies mit einem Gesetzesvorbehalt versehen, dessen praktische Auswirkung es war, dass entsprechende Reformen im Bildungsbereich unterblieben (dazu unten mehr). Der barrierefreie Zugang gebärdensprachorientierter Menschen zu öffentlichen Informationen55 und zu bestimmten Bildungsangeboten wurde zwar teilweise erleichtert; nicht nur wegen der mangelnden Berücksichtigung der ÖGS im Unterricht bleiben die Bildungsbarrieren für diese Menschen aber sehr hoch. Noch 2006 entschied der Österreichische Verfassungsgerichtshof, gehörlose Menschen könnten das Fernsehprogramm auch ohne visuelle Hilfsmittel ausreichend perzipieren.56

Pädagogische Reformen: Widerstand und Sarkasmus Gehörlosenlehrerinnen als Zeitzeuginnen Als die hörende Silvia Kramreiter 1992 ihre Arbeit am Bundesinstitut für Gehörlosenbildung (BIG) in Wien begann, war die orale Methode im Lehrkörper durchgehend positiv konnotiert, die Internatsleitung rein oral orientiert. Vor ihrer Bewerbung dort war Kramreiter daher empfohlen worden, ihre an der Pädagogischen Hochschule Krems gut beurteilte Diplomarbeit zu Gebärdensprache nicht anzuführen. Diese persönliche Erfahrung ist symptomatisch; weiterführende Forschung ist hier dringend geboten. Es liegen, wie oben erwähnt, kaum Studien über die Erfahrungen von SchülerInnen und LehrerInnen an österreichischen Gehörlosenschulen vor. Die nachfolgenden Darstellungen basieren daher wesentlich auf den persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen der AutorInnen dieses Beitrags sowie auf ihren auch informellen Gesprächen mit anderen Zeitzeugen wie Kramreiter; verwiesen sei außerdem auf den Blog »Visuelle Gedankenwelten« von Lukas Huber, der auch einige Artikel zur Bildung enthält.57 Der Direktor des BIG in den frühen 1990er Jahren, Ulrich Koskarti, war der ÖGS gegenüber nicht feindlich eingestellt; die SchülerInnen wurden nicht schlecht oder gar diskriminierend behandelt, wenn sie in der Freizeit untereinander gebärdeten. Wie Helene Jarmer sich erinnert, setzte er sich sogar dafür ein, dass gehörlose PädagogInnen selbst unterrichten durften und auch eingestellt wurden. Allerdings musste er sich auch mit dem Widerstand der Lehrerschaft auseinandersetzen. Der Vorgänger Koskartis, Alfred Willer, hatte 55 | Vgl. etwa die vom Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort geschaltete Webseite www.help.gv.at . 56 | vgl. Franz Dotter, »Ein Urteil des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs mit behindertendiskriminierenden Elementen«, Das Zeichen 21 (2007): 198-207. 57  |  Lukas Huber, »Visuelle Gedankenwelten«, https://lukhub.wordpress.com/category/ bildung/.

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noch Druck auf die LehrerInnen ausgeübt und gefordert, die SchülerInnen müssten lautsprachlich zum Verstehen des Unterrichteten geführt werden. Dadurch gerieten die LehrerInnen unter starken Druck. Dabei war Willer der ÖGS gegenüber ebenfalls nicht völlig negativ eingestellt: Er hatte auch eine CODA als Lehrerin aufgenommen. Koskarti übte weniger Druck aus, jede/r LehrerIn konnte frei entscheiden, welche Unterrichtssprache sie/er verwendete; es wurde im Klassenbuch vermerkt. In den folgenden Jahren ging der »harte Kern« der Oralisten nach und nach verloren; dennoch entwickelte sich auch kein Reformengagement. Vielmehr entstand durch eine mehr oder weniger große didaktisch-methodische Konzeptlosigkeit – ja sogar Desinteresse an den SchülerInnen und ihrem Fortkommen – eine Art »luftleerer Raum«; die verwendeten oralen Konzepte blieben anstrengend und frustrierend. Fünf in den 1990er Jahren neu eingetretenen LehrerInnen setzten wohl mit großem Aufwand gebärdensprachliche Methoden ein, sahen sich aber zur Abschottung von den »Alten« gezwungen; teilweise verließen sie die Schule wieder und führten anderswo in Österreich Projekte durch. Bis heute können die im BIG tätigen BundeslehrerInnen inklusive der Direktorin Katharina Strohmayer mit SchülerInnen nicht in ÖGS kommunizieren bzw. wenden diese zur Kommunikation nicht an. Strohmayer hatte aus diesem Grund einmal pro Woche einen ÖGS-Dolmetscher für Sprechstunden herangezogen. »Gebärdenpflege« wurde schon in der Vergangenheit nur für »schwache« Kinder (B-Züge) zugelassen, allerdings gab es kein Unterrichtsmaterial. Auch unter Strohmayer wird die ÖGS nur jenen Kindern »erlaubt«, die sie »brauchen«. Ihr Wert wird nicht gewürdigt; sie gilt vielfach nur als »letztes Hilfsmittel«, wenn der Einsatz der gesprochenen Sprache nicht zum gewünschten Erfolg führt. Als gehörlose Absolventinnen der Pädagogischen Akademie Wien mit dem Lehramt für die Sonderschule für Gehörlose und die Sonderschule für schwerhörige Kinder, sowie dem Lehramt für Hauptschulen (Mathematik, Bildnerische Erziehung) wurden Helene Jarmer und Sonja Wagersreiter beide gleichzeitig als erste gehörlose Lehrerinnen am BIG angestellt. Jarmer war von 1993 bis 2000 im BIG tätig. Danach betreute sie neben Lehraufträgen an der Universität Wien zwischen 2000 und 2004 eine bilinguale Doppelintegrationsklasse als Schulversuch an der Volksschule Wien 22. Sie war bzw. ist auch im Österreichischen Gehörlosenbund führend tätig (zuerst als Generalsekretärin, dann als Präsidentin). Von 2009 bis 2017 war sie Mitglied des Österreichischen Nationalrats.58

58 | Vgl. Helene Jarmer, Schreien nützt nichts: Mittendrin statt still dabei (München: Südwest, 2011).

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Über ihre acht Jahre als Lehrerin59 berichtet Jarmer, dass ein Teil ihrer KollegInnen sich kühl, uninteressiert, negativ gegenüber der ÖGS und auch diskriminierend verhielten: Sie musste im ersten Dienstjahr von fünf Unterrichtsstunden eine an sie kontrollierende Hörende abgeben wie auch ihre Kollegin Wagersreiter, ihr wurden für Lehrerkonferenzen keine DolmetscherInnen zur Verfügung gestellt, LehrerkollegInnen mussten das freundlicherweise übernehmen. Diese Situation hat sich bis heute nicht verbessert. Einige KollegInnen kommunizierten in den Pausen nicht mit Jarmer, weil doch – so diese KollegInnen – die Arbeit mit gehörlosen Kindern schon ziemlich anstrengend sei. In Konfliktsituationen erlebte Jarmer eine ironische, herablassende Behandlung, eine negative Stimmung gegenüber ihrem Studium (»das schaffst Du nicht«). Als sie 1997 bei einer Pressekonferenz sagte, Österreich sei in der Gehörlosenbildung ein Entwicklungsland, drohte Direktor Koskarti mit einer Disziplinarkonferenz und folgenden Problemen mit dem Bundesministerium für Bildung. Die beschriebenen teils passiven, teils aggressiven Abwehrstrategien zeigten sich auch in der Reaktion von Schulen bzw. LehrerInnen auf die Bitte zur Beteiligung an der erwähnten Studie von Verena Krausneker und Katharina Schalber,60 was die Erhebung notwendiger Daten massiv erschwerte.

Gehörlose und schwerhörige SchülerInnen und ihre Eltern als Zeitzeugen Rückblicke ehemaliger SchülerInnen bzw. ihrer Eltern zeigen, dass noch in den 1970er und 1980er Jahren lediglich »Hörtraining« und Sprachheillehrerstunden für die gesprochene Sprache als Förderung angesehen wurden, nicht aber Gebärdensprache. Den Eltern wurde mitgeteilt, dass, wenn die Kinder gute Fortschritte machten, sie eine Schwerhörigenschule besuchen könnten; ansonsten müssten sie in eine Gehörlosenschule. Normalerweise wurde auch in Sonderkindergärten nur das Ablesen vom Mund erlaubt, alle Unterstützungen über Handzeichen oder Gebärden waren verpönt. Auch in den Schulen wurde Kindern, die von zu Hause Gebärdensprachkenntnisse mitbrachten, verboten, diese anderen SchülerInnen weiterzugeben (natürlich geschah das trotzdem). Das bedeutete, dass die Eltern einen enormen Einsatz erbringen mussten, um zu Hause das in der Schule Versäumte mit ihren Kindern nachzulernen.61 Auch in jüngster Zeit haben Eltern, die für ihr Kind eine bilinguale Frühförderung bzw. ein bilinguales Kindergarten- bzw. Schulangebot suchen, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die MitarbeiterInnen der Behörden sind 59 | Ebd. 60 | Krausneker und Schalber, »Sprache Macht Wissen«. 61 | Breiter, Muttersprache.

