Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie [1 ed.] 9783428469390, 9783428069392

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Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie [1 ed.]
 9783428469390, 9783428069392

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Schriften zum Völkerrecht Band 94

Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie Von

Martina Palm-Risse

Duncker & Humblot · Berlin

MARTINA PALM-RISSE

Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie

Schriften zum Völkerrecht Band 94

Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie

Von Martina Palm-Risse

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Palm-Risse, Martina: Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie / von Martina Palm-Risse. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 94) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1989/90 ISBN 3-428-06939-0 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-06939-0

Meiner Mutter und dem Andenken meines Vaters

Vorwort Die vorliegende Untersuchung hat der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn im Wintersemester 1989/90 als Dissertation vorgelegen. Die Fakultät hat sie mit dem Walter Adolf Jöhr-Förderpreis 1990 ausgezeichnet. Das Thema habe ich selbst gewählt. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Christian Tomuschat, bin ich für die eingehende Betreuung der Arbeit und zahlreiche wichtige Anregungen zu besonderem Dank verpflichtet. Während meiner Mitarbeit an seinem Lehrstuhl hatte ich Gelegenheit, Einblick in eine Vielzahl aktueller Probleme des Völkerrechts und insbesondere des internationalen Menschenrechtsschutzes zu nehmen. Wertvolle Hinweise verdanke ich auch Herrn Professor Dr. Karl Josef Partsch, der mir oft ein kritischer und verständnisvoller Zuhörer war. Meinem Mann danke ich für seine geduldige Unterstützung und seinen Rat. Bonn, im Januar 1990 Martina Palm-Risse

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

23

Erster

Teil

Völkerrechtliche Rechtsquellen des Ehe- und Familienschutzes

25

Erstes Kapitel Grundlagen des Ehe- und Familienschutzes I. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte

25

1. Verbindlichkeit der A E M R zum Zeitpunkt ihrer Verkündung?

27

2. Verbindlichkeit zum heutigen Zeitpunkt?

28

a) Völkergewohnheitsrecht

28

b) Allgemeiner Rechtsgrundsatz

32

c) Authentische Interpretation

32

II. Entwicklung der Ehe- und Familienschutzbestimmungen zu Völkergewohnheitsrecht oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen

34

1. Völkergewohnheitsrecht

34

2. Allgemeine Rechtsgrundsätze

44

III. Zwischenergebnis

47

Zweites Kapitel Menschenrechtliche Vertragswerke

48

I. Die europäische Menschenrechtskonvention

48

II. Die Europäische Sozialcharta

51

III. Die universellen Pakte der Vereinten Nationen 1. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte

54 ....

54

2. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

59

IV. Das Inter-amerikanische Menschenrechtsschutzsystem

61

1. ΟAS-Charta und Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen

62

2. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention

66

V. Die afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker . . . .

69

nsverzeichnis

10

V I . Bestrebungen in der arabischen und asiatischen Region V I I . Zusammenfassung der einschlägigen Vorschriften VIII. Systematisierung und Bewertung der angetroffenen Rechte

Zweiter

72 73 74

Teil

Eheschutz Drittes Kapitel Der Begriff „Ehe" I. Ziviler oder kirchlicher Ehebegriff II. Die einzelnen Kodifikationen

78 78 80

1. Ehebegriff der E M R K

80

2. Ehebegriff des IPBPR

86

3. Ehebegriff der Amerikanischen Menschenrechtskonvention a) Konventionsmitglieder

94 96

b) Potentielle Konventionsmitglieder - ΟAS-Staaten, die der Konvention (noch) nicht angehören

99

c) Auswertung der Untersuchung

99

III. Zusammenfassung und Ergebnis

102

Viertes Kapitel „Free and Full Consent" I. E M R K

104 104

II. Die Menschenrechtspakte von 1966 und die Amerikanische Menschenrechtskonvention 108 1. Bedeutung des Grundsatzes für die Ehe

108

2. Bedeutung des Grundsatzes für de-facto-Ehen

110

a) Vollständige Gleichstellung

111

b) Partielle Gleichstellung

111

III. Zusammenfassung und Ergebnis

114

Fünftes Kapitel Das Eheschließungsrecht I. „Statusrecht" 1. E M R K

115 115 115

2. IPBPR

116

3. A m K

119

II. Weitere Staatenverpflichtungen

122

nsverzeichnis III. Heiratsalter

123

1. E M R K

123

a) Obergrenze

124

b) Untergrenze

124

c) Unterschiedliche Festlegung für Männer und Frauen

127

2. IPBPR

129

3. A m K

131

IV. Zusammenfassung

132

Sechstes Kapitel Das Recht auf Familiengründung I. E M R K

133 133

1. Das Recht auf leibliche Nachkommen 2. Andere Arten der Familiengründung

136 137

a) Adoption

138

b) Moderne Geburtentechnologie

140

II. IPBPR

144

1. Das Recht auf leibliche Nachkommen

144

2. Adoption

147

3. Moderne Geburtentechnologie

148

III. A m K

150

IV. Zusammenfassung und Ergebnis

152

Siebentes Kapitel Die Schranken der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit I. E M R K

154 154

1. Formvorschriften

156

a) Eheschließung

156

b) Familiengründung

158

2. Materielle Vorschriften

158

a) Eheverbote

159

b) Faktische Einschränkungen

165

c) Übertragung der Schranken des Art. 8 I I EMRK?

168

3. Der Wesensgehalt als „Schranke der Schranke" a) Besondere Fallgruppen zur Eheschließungsfreiheit

169 170

aa) Transsexuelle

170

bb) Gefangene

173

cc) Ausländer

174

b) Familiengründung

175

12

nsverzeichnis II. IPBPR

177

1. Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 23 I I IPBPR 2. Der Wesensgehalt als „Schranke der Schranke"

177 179

a) Eheschließungsfreiheit

180

b) Familiengründung

181

III. A m K

182

IV. Zusammenfassung und Ergebnis

182

Achtes Kapitel Recht auf Ehescheidung?

184

I. E M R K

184

II. IPBPR

188

III. A m K

189

IV. Ergebnis

189

Dritter

Teil

Schutz der Familie

190

Neuntes Kapitel Abgrenzung des Familienschutzes von anderen Schutzgütern

190

Zehntes Kapitel Der Begriff „Familie" I. Der Familienbegriff der E M R K

194 194

1. Ehepaare

196

2. Nichteheliche Lebensgemeinschaften

198

3. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften

199

4. Geschiedene Paare

200

5. Außereuropäische Familienmodelle

200

6. Kernfamilie

201

7. Nichteheliche Kinder

202

8. Erwachsene Kinder

203

9. Adoptivkinder

204

10. Pflegekinder

205

11. Moderne Geburtentechnologie

206

12. Nahe Verwandte

209

13. Zusammenfassung, Bewertung und Ergebnis

210

nsverzeichnis II. Der Familienbegriff der europäischen Sozialcharta

213

1. Art. 19 (6) ES

213

2. Art. 16 ES

217

3. Zusammenfassung und Ergebnis

218

III. Der Familienbegriff des IPBPR

219

1. Art. 17 IPBPR

220

2. Art. 23 I IPBPR

224

3. Vergleichende Zusammenfassung und Ergebnis

226

IV. Der Familienbegriff des WSP

227

V. Der Familienbegriff der A M K

228

VI. Der Familienbegriff der AfrC

231

Elftes Kapitel Gleichstellung der ehelichen und der nichtehelichen Familie? I. E M R K

233 233

II. Europäische Sozialcharta

235

III. IPBPR 1. Art. 17 IPBPR

236 236

2. Art. 23 I IPBPR

237

IV. WSP

238

V. A m K 1. Art. 11 A m K

239 239

2. Art. 17 A m K

239

VI. AfrC

242

VIII. Ergebnis

242

Zwölftes Kapitel Das Recht auf Achtung des Familienlebens I. Schutzbereich des Art. 8 I E M R K

243 243

1. Art. 8 als Abwehrrecht

244

2. Wertentscheidung

245

3. Positive Pflichten

247

II. Schutzbereich der Familienschutzbestimmungen der ES

253

1. Art. 16 ES

253

2. Art. 19 (6) ES

253

3. Teil I Nr. 16 ES

254

14

nsverzeichnis

III. Schutzbereich der Familienschutzbestimmungen des IPBPR 1. Art. 171 IPBPR

254 254

a) Abwehrrechtliche Seite

254

b) Positive Pflichten

255

2. Art. 17 I I IPBPR

256

3. Art. 23 I IPBPR

257

a) Wertentscheidung

257

b) Positive Verhaltenspflichten

258

IV. Schutzbereich des Art. 10 I WSP V. Schutzbereich der Familienschutzbestimmungen der A m K

259 260

1. Art. 11 A m K

260

2. Art. 17 A m K

260

VI. Schutzbereich des Art. 18 AfrC V I I . Zusammenfassung

260 261

Dreizehntes Kapitel Inhalt des Familienschutzes I. E M R K

263 263

1. Schutz der Funktionsfähigkeit der Familie

263

2. Familiengesetzgebung

264

a) Staatliche Kompetenz zur Familiengesetzgebung

264

b) Abgrenzung zwischen Eingriff und Regelung

266

3. Recht auf Zusammenleben

269

4. Recht auf Familieneinheit i.S. kultureller Homogenität

272

5. Zerrüttete Familien

275

a) Regelung des Sorge- und Besuchsrechts

276

b) Pflegschaft, Heimerziehung und Adoption

279

6. Ausländer a) Problemstellung b) Untersuchung der Spruchpraxis zu gemischt-nationalen Familien

282 282 . . 283

c) Untersuchung der Spruchpraxis zu rein ausländischen Familien . . . 292 d) Vergleich der untersuchten Spruchpraxis

296

e) Untersuchung der ausländerrechtlichen Praxis in einigen Konventionsstaaten 296 f) Stellungnahme und erweiternde Interpretation des Art. 8 E M R K für rein ausländische Familien 299 aa) Recht auf ein normales Familienleben im Gastland

299

bb) Eingrenzung des Rechts auf ein normales Familienleben im Gastland 300 cc) Übertragung der erweiternden Auslegung des Art. 8 E M R K auf gemischt-nationale Familien 302

nsverzeichnis dd) Zulässige Privilegierung gemischt-nationaler Familien

302

ee) Anwendung der entwickelten Auslegung des Art. 8 E M R K auf gängige Nachzugsregelungen in den Konventionsstaaten . . . . 304 aaa) Beschränkungen auf Ehegatten und Kinder

305

bbb) Beschränkungen auf minderjährige Kinder

307

ccc) Beschränkungen auf Minderjährige eines bestimmten Alters

307

ddd) Ehebestandszeiten eee) Aufenthaltsdauer II. Europäische Sozialcharta

308 309 309

1. Art. 16 ES

309

2. Art. 19 (6) ES

310

III. IPBPR

313

1. Art. 171 IPBPR

313

a) Pflicht zur Achtung der Familieneinheit

315

b) Ausländer

316

c) Weitere Anwendungsfälle

318

2. Art. 23 I IPBPR

319

a) Verpflichteter

320

b) Inhalt des Schutzes

320

IV. WSP

324

V. A m K

325

1. Art. 11 A m K

326

2. Art. 17 A m K

326

VI. AfrC

327

VII. Zusammenfassung

330

Vierzehntes Kapitel Grenzen des Familienschutzes I. E M R K

334 334

1. Rechtsgrundlage des Eingriffs

335

2. Demokratieklausel

337

a) Die Notwendigkeit der Maßnahme

337

b) Das Leitbild der demokratischen Gesellschaft

339

3. Einschränkungsziele und Wesensgehalt

341

a) Abschließende Regelung des Art. 8 I I E M R K

341

b) Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Familienlebens

342

aa) Einschränkungen im Gefängnis

342

bb) Beschränkungen im Eltern-Kind-Verhältnis

345

aaa) Beschränkungen des Sorge- und Besuchsrechtes

345

16

nsverzeichnis bbb) Dauernde Trennung von Eltern und Kindern cc) Beschränkungen im ausländerrechtlichen Bereich

347 349

aaa) Ausweisungen

349

bbb) Nachzugsbeschränkungen

350

II. Europäische Sozialcharta

355

III. IPBPR

356

1. Abgrenzung der Begriffe „arbitrary" und „unlawful"

357

2. Inhalt der Begriffe

358

a) „Unlawful"

358

b) „Arbitrary"

359

IV. WSP

360

V. A m K

360

V I . AfrC

362

V I I . Zusammenfassung und Ergebnis

365

Fünfzehntes Kapitel Das elterliche Erziehungsrecht I. É M R K 1. Schutzbereich des Art. 2 S. 2 ZP 2. Inhalt des Erziehungsrechts

367 367 368 370

a) Religiöse und weltanschauliche Überzeugungen

377

b) Üblich keit und Verbreitung der Überzeugung

384

c) Schutz des „kulturellen Außenseiters" II. IPBPR

385 386

1. Schutzbereich des Art. 18 I V IPBPR

387

2. Inhalt des Erziehungsrechts

387

3. Elterliche Überzeugungen

389

III. WSP

392

IV. A m K

393

V. Zusammenfassung und Ergebnis

395

Schluß

397

Literaturverzeichnis

398

Abkürzungsverzeichnis a. Α.

=

anderer Ansicht

a.a.O.

=

am angegebenen Ort

Abs.

=

Absatz

AC

=

Assemblée Consultative

AdG

=

Archiv der Gegenwart

a. Ε.

=

am Ende

AE

=

Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen

AEMR

=

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AFDI

=

Annuaire Français de Droit International

AfrC

=

Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker

AJCL

=

American Journal of Comparative Law

AJIL

=

American Journal of International Law

AnnEur

=

Annuaire Européen

AmK

=

Amerikanische Menschenrechtskonvention

AmUnivLRev

=

American University Law Review

Anm.

=

Anmerkung

AöR

=

Archiv des öffentlichen Rechts

ArchVR

=

Archiv des Völkerrechts

Art.

=

Artikel

ASIL

=

American Society of International Law

Aufl.

=

Auflage

AuslG

=

Ausländergesetz

Β

=

Beschwerde

BGB

=

Bürgerliches Gesetzbuch

Β GHZ

=

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BGBl.

=

Bundesgesetzblatt

BGE

=

Bundesgerichtsentscheidungen (Schweiz)

BR-Drs.

=

Verhandlungen des Bundesrates, Drucksachen

bspw.

=

beispielsweise

BT-Drs.

=

Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Drucksachen

BVerwG

=

Bundesverwaltungsgericht

BYIL

=

British Yearbook of International Law

bzgl.

=

bezüglich

2 Palm-Risse

Abkürzungsverzeichnis

18 CanHRYb

= Canadian Human Rights Yearbook

CEDH

= Convention Européenne des Droits de l'Homme

Cir.

= Circuit

CMLR

= Common Market Law Review

CoD

= Collection of Decisions (der Europäischen Kommission für Menschenrechte)

Dept.

= Department

ders.

= derselbe

Diss. Op.

= Dissenting Opinion

DÖV

= Die öffentliche Verwaltung

Doc.

= Document

DR

= Decisions & Reports (der Europäischen Kommission für Menschenrechte)

dt. Übers.

= deutsche Übersetzung

DVBL.

= Deutsches Verwaltungsblatt

Ε

= Entscheidung

EA

= Europa Archiv

ECHR

= European Convention on Human Rights

ed.

= edition

EGBGB

= Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche

EGMR

= Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht (Straßburg)

EMRK

= (Europäische) Konvention zum Schutze der Grundfreiheiten und der Menschenrechte

EPIL

= Encyclopedia of Public International Law

ES

= Europäische Sozialcharta

EuGH

= Europäischer Gerichtshof (Luxemburg)

EuGRZ

= Europäische Grundrechte Zeitschrift

f., ff.

= folgende (Seite/Seiten)

Fase.

= Faszikel

FGB

= Familiengesetzbuch

Fn.

= Fußnote

Fschr.

= Festschrift

F. Supp.

= Federal Supplement

FW

= Friedenswarte

GA

= General Assembly

gem.

= gemäß

Abkürzungsverzeichnis GG

= Grundgesetz

ggf.

= gegebenenfalls

GeoJICL

= Georgia Journal of International and Comparative Law

GYIL

= German Yearbook of International Law

HarvILJ

= Harvard International Law Journal

HR

= Human Rights

HRLJ

= Human Rights Law Journal

IAK

= Interamerikanische Menschenrechtskommission

ICJ

= International Court of Justice

ICLQ

= International and Comparative Law Quarterly

i. e.

= id est

IGH

= Internationaler Gerichtshof (Den Haag)

ILC

= International Law Commission

ILM

= International Legal Materials

IndJIL

= Indian Journal of International Law

Inst.

= Instalment (der EPIL)

IPBPR

= Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

i. S.

= im Sinne

IsrYbHR

= Israel Yearbook on Human Rights

i.V.m.

= in Verbindung mit

JZ

= Juristenzeitung

Kap.

= Kapitel

KBer

= Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte

KE

= Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte

LJ

= Law Journal

MedR

= Medizin und Recht

mtg.

= meeting

m.w.N.

= mit weiteren Nachweisen

NILR

= Netherlands International Law Review

NJW

= Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

= Nummer

NVwZ

= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NYIL

= Netherlands Yearbook of International Law

2*

19

20 OAS

Abkürzungsverzeichnis = Organisation Amerikanischer Staaten

o. J.

= ohne Jahresangabe

o. O.

= ohne Ortsangabe

OR

= Official Records

ÖZöR

= Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

ÖZöRV

= Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht

PStG A V O

= Ausführungsverordnung zum Personenstandsgesetz

RdC

= Recueil des Cours

REDI

= Revista Espanola de Derecho Internacional

Res.

= Resolution

Rev.

= Revue

RevBelgeDI

= Revue Beige de Droit International

RevDH

= Revue des Droits de l'Homme

RevJurPol

= Revue Juridique et Politique

Rn.

= Randnummer

Rspr.

= Rechtsprechung

S.

= Seite

s.

= siehe

s. a.

= siehe auch

SC

= Security Council

SchwJIR

= Schweizerisches Jahrbuch des Internationalen Rechts

Sep. Op.

= Separate Opinion

Ser. A/B

= Veröffentlichungen des E G M R , A : Judgments and Decisions; Β: Oral Pleadings and Documents

sess.

= session

sog.

= sogenannt

SR

= Summary Records

Supp.

= Supplement

TexILJ

= Texas International Law Journal

Trav. Prép.

= Travaux Préparatoires

u. a.

= unter anderem

UK

= United Kindom

UN

= United Nations

Abkürzungsverzeichnis UNCIO

= United Nations Conference on International Organizations

UNTS

= United Nations Treaty Series

Urt.

= Urteil

US

= United States

v.

= versus

VirgJIL

= Virginia Journal of International Law

VfGHSlg.

= Amtliche Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs (Österreich)

vgl.

= vergleiche

VN

= Vereinte Nationen

Vol.

= Volume

VR

= Völkerrecht

VRÜ

= Verfassung und Recht in Übersee

VVDStRL

= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WSP

= Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

WVK

= Wiener Konvention über das Recht der Verträge

YbECHR

= Yearbook of the European Convention on Human Rights

YbEL

= Yearbook of European Law

YbHR

= Yearbook on Human Rights

ZaöRV

= Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

z. B.

= zum Beispiel

ZGB

= Zivilgesetzbuch

zit.

= zitiert

Ziff.

= Ziffer

ZP

= (Erstes) Zusatzprotokoll (zur E M R K )

ZRP

= Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung Kaum ein Bereich des Menschenrechtsschutzes hängt so stark von regionalen, kulturellen, religiösen und historischen Gegebenheiten ab wie der Schutz von Ehe und Familie. Die Vielfalt der anzutreffenden Lebenssachverhalte bestimmt den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Während sich in den Industrienationen die Kleinfamilie, bestehend aus Eltern und ihren Kindern, zum typischen Familienmodell herausgebildet hat, leben in anderen Teilen der Welt mehrere Generationen im familiären Verbund zusammen. In Afrika und Asien beispielsweise spielt vor allem in ländlichen Gegenden nach wie vor die Großfamilie eine wichtige Rolle. Sie bedeutet zugleich Arbeitsplatz, Ausbildungs- und Erziehungsstätte sowie wirtschaftliche und soziale Absicherung ihrer Mitglieder. Ein wichtiger Unterschied bei den verschiedenen Familienmodellen folgt aus den zulässigen Eheformen, insbesondere der Verbreitung der Mehrehe. Hier gibt es verschiedene Abstufungen bei der Zahl der möglichen Ehepartner, Wahlmöglichkeiten zwischen den Eheformen der Poly- oder Monogamie und die unterschiedlichsten Traditionen und Gebräuche, die religiös beeinflußt oder gewohnheitsrechtlich verankert sind. Wie sich die oft sehr stark ausgeprägte hierarchische Struktur polygamer Verbindungen auf die Stellung namentlich der Frauen auswirkt und inwieweit diese Eheform mit dem menschenrechtlichen Gebot der Gleichberechtigung der Geschlechter zu vereinbaren ist, wird einer der zentralen Punkte der Untersuchung sein. Die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften als Familie ist ein weiterer Problemkreis, in dessen Behandlung sich die Staaten deutlich unterscheiden. Während etwa die europäischen Staaten einer Gleichstellung der freien mit der ehelichen Lebensgemeinschaft ablehnend gegenüberstehen, setzen manche lateinamerikanischen Länder beide Lebensformen gleich oder nähern die Rechtsfolgen einander an. Ein Vergleich der Vor- und Nachteile einer solchen Annäherung nichtehelicher Lebensgemeinschaften an formell geschlossene Ehen bietet sich hier an. Unterschiede in der Größe der Familien ergeben sich nicht zuletzt aus der Zahl der Kinder: Während in Europa die Ein-Kind-Familie im Vordringen begriffen ist und stetig sinkende Bevölkerungszahlen Anlaß zu öffentlicher Besorgnis geben, bemühen sich Staaten in anderen Teilen der Welt, deren Bevölkerung explosionsartig ansteigt, um eine Regelung des Geburtenzuwachses. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, daß hier nicht nur staatliche Interessen mit denen der Bürger kollidieren können, sondern daß auch

24

Einleitung

die staatlichen Interessen selbst unterschiedlich definiert und von den tatsächlichen Lebensverhältnissen in dem Land oder der Region abhängig sind. Ob und welche Wege der menschenrechtliche Schutz von Ehe und Familie bei der Lösung solcher und anderer denkbarer Konfliktsituationen vorgibt, wie flexibel die in den regionalen und universellen Kodifikationen niedergelegten Bestimmungen auf die unterschiedlichen Lebenssachverhalte eingehen, welche Pflichten den Staaten auferlegt werden, wird Gegenstand dieser Untersuchung sein. Die völkerrechtlichen Normen, die sich mit Ehe- und Familienschutz befassen, sind eng verknüpft mit Bestimmungen, die dem Schutz der Privatsphäre oder der Wohnung dienen, und solchen, die Rechte des Kindes, etwa auf Erziehung und Schulbildung, oder der Mutter auf besondere staatliche Unterstützung zum Inhalt haben. Solche Bestimmungen zählen jedoch nicht mehr zu den Ehe- und Familienschutzbestimmungen im engeren Sinn, da sie zwar zum Teil notwendige Voraussetzungen für die Verwirklichung eines Familienlebens schaffen, indem der private Freiraum dem staatlichen Zugriff entzogen wird, ihr eigentliches Schutzobjekt aber ein anderes ist: Mutterschutzbestimmungen und Rechte des Kindes sprechen diese Personen als selbständige Schutzobjekte an, ohne eine Familienzugehörigkeit vorauszusetzen. Konsequenterweise schützen diese Bestimmungen dann auch nicht primär den familiären Zusammenhalt, sondern begünstigen ihn allenfalls als Reflex, sofern die geschützte Person auch Familienmitglied ist. Es sind sogar Fälle denkbar, in denen Familienschutzbestimmungen mit solchen Rechten kollidieren können, beispielsweise wenn sich ein Kind auf sein Recht auf Privatsphäre beruft. Eine Ausnahme gilt für das Recht auf Erziehung, und zwar soweit es sich um das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder handelt. Denn dieses Recht schützt die autonome Entscheidung der Eltern und damit die Freiheit der Familie, die Kinder entsprechend ihrer eigenen Überzeugung zu erziehen. Die andere Ausprägung des Erziehungsrechtes - Anspruch auf die erforderlichen staatlichen Einrichtungen und Förderungen - betrifft das Kind selbst als Träger des Rechtes, wobei es ggf. von seinen Eltern vertreten werden kann. Diejenigen Bestimmungen, die nicht Ehe oder Familie als unmittelbares Schutzobjekt haben, sollen im Rahmen dieser Arbeit nur angesprochen werden, soweit dies für die Behandlung des Untersuchungsgegenstandes unerläßlich ist. Nach der Ermittlung der für den Schutz von Ehe und Familie einschlägigen Rechtsquellen sollen zunächst Umfang und Inhalt des Ehe- und sodann des Familienschutzes aufgezeigt werden. Unterschieden in der Art des Schutzes - Abwehr- oder Leistungsrecht? - und dem Geltungsanspruch der Vorschrift - universell oder regional? - wird dabei ebenso nachzugehen sein wie Fragen nach dem Umfang des geschützten Personenkreises, dem Inhalt der staatlichen Verpflichtung oder den Grenzen des Menschenrechtsschutzes.

Erster

Teil

Völkerrechtliche Rechtsquellen des Ehe- und Familienschutzes Einleitend soll untersucht werden, in welchen völkerrechtlichen Quellen Ehe- und Familienschutzbestimmungen enthalten sind. Ausgehend von Art. 38 I IGH-Statut kommen in Betracht: a) völkervertragliche Normen, b) gewohnheitsrechtliche Normen und c) allgemeine Rechtsgrundsätze. Da Rechtssätze, die aus den beiden letztgenannten Quellen erwachsen, zumeist für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind, der Adressatenkreis solcher Regelungen also umfassend wäre, sollen zunächst diese Rechtsquellen auf ihren Gehalt an Ehe- und Familienschutzbestimmungen untersucht werden. Danach wird auf die verschiedenen menschenrechtlichen Kodifikationen auf universeller und regionaler Ebene einzugehen sein. Erstes Kapitel Grundlagen des Ehe- und Familienschutzes I . Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Art. 55, 56 der VN-Charta verpflichten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur allgemeinen Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. In Zusammenarbeit mit der Weltorganisation sollen diese Ziele erreicht und gefördert werden. Ein erster Schritt zur Förderung der Menschenrechte war die Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. 12. 1948. Dieser Deklaration der Generalversammlung stimmte die große Mehrheit der damals 56 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu; lediglich 8 Staaten enthielten sich der Stimme 1 . 1 Universal Declaration of Human Rights, U N G A Res. 217 (III) v. 10. 12. 1948. Abstimmung: 48 + , keine Gegenstimme, 8 Enthaltungen: Bjelorußland, Jugoslawien, Polen, Saudiarabien, Südafrika, Tschechoslowakei, UdSSR, Ukraine.

26

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Art. 12 A E M R enthält ein Abwehrrecht gegen willkürliche Eingriffe in die familiäre Sphäre: "No one shall be subjected to arbitrary interference with his family ..

Art. 16 A E M R befaßt sich mit der Freiheit der Eheschließung und dem Schutz der Familie: "1. Men and women of full age, without any limitation due to race, nationality or religion, have the right to marry and to found a family. They are entitled to equal rights as to marriage, during marriage and at its dissolution. 2. Marriage shall be entered into only with the free and full consent of the intending spouses. 3. The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the State."

Art. 26 I I I A E M R legt das Elternrecht auf Erziehung der Kinder fest: "3. Parents have a prior right to choose the kind of education that shall be given to their children."

Diese Bestimmungen sind also für das hier zu behandelnde Thema von Relevanz. Es ist umstritten, ob und welche Bindungswirkungen von der A E M R ausgehen - ist sie rechtlich verbindlich oder geht von ihr lediglich eine politische und moralische Verpflichtung aus? In letzterem Fall würde eine genaue Untersuchung und Interpretation ihrer Bestimmungen entfallen, da sich diese Arbeit auf eine Analyse der rechtlich verbindlichen Instrumente beschränken und konzentrieren will. Teilweise wird angenommen, schon der Text der A E M R schließe ihre Rechtsverbindlichkeit aus2. Dafür spricht möglicherweise, daß sie sich am Ende ihrer Präambel etwas vage als „common standard of achievement for all peoples and for all nations" bezeichnet. Die einzelnen Rechte jedoch sind so bestimmt und genau gefaßt 3, daß sie durchaus einen konkreten Rechtsbefehl enthalten können 4 . Eine genauere Untersuchung ist daher angezeigt.

2 Schätzel, FW 51 (1951-53), S. 328 ff. 3 Z. B. Art. 2: „Everyone is entitled to all the rights and freedoms set forth in this Declaration . . . " ; Art. 3, 6, 8, 13-15, 17-27: „Everyone has the right . . . " ; Art. 4, 5, 9, 12: „No one shall ..." (Hervorhebungen vom Verf.). 4 Robinson, Universal Declaration, S. 99; Schwelb, Human Rights, S. 34 f.; Brunet, Garantie internationale, S. 208, 210.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

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1. Verbindlichkeit der A E M R zum Zeitpunkt ihrer Verkündung?

Gegen eine anfängliche rechtliche Verbindlichkeit der A E M R spricht schon ihre Form als Deklaration der Generalversammlung. Solche Deklarationen sind Entschließungen lediglich empfehlenden Charakters, wenn sie auch nach dem in den Vereinten Nationen üblichen Sprachgebrauch als besonders feierliche und gewichtige Äußerungen der Generalversammlung gelten 5 . Solche Resolutionen der Generalversammlung entfalten nur dann Bindungswirkung, wenn sie sich mit dem organisatorischen Innenbereich der Organisation befassen6. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier jedoch nicht vor. Die Erklärung zielt vielmehr auf eine möglichst breite Außenwirkung ab, um die Verwirklichung der proklamierten Menschenrechte zu erreichen. Unterstützend ist hinzuzufügen, daß auch die Staatenvertreter selbst bei der Abstimmung von einer lediglich politischen und moralischen Verpflichtungswirkung der A E M R ausgingen. So betonte beispielsweise die Vertreterin der USA, Frau Roosevelt, daß nach Ansicht ihrer Regierung durch die A E M R kein Staat zur Durchführung konkreter Maßnahmen verpflichtet sei7. Zuvor hatte sie auch im 3. Ausschuß der Generalversammlung, der mit der Ausarbeitung der Deklaration betraut war, auf die rechtliche Unverbindlichkeit der Deklaration hingewiesen8. Lediglich fünf Staaten hielten eine Rechtsbindung nicht für ausgeschlossen9. Nach erfolgter Abstimmung betonte zusammenfassend auch der Präsident der Generalversammlung, daß damit nur ein erster Schritt getan worden sei die Deklaration verpflichte die Staaten nämlich nicht mit Rechtsbindung, die in ihr niedergelegten Rechte und Garantien zu gewährleisten 10. Somit hatte die A E M R jedenfalls ursprünglich keine rechtliche Verbindlichkeit. 5

Vgl. dazu nur Schermers, International Institutional Law, § 1103. Bspw. Art. 4 VN-Charta: Zulassung neuer Mitglieder; Art. 17 VN-Charta: Genehmigung des Budgets. Weitere Beispiele finden sich bei Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 129-137. 7 Dep. of State Bulletin, Vol. 19, Nr. 494 v. 19. 12. 1948, S. 751. Eine informative Zusammenstellung der entsprechenden Erklärungen der Staatenvertreter findet sich bei Robinson, Universal Declaration, S. 40-47. 8 U N G A OR, 3rd Committee, 3rd session, 1948-49, 89th mtg., S. 32: "The draft declaration was not a treaty or international agreement and did not impose legal obligations; . . . Although it was not legally binding, the declaration would have, nevertheless, considerable weight." 9 Schwelb, V N 1973, S. 180, nennt Belgien, Bolivien, Frankreich, Libanon, Uruguay. 10 U N G A OR, 3rd session, 1948-49, plen. mtg., S. 912 ff. (934): " . . . As had been pointed out, however, the Declaration only marked a first step since it was not a convention by which States would be bound to carry out and give effect to the fundamental human rights; nor would it provide for enforcement; yet it was a step fore ward in a great evolutionary process." 6

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen 2. Verbindlichkeit zum heutigen Zeitpunkt?

Fraglich ist aber, ob diese Einordnung als rechtlich unverbindliches Instrument auch heute noch, rund 40 Jahre nach der Verkündung der A E M R , Bestand haben kann. Denn die Versuche, die A E M R unter die Quellen des Völkerrechts einzuordnen, haben in den letzten Jahren zugenommen. So soll die Deklaration inzwischen gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt haben 11 , allgemeine Rechtsgrundsätze i. S. Art. 38 (c) IGH-Statut verkörpern 12 oder als authentische Interpretation der VN-Charta rechtliche Bindungswirkung entfalten 13 . Von dieser Frage - ob die Deklaration selbst rechtsverbindlich geworden ist - ist die danach zu untersuchende Frage zu trennen, ob möglicherweise bestimmte, in ihr formulierte Prinzipien Rechtsverbindlichkeit erlangt haben, sei es über die Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Denn nur in dem erstgenannten Fall wäre die Deklaration selbst rechtsverbindlich geworden mit der Folge, daß sie im Rahmen dieser Abhandlung unmittelbar heranzuziehen wäre. Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwieweit die Ansätze, ihr selbst Rechtsqualität zuzusprechen, zu überzeugen vermögen. a) Völkergewohnheitsrecht Daß sich die A E M R im Laufe der Zeit gewohnheitsrechtlich verfestigt haben könnte, erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach „klassischem" Völkerrechtsverständnis setzt dies sowohl eine konstante Staatenpraxis als auch eine sie tragende Rechtsüberzeugung voraus 14 . Einen anderen Ansatz wählen die Vertreter des „instant customary law" 1 5 : Unter Verzicht auf das Erfordernis der Staatenpraxis soll Völkergewohnheits11 Lillich/Newman, International Human Rights, S. 66; Humphrey, History, Impact and Juridical Character, S. 28 ff. (37); ders., Human Rights and the United Nations, S. 65; Salcedo, EPIL 8, S. 307; Cohen-Jonathan, EPIL 8, S. 297. 12 Waldock, RdC 106 (1962 II), S. 198 f.; Lillich, RdC 161 (1978 III), S. 399; a. A . seinerzeit Cassin, RdC 79 (1951 II), S. 294, der lediglich eine allmähliche Entwicklung einiger Regeln zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen für möglich hielt. 13 Tunkin, Völkerrechtstheorie, S. 198 f.; Brunet, Garantie internationale, S. 209; Lauterpacht, International Law, Vol. I I I , S. 418 f.; Capotorti, Comunità Internazionale 1967, S. 13; Gros-Espiell, in: Ramcharan, Human Rights, S. 45; Sohn, TexILJ 12 (1977), S. 135. 14 Vgl. dazu nur die Ausführungen des I G H im Festlandsockelurteil, ICJ-Reports 1969, S. 44 § 77: "Not only must the acts concerned amount to a settled practice, but they must also be such, or be carried out in such a way, as to be evidence of a belief that this practice is rendered obligatory by the existence of a rule of law requiring it. . . . The States concerned must therefore feel that they are conforming to what amounts to a legal obligation." 15 Cheng, IndJIL 5 (1965), S. 37 ff.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

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recht schon unmittelbar durch die Z u s t i m m u n g zu einer Resolution entstehen. Diese Ansicht läßt sich jedoch m i t dem traditionellen Begriff des Gewohnheitsrechts, dem auch der I G H folgt, nicht mehr vereinbaren. D e n n dessen Charakteristikum ist gerade nicht die unmittelbare Entstehung des Rechts, sondern eine allmähliche Fortbildung unverbindlicher Sätze zu verbindlichen Rechtsnormen. Besteht also eine konstante Staatenpraxis dahingehend, die Bestimmungen der A E M R als verbindliche Regelungen zu befolgen? Seit ihrer Proklamation wurde i n den verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen ständig auf sie Bezug g e n o m m e n 1 6 ; auch haben unter ihrem Einfluß, wie die Befürworter einer gewohnheitsrechtlichen Geltung der A E M R hervorheben, Staaten ihre Gesetzgebung angepaßt 1 7 . Reicht dies nun aus, u m eine konstante Staatenpraxis bejahen zu können? D i e Verfechter dieser Ansicht machen vor allem geltend, daß i m modernen Staatenverkehr das Verhalten der Staaten i n internationalen Organisationen 16 Schon 5 Monate nach ihrer Verkündung geschah dies zum ersten Mal (Fall der sowjetischen Frauen: Die UdSSR verweigerte der sowjetischen Frau des chilenischen Botschafters, die mit ihrem Mann das Land verlassen wollte, die Ausreise). Die Generalversammlung berief sich auf Art. 13 und 16 A E M R und appellierte an die UdSSR, von solchen Maßnahmen Abstand zu nehmen, da sie gegen die Charta verstießen, U N G A Res. 285 (III) v. 25. 4. 1949. Die „Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples", U N G A Res. 1514 (XV) v. 14. 12. 1960, angenommen mit 89 Stimmen bei 9 Enthaltungen und keiner Gegenstimme, schließt mit dem Aufruf: "7. A l l States shall observe faithfully and strictly the provisions of the Charter of the United Nations, the Universal Declaration of Human Rights and the present Declaration." Art. 2 der Teheran-Proklamation (Final Act of the International Conference on Human Rights, Teheran, 22. 4. - 13. 5. 1968, A/Conf. 32/41, S. 4, später bekräftigt von der Generalversammlung durch U N G A Res. 2242 ( X X I I I ) v. 19. 12. 1968) behandelt die A E M R ebenfalls als rechtlich bindend: " . . . constitutes an obligation for the members of the international community . . . " . So auch der Sicherheitsrat in U N SC Res. S/5471 v. 4. 12. 1963, wonach Apartheid verurteilt wurde als Verhalten " . . . in violation of South Africa's obligations as a member of the United Nations and of the provisions of the Universal Declaration of Human Rights." 17 A m augenfälligsten wird ihr Einfluß in den Fällen, in denen wörtlich auf die A E M R bezug genommen wird, etwa in folgenden Verfassungen (alle zitiert nach Blaustein/Flanz): - Afghanistan (Revolutionsrat 1980), Präambel Abs. III: "The leading of Afghanistan from backwardness toward . . . progress . . . will be based on the respect for the Universal Declaration of Human Rights"; - Kamerun (1972), Präambel Abs. 2: "The people of Cameroon . . . affirms its attachment to the fundamental freedoms embodied in the Universal Declaration . . . " ; - Mali (1974), Präambel Abs. 3: "The Republic of Mali solemnly reaffirms the Rights of Men and Citizen as sanctioned by the Universal Declaration . . . " . Weitere Beispiele finden sich bei Schwelb, ASIL-Proceedings 53 (1959), S. 220 ff.

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

sowohl als Staatenpraxis als auch als opinio juris Völkergewohnheitsrecht herausbilden könne: Als Rechtsüberzeugung werden die in der Organisation vertretenen Positionen gesehen, als Praxis das Abstimmungsverhalten 18 . Unter Berufung darauf, daß die Staatenvertreter bei der Stimmabgabe vom jeweiligen Außenministerium autorisiert worden seien, sollen die Staaten also „beim Wort genommen" werden: Es gehe nicht an, daß die Staaten bei Deklarationen wie der A E M R , in denen ein allgemeiner Konsensus Ausdruck finde, hinterher im Widerspruch zu ihrem Abstimmungsverhalten agierten 19 . Diese Auffassung vermag jedoch aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen 20 : Sie berücksichtigt nämlich nicht, daß eine rechtspolitische Forderung dadurch noch nicht den Charakter eines Rechtssatzes erhält, daß sie - wenn auch häufig - in Instrumenten ebenfalls ohne Rechtssatzcharakter wiederholt wird 2 1 . Zudem ist zu bedenken, daß möglicherweise ein Konsens gerade deshalb erzielt werden kann, weil den Staaten die Unverbindlichkeit der Absichtserklärung bewußt ist, sie also darauf vertrauen, später an ihr nicht im Sinne einer rechtlichen Verpflichtung festgehalten zu werden. Die Vermutung liegt daher nahe, daß die Abstimmung völlig anders ausfiele, wenn die Staaten durch ihre Abstimmung eine Rechtsverbindlichkeit begründeten 22 . Erst das Staatenverhalten im rechtlich verbindlichen Bereich, das rechtliche Verpflichtungen begründet oder deren Erfüllung von anderen einfordert und damit über bloße Lippenbekenntnisse hinausgeht, vermag zu zeigen, ob ein proklamiertes Konzept auch als rechtlich relevant angesehen wird. Das Abstimmungsverhalten der Staaten allein erfüllt daher nicht das Erfordernis einer konstanten Staatenpraxis. Auch aus dem Einfluß der A E M R auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kann nicht auf eine Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht geschlossen werden. Dabei sei davon abgesehen, daß nicht leicht feststellbar ist, inwieweit die Gestaltung einer Verfassung eine Reaktion auf Verpflichtungen des Staates aus seinen internationalen Bindungen ist. Jedenfalls fällt auf, daß diese Verfassungen typischerweise die Prinzipien der A E M R als Leitgedanken des Staates aufgreifen, ohne jedoch der A E M R als Regelungswerk 18

Humphrey, History, Impact and Juridical Character, S. 31; ders., RevJurPol 36 (1982), S. 398; Asamoah, Legal Significance, S. Ά ff. (57); Tanaka, Diss. Op. zum Südwestafrika-Urteil des I G H , ICJ-Reports 1966, S. 248 ff. (290). 19 Humphrey, History, Impact and Juridical Character, S. 31; ders., RevJurPol 36 (1982), S. 398. 20 So auch Verdross/Simma, Völkerrecht, § 637; Colliard, S. 280 („pré-droit"); Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 337 c, 337 d a; Verdross, Quellen, S. 140; Higgins, ASIL-Proceedings 64 (1970), S. 47 f. ; Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 468; Tunkin, RdC 147 (1975 I V ) , S. 148; Heidenstecker, V N 1979, S. 207. 21 Partsch, Handbuch V N , S. 279; MacGibbon, in: Cheng, International Law, S. 17. 22 Arangio-Ruiz, RdC 137 (1972 II), S. 476 f.; Rusk, GeoJICL 11 (1981), S. 315; Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 469 m.w.N.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

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eine rechtliche Bindungswirkung beizumessen. Ein Indiz dafür ist, daß jeweils in den Präambeln der Verfassungen auf sie bezug genommen wird, nicht aber in den Abschnitten über die effektiv gewährleisteten Grundrechte und -freiheiten. Besonders deutlich wird die Überzeugung, durch die A E M R lediglich politisch und moralisch verpflichtet zu sein, bei denjenigen Verfassungen, die nach ausdrücklicher Bezugnahme auf die A E M R in dem folgenden Grundrechteteil nur einige - und keineswegs alle - der in der A E M R proklamierten Menschenrechte verfassungsmäßig garantieren 23 . Gegen die Bildung von Völkergewohnheitsrecht spricht aber vor allem, daß die Vereinten Nationen selbst die Ausarbeitung zweier Menschenrechtspakte für nötig erachteten, um den AEMR-Garantien Rechtsverbindlichkeit zu verleihen 24 . Indiziell ist hier nicht nur die lange Dauer der Vorarbeiten (erst rund 20 Jahre nach der Verkündung der A E M R waren die Pakte ausgearbeitet), interessant ist auch ein Vergleich der Staaten, die der A E M R zugestimmt hatten und jenen, die sich auch den Pakten unterworfen haben: Ein Drittel der damals zustimmenden Staaten hat bislang weder den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte noch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert 25 . Dies spricht umso mehr gegen die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht, als die in den beiden Pakten statuierten Rechte nicht über die in der A E M R verkündeten Garantien hinausgehen, sondern ihnen im wesentlichen entsprechen. Die Eigentumsgarantie (Art. 17 A E M R ) und das Asylrecht (Art. 14 A E M R ) fehlen sogar in den Pakten. Zudem scheinen die dort niedergelegten Rechte durch ausgearbeitete Schrankenregelungen in den Pakten enger umgrenzt und nicht so weitgehend wie in der A E M R zu sein. Somit hat die A E M R keine gewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit erlangt.

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Z. B. die Verfassung der Komoren, deren Präambel lautet: "On the basis of the Universal Declaration of Human Rights it proclaims and guarantees . . . " , wo aber im Grundrechteteil beispielsweise der Ehe- und Familienschutzartikel fehlt. Ebensowenig ist er enthalten in der Verfassung von Guinea-Bissau, deren Art. 11 lautet: "In accordance with the fundamental principles of the Universal Declaration of Human Rights . . . the State shall guarantee fundamental rights . . . " . (Alle Verfassungen zitiert nach Blaustein/Flanz.) Oft fehlt schon eine so grundlegende Garantie wie das Recht auf Leben, vgl. dazu die Untersuchung bei Desch, ÖZöRV 36 (1985), S. 79 ff. 24 Dies hält auch Brügel, E A 1949, S. 2533, für entscheidend. 25 Äthiopien, Argentinien, Brasilien, Birma, China, Guatemala, Haiti, Kuba, Liberia, Mexiko, Pakistan, Paraguay, Thailand (vormals Siam), Türkei, Vereinigte Staaten.

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

b) Allgemeiner Rechtsgrundsatz Eine Möglichkeit, die Deklaration selbst als allgemeinen Rechtsgrundsatz anzusehen und so ihre Verbindlichkeit zu begründen, gibt es nicht. Eine Bindungswirkung gem. Art. 38 (c) IGH-Statut käme nur für einzelne Prinzipien der Deklaration in Betracht, deren normative Geltung dann zudem nicht auf einer Verbindlichkeit der Erklärung an sich beruhte, sondern sich auf ihre Existenz als allgemeiner Rechtsgrundsatz gründete 26 . c) Authentische Interpretation Die letzte Möglichkeit, der A E M R selbst rechtliche Verbindlichkeit zuzuerkennen, ist - erachtet man die Aufzählung der Rechtsquellen in Art. 38 I des IGH-Statuts nicht als abschließend27 - , sie als authentische Interpretation der VN-Charta anzusehen28. Ihr käme dann dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie der Charta zu: Alle Mitglieder der Vereinten Nationen wären an sie rechtlich gebunden. Voraussetzung ist, daß sich die Auslegung im Rahmen des Satzungszwecks hält und die Charta weder erweitert noch ergänzt 29 . Denn hierfür ist in der Charta gem. Art. 108 und 109 das Verfahren der Chartaänderung oder -revision vorgesehen. Trotz wiederholter Bezugnahme der Charta auf die Menschenrechte (neben der Präambel und Art. 1 auch in Art. 55, 56, 62, 68 und 76) enthält die Charta selbst weder eine Definition noch einen Katalog der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Zwar hatten einige Teilnehmer der Konferenz von San Franzisco 1945 die Ausformulierung spezifizierter Menschenrechtsgarantien und die Aufnahme einer „Bill of Rights" der Völker und Einzelpersonen befürwortet, doch wurden diese Vorschläge aus Zeitgründen abgelehnt: Erst nach erfolgter Gründung der Organisation sollte dieses Projekt über die Generalversammlung angegangen werden 30 . Die bewußte Vertagung des Projekts legt den Schluß nahe, daß die Staaten durch die Ratifikation der Charta zunächst nur generell zu einer menschenrechtsfreundlichen Politik, etwa zu einer positi26 So auch Humphrey, History, Impact and Juridical Character, S. 29; Heidenstekker, V N 1979, S. 208. 27 Dazu Simma, Methodik, S. 97 f. m. zahlr. w. Ν.: Die ursprünglichste Quelle des Völkerrechts ist seine Erzeugung durch zwischenstaatlichen Konsens. Daher kann Art. 38 IGH-Statut keine abschließende Regelung enthalten. 28 Tunkin, Völkerrechtstheorie, S. 204 f.; Capotorti, Comunità Internazionale 1967, S. 13 f.; Lauterpacht, International Law, Vol. I I I , S. 418 f. 29 Heidenstecker, V N 1979, S. 209; dazu auch Scheuner, V N 1978, S. 113 [bzgl. U N G A Res. 2625 (XXV)]. 30 Documents of the United Nations Conference on International Organization (UNCIO), San Francisco 1945, Vol. 6 (1945), S. 456.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

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ven Haltung gegenüber späteren Menschenrechtskodifikationen, verpflichtet werden sollten; die konkret zu gewährleistenden Rechte sollten separat festgelegt werden. Es spricht somit einiges dafür, eine authentische Interpretation der Charta durch die A E M R schon deshalb abzulehnen, weil dies eine Ergänzung der Charta darstellte und daher das spezielle Verfahren der Art. 108,109 VN-Charta Anwendung finden müßte. Weitere Voraussetzung für die Begründung eines verpflichtenden Menschenrechtskataloges im Wege einer authentischen Charta-Interpretation ist, daß die Generalversamlung hierfür zuständig ist. Dies wurde in San Franzisco grundsätzlich bejaht, jedoch mit der Einschränkung, daß eine bindende Interpretation nur bei Einigkeit aller Mitgliedstaaten in Frage komme 31 . Bei einer Resolution der Generalversammlung muß ferner die Absicht der abstimmenden Staaten hinzukommen, die Charta authentisch zu interpretieren 32 . Bei der A E M R sind beide Voraussetzungen nicht erfüllt: Sie wurde - bei acht Enthaltungen - nicht einstimmig angenommen (wie im übrigen auch zahlreiche der folgenden Resolutionen, die sich auf die A E M R beriefen 33 . Auch ein genereller Wille zu einer bindenden authentischen Interpretation läßt sich nicht finden 34 , vielmehr ging man von einer bloßen politischen und moralischen Wirkung aus. Eine authentische Interpretation der Charta kann daher nicht angenommen werden. Die A E M R ist daher, wenngleich von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Weiterentwicklung der Menschenrechte und die später folgenden Kodifikationen, „lediglich" politisch und moralisch verpflichtend, nicht aber im streng rechtlichen Sinne 35 . Ihre Ehe- und Familienschutzbestimmungen sind daher im Rahmen dieser Arbeit nicht unmittelbar zu untersuchen. Auf ihren Einfluß wird jedoch im Folgenden wiederholt einzugehen sein.

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UNCIO, Vol. 13, S. 709 f. (710): "It is to be understood, of course, that if an interpretation made by any organ of the Organization . . . is not generally acceptable it will be without binding force." 32 Verdross/Simma, Völkerrecht, § 296; Skubizewski, Fschr. Mosler, S. 899m.w.N.; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 337 f. 33 S. o., Fn. 16 in diesem Kapitel. 34 Mit Ausnahme des französischen Delegierten René Cassin, der eine authentische Interpretation für möglich hielt, U N G A OR, 3rd Committee, 3rd session, 1948-49, 92. mtg., S. 61. 35 So schon früher Brügel, E A 1949, S. 2533; Schwelb, Human Rights, S. 38 ff. (40); Cotta, I Doveri, S. 106; Verdoodt, Naissance, S. 319 ff. (331); Partsch, E M R K , S. 11; Reale, Comunità Internazionale 1966, S. 4; Henkin, International Organization 19 (1965), S. 506. Aus neuerer Zeit s. bspw. Robertson, Human Rights in the World, S. 28; Partsch, V N 1979, S. 21; Szabo, Historical Foundations, S. 23 f. ; Jacobs, ECHR, S. 3 Fn. 3; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 37 f.; Kimminich, Völkerrecht, S. 358. 3 Palm-Risse

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

II. Entwicklung der Ehe- und Familienschutzbestimmungen zu Völkergewohnheitsrecht oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen Die A E M R könnte durch ihre konkrete Ausformulierung von Grundrechten die Entwicklung einzelner Prinzipien zu Völkergewohnheitsrecht oder zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen begünstigt und ermöglicht haben 36 . Auch wenn der A E M R als solcher keine völkerrechtliche Bindungswirkung zukommt, kommt in Betracht, daß zumindest einzelne der in ihr proklamierten Rechte als Gewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze bindend geworden sind. Solche Rechtsgrundsätze könnten sich selbstverständlich auch unabhängig von der A E M R antwickelt haben. Die Konsequenz hieraus wäre, sollte dies für den Ehe- und Familienschutz zutreffen, daß nicht nur diejenigen Staaten zu solchem Schutz verpflichtet wären, die einschlägige Vertragswerke ratifiziert haben, sondern grundsätzlich alle Staaten der Völkergemeinschaft: Eheund Familienschutz wäre dann praktisch universell gewährleistet. 1. Völkergewohnheitsrecht

Zu prüfen ist daher zunächst, ob das in der A E M R enthaltene Prinzip des Ehe- und Familienschutzes (so wie dort niedergelegt oder auch anders) selbständig gewohnheitsrechtliche Bindung erlangt hat. Dies kommt nur dann in Betracht, wenn seine Bestimmungen klar genug umrissen sind, um einen Rechtsbefehl enthalten zu können 37 . Die Ehe- und Familienschutzbestimmungen, wie sie die A E M R formuliert, sind so konkret gefaßt, daß das Herausarbeiten der eventuell gewohnheitsrechtlich erstarkten Bestimmungen keine Schwierigkeiten macht 38 : Die Formulierungen sind nicht in der vagen, flexiblen Sprache politischer Absichtserklärungen abgefaßt, sondern sind bestimmt und präzise („have the right", „are/is entitled to", „shall be"). Sie sind daher geeignet, bindende Rechte zu statuieren und so den Rahmen festzulegen, in dem sich Völkergewohnheitsrecht entwickeln kann.

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So mißt der I G H Völkerrechtsverstöße auch an den "fundamental principles enunciated in the Universal Declaration of Human Rights", ICJ-Reports 1980 (Diplomatie and Consular Staff in Teheran), S. 42 § 91. S. auch Amoun (Sep. Op. zum Namibia-Gutachten des I G H ) , ICJ-Reports 1971, S. 67 ff. (76): "Although the affirmations of the Declaration are not binding qua international convention . . . they can bind the states on the basis of custom . . . " . 37 So der I G H im Festlandsockelurteil für Vertragsbestimmungen, wo sich insoweit vergleichbare Probleme stellen, ICJ-Reports 1969, S. 41 f. § 72: "It would in the first case be necessary that the provision concerned should . . . be of a fundamental norm-creating character such as could be regarded as forming the basis of a general rule of law." 38 So allgemein für Menschenrechte Lillich, RdC 161 (1978 I I I ) , S. 398.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

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Damit stellt sich die Frage, ob eine konstante Staatenpraxis, einhergehend mit einer sie tragenden Rechtsüberzeugung, zu vermerken ist. Es müßten sich also Staaten im zwischenstaatlichen Verkehr auf Ehe- und Familienschutzbestimmungen berufen und ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen haben, damit rechtlich verbindliche Vorschriften anzusprechen. Dies läge beispielsweise vor, wenn sich Staaten in Abwesenheit einschlägiger vertraglicher Beziehungen untereinander der Verletzung der Rechtspflicht um Ehe- und Familienschutz bezichtigten. Bemüht man sich um den Nachweis gewohnheitsrechtlicher Geltung von Völkerrechtssätzen im Menschenrechtsbereich, so ist zu beachten, daß Menschenrechte, u. a. die Ehe- und Familienschutzbestimmungen, in zahlreiche Vertragswerke aufgenommen worden sind: Es entstanden die Europäische Menschenrechtskonvention (1950), die Europäische Sozialcharta (1961), die beiden VN-Pakte von 1966, die Amerikanische (1969) und die Afrikanische Menschenrechtskonvention (1981). A n die darin enthaltenen Ehe- und Familienschutzbestimmungen sind diejenigen Staaten, die den Verträgen beigetreten sind, schon qua vertraglicher Verpflichtung gebunden. Ihre Praxis (im Verhältnis untereinander) ist daher für den Nachweis von Gewohnheitsrecht kaum ergiebig. Für die Frage, ob die Grundsätze des Ehe- und Familienschutzes über ihre vertragliche Fixierung hinaus gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt haben, kommt es daher in besonderem Maße auf das Verhalten der vertraglich nicht gebundenen Staaten und das diesen von anderen Staaten abverlangte Verhalten an 39 . Eine nähere Analyse der menschenrechtlichen Verpflichtungen, die außerhalb des Vertragsrechts behauptet worden sind, zeigt, daß lediglich ein Kern besonders gewichtig erscheinender Rechte als gewohnheitsrechtlich geltend in Betracht kommen kann. Deutlich wird die beispielsweise in der Praxis der USA. Obschon sie selber den menschenrechtlichen Kodifikationen ferngeblieben sind, spiel(t)en Menschenrechtsgesichtspunkte in ihrer Außenpolitik und Judikatur eine erhebliche Rolle. Anläßlich des 30. Jahrestages der A E M R bezeichnete der damalige Präsident Carter sie als " . . . beacon, a guide to a future of personal security, political freedom, and social justice.. . " 4 0

und versicherte, " . . . that the policies regarding human rights count very much in the character of our own relations with other individual countries. . . . Toward regimes which persist in wholesale violations of human rights, we will not hesitate to convey our outrage nor will we pretend that our relations are unaffected." 41 39 40

3*

S. dazu I G H im Festlandsockelurteil, ICJ-Reports 1969, S. 43-45. Dep. of State Bulletin 1979, S. 1.

36

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Dieses Statement zeigt zwar, daß sich die Vereinigten Staaten dem Gedanken der Menschenrechte auch auf internationaler Ebene verpflichtet fühlen. D o c h legen diese Zitate eher Zeugnis von einer bestimmten außenpolitischen L i n i e der Carter-Regierung ab, als daß sie völkerrechtliche

Staatenpraxis

begründen. Darüber hinaus sind offensichtlich vor allem fundamentale, massive Menschenrechtsverletzungen wie A p a r t h e i d , konstante Folterpraxis u. ä. angesprochen. Rechtlich ergiebiger, aber inhaltlich ganz ähnlich sind die Stellungnahmen von

US-Gerichten

zu

außervertraglichen

Menschenrechtsverbürgungen.

Wesentlichstes Beispiel hierfür sind die Ausführungen des U S Second Circuit Court of A p p e a l i n seinem vieldiskutierten 4 2 F i l a r t i g a - U r t e i l 4 3 , i n dem die gewohnheitsrechtliche Geltung eines gewissen Kernbestandes von Menschenrechten, speziell des Folterverbotes, anerkannt wurde: " . . . reaties (denen, wie vom Gericht vorher ausgeführt wurde, die USA nicht beigetreten waren, Anm. des Verf.) and accords . . . as well as the express foreign policy of our government ... make it clear that international law confers fundamental rights upon all people vis-à-vis their own governments. While the ultimate scope of these rights will be a subject for continuing refinement and elaboration, we hold that the right to be free from torture is now among them." 4 4 Dieser „ K e r n " der Menschenrechte w i r d zwar nicht näher definiert, doch w i r d deutlich, daß eine gewohnheitsrechtliche Geltung nicht für alle, sondern nur für ganz elementare Grundfreiheiten für möglich gehalten w i r d 4 5 . Diese 41

Dep. of State Bulletin 1979, S. 1. S. auch Secretary of State Vance, ebenda, S. 3: "We are here to rededicate ourselves to the principles of the Universal Declaration

42 Einen Überblick über die Reaktionen und Meinungen bietet das Symposium „Federal Jurisdiction, Human Rights, and the Law of Nations", GeoJICL 11 (1981), S. 305 ff. 43 Filartiga v. Pena-Irala, I L M 19 (1980 I I ) , S. 966 ff.: Ein paraguayanischer Staatsangehöriger war von paraguayanischen Beamten zu Tode gefoltert worden. Seine Eltern klagten gegen den Folterer vor dem amerikanischen Gericht auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung. Das Gericht bejahte seine Zuständigkeit nicht aufgrund eines Vertrages, da kein von den USA geschlossener Vertrag in Rede stand, sondern wegen der Verletzung allgemeinen Völkerrechts (gewohnheitsrechtliche Geltung des Folterverbots). 44 Filartiga v. Pena-Irala, a.a.O., S. 975. 45 Filartiga v. Pena-Irala, a.a.O., S. 971: "Indeed, there are few, if any, issues in international law today on which opinion seems to be so united as the limitation on a state's power to torture persons in its custody.", und "For although there is no universal agreement as to the precise extent of the 'human rights and fundamental freedoms' guaranteed to all by the Charter, there is at present no dissent from the view that the guarantees include, at a bare minimum, the right to be free from torture. This prohibition has become part of customary international law, as evidenced and defined by the Universal Declaration of Human Rights." So auch Frowein/Kühner, ZaöRV 43 (1983), S. 539, 542.

37

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

Begrenzung auf besonders schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen w i r d auch am Ende des Urteils noch einmal besonders hervorgehoben: " . . . he torturer has become - like the pirate and slave-trader before him - hostis humani generis , an enemy of all mankind. Our holding today is a small but important step in the fulfillment of the ageless dream to free all people from brutal violence." 46 Das Gericht folgte damit den Ausführungen der US-Regierung als amicus curiae

über

die gewohnheitsrechtliche

Verankerung

essentieller,

in

der

A E M R formulierter Menschenrechte 4 7 . Ä h n l i c h verläuft auch die A r g u m e n t a t i o n des U S District Court of Kansas, in der willkürliche Verhaftungen als gewohnheitsrechtlich verboten qualifiziert w e r d e n 4 8 . Dieser Ansicht schloß sich auch der i n zweiter Instanz m i t dem Fall befaßte U S Court of Appeals for the T e n t h Circuit a n 4 9 . I n die gleiche Richtung geht das T e l - O r e n - U r t e i l des U S Court of Appeals for the District of Columbia Circuit (wiederum bezüglich Folter): "The interference is that persons may be susceptible to civil liability if they commit either a crime traditionally warranting jurisdiction (damit sind Piraterie und Sklavenhandel gemeint, wie vorher ausgeführt wurde, Anm. d. Verf.) or an offence that comparably violates current norms of international law." 5 0 46

Filartiga v. Pena-Irala, a.a.O., S. 980. I L M 19 (1980), S. 585 ff. (539): Die A E M R " . . . does not have the legal effect of a treaty but provides evidence of customary international law." 48 Rodriguez-Fernandez v. Wilkinson, 505 F.Supp. 787 (D. Kan. 1980), S. 787 ff. (796): "There are a great number of other (i. e. als die VN-Charta, Anm. d. Verf.) declarations, resolutions and recommendations. While not technically binding, these documents do establish broadly recognized standards. The most important of these is the Universal Declaration of Human Rights." Unter Hinweis auf ihren rechtlich unverbindlichen Charakter führte das Gericht weiter (S. 789) aus: "Our review of the sources from which customary international law is derived clearly demonstrates that arbitrary detention is prohibited by customary international law." 49 Rodriguez-Fernandez v. Wilkinson, 654 F.2d 1382 (10th Cir. 1981), S. 1382 ff. (1388): "No principle of international law is more fundamental than the concept that human beings should be free from arbitrary imprisonment." 50 Hanoch Tel-Oren v. Libyan Arab Republic et al., I L M 24 (1985), S. 370 ff. (377). Als Beispiele für gleichwertige Verstöße werden - in Anlehnung an den im American Law Institute erarbeiteten „Tentative Draft No. 3" des „Restatement of Foreign Relations Law of the US (Revised)", abgedruckt in A J I L 76 (1982), S. 653 ff. (655) genannt: " . . . state-practiced, -encouraged or condoned a) genocide b) slavery or slave-trade; c) the murder or causing the disappearance of individuals; d) torture or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment; e) prolonged arbitrary detention; 47

38

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Das deutsche Bundesverfassungsgericht zählt ebenfalls einen „menschenrechtlichen Mindeststandard" zum allgemeinen Völkerrecht 51 . Zumindest auf der universellen Ebene ist die Schweiz menschenrechtliche Bindungen nicht eingegangen. Dennoch zieht das schweizerische Bundesgericht völkerrechtliche Normen, an die die Schweiz nicht qua Ratifikation gebunden ist, in Einzelfällen zur Argumentationsunterstützung heran. In einem Auslieferungsfall hat das Schweizerische Bundesgericht beispielsweise das Folterverbot als zwingende Regel des Völkerrechts angesehen, an die die Schweiz unabhängig von Verträgen gebunden sei 52 . Eine einheitliche Linie, eine sich aus menschenrechtlichen Kodifikationen - und hier wiederum speziell aus deren Ehe- und Familienschutzbestimmungen - ergebende außervertragliche Bindungen anzuerkennen, ist jedoch nicht ersichtlich 53 . Neben dem Verhalten einzelner Staaten ist auch die Praxis in internationalen Organisationen von Bedeutung, soweit sie nicht nur im unverbindlich politischen Raum, sondern im Bereich rechtlicher Verpflichtungen angesiedelt ist. Dies gilt möglicherweise für bindende Entschließungen des Sicherheitsrates. Die bislang einzigen Fälle verbindlicher Resolutionen bezogen sich auf Staaten, deren Menschenrechtsverletzungen als Kern der Bedrohung der internationalen Sicherheit beurteilt wurden. Nach Kapitel V I I VN-Charta bindende Resolutionen des Sicherheitsrates gegenüber Ländern ohne vertragliche Verpflichtung zur Gewährleistung der Menschenrechte ergingen beispielsweise gegenüber Rhodesien 54 und Südafrika 55 . Zwar stehen die Resolutionen im f) systematic racial discrimination; g) consistent patterns of gross violations of internationally recognized human rights." In dem „Tentative Draft" werden diese Beispiele als „customary international law of human rights" bezeichnet. 51 BVerfGE 46, S. 346 ff. (362): Botschaftskontenfall. Hierzu soll nach einer frühen Entscheidung aus dem Jahre 1964 aber wohl eine so grundlegende Bestimmung wie das Recht auf Leben nicht uneingeschränkt zählen: BVerfGE 18, S. 112 ff. (118), wo die Auslieferung trotz drohender Todesstrafe für zulässig erachtet wurde. In einer späteren Entscheidung - BVerfGE 60, S. 348 ff. (354) - wurde dies offengelassen. 52 Fall Mehmet Sener, BGE 109 I b, S. 64 ff. (72) und EuGRZ 1983, S. 253 ff.(255); s. auch BGE 1011 a, S. 533 ff. (541). 53 Vgl. hierzu die Zusammenstellung bei Ritterband, Universeller Menschenrechtsschutz, S. 165-167. 54 Z. B. U N SC Res. 217 (1965) v. 20. 11. 1965: " . . . 3. Condemns the usurpation of power by a racist settler minority in Southern Rhodesia and regards the declaration of independence as having no legal validity; U N SC Res. 221 (1966) v. 9. 4. 1966; U N SC Res. 232 (1966) v. 16. 12. 1966: "1. Determines that the present situation in Southern Rhodesia constitutes a threat to international peace and security; . . . " ; U N SC Res. 409 (1977) v. 27. 5. 1977. 55 Z. B. U N SC Res. 392 (1976) v. 19. 6. 1976; U N SC Res. 417 (1977) v. 31. 10. 1977; U N SC Res. 418 (1977) v. 4. 11. 1977: " . . . strongly condemning the South African Government for its resort to massive violence against and killing the South African people . . . opposing racial discrimina-

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

39

Zusammenhang der Friedenssicherung. D e n tatsächlichen H i n t e r g r u n d aber bildeten Menschenrechtsverletzungen wie Rassendiskriminierung und A p a r t heid. D e m verpflichtenden Verlangen nach Einstellung dieser Praktiken liegt daher logisch die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit zugrunde. Diese Beispiele zeigen, daß sich Staaten in internationalem Zusammenhang verschiedentlich auch außerhalb vertraglicher Bindungen auf die Menschenrechte beriefen. A l l e n Fällen ist gemeinsam, daß ihnen Situationen gravierendster Menschenrechtsverletzungen zugrundelagen. A u c h der I G H erkennt einen solchen „ K e r n " der Menschenrechte an, der außerhalb vertraglicher N o r m i e r u n g bindend ist: „Ces obligations découlent par exemple, dans le droit international contemporain, de la mise hors la loi des actes d'agression et du genocide mais aussi des principes et des règles concernant les droits de la personne humaine, y compris la protection contre la pratique de l'esclavage et la discrimination raciale. Certains droits de protection correspondants se sont intégrés au droit international général.. , " 5 6 Für die A n n a h m e , daß hier der elementarste Bestand der Menschenrechte gemeint ist, spricht, daß so gravierende Verstöße wie Sklaverei u n d Rassendiskriminierung i n einem A t e m z u g mitgenannt w e r d e n 5 7 . O b somit tatsächlich tion, and calling upon that Government urgently to end violence against the South African people and to take urgent steps to eliminate Apartheid and racial discrimination, considering that the policies and acts of the South African Government are frought with danger to international peace and security . . . " ; U N SC Res. 421 (1977) v. 9. 12. 1977, alle einstimmig angenommen. 56 ICJ-Reports 1970 (Barcelona Traction), S. 32 § 34. Ähnlich ist auch die Äußerung des I G H im Namibia-Gutachten, ICJ-Reports 1971, S. 57 § 131, wo er zur Apartheid ausführte: "To establish, . . . and to enforce, distinctions, exclusions, restrictions and limitations exclusively based on grounds of race, colour, descent or national or ethnic origin which constitute a denial of fundamental human rights is a flagrant violation of the purposes and principles of the Charter." Das amerikanische Memorial im Fall des US Diplomatic and Consular Staff in Teheran sprach von Menschenrechten, deren Respektierung kraft Völkergewohnheitsrecht geschuldet werde (ICJ-Pleadings 1980, S. 182 f.) Dazu führte der I G H (ICJ-Reports 1980, S. 42 § 91) aus: "Wrongfully depriving human beings of their freedom and to subject them to physical constraint in conditions of hardship is in itself manifestly incompatible with the principles of the Charter of the United Nations, as well as with the fundamental principles enunciated in the Universal Declaration of Human Rights." 57 So auch Frowein, Fschr. Mosler, S. 243 f., und Meron, A J I L 80 (1986), S. 10 f., mit einem zusätzlichen Argument, das sich auf die englische Fassung der BarcelonaTraction-Entscheidung stützt: "Such obligations derive, for example, in contemporary international law, from the outlawing of acts of aggression, and of genocide, as also from the principles and rules concerning the basic rights of the human person , including protection from slavery and racial discrimination." (Hervorh. v. Verf.) Die Formulierung „basic rights" im Unterschied zu der sonst

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

ein Kernbestand an Menschenrechten Eingang ins Völkergewohnheitsrecht gefunden hat, muß jedoch für die Zwecke dieser Untersuchung nicht abschließend entschieden werden, da Ehe- und Familienschutzbestimmungen nicht zu diesem Kernbestand gerechnet werden können. Anders gewendet: Ehe- und Familienschutzbestimmungen gehören nicht zum menschenrechtlichen Mindeststandard; es besteht ein qualitativer Unterschied zu so schwerwiegenden Verletzungen wie Folter, Apartheid oder Völkermord. Zur weiteren Überprüfung der These, daß der menschenrechtliche Eheund Familienschutz nicht gewohnheitsrechtlich verfestigt ist, sollen seine Bestimmungen anhand folgender Kriterien einem Vergleich mit anderen Menschenrechten unterzogen werden 58 : (1) Derogierbarkeit der Rechte 59 (2) Vorliegen eines „international crime" bei einem Verstoß 60 und (3) Einschränkbarkeit dieser Rechte 61 . Vergleichsgrundlage sind dabei die in verschiedenen Vertragswerken niedergelegten Ehe- und Familienschutzbestimmungen. A n ihnen läßt sich ablesen, welcher Stellenwert ihnen im Vergleich zu anderen Menschenrechten zukommen sollte. (1) Sind Ehe- und Familienschutzbestimmungen notstandsfest? Während im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) die Ehe- und Familienschutzbestimmungen in Krisenzeiten derogierbar sind (Art. 15 E M R K , Art. 4 IPBPR), dürfen diese Vorschriften nach der (neueren) Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AmK) nicht außer Kraft gesetzt werden (Art. 27 I I AmK). Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (AfrC) enthält keine Derogationsvorschrift. Notstandsfest sind im Rahmen der E M R K das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit sowie Art. 7 (nulla poena sine lege). Im Rahmen des IPBPR kommen noch hinzu: Verbot der gebräuchlichen Fassung „fundamental rights" zeige, daß hier nur der Kernbestand der Menschenrechte gemeint sei. In der authentischen französischen Fassung kommt dieser Unterschied allerdings nicht zum Ausdruck, weshalb es dem Auslegungsargument an Überzeugungskraft mangelt. 58 Eine solche Hierarchie lehnt Meron, A J I L 80 (1986), S. 3, 9 wegen mangelnder Unterscheidbarkeit grundsätzlich ab. 59 Suy, Fschr. Mosler, S. 938; Weis, RevDH 4 (1971), S. 674 f.; Lillich, RdC 161 (1978 I I I ) , S. 397; US Court of Appeals for the District of Columbia Circuit im Fall TelOren, I L M 24 (1985), S. 377. 60 Sohn, GeoJICL 11 (1981), S. 309; Domb, IsrYbHR 6 (1976), S. 116; Blum/Steinhardt, HarvILJ 22 (1981), S. 87-96; Suy, Fschr. Mosler, S. 939. Blum/Steinhardt, HarvILJ 22 (1981), S. 89.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

41

Schuldhaft, das Recht, als rechtsfähig anerkannt zu werden, und schließlich die Gewissens- und Religionsfreiheit. Bei der A m K ist das Spektrum wesentlich breiter: Notstandsfest sind hier u. a. das Recht auf einen Namen, Recht auf Teilhabe an der Regierungsgewalt, Justizgarantien, und eben die Ehe- und Familienschutzvorschriften. Diese breite Palette läßt Zweifel aufkommen, ob hier wirklich nur der „menschenrechtliche Mindeststandard" enthalten ist, weckt also erhebliche Bedenken gegenüber der Tauglichkeit der Notstandsfestigkeit als Abgrenzungskriterium. Es läßt sich - ohne darauf näher einzugehen - jedenfalls festhalten, daß es nicht eindeutig für oder gegen eine Einordnung der bewußten Vorschriften unter den „Kern" der Menschenrechte spricht. Hinzuzufügen ist, daß diejenigen Autoren, die die Derogierbarkeit als Unterscheidungskriterium vorschlagen, sich nur auf die Vorschriften der E M R K und des IPBPR mit ihren engen Derogationsbestimmungen beschränken 6 2 , die Ehe- und Familienschutzvorschriften nicht als notstandsfest schützen. (2) Ist ein Verstoß gegen Ehe- und Familienschutzbestimmungen als „international crime" anzusehen? Es ist anerkannt, daß bestimmte, besonders gravierende Völkerrechtsverstöße nicht nur die Verantwortlichkeit gegenüber dem verletzten Staat auslösen, sondern gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft 63. Der sich mit diesem Thema auseinandersetzende Entwurf der International Law Commission zählt dazu neben anderen, in diesem Zusammenhang nicht einschlägigen Bestimmungen "(c) a serious breach on a widespread scale of an international obligation of essential importance for safeguarding the human being, such as those prohibiting slavery, genocide and apartheid; . . . "

Diese Aufzählung von Beispielen verdeutlicht, daß hier nicht jede Menschenrechtsverletzung gemeint ist, sondern nur solche, die die Grundbedingungen der menschlichen Existenz betreffen und deren Verletzung ein menschenwürdiges Leben (im engsten Sinn) des Einzelnen ausschließt. Dies kann für die Vorenthaltung von Ehe- und Familienschutz nicht behauptet werden. Unterstützt wird diese Abgrenzung auch durch die in den Vorschlägen des „Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind" enthaltene Wertung über Verstöße gegen bestimmte Menschenrechte. Nicht jede Menschenrechtsverletzung soll danach den erhöhten Vorwurf eines „international crime" auslösen. Als Delikte, die wegen ihrer Schwere eine unmittel62 Suy, Fschr. Mosler, S. 938; Lillich, RdC 161 (1978 I I I ) , S. 397 a. E.; Weis, RevDH 4 (1971), S. 675 (nur Art. 15 E M R K ) . 63 „International crimes" im Unterschied zu „international delicts", s. Art. 19 des ILC-Draft on State Responsibility, Yb ILC 1976 I I , S. 88. Die Arbeiten an dem Entwurf konzentrieren sich derzeit auf andere Schwerpunkte, vgl. dazu die Zusammenfassung in U N , The work of the ILC, S. 97-99.