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überfordert und uninformiert, was die Bedürfnisse gehörloser Menschen angeht. Eltern müssen darauf beharren, dass sie ausdrücklich eine Förderung in ÖGS wünschen; ÖGS wird nicht selbstverständlich angeboten – der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) kann anonymisiert zahlreiche Fälle belegen: »Zusammenfassend kann ich sagen: Es geht schon was, aber es ist zäh. Die Eltern müssen Dinge verlangen, anders geht es nicht. Die Eltern sind der Schlüssel. Solange Eltern nicht darauf bestehen, dass ihr Kind Förderung in ÖGS bekommt, wird sich da nichts bewegen.« In manchen Regionen bzw. Schulen besteht die orale Tradition als ausschließliches Modell bis heute weiter: Das Tiroler »Zentrum für Hör- und Sprachpädagogik« in Mils empfiehlt nur das Ablesen vom Mund und will ausschließlich Hörreste stärken; es werden weder visuelle Hilfsmittel noch die ÖGS eingesetzt. Ähnlich ist die Lage in Vorarlberg, wo der Bedarf für visuelle Kommunikation als schlichtweg nicht gegeben erachtet wird. Ein Teil der Eltern der Linzer Schule fordert – noch vergeblich – das Wiener bzw. Salzburger Modell (dazu unten mehr) auch in Linz anzubieten.

Die orale Perspektive in Medizin und Logopädie Wie sich anhand von dem ÖGLB in anonymisierter Form vorliegenden persönlichen Erfahrungen belegen lässt, ist Gehörlosigkeit aus medizinischer Sicht ein »Defekt«, welcher »repariert« werden muss. Eine solche Reparatur sei mittels eines Hörgeräts oder eines Cochlea Implantats möglich; gelingt dies nicht, könne man es als »normale statistische Abweichung« betrachten. Vielfach wird auch noch immer das schon widerlegte Argument hervorgebracht, hörbehinderte Kinder würden zu sprechen aufhören, wenn ihnen eine Gebärdensprache angeboten wird. LogopädInnen wiederum orientieren sich ebenso fast ausschließlich auf die Förderung der gesprochenen Sprache.62 Zu befürchten ist, dass ähnlich »schiefe« Darstellungen auch und vor allem in der deutschsprachigen Psychologie und verschiedenen Sozialwissenschaften existieren;63 entsprechende textkritische Untersuchungen stehen aus.

62 | Vgl: Katharina Schreiber und Mirjam Tauber, »Die logopädische Arbeit bei hörbeeinträchtigten Kindern im Schulalter«, logo Thema 13 (2016): 6-9. 63 | Zu gegenläufigen Entwicklungen in den USA vgl. Marion A. Schmidt, »Planes of Phenomenological Experience: The Psychology of Deafness as an Early Example of American Gestalt Psychology, 1928-1940«, History of Psychology 20 (2017): 347-364.

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D ie ak tuelle B ildungssituation gehörloser und hochgr adig schwerhöriger K inder Gesetzliche Regelungen für Gehörlosenschulen und die Inklusion In Österreich stammen die gehörlose Menschen betreffenden Schulgesetze im Grundsatz noch aus der »oralen Tradition«. Sie wurden allerdings in der jüngeren Vergangenheit als Reaktion auf die Emanzipationsbewegungen behinderter Menschen und entsprechende nationale und internationale Aktivitäten geringfügig in Richtung einer Öffnung hin zu einem stärkeren Gebrauch der ÖGS verändert. Entsprechende Veränderungen lassen sich auch aus den pädagogisch ausgerichteten Dokumenten der Bundesregierung und der Bundesländer ablesen.64 Seit 1993 können behinderte Kinder anstatt Sonderschulen auch inklusive Volksschulen besuchen; seit 1996 gilt das für die gesamte Pflichtschulzeit bis zum Alter von 14 Jahren.65 Viele Sonderschulen und speziell Gehörlosenschulen wurden seither geschlossen. Die z.T. aus den früheren Sonderschulen entstandenen Sonderpädagogischen Zentren der Bundesländer betreuen die Kinder in inklusiven Klassen und finanzieren unter bestimmten Bedingungen eine zweite Lehrperson oder GebärdensprachdolmetscherInnen. Trotzdem ist die ÖGS noch immer keine Unterrichtssprache. Dies, der Mangel an qualifizierten Fachkräften und Ressourcen sowie die Tatsache, dass die wohnortnahe Inklusion bei bilingual orientierten gehörlosen Kindern zu sprachlicher Isolation führt, ist der Grund für die weiter anhaltende strukturelle Diskriminierung der meisten dieser Kinder von der Frühförderung bis in den tertiären Bereich. Gehörlose Kinder haben bis heute in Österreich nicht das Recht auf einen wirklich bilingualen Unterricht in ÖGS und Deutsch, der den Eltern eine tatsächliche Wahlfreiheit bezüglich der Bildung ihrer Kinder verschaffen würde. Aus diesem Grund geraten die bestehenden bilingualen Klassen immer wieder unter Druck, wenn z.B. in einem neuen Schuljahr weniger gehörlose Kinder angemeldet werden: Dann drohen Stundenkürzungen speziell für gebärdensprachkompetente LehrerInnen. Davon sind oft zuerst die wenigen qualifizierten gehörlosen LehrerInnen betroffen. Als prinzipieller Ausweg bieten sich permanente, inklusiv geführte bilinguale Klassen, die auch hörende Kinder aufnehmen und unabhängig vom Hörstatus jedes Kind in ÖGS und 64 | Krausneker und Schalber, »Sprache Macht Wissen«, Kap. 7-10. 65 | Zu höheren Schulen vgl. Angela Klumper, »Dazugehören? Erfahrungen gehörloser/ hörbehinderter Schulabsolvent/innen aus integrativen Settings höherer Schulen mit ihrer sozialen Integration in der Klassengemeinschaft« (Diplomarbeit, Universität Wien, 2011).

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Deutsch unterrichten. Solche Klassen werden aufgrund des besseren Betreuerschlüssels auch von Eltern hörender Kinder (speziell auch CODA-Kinder) gern angenommen. Als Argument gegen die Erhöhung der Anzahl solcher Einrichtungen wird von Verwaltungsseite manchmal die notwendige finanzielle Rechtfertigung vor dem Rechnungshof angeführt, allerdings nie offensiv eine Schulpolitik vertreten bzw. gesetzlich eingeführt, die hörbehinderten Kindern eine inklusive bilinguale Bildung ermöglicht. Auch werden diese Klassen nicht beworben (dazu wäre etwa die Bildungsberatung umzustellen bzw. zu qualifizieren). Interessierten Eltern wird sogar geraten, anstatt dieser Klassen lieber eine wohnortnähere Schule für ihr Kind zu wählen; in manchen Fällen wird ihnen gar kein Schulplatz in einer solchen Einrichtung zugestanden. Die als Alternative vorgeschlagene mobile Förderung kann nicht dieselben Leistungen bieten wie die Schule, weil die Förderung zu selten und nicht im nötigen Ausmaß erfolgt. Den Kindern werden oft eine reduzierte Gebärdensprache als nicht gleichberechtigte »Hilfssprache« und nur die wichtigsten Bildungsinhalte angeboten.66 Der Film Seeing Voices 67 beweist, dass viele gehörlose und schwerhörige Jugendliche, denen am BIG die Gebärdensprache verweigert wurde, nach Abschluss dieser Schulen nachträglich am Equalizent68 die ÖGS erlernen. Auch benötigen sie ein entsprechendes Berufscoaching, um sich später erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt neben hörenden Schulabgängern bewerben zu können. Die Kosten für die Reparatur der veralteten Gehörlosenbildung wurden noch nie festgestellt; sie können daher nicht als ein Argument für eine angemessene Bildung und Ausbildung hörbehinderter Kinder verwendet werden.

Die Schulpraxis Fehlende Spezialisierung der Sprachstandsfeststellung Beim Übergang vom Kindergarten in die Schule wird neuerdings eine Sprachstandsfeststellung eingesetzt, um einen allfälligen Förderbedarf in der Schule feststellen zu können. In der Volksschule wird der Sprachstand dann in Abständen ebenfalls geprüft: »Mithilfe von USB PluS [systematisches Verfahren zur Feststellung der mündlichen Sprachkompetenz] werden Kompetenzprofile für die Schüler/innen erstellt. Auf Basis dieser Ergebnisse werden schließlich konkrete Anregungen und Materialien zur Sprachbildung und -förderung angeboten.«69 Da sich die zuständigen Institutionen, insbesondere das BIFIE 66 | Krausneker und Schalber, »Sprache Macht Wissen«, Kap. 9 und 10. 67 | Seeing Voices, Dokumentarfilm Österreich 2017, Drehbuch Dariusz Kowalski. 68 | Das Equalizent (https://www.equalizent.com/) ist ein Schulungs- und Beratungsinstitut für gehörlose und schwerhörende Personen in Wien. 69 | Information des BIFIE zu USB PluS auf https://www.usbplus.at/.

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(Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens) nicht mit den spezifischen Bedürfnissen schwerhöriger und gehörloser Kinder auseinandergesetzt haben, steht zu befürchten, dass diese entweder aus solchen Untersuchungen ganz herausgenommen werden oder sehr schlecht beurteilt werden, weil lediglich der mündliche Sprachgebrauch überprüft wird. Es gibt auch keine Konzepte für die Sprachförderung gehörloser und schwerhöriger SchülerInnen im Zusammenhang mit der Sprachstandsfeststellung in Kindergarten und Grundschule.

Informelle und regional geduldete Lösungen Die Schulpraxis war bis in die jüngste Zeit dadurch geprägt, dass aufgrund regionaler bzw. individueller Initiativen Schulversuche oder informelle Lösungen für die Gehörlosenbildung eingeführt wurden. Die Schulversuche in Klagenfurt, Graz und Wien70 sind ausgelaufen, informelle Lösungen wurden z.T. in eine Art akzeptierte »weiche« bilinguale Förderung umgewandelt (Gehörlosenschule Salzburg, Gehörlosenklasse in Klagenfurt, Neue Mittelschule/NMS Pfeilgasse Wien, steirische Förderklassen) und vom Bundesministerium für Bildung bzw. den Landesschulräten in unterschiedlichem Ausmaß gefördert. Dasselbe gilt für Einzelinklusion mithilfe von DolmetscherInnen, LehrerInnen, die freiwillig eine gewisse Gebärdensprachkompetenz erworben haben, oder gehörlose LehrerInnen bzw. AssistentInnen. Für das einzelne Kind besteht allerdings kein Rechtsanspruch auf eine angemessene Gestaltung seiner Bildung, was immer wieder zu Problemen und »Krisenfällen« führt. Die Situation ist mit einem »double bind«-Verhalten der Behörden bzw. der PolitikerInnen zu beschreiben: Die andauernde Diskriminierung bilingual orientierter SchülerInnen wird in deren Kommunikationen überhaupt nicht angesprochen. Statt der damit tabuisierten niedrigen Leistungsfähigkeit des nicht oder nur in Ansätzen bilingualen Unterrichts wird immer nur verkündet: »Wir leisten eh so viel an Unterstützungsmaßnahmen.« 71 Es ist auch tatsächlich richtig, dass der Förderaufwand für hörbehinderte SchülerInnen manchmal – finanziell bzw. personell gesehen – recht hoch ist. Allerdings ist er aufgrund der unbefriedigenden Gesetzeslage oft unangemessen, was das Verhältnis von Aufwand zu Erfolg betrifft: Der Förderaufwand wird als bloße »Inklusionshilfe« für eine Person mit einer hochgradigen Hörbehinderung innerhalb eines Systems verstanden – was dem Ziel der Inklusion widerspricht

70 | Vgl. den untenstehenden Abschnitt zu »Initiativen innerhalb von Kindergärten und Schulen« in diesem Band. 71 | Der jüngste Beleg dafür ist das Antwortschreiben des Bundesministeriums für Bildung an den Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments vom 19. April 2017 (GZ. BMB-13.261/0014-Präs.6/2017).

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– und daher werden keine entsprechenden didaktisch-methodischen Konzepte entwickelt bzw. angewandt. Da die ÖGS nicht als Unterrichtsfach angeboten wird, haben bilingual orientierte hörbehinderte SchülerInnen keine Möglichkeit, ihre Muttersprache alters- und schulstufengemäß zu entwickeln. Dies diskriminiert sie sowohl gegenüber Migrantenkindern als auch gegenüber Angehörigen der Volksgruppensprachgemeinschaften. Während die Pflege der Muttersprache sowohl bei Migrantenkindern als auch bei Kindern der Volksgruppen als für ihre eigene und familiäre Entwicklung und die Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft als Wert gesehen wird und durch das Schulunterrichtsgesetz (SchUG) gefördert wird, ist dies für die ÖGS nicht der Fall: Dies bedeutet auch bezüglich der Identitätsentwicklung dieser SchülerInnen eine erhebliche Diskriminierung, da sie diesen Wertunterschied tagtäglich miterleben müssen. Da es – mit wenigen Ausnahmen von Projektergebnissen – praktisch keinerlei Unterrichtsmaterialien in ÖGS gibt (solche müssten eigentlich für jedes Schulfach und jede Schulstufe systematisch vorhanden sein, wie das für die gesprochenen Sprachen gilt), ist sowohl die methodisch gebotene Verwendung solcher Materialien ausgeschlossen als auch das Selbstlernen anhand solcher Materialien unmöglich. Dadurch wird den SchülerInnen auch das mögliche aktive Nachund Selbstlernen über ihre Muttersprache zu Hause verwehrt – etwas, das jedes Kind bezüglich einer der anerkannten Unterrichtssprachen tun kann bzw. was von ihm auch erwartet wird, um den Schulerfolg sicherzustellen. Da die ÖGS nicht als Unterrichtssprache verwendet werden darf, sind die SchülerInnen gezwungen, alle Unterrichtsinhalte entweder über geschriebenes Deutsch oder über eine – qualitativ teilweise unzureichende und aus pädagogisch-methodischer Sicht belastende – »Dolmetschung« in die ÖGS aufzunehmen. Für das geschriebene Deutsch gilt, dass seine Verwendung einen erheblichen kognitiven Mehraufwand bedeutet, damit auch einen höheren Zeitaufwand und Missverständnisse bzw. nur teilweises Verständnis des Inhaltes nicht auszuschließen sind. Auch eine qualitativ hochwertige Dolmetschung ist aus methodischen Gründen kein Ersatz für einen Unterricht in ÖGS als Unterrichtssprache. Es müssen pädagogische Vorkehrungen getroffen werden, damit die Unterrichtssprache schülergerecht verwendet wird.72 Es muss ausreichend Zeit für die kognitive Verarbeitung, zum Nachfragen in derselben Sprache und zur Herstellung einer individuellen Dokumentation/Speicherung der für das Lernen wichtigen Unterrichtsinhalte vorhanden sein (in welcher 72 | Vgl. Krausneker, Blümer und Taubstumm, Krausneker und Schalber, »Sprache Macht Wissen«, Kap. 11 und 17; Franz Dotter, »What Language Development in Deaf and Hard of Hearing Children Should Look Like«, in English as a Foreign Language for Deaf and Hard of Hearing Persons in Europe, Hg. Ewa Domagała-Zysk (Lublin: Wydawnictwo KUL, 2013), 27-44.

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Form auch immer: Mitschreiben auf Deutsch, Videoprotokoll der Instruktion in ÖGS). Alle diese pädagogischen Selbstverständlichkeiten können wegen fehlender Vorkehrungen meist nicht angeboten werden, weswegen die gesamte Unterrichtssituation – bei allem Bemühen der LehrerInnen – als teilweise und dauernd diskriminierend zu sehen ist. Muttersprachlich ÖGS-kompetente gehörlose GebärdensprachlehrerInnen mit einer abgeschlossenen Hochschullehrgangsausbildung dürfen nicht als LehrerInnen eingesetzt werden, weil sich das Bildungsministerium seit Jahren weigert, eine von der Pädagogischen Hochschule Kärnten und der Universität Klagenfurt vorgeschlagene pädagogische Zusatzausbildung einzurichten. Das Fehlen der ÖGS als Unterrichtssprache hindert die SchülerInnen auch daran, bei Prüfungen oder Hausarbeiten wählen zu können, ob sie die geforderte Arbeit in ihrer Muttersprache oder in der Fremdsprache Deutsch erbringen. Die Tatsache, dass sie alle Arbeiten auf Deutsch erbringen müssen, diskriminiert sie erneut und dauernd. Die Auswahl von GutachterInnen bzw. ExpertInnen für den Bildungsbereich durch die Schulbehörden erfolgt nach wie vor sehr einseitig zu Gunsten gebärdensprachferner oder gar feindlicher Personen. Das führt dazu, dass in vielen Einzelfallbeurteilungen hörbeeinträchtigter Kinder festgestellt wird, diese würden »keine Gebärdensprache benötigen«. Eine solche Haltung nehmen z.B. die Tiroler und Vorarlberger Schulbehörden als Ganzes ein. Das Bundesministerium für Bildung betreibt für das Thema der Inklusion behinderter SchülerInnen das Portal »Community Integration Sonderpädagogik« (CIS). Dort werden unter dem Förderschwerpunkt »Hören« einige pädagogische Informationen angeboten. Unter dem Unterpunkt »Unterrichtsmaterialien« findet sich zwar auch der Unterpunkt »Gebärdensprache«. Hier wird u.a. auf das Zentrum für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation der Universität Klagenfurt sowie auf die ÖGS-Datenbank »LedaSila« verwiesen. Doch handelt es sich dabei um ein Projekt der Universität Klagenfurt. Eigenes Unterrichtsmaterial gibt das vom Bundesministerium für Bildung betriebene Portal CIS nicht heraus.73

73 | Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF), »Community Integration Sonderpädagogik«, Zugriff 18.9.2018, www.cisonline.at/.

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Nichtregierungsinitiativen Bildungsinitiativen der Gehörlosenvertretungen Der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB)74 als Dachorganisation der Gehörlosenverbände in den sechs Bundesländern (der einzige größere Verein außerhalb des ÖGLB ist der WITAF75) hat seit der Übernahme durch das neue Team Helene Jarmer (Präsidentin) und Lukas Huber (Generalsekretär) eine große Anzahl von Initiativen gestartet und sich vielfach für die Interessen der Österreichischen Gebärdensprachgemeinschaft und die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft eingesetzt (z.B. Zeitschrift Gebärdensache, Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen und Kundgebungen, Aktivitäten auf Facebook und Twitter).76 Auf die Initiative des ÖGLB geht u.a. das Portal »oegs-barrierefrei« mit seinem Telefondolmetscherdienst zurück.77 Die regionalen Landesverbände der Gehörlosenvereine sind ebenfalls aktiv und führen Informationsveranstaltungen sowie (Weiter-)Bildungsprojekte durch.78 Das Bundesministerium für Bildung akzeptiert den ÖGLB aber nicht als Gesprächs- oder Kooperationspartner, sondern versucht vielmehr, seine VertreterInnen aus Entscheidungsprozessen herauszuhalten. So wurde Präsidentin Jarmer als ausgebildeter Pädagogin die Teilnahme an einer ministeriellen Arbeitsgruppe, die sich seit 2003 mit der Erarbeitung eines neuen Lehrplans beschäftigte, ausdrücklich verweigert. Sämtliche Anliegen wurden bisher abschlägig beschieden.