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

42

bare Verantwortlichkeit des handelnden Individuums begründen sollen, werden dort u. a. angeführt: "Article 2 The following acts are offences against the peace and security of mankind:

(10) Acts by the authorities of a State or by private individuals committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnic, racial or religious group as such, including: (i) Killing members of the group; (11) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (iii) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (iv) Imposing measures intended to prevent births within the group; (v) forcibly transferring children of the group to another group.

Art. 2 (10) entspricht damit wörtlich der in Art. I I der Genozid-Konvention niedergelegten Definition des Völkermordes 64 , der schwersten aller denkbaren Menschenrechtsverletzungen. Geburtenverhinderung und Kinderverschleppung als Maßnahmen, die auch in eklatanter Weise gegen den Familienschutzgedanken verstoßen, sollen also nur dann umfaßt werden, wenn sie gezielt zur Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe eingesetzt werden. Schutzobjekt ist dann nicht mehr das Familienleben, sondern die Existenz der bedrohten Gruppe. Zudem erhält der Verstoß wegen der beabsichtigten Massenvernichtung eine andere Qualität, eine zusätzliche Dimension, die ihn als ganz besonders gravierend erscheinen läßt. Auch die übrigen Menschenrechtsverletzungen, die ein „international crime" darstellen sollen, zählen zu den schwerwiegendsten Verstößen in diesem Bereich: (11) Inhuman acts such as murder, extermination, enslavement, deportations or persecutions, committed against any civilian population on social, political, racial, religious or cultural grounds by the authorities of a State or by private individuals .. ," 6 5 .

Damit wird deutlich, daß eine Verletzung von Ehe- und Familienschutzbestimmungen nicht zu den besonders schweren Menschenrechtsverletzungen gehört, die als „international crimes" zu qualifizieren sind. Im Gegenteil, sie würden aus dem Rahmen der so eingeordneten Delikte fallen. Dies spricht gegen eine Einordung der Ehe- und Familienschutzbestimmungen unter die essentiellsten Menschenrechte. 64 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes v. 9. 12. 1948, deutsche Quelle: BGBl. 1954 I I , S. 730 ff. 65 Yb ILC 1954 I I , S. 149 ff. (151 f.). Die im Jahre 1954 eingestellten Arbeiten sind aufgrund U N G A Res. 33/97 v. 16. 12.1978 von der ILC wieder aufgenommen worden, doch kommen sie derzeit nur schleppend voran, s. UN, The work of the ILC, S. 36 f.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

43

(3) Einschränkbarkeit der Rechte Dieser Eindruck wird bestätigt durch einen Blick auf die Einschränkungsmöglichkeiten der Rechte. Bis auf die AfrC, die keine ausdrücklichen Schranken enthält, sehen alle Menschenrechtsinstrumente Einschränkungsmöglichkeiten und/oder Regelungsmöglichkeiten durch nationale Gesetze vor 6 6 . Vergleicht man diese Regelungen mit dem Folter- oder Sklaverei verbot 67 , so wird der Unterschied deutlich: Diese Verbote gelten ohne jegliche Einschränkungen. Abschließend mag folgender Gedanke hinzugefügt werden: Die übereinstimmend als elementar angesehenen Menschenrechte sind weltweit nicht nur durch den IPBPR geschützt, sondern sie sind auch in separaten Konventionen verankert, die - soweit sie nicht erst aus jüngster Zeit stammen oder von einer Staatengruppe abgelehnt werden - eine erheblich höhere Anzahl von Ratifikationen aufweisen als der IPBPR 6 8 . Auch daran wird das große Interesse der Staatengemeinschaft deutlich, diese fundamentalen Rechte universell verbindlich zu garantieren: Durch Bedenken gegenüber den Gesamtregelungen des IPBPR soll kein Staat davon abgehalten werden, zumindest den Kernbestand der Menschenrechte als bindend anzuerkennen. Diese Möglichkeit steht ihm durch den Beitritt zu den speziellen Konventionen offen. Es ist somit festzuhalten, daß dem Ehe- und Familienschutz nicht dieselbe Qualität zukommt wie denjenigen Menschenrechten, die den elementaren, unverzichtbaren Kern ausmachen69. Eine gewohnheitsrechtliche Geltung von Ehe- und Familienschutzbestimmungen scheidet daher aus. 66 E M R K : Art. 12: Regelung durch nationale Gesetze, Art. 8: aufgrund Gesetz in 8 Fällen; IPBPR: Art. 17: Eingriff darf nur nicht willkürlich oder rechtswidrig sein, Art. 23: Einfluß nationaler Gesetze; ebenso Art. 17 A m K . 67 Folterverbot: Art. 3 E M R K , Art. 7 IPBPR, Art. 5 I I A m K ; Sklavereiverbot: Art. 4 E M R K , Art. 8 IPBPR, Art. 6 A m K . 68 Übereinkommen über die Sklaverei (25. 9. 1926, RGBl. 1929 I I , S. 178): 101 Vertragstaaten; Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (9. 12. 1948, BGBl. 1954 I I , S. 730): 97 Ratifikationen; Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (7. 3. 1966, BGBl. 1969 I I , S. 962): 124 Vertragstaaten; auf dem gleichen Gebiet die speziellere Internationale Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid (30. 11. 1973, U N G A Res. 3068 ( X X V I I I ) , dt. Übers.: V N 1975, S. 57): 87 Mitglieder, darunter kein Land der westlichen Staatengruppe; Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (10. 12. 1984, UN-Doc. A / Res./39/46, Annex, dt. Übers.: V N 1985, S. 31): 33 Mitglieder. 69 So auch die Literatur: Blum/Steinhardt, HarvJIL 22 (1981), S. 93 ff., zählen dazu Folter, Völkermord, Rassendiskriminierung und Sklaverei; Domb, IsrYbHR 6 (1976), S. 117: Recht auf physische Existenz, bestimmte Schutzrechte in Krisenzeiten, Sklavereiverbot; Sohn, GeoJICL 11 (1981), S. 309: Sklaverei, Folter; Weis, RevDH 4 (1971), S. 675: Recht auf Leben, Verbot unmenschlicher Behandlung und Folter, Verbot der Sklaverei, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen, Nichtdiskriminierung, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz vor willkürlichen Verhaftungen; Desch, ÖZöRV 36

44

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze

Ehe- und Familienschutzbestimmungen könnten schließlich über ihre vertragliche Normierung hinaus als allgemeine Rechtsgrundsätze i. S. Art. 38 I (c) IGH-Statut rechtlich verbindlich sein. Die Rechtsquellenqualität solcher allgemeinen Rechtsgrundsätze ist nicht ganz unbestritten. Sie wird vor allem von östlichen Staaten in Frage gestellt 70 . Auch scheint die Einschränkung „von allen Kulturvölkern („civilized nations") anerkannt" im heute geltenden Rahmen gleichberechtigter Zusammenarbeit aller Staaten nicht mehr gerechtfertigt zu sein. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Problematik ist jedoch nicht erforderlich, wenn schon vom Ansatz her Ehe- und Familienschutzbestimmungen als allgemeine Rechtsgrundsätze ausscheiden. „Allgemeine Rechtsgrundsätze" sind nach herrschender Auffassung solche, die die Grundlage des übereinstimmenden innerstaatlichen Rechts bilden und zudem auf den zwischenstaatlichen Verkehr übertragbar sind 71 . Keine Bedenken bestehen insoweit, als grundsätzlich Menschenrechte diese Kriterien erfüllen können 72 . Es fragt sich jedoch, ob in den hauptsächlichen Rechtssystemen der Welt gerade der Schutz von Ehe und Familie als grundlegendes Prinzip Ausdruck findet. Da Menschen- und innerstaatlich garantierte Grundrechte von ihrer Struktur, Schutz- und Zielrichtung her vergleichbar sind, sollen als Quellen möglicher allgemeiner Rechtsgrundsätze die nationalen Verfassungen herangezogen werden 73 . Eine Untersuchung ergibt folgendes Bild: (1985), S. 82, bezweifelt sogar die gewohnheitsrechtliche Geltung des Rechts auf Leben. Vgl. auch Haba, Tratado bâsico de derechos humanos I, S. 147; Simma, EuGRZ 1977, S. 238 Nr. 2. Interessant ist die Stellungnahme von Fitzmaurice, Fschr. Mosler, S. 211 § 16: "The articles of the European Convention that deal with the most fundamental of human rights and freedoms . . . , are Art. 2-6 and 9. Less fundamental - or not on quite the same basic level - are the contents of Art. 8, 10 & 12. This last right cannot exactly be denied the appellation of "human" but it is more in the nature of a social right, and in any case is somewhat tautologous or truistical in the European context." 70 Stellvertretend dafür Tunkin, Völkerrechtstheorie, S. 223 ff.; ders., RdC 147 (1975 I V ) , S. 102 f. 71 Verdross/Simma, Völkerrecht, § 602. 72 S. bspw. die Ausführungen der USA im Fall Filartiga v. Pena-Irala, I L M 19 (1980), S. 593: "General principles of law recognized by civilized nations also establish that there are certain fundamental human rights to which all individuals are entitled . . . " 73 Die sich aus der Beschränkung auf Verfassungen ergebende Vereinfachung macht die Suche nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz für eine Arbeit wie die vorliegende überhaupt erst möglich. Einzelne Lückenhaftigkeiten, die sich aus der Vernachlässigung anderer Quellen innerstaatlichen Rechts ergeben können, müssen dabei in Kauf genommen werden.

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

45

Von 168 Staaten, die in diese Untersuchung einbezogen wurden 74 , haben 11 Länder (noch) keine formelle Verfassung 75. Die Ehe als Institution findet Erwähnung in lediglich 43 Verfassungen der verbleibenden Länder 76 . Schon diese geringe Anzahl spricht gegen das Vorliegen eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, wenn auch nur indiziell. Denn insofern besteht das methodische Problem, daß Länder, die keine geschriebene Verfassung haben, bei einer Untersuchung der Verfassungstexte zwangsläufig unberücksichtigt bleiben. Eine eingehendere Untersuchung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Sie scheint hier aber auch entbehrlich zu sein, da selbst die Untersuchung der geschriebenen Verfassungen nicht auf das Vorliegen eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes schließen läßt. Denn die Ehe wird nicht nur in vergleichsweise wenigen Verfassungstexten überhaupt erwähnt, sondern darüber hinaus differieren auch die Regelungsgehalte der einzelnen Eheschutzbestimmungen beträchtlich: Einige Verfassungen erwähnen die Ehe nur insoweit, als sie durch nationale Gesetze geregelt werde soll, ohne sie ausdrücklich unter staatlichen Schutz zu stellen 77 . Andere wiederum erkennen sie ausdrücklich als Fundament der Familie an 78 . Das Recht, eine Ehe ohne Zwang eingehen zu können, findet sich schließlich nur in 13 Verfassungen 79.

74 Als einzige Quelle wurde die Verfassungssammlung von Blaustein/Flanz herangezogen. Z. Zt. der Bearbeitung fehlten die Verfassungstexte von den Bahamas, Bangladesh, Brasilien, Brunei, Demokr. Yemen, Ecuador, Irak, Kiribati, Libanon, Madagaskar, Mexiko, Nauru, Oman, Peru, Arab. Rep. Yemen und Bulgarien. 75 Äthiopien, Andorra, Burkina Faso, Ghana, Grenada, Großbritannien, Israel (Draft Basic Law über die „Rights of the Person" in Vorbereitung), Laos, San Marino, Saudiarabien, Swaziland. 76 Äquatorialguinea (Art. 61), Albanien (Art. 49), Benin (Art. 126), Bolivien (Art. 194), Bundesrepublik Deutschland (Art. 6), Burundi (Art. 17), China, Volksrep. (Art. 49), Costa Rica (Art. 52), D D R (Art. 38), Dominikanische Republik (Art. 15), El Salvador (Art. 32), Gabun (Art. 9), Griechenland (Art. 21), Guinea (Art. 22), Haiti (Art. 46), Honduras (Art. 111, 112), Irland (Art. 41), Italien (Art. 29), Japan (Art. 24), Jugoslawien (Art. 190), Kamputschea, Volksrep. (Art. 7), Kongo (Art. 19), Korea, Volksrep. (Art. 63), Kuba (Art. 34, 35), Luxemburg (Art. 21), Nicaragua (Art. 34), Österreich (Art. 12 E M R K mit Verfassungsrang), Pakistan (Art. 35), Panama (Art. 51, 52), Paraguay (Art. 81), Polen (Art. 79), Portugal (Art. 36), Rumänien (Art. 23), Rwanda (Art. 25), Schweiz (Art. 54), Spanien (Art. 32), Syrien (Art. 44), Tschechoslowakei (Art. 26), UdSSR (Art. 53), Venezuela (Art. 73), Viet-Nam (Art. 64), Zaire (Art. 19), Zentralafrikanische Republik (Art. 9). 77 Beispielsweise Burundi (Art. 17: „Marriage is organized by law."), Luxemburg (Art. 21: „Civil marriage shall always precede the nuptial benediction."). 78 Etwa Costa Rica (Art. 52: „ . . . essential basis of the family"), Dominikanische Republik (Art. 15 c: „ . . . legal basis"), El Salvador (Art. 32), Irland (Art. 41 Nr. 3: „ . . . on which the family is founded"), Italien (Art. 29), Panama (Art. 52), Paraguay (Art.

81).

79

Honduras (Art. 112), Japan (Art. 24), Jugoslawien (Art. 190), Kamputschea (Art. 7), Kuba (Art. 34, 35), Nicaragua (Art. 34), Österreich (Art. 12 E M R K mit Verfassungsrang), Portugal (Art. 36), Schweiz (Art. 54), Spanien (Art. 32), UdSSR (Art. 53), Viet-Nam (Art. 64), Zaire (Art. 19).

46

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz in bezug auf den Eheschutz kann daher auch unter Berücksichtigung der Grenzen dieser Untersuchung nicht festgestellt werden. Ebenso negativ ist der Befund hinsichtlich des Familienschutzes. Denn auch das Recht auf Familiengründung ist kein allgemeiner Rechtsgrundsatz, ebensowenig wie die Anerkennung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Erwähnt wird die Familie in 70 Verfassungen 80. Das Recht auf Familiengründung wird ausdrücklich garantiert nur in Österreich (über Art. 12 E M R K , die Verfassungsrang hat), Portugal (Art. 36 I) und Zaire (Art. 19). Das Recht auf Achtung des Familienlebens findet sich immerhin in 13 Verfassungen 81, die besondere Bedeutung der Familie als Basis oder Keimzelle der Gesellschaft wird in 25 Verfassungen ausdrücklich anerkannt 82 . In vier Verfassungen wird Familienschutz als reines Abwehrrecht (Freiheit von staatlichen Eingriffen) aufgefaßt 83, die übrigen Verfassungen stellen die Familie unter den besonderen Schutz staatlicher Ordnung. Dabei reichen die Formulierungen von lakonischen Formulierungen wie „shall be protected" 84 bis hin zu detaillierten 80

Ägypten (Art. 9), Äquatorialguinea (Art. 41), Albanien (Art. 49), Algerien (Art. 65), Argentinien (Art. 14 I V ) , Bahrain (Art. 5 a), Belize (Art. 14), Benin (Art. 126), Bolivien (Art. 193 ff.), Bundesrepublik Deutschland (Art. 6), Burundi (Art. 17), Chile (Art. 1, 8), China, Volksrep. (Art. 49), Costa Rica (Art. 51), D D R (Art. 38), Dominikanische Republik (Art. 15), El Salvador (Art. 32), Gabun (Art. 1 IX), Griechenland (Art. 9, 21), Guinea (Art. 22), Frankreich (Präambel der Verfassung v. 1946), Haiti (Art. 46), Honduras (Art. 111), Iran (Art. 10), Irland (Art. 41), Italien (Art. 29 ff.), Jamaica (Art. 13 c), Japan (Art. 24), Jugoslawien (Art. 176, 190), Kamputschea (Art. 7), Kap Verde (Art. 24), Kongo (Art. 19), Korea, Volksrepublik (Art. 63), Kuba (Art. 34 ff.), Kuwait (Art. 9), Kolumbien (Art. 23), Liberia (Art. 16), Libyen (Art. 3), Malta (Art. 33 c), Monaco (Art. 22), Luxemburg (Art. 11 I I , 21), Mozambik (Art. 15 j ) , Nicaragua (Art. 34), Österreich (Art. 8 E M R K mit Verfassungsrang), Pakistan (Ärt. 35), Panama (Art. 51, 52), Papua-Neuguinea (Art. 49), Paraguay (Art. 81 f.), Philippinen (See. 4), Polen (Art. 79), Portugal (Art. 36), Rumänien (Art. 23), Rwanda (Art. 24), Senegal (Präambel), Sierra Leone (Ärt. 5 c), Spanien (Art. 18), Suriname (Art. 6, 14), Syrien (Art. 44), Thailand (Art. 41), Togo (Art. 6), Trinidad & Tobago (Art. 12), Tschechoslowakei (Art. 26), Türkei (Art. 20), UdSSR (Art. 53), Venezuela (Art. 73), Vereinigte Arabische Emirate (Art. 15), Viet-Nam (Art. 64), Zaire (Art. 19), Zentralafrikanische Republik (Art. 8), Zypern (Art. 15). 81 Belize (Art. 14), D D R (Art. 38), Jamaica (Art. 13 c), Malta (Art. 33 c), Monaco (Art. 22), Österreich (Art. 8 E M R K ) , Senegal (Präambel), Sierra Leone (Art. 5 c), Suriname (Art. 6), Togo (Art. 6), Trinidad & Tobago (Art. 12), Türkei (Art. 20), Zypern (Art. 15 I). 82 Ägypten (Art. 9), Äquatorialguinea (Art. 14), Algerien (Art. 65), Bahrain (Art. 5 a), Burundi (Art. 17), Chile (Art. 1), Costa Rica (Art. 51), El Salvador (Art. 32), Gabun (Art. 1 I X ) , Haiti (Art. 46), Iran (Art. 10), Irland (Art. 41), Korea, Volksrep. (Art. 63), Kuwait (Art. 9), Libyen (Art. 3), Nicaragua (Art. 34), Österreich (Art. 8 E M R K ) , Paraguay (Art. 81), Philippinen (See. 4), Rwanda (Art. 24), Syrien (Art. 44 I), Vereinigte Arabische Emirate (Art. 15), Viet-Nam (Art. 64), Zaire (Ärt. 19), Zentralafrikanische Republik (Art. 8). 83 Kolumbien (Art. 23), Liberia (Art. 16), Papua-Neuguinea (Art. 49), Spanien (Art. 18). 84 Kap Verde (Art. 24), Mozambik (Art. 15), Pakistan (Art. 35), Thailand (Art. 41), Togo (Art. 6).

1. Kap.: Grundlagen des Schutzes

47

Garantien des sozialen Umfeldes (finanzielle Unterstützungen, Wohnungen, medizinische Versorgung) 85 . Ein einheitlich in den nationalen Rechtssystemen auftauchender Gedanke des Familienschutzes läßt sich somit nicht nachweisen86, so daß auch hier kein allgemeiner Rechtsgrundsatz angenommen werden kann. I I I . Zwischenergebnis Die Untersuchung der nationalen (Verfassungs-) Rechtsordnungen hat erwiesen, daß die Staaten zu einem großen Teil die sozialen Phänomene „Ehe" und „Familie" rechtlich anerkennen. Welcher Schutz und welche Förderung ihnen jedoch staatlicherseits angedeihen soll, variiert ganz erheblich. Hinzu tritt, daß es für die Feststellung einer zur Bildung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ausreichenden Übereinstimmung auch noch der Klärung bedürfte, was in den einzelnen Rechtsordnungen jeweils unter „Ehe" und „Familie" im einzelnen verstanden wird. Es bedarf nicht des Eindringens in die Einzelheiten der verschiedenen Rechtsordnungen, um festzustellen, daß die Ehe im abendländischen Rechtskreis nicht dasselbe ist wie in fundamentalistisch-islamischen Staaten. Das gleiche gilt für den Familienbegriff in Europa im Vergleich zu dem durch die Großfamilie geprägten Familienbild in manchen afrikanischen Ländern. Es zeigt sich somit, daß Ehe und Familie soziologische Begriffe mit weiter rechtlicher Anerkennung sein mögen; was von Rechts wegen geschützt wird und wie weit der Schutz reicht, ist jedoch viel zu diffus, um daraus einen allgemeinen Rechtsgrundsatz i. S. Art. 38 (c) IGH-Statut ableiten zu können. Über ihre völkervertragliche Normierung hinaus entfalten Ehe- und Familienschutzbestimmungen daher keine Bindungswirkung. Ihr Adressatenkreis beschränkt sich mithin auf diejenigen Staaten, die entsprechenden Verträgen beigetreten sind.

85 Z. B. Benin (Art. 126: „The State . . . shall assure the development of maternity hospitals, nursery schools and kindergartens . . . " ) , Bolivien (Art. 198), D D R (Art. 38), Italien (Art. 31), Paraguay (Art. 83), Polen (Art. 79). 86 So auch Hevener/Mosher, ICLQ 27 (1978), S. 612 f.

Zweites Kapitel

Menschenrechtliche Vertragswerke Sowohl regionale (EMRK, Europäische Sozialcharta, A m K , AfrC) als auch weltweite völkerrechtliche Vertragswerke wie die beiden Pakte der Vereinten Nationen beinhalten Ehe- und Familienschutzbestimmungen. Es sind verschiedene Modelle denkbar, wie dieser Schutz verwirklicht werden kann: als Zielbestimmung der innerstaatlichen Politik, durch innerstaatlich ausfüllungsbedürftige Garantien oder als unmittelbare Verpflichtung der Staaten zur Gewährleistung der statuierten Rechte. Soll nun, wie in dieser Arbeit, der Umfang des durch Völkervertragsrecht gewährten Schutzes bestimmt werden, so ist eine Analyse der Verpflichtungen unerläßlich, die die Staaten durch die Ratifikation des menschenrechtlichen Vertrages auf sich nehmen. Denn nur so kann ermittelt werden, zu welchem Handeln oder Unterlassen die Vertragstaaten gegenüber den Begünstigten verpflichtet sind. Dies wiederum bestimmt den Umfang des Schutzes, den der Einzelne genießt. Da bei der Ausarbeitung der einzelnen Verträge häufig auf frühere Erfahrungen zurückgegriffen werden konnte, tritt der Einfluß früherer Menschenrechtsinstrumente bei späteren Entwürfen anderer Vertragswerke oft deutlich zutage. Hier ist vor allem auch die Signalwirkung der A E M R spürbar. Diesem globalen Entstehungsprozeß soll im Rahmen dieser Untersuchung dadurch Rechnung getragen werden, daß die zu untersuchenden Verträge nicht in regionale und universelle Kodifikationen unterteilt werden, sondern in ihrer historischen Abfolge geprüft werden. Als Ausgangpunkt der Untersuchung stellt sich zunächst die Frage, welche Ehe- und Familienschutzbestimmungen in welchen Verträgen enthalten sind.

I. Die europäische Menschenrechtskonvention A m 4. November 1950 wurde die E M R K 1 in Rom unterzeichnet, am 3. September 1953 trat sie - nach Ratifikation durch zehn Staaten - in Kraft. Mittlerweile sind 21 Staaten des Europarats 2 Vertragspartei. Unübersehbar ist der

ι UNTS, Vol. 213, S. 221 ff.; deutsche Quelle: BGBl. 1952 I I , S. 685 ff. Zuletzt hat San Marino als 22. Staat am 16. 11. 1988 die E M R K unterzeichnet, s. EuGRZ 1988, S. 534. 2

2. Kap.: Vertragswerke

49

Einfluß der A E M R auf die Ausarbeitung der E M R K : Letztere greift (mit wenigen Ausnahmen, die dann in den Zusatzprotokollen garantiert wurden) die grundlegenden bürgerlichen und politischen Rechte der A E M R auf. Vorschriften des hier zu untersuchenden Inhalts finden sich in Art. 8 E M R K (Schutz der Familie), Art. 12 E M R K (Ehe) sowie in Art. 2 des (ersten) Zusatzprotokolls (Elternrecht auf Erziehung). Es fragt sich nun, welche Verpflichtungen die Vertragstaaten eingegangen sind: Sind sie gehalten, die in der E M R K und ihrem Zusatzprotokoll (ZP) niedergelegten Rechte strikt zu gewährleisten? Dies ist der Fall, wenn der Vertrag rechtliche Bindungen begründet, die ohne jeden Aufschub strikt zu gewährleisten sind, so daß sie, wenn sie individuelle Rechtspositionen betreffen, dem Einzelnen als Berechtigung zugute kommen 3 . Unter diesen Voraussetzungen ist eine Norm „self-executing" 4. Davon zu unterscheiden ist die innerstaatliche Entscheidung über die Art und Weise des Vollzuges der vertraglichen Pflichten, d. h. ob der völkerrechtliche Vertrag als solcher in das nationale Recht inkorporiert oder ob lediglich das innerstaatliche Recht seinen Bestimmungen angepaßt wird. Hierüber enthält das allgemeine Völkerrecht keine Regeln5. Gemäß Art. 26 W V K sind vertragliche Verpflichtungen nur nach Treu und Glauben zu erfüllen, ohne daß ein bestimmter Umsetzungsweg vorgeschrieben ist. Die Staaten können daher frei entscheiden, in welcher Weise sie ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen innerstaatlich umsetzen wollen; insoweit kommt es einzig auf das Ergebnis an. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war mit der Frage der wirksamen Anwendung der Konventionsvorschriften in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten befaßt worden. Der schwedische Lokomotivführerverband hatte sich über die Weigerung des Staatlichen Büros für Tarifverhandlungen beschwert, mit ihm ebenso wie mit anderen Gewerkschaften einen Tarifvertrag abzuschließen, woraus ihm eine Reihe von Nachteilen entstanden sei. Schweden habe zudem gegen Art. 13 E M R K verstoßen, weil es unterlassen habe, die Konvention in das nationale Recht zu inkorporieren. Mit dieser Rüge drang der Beschwerdeführer jedoch nicht durch, da, so der Gerichtshof, 3 Tomuschat, Gedächtnisschrift Constantinesco, S. 808; Bossuyt, Rev. Belge de droit international 1980, S. 318. 4 Teilweise wird diese Eigenschaft auch mit dem Terminus „self-sufficient" umschrieben, s. Bossuyt, Rev. belge de droit international 1980, S. 318 f. Die Terminologie ist hier nicht einheitlich. So wird z. T. vertreten, die Norm müsse, um „self-executing" zu sein, zudem in das nationale Recht inkorporiert worden sein. Da dies jedoch nicht mehr von der völkerrechtlichen Norm abhängig ist, sondern vom innerstaatlichen Umsetzungsmodus, wird der Terminus „self-executing" in der vorliegenden Arbeit in dem oben definierten Sinn („self-sufficient") verwendet. 5 Tomuschat, CanHRYb 1984/85, S. 41.

4 Palm-Risse

50

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

" . . . neither Article 13 nor the Convention in general lays down for the Contracting States any given manner for ensuring within their internal law the effective implementation of any of the provisions of the Convention." 6

Anzumerken bleibt, daß der Gerichtshof den Weg der Inkorporation der Konvention in das nationale Recht zu favorisieren scheint7. Auf welche Weise die völkervertraglichen Verpflichtungen innerstaatlich ausgeführt werden, ist mithin allein eine Frage des innerstaatlichen Rechts, auf die im Rahmen dieser völkerrechtlichen Untersuchung nicht näher eingegangen werden soll. Es ist gefestigte Ansicht, daß die Vertragstaaten die in der E M R K verankerten Rechte von der Ratifikation an strikt beachten müssen8. Dies ergibt sich aus Art. 1 E M R K , wonach die Vertragstaaten " . . . reconnaissent à toute personne relevant de leur jurisdiction les droits et libertés «

bzw. " . . .shall secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms . . . "

Die Präsensform „reconnaissent" drückt aus, daß die Verpflichtung zur Gewährleistung der Konventionsrechte ohne weiteres nach Ratifikation eintritt. Dies wird auch durch die Entstehungsgeschichte unterstrichen: Ursprünglich lautete der Entwurf „s'engagent à reconnaître" bzw. „undertake to secure". Durch die Umstellung auf ,,reconnaissent"/„shall secure" sollte die direkte Verpflichtungswirkung hervorgehoben werden 9. Dies gilt in vollem Umfang auch für die Ehe- und Familienschutzbestimmungen. Die Formulierungen des Art. 8 E M R K sind hinreichend klar und bestimmt, um eine unmittelbare Garantie zu entfalten. Die Verwendung des normativen unbestimmten Rechtsbegriffs „Familie" ist kein Hinderungsgrund; auch in nationalen Gesetzen werden unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, die auslegungsbedürftig sind. Hat ein Vertragstaat die Konvention in 6 EGMR, Swedish Engine Drivers Union Case, Urt. v. 6. 2. 1976, Ser. A , Vol. 20, 5. 18 § 50; ebenso schon im Belgischen Sprachenfall, Urt. v. 23. 7. 1968, Ser. A , Vol. 6, S. 35 § 10: "The national authorities remain free to choose the measures which they consider appropriate in those matters which are governed by the Convention . . . " , sowie im National Union of Belgian Police Case, Urt. v. 27. 10. 1975, Ser. A , Vol. 19, S. 20 § 47. S. etwa auch S0rensen, Obligations of a State Party, S. 22-27; Bernhardt, Fschr. Mosler, S. 77; aus neuester Zeit Partsch, EPIL 10, S. 245. 7 EGMR, Fall Irland ./. Großbritannien, Urt. v. 18. 1. 1978, Ser. A , Vol. 25, S. 91 § 239: "That intention finds a particularly faithful reflection in those instances where the Convention has been incorporated into domestic law." 8 Frowein/Peukert, E M R K , Einf. Rn. 5; Fawcett, ECHR, S. 3 f.; Guradze, E M R K , S. 11 § 4 I; Drzemczewski, European Human Rights, S. 20-34; Partsch, E M R K , S. 33; Vasak, CEDH, S. 233 Rn. 451. 9 EGMR, Fall Irland ./. Großbritannien, Urt. v. 18. 1. 1978, Ser. A , Vol. 25, S. 91, § 239.

2. Kap.: Vertragswerke

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sein innerstaatliches Recht inkorporiert, so kann sich der Einzelne nationalen Instanzen gegenüber auf ihre Garantien berufen, ohne daß die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ein Hinderungsgrund wäre. Gerade bezüglich Art. 8 E M R K hat dies der Gerichtshof mehrmals ausdrücklich betont 10 . Auch Art. 12 E M R K ist „self-executing". Zwar verweist diese Vorschrift bezüglich des Heiratsalters auf innerstaatliche Gesetze und erklärt weiter solche über die Ausübung des Rechts für anwendbar. Das steht einer unittelbaren Anwendbarkeit dieser Vorschrift jedoch nicht entgegen. Die garantierten Rechte erfordern nämlich keine zusätzliche nationale Gesetzgebung für ihre innerstaatliche Gewährleistung, vielmehr sind sie lediglich - in später zu erörternden Grenzen - für die nationale Regelung ihrer Ausübung offen. Sie sind mithin nicht ausfüllungsbedürftig, sondern ermöglichen nur ihre innerstaatliche Regelung. Das die Konvention ergänzende ZP trat am 18. Mai 1954 in Kraft und wurde von allen EMRK-Staaten bis auf Liechtenstein, Spanien und die Schweiz ratifiziert. Unproblematisch ist die Einordnung des in Art. 2 Satz ZP niedergelegten Elternrechts auf Erziehung der Kinder. Danach hat der Staat die Pflicht, die Entscheidung der Eltern über die Erziehung ihrer Kinder zu respektieren. Umgekehrt erwächst den Eltern aus dieser Bestimmung das Recht, Erziehung und Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihrer eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu gestalten. Die Vorschrift, die in der üblichen, bestimmten Sprache der Konvention abgefaßt ist, bedarf zu ihrer Verwirklichung keiner weiteren innerstaatlichen Durchführungsakte und ist daher „self-executing". I I . Die europäische Sozialcharta Anders verhält es sich bei dem Gegenstück zur E M R K auf sozialem Gebiet, der Europäischen Sozialcharta (ES) 11 . Dort sind die in der A E M R proklamierten, grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verbindlich garantiert. Intention der ES ist es, die Prinzipien der westlichen Demokratien im sozialen Bereich zu stärken und zu vereinheitlichen 12 .

10 Vgl. nur EGMR, Fall De Wilde, Ooms und Versuyp („Vagrancy" Case), Urt. ν. 18. 6. 1971, Ser. A , Vol. 12, S. 46 § 95: " . . . the Court limits itself to finding that Articles 3 to 8 of the Convention are directly applicable in Belgian law. If, therefore, the applicants considered that the administrative decisions put in issue violated the rights guaranteed by these articles, they could have challenged them before the Conseil d'Etat." Ebenso E G M R , Fall van Oosterwijk, Urt. v. 6. 11. 1980, Ser. A , Vol. 40, S. 16 § 33. 11 UNTS, Vol. 529, S. 89 ff.; dt. Quelle: BGBl. 1964 I I , S. 1261 ff. 12 Memorandum des Generalsekretariats des Ministerausschusses, in: A C , 5. Sitzungsperiode (1953), Doc. 140 § 16.

4*

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Die ES sieht ein flexibles System zur Verwirklichung der einzelnen Rechte vor. Es gibt verschiedene Stufen der Verbindlichkeit, die von dem ratifizierenden Staat - in gewissen Grenzen - den jeweiligen Artikeln zuerkannt werden. Dieses System sollte die Ratifikation der ES mit ihren z. T. recht weitgehenden Bestimmungen beschleunigen und erleichtern 13 . Die Mindestverpflichtung der Vertragstaaten ergibt sich aus Art. 20 I (a) i.V.m. Teil I der ES, in dem 19 Prinzipien proklamiert werden. Gemäß Art. 20 I (a) ES verpflichtet sich jeder Vertragstaat, " . . . to consider Part I of this Charter as a declaration of the aims which it will pursue by all appropriate means, as stated in the introductory paragraph of this part; . . . "

Dort wiederum heißt es: "The Contracting Parties accept as the aim of their policy, to be pursued by all appropriate means, both national and international in character, the attainment of conditions in which the following rights and principles may be effectively realised . . . "

Eines dieser Ziele, Nr. 16, befaßt sich mit Familienschutz: "The family as a fundamental unit of society has the right to appropriate social and economic protection."

Nach Art. 20 I (b) ES muß jeder Vertragstaat zudem aus einem Katalog von sieben Rechten fünf auswählen, die er für sich als verbindlich anerkennt („to consider itself bound"). Zu diesem „Kernbestand" zählen u. a. Art. 16 und 19: Art. 16 konkretisiert das schon als Zielvorgabe anerkannte Recht der Familie auf sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schutz. Art. 19 (6) ES enthält eine spezielle Familienschutzvorschrift für Wanderarbeitnehmer über die Erleichterung der Familienzusammenführung. Über die gewählten fünf Bestimmungen hinaus müssen die Vertragstaaten aus den in Teil I I niedergelegten Grundsätzen und Rechten weitere Artikel oder numerierte Absätze als für sich bindend anerkennen, Art. 201 (c), so daß jeder Staat schließlich an zehn Artikel oder 45 numerierte Absätze als Minimum gebunden ist. Die Rechtswirkungen sind dann dieselben wie die von Art. 20 I (b) angeordneten. Durch die Untergliederung soll lediglich erreicht werden, daß die in Art. 20 I (b) genannten Vorschriften auf jeden Fall bei der Auswahl berücksichtigt werden müssen. Sie nehmen also eine besonders wichtige Stellung ein 14 . Somit sind für die Frage, welche völkerrechtlichen Verpflichtungen Vertragstaaten der ES im Bereich des Familienschutzes eingegangen sind, zwei Konstellationen zu unterscheiden: (1) Der Vertragstaat hat Art. 16 ES bzw. Art. 19 ES für sich als bindend anerkannt oder 13 Dazu Wiese, G Y I L 16 (1973), S. 335. Wiese, G Y I L 16 (1973), S. 336.

2. Kap.: Vertragswerke

53

(2) er ist lediglich im Rahmen der Zielerklärung nach Art. 20 I (a) i.V.m. Teil I Nr. 16 ES daran gebunden. Der Umfang der staatlichen Verpflichtung unterscheidet sich je nach Variante erheblich. Im erstgenannten Fall ist der Vertragstaat verpflichtet, von den Grundsätzen der ES abweichende, ungünstigere Bestimmungen des nationalen Rechts sofort außer Kraft zu setzen15. Dabei schafft die ES selbst kein unmittelbar geltendes Recht, sondern verpflichtet nur die Mitgliedstaaten zur Anpassung ihrer Rechtsordnung 16 . Individualrechte enthält sie daher nicht, sondern nur objektive, die Staaten verpflichtende Normen. Doch da die materiellen Vorschriften in Teil I I oft sehr vage Formulierungen beinhalten, haben die Vertragstaaten einen weiten Gestaltungspielraum bei der Ausführung ihrer völkervertraglichen Verpflichtungen 17 . Die geforderte Aktivität beschränkt sich nämlich regelmäßig darauf, etwas zu begünstigen, zu ermutigen, zu fördern (Art. 16), zu erleichtern (Art. 19 (6)), für etwas zu sorgen oder über etwas zu wachen. Dies sind recht allgemeine, generelle Formulierungen. Zudem erfordern die Vorschriften innerstaatliche Gesetzgebung, um den dort niedergelegten Prinzipien innerstaatlich zur Wirksamkeit zu verhelfen. Mithin sind die in Teil I I enthaltenen Artikel nicht „self-executing", entfalten also selbst unter den Voraussetzungen des Art. 20 I (b) und (c) keine unmittelbare Wirkung. Im Hinblick auf die nicht als bindend anerkannten Grundsätze der ES hingegen besteht, wie sich schon aus dem eingangs zitierten Wortlaut des Art. 20 I (a) i. V.m. Teil I ES ergibt, lediglich die Pflicht zur allmählichen Beseitigung entgegenstehenden nationalen Rechts 18 . Konkret auf den Familienschutz bezogen heißt dies: Hat ein Staat nicht Art. 16 bzw. 19 als bindend anerkannt und ist folglich nicht strikt daran gebunden, so muß er dennoch Familienschutz (über Teil I Nr. 16, Teil I I I , Art. 20 I (a)) als Ziel seiner Politik verfolgen. Die Bedeutung dieser abgestuften Verpflichtungen darf nicht unterschätzt werden. Zahlreiche Gesetze sind in Befolgung des Harmonisierungs- und Gesetzgebungsauftrages erlassen worden; zudem führte die Signalwirkung der ES zum Abschluß von Spezialabkommen19. Darüber hinaus können Bestimmungen der ES als Argumentationshilfe beispielsweise vor nationalen Gerichten dienen, da sie Standards und Zielvorstellungen formulieren. 15 16

Isele, ES, S. 60. Isele, ES, S. 71 f.; Strasser, EPIL 8, S. 212; Riedel, Menschenrechtsstandards,

S. 74. 17 Van Asbeck, Mélanges Henri Rolin, S. 433; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 74; Wiese, G Y I L 16 (1973), S. 340; Bois, SchwJIR X X X I I I (1977), S. 35; KahnFreund, Reflections, S. 132. 18 Isele, ES, S. 60; Troclet, Dynamisme et contrôle, S. 36 f. Rn. 5, 6; Bleckmann, Cahiers de droit européen 1967, S. 390; Zuleeg, ZaöRV 35 (1975), S. 352. 19 Beispiele für beides bei Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 77.

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Im Rahmen des hier zu behandelnden Themas wird also auf die Art. 16 und 19 (6) ES näher einzugehen sein sowie auf die Zielbestimmung in Teil I Nr. 16. I I I . Die universellen Pakte der Vereinten Nationen Schon während der Ausarbeitung der A E M R war beschlossen worden, die in dieser Deklaration proklamierten Rechte später in ein universelles Vertragswerk umzugießen. Dennoch dauerte es rund 20 Jahre, bis dieses Vorhaben zum Abschluß gekommen war 20 . Der anfängliche Entwurf der Menschenrechtskommission beschränkte sich auf bürgerliche und politische Rechte. Auf Vorschlag der Generalversammlung 21 wurden die Arbeiten dann auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erweitert. Später wurde beschlossen, sie in einem gesonderten Vertragswerk niederzulegen 22. Zwar hatten die Gegner einer solchen Zweiteilung - dies waren vornehmlich die Ostblockstaaten 23 - auf die Unteilbarkeit der Menschenrechte hingewiesen und geltend gemacht, man könne die Rechte nicht schon von vornherein entsprechend ihrem späteren Wert klassifizieren. Die Befürworter getrennter Vertragsweke wollten hingegen so der Verschiedenartigkeit der Rechte Rechnung tragen: Während die bürgerlichen und politischen Rechte unmittelbar anwendbar seien, bedürften wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oft noch einer schrittweisen Umsetzung. Damit bieten die Ausarbeitungen im Rahmen der Vereinten Nationen eine Parallele zu den Entwicklungen im europäischen Bereich 24 . 1. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Um den Umfang der staatlichen Verpflichtung im Bereich des Ehe- und Familienschutzes feststellen zu können, ist wiederum zunächst auf die allgemeine Frage einzugehen, welcher Art die vom IPBPR auferlegte Verpflichtung ist. Danach wird zu prüfen sein, ob das Ergebnis der Untersuchung uneingeschränkt auch auf die Ehe- und Familienschutzbestimmungen des Paktes zutrifft. 20 Der IPBPR nebst Fakultativprotokoll und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSP) wurden am 16. 12. 1966 verabschiedet. Deutsche Quelle für den IPBPR: BGBl. 1973 I I , S. 1533; für den WSP: BGBl. 1973 II, S. 1569 ff. U N G A Res. 421 (V), U N G A OR, 5th sess., 1950, Supp. 20, UN-Doc. A/1775, S. 43. 22 U N G A Res. 543, U N G A OR, 6th sess., 1952, Supp. 20, UN-Doc. A/2119, S. 36. 23 Report of the Commission on Human Rights, 8th sess., UN-Doc. E/2256, U N ECOSOC OR, 14th sess., 1952, 665th mtg., S. 721 f. und 666th mtg., S. 729. Dem Vorschlag der UdSSR - nur eine Konvention - stimmten Ägypten, Chile, Jugoslawien, Pakistan, Polen, Ukraine und Uruguay zu. Die anderen 10 Mitglieder lehnten ihn ab. 24 Schwelb, Amicorum Liber, S. 303.

2. Kap.: Vertragswerke

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B e i der Durchsicht der materiellen Bestimmungen des Paktes fällt auf, daß sie sowohl i n ihrem Gehalt als auch ihren Formulierungen den E M R K - G a r a n tien gleichen, j a z . T . sogar m i t ihnen identisch sind 2 5 . Dies legt den Schluß nahe, die Frage der Staatenverpflichtung nicht anders als bei der E M R K zu beantworten 2 6 . Dennoch gab es - vor allem i n der Frühzeit der Pakte - hierüber geteilte A n s i c h t e n 2 7 . D i e Gegner einer Verpflichtung zur unmittelbaren A c h t u n g u n d Gewährleistung der Paktrechte 2 8 stützen ihre Auffassung vor allem auf A r t . 2 I I I P B P R . A u s der Formulierung " . . . each State Party . . . undertakes to take the necessary steps . . . to adopt such legislative or other measures as may be necessary to give effect to the rights recognized in the present Covenant" w i r d die Verpflichtung zu einer lediglich schrittweisen V e r w i r k l i c h u n g der Paktrechte abgeleitet 2 9 . D o c h kann aus dieser Formulierung nicht notwendigerweise auf die behauptete Auslegung geschlossen werden. D e n n vergleichbare Formulierungen werden i n zahlreichen anderen Konventionen verwendet, ohne daß ähnliche Auslegungen vertreten w u r d e n 3 0 . V o n großer Überzeugungskraft ist ein Vergleich m i t der entsprechenden Bestimmung des WSP, A r t . 2 I 3 1 . D e r enge Zusammenhang beider Vertragswerke - gleichzeitige Ausarbeitung, A n n a h m e beider Texte uno actu - ermög-

25 Art. 9 11 IPBPR = Art. 5 11 E M R K ; Art. 121, I I IPBPR = Art. 21, I I des 4. ZP. Fast identisch sind beispielsweise Art. 6 I IPBPR und Art. 2 I E M R K , Art. 7 IPBPR und Art. 3 E M R K , Art. 8 IPBPR und Art. 4 E M R K , Art. 11 IPBPR und Art. 1 des 4. ZP, Art. 14 IPBPR und Art. 7 E M R K , Art. 19 IPBPR und Art. 10 E M R K . 26 Grasshof, V N 1974, S. 5. 27 S. Europarats-Dokument H (70) 7, Bericht des Sachverständigenausschusses für Menschenrechte an das Ministerkomitee: Probleme, die sich aus der Koexistenz der beiden VN-Pakte über Menschenrechte und der E M R K ergeben. Unterschiede hinsichtlich der garantierten Rechte, §§ 37-44. Dt. Übers.: BT-Drs. 7/660, Anlage I zur Denkschrift. 28 Robertson, Human Rights in the World, S. 34 f.; De Meyer, La Convention, S. 8; Tunkin, V N 1969, S. 9; Goose, NJW 1974, S. 1306; Kimminich, Völkerrecht, S. 361. 29 Robertson, Human rights in the World, S. 35; de Meyer, La Convention, S. 8; Goose, NJW 1974, S. 1306. 30 Art. V der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (UNTS, Vol. 78, S. 277 ff.; dt. Quelle: BGBl. 1954 I I , S. 730) sieht beispielsweise vor: "The Contracting Parties undertake to enact, in accordance with their respective constitutions, the necessary legislation to give effect to the provisions of the present Convention . . . " , ohne daß die Staaten eine Bestrafung wegen Völkermordes ablehnen dürften mit dem Argument, sie hätten ihre innerstaatliche Gesetzgebung noch nicht angepaßt. Eine Untersuchung mit weiteren Beispielen findet sich bei Schwelb, Amicorum Liber, S. 305-307. 31 "Each State Party to the present Covenant undertakes to take steps . . . to the maximum of its available resources, with a view to achieving progressively the full realization of the rights recognized in the present Covenant . . . " (Hervorh. v. Verf.).

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

licht es, die nicht zufällige Wortwahl zu vergleichen und daraus interpretatorische Rückschlüsse zu ziehen. Im WSP haben sich die Staaten lediglich dazu verpflichtet, seine Rechte nach und nach zu gewähren, bis in Zukunft einmal ihre volle Verwirklichung erreicht ist. Schon der Vergleich des Wortlautes verdeutlicht, daß das Wesen der Staatenverpflichtung ein anderes ist als beim IPBPR: Die Vertragstaaten des WSP haben sich nur verpflichtet, auf die Verwirklichung seiner Ziele hinzuarbeiten, während sie der IPBPR zur Garantie eines menschenrechtlichen Standards verpflichtet 32 . Als argumentum e contrario folgt somit, daß die Mitgliedstaaten des IPBPR zur unmittelbaren, strikten Gewährleistung der Rechte verpflichtet sind. Dies ergibt sich auch aus dem Kontext: Betrachtet man die Bestimmungen des Art. 2 I I IPBPR nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang des Artikels, verdient die andere Auffassung den Vorzug. Denn Abs. I für sich genommen spricht sehr deutlich für eine sofortige und vorbehaltslose Verpflichtung der Vertragstaaten 33. Die Forderung des Abs. I I I nach innerstaatlich wirksamer Abhilfe bei einer Verletzung der Paktrechte liefe leer, wenn man nicht eine Verpflichtung zur unmittelbaren Gewährleistung annehmen wollte. Die Notwendigkeit einer „effective remedy" würde dann nämlich schon im Vorfeld ausgeschlossen, da es mangels einer sofortigen Pflicht zur Gewährleistung der Paktrechte ggf. gar nicht zu einer solchen, in Abs. I I I vorausgesetzten Rechtsverletzung kommen könnte" 34 . Auch der weitere Kontext des Vertrages spricht für eine unmittelbare Staatenverpflichtung. Soweit als Gegenargument Art. 40 IPBPR (Berichtspflicht der Staaten35) angeführt wird mit dem Hinweis, es sei über die erzielten Fortschritte bei der Verwirklichung der Paktrechte zu berichten 36 , kann dies nicht überzeugen. Aus Art. 40 IPBPR wird zwar teilweise gefolgert, daß die Paktrechte nicht schon unmittelbar nach der Ratifikation des Vertrages, sondern erst in einer allmählich fortschreitenden Entwicklung verwirklicht werden müßten. Die Konsequenz einer solchen Auslegung wäre, daß sämtliche Paktvorschriften unabhängig von ihrem Inhalt und ihrer Bestimmtheit als nicht „self-executing" angesehen werden müßten, da sie (im Zusammenhang mit Art. 2 I I gelesen) zu ihrer Verwirklichung innerstaatlicher Maßnahmen bedürften. Gegen eine solche Auslegung sprechen entscheidend die Regeln über das Staaten- und Individualbeschwerdeverfahren sowie ihre praktische 32

Schwelb, Amicorum Liber, S. 302 f.; Grasshof, V N 1974, S. 6; Soder, V N 1968,

S. 45. 33

Lippman, N I L R 1979, S. 245. Sogar die Gegner dieser Auslegung räumen dies ein: Robertson, Human Rights in the World, S. 35. 34 Schwelb, Amicorum Liber, S. 307; Cohen-Jonathan, EPIL 8, S. 298. 3 5 Art. 40 I IPBPR: " . . . and the progress made in the enjoyment of those rights." 36 So auch Schwelb, Amicorum Liber, S. 308; Schachter, in: Henkin, International Bill, S. 325.

2. Kap.: Vertragswerke

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Anwendung. Denn sie setzen gedanklich voraus, daß die Staaten zur strikten Gewährleistung der Paktrechte verpflichtet sind 37 . Die genannten Verfahren greifen nämlich in dem Fall ein, daß ein Staat seinen Paktverpflichtungen nicht nachkommt (Art. 41 IPBPR) oder einen Bürger in seinen Paktrechten verletzt (Art. 1, 2 Fakutativprotokoll). Dies ist nur dann denkbar, wenn der Vertragstaat zur Achtung der Paktrechte unmittelbar und bindend verpflichtet ist. Somit würden die Verfahren leerlaufen, wollte man eine Pflicht zur strikten Gewährleistung der Rechte und Freiheiten des Paktes ablehnen. Unterstützt wird diese Auslegung durch die Entstehungsgeschichte: 1949 nahm die Menschenrechtskommission einen provisorischen Entwurf des Art. 2 an, der die Staaten erst „within a reasonable time" zur Durchführung der erforderlichen Maßnahmen verpflichtet hätte 38 . Dies hätte die Verpflichtung zur strikten Gewährleistung der Rechte erheblich geschwächt39. In der Folgezeit gab der Einschub Anlaß zu kontroversen Diskussionen 40 , bis er 1952 schließlich wieder gestrichen wurde: Es wurde befürchtet, daß die Formulierung zu dehnbar sei und daß sie zu ungleichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten führen könnte 41 . Die Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses dürfte dieses Problem letztlich geklärt haben: Danach sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich zur strikten Gewährleistung der Paktrechte verpflichtet 42 . So äußert der Menschenrechtsausschuß bei Individualbeschwerden abschließend seine Ansicht, ob die Paktrechte durch die gerügten staatlichen Maßnahmen verletzt worden sind oder nicht 43 . Dies setzt logisch voraus, daß eine Verletzung der Paktrechte überhaupt möglich ist, was sich wiederum danach entscheidet, ob der Vertragstaat zur unbedingten Achtung der Garantien verpflichtet ist. Nur wenn letzteres der Fall ist, können grundsätzlich staatliche Handlungen als Verletzungen der Paktbestimmungen beurteilt werden.

37

Tomuschat, Fschr. Schlochauer, S. 694; ders., V N 1986, S. 172; ders., CanHRYb 1984/85, S. 41. 38 Report of the 5th session (1949) of the Commission on Human Rights, U N ECOSOC OR, 9th sess., Suppl. 10, UN-Doc. E/1371, Annex I. 39 Schwelb, Amicorum Liber, S. 315. 40 Dazu ausführlich Schwelb, Amicorum Liber, S. 315-322 und Schachter, in: Henkin, International Bill, S. 322-324. 41 Report of the 8th session (1952) of the Commission on Human Rights, U N ECOSOC OR, 14th sess., Suppl. 4, UN-Doc. E/2256 §§ 272, 273 und Annex I B; UN-Doc. A/2929, Chapter V §§ 10, 11, U N G A OR, 10th sess., 1955, Annexes, Agenda item 28 (Part II). 42 Tomuschat, CanHRYb 1984/85, S. 43. 43 Zuerst in: Report of the Human Rights Committee, Annex V I I , U N G A OR, 34th sess., 1979, Supp. 40 (A/34/40), S. 125; s. auch R 7/31, Fall Waksmann, EuGRZ 1980, S. 314; R 2/8, Fall Lanza, EuGRZ 1980, S. 314 ff., wo der Menschenrechtsausschuß besonders betonte, daß der Pakt grundsätzlich keine Abweichungen von seinen Bestimmungen zuläßt (EuGRZ, a.a.O., S. 315 § 15).

58

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Auch in seiner Kommentierung der Paktrechte hob der Menschenrechtsausschuß den unmittelbar verpflichtenden Charakter der Paktbestimmungen in seinen Anmerkungen zu Art. 2 hervor: "Article 2 of the Covenant requires States parties to adopt such legislative or other measures and provide such remedies as may be necessary to implement the Covenant." 4 4

Mithin sind die Staaten grundsätzlich gehalten, die Paktrechte unmittelbar und strikt zu gewährleisten 45. Es fragt sich nun, ob dies in vollem Umfang auch für die Ehe- und Familienschutzbestimmungen gilt. Keine Bedenken ergeben sich bei dem als Abwehrrecht formulierten Art. 17 IPBPR. Die Bestimmungen des Artikels sind klar und bestimmt gefaßt und geben somit keinen Anlaß, ihn nicht als „self-executing" anzusehen. Anders verhält es sich bei Art. 23 IPBPR. Während dessen erste drei Absätze unmittelbare Verpflichtungen statuieren, also „self-executing" sind, enthält Abs. I V die Aufforderung, geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung der Garantie zu ergreifen 46 . Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die in Abs. I V niedergelegten Ziele erst allmählich zu verwirklichen sind 47 . Dies zeigt auch die Entstehungsgeschichte. Die Formulierung ist das Resultat eines Kompromisses zwischen denjenigen, die eine ausdrückliche Garantie der Ehegattengleichheit aufgenommen wissen wollten, und denen, die wegen der Komplexität des Problems eine kategorische Fassung der Vorschrift ablehnten 48 . Somit erfordert Art. 23 I V IPBPR zusätzliche innerstaatliche Maßnahmen zur Verwirklichung der in ihm niedergelegten Garantie, ist also im Gegensatz zu den übrigen Ehe- und Familienschutzbestimmungen des Paktes nicht „self-executing".

44 General Comment des Menschenrechtsausschusses zu Art. 2, in: Report of the Human Rights Committee, General Comment 2/13 § 2, U N G A OR, 36th sess., Supp. 40 (A/36/40), S. 108. 45 Schwelb, Amicorum Liber, S. 302; Tomuschat, V N 1976, S. 172; ders.; Fschr. Schlochauer, S. 694; Lippman, N I L R 1979, S. 245 f.; Schachter in: Henkin, International Bill, S. 325; Cohen-Jonathan, EPIL 8, S. 298; Soder, V N 1968, S. 45; Grasshof, V N 1974, S. 6. 46 "State Parties to the present Covenant shall take appropiate steps to ensure equality of rights . . . " (Hervorh. v. Verf.). 47 Tomuschat, CanHRYb 1984/85, S. 44; ders., ZaöRV 45 (1985), S. 557; Schwelb, International Covenants, S. 108; ders., Amicorum Liber, S. 304; Lippman, N I L R 1979, S. 245 Fn. 89; Grasshof, V N 1974, S. 6. 48 UN-Doc. A/C. 3/SR. 1094, U N G A OR, 16th sess., 1961-62, Annexes, Agenda item 35, Report of the 3rd Committee, A/5000 § 84.

2. Kap.: Vertragswerke

59

2. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Schon aus der Gegenüberstellung mit dem IPBPR folgte, daß die vom WSP auferlegten Verpflichtungen wesensmäßig andere sind als beim IPBPR: Nach Art. 21 WSP müssen die Vertragstaaten nur schrittweise, unter Ausschöpfung ihrer individuellen Möglichkeiten, auf die volle Verwirklichung der Paktrechte hinarbeiten. Damit werden ihnen, ähnlich wie bei der ES, Förderungsverpflichtungen auferlegt, sog. „promotional obligations" 49 . Formulierungen wie „right to work" (Art. 6) oder „right to education" (Art. 13 I) dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß keine subjektiven Rechte, sondern nur Förderungsverpflichtungen der Staaten geschaffen wurden 50 . Die Bestimmungen selbst sind so formuliert, daß ihre Verwirklichung ein Tätigwerden des nationalen Gesetzgebers erfordert oder andere innerstaatliche Maßnahmen voraussetzt, handelt es sich doch im wesentlichen um Leistungsrechte. Hier zeigen sich wiederum deutliche Parallelen zur ES. Auf dieser Linie liegen auch die Ehe- und Familienschutzbestimmungen des Art. 10 WSP, wonach der Familie größtmöglicher Schutz und Beistand zuteil werden soll. Daß hier kein unmittelbar geltendes Recht zugunsten des betroffenen Personenkreises gemeint ist, sondern die staatliche Verpflichtung, nach und nach die Förderung der Familie auszubauen, wird schon aus dem Wortlaut der Bestimmung deutlich. Dies gilt auch für das in Art. 13 I I I WSP niedergelegte Elternrecht: "The States Parties to the present Convention undertake to have respect for the liberty of parents . . . to choose for their children schools, other than those established by the public authorities . . . and to ensure the religious and moral education of their children in conformity with their own convictions." 51

Die Formulierung „undertake to have respect" verdeutlicht den Förderungscharakter der Bestimmung; zudem werden von den Staaten die hier angesprochenen Privatschulen oft noch zu errichten oder zuzulassen sein. Wie aber verhält es sich bei Art. 10 I Satz 2: "Marriage must be entered into with the free consent of the intending spouses"?

Sind auch hier die Staaten nur zur schrittweisen Verwirklichung dieses Grundsatzes verpflichtet oder gewinnt hier die Verpflichtung eine andere Dimension? Auf den ersten Blick fällt schon der eindeutige und bestimmte 49

Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 49; Echterhölter, V N 1974, S. 10; Robertson, Human Rights in the World, S. 179; Mourgeon, A F D I 1967, S. 350 § 35; Schwelb, Amicorum Liber, S. 302; Vierdag, N Y I L 9 (1978), S. 83 f.; Guradze, G Y I L 15 (1971), S. 244 f.; Cohen-Jonathan, EPIL 8, S. 298. 50 Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 49; Echterhölter, V N 1974, S. 10. 51 Hervorh. v. Verf.

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

60

Wortlaut auf. Im Vergleich zu den sonst gebrauchten Formeln wie „undertake to secure", „shall be encouraged", „shall be actively pursued" u.a.m. fällt der Gebrauch des Verbs „must" mit seiner Bestimmtheit geradezu aus dem Rahmen. Es ist tatsächlich das einzige Mal in dem gesamten Vertragstext, daß dieses Verb verwendet wird. Die Eindeutigkeit der Formulierung tritt nicht nur in der englischen, sondern auch in der französischen 52 und spanischen53 Fassung hervor. Es scheint daher, daß hier die Staaten ausnahmsweise diese Freiheit unmittelbar nach der Ratifikation des Vertrages innerstaatlich garantieren müssen54. Wollte man umgekehrt annehmen, daß auch in bezug auf die Eheschließungsfreiheit nur eine „promotional obligation" vorliegt, hätte dies in letzter Konsequenz zur Folge, daß sich der Vertragstaat zum „Anwalt von Zwangsehen" macht, was seinen übrigen vertraglichen Verpflichtungen zuwider liefe: Einerseits hat er sich zum größtmöglichen Schutz und Beistand der Familie verpflichtet, ohne aber andererseits vorab den freiwilligen Zusammenschluß der Eheleute zu garantieren. Diese Auslegung bedeutet nun allerdings nicht, daß unter Verstoß gegen die Eheschließungsfreiheit zustandegekommene Familien minderem Schutz unterliegen 55 . Einmal gegründet, sind sie dem Schutzgedanken des Art. 10 WSP entsprechend gleichwertig. Lediglich zukünftige Familiengründungen unter Verstoß gegen die Eheschließungsfreiheit sind dann ausgeschlossen. Eine solche unmittelbare Staatenverpflichtung hinsichtlich der Garantie der Eheschließungsfreiheit widerspricht auch nicht Sinn und Zweck des Art. 2 I WSP. Diese Vorschrift soll sicherstellen, daß sich kein Staat von der Ratifikation des WSP abgehalten fühlen soll durch die Befürchtung, daß in kurzer Zeit unabsehbare wirtschaftliche und finanzielle Belastungen auf ihn zukommen könnten. Die sofortige Garantie der Eheschließungsfreiheit bringt jedoch keine nennenswerten Kostenfolgen mit sich; gefordert ist nur ein schlichtes Verbot. Insofern gleicht Art. 10 I Satz 1 WSP eher einem bürgerlichen als einem wirtschaftlichen Recht 56 . Die Entstehungsgeschichte spricht nicht gegen diese Auslegung. Die Debatte im 3. Hauptausschuß der Generalversammlung über Art. 10 (damals noch Abs. I I I 5 7 ) konzentrierte sich auf andere, später noch zu erörternde 52 53

ges."

„Le mariage doit être librement consenti par les futurs époux." „ E l matrimonio debe contraerse con el libre consentimiento de los futures cônyu-

54 Ähnlich für Art. 8 und 15 WSP Vierdag, N Y I L 9 (1978), S. 102, der von seiner Untersuchung aber ausdrücklich solche Vorschriften, die nicht ausdrücklich ein „Recht" garantieren, ausgenommen hat (S. 80); Brownlie, Principles, S. 572. 55 So die Befürchtung des thailändischen Delegierten, U N G A OR, 3rd Committee, 11th session, 1956-57, Agenda item 31, 731st mtg., S. 253 § 9. 56 Vierdag, N Y I L 9 (1978), S. 81 f. Diesen Eindruck hatten auch zahlreiche Staatenvertreter bei der Ausarbeitung des Paktes, vgl. die Nachweise in diesem Kapitel, Fn. 59. 57 UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part II), Annexes, S. 108:

2. Kap.: Vertrags werke

61

58

Punkte . Die Passage über die Eheschließungsfreiheit wurde zwar inhaltlich nicht kritisiert, wohl aber ihr Standort: Die Garantie der Eheschließungsfreiheit im IPBPR (seinerzeit Art. 22) behandele diesen Gesichtspunkt erschöpfend 59 . Wegen der sozialen Komponente 60 und zur besseren Absicherung dieses Rechtes61 wurde der Passus jedoch schließlich mit knapper Mehrheit beibehalten 62 . Die Ansicht der Delegierten, dieses Recht gehöre wesensmäßig in den Zivilpakt, verdeutlicht, daß es schon während der Vorarbeiten als „selfexecuting" empfunden wurde. Die Staaten sind mithin ausnahmsweise gehalten, nach Ratifikation des WSP in kürzester Zeit für die innerstaatliche Verwirklichung der Eheschließungsfreiheit Sorge zu tragen, wohingegen es sich beim Familienschutz um eine „promotional obligation" im üblichen Sinne des Wirtschaftspaktes handelt. I V . Das inter-amerikanische Menschenrechtsschutzsystem Der inter-amerikanische Menschenrechtsschutz fußt auf zwei Kodifikationen: der Charta der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) 6 3 sowie der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ( A m K ) 6 4 , die ihrerseits stark "3. The family, which is the basis of society, is entitled to the widest possible protection. It is based on marriage, which must be entered into with the free consent of the intending spouses." 58 Kontroversen rief vor allem die Formulierung „ I t is based on marriage . . . " hervor. 59 Debatte in U N G A OR, 3rd Committee, l l t h sess., 1956-57, Agenda item 31, 730.-738. mtg., S. 247-291. In obigem Sinne äußerten sich beispielsweise die Delegierten der Länder Spanien (730. mtg., S. 248 § 10 und S. 250 § 30), Großbritannien (730. mtg., S. 248 § 14), Schweden (732. mtg., S. 260 § 11), Pakistan (732. mtg., S. 260 § 15 und 736. mtg., S. 280 § 30), Peru (732. mtg., S. 262 § 46), Kanada (733. mtg., S. 266 § 9), Uruguay (733. mtg., S. 266 § 12) und Indonesien (733. mtg., S. 267 § 19). Ähnlich war schon die Diskussion in der Menschenrechtskommission 1952 verlaufen; ein großer Teil der Delegierten wollte diese Rechte im IPBPR ansiedeln. Vgl. dazu die Zusammenfassung in U N G A OR, 3rd Committee, a.a.O., 731. mtg., S. 253 § 7. 60 U N G A OR, 3rd Committee, a.a.O. (dieses Kapitel, Fn. 59): z. B. die Delegierten Mexikos (732. mtg., S. 259 § 5), Kubas (732. mtg., S. 262 § 42) und der Dominikanischen Republik (732. mtg., S. 263 § 51). 61 S. U N G A OR, 3rd Committee, a.a.O. (dieses Kapitel, Fn. 59): so die israelische Delegierte (735. mtg., S. 271 §§ 6 f.) und der Vertreter Belgiens (735. mtg., S. 272 § 11). 62 U N G A OR, 3rd Committee, a.a.O. (dieses Kapitel, Fn. 59), 737. mtg., S. 286 § 50: 24 + , 23 - , 18 Enthaltungen. 63 Text in Buergenthal/Norris/Shelton, Anhang Nr. 1, S. 275 ff. 64 I L M 9 (1970), S. 673 ff. Die A m K selbst legt nicht fest, welche Textfassungen authentisch sein sollen. Diese Frage wurde jedoch von dem Inter-Amerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in seiner Advisory Opinion Nr. OC-7/85 anläßlich seiner Auslegung des Art. 14 A m K geklärt. Er zog hier nämlich gleichberechtigt alle vier Fassungen (englisch, französisch, spanisch, portugiesisch) heran, s. HRLJ 7 (1986), S. 238 ff. (240 § 20).

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

von der Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen ( A E ) 6 5 beeinflußt wurde. 1. OAS-Charta und amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen

Noch vor Verkündung der A E M R wurde 1948 in Bogota die A E verabschiedet und gleichzeitig die OAS gegründet 66 . Während die OAS-Charta nur allgemein auf die Notwendigkeit des Menschenrechtsschutzes hinweist 67 , ohne einen Rechte-Katalog aufzustellen, beinhaltet die A E einen ausführlichen, 27 Artikel umfassenden Grundrechteteil sowie einen weiteren Abschnitt über die Pflichten des Einzelnen. Einer dieser Grundrechteartikel - Nr. 6 - betrifft den Familienschutz: "Every person has the right to establish a family, the basic element of society, and to receive protection therefor."