74 | Österreichischer Gehörlosenbund, www.oeglb.at/. 75 | WITAF, www.witaf.at. Weiter sei verwiesen auf den Verein Österreichischer Gehörloser Studierender (www.voegs.at/), den Österreichischen GebärdensprachlehrerInnen-Verband (www.oegslv.com) sowie den Österreichischer Gebärdensprach-DolmetscherInnen- und -ÜbersetzerInnen-Verband (www.oegsdv.at/). 76 | Vgl. ÖGLB [Österreichischer Gehörlosenbund], Hg., 1. Diskriminierungsbericht der Österreichischen Gebärdensprachgemeinschaft (Wien: ÖGLB, 2004); ÖGLB, Hg., Diskriminierungsbericht 2005. Mit Extra-Teil: Lebenssituationen gehörloser Menschen in Österreich (Wien: ÖGLB, 2005); ÖGLB, Hg., Ziel: Chancengleichheit – 3. Diskriminierungsbericht 2007/08 (Wien: ÖGLB, 2008). 77 | ServiceCenter ÖGS barrierefrei, www.oegsbarrierefrei.at/ueber-uns/bzw. RelayService, www.relayservice.at/. 78 | Zur Selbstorganisation und zu den Entwicklungen in der österreichischen Gebärdensprachgemeinschaft vgl. Krausneker, Taubstumm, Kap 2.

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Initiativen innerhalb von Kindergärten und Schulen Obwohl die gesetzliche Grundlage dürftig ist, entstanden nach ersten Schulversuchen79 in den letzten Jahren an einigen Schulen (BIG-Dependance Pfeilgasse, Klagenfurt, Salzburg) verschiedene stabilere Formen »bilingualer« Klassen bzw. Integrationsklassen mit verstärktem Einsatz der ÖGS im Unterricht. Die Gemeinde Wien führt seit 2004 einen inklusiven bilingualen Kindergarten (Gussenbauergasse).

Bilinguale inklusive Mehrstufenklasse NMS Pfeilgasse Seit dem Schuljahr 2012/13 läuft an der Neuen Mittelschule Pfeilgasse (Sekundarstufe) in Wien ein bilinguales Schulprojekt mit derzeit etwa 15 gehörlosen bzw. schwerhörigen und ca. 60 hörenden SchülerInnen im Alter von 6-15 Jahren (insgesamt 8 Schulstufen in drei Klassen). Der Unterricht wird bilingual, inklusiv und mehrstufig durchgeführt. Alle, auch die hörbehinderten SchülerInnen, werden nach dem Regelschullehrplan unterrichtet; für die Hauptfächer (Deutsch, Englisch, Mathematik) kann dieser geändert werden; insgesamt ist für die hörbehinderten Kinder jeweils ein methodisch-didaktisch umgesetzter »Nachteilsausgleich« möglich. In den Unterrichtsstunden sind jeweils zwei oder drei LehrerInnen, darunter auch gebärdensprachkompetente und gehörlose, eingesetzt).80

Inklusive Klassen in Salzburg Am Landeszentrum für Hör- und Sehbildung und Zentrum für Inklusionsund Sonderpädagogik, Salzburg werden in insgesamt 14 Klassen hörbehinderte SchülerInnen, solche mit zusätzlichen Behinderungen, sowie in den inklusiven Klassen auch hörende Kinder unterrichtet. In einigen Klassen gibt es den schulautonomen Schwerpunkt »ÖGS als lebende Fremdsprache« (zwei Wochenstunden als Pflichtfach). Hier gilt ein Zwei-Lehrer-System (eine gehörlose mit Gebärdensprache als Muttersprache und eine Lehrerin mit ÖGS-Dolmetschdiplom). Eingesetzte Lehrpläne: Regellehrpläne der Volks- und Hauptschule, der Neuen Mittelschule, der Vor- und Sonderschule für Gehörlose, Vorschule für Gehörlose, Allgemeine Sonderschule, Lehrplan für Schwerstbehinderte und Polytechnischer Lehrgang für Gehörlose.

79 | Vgl. Magret Pinter, »Klagenfurter Unterrichtsprojekt: Bilinguale Förderung hoergeschädigter Kinder in der Gehörlosenschule«, Das Zeichen 6 (1992): 145-150. 80 | Mittelschule Pfeilgasse, http://pfeilgasse42b.schule.wien.at/mehrstufenklassen/big; Zu Methoden und Ergebnissen vgl. Silvia Kramreiter, Bilingualer inklusiver Unterricht bei hörbeeinträchtigten und hörenden Schülern – Ein innovatives Unterrichtskonzept (Heidelberg: Median, 2016).

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Im Mobilen Sonderpädagogischen Dienst werden alle integrativ beschulten SchülerInnen mit Hör- und/oder Sehbeeinträchtigung im Land Salzburg betreut (ca. 60 SchülerInnen an 45 Schulen; Alter von Vorschule bis Matura.81

Förderklassen in Graz Der bilinguale Schulversuch in Graz (ab 1995) wurde für Förderklassen in den Regelschulbetrieb übernommen.82

Initiativen in der Lehrerausbildung Die Kirchliche Pädagogische Hochschule (KPH) Wien/Krems entwickelte eine Fortbildungsreihe für LehrerInnen, FrühförderInnen, KindergärtnerInnen, PädagogInnen usw. zur ÖGS, die bis zum Niveau B1 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen führt. Die KPH Graz, das Landeszentrum für Hör- und Sehbildung Salzburg und die Lebenswelt Linz haben dieses Konzept übernommen. Den Pädagogischen Hochschulen wurden Kurzangebote zur Motivation Interessierter angeboten, die einen Schnupperkurs in ÖGS und Informationen zur Gebärdensprachpädagogik beinhalten. Die PädagogInnen müssen sich Fortbildung aber selbst finanzieren. Alle diese Initiativen wurden gegen Widerstände, im besten Fall mit Duldung der Bundes- und Landesschulbehörden durchgesetzt. Ausbildungen für GebärdensprachlehrerInnen wurden von den Universitäten Graz und Klagenfurt entwickelt und abgehalten. Die gehörlosen AbsolventInnen dieser Ausbildungen sind an verschiedenen Schulen und Bundesbildungsanstalten für Kindergartenpädagogik – was die Schulgesetze betrifft, praktisch »unter der Hand« – überall dort im Einsatz, wo es entsprechende bilingual orientierte Netzwerke gibt; allerdings nur auf Freifachbasis.

Initiativen außerhalb von Schulen Seit 2004 bietet der Verein Kinderhände83 in Wien bilingual-bikulturelle Förderung bzw. Kurse für Kinder und Eltern, in denen jeweils eine gehörlose und eine hörende TrainerIn zusammenarbeiten. Equalizent in Wien bietet ein vielfältiges Bildungs- und Berufsbildungsangebot sowie Beratung.84

81 | Josef Rehrl Schule, www.josef-rehrl-schule.salzburg.at/2014-05-12-09-52-56/ standortbezogenes-foerderkonzept.html. 82 | Helga Kordas, »Inklusionsmodell Bilingualität Graz«, Erziehung und Unterricht 166, Nr. 9-10 (2016): 1-5. 83 | Kinderhände, www.kinderhaende.at/. 84 | Equalizent, https://www.equalizent.com/.

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D ie F orderungen gehörloser M enschen Forderungen gehörloser Menschen lassen sich – übrigens in Übereinstimmung mit der World Federation of the Deaf und der European Union of the Deaf – zusammenfassen in: • Bilinguale Bildung mit ÖGS • Barrierefreiheit und Chancengleichheit in allen Lebenslagen. Insbesondere fordert der ÖGLB Schwerpunktkindergärten und -schulen, in denen eine bilinguale Erziehung und Bildung gewährleistet ist, um die Isolation gehörloser Kinder zu verhindern. Außerdem sollten für engagierte LehrerInnen auf Wunsch DolmetscherInnen bezahlt werden, damit sie ihren Unterricht verbessern können. Entsprechende parlamentarische Anträge der Grünen wurden abgelehnt oder vertagt. Die Verbesserung der Dolmetschsituation ist ein weiteres zentrales Anliegen des ÖGLB (anstatt der für eine umfassende Inklusion nötigen ca. 600 gibt es derzeit nur ca. 110 DolmetscherInnen). Auf eine Initiative des ÖGLB gemeinsam mit dem Landesverband Salzburg hin kam ein Ausbildungsprojekt für taube DolmetscherInnen (»LOGO!«, viersemestriger Universitätslehrgang in Salzburg) zustande. Da die Mehrsprachigkeit an Schulen inklusive der besonderen Förderung der jeweiligen Muttersprache vom Bundesministerium für Bildung offensiv unterstützt wird 85, muss auch die ÖGS hier miteinbezogen werden. Kinderrechte sind in der Verfassung verankert. Dementsprechend müssen gehörlose Kinder nach ihren Bedürfnissen gefragt bzw. Maßnahmen zum Schutz von CODA-Kindern gegen deren Missbrauch als DolmetscherInnen gesetzt werden.

Ö sterreichs politisch - rechtliche S tr ategien Der Gesetzesvorbehalt Die Strategie der Österreichischen Bundesregierung und ihrer Schulbehörden (federführend ist hier das Bundesministerium für Bildung) ist, bei Beschwerden individuell positive Regelungen (meist als zeitlich begrenzte Schulversuche oder Projekte) zuzulassen; gleichzeitig werden aber die generelle Umsetzung der sprachlichen Menschenrechte der Gehörlosen und ihres Rechts auf Bildung verhindert. Der Nationalrat unterstützt diese Strategie bisher: Bun85 | Vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF), »Schule mehrsprachig«, www.schule-mehrsprachig.at/.