Der juristische Stellenwert dieser Erklärung, die in Form eines unverbindlichen 68 Konferenzbeschlusses der 9. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten in Bogot verabschiedet wurde, ist wiederholt diskutiert worden. Heute besteht aber Einigkeit darüber, daß diesem Dokument selbst vergleichbar mit der A E M R - zwar ein hoher politischer und moralischer Wert zukommt, jedoch keine rechtliche Bindungswirkung 69 . In der Folgezeit wuchsen in der OAS die Bemühungen um einen inter-amerikanischen Menschenrechtsschutz 70. Im Jahre 1959 wurde, gestützt auf Art. 3 (j) OAS-Charta, die Errichtung einer Interamerikanischen Menschenrechtskommission ( I A K ) beschlossen, deren Satzung der Rat der OAS im folgenden Jahr verabschiedete. Gemäß Art. 2 dieser Satzung sind unter Menschenrechten, deren Förderung der I A K obliegt, die in der A E verkündeten Rechte zu verstehen 71. Damit wurde die an sich rechtlich unverbindliche A E für die I A K zum verbindlichen Bewertungsmaßstab 72. 65 Text in Buergenthal/Norris/Shelton, Anhang Nr. 3, S. 285 ff. und in Sohn/Buergenthal, Basic Documents, S. 187 ff. 66 Zu der vorangegangenen Entwicklung verstreuter menschenrechtlicher Bestimmungen s. Kunig, Regionaler Menschenrechtsschutz, S. 255 f., 257 f. und Salum Flécha, V R Ü 2 (1969), S. 203 ff. 67 Präambel, Art. 3 (j) und Art.' 16. 68 Le Blanc, Inter-American Obligations, S. 13; Kokott, Das interamerikanische System, S. 12. 69 Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 85; Kokott, Das interamerikanische System, S. 12; Buergenthal, A J I L 69 (1975), S. 829; ders., EuGRZ 1984, S. 182; Fenwick, OAS, S. 157; Ball, OAS in Transition, S. 119 f.; Le Blanc, OAS, S. 11 und 16-18; Robertson, ICLQ 17 (1968), S. 350 f.; Tomuschat, ZaöRV 28 (1968), S. 537. 70 Dazu ausführlich Schreiber, Inter-American Commission, S. 22-27. 71 Text in Sohn/Buergenthal, Basic Documents, S. 194: "For the purpose of this Statute, human rights are understood to be those set forth in the American Declaration of the Rights and Duties of Man."

2. Kap.: Vertragswerke

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Anfangs operierte die I A K ohne vertragliche Grundlage 73 , bis durch das Inkrafttreten des Protokolls von Buenos Aires im Jahre 1970 die Charta der OAS revidiert wurde. Dies hatte auch Auswirkungen auf den Status der I A K , die in drei Artikeln der revidierten Charta erwähnt wird 7 4 . Damit wurde eine Art von „Bestandsgarantie" für die I A K erzielt 75 , indem nunmehr eine vertragliche Grundlage für ihre Arbeit geschaffen wurde. Fraglich ist nun, ob durch diese Neuerungen auch der Status der A E beeinflußt wurde. Das Protokoll von Buenos Aires könnte das Statut der I A K in die OAS-Charta inkorporiert haben, indem Art. 150 der revidierten OAS-Charta anordnet, daß bis zum Inkrafttreten der A m K , die dann ihrerseits das Nähere regeln soll, " . . . the present Inter-American Commission on Human Rights shall keep vigilance over the observance of human rights",

ohne Struktur, Aufgaben und Verfahren der „present" I A K zu umschreiben. Aus dieser Lücke wird nicht nur gefolgert, daß die bisherigen Regelungen des Statuts weitergelten sollen, sondern daß sie damit in die OAS-Charta integriert worden seien 76 . Damit soll gleichzeitig die A E normative Kraft erlangt haben 77 . Die Bindungswirkung soll ferner durch die 1978 in Kraft getretene A m K sowie das neue Statut der I A K (von 1979)78 bestätigt worden sein: Indem das neue Statut der I A K in seinem Art. 1 I I (b) wiederum die in der A E proklamierten Rechte zum Beurteilungsmaßstab erklärt, werde der normative Charakter der A E nochmals hervorgehoben 79. Auch die Konvention erkenne diese Bindungswirkung in ihrem Art. 29 (d) an, wonach die A m K nicht so ausgelegt werden darf, daß die Wirkungen der Deklaration ausgeschlossen oder beschränkt werde 80 . Diese Auslegung begegnet jedoch erheblichen Bedenken. Zunächst erscheint es schon als fraglich, ob dann, wenn ein Vertragswerk keine Regelungen über Struktur und Verfahren eines Organs enthält, dieses aber vertraglich zur Weiterführung seiner Arbeit auffordert, das Statut dieses Organs in 72

Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 182; Kokott, Das interamerikanische System, S. 21. Kokott, Das interamerikanische System, S. 17, 25. 74 Art. 51 (e): Die I A K ist nicht mehr nur eine „autonome Einrichtung" (Art. 1 des Statuts), sondern Hauptorgan der OAS; Art. 112 befaßt sich mit den Aufgaben der I A K ; Art. 150 ist eine Übergangsregelung bis zum Inkrafttreten der A m K . 75 Die I A K konnte nun nicht mehr durch einen bloßen Konferenzbeschluß abgeschafft werden, sondern nur durch eine Änderung der OAS-Charta. S. dazu Buergenthal, A J I L 69 (1975), S. 835; Kokott, Das interamerikanische System, S. 25; Sepülveda, G Y I L 28 (1985), S. 69; ders., IsrYbHR 12 (1982), S. 50. 7 * Buergenthal, A J I L 69 (1975), S. 834 f. 77 Buergenthal, A J I L 69 (1975), S. 835; ders., EuGRZ 1984, S. 183; Kokott, Das interamerikanische System, S. 26. 78 Text: Buergenthal/Norris/Shelton, S. 303 ff. 79 Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 185. 80 Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 185. 73

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

den Vertrag inkorporiert ist. Denn viel näher liegt die Annahme (vor allem auch, weil Art. 150 eine Übergangsvorschrift bis zum Inkrafttreten der A m K ist), daß die I A K ihre Tätigkeit auf der Grundlage ihres Statuts wie bislang weiterführen sollte, bis eine endgültige Regelung (gem. Art. 112 OASCharta) in der Konvention erfolgen würde. Für die Annahme, daß die Staaten das Statut in die Charta hätten inkorporieren wollen, gäbe es dann keine Grundlage. Letztlich kann diese Frage jedoch offen bleiben, denn selbst wenn man eine solche Eingliederung vertreten will, kann daraus nicht geschlossen werden, daß nunmehr - über Art. 2 des Statuts - die ΟAS-Staaten an die Deklarationsrechte gebunden sind. Eine solche Auslegung würde nämlich die Aufgabe und Zielrichtung eines Statuts verkennen. Als der Rat der OAS 1960 die Satzung der I A K verabschiedete, wollte er damit die nähere Ausgestaltung der Arbeit dieses Gremiums regeln. Dazu gehörte, daß der Kommission ein Prüfungsmaßstab an die Hand gegeben wurde, anhand dessen sie die Menschenrechtslage in den jeweiligen Ländern beurteilen konnte. Dabei mag es nahegelegen haben, auf die Deklaration als ein inter-amerikanisches Instrument von anerkanntem politischen und moralischen Wert zurückzugreifen. Doch allein aufgrund der Einigkeit, die Beurteilung der I A K an diesem Maßstab auszurichten, gewann die Deklaration nicht auch für die Mitgliedstaaten der OAS Rechtsverbindlichkeit. Denn im Hinblick auf eine solche Verbindlichkeit lag gerade keine Einigung vor. Darauf deutet schon der Wortlaut des Statuts hin, indem sein Art. 2 eingrenzt: "For the purpose of this Statute, human rights are understood to be .. . " 8 1 ,

eine Formulierung, die sich wörtlich in Art. 1 I I (a) des neuen Statuts wiederfindet. Die bedeutet, daß die I A K - und nur diese - die in der Deklaration niedergelegten Rechte im Rahmen ihrer Tätigkeit als verbindlich ansehen sollte. Eine - hier unterstellte - Inkorporation in die Charta könnte an dieser Zielrichtung nichts ändern. Hinzu kommt, daß die OAS-Charta ausdrückliche Bestimmungen über wirtschaftliche (Kap. V I I ) und soziale (Kap. V I I I ) Standards enthält sowie Zielbestimmungen im Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturbereich. Hier sind sogar konkrete Wege zur Verwirklichung dieser Ziele angegeben. Einige der wirtschaftlichen und sozialen Prinzipien der A E wurden also in den Vertrag aufgenommen, während es bezüglich der übrigen Menschenrechte in Art. 3 - „Principles" - lediglich heißt: "(j) The American States proclaim the fundamental rights of the individual . . . "

Diese Regelung spricht eher gegen einen Willen der Ο AS-Staaten, eine Rechtsverpflichtung hinsichtlich der Bestimmungen der A E einzugehen. 81

Hervorh. v. Verf.

2. Kap.: Vertragswerke

65

Keine Änderung wurde durch die nachfolgende Konvention bewirkt, insbesondere auch nicht durch ihren Art. 29 (d) A m K 8 2 . Zunächst einmal ist es schon zweifelhaft, ob aus dieser Auslegungsbestimmung auf eine generelle Rechtsverbindlichkeit der A E geschlossen werden kann. Der auffallend vage gehaltene Zusatz "and other international acts of the same nature" deutet nicht auf eine Verbindlichkeit dieser anderen Akte hin; hierfür hätten sich andere, typische Formulierungen angeboten. Vielmehr scheint die für rechtsverbindliche Instrumente ungebräuchliche Formulierung eher den speziellen, aber nicht rechtlich bindenden Wirkungen der Deklaration Rechnung tragen zu wollen. Diese wiederum beeinträchtigt in keiner Weise die Tauglichkeit dieser Auslegungsbestimmung. Es steht den Vertragstaaten nämlich frei, auch unverbindliche Instrumente als „Notanker" heranzuziehen, um zu verdeutlichen, welche Auslegung ihres Vertrages sie nicht mehr für statthaft halten. Dies ergibt sich aus dem völkerrechtlichen Grundsatz, daß souveräne Staaten durch Vertrag für sie verbindliches Recht schaffen können 83 . Eine allgemeine Verbindlichkeit der Deklaration kann so jedoch nicht geschaffen werden, da sonst gegen den auch im Völkerrecht geltenden Grundsatz „pacta tertiis non nocent" 84 verstoßen würde. Die Konventionsstaaten hätten nämlich - zulasten der der Konvention Ferngebliebenen - die Prinzipien der A E als rechtsverbindlich auch mit Wirkung für die Nichtmitglieder erklärt mit der Folge, daß auch Letztere bei Zuwiderhandlungen einen Völkerrechtsverstoß begingen ungeachtet dessen, daß jene zwar die Prinzipien befürworteten, aber nur in Form politischer und moralischer Maximen ohne strikte Rechtsverbindlichkeit. Es ist daher davon auszugehen, daß die Grundsätze der A E nur für die Kommission als Beurteilungsmaßstab, nicht aber für die Ο AS-Staaten Verbindlichkeit erlangt haben. Dieses Ergebis ist auch rechtspolitisch wünschenswert, zum einen unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, zum anderen unter jenem der Effektivität: Durch diese Auslegung wird vermieden, daß die Völkerrechtsquelle „Vertrag" verwässert wird und Staaten an Normen gebunden werden, deren verbindlicher Wirkung sie weder ausdrücklich noch durch ihr Verhalten zugestimmt haben. Im konkreten Fall hätte zudem die Möglichkeit bestanden, der Konvention beizutreten, wenn ein vertraglicher Menschenrechtsschutz gewünscht worden wäre. Zudem kann die I A K ihre Aufgaben mindestens ebenso wirkungsvoll erfüllen, wenn sie die Staaten auf Men82

Art. 29: Restrictions Regarding Interpretation No provision of this Convention shall be interpreted as:

d) excluding or limiting the effect that the American Declaration of the Rights and Duties of Man and other international acts of the same nature may have." 83 Vgl. Art. 6, 46 W V K . 84 S. Art. 34, 35 W V K und Verdross, Quellen, S. 66 f.; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 232 ff. 5 Palm-Risse

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

schenrechtssituationen in ihrem Land aufmerksam macht, die einem völkerrechtlich zwar unverbindlichen Instrument widersprechen, das aber unangefochten hohes politisches und moralisches Ansehen genießt. Sicherlich werden Staaten bereitwilliger Mißstände beseitigen, wenn sie nicht gleichzeitig (aufgrund von durch Auslegungskunstgriffe für sie als verbindlich angenommenen Instrumenten) gezwungen sind, dies umfassend in allen Bereichen zu tun, wenn sie sich nicht dem Vorwurf eines Völkerrechtsverstoßes ausgesetzt sehen wollen. Unterstützt wird der Einfluß der I A K durch ihre Möglichkeit, mit Einwilligung der Regierung in dem betreffenden Land, dem Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, Sitzungen vor Ort abhalten zu können. Kontakte mit relevanten Bevölkerungsgruppen, politischen Führern, Gewerkschaften u. a. können dann ein Bild von der Lage der Menschenrechte entstehen lassen, das über die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse der interessierten Öffentlichkeit zugänglich ist. Der so ausgeübte politische Druck ist nicht zu unterschätzen 85. Selbst die Weigerung einer Regierung, die I A K in ihr Land einzulassen, kann die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die dortige Menschenrechtssituation lenken und ebenfalls politischen und moralischen Druck auf die Regierung ausüben. Da die Deklaration somit nicht im rechtstechnischen Sinne bindende Staatenverpflichtungen auferlegt, ist ihre Familienschutzvorschrift bei dem auf Rechtsnormen begrenzten Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit nicht weiter zu behandeln. 2. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention

Die A m K , ausgearbeitet unter den Auspizien der OAS, wurde im November 1969 von der Inter-American Specialized Conference in San José, Costa Rica, angenommen (deshalb ist die Konvention auch unter dem Namen „Pakt von San José" bekannt) und trat im Juli 1978 in Kraft. Mittlerweile ist rund die Hälfte der Ο AS-Staaten beigetreten, wobei allerdings so wichtige OASMächte wie Brasilien oder die Vereinigten Staaten dem Vertragswerk bislang ferngeblieben sind. Bei näherer Durchsicht der Konvention offenbart sich, wie sehr sie von der E M R K , dem IPBPR, der A E und der A E M R beeinflußt wurde 86 ; die beiden letztgenannten Instrumente werden sogar ausdrücklich in der Präambel erwähnt. Ehe- und Familienschutzbestimungen finden sich in Art. 11 I I und 17 AmK87. 85

Tomuschat, ZaöRV 28 (1968), S. 545-547. Robertson, Human Rights in the World, S. 138; ders., AnnEur X X I X (1981), S. 56; Shelton, G Y I L 26 (1983), S. 238; Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 170; Chueca Sancho, R E D I X X X I I (1980), S. 74; Frowein, HRLJ 1980, S. 45; Kunig, Regionaler Menschenrechtsschutz, S. 272. 86

2. Kap.: Vertragswerke

67

D i e Frage nach den sich aus der A m K ergebenden Staatenverpflichtungen beantwortet sich aus den A r t . 1 I und 2 A m K . A r t . 1 I A m K erinnert sehr stark an A r t . 1 E M R K ( „ . . . shall secure to everyone") u n d entspricht fast wörtlich der Parallelvorschrift des I P B P R ( A r t . 2 I ) , indem er bestimmt: "The States Parties to this Convention undertake to respect the rights and freedoms recognized herein and to ensure . . . the free and full exercise of those rights and freedoms .. . " 8 8 Art. 2 A m K "Where the exercise of any of the rights and freedoms referred to in Art. 1 is not already ensured by legislative or other provisions, the States Party undertake to adopt . . . such legislative or other measures as may be necessary to give effect to those rights and freedoms." 89 findet seine Entsprechung in A r t . 2 I I I P B P R . Diese Ä h n l i c h k e i t e n - und andererseits der Unterschied zum W o r t l a u t der entsprechenden Bestimmungen der „ p r o m o t i o n a l conventions" WSP und ES - legen es nahe, die Frage nach der Staatenverpflichtung ebenfalls parallel zu E M R K u n d I P B P R zu beantworten 9 0 . Unterstützt w i r d diese Auslegung durch einen Vergleich m i t A r t . 26 A m K , der sich m i t der Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der O A S - C h a r t a befaßt. H i e r werden die Vertragstaaten nur zu einer schrittweisen V e r w i r k l i c h u n g aufgefordert, indem sie verpflichtet werden, 87 Die Vorschriften haben folgenden Wortlaut: Art. 11 I I A m K :

"No one may be the object of arbitrary or abusive interference with . . . his family Art. 17 A m K : "1. The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the state. 2. The right of men and women of marriageable age to marry and to raise a family shall be recognized, if they meet the conditions required by domestic laws, insofar as such conditions do not affect the principle of non-discrimination established in this Convention. 3. No marriage shall be entered into without the free and full consent of the intending spouses. 4. The States Parties shall take the appropriate steps to ensure the equality of rights and the adequate balancing of responsibilities of the spouses as to marriage, during marriage, and in the event of its dissolution. In case of dissolution, provision shall be made for the necessary protection of any children solely on the basis of their own best interests. 5. The law shall recognize equal rights for children born out of wedlock and those 8 8 born in wedlock. Hervorh. v. Verf. 89 Hervorh. v. Verf. 90 Robertson, AnnEur X X I X (1981), S. 55; ders., Human Rights in the World, S. 137; Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 170; Vargas Carreno, AmUnivLRev 30 (1980/81), S. 132 f.; Garcia Bauer, Homenaje a Miaja de la Muela, S. 538 f. 5*

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

" . . . to undertake to adopt measures . . . with a view to achieving progressively . . . the full realization of the rights

Da in ein und demselben Vertragswerk diese unterschiedliche Wortwahl nicht zufällig erfolgen konnte, wird so die unmittelbare Verpflichtung zur strikten Gewährleistung der übrigen Rechte noch betont. Auch die Verfahrens Vorschriften sprechen dafür, daß die Konventionsrechte „self-executing" sind. Art. 44 (Verfahren vor der Kommission) beispielsweise setzt ausdrücklich eine Verletzung der Konventionsrechte voraus, ebenso Art. 63 (Verfahren vor dem Gerichtshof). Ebenso wie beim IPBPR würden diese Verfahren leerlaufen, wenn man nicht gleichzeitig eine unmittelbare Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Gewährleistung der Rechte und Freiheiten annehmen wollte, da es ansonsten ggf. gar nicht zu einer Rechtsverletzung kommen könnte. Außerdem gleicht auch der Wortlaut der materiellen Rechte auffallend dem der E M R K und vor allem des IPBPR. Dies zeigt sich auch bei den Ehe- und Familienschutzvorschriften. Das in Art. 11 I I A m K garantierte Abwehrrecht findet seine Entsprechung in Art. 17 I IPBPR; zudem greift die Bestimmung die Grundgedanken des Art. 8 E M R K auf. Art. 17 I A m K ist identisch mit Art. 23 I IPBPR, Art. 17 I I A m K entspricht den Art. 23 I I IPBPR und 12 E M R K , und Art. 17 I I I A m K schließlich stimmt wiederum wörtlich überein mit Art. 23 I I I IPBPR. Die genannten Vorschriften der A m K sind folglich ebenso wie die Parallelbestimmungen im IPBPR und der E M R K - „selfexecuting" . Eine Ausnahme im Bereich des Familienschutzes gilt, wiederum parallel zu Art. 24 I V IPBPR, für Art. 17 I V A m K . Wie beim IPBPR signalisiert auch hier die Formulierung „shall take appropriate steps to ensure . . . " , daß die Gleichberechtigung der Eheleute Schritt für Schritt durch geeignete innerstaatliche Maßnahmen vollzogen werden soll. Dieser Abschnitt ist daher ebensowenig „self-executing" wie der folgende Art. 17 V AmK. Indiziell ist schon, daß für Abs. V nicht Bestimmungen des IPBPR oder der E M R K Vorbild waren, sondern Art. 10 I I I WSP 91 , der Diskriminierungen nichtehelicher Kinder verbietet. Auch hier ist zunächst der nationale Gesetzgeber gefordert, die Gleichstellung innerstaatlich zu verwirklichen. Daher begründet Art. 17 V A m K keine Rechtspositionen, die dem Betroffenen unmittelbar zugute kommen können 92 . Im übrigen entsprechen die durch Ratifikation der A m K auferlegten Staatenverpflichtungen denen der E M R K und des IPBPR: Die Vertragstaaten müssen die Konventionsrechte in vollem Umfang unmittelbar nach ihrem Beitritt beachten und innerstaatlich gewährleisten. Chueca Sancho, R E D I X X X I I (1980), S. 74. Vargas Carreno, AmUnivLRev 30 (1980/81), S. 133; Garcia Bauer, Homenaje a Miaja de la Muela, S. 538. 92

2. Kap.: Vertragswerke

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Y . Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker Im Juni 1981 verabschiedeten die Staatsoberhäupter und Regierungschefs der OAU-Mitgliedstaaten die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker 9 3 , die nach dem Ort der nur zweijährigen Vorberatungen auch „Banjul-Charta" genannt wird. In Kraft trat sie am 21. 10. 86. Die Zahl der Beitritte wächst stetig; gegenwärtig liegen Ratifikationen von 38 Staaten vor 94 . Beeinflußt wurde sie, vor allem in der Formulierung der „klassischen Grundrechte", von der E M R K und der A m K 9 5 . Doch will sie sich nicht einfach auf eine Übernahme des europäischen Menschenrechtsverständnisses beschränken, wie dies bei der A m K noch weitgehend der Fall war, sondern auch eigene Wege gehen 96 . Dies wird schon in der Präambel deutlich, die zwar die A E M R erwähnt, vor allem aber auf den speziellen historischen und kulturellen Hintergrund Afrikas abhebt 97 . A n materiellen Bestimmungen zählt die AfrC im ersten Abschnitt eine Reihe von Menschenrechten auf, gefolgt von einem Katalog über die Pflichten des Einzelnen. Wirtschaftlich-kulturelle und bürgerlich-politische Rechte, die herkömmlicherweise streng voneinander geschieden werden, stehen in der AfrC gleichberechtigt nebeneinander, ein Hinweis auf die Überzeugung von der Unteilbarkeit der Menschenrechte 98. Der Gedanke des Familienschutzes ist in Art. 18 AfrC niedergelegt, der die Einbindung des Einzelnen in die Familie betont 99 . Dieser traditionell starke 93

Text: I L M 21 (1982), S. 58 f. Über die spezifisch afrikanischen Erfahrungen mit dem Völkerrecht informiert Kunig, Regionaler Menschenrechtsschutz, S. 252-254. Speziell für Menschenrechte ebenda, S. 256 f. Zu den Rahmenbedingungen s. auch Much, E A 1988, S. 18 ff. 94 Much, E A 1988, S. 17. 95 Mbaya, V N 1984, S. 133; ders., EPIL 8, S. 1; D'Sa, Australian Y b I L 10 (1987), S. 128. 96 Okere, HRQu 6 (1984), S. 145; Gittleman, VirgJIL 22 (1982), S. 668, 675 f.; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 93; Castro-Rial Garrone, R E D I X X X V I (1984), S. 500; Neff, ICLQ 33 (1984), S. 331 ff.; Bello, RdC 194 (1985 V), S. 33 f. 97 Präambel, Abs. 4: "Taking into consideration the virtues of their historical tradition and the values of African civilization which should inspire and characterize their reflection on the concept of human rights; . . . " 98 Dies wird eindeutig schon in Abs. 7 der Präambel hervorgehoben: " . . . civil and political rights cannot be dissociated from economic, social and cultural rights in their conception as well as universality and . . . the satisfaction of economic, social and cultural rights is a guarantee for the enjoyment of civil and political rights; 99

"Article 18 1. The family shall be the natural unit and basis of society. It shall be protected by the State which shall take care of its physical health and moral. 2. The State shall have the duty to assist the family which is the custodian of morals

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

Familienbezug der Afrikaner 1 0 0 findet seinen Ausdruck auch in dem Pflichtenkatalog der AfrC: Art. 27 I, der generell die Pflichten des Einzelnen gegenüber Familie, Staat und Gesellschaft hervorhebt, wird konkretisiert durch Art. 29 I, wonach dem Einzelnen die Pflicht obliegt, "1. To preserve the harmonious development of the family and to work for the cohesion and repect of the family; to respect his parents at all times; to maintain them in case of need; . . . "

Wozu nun haben sich die Vertragstaaten der AfrC durch ihren Beitritt zu diesem Vertragswerk bereit erklärt? Art. 1 AfrC ordnet an, daß die Mitglieder " . . . shall recognize the rights, duties and freedoms . . . and shall undertake to adopt legislative or other measures to give effect to them."

Im Vergleich zu den entsprechenden Vorschriften des IPBPR (Art. 21, II) und der A m K (Art. 1) erscheint die aus dieser Bestimmung folgende Pflicht durch die Formulierung „shall recognize, shall undertake" anstatt „to respect and to ensure", „undertake to take the necessary steps" vielleicht etwas schwächer, aber lange nicht so vage wie die der „promotional conventions" (WSP, ES: „undertake to take steps") zu sein. Was dies für die bürgerlichpolitischen Rechte der Charta bedeutet, die keine innerstaatliche Gesetzgebung mehr erfordern, mag hier offen bleiben, da es sich bei Art. 18 AfrC um ein wirtschaftlich-soziales Recht handelt 101 . Denn Familienschutz wird in der AfrC nicht als Abwehr-, sondern als Leistungsrecht verstanden 102 : Der Staat soll für die Gesundheit und Moral der Familie Sorge tragen (Abs. I) und ihr Beistand und Hilfe leisten (Abs. II). Des weiteren ist die Gleichberechtigung voranzutreiben, die Rechte der Frauen und Kinder sind zu schützen (Abs. III). Älteren und behinderten Personen sollen besonders auf ihre Bedürfnisse abgestellte Maßnahmen zuteil werden (Ab. IV). Die Vertragstaaten sind also jeweils aufgefordert, im Wege der Gesetzgebung oder durch andere geeignete Maßnahmen den Genuß dieser Rechte zu ermöglichen. Daß dies nur schrittweise erfolgen kann, bedarf vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten vieler afrikanischer Staaten kaum noch der Erwähnung. Es handelt sich bei Art. 18 AfrC daher um „promotional obliand traditional values recognized by the community. 3. The State shall ensure the elimination of every discrimination against women and also censure the protection of the rights of the woman and the child as stipulated in international declarations and conventions. 4. The aged and the disabled shall also have the right to special measures of protection in keeping with their physical or moral needs." 100 M'Baye/Ndiaye, in: Vasak/Alston, International Dimensions, Vol. 2, S. 589; Benedek, V R Ü Beiheft 12 (1985), S. 63 f. 101 Gittleman, VirgJIL 22 (1982), S. 687; Mbaya, V N 1984, S. 133; vgl. auch Mahalu, V R Ü Beiheft 12 (1985), S. 26. 102 Okere, HRQu 6 (1984), S. 141; Castro-Rial Garrone, R E D I X X X V I (1984), S. 501; Sangare Abou, RevJurPol 39 (1985), S. 841.

2. Kap.: Vertragswerke

71

gâtions" und nicht um unmittelbar zu verwirklichende Schutzbestimmungen 103 . Dem Katalog der Rechte und Freiheiten steht ein Pflichtenkatalog gleichberechtigt gegenüber. Damit geht die AfrC im Vergleich zu den übrigen Menschenrechtsverträgen neue Wege, doch hat besonders im afrikanischen Rechtsverständnis die Verknüpfung von Rechten und Pflichten eine lange Tradition 104 . Lediglich die A m K spricht in Art. 32 Pflichten an, allerdings in viel generellerer Weise. Denn wenn es dort heißt, jedermann sei seiner Familie, der Gemeinschaft und der Menschheit gegenüber verpflichtet, so soll dadurch nur die Existenz des Menschen als soziales Wesen in Erinnerung gerufen werden, die einem schrankenlosen Genuß der Rechte entgegensteht, nicht aber ein echter Pflichtenkatalog aufgestellt werden. Der Pflichtenkatalog der AfrC scheint demgegenüber weitreichendere Konsequenzen zu haben, die später noch eingehend zu untersuchen sein werden 105 . Aus der Verknüpfung von Rechten und Pflichten ergeben sich nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Vertragstaaten Verpflichtungen. Art. 25 AfrC beauftragt sie mit entsprechender Information und Erziehung der Bürger sowohl über deren Rechte als auch deren Pflichten, um sie mit der diesem Konzept innewohnenden Idee vertraut zu machen 106 . Auch Art. 25 AfrC ist eine „promotional obligation": Den Bürgern sollen nach und nach die in der Charta niedergelegten Rechte und Pflichten vertraut gemacht werden. Denn eine auf den Menschenrechten aufbauende Entwicklung kann nur dann Erfolg haben, wenn sowohl der Einzelne als auch die Familie, die Gruppe, der Staat sowie der regionale Staatenverbund der Ο A U gemeinsam auf dieses Ziel hinarbeiten. Im Bereich des Familienschutzes ergeben sich also für die Vertagstaaten zwei Verpflichtungen: Zum einen müssen sie die in Art. 18 niedergelegten Rechte nach und nach verwirklichen, zum anderen obliegt ihnen nach Art. 25 AfrC die Minimalverpflichtung, ihren Bürgern durch Information und Erziehung das Zusammenspiel von Rechten und Pflichten und die damit verfolgten Ideale und Grundsätze einzuprägen. Eine Garantie der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit fehlt in der AfrC, obwohl in ihr als regionalem Vertrag, der Standards im menschenrechtlichen Bereich aufstellt, eine solche Bestimmung zu vermuten gewesen 103

Gittleman, VirgJIL 22 (1982), S. 687; Okere, HRQu 6 (1984), S. 147. Daß es sich dabei nicht nur um ein Prinzip sozialistischer Staaten handelt, zeigt sich daran, daß sich solche Pflichtenkataloge nicht nur in den Verfassungen sozialistischer Länder (Angola, Art. 17 ff., Guinea, Art. 6 ff.) finden, sondern auch beispielsweise in den Verfassungen von Ägypten (Art. 40 ff.), Somalia (Art. 20 ff.), Sudan (Art. 38 ff.) und Togo (Art. 4 ff.). Vgl. hierzu auch M'Baye/Ndiaye, in: Vasak/Aiston, International Dimensions, Vol. 2, S. 558; Mahalu, V R Ü Beiheft 12 (1985), S. 28; Benedek, V R Ü Beiheft 12 (1985), S. 85, 89; Kunig, V R Ü Beiheft 12 (1985), S. 50. 105 S. u. Text zu Fn. 98 - 104, 14. Kapitel. 106 Mbaya, V N 1984, S. 134; Umozurike, A J I L 77 (1983), S. 907. 104

1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

72 107

wäre . Diese Garantie scheint hauptsächlich aus dem Grund zu fehlen, daß in vielen (vor allem ländlichen) Bereichen Afrikas die Realität noch weit von der Verwirklichung des Grundsatzes der freien Wahl des Ehepartners entfernt und dies vielleicht auch letztlich dem traditionellen afrikanischen Lebensstil fremd ist, so daß dieses Recht in absehbarer Zeit keine Chance auf Realisierung und wirksame Durchsetzung gehabt hätte 108 . V I · Bestrebungen in der arabischen und asiatischen Region Die von dem Rat der Arabischen Liga schon im Jahre 1968 ins Leben gerufene Menschenrechtskommission legte 1971 der Arabischen Liga den Entwurf einer arabischen Menschenrechtserklärung vor, die im wesentlichen die in der A E M R proklamierten Rechte enthielt 109 . Die Reaktion der um Stellungnahme gebetenen Staaten war jedoch enttäuschend; nur wenige gaben überhaupt die gewünschte Stellungnahme ab 1 1 0 . So ist der Entwurf bis heute nicht verabschiedet worden. Wegen der Meinungsunterschiede im arabischen Block über die Rolle des Islam in Staat und Gesellschaft 111 ist dies in nächster Zeit auch nicht zu erwarten. Eine rechtliche Analyse des Entwurfs wäre daher verfrüht. In der asiatischen Region stößt die Einführung eines einheitlichen Menschenrechtsstandards wegen großer kultureller und religiöser Heterogenität und unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklung auf Schwierigkeiten 112 . Eine regionale Konvention zum Schutze der Menschenrechte gibt es nicht. Initiativen zur Förderung der Menschenrechte kommen zumeist von privater Seite 113 . Als Beispiel sei das „Permanent Standing Committee on Human Rights" genannt, dem die Förderung der Menschenrechte u . a . durch Verbreitung von Informationen und Aufforderung zur Ratifizierung der VN-Pakte obliegt 114 . Gegründet wurde das Komitee 1979 vom Rat der privaten Institu107

Castro-Rial Garrone, R E D I X X X V I (1984), S. 507 f. Kunig, G Y I L 25 (1982), S. 153; ders., in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren. Internationaler Menschenrechtsschutz, S. 261. 109 Dazu Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 98 f.; Boutros-Ghali, in: Vasak/ Aiston, International Dimensions, Vol. 2, S. 579; Daoudi, EPIL 8, S. 296. 110 Boutros-Ghali, in: Vasak/Alston, International Dimensions, Vol 2, S. 579; Mani, IndJIL 21 (1981), S. 107; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 98; Daoudi, EPIL 8, S. 296. 111 Während einige Länder, z. B. Saudiarabien und Oman, den Islam als einzige Quelle nationaler Gesetzgebung ansehen, ist er für andere Staaten zwar die Hauptrechtsquelle, daneben werden aber auch die in der A E M R und den VN-Pakten proklamierten Prinzipien anerkannt (s. Daoudi, EPIL 8, S. 296). 112 Khushalani, HRLJ 4 (1983), S. 439; Yamane, in: Vasak/Alston, International Dimensions, Vol 2, S. 664. 113 Yamane, in: Vasak/Alston, International Dimensions, Vol. 2, S. 664. 114 Die einzelnen Aufgaben des Komitees zählt Khushalani auf, HRLJ 4 (1983), S. 437. 108

2. Kap.: Vertrags werke

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tion „Lawasia", einer Vereinigung von Juristen aus dem asiatischen und westpazifischen Raum 1 1 5 . Auf seiner ersten Sitzung (1980) entwarf es einen „Minimum Standard" von Menschenrechten, die nach Ansicht des Komitees von allen Regierungen der Region befolgt werden sollten. Dieser unverbindliche und zudem nicht unumstrittene 116 - Entwurf enthält nur die grundlegendsten Menschenrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit, Sicherheit, Justizgarantien, jedoch keine Forderung nach Ehe-und Familienschutz. In Ermangelung rechtlich verbindlicher Instrumente fallen die Bemühungen in den arabischen und asiatischen Staaten zur Förderung des Menschenrechtsschutzes somit nicht in den Rahmen dieser Untersuchung.

V I I . Zusammenfassung der einschlägigen Vorschriften A . Eheschutz 1. Das Recht auf Heirat und Familiengründung findet sich in: — Art. 12 E M R K — Art. 23 I I IPBPR — Art. 17 I I A m K 2. Das Verbot von Zwang bei der Eheschließung ist verankert in: — Art. 23 I I I IPBPR — Art. 17 I I I A m K — Art. 10 I S . 2 WSP 3. Gleichberechtigung der Ehegatten ordnen an: — Art. 23 I V IPBPR — Art. 17 I V A m K — Art. 18 I I I AfrC B. Familienschutz 4. Anerkennung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft: — Art. 23 I IPBPR — Art. 17 I A m K — Art. 18 I AfrC — Art. 16 ES — Art. 10 I WSP 5. Familienschutz als Abwehrrecht enthalten — Art. 8 I E M R K — Art. 17 I IPBPR — Art. 11 I I A m K

us Näheres bei Khushalani, HRLJ 4 (1983), S. 437 ff. h 6 Khushalani, HRLJ 4 (1983), S. 439.

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

6. Das Recht der Familie auf staatlichen Beistand ist niedergelegt in: — Art. 16, 19 (6) ES — Art. 18 I I AfrC — Art. 10 I WSP 7. Das Erziehungsrecht der Eltern ist enthalten in: — Art. 2 S. 2 ZP E M R K — Art. 12 I V A m K — Art. 13 I I I WSP

V I I I . Systematisierung und Bewertung der angetroffenen Rechte Verbindliche Familienschutzvorschriften sind somit auf universeller Ebene sowohl in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen als auch auf regionaler Ebene in der E M R K , der ES, der A m K und der AfrC verankert. Eheschutzvorschriften fehlen lediglich in der ES und der AfrC. Ihrer Natur nach finden sich Eheschutzvorschriften als bürgerlich-politische Rechte in Verträgen, deren Bestimmungen typischerweise „self-executing" sind: Das Recht auf Heirat und Familiengründung wird gewährleistet in Art. 12 E M R K , Art. 23 I I IPBPR und Art. 17 I I AmK. „Free and full consent" bei der Eheschließung fordern ausdrücklich Art. 23 I I I IPBPR, Art. 17 I I I A m K sowie Art. 10 I Satz 2 WSP, eine Vorschrift, die im Gegensatz zu den übrigen Bestimmungen dieses Vertrages „self-executing" ist. Somit erklärt sich, warum die ES keine Eheschutzvorschrift enthält: Als „promotional convention", die Wirtschafts- und Sozialrechte kodifiziert, wäre sie sozusagen der „falsche Standort" für eine solche Bestimmung gewesen. Dies hat auch die Diskussion der Staatenvertreter bei der Ausarbeitung des WSP gezeigt, bei dem die Eheschutzvorschrift dann doch - und letztlich untypischerweise - beibehalten wurde. Auffällig ist hingegen diese Lücke bei der AfrC, die einen Katalog bürgerlicher Rechte enthält. Wesensmäßig hätte hier eine Eheschutzvorschrift in den Regelungszusammenhang hineingepaßt. Dies legt den Schluß nahe, daß die Nichtaufnahme einer Eheschutzbestimmung eine bewußte Entscheidung war, deren Hintergründen in der folgenden Bearbeitung nachzugehen sein wird. Familienschutzvorschriften hingegen sind sowohl in Verträgen, deren Bestimmungen unmittelbare Wirkung haben, als auch in „promotional conventions" enthalten. Doch auch hier lassen sich die einzelnen Rechte in zwei Kategorien einordnen als solche, die typischerweise „self-executing" sind, und solche, zu deren Verwirklichung erst innerstaatliche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Ist der Familienschutz als Abwehrrecht formuliert („right to respect", „no one shall be subjected to . . . interference"), findet er sich stets in einer Vor-

2. Kap.: Vertragswerke

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schrift mit unmittelbar verpflichtender Wirkung (Art. 8 E M R K , Art. 17 I IPBPR, Art. 11 I I AmK). Dies erklärt sich daraus, daß hier die Staaten nicht zu positivem Tun, sondern zu einem Unterlassen aufgerufen sind; eine Verpflichtung also, die sofort nach Ratifikation des Vertrages zumutbarerweise ohne zusätzlichen finanziellen Aufwand verwirklicht werden kann. So nimmt es nicht wunder, daß die ES, die AfrC und der WSP eine solche Abwehrbestimmung nicht enthalten. In den letztgenannten Konventionen ist hingegen ein Recht der Familie auf staatlichen Beistand niedergelegt (Art. 16, 19 (6) ES, Art. 18 I I AfrC, Art. 10 I WSP). Dieses Leistungsrecht verpflichtet die Staaten, größtmögliche Unterstützungsmaßnahmen zu gewähren. Die Umsetzung erfordert somit großen wirtschaftlichen Aufwand, verbunden mit flankierenden technischen und sozialen Maßnahmen, um die erforderlichen Einrichtungen bereitstellen zu können. Eine unmittelbare Verpflichtung der Staaten zur sofortigen Gewährleistung dieses Beistandes ist somit, bedingt durch die Notwendigkeit der Entwicklung im wirtschaftlich-sozialen Bereich, nicht denkbar. So fehlen denn auch vergleichbare Bestimmungen in der E M R K , der A m K und dem IPBPR. Die Familie als Grundlage und Keimzelle der Gesellschaft wird - bis auf die E M R K - in allen Vertragswerken anerkannt (Art. 23 I IPBPR, Art. 17 I A m K , Art. 18 I AfrC, Art. 16 ES, Art. 10 I WSP). Auch hier zeigen sich Unterschiede je nachdem, ob die Bestimmung „self-executing" ist oder nicht. In Vorschriften der erstgenannten Art folgt aus der Anerkennung ein Anspruch der Familie auf „protection by society and the State", ohne daß Einzelheiten des Schutzes oder sein Inhalt umschrieben werden. In den „promotional conventions" wird der Schutz näher ausgefüllt, und die einzelnen Bereiche werden aufgezählt, in denen Maßnahmen ergriffen werden sollen. Das Recht der Ehegatten auf Gleichbehandlung bei Eingehung, während der Ehe und bei deren Scheidung ist ausdrücklich gewährleistet in Art. 23 I V IPBPR, Art. 17 I V A m K und Art. 18 I I I AfrC. Keine dieser Bestimmungen ist „self-executing", wobei Art. 23 I V IPBPR ausnahmsweise als nur schrittweise zu verwirklichende Bestimmung formuliert ist in einem Regelungswerk mit ansonsten unmittelbar verpflichtenden Vorschriften. Inwieweit dieses Recht auch im Rahmen der E M R K (i. V.m. Art. 14) implizit garantiert ist, soll der späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Nicht enthalten ist es in der ES und dem WSP. Diese „promotional conventions" enthalten wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Die „Lücke" erklärt sich also daraus, daß die Gleichberechtigung der Ehepartner als bürgerlich-politisches, aber nur schrittweise zu verwirklichendes Recht begriffen wird. Als bürgerlich-politisches Recht jedoch paßt es thematisch weder in den WSP noch in die ES. Das Recht der Eltern, ihre Kinder ihren eigenen Vorstellungen gemäß zu erziehen, wird sowohl in unmittelbar verpflichtenden Vorschriften (Art. 2 S.

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1. Teil: Völkerrechtliche Rechtsquellen

2 ZP E M R K , Art. 12IV A m K ) als auch in einer schrittweise zu verwirklichenden Bestimmung (Art. 13 I I I WSP) anerkannt. Der Grund für die unterschiedliche Behandlung des Rechtes liegt in dem Charakter des Adressatenkreises: Während die EMRK-Staaten eine weitgehend homogene Gruppe mit einem schon entwickelten Bildungs- und Erziehungssystem bilden, richtet sich der WSP an Staaten mit verschiedenstem Entwicklungsniveau, in denen ein allgemein zugängliches Schulsystem, Hochschulen etc. nicht zu den Selbstverständlichkeiten gehören und teilweise erst im Aufbau stehen. Daraus ergibt sich ein unterschiedlicher Ansatz zur Gewährleistung des Elternrechts: Da die EMRK-Staaten schon auf ein entwickeltes Erziehungssystem zurückgreifen können, haben sie das Recht der Eltern unmittelbar und strikt zu achten, während auf weltweiter Ebene oft zunächst noch die technischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Das Elternrecht der E M R K hat daher eher den Charakter eines Abwehrrechtes (der Staat darf das Erziehungssystem nicht so verändern, daß die Eltern ihr Recht mangels Vielfalt nicht mehr verwirklichen können), während es im WSP eine Aufforderung der Staaten enthält, ein entsprechendes Bildungssystem aufzubauen. Eheschutzvorschriften sind mithin nur in unmittelbar verpflichtend wirkenden Bestimmungen, Familienschutzvorschriften auch in schrittweise zu verwirklichenden Vorschriften enthalten. Diejenigen Ehe- und Familienschutzvorschriften, die die Staaten zur unmittelbaren, strikten Gewährleistung verpflichten, bieten dem Einzelnen sicherlich den größten Schutz, da sich die Staaten nach der Ratifikation diesen Verpflichtungen grundsätzlich nicht mehr entziehen können. Bei der allmählichen Umsetzung wirtschaftlich-sozialer Familienschutzvorschriften hat der Vertragstaat insofern Einflußmöglichkeiten, als er aus der Palette solcher „promotional obligations" je nach dem Schwerpunkt seiner Politik Bestimmungen auswählen und so Prioritäten setzen kann, sofern dies nicht zur völligen Vernachlässigung anderer Verpflichtungen führt. Er kann die Verwirklichung bestimmter Ziele vorantreiben, die anderer hingegen - aufgrund der Flexibilität des Systems - langsamer vonstatten gehen lassen. Die Signalwirkung solcher wirtschaftlich-sozialen Rechte darf keinesfalls unterschätzt werden. Ihre Formulierung als Ziele staatlicher Politik zwingt die Mitglieder, sie bei staatlichen Grundentscheidungen zu beachten und die zur Verfügung stehenden Mittel entsprechend zu verteilen. Zudem müssen sich die Staaten an der in internationalen Instrumenten getroffenen Entscheidung für umfassenden Familienschutz auch politisch festhalten lassen. Die Flexibilität bei der Verwirklichung wirtschaftlicher und sozialer Familienschutzbestimmungen führt gleichzeitig zu einer Betonung der Pflicht zur unmittelbaren, strikten Gewährleistung der bürgerlich-politischen Rechte. Letztere würden gleichsam entwertet, wollte man ihren Kreis zu weit ziehen und auch Rechte aufnehmen, deren Verwirklichung entscheidend von innerstaatlichen Maßnahmen abhängt.

2. Kap.: Vertragswerke

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Damit ist der Mittelweg - Schutz der Rechte je nach dem Umfang der erforderlichen innerstaatlichen Maßnahmen über schrittweise oder sofort zu verwirklichende Normen - auch rechtspolitisch wünschenswert, da er den Staaten erfüllbare Pflichten auferlegt und nicht durch die Proklamierung überhöhter Ziele das gesamte Schutzsystem aufweicht. Damit läßt sich die eingangs aufgeworfene Frage nach der Methode des Ehe- und Familienschutzes beantworten: Sie richtet sich grundsätzlich nicht primär nach dem regelnden Vertragswerk, sondern nach dem zu schützenden Recht. Bestimmte Rechte sind stets durch unmittelbar verpflichtende Bestimmungen gewährleistet, andere wiederum nur in „promotional obligations". Bemerkenswert ist hier vor allem, daß sich dabei keine Unterschiede aus dem Universal- oder Regionalcharakter des Vertrages oder seinem Alter ergeben. Auf diese Weise wird dem Charakter des Rechtes und der Intensität der erforderlichen innerstaatlichen Maßnahmen Rechnung getragen. Eine gewisse Einheitlichkeit - jedenfalls im Bereich des Ehe- und Familienschutzes - wird erreicht, indem ein und dasselbe Recht jeweils in derselben Ausprägung erscheint. Unter Berücksichtigung dieses Ergebnisses soll nun dem näheren Inhalt der einzelnen Rechte nachgegangen werden.

Zweiter

Teil

Eheschutz Drittes Kapitel Der Begriff „Ehe" Eine Definition des Begriffs „Ehe" enthält keines der zur Untersuchung anstehenden Vertragswerke, ebensowenig wie eine ausdrückliche Festlegung auf ein kirchliches oder ziviles Eheverständnis. Diese Unterscheidung hat nicht nur Bedeutung für das einzuhaltende Eheschließungsverfahren, sondern wirkt sich auch materiell aus, beispielsweise auf den Kreis der Ehefähigen oder die Frage der Auflösbarkeit dieser Verbindung. I. Ziviler oder kirchlicher Ehebegriff Ohne schon an dieser Stelle näher auf die einzelnen Kodifikationen eingehen zu müssen, kann die Frage, ob den menschenrechtlichen Verträgen ein ziviles oder kirchlich-religiöses Eheverständnis zugrundeliegt, schon vorab für alle zu behandelnden Verträge allein unter Berücksichtigung ihrer Zielrichtung geklärt werden. Denn allen Kodifikationen ist gemein, daß sie typischerweise Rechtsbeziehungen (Ansprüche, Rechte oder auch Pflichten) des Einzelnen gegenüber dem Staat betreffen, in keinem Fall jedoch die Beziehungen zwischen Kirche und Individuum. Zumeist sind Kirche und Staat voneinander getrennt, so daß i.d.R. eine kirchliche Eheschließung nicht den Eintritt der Rechtsfolgen bewirken kann, die innerstaatlich an eine zivile Eheschließung geknüpft sind. Die zivile Eheschließung erfolgt unter Beachtung eines staatlichen Verfahrens, wohingegen die religiöse Eheschließung nach Regeln erfolgt, die von der Kirche aufgestellt werden. Sind Kirche und Staat getrennt, kann staatlicherseits gerade nicht in den autonomen kirchlichen Regelungsbereich eingegriffen werden, indem etwa Vorschriften für die Eheschließung aufgestellt werden. Für diesen Bereich kann also der Staat keine Garantien abgeben; er ist insoweit nicht verfügungsbefugt. Er kann daher in völkerrechtlichen Verträgen den seiner Hoheitsgewalt Unterworfenen keine Ansprüche zugestehen, deren Erfüllung nicht in seinem Kompetenzbereich, in seiner Macht liegt. Differieren die von der Kirche vertretenen Vorstellungen von dem staatlichen Ehebild, so kann der Staat die Kirche nicht auf seine Eheverständnis verpflichten, um seinen völkerrechtlichen Bindungen gerecht werden

3. Kap.: Ehebegriff

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zu können. Dementsprechend kann sich die in menschenrechtlichen Verträgen verankerte Garantie der Eheschließungsfreiheit nur auf den Zugang zum staatlichen Eheschließungsverfahren beziehen. Maßgeblich für die Auslegung des Ehebegriffs in den zu untersuchenden Vertragswerken ist daher allein der staatliche Ehebegriff und nicht das kirchliche Ehe Verständnis, das oft auch die Unauflöslichkeit dieser Verbindung beinhalten würde. Dies jedoch stünde im Widerspruch zu den meisten Verträgen, die dann, wenn sie das Recht auf Eheschließung beinhalten, auch die Auflösung der Ehe ansprechen (Art. 23 I V IPBPR, Art. 17 I V AmK). Auch die im Rahmen der menschenrechtlichen Verträge bedeutende Forderung, Eheschließungen nur mit dem freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten vorzunehmen, ist in religiösen Ehekonzepten nicht immer verwirklicht. Sinn und Zweck der menschenrechtlichen Garantie ist es nun sicherzustellen, daß sie innerstaatlich verwirklicht werden und so einen menschenrechtlichen Mindeststandard aufstellen können. Da die Staaten aber auf die Kirchen grundsätzlich nicht einwirken können, muß der menschenrechtlich gebotene Eheschutz über die zivile Ehegesetzgebung erfolgen in der Form, daß das staatliche Eheschließungsverfahren jedermann - und gerade auch dem Andersgläubigen - offensteht. Eine andere Frage ist es, ob Kirchen an menschenrechtliche Verträge gebunden sind. Die Frage stellt sich dann, wenn, wie beispielsweise in Großbritannien oder den skandinavischen Ländern, Kirche und Staat nicht voneinander getrennt sind 1 . Doch auch dann bewirkt die staatliche Ratifikation des Vertrages keine Verpflichtung der Kirche, da alle hier zu untersuchenden Verträge nur Staaten als Mitglieder haben, nicht aber andere Institutionen. Z. T. würden im umgekehrten Fall auch menschenrechtliche Garantien leerlaufen wie beispielsweise die Religionsfreiheit, auf die sich auch Staatskirchen berufen können 2 . Die Staatskirchen sind damit aus menschenrechtlichen Verträgen berechtigt und können daher nicht gleichzeitig Verpflichteter sein. Scheidet damit eine unmittelbare Bindung der Kirchen an menschenrechtliche Kodifikationen aus, so fragt es sich, ob dann, wenn Kirche und Staat nicht getrennt sind und daher größere staatliche Einflußmöglichkeiten bestehen als bei einer Trennung, der Staat die Kirche zu menschenrechtskonformem Verhalten anhalten muß. Wird beispielsweise die Eheschließung ausschließlich von religiösen Instanzen vorgenommen, muß dann ein an Menschenrechte gebundener Staat auf die Kirche einwirken, den Zugang zu der Zeremonie diskriminierungsfrei zu gewähren? Trifft ihn dann eine Fürsorgepflicht gegenüber der Kirche, die ggf. mit seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen kollidiert? 1 Ein informativer Überblick findet sich bei Leisching, Kirche und Staat in den Rechtsordnungen Europas, S. 13-58. 2 Vgl. zum EMRK-Bereich Frowein-Peukert, Art. 9 Rn. 8 m. zahlr. N. aus der Spruchpraxis der Kommission.

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2. Teil: Eheschutz

Letzlich kann diese Frage hier offenbleiben, denn das Ergebnis steht außer Frage: Durch die Ratifikation hat der Staat die Pflicht übernommen, grundsätzlich allen seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen das Eheschließungsrecht zuzuerkennen. Ob er dies dadurch verwirklicht, daß er auf die Kirche entsprechend Einfluß nimmt oder ob er selbst ein staatliches Verfahren bereitstellt, das allen diskriminierungsfrei offensteht, bleibt seiner innerstaatlichen Entscheidung überlassen. Es muß nur sichergestellt sein, daß dann, wenn wenn sich die Kirchen nicht ausreichend an den in menschenrechtlichen Verträgen verankerten Garantien orientieren, die Staaten dieses Defizit durch eigene Maßnahmen auffangen. Dennoch ist das kirchliche Eheverständnis für die vorliegende Untersuchung nicht vollkommen unbeachtlich, da es die Kultur eines Staates oder einer Region prägen und so auch das zivile Ehe Verständnis beeinflussen kann. Nur unter dieser Voraussetzung ist es im Rahmen menschenrechtlicher Kodifikationen zu berücksichtigen, wobei selbst dann Gegenstand der Untersuchung nicht das kirchliche Ehebild, sondern der staatliche Ehebegriff in seiner Beeinflussung durch das religiöse Eheverständnis ist.

I I . Die einzelnen Kodifikationen Der unterschiedliche Charakter der Kodifikationen - z. T. regionale Konventionen mit einem weitgehend homogenen Mitgliederkreis, auf der anderen Seite universell geltende Vertragswerke mit aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen stammenden Mitgliedern - verbietet es, a priori von einem einheitlichen Eheverständnis auszugehen. Der Ehebegriff ist daher für die einzelnen Vertragswerke gesondert festzustellen, wobei besondere Berücksichtigung Konzeption und Ziele des jeweiligen Vertrages finden müssen. 1. Ehebegriff der EMRK

Art. 12 E M R K garantiert allen Männern und Frauen gemäß den einschlägigen nationalen Gesetzen das Recht, eine Ehe einzugehen, sofern sie das heiratsfähige Alter erreicht haben3. Bis auf die Eingrenzung, daß dieses Recht nur „Mann und Frau" zusteht, gleichgeschlechtliche Gemeinschaften also jedenfalls vom Wortlaut her - nicht unter den Schutzbereich des Artikels fallen, enthält die Konvention keine Anhaltspunkte für die konstitutiven Ele3

Authentische Fassungen: "Men and women of marriageable age have the right to marry and to found a family, according to the national laws governing the exercise of this right." „ A partir de l'âge nubile, l'homme et la femme ont le droit de se marier et de fonder une famille selon les lois nationales régissant l'exercice de ce droit."

3. Kap.: Ehebegriff

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mente einer Ehe i. S. Art. 12 E M R K . Diese Frage ist daher im Wege der Auslegung zu klären. Dabei stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage nach den auf die Bestimmungen der E M R K anwendbaren Auslegungsmethoden. In mehreren Entscheidungen hat sich der Gerichtshof mit dieser Problematik eingehend auseinandergesetzt und eine Klarstellung bewirkt. Im Fall Golder hatte er im Wege der Auslegung zu klären, ob Art. 6 E M R K auch ein Recht auf Zugang zu einem Gericht für die in dieser Vorschrift aufgezählten Sachgebiete gewährt. Dies gab dem Gerichtshof Gelegenheit, Grundsätzliches zu der Interpretation der Konventionsbestimmungen auszuführen. Er befand, daß die Auslegung " . . . should be guided by Articles 31 to 33 of the Vienna Convention of 23 May 1969 on the Law of Treaties". 4

Sind somit die einschlägigen Bestimmungen der W V K - unabhängig von ihrer Ratifikation seitens der Konventionsstaaten, da Gewohnheitsrecht grundsätzlich anwendbar, so gilt doch gleichzeitig eine wichtige Besonderheit: Ziel und Zweck des Vertrages sind in besonderer Weise zu berücksichtigen 5. Daher ist Ausgangspunkt der Interpretation zwar gem. Art. 31 I W V K die gewöhnliche Bedeutung des auszulegenden Begriffs, jedoch unter Beachtung der besonderen Natur der E M R K 6 . Diese besondere Natur der E M R K ergibt sich aus ihrer Eigenschaft als „law-making treaty", der für die Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Standard im Menschenrechtsbereich aufstellt. Die Auslegung muß daher nicht in möglichst souveränitätsschonender Weise erfolgen, sondern dergestalt, daß sie dem Ziel und Zweck der Konvention am besten Rechnung trägt: "Given that it is a law-making treaty, it is . . . necessary to seek an interpretation that is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty, not that which would restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties." 7

Der erstrebten Weiterentwicklung des gemeinsamen Standards ist also durch eine evolutive Interpretation verstärkt Rechnung zu tragen. Daher darf nicht bei der Auslegung stehengeblieben werden, die den Konventionsbegriffen zum Zeitpunkt der Ausarbeitung, Verabschiedung und Ratifikation der E M R K beigemessen wurde 8 . Zentrale Ausführungen hierzu finden sich im 4

EGMR, Urt. v. 21. 2. 1975, Ser. A , Vol. 18, S. 14 § 29. 5 E G M R , Fall Wemhoff, Urt. v. 27. 6. 1968, Ser. A , Vol. 7, S. 23 § 8; Fall Golder, Urt. v. 21. 2. 1975, Ser. A , Vol. 18, S. 18 § 36. 6 E G M R , Fall Golder, Urt. v. 21. 2. 1975, Ser. A , Vol. 18, S. 18 § 36. So auch schon die Kommission in ihrem Bericht v. 1.6. 1973 zu diesem Fall, Ser. B, Vol. 16, S. 33 § 44. 7 E G M R , Fall Wemhoff, Urt. v. 27. 6. 1968, Ser. A , Vol. 7, S. 23 § 8. 6 Palm-Risse

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2. Teil: Eheschutz

Tyrer-Urteil, in dem sich der Gerichtshof mit der Frage auseinandersetzte, ob die auf der Isle of Man traditionell durchgeführte körperliche Züchtigung jugendlicher Straftäter als „erniedrigende Behandlung" i. S. Art. 3 E M R K zu werten sei. Hier betonte der Gerichtshof, " . . . that the Convention is a living instrument which . . . must be interpreted in the light of present-day conditions. In the case now before it the Court cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards in the penal policy of the member States of the Council of Europe in this field." 9

Diese „dynamische" Interpretation läßt also die Entstehungsgeschichte und das damalige Begriffsverständnis dann zurücktreten, wenn sich zwischenzeitlich andere Auffassungen und Überzeugungen herausgebildet haben. Um dies bestimmen zu können, ist ein Rückgriff auf die Gesellschafts- und Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unerläßlich. Läßt ihr Vergleich erkennen, daß sich ein europäischer Konsens gebildet hat, der nicht notwendigerweise alle Staaten, jedoch ihren überwiegenden Teil umfassen muß, so beeinflußt diese Wandlung die Auslegung der Konvention. Anstelle des früheren Begriffsverständnisses tritt dann eine den veränderten Zeitumständen und der Entwicklung angepaßte, aktualisierte Interpretation. Ein Konventionsstaat, der sich gegenüber neuen Entwicklungen im Bereich der Grundfreiheiten sperrt und im Vergleich zu den Rechtsordnungen der übrigen Mitgliedstaaten eine Außenseiterposition einnimmt, kann dann auf den modernen, höheren Menschenrechtsstandard verpflichtet werden. Der europäische Menschenrechtsstandard wurde somit durch die Konvention nicht für alle Zukunft festgeschrieben, sondern kann mit Hilfe der dynamischen Interpretation neuen Entwicklungen angepaßt, verfestigt und angehoben werden. Für die Auslegung des Ehebegriffs der Konvention bedeutet dies: Zu suchen ist der normale Wortsinn des Begriffs „Ehe", so wie er heute verstanden wird, im Lichte der Ziele und des Zwecks der Konvention 10 . Geht man von der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus, bezieht sich das in Art. 12 E M R K niedergelegte Recht auf die traditionelle Ehe zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts^. Damit entspricht der Ehebegriff der E M R K dem Ehebild aller europäischen Rechtsordnungen, die übereinstimmend unter „Ehe" eine auf Dauer angelegte, unter Beachtung bestimmter staatlicher Formvorschriften geschlossene Verbindung eines Mannes und 8 EGMR, Fall Dudgeon, Urt. v. 22. 10. 1981, Ser. A , Vol. 45, S. 23 f. § 60; KBer v. 1. 6. 1973 im Fall Golder, Ser. B, Vol. 16, S. 34 § 43. 9 E G M R , Fall Tyrer, Urt. v. 25. 4. 1978, Ser. A , Vol. 26, S. 15 f. § 31; s. auch EGMR, Fall Marckx, Urt. v. 13. 3. 1978, Ser. A , Vol. 31, S. 19 § 41; Fall Dudgeon, Urt. v. 22. 10. 1981, Ser. A , Vol. 45, S. 23 f. § 60; Drzemczewski, ICLQ 29 (1980), S. 57. 10 EGMR, Fall Johnston, Urt. v. 18. 12. 1986, Ser. A , Vol. 112, S. 24 § 51. n E G M R , Fall Rees, Urt. v. 24. 1. 1986, Ser. A , Vol. 106, S. 19 § 49.

3. Kap.: Ehebegriff

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einer Frau verstehen 12. Maßgeblich im Rahmen der Konvention ist also das europäische Ehebild als gemeinsamer Standard - zwar gewonnen aus den Gemeinsamkeiten der europäischen Rechtsordnungen, nunmehr aber von ihnen verselbständigt, so daß der einzelne Staat keinen isolierten Einfluß mehr auf die Auslegung hat 13 . Diese Begriffsbestimmung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Konvention, die einen gemeinsamen Standard für alle Mitgliedstaaten schaffen und innerhalb Europas harmonisierend wirken will. Durch diese Interpretation wird weiter die schon aus dem Wortlaut des Art. 12 E M R K folgende Ausklammerung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften bestätigt, denn in keiner europäischen Rechtsordnung ist bislang eine Eheschließung zwischen Personen desselben Geschlechts möglich 14 . Zwar haben sich die Auffassungen insofern gewandelt und liberalisiert, als solche Verbindungen grundsätzlich nicht mehr pönalisiert werden, doch eine Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als Ehe oder rechtlich vergleichbares Institut ist nicht absehbar. Eine dynamische Interpretation des Art. 12 E M R K , die seinen Schutzbereich auch auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften erstreckt, kommt somit nicht in Betracht 15 , da allein aus der Entpönalisierung kein Begriffswandel i. S. einer Legalisierung als Ehe zu ersehen ist. Doch auch wenn die Verschiedengeschlechtlichkeit der künftigen Ehepartner Voraussetzung für die Eheschließung ist, bedeutet dies nicht, daß damit gleichzeitig die aktuelle, individuelle Fähigkeit oder der Wille zur Familiengründung einhergehen muß: „Si le mariage et la famille sont effectivement associés dans la Convention comme dans les droits nationaux, rien ne permet toutefois d'en déduire que la capacité de procréer serait une condition fondamentale du mariage, ni même que la procréation en soit une fin essentielle." 16

A n anderer Stelle allerdings folgerten einige Kommissionsmitglieder aus der Bezugnahme in Art. 12 E M R K auf das Heiratsalter und die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner, hier werde die Fortpflanzungsfähigkeit als Voraussetzung für den Genuß der Eheschließungs- und Familiengründungsfrei12 E G M R , Fall Johnston, Urt. v. 18. 12. 1986, Ser. A , Vol. 112, S. 24 § 52. Vgl. auch Pernthaler/Kathrein, EuGRZ 1983, S. 506; Mikat, Essener Gespräche, S. 12 f. Für den Ehebegriff des Grundgesetzes s. auch Giesen, JZ 1982, S. 818 f. 13 Bernhardt, Fschr. Mosler, S. 79 f. 14 Obschon im Ausland diese Frage diskutiert werden soll, etwa in Dänemark, vgl. v. Campenhausen, VVDStRL 45, S. 16 und ebenda, Fn. 36. 15 Dies scheinen aber van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 331 § 2, zu befürworten. 16 KBer v. 1. 2. 1979 zu Β 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 28 § 59.

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2. Teil: Eheschutz

heit postuliert 17 . Es sei den Staaten daher nicht verwehrt, Personen, die diese Fähigkeit per se nicht haben können (z. B. Transsexuelle), von dem Recht auf Eheschließung auszunehmen18. Soweit dies bedeutet, daß - wie auch zutreffend aus der Entstehungsgeschichte gefolgert wird 1 9 - die Fortpflanzungsfähigkeit für die Bestimmung der Heiratsfähigkeit relevant ist, ist dem zu folgen. Doch soweit dies dazu führen kann, daß eine Personengruppe, die im heiratsfähigen Alter ist, bei der die Fortpflanzungsfähigkeit aber aktuell nicht vorhanden ist, von dem Recht aus Art. 12 E M R K ausgeschlossen wird, ist die Ansicht, Fortpflanzungsfähigkeit müsse nicht nur generell typischerweise zu erwarten, sondern jeweils auch individuell gegeben sein, entschieden abzulehnen. Gerade vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte überrascht diese Auslegung des Eheschließungsrechts, denn es war wiederholt warnend auf die Erfahrungen im Dritten Reich hingewiesen worden 20 . Sollte es nun etwa auch liberalen, demokratischen Staaten von der Konvention erlaubt sein, etwa der Gruppe der im Dritten Reich Zwangssterilisierten eine Eheschließung zu verwehren und sie so auch später noch unter dem ihr angetanen Unrecht leiden zu lassen? Denkt man diese Auslegung konsequent zu Ende, führt sie zu dem Ergebnis, daß die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsordnungen allen Personen, die nachweislich keine Kinder bekommen können, das Recht auf Eheschließung verweigern könnten. Damit würde dieses Konventionsrecht einer zusätzlichen, weder vom Wortlaut noch von der Entstehungsgeschichte gedeckten Einschränkung unterworfen, nämlich der der Fruchtbarkeit der Beteiligten. Eine solche Auslegung, die ein Konventionsrecht weitergehend als in der Konvention vorgesehen beschränkt, ist nach Art. 17 E M R K unzulässig. Darüber hinaus würde der für das Verhältnis Bürger-Staat allein maßgebliche zivile Ehebegriff systemwidrig weitgehend durch das kirchliche Ehebild ersetzt 21 . Schließlich liegt der oben geschilderten Auffassung ein heute zumindest im europäischen Raum nicht mehr gültiges Ehebild zugrunde, wenn die Ehe allein auf den Fortpflanzungsgesichtspunkt reduziert wird. Denn es wird nicht bedacht, daß sie eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau umschreibt, die sich auf die Verwirklichung des Wunsches nach lebenslanger Partnerschaft, gegenseitiger Unterstützung, Toleranz, Achtung und Zunei17 So die Kommissionsmitglieder Fawcett, Tenekides, Gözübüyük, Soyer und Batliner im Fall Rees, Ser. A , Vol. 106, S. 28 f. § 55 ii. ι» A.a.O., S. 29: "It follows that a Contracting State must be permitted to exclude from marriage persons whose sexual category itself implies a physical incapacity to procreate . . . " 19 So die genannten Kommissionsmitglieder, a.a.O., S. 29. 20 S. u. 4. Kapitel, Text zu Fn. 10 - 12. So sah etwa das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" v. 14. 7. 1933 (RGBl. 1933 I, S. 529 ff.) u. a. Sterilisationen von Schwachsinnigen, Schizophrenen, Epileptikern und an schwerem Alkoholismus Leidenden vor (§ 1). Dazu Thamer, S. 698-700. 21 S. dieses Kapitel, Abschnitt I.

3. Kap.: Ehebegriff

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gung beschränken kann. Der Wunsch nach Kindern mag dabei für das jeweilige Paar eine wichtige Rolle spielen, er ist aber regelmäßig nicht der überwiegende oder gar einzige Heiratsgrund. Dies zeigt allein schon die steigende Zahl kinderloser Ehepaare. Dabei soll nicht der Wunsch nach einer Familiengründung innerhalb einer geordneten Zweierbeziehung und das (legitime) staatliche Interesse hieran geleugnet oder außer acht gelassen werden. Doch das Institut der Ehe hat über diesen Aspekt hinaus Bedeutung als rechtlich verbindliche Manifestierung des Willens, mit dem Ehepartner in Zukunft ein gemeinsames Leben mit allen dazugehörigen Konsequenzen führen zu wollen. Eine fast synonyme Verwendung der Begriffe Ehe und Familiengründung ist damit nicht mehr zu vereinbaren. Auch das tatsächliche Zusammenleben der Ehepartner nach der Heirat ist keine Bedingung für eine wirksame Eheschließung. So sah sich die Kommission bei der Beurteilung der Beschwerde eines Strafgefangenen an der Anwendung des Art. 12 E M R K nicht dadurch gehindert, daß der Beschwerdeführer nach der Heirat weder die Ehe vollziehen noch mit seiner Frau zusammenleben konnte: "The essence of the right to marry . . . is the formation of a legally binding association between a man and a woman. It is for them to decide whether or not they wish to enter such an association in circumstances where they cannot cohabit." 22

Damit gab die Kommission ihre vormals vertretene Ansicht auf, daß ein tatsächliches Zusammenleben essentiell für die Errichtung einer ehelichen Gemeinschaft sei und die mangelnde Möglichkeit hierzu Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit des Ehewunsches des Strafgefangenen zulasse23. Begrüßenswert ist die Abkehr von dieser Auffassung vor allem deshalb, weil es nicht Sache der EMRK-Organe ist, den künftigen Ehegatten einen bestimmten Ehetypus vorzuhalten und von der Konformität mit diesem Typus die Anwendung des Art. 12 E M R K abhängig zu machen 24 . Auch der zweite Grund - Verdacht mangelnder Ernsthaftigkeit - überzeugt nicht, da ansonsten vor der Eheschließung auch nicht danach geforscht wird, ob nicht nur lediglich eine Scheinehe eingegangen werden soll 25 . Die konstitutiven Elemente einer Ehe i. S. der Konvention liegen also in der unter Einhaltung bestimmter Formvorschriften eingegangenen Verpflichtung eines Mannes und einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft. Dabei wird nicht vorausgesetzt, daß die Betreffenden später tatsächlich zusammenleben oder den Wunsch bzw. die individuelle Fähigkeit zur weiteren Familiengründung haben. 22

KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 16 § 71. K E v. 13. 4. 1961 zu Β 892/60, X ./. Bundesprepublik, CoD 6, S. 26 f. u. Yb I V (1961), S. 256. 24 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 336 § 10. 25 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 337 § 10. 23

2. Teil: Eheschutz

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2. Ehebegriff des IPBPR

In Art. 23 I I IPBPR wird das Eheschließungs- und Familiengründungsrecht anerkannt: "The right of men and women of marriageable age to marry and to found a family shall be recognized."

Wenn auch der Wortlaut dieser Bestimmung sehr stark an die entsprechende EMRK-Formulierung erinnert, gibt es doch einen wichtigen Unterschied: Während es in der E M R K heißt: "Men and women have the right . . . " ,

bestimmt der IPBPR nur, daß dieses Recht " . . . shall be recognized."

In Art. 16 A E M R , die der Paktbestimmung als Vorbild diente, entspricht die Wortwahl hingegen noch jener der E M R K („have the right . . . " ) . Doch daß es sich bei dem Eheschließungsrecht des Paktes ebenso wie bei der E M R K um ein echtes subjektives Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat handelt, zeigt schon die Formulierung „the right of". Insofern bestehen also keine materiellen Unterschiede zur EMRK. Nach Art. 23 I I IPBPR sind die Mitgliedstaaten nun verpflichtet, dieses Recht „anzuerkennen". Es fragt sich daher, ob aus der Formulierung des Paktes „shall be recognized" gefolgert werden kann, daß sich, da der Pakt an keiner anderen Stelle das Eheschließungsrecht erwähnt, diese Anerkennung auf das in den nationalen Rechtsordnungen enthaltene Eheschließungsrecht bezieht. Dies würde bedeuten, daß der Pakt auch hinsichtlich des Ehebegriffs auf die nationalen Rechtsordnungen verweist und daß auf internationaler Ebene die innerstaatliche Ausgestaltung des Rechts akzeptiert wird. Der Eheschließungsfreiheit in Art. 23 I I IPBPR läge dann kein eigener, selbständiger Ehebegriff zugrunde, sondern diese Vorschrift würde vollständig durch die Ehegesetzgebung der Mitgliedstaaten ausgefüllt. Art. 23 I I IPBPR bliebe in diesem Fall weit hinter der entsprechenden EMRK-Bestimmung zurück 26 . Doch schon der Wortlaut des Art. 23 I I IPBPR steht prima facie einer solchen Auslegung entgegen, da anders als bei Art. 12 E M R K die nationale Gesetzgebung nicht erwähnt wird. Ob damit jeder Rückgriff auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen ausgeschlossen ist, wird später allerdings noch zu untersuchen sein. Gegen die Annahme einer unbegrenzten Verweisung auf das nationale Eherecht sprechen ganz eindeutig Ziel und Zweck dieses Vertrages. Ebenso wie die E M R K will er einen verbindlichen Mindeststandard im Bereich der Menschenrechte aufstellen, der aber im Unterschied zur E M R K 26

Robertson, Human Rights in the World, S. 93.