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desregierung und Parlament verhindern einschlägige Initiativen (z.B. parlamentarische Initiativen der Grünen, Anträge von Eltern gehörloser Kinder an das Bundesministerium für Bildung) durch die Anwendung von Schulgesetzen, die weder nach der Anerkennung der ÖGS noch nach der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entsprechend reformiert wurden. Diese Schulgesetze berücksichtigen daher die besonderen Bedingungen der Verwendung der ÖGS als Unterrichtssprache nicht. Um diese veralteten Gesetze beibehalten zu können, wendet das Parlament das Instrument des Gesetzesvorbehalts missbräuchlich an: Mit einem Gesetzesvorbehalt nach Art. 50 Abs. 2, Ziffer 3 Bundes-Verfassungsgesetz (BVG) beschlossene völkerrechtliche Verträge sind nicht unmittelbar anwendbar, d.h. weder kann sich jemand vor Gericht auf die darin festgelegten Grundrechte berufen, noch kann eine Behörde sie zur Grundlage von Entscheidungen machen. Ein solcher Gesetzesvorbehalt wurde auch bezüglich der Anerkennung der ÖGS in der Verfassung formuliert: Die Österreichische Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt. Das Nähere bestimmen die Gesetze. (Art. 8 Abs. 3 B-VG).86 Ein Gesetzesvorbehalt ermöglicht entweder Beschränkungen eines Grundrechts mittels einfacher Gesetze (z.B. können Grenzen der Versammlungsfreiheit festgelegt werden). Oder er ist ein Erfüllungs- bzw. Ausgestaltungsvorbehalt bezüglich einer innerstaatlichen Verfassungsbestimmung: Er besagt dann, dass der Gesetzgeber in absehbarer Zeit eine einfachgesetzliche positive Ausgestaltung des Grundrechts in Aussicht nimmt.87 Ein Erfüllungsvorbehalt dient also nur dazu, um Zeit für die innerstaatliche Umsetzung eines Staatsvertrages zu gewinnen, damit keine Widersprüche im Rechtssystem entstehen und die im Vertrag formulierten Rechte und Pflichten rechtssystemkonform anwendbar werden oder – analog – damit ein innerstaatlich neu gesetztes Grundrecht rechtssystemkonform umgesetzt werden kann. Die Anerkennung der ÖGS hat ein neues sprachliches Grundrecht eingeführt. Die Verwendung der ÖGS in der Bildung gehört zu den zentralen Teilen des Schutzbereichs dieses Rechts. Daher kann der Gesetzesvorbehalt nur als Erfüllungs- bzw. Ausgestaltungsvorbehalt interpretiert werden. Es besteht also eine Verpflichtung von Gesetzgeber und Bundesregierung, das Grundrecht auf Verwendung der ÖGS auch im Bildungsbereich, z.B. durch eine Änderung

86 | Alle zitierten Gesetze sind im Internet unter Rechtsinformationssystem des Bundes, www.ris.bka.gv.at/abrufbar. 87 | Daher sieht Manfried Welan einen solchen Vorbehalt als »Auftrag an den Gesetzgeber«. Vgl. Manfried Welan, »Über die Grundrechte und ihre Entwicklung in Österreich«, Österreich in Geschichte und Literatur 4-5 (2002), Zugriff 18.9.2018, www.demokra tiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/welan_grundrechte.pdf.

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der entsprechenden Schulgesetze, umzusetzen. Seit 2005 sind die verantwortlichen PolitikerInnen bezüglich einer solchen Umsetzung säumig. Dieselbe Strategie wurde im Fall der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen angewandt: Gemäß deren Art. 21 ist die Verwendung von Gebärdensprachen anzuerkennen und zu fördern. Gemäß Art. 24 haben die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung sicherzustellen. Gemäß Art. 30 haben Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt einen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen und kulturellen und sprachlichen Integrität, was insbesondere die Gehörlosenkultur und die Gebärdensprachen einschließt. Die Republik Österreich, genauer Gesetzgeber und Bundesregierung, wären also verpflichtet, bilingual orientierten gehörlosen und schwerhörigen Kindern einen barrierefreien Zugang zum Bildungssystem zu ermöglichen. Trotzdem wurden entsprechende gesetzliche Bestimmungen für die österreichischen Schulen noch nicht erlassen. Da die Konvention unter Gesetzesvorbehalt ratifiziert wurde,88 kann – wie oben bereits beschrieben – keine behinderte Person sich direkt auf sie berufen. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist allerdings trotz eines Gesetzesvorbehalts der Inhalt solcher Verträge zur völkerrechtskonformen Interpretation der Grundrechte heranzuziehen89, was die Schulbehörden bisher nachweislich nicht tun. Aufgrund der Ratifizierung des zur Konvention gehörigen Fakultativprotokolls durch Österreich besteht weiterhin ein internationales Beschwerderecht, ein »Mechanismus für Individual- und Gruppenbeschwerden zur Sicherstellung der Konventionsrechte«, das nach Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe angerufen werden kann. Dies bedeutet aber, dass ein meist mehrjähriger Rechtsweg durch die österreichischen Instanzen zurückgelegt werden muss, um eine solche Beschwerde einreichen zu können. Daher konnte eine entsprechende Beschwerde erst 2017 erhoben werden. Der Nationalrat behauptet, Behindertenrechte seien in der österreichische Gesetzgebung bereits »weitestgehend« implementiert worden und es herrsche »völlige Übereinstimmung« der Ziele des Gesetzgebers und der Konvention:

88 | Österreichischer Nationalrat, Vorblatt zur Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 564 der Beilagen, XXIII. GP, 2008, www.ris.bka.gv.at/dokumente/regv/regv_coo_2026_100_2_449669/coo_2026_ 100_2_456038.pdf. 89 | Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Innsbruck, Gutachten über die aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erwachsenden Verpflichtungen Österreichs (Innsbruck: Universität Innsbruck, 2014).

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Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber Den sich aus dem Übereinkommen ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen wurde im Rahmen der österreichischen Rechtsordnung bereits weitestgehend entsprochen. […] Eine bewusst weite Fassung des Begriffs der Kommunikation stellt sicher, dass insbesondere sinnesbehinderten Menschen durch geeignete Maßnahmen (Braille-Textur, Sprachausgabe, Gebärdensprache) die Teilhabe in allen maßgeblichen Lebensbereichen ermöglicht wird. […] Das Recht auf Bildung ist im Übrigen durch Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK gewährleistet. 90

Diese Behauptung ist, bezogen auf die Bildung bilingual orientierter hörbehinderter Kinder, unrichtig: Keine der notwendigen Maßnahmen wurde bisher umgesetzt. Die Diskriminierung dieser SchülerInnen hält unvermindert an, da ihnen keinerlei muttersprachlichen Sprachenrechte zugestanden werden. Stattdessen gibt es lediglich – z.T. pädagogisch- didaktisch inadäquate – »Hilfestellungen«, welche auch den Einsatz der ÖGS beinhalten, ohne aber deren Sprachcharakter sowie die Voraussetzungen für individuelle Sprachentwicklung zu berücksichtigen, ebenso ohne die entsprechenden Standardvoraussetzungen in der Ausbildung von Förder- und Lehrkräften realisiert zu haben (Lehrpläne, Standardausbildung in ÖGS als Unterrichtssprache, Präsentation der ÖGS als gleichberechtigter Sprache). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Gesetzesvorbehalt missbraucht wird, um einerseits vor der internationalen Gemeinschaft gut dazustehen, weil man ja das internationale Abkommen ratifiziert bzw. eine entsprechende innerstaatliche Neuregelung beschlossen hat, und andererseits um auf nationaler Ebene auf Dauer zu verhindern, dass sein Inhalt Grundlage des politisch-administrativen Handelns wird, auf das sich die BürgerInnen berufen können.

Doppelspiel von E xekutive und Legislative Es ist bekannt, dass sehr viele Gesetzesvorlagen von der Bundesregierung eingebracht werden und das Parlament – in dem die Mehrheit der Abgeordneten den Regierungsparteien angehört – selten eigene Initiativen setzt. In Sachen ÖGS als Unterrichtssprache erklärt das Parlament, also der Gesetzgeber, auf Anfrage, das Bundesministerium für Bildung habe noch keine entsprechende Gesetzesvorlage zur Umsetzung des Art. 8 Abs. 3 B-VG im Bildungsbereich eingebracht. Umgekehrt behauptet die »Exekutive«, das Bildungsministerium, 90 | Österreichischer Nationalrat, Vorblatt zur Ratifizierung der UN-Konvention.

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das Parlament verhindere mit seinem Gesetzesvorbehalt die Einbringung eines Umsetzungsvorschlags, weil es sich damit die Entscheidung vorbehalten habe. Dieses Doppelspiel beweist, dass die Regierungsmehrheit des Nationalrats keine Initiative im Interesse der ÖGS als Unterrichtssprache setzen wird. Die Ablehnung eines entsprechenden Initiativantrags der Grünen91 zeigt sogar die gegenteilige Tendenz. Die Hauptrolle in diesem Doppelspiel nimmt das Bundesministerium für Bildung ein. Es führt seit Jahren einen Kampf mit allen Mitteln gegen die Einführung der ÖGS als Unterrichtssprache.92 Positive politische Beispiele aus dem Ausland wie der niederländische »Convenant«93 oder der jüngere politisch-administrative Prozess in Irland94 bleiben unberücksichtigt.

Der Status des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes Das an sich fortschrittliche Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz wurde lediglich als einfaches Gesetz beschlossen, sodass es gegen andere einfache Gesetze – wie die Schulgesetze – nicht wirksam werden kann, wenn diese diskriminierende Bestimmungen enthalten. Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, mit dessen §2, 4, 5 und 8 bilingual orientierte hörbehinderte SchülerInnen mittelbare und unmittelbare Diskriminierung durch die Schulgesetze nachweisen könnten, wird im Beschlussvorblatt des Nationalrats zur UN-Behindertenkonvention fälschlicherweise als Umsetzung einer entsprechenden EU-Richtlinie interpretiert. Da es aber nicht im Verfassungsrang steht, können sich von Diskriminierung Betroffene nicht im Sinne der EU-Richtlinie darauf berufen. Obwohl dieses Gesetz eine umfassende Definition des gleichberechtigten Zugangs bzw. von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung enthält, kann diese nicht umfassend angewandt werden, sondern allenfalls als Leitlinie zur Beurteilung von Sachverhalten dienen. 91 | Ebd. 92 | Franz Dotter, Dokumentation zur Diskriminierung gebärdensprach-orientierter SchülerInnen durch das österreichische Unterrichtsministerium (Klagenfurt: Eigenverl. Zentrum für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation der Alpen-AdriaUniv. Klagenfurt, 2013). 93 | Dieser 1998 zwischen dem niederländischen Gehörlosenverband und anderen Vereinen sowie von Bildungsinstitutionen mit dem niederländischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft abgeschlossene Vertrag hat zu einer Standardisierung der Niederländischen Gebärdensprache und ihrer Verwendung in der Bildung gehörloser Menschen geführt (Trude Schermer, »Standaardisatie en nu?«, Van Horen Zeggen 44, Nr. 1 (April 2003): 15-19, https://www.gebarencentrum.nl/media/33501/stdnu.pdf). 94 | Vgl. The Catholic Institute for Deaf People et al., »Education Policy for Deaf and Hard of Hearing People in Ireland« (2009).

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Die Strategie des Nationalen Aktionsplans Behinderung Charakteristisch für die Regierungsstrategie ist eine Antwort des Sozialministeriums auf eine Anfrage bezüglich der Einführung der ÖGS als Unterrichtssprache:95 Es wird lediglich auf »eine Verstärkung der Ausbildung von GebärdensprachlehrerInnen sowie GebärdensprachdolmetscherInnen« hingewiesen, weiterhin darauf, dass für eingestandenermaßen notwendige Verbesserungen entsprechende »Schritte vom zuständigen Bildungsministerium sowie dem Parlament […] zu setzen« wären. Ansonsten werden die »guten Ansätze« des Nationalen Aktionsplans (NAP) Behinderung hervorgehoben. Trotz großer Beteiligung der Zivilgesellschaft in zwei vom Sozialministerium organisierten Konferenzen und vielen schriftlichen Stellungnahmen haben letztlich die einzelnen Ministerien in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich entschieden, welche der vorgeschlagenen Maßnahmen in den NAP aufgenommen wurden. Damit konnte das Bundesministerium für Bildung den von der Zivilgesellschaft bereits eingebrachten Vorschlag, die ÖGS als Unterrichtssprache einzuführen, blockieren. Das Sozialministerium präsentiert nun die übrig gebliebenen Einzelmaßnahmen als Beweis der Aktivität. Am 15. Juni 2015 hat der ÖGLB dazu ausführlich Stellung genommen und seine Forderungen auch mit den entsprechenden Gesetzesstellen begründet.96

W as tun eigentlich I nstitutionen , welche behinderte M enschen unterstüt zen sollen ? Der Österreichische Behindertenrat97 als Dachorganisation der Behindertenselbstvertretungen unterstützt die Anliegen der Gehörlosengemeinschaft, hat aber keine rechtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten. Dasselbe gilt für den Unabhängigen Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.98 Die Behindertenanwaltschaft99 95 | Schreiben des Sozialministeriums vom 18. Juli 2016, GZ: BMASK-44150/ 0007-IV/A/1/2016. 96 | Österreichischen Gehörlosenbund, »Stellungnahme des Österreichischen Gehörlosenbundes zur Entwicklung eines Nationalen Aktionsplans für Menschenrechte (NAP Menschenrechte)«, 15.6.2015, Zugriff 18.9.2018, https://volksanwaltschaft.gv. at/downloads/ab9b5/Stellungnahme%20%C3%96sterreichischer%20Geh%C3% B6rlosenbund%20_%20. 97 | Österreichischer Behindertenrat, www.behindertenrat.at. 98 | Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, https://monitoringausschuss.at/. 99 | Behindertenanwalt, www.behindertenanwalt.gv.at/.

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wird nach einer öffentlichen Ausschreibung vom jeweiligen Sozialminister besetzt. Bislang wurden nur ehemalige Politiker bzw. Spitzenbeamte ausgewählt, welche in Einzelfällen (entsprechend §13c (1) des Bundesbehindertengesetzes) sicherlich gute Arbeit geleistet haben, sich jedoch nicht im Sinne des §13c (2) engagiert haben, welcher besagt, dass sie »Untersuchungen zum Thema der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen durchführen sowie Berichte veröffentlichen und Empfehlungen zu allen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen berührenden Fragen abgeben« können. Nach Aussage Franz Dotters hat der Klagsverband100, welcher vom Sozialministerium finanziert wird und behinderten Menschen bei der gerichtlichen Durchsetzung ihrer Rechte juristisch und finanziell unterstützen soll, die Unterstützung der Gehörlosengemeinschaft bei der Durchsetzung ihrer sprachlichen Menschenrechte wegen »Aussichtslosigkeit« abgelehnt. Als Begründung der Nichtunterstützung wurde angegeben, dass der Gesetzgeber kein Bundesgesetz bezüglich Recht auf ÖGS im Unterricht erlassen hat. Nur dann können die Sprachenrechte juristisch durchgesetzt werden. Die Volksanwaltschaft101, offiziell mit der Kontrolle der Menschenrechte in »für Menschen mit Behinderung bestimmte Einrichtungen und Programme« beauftragt, beklagt, dass sie mangels einer genauen Bestimmung dieser Begriffe nicht in der Lage sei, eine allfällige Diskriminierung hörbehinderter SchülerInnen zu überprüfen. In dieser Situation bleibt die österreichische Gehörlosengemeinschaft völlig auf sich allein gestellt, was die Durchsetzung ihrer Rechte betrifft. Dies bedeutet eine enorme emotionale und soziale Belastung ihrer Angehörigen.

G ese t zliche G rundl agen für den K ampf um die spr achlichen M enschenrechte Aufgrund der gegebenen Situation können sich behinderte Menschen in Österreich, speziell schwerhörige und gehörlose, ihre Rechte nur über den Umweg der allgemeinen Verfassungsbestimmungen erkämpfen, ohne die jeweils behinderungsspezifischen Bestimmungen nutzen zu können:

Einschlägige Verfassungsbestimmungen Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung (Art. 7 B-VG) werden derzeit durch das österreichische Schulunterrichtsgesetz (SchUG) dadurch verletzt, dass gehörlosen SchülerInnen Regelungen der 100 | Klagsverband, https://www.klagsverband.at/. 101 | Volksanwaltschaft, https://volksanwaltschaft.gv.at/.

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Unterrichtssprache, wie sie für Volksgruppenangehörige (§7 SchUG)102, für Kinder von MigrantInnen sowie für SchülerInnen mehrsprachiger bzw. internationaler Schulen gelten (SchUG §16 (1) und (3) bzw. §18 (12)), versagt werden, obwohl in diesen Fällen nichts gegen die Herstellung analoger Regelungen spricht.

Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern Das Ignorieren der besonderen Bedürfnisse bilingual orientierter hörbehinderter Kinder durch den Gesetzgeber berücksichtigt das Kindeswohl nicht, was Art. 1 verletzt; die Verweigerung einer geeigneten, der Behinderung angemessenen Inklusion verletzt Art. 6. Da die betroffenen Kinder auch nicht befragt wurden und werden, was ihre sprachlichen Bedürfnisse in der Bildung sind, wird Art. 4 verletzt.

Internationale Abkommen Die Überraschung für juristische Laien: Was alles nicht gilt VertreterInnen Österreichs heben im internationalen Rahmen die angeblich hervorragenden Bestimmungen bezüglich Menschenrechten vielfach öffentlich hervor. Daher überrascht es, dass Österreich im Kontext der Sprachenrechte Gehörloser z.B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als irrelevant für sein Handeln erachtet. Bei genauerer Recherche stellt sich heraus, dass dies juristisch tatsächlich begründet ist. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass das Bundesministerium für Bildung die Tatsache, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kein völkerrechtlicher Vertrag ist, zur Feststellung nutzt, dass man sich daran auch nicht halten müsse. Dabei gilt Artikel 2 (Verbot der Diskriminierung aufgrund von Sprache), seit die Gebärdensprachen als Sprachen anerkannt sind, auch für die Gebärdensprachgemeinschaften. Die Verweigerung bilingualen Unterrichts gegenüber hörbehinderten Menschen, die entweder selbst oder deren Eltern in Übereinstimmung mit Artikel 26 (3) eine solche Bildungsform wünschen, stellt daher eine Diskriminierung dar, weil diesen das in Artikel 26 (1) und (2) formulierte Recht auf Bildung und volle Persönlichkeitsentfaltung vorenthalten wird. Eine ähnliche Situation bietet sich bezüglich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, deren Artikel 14 (Recht auf Bildung), 21 (Nichtdiskriminierung), 24 (Rechte des Kindes) und 26 (Integration von Menschen mit Behinderung) ebenfalls einschlägig wären. Allerdings bindet die Charta nur die europäische Gesetzgebung und die entsprechenden EU-Organe (vgl. Ar102 | Das SchUG sieht weiters die Einführung der standardisierten kompetenzorientierten Reife- und Diplomprüfung in den Klausurfächern Deutsch, Kroatisch, Slowenisch und Ungarisch vor.

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tikel 51) bzw. die Mitgliedsstaaten, wenn sie Unionsrecht umsetzen. Da für Bildung bzw. Sprache kein Unionsrecht gilt, bleibt die Charta in unserem Fall wirkungslos. Daher musste für die bisher beschrittenen Rechtswege auf andere, im Folgenden vorgestellte internationale Verpflichtungen Österreichs zurückgegriffen werden.