3. Kap.: Ehebegriff

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nicht nur regionale Bedeutung haben, sondern weltweit maßgeblich sein soll 27 . Ein solcher Mindeststandard kann aber nicht mehr festgelegt werden, wenn zur Ausfüllung eines Paktrechtes unbegrenzt auf die nationalen Rechtsordnungen verwiesen wird. Die Verpflichtung zur Anerkennung dieses Rechts sichert es zwar noch in seinem Bestand, doch ist es inhaltlich der Aushöhlung durch die nationalen Rechtsordnungen preisgegeben. Denn wenn sein Inhalt und Umfang von der Ausgestaltung der Eheschließungsfreiheit im nationalen Recht abhängig ist, bewirkt jede Einengung des Rechts im nationalen Bereich auch seine Begrenzung auf internationaler Ebene. Die Eheschließungsfreiheit ist dann gerade nicht dem nationalen Zugriff entzogen, wie es vom IPBPR beabsichtigt ist. Von einer umfassenden Verweisung auf das Eherecht der Mitgliedstaaten kann daher nicht ausgegangen werden, da sonst das Hauptanliegen des Paktes nicht verwirklicht werden könnte. Ein wichtiger Unterschied zur E M R K liegt in dem andersgearteten Mitgliederkreis, der wesentlich größer und gleichzeitig inhomogener ist als bei regionalen Konventionen und daher die Formulierung einheitlicher, allgemein akzeptierter Mindeststandards erschwert 28. Die Mitgliedstaaten des Paktes haben einen völlig unterschiedlichen sozio-kulturellen Hintergrund; entsprechend variieren die Eheformen. Während auch weltweit eine Ehe nur zwischen verschiedengeschlechtlichen Personen geschlossen wird 2 9 , so ergeben sich wesentliche Unterschiede etwa im Hinblick auf die Zahl der möglichen Ehepartner. So ist das moslemische Ehe- und Familienrecht in den islamischen Staaten sowie in jenen asiatischen und afrikanischen Ländern, in denen die islamische Religion als autonome Rechtsordnung anerkannt ist 3 0 , heute noch - bzw. wieder - vom religiösen Scharia-Recht geregelt 31 . Auch im einzelnen sind die Rechtsordnungen der islamisch beeinflußten Staaten recht unterschiedlich, wie folgende Beispiele verdeutlichen mögen. Der Koran gestattet es einem Mann, bis zu vier Frauen zu heiraten. Dennoch ist in manchen islamischen Ländern die Vielehe verboten, in anderen wiederum ist sie erschwert 27

Bernhardt, Fschr. Mosler, S. 78. « Bernhardt, Fschr. Mosler, S. 78. 29 So beispielsweise auch das islamische Eheverständnis, s. dazu Tabandeh, A Muslim Commentary, S. 39: "Marriage is a lifelong contract in which the welfare of an entire family . . . is involved." Die Ehe ist nach koranischer Lehre ein ziviler Privatvertrag, durch den sich der Mann verpflichtet, der Frau eine Brautgabe zu zahlen und ihr den Lebensunterhalt zuzusichern als Gegenleistung für das Recht, mit ihr geschlechtliche Beziehungen zu haben, Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Religiöse Eherechte Islam", S. 5 (Stand 1983). 30 Prominentestes Beispiel ist wohl Iran, wo 1967 ein Gesetz zum Schutz der Familie erlassen wurde, Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Religiöse Eherechte - Islam", S. 4 (Stand: 1983). 31 Ehen mit Muslimen, S. 46; Tabandeh, A Muslim Commentary, S. 62-66. Informativ auch Welchman, ICLQ 37 (1988), S. 870 f. 2

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etwa dadurch, daß die Ehefrau zustimmen muß, wenn eine zweite Ehefrau hinzukommen soll 32 . Nach senegalesischem Recht ist es beispielsweise möglich, die Ehe unter der Option der Polygamie einzugehen33. Wird diese Möglichkeit jedoch nicht wahrgenommen, kann der Betreffende nicht später eine Vielehe eingehen, selbst wenn die erste Ehe beendet ist, anläßlich derer er sich entschied34. In Ägypten ist seit 1985 die Eingehung einer Zweitehe ohne die Zustimmung der ersten Ehefrau ein Scheidungsgrund; in Tunesien wird der Koran so ausgelegt, daß er die Abschaffung der Polygamie rechtfertigt 35 . Doch längst nicht alle islamisch beeinflußten Länder wenden sich allmählich von der Polygamie ab, wie das Beispiel Jordaniens verdeutlicht: Nach dessen Familienrecht unterliegt das Anrecht des Mannes auf vier Ehefrauen keinerlei Beschränkungen. Änderungen sind nicht geplant, da die Mehrehe nicht als problematisch empfunden wird 3 6 . Von großer Bedeutung vor allem im afrikanischen Raum sind neben dem geschriebenen Recht auch mündlich überlieferte Sitten und Gebräuche, die als Gewohnheitsrecht eine nicht zu vernachlässigende Rechtsquelle bilden und darüber hinaus auch spätere Kodifikationen beeinflussen. Hier macht es sich bemerkbar, daß Polygamie zu den traditionellen Wesensmerkmalen der afrikanischen Gesellschaft zählt 37 . So erlaubt etwa das Zivilgesetzbuch Kameruns die Polygamie, wobei angenommen wird, daß die Ehefrau schon bei der Heirat zugestimmt hat, daß ihr Mann weitere Ehefrauen haben darf. Diese Regeln basieren auf nunmehr kodifizierten traditionellen Bräuchen, wie auch das gesamte, mittlerweile kodifizierte Familienrecht von überlieferten Sitten geprägt ist 38 . Dieser starke Einfluß traditioneller Sitten und Gebräuche ist eine weitgehend typische Erscheinung im afrikanischen Rechtskreis. Auch Gabun kennt neben der Einehe traditionell die Vielehe, in der der Erstfrau gewisse Vorrechte, etwa im erbrechtlichen Bereich, zugestanden werden 39 . In Mali unterscheidet das Gewohnheitsrecht zwei Formen der Eheschließung: Möglich ist eine sog. Tausch-Heirat, bei der der Heirats willige im Gegenzug der Familie seiner Braut ein Mädchen seiner Familie oder seines Clans zur Heirat vermittelt, oder aber die Eheschließung findet ohne Tausch, dafür aber gegen Zahlung einer bestimmten Summe an die Familie der Braut statt 40 . 32

Ehen mit Muslimen, S. 47. Niang, RevJurPol 39 (1985), S. 245. 34 Gueyé, Débats sur la communication de M. Niang, RevJurPol 39 (1985), S. 248. 3 5 Welchman, ICLQ 37 (1988), S. 883. 36 Welchman, ICLQ 37 (1988), S. 884. 37 Ajavon/Creppy, RevJurPol 38 (1984), S. 406 f. § 3. 38 Dipanda Mouelle, RevJurPol 40 (1986), S. 300. 39 Nguema, RevJurPol 40 (1986), S. 342; ders., RevJurPol 38 (1984), S. 119 f., zur näheren Ausgestaltung. 4 0 Sali, RevJurPol 40 (1986), S. 378. 33

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Doch in letzter Zeit zeichnet sich auch in Afrika eine Tendenz zur Monogamie ab. Die hier zu überwindende Schwierigkeit besteht in dem Kampf gegen jahrhundertealte Vorstellungen und Traditionen, deren Auswirkungen sich nicht nur im Ehe- und Familienrecht manifestieren, sondern die das gesamte Gemeinwesen mit seiner starken Betonung familiärer Bande (auf denen etwa auch die soziale Absicherung der Frau beruht) betreffen. In Togo erhofft man sich eine allgemeine Akzeptierung der monogamen Ehe durch eine Optionslösung ähnlich wie in Senegal: Beide Ehegatten müssen sich bei der Eheschließung für eine Eheform entscheiden. Diese Entscheidung ist für die Dauer der Ehe irreversibel (mit einer Ausnahme, nämlich der medizinisch definitiv festgestellten Unfruchtbarkeit der Ehefrau). Insbesondere durch die Beteiligung der Ehefrau erwartet man, daß sich Paare zunehmend gegen die Vielehe entscheiden und so eine gesellschaftliche Abkehr von der Polygamie erreicht wird 4 1 . Ein weiterer Unterschied zu europäischen Eheschließungen liegt in der Entrichtung einer „Morgengabe" durch den Ehemann an die Braut bzw. ihre Familie. Ein Teilbetrag steht der Ehefrau bei der Heirat zu, den Rest kann sie bei dem evtl. Scheitern der Ehe verlangen. Sie ist daher weniger als „Brautpreis" gedacht, sondern soll vorrangig der finanziellen Absicherung der Frau dienen 42 . In Zaire beispielsweise ist die Zahlung einer solchen Morgengabe Gültigkeitsvoraussetzung für die Heirat. Um zu verhindern, daß um die Braut wie um eine Ware geschachert wird, soll für die verschiedenen Regionen jeweils ein Höchstbetrag festgesetzt werden 43 . Allein diese Beispiele verdeutlichen schon, wie vielfältig die Eheformen und die nähere Ausgestaltung dieses Instituts in den verschiedenen Kulturkreisen sind. Auf einem gemeinsamen Ehebild seiner Mitgliedstaaten kann der Pakt im Unterschied zur E M R K daher nicht aufbauen. Hat er zwar einerseits das Ziel, einen verbindlichen Standard des Menschenrechtsschutzes aufzustellen, so kann andererseits aber auch nicht eine vollständige Vereinheitlichung der innerstaatlichen Rechtsordnungen bezweckt sein 44 . Denn die souveräne Gleichheit der Staaten gebietet es, alle nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich als gleichwertig anzusehen45. Geschieht das nicht, kann dies dazu führen, daß sich eine Staatengruppe in dem Konflikt sieht, entweder ihr spezifisches, aus langgeübten Traditionen erwachsenes Gedankengut aufgeben zu müssen oder aber dem Pakt nicht beitreten zu können. Mehr noch: Sie müßten sich dadurch, daß ihre Rechtsordnung in bestimmten, für den Staat 41

Ajavon/Creppy, RevJurPol 38 (1984), S. 407 § 3. Ehen mit Muslimen, S. 45. 43 Kalongo-Mbikayi, RevJurPol 40 (1986), S. 480 § 4. Die Vielehe ist in diesem Land nicht zulässig, s. Kalongo-Mbikayi, a.a.O., S. 481 § 6. 44 Tomuschat, ZaöRV 45 (1985), S. 556. 45 Bernhardt, Fschr. Mosler, S. 78. 42

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2. Teil: Eheschutz

vielleicht essentiellen Bereichen als nicht paktgemäß und damit unzureichend, ja minderwertig angesehen wird, ins „internationale Abseits" gedrängt fühlen. Eine solche Konsequenz wäre sicherlich dem Anliegen des Paktes wenig förderlich, in einem möglichst universellen Mitgliederkreis Schutz und Achtung der Menschenrechte zu garantieren. Auf der anderen Seite ist ebenso zu vermeiden, daß der Beitritt einem bloßen Lippenbekenntnis gleichkommt und der Pakt seine Wirkung dadurch einbüßt, daß seine Mitglieder sich nicht mehr zur Umsetzung seiner Vorschriften genötigt sehen, da sie ihn ohne die Absicht ratifiziert haben, ihre Rechtsordnung anzupassen, sondern nur mit dem Ziel, sich nicht außerhalb der Staatengemeinschaft zu stellen. Die Lösung dieses unvermeidbaren Spannungsverhältnisses - Erreichen eines gemeinsamen Standards einerseits, Respektierung der innerstaatlichen Rechtsordnungen andererseits - kann in Grenzen durch die Auslegung der Paktbestimmungen erreicht werden, wenn sie der Inhomogenität des Mitgliederkreises durch eine gewisse Flexibilität Rechnung trägt, indem sie auf die nationale Ausgestaltung des Eheschließungsrechts Rücksicht nimmt. Dies darf allerdings nicht zu einer Verunklarung der in Rede stehenden Vorschrift führen. Ebensowenig darf aus dem Auge verloren werden, daß die Bestimmungen als „self-executing provisions" Rechte des Einzelnen begründen. Solche Rechte des Einzelnen können nur dann garantiert werden, wenn das Ehebild des Paktes einen festen Kern beinhaltet, der staatlicher Disposition entzogen ist. Diesen Kern gilt es nun zu ermitteln. Alle Rechtsordnungen stimmen darin überein, daß Männer und Frauen ab einem bestimmten, innerstaatlich festgelegten Alter heiraten können. Diese Altersgrenze variiert je nach Rechtsordnung und Kulturkreis, sie ist aber spätestens mit dem Eintritt der Volljährigkeit erreicht 46 , dem (ebenfalls innerstaatlich festgelegten) Zeitpunkt, mit dem die umfassende rechtliche Mündigkeit eintritt. Nach diesem Zeitpunkt ist es unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen, Männern und Frauen das Recht auf Eheschließung zu verweigern. Da in allen Kulturkreisen volljährigen Personen dieses Recht zuerkannt wird und die Altersgrenze nur nach unten hin offen ist, ist zumindest die eheliche Verbindung volljähriger, verschiedengeschlechtlicher Personen vom Ehebild des Paktes sicher umfaßt und staatlicher Disposition entzogen. Darüber hinaus gibt es eine ganze Palette verschiedener Regelungen, die je nach Rechts- und Kulturkreis beträchtlich voneinander abweichen. In zahlreichen Staaten liegt die Ehemündigkeit zeitlich weit vor der Volljährigkeit. Dies kann aber nicht zum „harten Kern" des Ehebildes gezählt werden, da in ande46 S. dazu die ausführliche Untersuchung zum Heiratsalter, 5. Kapitel, Abschnitt III.2. , Text zu Fn. 44, 45.

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ren Staaten (beispielsweise den europäischen) sie erst mit der Volljährigkeit eintritt. Aus denselben Gründen zählt auch die Mehrehe nicht zum festen Bestand des Ehebildes, da es auch ihr an universeller Anerkennung mangelt und ihre Zulässigkeit zudem umstritten ist, wie sogleich zu zeigen sein wird. Es kann daher festgehalten werden, daß das Ehebild des Paktes einen festen Kern enthält, nämlich die Verbindung zweier verschiedengeschlechtlicher, volljähriger Personen. Dieser Kern ist dem Zugriff der Paktstaaten entzogen mit der Folge, daß ein Staat, der diesen Personenkreis einengen würde und das Eheschließungsrecht von weiteren Voraussetzungen abhängig machte, gegen den durch den Pakt definierten Mindeststandard verstieße. Das Ehebild des Paktes besteht jedoch nicht nur aus diesem harten Kern; auch andere Eheformen und -modelle können seinem Schutz unterfallen. Denn es ist nicht sein Anliegen, langgeübte Traditionen und hergebrachte Eheformen a priori mit dem Beitritt des betreffenden Staates für unzulässig zu erklären. Auf der anderen Seite gibt es Ehemodelle, die mit den Paktgarantien unvereinbar und daher nicht tolerabel sind, wenn seine Rechte nicht entwertet werden sollen. Das wichtigste Beispiel von Eheformen, die einerseits nicht zum festen Kern des Ehebildes zählen, andrerseits aber auch nicht schlichtweg untragbar sind, ist die Polygamie. Wollte man sie aus dem Schutzbereich des Art. 23 IPBPR ausgrenzen, käme dies einem pauschalen Unwerturteil über diese Eheform gleich ohne Berücksichtigung und Verständnis des Umstandes, daß Polygamie - etwa im afrikanischen Kulturkreis - eine traditionell praktizierte Form des Zusammenlebens war und ist, auf der das soziale Gefüge in weiten Bereichen beruht. Der Pakt könnte damit leicht als Produkt ausschließlich westlichen Kulturverständnisses mißverstanden werden. Auf der anderen Seite wird aber zu Recht eingewendet, daß in polygamen Verbindungen schon aufgrund ihrer streng hierarchischen Struktur nicht nur im Verhältnis Ehemann-Ehefrauen, sondern auch im Verhältnis der Ehefrauen untereinander die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht hinreichend verwirklicht werden kann 47 . Dies wiederum ist in Art. 23 I V IPBPR gefordert 48 und wird auch außerhalb des Paktes als wichtiger Grundsatz propagiert, den die Staaten der Vereinten Nationen als förderungswürdig ansehen49. Art. 23 47

Zu der Situation der Frauen in polygamen Ehen informativ Thiam, Die Stimme der schwarzen Frau, S. 14 f., 42, 83 ff., 95. 48 Für den Bereich des Art. 23 ist dies das speziellere Diskriminierungsverbot im Vergleich zu Art. 3 IPBPR. Es wurde aufgenommen (obwohl dies vom rein rechtlichen Standpunkt aus gesehen z. T. als überflüssig erachtet wurde), um das Verbot religiöser und rassischer Diskriminierung im Ehebereich zu betonen, vgl. UN-Doc. A/C. 3/SR. 1094, U N G A OR, 16th session, 1961-62, Annexes, Agenda item 35, Report of the 3rd Committee, S. 11 § 86. 49 Ζ. B. die von der VN-Frauenrechtskommission entworfene, am 7. 11. 1967 in der Generalversammlung angenommene „Declaration on the Elimination of Discrimination against Women", U N G A Res. 2263 (XXII). In rechtlich bindender Form etwa das Übereinkommen v. 18. 12. 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der

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2. Teil: Eheschutz

I V IPBPR weist allerdings im Vergleich zu den übrigen Ehe- und Familienschutzbestimmungen des Paktes einen bedeutsamen Unterschied auf: Zur Verwirklichung der Gleichberechtigung sollen die Staaten lediglich „appropriate steps" unternehmen, nicht aber nach der Ratifikation unmittelbar zur Gewährleistung der Gleichberechtigung verpflichtet sein 50 . Über die Aufnahme dieser Bestimmung hatte es bei der Ausarbeitung des Paktes längere und kontroverse Debatten gegeben. Neben anderen Gegengründen wurde vor allem angeführt, daß Ungleichbehandlungen der Geschlechter zu einem Großteil auf Tradition und religiösen Überzeugungen beruhten, die nicht von einem Tag auf den anderen geändert werden könnten 51 . Jeder Versuch, die Gleichberechtigung sofort einzuführen, würde radikale gesetzliche und gesellschaftliche Änderungen bedeuten, was viele Staaten für undurchführbar hielten 52 . Die Befürworter der Gleichberechtigungsklausel wiesen dagegen zunächst auf die Möglichkeit eines Vorbehalts hin, doch schließlich einigte man sich auf die etwas unklare Kompromißformulierung, wonach die Gesetzgebung der Staaten " . . . shall be directed towards equality of rights and duties .. , " 5 3

Diese Formulierung wurde später in die heute gültige Fassung umgewandelt, die als genauer und eindeutiger empfunden wurde 54 . Die Befürworter einer unmittelbar verpflichtenden Gleichberechtigungsklausel rückten damit von ihrer strikten Position ab, da befürchtet wurde, daß zu radikale BemühunFrau (dt. Quelle: BGBl. 1985 I I , S. 647 ff.). Zu weiteren Resolutionen, Erklärungen und Übereinkommen s. die Zusammenstellung bei Maier, Gleichberechtigung der Frau in Recht und Politik der Vereinten Nationen. 50 S. o., 2. Kapitel, Abschnitt I I I . l , Text zu Fn. 46-48. 51 Wie entschieden nach streng islamischer Überzeugung die Gleichberechtigung abgelehnt wird, zeigt der Kommentar von Tabandeh, A Muslim Commentary, S. 40 f.: "It is self-evident that in every family each member must perform their own proper part and do the definite duties for which nature has equipped them . . . Thus cooking, laundering, shopping, washing-up are the responsibility of one person. The gaining of livelihood and provision for the household that of another." In krassem Gegensatz dazu stehen die Empfehlungen eines Seminars moslemischer Juristen, das von der International Commission of Jurists 1980 abgehalten wurde. Zur Stellung der Frau heißt es dort u. a. : "Islamic States are called upon to include provisions in their legislation ensuring the political rights of women as guaranteed by Islam, notably the right to vote, to nominate themselves for election, to be appointed to public posts, and to participate in decision-making." (Human Rights and Islam, S. 19 § 39. S. auch §§ 40-42.) Diese gegensätzlichen Äußerungen zeigen, daß es verschiedene Lehren auch innerhalb des Islam gibt, die einer Gleichberechtigung der Frauen unterschiedlich offen gegenüberstehen und sich zum Teil wohl um eine vorsichtige Liberalisierung bemühen. 52 UN-Doc. A/2929, Chapter V I , S. 58 § 156, U N G A OR, 10th sess., 1955, Annexes, Agenda item 28 (Part II). 53 UN-Doc. A/2929, a.a.O., S. 58 § 160. 54 S. UN-Doc. A/C. 3/SR. 1094, U N G A OR, 16th sess., 1961-62, Annexes, Agenda item 35, Report of the 3rd Committee, Annex S. 15 (damals noch Art. 22).

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gen um eine Modernisierung der Heiratspraktiken diejenigen Staaten brüskieren würde, deren Recht auf langer Tradition und Überlieferung beruhte. Denn diese Staaten sahen den realistischeren und praktischeren Weg zur Verwirklichung dieses Zieles in einer allmählichen Angleichung ihrer Rechtsordnungen 55 . Polygamie als Eheform kollidiert somit „nur" mit einer Forderung, die vom Pakt selbst als nicht sofort zu verwirklichend qualifiziert wird. Dies wiederum läßt Rückschlüsse auf den Schutzbereich des Art. 23 I I IPBPR zu: Es ist mit seinen Garantien und ihrer Abstufung in ihrer Verbindlichkeit vereinbar, polygame Ehen unter seinen Schutzbereich zu fassen. Angesichts der obigen Ausführungen über sein Ziel und seinen Hintergrund ist dies sogar geboten. Eine vorbehaltslose Förderung dieser der Gleichberechtigung tendenziell eher feindlichen Eheform wird dennoch vermieden, da die Mitgliedstaaten auch an den 4. Absatz dieses Artikels gebunden sind und daher auf längere Sicht die Gleichberechtigung verwirklichen müssen. Allerdings kann dies aufgrund der Flexibilität der Vorschrift in einem langfristigen Prozeß erfolgen, der keine fremden Wert- und Kulturvorstellungen oktroyiert, sondern auf soziale, historische und kulturelle Gegebenheiten Rücksicht nimmt, der aber dennoch in einer Abkehr von der Polygamie enden kann und soll. Eine solche Entwicklung hat auch tatsächlich in einigen der betroffenen Staaten schon eingesetzt56. Es kann somit festgehalten werden, daß der Pakt polygame Ehen nicht aus seinem Schutzbereich ausschließt. Er ist insofern weiter als die auf dem europäischen Eheverständnis aufbauende EMRK. Doch aufgrund der Favorisierung der Einehe kann Polygamie nicht dem festen Kern des Ehebegriffs zugerechnet werden; schließlich bleiben die Vertragstaaten zur Abkehr von dieser Eheform aufgefordert. Gibt es somit Personen, deren Eheschließungsrecht ein Staat nicht ohne Verletzung seiner ihm aus Art. 23 I I IPBPR obliegenden Pflichten beschränken kann („harter Kern" des Ehebildes), und solche, deren Eheschließung er zulassen kann, ohne dazu verpflichtet, aber auch nicht daran gehindert zu sein, so stellt sich nun die Frage, ob es auch Ehemodelle gibt, die nicht paktkonform sind. Dies würde bedeuten, daß ein Staat, der solche Eheschließungen zuläßt, sich paktwidrig verhielte. 55 UN-Doc. A IC. 3/SR. 1094, U N G A OR, 16th session, 1961-62, Annexes, Agenda item 35, Report of the 3rd Committee, S. 11 §§ 82 f. Ähnliche Diskussionen hatte es bei der Ausarbeitung der A E M R gegeben; auch hier hatte man sich auf eine Gleichberechtigungsklausel geeinigt (Art. 16 I Satz 2). Den Vertretern islamischer Staaten wurde die Einwilligung in diesen Kompromiß von strenggläubigen Moslems häufig vorgeworfen: Aus Unkenntnis oder Leichtsinn hätten sie durch diese Haltung Schande und Unehre über islamische Völker gebracht (Tabandeh, A Muslim Commentary, S. 4145). 56 S. die o. g. Beispiele sowie die soeben geschilderte Entwicklung im islamischen Bereich.

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2. Teil: Eheschutz

Unter Berücksichtigung der Ziele und des Zweckes dieses Vertrages müssen darunter solche Eheformen fallen, die gegen andere, zwingende Garantien des Paktes verstoßen. Hätte ein Staat beispielsweise sein Eherecht so geregelt, daß mit der Eheschließung die Frau ihre Rechtsfähigkeit verlöre, praktisch also in das „Eigentum" ihres Mannes überginge, läge ein gravierender Verstoß gegen den Pakt vor. Denn nach dessen Art. 16 hat jedermann das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden, und Art. 8 verbietet alle Formen der Sklaverei. Eine solche, so offensichtlich gegen die Paktgarantien verstoßende Eheform fiele nicht mehr unter den Schutzbereich des Art. 23 I I IPBPR: Ein Staat, der seinen Bürgern eine Eheschließung nur unter diesen (menschenrechtsverletzenden) Bedingungen anbietet, hat seine Verpflichtungen aus Art. 23 I I IPBPR nicht erfüllt. Daraus wiederum folgt aber nicht, daß die in einer solchen Verbindung Zusammenlebenden nun schutzlos gestellt sind. Es ist denkbar, daß die Partner, die sich mangels Alternativen zu einer solchen Verbindung entschlossen haben, trotz allem daran festhalten und vor allem in den Genuß der daran geknüpften Vergünstigungen kommen wollen. Hier greifen die später noch genauer zu untersuchenden Familienschutzvorschriften ein. Denn das Paar wäre - wenn auch in einer menschenrechtsverletzenden Form - innerstaatlich gültig verheiratet und unterfiele so als „Ehepaar" den Familienschutzvorschriften des Paktes. Diese erfassen nämlich nicht nur die auf (paktkonformer) Eheschließung gegründete Familie, sondern berücksichtigen in erster Linie die tatsächlich geübte Form des Zusammenlebens. Die Rechtssysteme der Paktstaaten beinhalten solche oder ähnliche Regelungen soweit ersichtlich jedoch nicht 57 , so daß die Frage nach gegen den Pakt verstoßende Eheformen eine theoretische bleibt.

3. Ehebegriff der Amerikanischen Menschenrechtskonvention Die Konstruktion des Art. 17 I I A m K ist hinsichtlich der Garantie der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit identisch mit der des Paktes: Auch hier wird bestimmt, daß "The right of men and women of marriageable age to marry and to raise a family shall be recognized if they meet the conditions required by domestic laws . . . "

Der Hinweis auf diese im nationalen Recht aufgestellten Voraussetzungen, der im IPBPR fehlt, ähnelt jenem in Art. 12 EMRK. Auch bei Art. 17 I I A m K stellt sich eingangs die Frage nach dem dahinter verborgenen Ehebild. Schon bei der Untersuchung dieser Frage im Rahmen des Art. 23 I I IPBPR konnte festgestellt werden, daß weltweit die nationalen 57

Dazu Saâdia, RevJurPol 38 (1984), S. 245-250; und Equal Rights for Women, S. 3 f.

3. Kap.: Ehebegriff

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Regelungen zumindest darin übereinstimmen, daß volljährige Männer und Frauen ein Recht auf Eheschließung haben. Auch im Rahmen der A m K , die ebenso wie die übrigen menschenrechtlichen Vertragswerke einen einheitlichen Mindeststandard festlegen will, zählt diese Personengruppe daher zum festen Kern des Ehebildes. Doch im Unterschied zum IPBPR beansprucht die A m K keine weltweite Gültigkeit, sondern ist auf den amerikanischen Raum bezogen. Als regionale Konvention weist sie daher Parallelen zur E M R K auf. Es fragt sich daher, ob die Rechtsordnungen dieses Raumes in weiteren eherechtlichen Regelungen Übereinstimmungen zeigen mit der Konsequenz, daß der feste Kern des Ehebildes im Vergleich zum IPBPR weiter gefaßt werden könnte. Dies hätte zur Folge, daß die Dispositionsbefugnis der Vertagstaaten weitergehenden Beschränkungen unterliegen würde. Vertragspartei der A m K kann gem. Art. 74 I A m K jeder Mitgliedstaat der OAS werden. Die im nationalen Recht dieser Länder hervortretenden Ehevorstellungen sind also im Folgenden zu untersuchen, um den hinter Art. 17 I I A m K stehenden Ehebegriff näher definieren zu können. Das auf dem amerikanischen Kontinent geltende Eherecht ist weitgehend europäischen Ursprungs, beeinflußt sowohl vom französischen und spanischen Zivilrecht als auch vom Kirchenrecht 58 . Das offizielle, gesetzlich normierte Eherecht und damit auch die Eheform entsprechen daher europäischen Vorstellungen: Es gilt die Einehe zwischen Mann und Frau, grundsätzlich auf lebenslange Dauer angelegt. Daneben aber existieren, unbeeinflußt von diesem „offiziellen", staatlichen Eherecht, die verschiedenen traditionellen Eheformen der eingeborenen Bevölkerung weiter. Hier finden sich auch Verbindungen polygamen Charakters 59 . Diese Verbindungen sind aber nicht gesetzlich legitimiert und werden staatlicherseits nicht anerkannt, so daß ihre Existenz für die vorliegende Untersuchung ohne Belang ist. Denn in allen Rechtsordnungen können Personen ihr Zusammenleben auf rein privater Ebene beliebig gestalten, ohne daß ein staatlicher Anknüpfungspunkt bestünde. Doch allein dieser ist entscheidend dafür, daß Formen des Zusammenlebens das für die Auslegung des Ehebegriffs eines das Verhältnis StaatBürger betreffenden Vertrages beeinflussen können 60 . Doch ein anderes Phänomen der lateinamerikanischen Rechtsordnungen weist einen solchen staatlichen Anknüpfungspunkt auf und verdient daher eingehendere Untersuchung: die nachträgliche staatliche Anerkennung faktischer Verbindungen, die unter bestimmten Voraussetzungen einer Ehe gleichgestellt werden.

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Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 512. Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tänzer, Fschr. Zajtay, S. 510. 60 Auch im europäischen Raum nimmt die Zahl „wilder Ehen" ständig zu, ohne daß dies das „offizielle" Ehebild beeinflußt. 59

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2. Teil: Eheschutz

In weiten Teilen Lateinamerikas lebt ein großer Teil der Bevölkerung in eheähnlichen Lebensgemeinschaften 61. Ein staatliches Handlungsbedürfnis ergab sich hier aus der Situation, daß die nicht nach staatlichen Eheschließungsregeln eingegangene Verbindung dennoch nicht nur von den Betroffenen, sondern auch von ihrem sozialen Umfeld als „normale" Ehe empfunden und akzeptiert wurde, ohne daß der Staat die rechtlichen Folgen einer Heirat daran knüpfte. Diese Divergenz beruht hauptsächlich auf drei Gründen: 1. Auf Dauer angelegte Verbindungen, die von Eingeborenen nach überlieferten Zeremonien und Riten eingegangen wurden, werden vom Staat nicht als Ehe anerkannt. 2. Einige Staaten erlauben die kirchliche Trauung ohne vorangegangene zivile Eheschließung, ohne allerdings die rechtlichen Folgen der Eheschließung schon an die kirchliche Trauung zu knüpfen. Dies hat zur Folge, daß diejenigen Paare, die auf die zivile Eheschließung verzichten, vor dem Gesetz nicht verheiratet sind 62 . 3. Schließlich verursachen einige Regeln des lateinamerikanischen internationalen Privatrechts Probleme: Sieht ein Staat die Scheidung nicht vor (wie z. B. Argentinien) und wird ein Paar in einem anderen Staat geschieden (z. B. Uruguay), wo ein Partner eine zweite Ehe eingeht, so wird die Zweitehe in dem die Ehescheidung nicht vorsehenden Staat nicht anerkannt mit der Folge, daß das (in dem anderen Staat an sich rechtmäßig verheiratete) Paar in wilder Ehe lebt 63 . In den Ländern des amerikanischen Kontinents findet dieses Phänomen unterschiedliche rechtliche Berücksichtigung. a) Konventionsmitglieder In Guatemala können frei zusammenlebende Paare ihre Gemeinschaft von einem Bürgermeister oder Notar beurkunden lassen. Die Eintragung einer solchen faktischen Ehe hat die gleichen Wirkungen wie die Beurkundung einer Eheschließung. Ihre Auflösung entspricht einer Ehescheidung; vorher kann eine zweite Verbindung formell nicht eingegangen werden. Die im Zivilgesetzbuch enthaltenen Vorschriften über die Rechte und Pflichten, die sich aus einer Eheschließung ergeben, sind soweit wie möglich auf die de-factoEhe anzuwenden. Eintragungsvoraussetzung sind neben der Ehefähigkeit der Betroffenen, daß ein Heim gegründet wurde und daß das Paar länger als drei Jahre „wie ein Ehepaar" zusammengelebt hat, nämlich mit dem Ziel, Kinder 61 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 509; Auf der Springe, Osteuropa 33 (1987), S. 190. 62 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tänzer, Fschr. Zajtay, S. 510. 63 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 511.

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in gemeinsamer Verantwortung großzuziehen, und sich gegenseitig unterstützt hat 64 . Art. 194 der bolivianischen Verfassung 65 stellt de-facto-Verbindungen einer formell geschlossenen Ehe gleich, wenn sie eine gewisse Dauer aufweisen 66 und die Partner ehefähig sind. Art. 158 des bolivianischen Familiengesetzbuches67 konkretisiert dies dahingehend, daß eine tatsächliche eheliche Verbindung dann vorliegt, wenn Mann und Frau aus ihrem eigenen Willen einen Hausstand begründen und in dauerhafter Weise ein gemeinsames Leben führen. Auch hier erfolgt die Gleichstellung nicht automatisch, sondern die tatsächlichen Umstände müssen von dem Paar behauptet und bewiesen werden. Die Voraussetzungen einer Anerkennung sind ähnlich wie in Guatemala (Heim, feste Verbindung, Heiratsfähigkeit, keine gleichzeitig bestehende andere Verbindung, kein Ehehindernis). Die Gleichstellung ist also ausgeschlossen bei unbeständigen oder mehrseitigen Verbindungen oder solchen, die trotz eines bestehenden Ehehindernisses eingegangen wurden 68 . Auch in Mexiko wird die de-facto-Verbindung, die länger als fünf Jahre bestand und als solche registriert wurde, der legalen Ehe weitgehend gleichgestellt. Unterschiedliche Regelungen finden sich hierzu in den Gesetzbüchern der mexikanischen Bundesstaaten69. Panamas Verfassung enthält in Art. 53 ausführliche Bestimmungen über die Gleichstellung von faktischen Verbindungen mit Ehen 70 , die durch das Gesetz 64 Vgl. das ZGB von Guatemala (v. 1963) unter der Überschrift „Von der Familie", insbesondere das Kapitel „Die de-facto-Ehe", §§ 173 ff., in: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Guatemala", 48. Lieferung (1974), S. 32 ff. S. auch die Erläuterungen bei Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 513 f. 65 Art. 194 II: "Free or de facto unions that meet the conditions of stability and singularity, and that are maintained between persons having the legal capacity to marry, produce effects similar to marriage, both in the personal and property relations of the parties living together and with respect to the children born to them." (Zit. nach Blaustein/Flanz.) 66 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 514, geben 2 Jahre an. 67 Von 1971, Text in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Bolivien", 58. Lieferung (1977), S. 21. 68 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 517. 69 Dazu ausführlich Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 518 f. ™ Art. 53: " A de facto union between persons legally competent to contract marriage, maintained during five consecutive years in an exclusive and stable relationship, shall have the effects of civil marriage. To this end, it shall suffice that the interested parties jointly request the Civil Register to record the de facto union. When such a request has not been made, the marriage may be proved for the purpose of claiming the rights thereof by one of the spouses or any other interested person, in accordance with the procedures established by law . . . " (Zit. nach Blaustein/Flanz.)