Im Verfassungsrang stehende, von Österreich ratifizierte internationale Vereinbarungen Europäische Menschenrechtskonvention Die Europäische Menschenrechtskonvention; EMRK) und ihr Zusatzprotokoll stehen im Verfassungsrang (B-VG BGBl. Nr. 59/1964), ebenso die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) fordert u.a. die sprachliche Zugänglichkeit öffentlicher Informationen, Artikel 14 (Verbot der Benachteiligung) wiederholt im Wesentlichen das Sprachenrecht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wie bereits oben beschrieben, widerspricht die gegenwärtige Praxis der Bildung gehörloser und schwer hörbehinderter Menschen in Österreich, welche sich der ÖGS bedienen wollen, Artikel 14. Damit wird gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe die diskriminierende pädagogische Gewalt ausgeübt, Leistungen in einer gesprochenen Sprache erbringen zu müssen, wie sie nicht hörbehinderte Schülerinnen und Schüler erbringen. Auch die Alternative, dass über die Feststellung des sogenannten sonderpädagogischen Förderbedarfs in der Leistungsbeurteilung geringere Leistungen bezüglich gesprochener Sprachen akzeptiert werden, sind diskriminierend, weil sie die hörbehinderten Schülerinnen und Schüler von vornherein davon fernhalten, gleiche schulische Leistungen wie Hörende zu erreichen und sie damit per Anwendung der bestehenden Schulgesetze geringere Berufs- und Lebenschancen haben. Wir haben also eine staatlich verursachte Benachteiligung für das gesamte Leben der Betroffenen vor uns, d.h. eine Menschenrechtsverletzung.

Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Artikel 2 (»Recht auf Bildung«) des Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention formuliert ein klares Benachteiligungsverbot: Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufga-

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Franz Dotter, Helene Jarmer und Lukas Huber ben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.103

Dieses Benachteiligungsverbot müsste die sprachlichen Menschenrechte gehörloser SchülerInnen eigentlich schützen. Trotzdem wurden die bisherigen rechtlichen Initiativen von den Höchstgerichten (Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof) – z.T. aus formalen Gründen – zurückgewiesen, was 2017 die Einreichung einer Beschwerde bei der UNO (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights104) ermöglichte.

D ie G ebärdenspr achgemeinschaf t als S pr achminderheit Neben den Sprachen der autochthonen, ethnisch definierten Volksgruppen Österreichs ist seit 2005 auch die ÖGS als »autochthone«, d.h. in Österreich »beheimatete« Sprache anerkannt. Eine solche Sprache kann sozial aber nur durch eine Sprachgemeinschaft definiert werden, hier durch die Österreichische Gebärdensprachgemeinschaft, eine nicht ethnisch, sondern durch Hörbehinderung und Selbstidentifikation definierte Sprachgemeinschaft. Sie wäre gesetzlich in Analogie zu den ethnisch definierten Sprachminderheiten zu behandeln, insbesondere, was die Verwendung ihrer Sprache in Verwaltung und Bildung betrifft. Dies verweigert Österreich bisher. Würde es nämlich die Österreichische Gebärdensprachgemeinschaft als Sprachminderheit anerkennen, müsste es ihren Angehörigen quasi automatisch die Möglichkeit des Schulunterrichtes in ÖGS innerhalb eines speziellen bilingualen Unterrichtes zugestehen, bis zur Möglichkeit der Wahl der ÖGS als Maturafach. Bisher ist es den Angehörigen der ÖGS-Sprachminderheit jedoch nicht gelungen, vor Gericht die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbots der Verfassung durch die Schulgesetze – und damit deren Verfassungswidrigkeit – anerkannt zu erhalten.

F a zit Die österreichische Schulpolitik hat ihre orale Orientierung noch immer nicht vollständig aufgegeben, insbesondere setzt sie alle möglichen rechtlichen Mittel dagegen ein, dass die ÖGS gleichberechtigte Unterrichtssprache wird. Die 103 | Europäische Menschenrechtskonvention, www.menschenrechtskonvention.eu/ bildung-9389. 104 | United Nations, Human Rights, Office of the High Commissioner, https://www. ohchr.org/EN/pages/home.aspx.

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Forderung der Selbstvertretung der Gehörlosen nach Einführung eines tatsächlich bilingualen Unterrichts auf einer rechtlichen Grundlage ist bisher nicht erfüllt. Während die Regierungen wesentlich ärmerer Länder die Notwendigkeit anerkennen105, die sprachlichen Menschenrechte und den gleichberechtigten Zugang zu Information auch für die Gebärdensprachgemeinschaften umzusetzen, hat Österreich bis heute: • Keinen bilingualen Lehrplan (ÖGS-Deutsch) für den Unterricht gehörloser/hörbehinderter SchülerInnen (es gibt im Auftrag des BMUKK eine Ausarbeitung des Lehrplanes in ÖGS, derzeit ist offen, ob das zum Erlass kommen und auch eingeführt wird); • Keine entsprechende Lehrerausbildung (z.B. offizielle didaktisch-methodische Grundsätze); • Kein durchsetzbares individuelles Recht auf eine bilinguale Bildung; • Keine Vorsorge für die Einführung der ÖGS als Unterrichtssprache (Lehrmaterialien, Studium der Gebärdensprache)106; • Keine Vorsorge für die Gestaltung des lebenslangen Lernens für Personen mit ÖGS als Erstsprache. Insgesamt wird im Hörbehindertenbereich staatlicherseits eine Pädagogik betrieben, welche nicht die individuelle Förderung und das Monitoring einer altersgemäßen kognitiven und sprachlichen Entwicklung zum Ziel hat, sondern eine Inklusion unter möglichster Aufrechterhaltung der überkommenen oralen Traditionen. Die bilingual orientierten hörbehinderten ÖsterreicherInnen befinden sich damit in der absurden Situation, dass sie Rechte auf Dolmetschung in einer Sprache besitzen, deren Pflege und Entwicklung in Frühförderung, Kindergarten und Schule verhindert wird. Im Gegensatz dazu hat das Wissenschaftsministerium den Grundsätzen der Inklusion durch die Finanzierung der Studienunterstützung GESTU107 und die Finanzierung von Universitätseinrichtungen und Projekten wie der Gebärdensprachlehrerausbildung entsprochen (hier sei auf die Verdienste von Felicitas Pflichter für den gesamten Behindertenbereich hingewiesen). Der Schutz sprachlicher Grund105 | Dies bestätigt ein Blick in die Liste der Teilnehmerländer des Projekts ProSign: www.ecml.at/ECML-Programme/Programme2016-2019/; SignLanguageInstruction/ tabid/1856/language/en-GB/Default.aspx. 106 | 2017 hat das Bildungsministerium den Auftrag zur Erstellung eines Lehrplans für die ÖGS vergeben. Es bleibt allerdings unklar, ob es auch plant, das SchUG so zu verändern, dass alle, die Sprachunterricht in ÖGS wollen, diesen tatsächlich erhalten, bzw. die ÖGS als Unterrichtssprache verwendet werden kann. 107 | GESTU, https://teachingsupport.tuwien.ac.at/gestu/.

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rechte für GebärdensprachbenutzerInnen ist in Österreich aber immer noch nicht gewährleistet.108

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108 | Dies bestätigt ein Blick in den soeben erschienenen Behindertenbericht der Regierung, welcher keinen der hier dargestellten Punkte aufgreift: Max Rubisch, et al., Bericht der Bundesregierung über die Lage der Menschen mit Behinderungen in Österreich 2016 (Wien: Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, 2017).

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Schmid-Giovannini, Susanne. Hören und Sprechen: Anleitungen zur auditiv-verbalen Erziehung hörgeschädigter Kinder. [Meggen, Luzern]: [Internationales Beratungszentrum Schmid-Giovannini], 1996. Schmidt, Marion A. »Planes of Phenomenological Experience: The Psychology of Deafness as an Early Example of American Gestalt Psychology, 19281940«. History of Psychology 20 (2017), 347-364. Schott, Walter. Das k.k. Taubstummeninstitut Wien 1779-1918. Wien etc.: Böhlau, 1995. Schott, Walter. Die niederösterreichischen Landes-Taubstummenanstalten in Wien-Döbling 1881-1921 und Wiener Neustadt 1903-1932: Dargestellt nach Jahresberichten, Protokollen und historischen Überlieferungen mit einem Abriss der Entwicklungsgeschichte der Gehörlosenbildung bis zur Gründung der ersten Anstalt. Wien: Eigenverlag, 2002. Schreiber, Katharina und Mirjam Tauber. »Die logopädische Arbeit bei hörbeeinträchtigten Kindern im Schulalter«. logo Thema 13 (2016), 6-9. Schumann, Paul. Geschichte des Taubstummenwesens: vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a.M.: M. Diesterweg, 1940. Schweitzer, Florian. Schreibkompetenz gehörloser SchülerInnen. Diplomarbeit, Universität Wien, 2014. Seeing Voices. Dokumentarfilm Österreich 2017. Drehbuch Dariusz Kowalski. Skutnabb-Kangas, Tove. »Language Rights and Bilingual Education«. In Encyclopedia of Language and Education, 2nd edition. Volume 5, Bilingual Education, Hg. Jim Cummins und Nancy Hornberger, 117-131. Dordrecht: Kluwer, 2007. Skutnabb-Kangas, Tove. »Bilingual Education and Sign Language as the Mother Tongue of Deaf Children«. In English in International Deaf Communication, Hg. Cynthia J. Kellett Bidoli und Elana Ochse, 75-94. Bern: Peter Lang, 2008. Skutnabb-Kangas, Tove. »Language Rights«. In Handbook of Pragmatics Highlights, Volume 7, Society and Language Use, Hg. Jürgen Jaspers, Jan-Ola Östman und Jef Verschueren, 212-240. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2010. Skutnabb-Kangas, Tove. »Linguistic Human Rights«. In Oxford Handbook on Language and Law, Hg. Larry Solan und Peter Tiersma, 235-247. Oxford: Oxford University Press, 2012. Sozialministerium, Schreiben vom 18. Juli 2016. GZ: BMASK-44150/0007IV/A/1/2016. Val, Adriana und Polina Vinogradova. »What is the Identity of a Heritage Language Speaker?«. University of Maryland Baltimore County, Center for Applied Linguistics, 2010. Zugriff 18.9.2018. www.cal.org/heritage/pdfs/ briefs/what-is-the-identity-of-a-heritage-language-speaker.pdf.

Die Relikte von Oralismus und Behinder tendiskriminierung in Österreich

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Autorenverzeichnis

Vera Blaser schloss ihr Masterstudium in Geschichte und Gender Studies an der Universität Bern im Januar 2019 mit einer Arbeit über die Bestrebungen zur beruflichen Eingliederung Gehörloser in der Schweiz zwischen 1930-1960 ab. Zwischen Juli 2016 und Januar 2019 war sie als Hilfsassistentin und Tutorin an der Abteilung für Schweizer Geschichte am Historischen Institut der Universität Bern angestellt. Seit Februar 2019 ist sie als Doktorandin Teil des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts »Deaf People within the Swiss Mixed Economy of Welfare since 1900«. Ingo Degner, Jahrgang 1952, ist seit 2006 als Oberstudiendirektor Leiter des Landesförderzentrums Hören und Kommunikation in Schleswig. Außerdem bekleidet er verschiedene Ehrenämter, wie ehrenamtlicher Kreistagsabgeordneter des Kreises Schleswig-Flensburg (seit 1986), als Ehrenbeamter Stellvertreter des Landrats (seit 1994) und stellvertretender Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Landkreistages (seit 2013). Franz Dotter (16. 3. 1948 bis 26. 3. 2018), Ao. Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Klagenfurt (Österreich) im Ruhestand. Dr. phil.1975, Habilitation über Ikonizität in der Syntax 1990. 1996-2013 Leiter der Zentrums für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation (www. uni-klu.ac.at/zgh). Raluca Enescu ist Dr. in Kriminologie und wurde auf eine Gastprofessur für Kriminologie, Forensik, Psychologie und Wissensgeschichte am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Sie führt Projekte zu forensischen Beweismitteln, Gerichtssachverständigen, Richtersprüchen und Fehlurteilen durch. Ihre Veröffentlichungen befassen sich mit Einschränkungen von Sachverständigen, der Geschichte der forensischen Praxis und Wiederaufnahmeverfahren. Zur besseren Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse entwickelt sie ihre Interessen in Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen, Künstlern und akademischen Partnern weiter.

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

Michael Gebhard wurde 1977 als zweiter Sohn hörender Eltern in Aarau geboren. Mit Ausnahme von vier Jahren im Zentrum und Schweizerische Schule für Schwerhörige Landenhof wurde er integriert geschult. Von 2000 bis 2006 studierte er an der Universität Zürich Allgemeine Geschichte, Völkerrecht und Politikwissenschaft. Michael Gebhard arbeitet heute in der Stadtkanzlei der Stadt Zürich als Records Manager. In seiner Freizeit führte er in verschiedenen Archiven Recherchen zur Gehörlosengeschichte durch. Sein Wissen brachte er von 2007 bis 2013 ehrenamtlich in die Vorstandstätigkeit von VUGS ein. Von 2016-2017 sass er im Beirat des sgb-fss, der die wissenschaftliche Aufarbeitung der Gebärdensprache durch externe Forschende begleitete. Michael Gebhard ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Aarau. Lukas Huber, Ing., geboren am 28.03.1972, seit 2001 Generalsekretär des Österreichischen Gehörlosenbundes (www.oeglb.at), seit 2009 Vorstandsmitglied des Klagsverbands zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern (www.klagsverband.at), seit 2015 Leiter des Niederösterreichischen Gehörlosenverbandes (www.gehoerlos-noe.at). Helene Jarmer, Mag., geboren am 8. 8. 1971, Lehrerin für gehörlose und schwerhörige Kinder (1993-2004), Lektorin an der Universität Wien (1999-2010); seit 2001 Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes (www.oeglb.at/), seit 2009 Mitglied des Österreichischen Nationalrats (Die Grünen); Leiterin des »Servicecenter ÖGS barrierefrei« (www.oegsbarrierefrei.at/). Andrea Neugebauer ist Germanistin und Soziologin. Promotion zum Zusammenhang zwischen Arbeitserfahrungen und Erinnerung an den Nationalsozialismus. Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach Soziologie der Universität Siegen. Langjährige Dozentin für Soziale Arbeit an verschiedenen Hochschulen mit den Schwerpunkten Lehrforschung Soziale Arbeit und Methoden qualitativer Sozialforschung. Schwerpunkte: Kindheits-, Interaktionsund Antidiskriminierungsforschung; Biographieforschung. Matthias Ruoss, Dr. phil., ist Historiker und zurzeit visiting fellow am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Er studierte Geschichte und Pädagogik in Bern und Berlin. 2014 wurde er mit der Arbeit »Fürsprecherin des Alters. Geschichte des Stiftung Pro Senectute im entstehenden Schweizer Sozialstaat (1917-1967)« promoviert. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Geschichte der Sozialpolitik und des Sozialstaates, historische Wohlfahrtsforschung und Wissensgeschichte. Aktuell arbeitet er zur Geschichte der Konsumfinanzierung im 19. Jahrhundert und zur Geschichte des Neoliberalismus.

Autorenverzeichnis

Marion Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Göttingen. Sie promovierte 2016 am Institute for the History of Medicine der Johns Hopkins University zur ethischen und historischen Auseinandersetzung mit genetischer Taubheit. In ihre Forschung untersucht sie die Wahrnehmung von Behinderung und Minderheiten in den Bio- und Psychowissenschaften, insbesondere die Entwicklung von minderheitspezifischen Dienstleistungen. Sie setzt sich außerdem ein für eine stärkere Verankerung und Vernetzung der Gehörlosengeschichte und Disability Studies in Europa. Enno Schwanke studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (B.A.) und Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert an der Freien Universität Berlin (M.A.). Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen an den Forschungsprojekten zur Zahnheilkunde im Nationalsozialismus, Patientenvereinen im 19. und 20. Jhd. Sowie zum impfgegnerischen Vereinswesen im Kaiserreich. Aktuell arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität zu Köln und forscht zum Themenkomplex Wissenschafts- und Universitätsgeschichte der Universität zu Köln in den Jahren 1935-1955. Ylva Söderfeldt ist Medizinhistorikerin und an der Universität Uppsala, Institut für Ideen- und Wissenschaftsgeschichte tätig. Sie promovierte 2011 an der Universität Stuttgart/Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung zur Geschichte der deutschen Gehörlosenbewegung. In ihrer aktuellen Forschung befasst sie sich mit der Geschichte von Patientenvereinen. Anja Werner  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt Wissenschafts- und Medizingeschichte in transatlantischen Kontexten unter besonderer Berücksichtigung der Perspektiven gehörloser und/oder afrikastämmiger Menschen. Sie arbeitet derzeit an einer Habilitationsschrift zur Geschichte von Taubheit in Deutschland seit 1945. 2013 erschien ihre Dissertation zu amerikanischen Studierenden an deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert mit einem Kapitel zu hörgeschädigten Amerikanern. Florian Wibmer studierte Geschichtswissenschaft an der Universität Wien (abgeschlossen 2016). Ehemaliger Vorsitzender des Vereins Österreichischer Gehörloser Studierender, ehemaliges Ersatzmitglied im unabhängigen und weisungsfreien Monitoringausschuss zur Überwachung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Referent der Wiener Anti-

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Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie

diskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen (WASt). Carolin Wiethoff studierte Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2015 Promotion an der Universität Potsdam zur Rentenversicherung und beruflichen Rehabilitation in der DDR. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Erfurt. Sylvia Wolff studierte Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie und ist seit 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Seit 2002 lehrt und forscht sie im Fachbereich Gebärdensprach- und Audiopädagogik/Deaf Studies. Sie promovierte 2013 zur Elementar-und Sprachbildung am Berliner Königlichen Taubstummeninstitut. Ihr Schwerpunkt liegt in der bildungs- und kulturhistorischen Forschung. Aktuell arbeitet sie zu geschlechterspezifischen Rollenbildern in der Hörbehindertenpädagogik. Mark Zaurov promoviert an der Universität Hamburg über taube Juden in Kunst, Politik und Wissenschaft vom 18. bis zum 21. Jahrhundert im Sinne einer transnationalen imagined hybrid community aus der Deaf-Studies-Perspektive. Sein Forschungsschwerpunkte sind die tauben jüdischen Opfer des Nationalsozialismus und taube Täter des Nationalsozialismus. Hierzu erhielt er Fellowships (USHMM, EHRI) im Bereich Holokaustforschung und  veröffentlichte verschiedene wissenschaftliche Artikel und Bücher als Autor und Herausgeber. Er ist Vorsitzender der IGJAD (Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland e.V.) und initiierte unter anderem eine digitale Infotafel mit Gebärdensprachen zum Gedenken an taube Juden in Berlin. Zuletzt entwickelte er ein DVD-Projekt in Deutscher Gebärdensprache mit Unterrichtsmaterial über den Deaf Holokaust, deutsche taube Juden und taube Nationalsozialisten. Als staatlich geprüfter Gebärdensprachdolmetscher übersetzt er Beiträge für Gebärdensprachvideos, insbesondere zum Thema Nationalsozialismus.

Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8

Gertrude Cepl-Kaufmann

1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen (Hg.)

Risikogesellschaften Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven 2018, 272 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4323-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4323-1

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Geschichtswissenschaft Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener (Hg.)

Die Bonner Republik 1945–1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära Geschichte – Forschung – Diskurs 2018, 408 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4218-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4218-0

Julia A. Schmidt-Funke, Matthias Schnettger (Hg.)

Neue Stadtgeschichte(n) Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich 2018, 486 S., kart., Abb. 49,99 € (DE), 978-3-8376-3482-2 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3482-6

Nele Maya Fahnenbruck, Johanna Meyer-Lenz (Hg.)

Fluchtpunkt Hamburg Zur Geschichte von Flucht und Migration in Hamburg von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart 2018, 262 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4089-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4089-6

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