7 Palm-Risse

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2. Teil: Eheschutz

über Lebensbündnisse71 vervollständigt werden. Nach dessen Art. 1 erlangt ein Lebensbündnis zwischen ehefähigen Personen alle Wirkungen einer bürgerlichen Ehe, sofern es als dauerhaftes Bündnis 10 Jahre bestanden hat 7 2 und die beiden Beteiligten die Eintragung des Lebensbündnisses beim Generalregistrator für den Zivilstand beantragt haben. Auf Rechtsfolgen zwischen den beiden Partnern einer de-facto-Union und ihren Erben beschränkt ist die Anerkennung des Instituts der faktischen Ehe in Venezuela 73 . In Ecuador hat die dauerhafte und monogame Gemeinschaft eines Mannes und einer Frau Gütergemeinschaft zur Folge, wenn die Gemeinschaft mindestens zwei Jahre besteht und von dem Willen getragen wird, zusammenzuleben, Kinder zu zeugen und sich gegenseitig zu unterstützen 74 . Die Vermutung, daß eine Gemeinschaft einen solchen Charakter hat, besteht, wenn beide Partner sich in ihren sozialen Beziehungen entsprechend verhalten haben und von Verwandten, Freunden und Nachbarn „als Ehepaar" aufgenommen wurden 75 . In Honduras wird die de-facto-Ehe zwischen heiratsfähigen Personen verfassungsmäßig anerkannt; einfachgesetzlich sind die Voraussetzungen festgelegt, unter denen sie mit einer Ehe gleichgestellt werden kann 76 .

71 Vom 12. 12. 1956, Text in: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Panama", 85. Lieferung (1986), S. 15. 72 Ein Widerspruch hinsichtlich der erforderlichen Dauer ergibt sich hier zur Verfassung (neueren Datums als das erwähnte Gesetz), die lediglich 5 Jahre verlangt (Art. 53). Der Frage, ob damit die ältere Regelung des Gesetzes über Lebensbündnisse überholt ist (lex-posterior-Regel), ob diese als konkretere Regelung dennoch weiter gültig ist oder ob es sich schlicht um ein redaktionelles Versehen handelt (der der englischen Übersetzung zugrundeliegende spanische Text spricht allerdings auch von fünf Jahren), muß hier nicht weiter nachgegangen werden, da es insofern nur auf die geforderte Dauerhaftigkeit der Beziehung an sich ankommt. Auf der Springe, Osteuropa 33 (1987), S. 190 Fn. 28, und Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 521, nehmen jedenfalls nach wie vor eine Frist von 10 Jahren an. 73 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 522. 74 Art. 1 des „Ley que régula las uniones de hecho" vom 29. 12. 1982, Text: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Ecuador", 81. Lieferung (1984), S. 46. 75 Ebenda, Art. 2. 76 Art. 112: " . . . De facto union between persons having the legal capacity to marry is recognized. The law shall indicate the conditions under which it shall have the effect of a civil marriage." (Zit. nach Blaustein/Flanz.)

3. Kap.: Ehebegriff

99

b) Potentielle Konventionsmitglieder - ΟAS-Staaten, die der Konvention (noch) nicht angehören Auch in Kuba kann eine Ehe ohne förmliche Trauung wirksam geschlossen werden. Kuba gehört zu den Staaten, die der faktischen Lebensgemeinschaft vollständige Ehewirkungen zuschreiben 77. Nach den Bestimmungen des kubanischen Familiengesetzbuches (Art. 18 ff.) können die zusammenlebenden Partner eine gerichtliche Anerkennung ihrer Verbindung erwirken, die auf den Zeitpunkt zurückwirkt, in dem die Verbindung die für eine Anerkennung erforderlichen Voraussetzungen erstmals aufwies. Sie wird dann rückwirkend einer Ehe gleichgestellt (Art. 19). Voraussetzungen hierfür sind, daß die Partner ihre Verbindung als dauernde gewollt haben (eine Mindestdauer wird im Unterschied zu den übrigen Regelungen der lateinamerikanischen Staaten nicht gefordert) und daß keiner der Partner gleichzeitig eine ähnliche Verbindung zu anderen Personen unterhielt. In Paraguay kann das Zusammenleben in einer eheähnlichen Gemeinschaft vermögensrechtliche Folgen haben. Bei der Auflösung einer „wilden Ehe", die in der Öffentlichkeit als Ehe angesehen wurde und die von mindestens fünfjähriger Dauer war, wird angenommen, daß zwischen den Parteien Gütergemeinschaft bestanden hat 78 . c) Auswertung der Untersuchung Wie vorstehende Untersuchung gezeigt hat, enthalten die Ehegesetze lateinamerikanischer Staaten überwiegend Vorschriften über die faktische Ehe (keine besondere Regelung findet sie beispielsweise in Uruguay, Argentinien, Costa Rica 79 , Brasilien 80 ). Zum Teil wird die faktische Ehe sogar verfassungsmäßig anerkannt (Bolivien, Honduras, Panama). In unterschiedlichem Umfang wird dabei eine Gleichstellung mit der legalen Ehe erreicht: Während sich einige Staaten auf punktuelle Regelungen meist vermögensrechtlicher Art beschränken (ζ. B. Paraguay, Ecuador, Venezuela), ist sie in anderen Staaten der formell geschlossenen Ehe umfassend gleichgestellt (Kuba, Panama, Bolivien). Dabei lassen sich allen diesen Rechtsordnungen gemeinsame Grundvoraussetzungen für eine staatliche Anerkennung faktischer Lebensgemeinschaften entnehmen: 77 Kubanisches Familiengesetzbuch, Art. 18 ff., Text: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Kuba", 59. Lieferung (1978), S. 9 f. S. auch Auf der Springe, Osteuropa 33 (1987), S. 190; Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 520. 78 Art. 4 des Gesetzes Nr. 236 über die bürgerlichen Rechte der Frau vom 26. 8. 1954, Text: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Paraguay", 89. Lieferung (1987), S. 5. 79 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 511. 80 Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 522 f.

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100

2. Teil: Eheschutz

1. Die Anerkennung erfolgt grundsätzlich nicht automatisch, sondern setzt einen rechtlich relevanten Willensakt der Betroffenen voraus (Antrag auf Registrierung oder Gerichtsurteil o. ä.). 2. Die Partner müssen verschiedengeschlechtlich sein.

und im heiratsfähigen

Alter

3. Es dürfen der Verbindung keine Gründe entgegenstehen, die bei einer formellen Eheschließung Ehehindernisse wären. Insbesondere wird die Ausschließlichkeit der Verbindung gefordert, d. h. kein gleichzeitiges, ähnliches Zusammenleben mit anderen Partnern („Bigamieverbot"). 4. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft selbst muß schließlich auf Dauer angelegt und stabil sein. Bis auf Kuba fordern die nationalen Gesetze stets den Nachweis, daß die Verbindung schon über einen gewissen Zeitraum bestand (meist zwei bis fünf Jahre). Zudem kommt schon begrifflich nicht immer dann eine faktische Ehe zustande, wenn zwei Personen zusammenleben: Voraussetzung ist weiterhin, daß die Betreffenden „wie ein Ehepaar" zusammenleben wollen 81 , also bereit sind, gegenseitig Rechte und Pflichten wahrzunehmen und „als Ehepaar" sozial akzeptiert werden. Vergleicht man nun die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, bevor an eine faktische Ehe rechtliche Folgen geknüpft werden können, die mit denen einer formell geschlossenen Ehe vergleichbar sind, mit den Voraussetzungen für eine normale Eheschließung vor staatlichen Stellen, so ergibt sich folgendes Bild: Der einzige Unterschied zur konventionellen Eheschließung ist, daß nicht das in den nationalen Ehegesetzen hierfür vorgesehene Verfahren eingehalten werden muß. Somit stellt sich der Weg, die staatliche Anerkennung einer faktischen Gemeinschaft zu erwirken, als „Eheschließung" unter erleichterten formellen Voraussetzungen dar, wobei die an eine regiestrierte defacto-Ehe geknüpften Rechtsfolgen denen der Ehe angenähert sind bis hin zur völligen Gleichstellung. Die Eröffnung eines solchen Weges bietet durchaus Vorteile. Zunächst einmal erfahren so die traditionellen Formen der Eingeborenenehe nicht von vornherein staatliche Ablehnung, sondern werden mit den „offiziellen" Ehevorstellungen harmonisiert, indem sie als faktische Ehe bei Vorliegen der als unverzichtbar angesehenen Voraussetzungen anerkannt werden 82 . Dadurch wird nicht nur Achtung vor oft jahrhundertealten Übungen bezeugt, sondern 81 Auf der Springe, Osteuropa 33 (1987), S. 191. S. auch die ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen: Art. 158 des bolivianischen Familiengesetzbuches; Art. 1 des ecuadorianischen Gesetzes zur Regelung faktischer Gemeinschaften sowie Art. 18, 19 des kubanischen Familiengesetzbuches. 82 Nach Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 524, werden allerdings die Eheformen der Eingeborenen im Gesetz nur ausnahmsweise berücksichtigt. Sie unterfallen aber den allgemeinen Regelungen über die faktische Lebensgemeinschaft.

3. Kap.: Ehebegriff

101

auch dem Empfinden und den Anschauungen weiter Teile der Öffentlichkeit Rechnung getragen. Nicht zuletzt sprechen auch praktische Gründe für eine solche Regelung, da Personen, die die für eine formelle Eheschließung erforderlichen Dokumente nicht beizubringen vermögen, dennoch ein Weg zur rechtlichen Absicherung ihres Zusammenlebens eröffnet wird. Welche Konsequenzen ergeben sich nun für den Ehebegriff der AmK? Aus der Untersuchung der lateinamerikanischen Rechtsordnungen läßt sich ableiten, daß die Zuerkennung gleicher oder ähnlicher rechtlicher Folgen ein von der Mehrzahl der lateinamerikanischen Rechtsordnungen akzeptierter Grundsatz ist 83 . Doch eine so weitgehende Übereinstimmung, die eine Zurechnung zu dem festen Kern des Ehebildes rechtfertigen würde, besteht nicht. Denn zum einen sind die Rechtsfolgen der faktischen Ehe in den lateinamerikanischen Rechtsordnungen recht unterschiedlich, und zum anderen erkennt zwar die Mehrzahl der betreffenden Staaten das Phänomen der faktischen Ehe an, doch bei weitem nicht alle. Von einer weitgehenden Akzeptanz, daß der harte Kern des Ehebildes nicht nur formelle, sondern auch faktische Ehen umfaßt, kann daher nicht ausgegangen werden. Dennoch hat die Entwicklung im lateinamerikanischen Raum Auswirkungen auf die Interpretation des der A m K innewohnenden Ehebegriffs. Angesichts der verbreiteten Anerkennung der faktischen Ehe und ihrer mehr oder weniger umfassenden Gleichstellung mit der formellen Ehe kann der Schutzbereich der Eheschutzbestimmung nicht als nur auf die formelle Ehe begrenzt angesehen werden, sondern umfaßt sind darüber hinaus auch de-facto-Ehen, sofern sie in der nationalen Rechtsordnung offiziell anerkannt sind. Denn hat ein Staat auf nationaler Ebene zu erkennen gegeben, daß er de-facto- und formelle Ehen gleich behandeln will oder gar dieselben Rechtsfolgen eintreten läßt, so muß er sich auch auf internationaler Ebene an diesem Entschluß festhalten lassen. Erweitert er seine Vorstellungen von Ehe im nationalen Recht, dann muß er auch das Zusammenleben der betroffenen Personen unter menschenrechtlich verankerten Schutz stellen, wenn er ein entsprechendes internationales Vertragswerk ratifiziert hat. Andernfalls würde er sich in Widerspruch zu seinem Verhalten auf nationaler Ebene stellen, wo er faktische Lebensgemeinschaften als Ehe anerkennt und daran seinen Schutz, aber auch Pflichten knüpft. Diejenigen Staaten aber, die eine solche Gleichstellung nicht vorgesehen haben, können auch durch menschenrechtliche Eheschutzbestimmungen nicht dazu verpflichtet werden, da insoweit der Anknüpfungspunkt fehlt: Ein dahingehender staatlicher Wille oder eine entsprechende Erklärung im nationalen Recht fehlen. Folglich zählen de-facto-Ehen zwar nicht zu dem festen Kern des Ehebegriffs, können aber dann, wenn ein Anknüpfungspunkt in der nationalen Rechtsordnung vorliegt, den menschenrechtlichen Ehe-

83

Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 523.

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2. Teil: Eheschutz

schutzbestimmungen unterfallen. De-facto-Ehen zählen also zu dem „Begriff shof" des Ehebegriffs der AmK. Diese Erweiterung des Schutzbereichs hat beispielsweise zur Folge, daß sich nicht nur Ehepaare, die das staatliche Eheschließungsverfahren durchlaufen haben, auf ein ausdrücklich anerkanntes Recht zur Familiengründung berufen können, sondern auch die Partner einer anerkannten/registrierten faktischen Lebensgemeinschaft. Dies wird bei der weiteren Untersuchung des Ehe- und Familienschutzes zu berücksichtigen sein. I I I . Zusammenfassung und Ergebnis Der Ehebegriff der E M R K folgt dem Eheverständnis der europäischen Rechtsordnungen, die übereinstimmend unter „Ehe" die in einem formalisierten Verfahren geschlossene, grundsätzlich auf Dauer angelegte Gemeinschaft eines Mannes und einer Frau verstehen. Ebenso wie die E M R K will auch der IPBPR einen menschenrechtlichen Mindeststandard festschreiben, der allerdings nicht nur regionale, sondern weltweite Geltung beansprucht. In den Mitgliedstaaten des Paktes sind ganz unterschiedliche Eheformen anzutreffen, bspw. variiert die Zahl der möglichen Partner. Vor allem im afrikanischen Raum ergeben sich die maßgeblichen Regelungen nicht immer aus geschriebenem, sondern auch aus überliefertem Gewohnheitsrecht. Auf einem gemeinsamen Ehebild seiner Vertragstaaten kann der IPBPR folglich nicht aufbauen. Ein Spannungsverhältnis ergibt sich insbesondere daraus, daß einerseits die Rechtsordnungen nicht zwangsweise vereinheitlicht werden sollen, andererseits aber auch nicht alle innerstaatlichen Ausprägungen akzeptiert werden können, wenn der beabsichtigte menschenrechtliche Mindeststandard erreicht werden soll. Diesem Konflikt trägt der im IPBPR verankerte Eheschutz durch eine gewisse Flexibilität des Ehebegriffs Rechnung: Er setzt sich aus einem „Begriffshof" zusammen, der menschenrechtlich zulässige, aber nicht unabdingbare Erscheinungsformen oder Elemente der Ehe umfaßt (z. B. die Mehrehe), sowie einem festen Begriffskern, der staatlichem Zugriff entzogen ist. Über diesen Begriffskern wird der von allen Mitgliedstaaten einzuhaltende Mindeststandard definiert. Im Unterschied zur E M R K beinhaltet der IPBPR also kein für alle Mitgliedstaaten umfassend formuliertes, feststehendes Ehebild, sondern er legt Eckdaten fest: Verschiedengeschlechtlichen, volljährigen Personen kann die Eheschließung nicht verwehrt werden, ohne daß seine Eheschutzbestimmung verletzt wird. Darüber hinaus schützt der Pakt verschiedene Formen des Zusammenlebens als Ehe, über deren Zulassung die Mitgliedstaaten frei entscheiden können, ohne sich dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung auszusetzen (z. B. Zulassung der Polygamie). Über die Definition des Begriffshofes kann der IPBPR die unterschiedlichen traditionellen Ehemodelle seiner Mitglieder einbeziehen, um die betreffenden Personen nicht schutzlos zu stellen.

3. Kap.: Ehebegriff

103

In ihrer Formulierung entspricht die Eheschutzbestimmung der A m K jener des IPBPR, doch in ihrem Geltungsanspruch - regional, nicht universell - entspricht sie der EMRK-Vorschrift. Eine Besonderheit im lateinamerikanischen Raum ist das Phänomen der staatlich anerkannten bzw. registrierten de-factoEhen, die der formellen Eheschließung in ihren Rechtsfolgen vielfach angenähert oder sogar gleichgestellt wird. Doch obschon zahlreiche lateinamerikanische Staaten entsprechende Regelungen vorsehen, ergeben sich daraus keine Auswirkungen auf den Begriffskern des Ehebildes der A m K : Zum einen werden durchaus nicht in allen lateinamerikanischen Staaten eheähnliche Folgen an faktische Verbindungen geknüpft, zum anderen sind die Regelungen untereinander auch so verschieden, daß nicht von einer allgemein akzeptierten Behandlung dieses Phänomens ausgegangen werden kann. Daher unterfallen faktische Ehen zwar nicht dem festen Begriffskern, wohl aber dem flexiblen Begriffshof. Dies hat zur Folge, daß sich die Eheschutzbestimmungen der A m K dann auf faktische Ehen beziehen, wenn wenn sie in den nationalen Rechtsordnungen formell geschlossenen Ehen (zumindest weitgehend) gleichgestellt werden. Das engste und gleichzeitig am schärfsten konturierte Ehebild findet sich also in der E M R K , die bei der Definition ihres Ehebegriffs im Unterschied zu den beiden anderen Verträgen auf einen homogenen Mitgliederkreis zurückgreifen kann. Die beiden anderen Menschenrechtsinstrumente tragen den unterschiedlichen eherechtlichen Ausprägungen in ihren Vertragstaaten dadurch Rechnung, daß sich ihr Ehebild aus einem festen Kern zusammensetzt, der den menschenrechtlichen Mindeststandard beinhaltet, sowie aus einem flexiblen Begriffshof, über den der Schutz auch auf solche Verbindungen erstreckt wird, die unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten tolerabel sind, aber nicht in allen Staaten zugelassen werden müssen.

4. Kapitel „Free and Full Consent" Zum Wesen der Ehe - wenn auch nicht zu ihren Merkmalen im konstitutiven Sinne - gehört, daß sie aufgrund eines freiwillig gefaßten Entschlusses der künftigen Ehegatten eingegangen wird. Inwieweit menschenrechtliche Kodifikationen diesem Grundsatz zur Wirksamkeit verhelfen, ist Gegenstand der nun folgenden Untersuchung. I. EMRK Anders als etwa in Art. 16 A E M R und allen hier zu untersuchenden Vertragswerken wird die Freiwilligkeit des Heiratsentschlusses von der E M R K nicht ausdrücklich gefordert. Ist daher die Freiwilligkeit im Rahmen der E M R K keine unabdingbare Voraussetzung für eine gültige Eheschließung? Der in Art. 8 E M R K verankerte Schutz der Privatsphäre würde zwar wohl einen Zwang zur Eheschließung verbieten, da ein solcher Eingriff in die Privatsphäre nicht mehr durch die Schranken des Art. 8 I I E M R K gedeckt wäre 1. Doch soll dies hier dahingestellt bleiben, denn auch aus Sinn und Zweck des Art. 12 E M R K als der Spezialnorm im Bereich des Eheschutzes müßte sich ein Verbot der Zwangsausübung ergeben. Einen ersten Ansatzpunkt bietet das europäische Ehebild. Zum Wesen der Ehe gehört nach europäischem Verständnis, daß die Entscheidung zu heiraten auf einem freien, bewußten Entschluß der künftigen Gatten beruht. So ist auch in den nationalen Rechtsordnungen dieses Erfordernis verankert 2 . Mithin scheint das Verbot der Zwangsausübung schon in den europäischen Ehebegriff eingeflossen und so dem Wesensgehalt des Art. 12 E M R K zuzurechnen zu sein. Hierfür spricht auch die Zielrichtung der Eheschließungsfreiheit: Art. 12 E M R K garantiert ein individuelles Freiheitsrecht, mit dessen Anliegen es unvereinbar wäre, wenn auf den Entschluß der Partner ein rechtlich relevanter Zwang ausgeübt werden könnte 3 . Vor diesem Hintergrund nimmt es sich allerdings merkwürdig aus, daß die E M R K , die sich in der Formulierung ihrer Rechte sonst sehr stark an die 1 2 3

Frowein/Peukert, Art. 12 Rn. 4. Dazu Robertson, Human Rights in Europe, S. 104. Frowein/Peukert, Art. 12 Rn. 4.

4. Kap.: »free and Full Consent"

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A E M R anlehnt, den in der Deklaration postulierten „free and full consent" nicht aufgriff. Sollte es sich hier um eine bewußte Auslassung handeln, wäre die oben gewählte Auslegung unzulässig. Die Materialien zur E M R K geben über diese Frage nur spärlich Auskunft. Unter Vorsitz des ehemaligen französischen Justizministers Teitgen hatte der Rechts- und Verwaltungsausschuß für die Beratende Versammlung einen Konventionsentwurf vorbereitet 4 , der unter Verweis auf die entsprechenden Artikel der A E M R drei Paragraphen (Nr. 4,10 und 11) dem Schutz des Familienlebens, dem Recht auf Eheschließung und Familiengründung sowie dem elterlichen Erziehungsrecht widmete. Danach sollte in der auszuarbeitenden Konvention das Recht enthalten sein (Nr. 10), "to marry with free and full consent and to found a family, in accordance with Art. 16 of the UN-Declaration." 5

Dabei war es zunächst umstritten, ob „Familienrechte", wie Teitgen diese Freiheiten nannte, überhaupt in die Konvention aufgenommen werden sollten (ohne daß allerdings die grundsätzliche Bedeutung dieser Rechte an sich in Frage gestellt wurde). Während die Vorschrift über den Schutz des Familienlebens (Nr. 4) in der Beratenden Versammlung ohne vorangehende Debatte angenommen wurde 6 , entstand um die Aufnahme des Eheschließungs- und Familiengründungsrechts eine lebhafte Diskussion über den Vorschlag, die Abschnitte 10,11 und 12 zu streichen (Recht auf Eheschließung und Familiengründung, ErziehungsrecHt der Eltern, Schutz des Eigentums) 7 . Im Interesse einer möglichst zügigen Annahme der Konvention sollte die Aufnahme solcher Rechte vermieden werde, die einerseits nicht zu den essentiellen bürgerlichen Grundfreiheiten zählten, deren Garantie für einen demokratischen Staat unerläßlich schien, die aber andererseits konträre Standpunkte schaffen und lange Diskussionen provozieren könnten. Zudem wurde im Hinblick auf die zahlreichen verschiedenen Eheschließungskonditionen bezweifelt, ob das Recht auf Eheschließung und Familiengründung auf internationaler Ebene sachgerecht ausgelegt und angewendet werden könnte 8 . Unterschiedliche Standpunkte wurden vor allem bei dem Eigentums- und Erziehungsrecht sichtbar. Hinsichtlich des Ehe- und Familienschutzes zeichnete sich hingegen bald eine Einigung ab, und das Recht auf Eheschließung und Familiengründung wurde in die Konvention integriert 9 : Die Mehrheit im Ausschuß hatte 4

Der sog. „Teitgen-Entwurf", A C , 1ère session, 1949, Doc. 77 v. 5. 9. 1949. Doc. A/116 v. 29. 8. 1949, Trav. Prép. Vol. I, S. 168 f. 6 A C , 1ère session, 1949, Compte Rendu, 18. Sitzung v. 8. 9. 1949, S. 623. 7 Vgl. Amendment von Lord Layton v. 7. 9. 1949, A C , 1ère session, 1949, Doc. 93, in diesem Punkt später zurückgezogen. 8 So der Einwand von Lord Layton, A C , 1ère session, 1949, Compte Rendu, 18. Sitzung v. 18. 9. 1949, S. 625, unterstützt u. a. von dem Briten Ungoed-Thomas, a.a.O., S. 627 f., für zu vage gehalten auch von Crawley (UK), a.a.O., S. 642. 9 AC, 1ère session, 1949, Compte Rendu, 18. Sitzung v. 18. 9. 1949, S. 648. 5

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2. Teil: Eheschutz

sich unter Hinweis auf die Erfahrungen im Dritten Reich durchgesetzt (Rassegesetzgebung im Eherecht, staatlich gelenkte Indoktrination der Kinder), die erwiesen hätten, daß auch solche Rechte vor totalitärem Zugriff nicht sicher und daher unbedingt zu schützen seien 10 . Nur wenn der Mensch auch in seinem privatesten Bereich vor staatlicher Willkür geschützt werde, sei seine Existenz als freier Bürger denkbar 11 . Auch im Vergleich zu den übrigen Konventionsrechten wurde es als falsche Gewichtung empfunden, den Ehe- und Familienschutz auszusparen 12. Im Sachverständigenausschuß des Ministerrates wurde dann der im TeitgenEntwurf ursprünglich enthaltene Passus „with free and full consent" mit acht gegen vier Stimmen bei drei Enthaltungen gestrichen 13 und taucht seitdem nicht mehr auf. Das Verbot der Zwangsausübung ist auch nicht über den Verweis auf Art. 16 A E M R in die europäische Eheschutzbestimmung inkorporiert worden. Eine solche Inkorporation wäre allenfalls dann zu erwägen, wenn durch die Bezugnahme auf Art. 16 A E M R eine nähere Inhaltsbestimmung hätte vorgenommen werden sollen. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall, da nicht auf den gesamten Artikel - und damit auch auf den „free and full consent" - verwiesen wird, sondern ausschließlich auf den zuvor erwähnten Teil: Es wird zwar auf „the right to marry and to found a family" verwiesen, nicht aber auf „equal rights as to marriage, during marriage and its dissolution" 14 . Keine Erwähnung findet auch das Erfordernis des „free and full consent". Dennoch darf aus der geschilderten Entwicklung nicht auf eine bewußte Abkehr von dem Verbot der Zwangsausübung bei der Heirat geschlossen werden. Im Gegenteil, gerade die wachgerufenen Erinnerungen an die Diktatur des Dritten Reiches lassen einen solchen Schluß als völlig unzulässig erscheinen. Viel näher liegt die Vermutung, daß damals für die Bestimmung des Art. 16 I I I A E M R in Europa kein Anwendungsbereich gesehen und sie deshalb nicht aufgenommen wurde. Denn weder waren in Europa Kinderehen möglich, noch durften Eltern für ihre Kinder die Ehepartner aussuchen und sie damit (auch rechtlich) zur Heirat zwingen. Es ist folglich davon auszugehen, daß die Konvention, dem europäischen Ehebild folgend, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch implizit, ein Verbot der Zwangsausübung bei der Eheschließung beinhaltet. 10

So lautete schon die Begründung im Teitgen-Entwurf, A C , 1ère session, 1949, Doc. 77, S. 199. Vgl. auch die Ausführungen der Delegierten in A C , 1ère session, 1949: Sundt (Norwegen), S. 629; Sweetman (Irland), S. 635; Boggiano-Pico (Italien), S. 638; Cingolani (Italien), S. 638; De Valera (Irland), S. 639; Capie (Frankreich), S. 640, 645. 11 A C , 1ère session, 1949, Compte Rendu, 17. Sitzung v. 7. 9. 1949, S. 602 f. 12 MacEntee (Irland), A C , 1ère session, 1949, Compte Rendu, 18. Sitzung v. 8. 9. 1949, S. 635, 644; Serrarens (Niederlande), S. 637. 13 Doc. A/167 v. 30. 10. 1949, Trav. Prép., Vol. I, S. 176 f. § 10. 14 Teitgen-Report, AC, 1ère session, 1949, Doc. 77, S. 199 § 7.

4. Kap.:

ree and Full Consent"

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Unterstützend könnte hier auch die Konvention über die Erklärung des Ehewillens, das Heiratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen 15 herangezogen werden. Diesem im Rahmen der Vereinten Nationen ausgearbeiteten Übereinkommen sind fast die Hälfte der EMRK-Staaten beigetreten 16 . Nach seinem Art. 1 I darf eine Heirat nur geschlossen werden mit dem "full and free consent of both parties, such consent to be expressed by them in person . . . "

Die Frage ist nun, wie sich der Beitritt eines Großteils der Europarat-Staaten zu diesem Übereinkommen auf die Auslegung des Art. 12 E M R K auswirkt. Der Weg wird durch die evolutive Auslegungsmethode gewiesen: Angenommen, die Konventionsstaaten hätten bei der Ausarbeitung der E M R K das Verbot der Zwangsausübung bei der Heirat bewußt nicht aufgenommen, so wäre dies heute irrelevant, da die Konvention im Lichte der heutigen Bedingungen interpretiert werden muß. Da immerhin die Hälfte der Vertragstaaten das Mindestalter-Übereinkommen ratifiziert hat, wurde in puncto „free and full consent" heute ein europäischer Mindeststandard erreicht 17 , insbesondere, da aus dem Fernbleiben der übrigen Staaten nicht auf eine Ablehnung der Konvention und schon gar nicht des hier zu untersuchenden Grundsatzes geschlossen werden kann. Art. 12 E M R K enthält also implizit die Forderung, daß Eheschließungen auf dem freien Willensentschluß der künftigen Partner beruhen müssen mit der Folge, daß eine Zwangsausübung in diesem Bereich konventionswidrig ist.

ι 5 BGBl. 1970 I I , S. 110; UNTS, Vol. 521, S. 231, in Kraft seit dem 9. 12. 1964. 16 9 von 22 Staaten: Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Island, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Spanien, Vereinigtes Königreich. Griechenland und Italien haben die Konvention unterzeichnet. Allerdings soll nicht verkannt werden, daß insbesondere einige der südeuropäischen EMRK-Staaten gegenüber der Konvention Zurückhaltung üben (Malta, Portugal, Türkei, Zypern). 17 Vgl hierzu E G M R , Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 19 § 42. Ein gemeinsamer Standard in bezug auf den Satz „mater semper certa est" wurde hier schon aus der Existenz zweier Konventionen hergeleitet, die lediglich von jeweils 4 Europarat-Staaten ratifiziert und von weiteren 8 bzw. 10 Staaten unterzeichnet worden waren. Der Gerichtshof sah keinerlei Anlaß, die geringe Zahl der beigetretenen Staaten als Ablehnung des Prinzips anzusehen, das er als europäischen Standard wertete.

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2. Teil: Eheschutz

I I . Die Menschenrechtspakte von 1966 und die amerikanische Menschenrechtskonvention 1. Bedeutung des Grundsatzes für die Ehe

Im Rahmen des weltweit geltenden IPBPR wird die Wichtigkeit dieses Prinzips im Grunde genommen erst deutlich, da die Rechts-und Gesellschaftsordungen seiner Mitgliedstaaten - im Gegensatz zu dem homogenen Kreis der EMRK-Staaten - diesen Grundsatz nicht schon ohne weiteres enthalten, ja ihm oft genug sogar entgegenstehen. Im Unterschied zur E M R K fordert der IPBPR in Art. 23 I I I ausdrücklich: "No marriage shall be entered into without the free and full consent of the intending spouses."

Eine identische Bestimmung enthält Art. 17 I I I A m K . Volle und freiwillige Zustimmung müssen danach kumulativ vorliegen, da eine „volle" Zustimmung ggf. auch unter Zwang gegeben werden kann. Das Erfordernis der Freiwilligkeit schließt jeden Zwang seitens der Eltern, des künftigen Partners, der Behörden oder anderer Personen oder Institutionen aus 18 . Ein freier Heiratsentschluß ist ferner nur dann denkbar, wenn die Partner nicht nur frei von äußerem Zwang entscheiden können, sondern auch altersmäßig in der Lage sind, einen solchen Entschluß verantwortlich und selbstbestimmt zu fassen. Damit ist allerdings nicht gemeint, daß diese Fähigkeit individuell in der betroffenen Person vorliegen muß, wohl aber, daß sie typischerweise als ihrem Alter entsprechend vorausgesetzt werden kann. Eine feste Grenze gibt es hier kaum, da regionale Gegebenheiten die menschliche Entwicklung entscheidend beeinflussen. Wie essentiell die Entschließungsfreiheit in den Augen der internationalen Staatengemeinschaft ist, zeigt sich auch daran, daß sie in Art. 101 WSP aufgenommen wurde, wo dieser Grundsatz ungeachtet seines Standorts in einer „promotional convention" unmittelbare Verpflichtungswirkung entfaltet 19 . In seiner Formulierung "Marriage must be entered into with the free consent of the intending spouses."

scheint er allerdings insoweit hinter Art. 23 I I I IPBPR und Art. 17 I I I A m K zurückzubleiben, als er lediglich freie, nicht aber volle Zustimmung fordert. Diese Auslassung erstaunt, da dadurch von allen anderen Formulierungen dieses Prinzips abgewichen wird, die immer auch den „füll consent" enthalten. Es kann aber nicht angenommen werden, daß damit eine materielle Abwei18 Robinson, Universal Declaration, S. 126 § 3. Vgl. dazu die Schilderung der traditionellen afrikanischen Gebräuche bei Thiam, Die Stimme der schwarzen Frau, S. 18 ff. 19 Dazu schon oben, 2. Kapitel, Abschnitt III.2, Text zu Fn. 52 - 61.

4. Kap.:

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chung einhergehen sollte, da die Regelungsziele der Vorschriften identisch sind. Auch im Rahmen des WSP war erklärtes Ziel das Verbot, Personen ohne ihre Zustimmung zu verheiraten 20 und jeden Zwang oder rechtlich relevanten Druck bei der Eheschließung auszuschalten, so daß eine scheinbar volle Zustimmung, die unter Zwang abgegeben wurde, auch nach dieser Vorschrift unwirksam ist. Da sowohl der WSP als auch der IPBPR auf universelle Geltung angelegt sind und das Verbot von Zwang bei der Eheschließung in beiden Vertragswerken gleichermaßen unmittelbar verpflichtend ist, nimmt die Auslegung beider Vorschriften denselben Weg, so daß sie im Folgenden zusammengefaßt werden kann. Beide Vorschriften schützen Männer und Frauen gleichermaßen vor Zwang, doch gewinnt ihr Schutz vor allem für Frauen praktische Bedeutung, die in manchen Ländern oft traditionell in dieser Hinsicht benachteiligt sind 21 . So setzt etwa eine wirksame Eheschließung nach Ansicht maßgeblicher islamischer Rechtsgelehrter voraus, daß der Vater der Braut der Heirat zustimmt, ohne daß allerdings die väterliche Zustimmung die Einwilligung der Braut ersetzte 22. Während die moderne islamische Gesetzgebung der Frau überwiegend das Recht gibt, ihre Zustimmung selbst zu erteilen 23 , beurteilen Rechtsschulen der Sunniten die Frage, ob eine volljährige und zurechnungsfähige Frau ohne die Zustimmung ihres Ehevormundes eingehen kann, durchaus unterschiedlich. Zum Teil wird dies unter Berufung auf den Koran abgelehnt 24 . Andere gehen sogar so weit, daß sie dem Vater einer minderjährigen Tochter das Recht zugestehen, sie gegen ihren Willen zu verheiraten 25 . Doch auch wenn betont wird, daß die Zustimmung des Vormundes dem Schutz der Frau dienen soll, kann damit leicht das Gegenteil erreicht werden: Zunächst ist festzuhalten, daß - zumindest nach dieser Ansicht - die Frau den Mann ihrer Wahl ohne Zustimmung nicht heiraten kann. Dies wiederum kann dazu führen, daß sie sich den Ehegattenvorschlägen ihrer Familie leichter und möglicherweise gegen ihre eigentliche Überzeugung fügt, da ihre Alternativvorschläge abgelehnt werden würden. Das Zustimmungserfordernis versetzt also das Familienoberhaupt in die Lage, die Wahl der Braut zumindest zu beeinflussen. In solchen Situationen bestehen Zweifel, ob die auch nach islamischem Recht zu erklärende Zustimmung beider Brautleute 26 tatsächlich auf ihrem freien Entschluß beruht. 20

U N G A OR, 3rd Committee, l l t h session, 1956-57, Agenda item 31, 730. mtg., S. 249 §§ 21-24, S. 250 § 30. 21 Volio, in: Henkin, International Bill, S. 202. 22 Tabandeh, A Muslim Commentary, S. 46. 23 Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Religiöse Eherechte - Islam", 45. Lieferung (1979), S. 7. 24 Bergmann/Ferid, a.a.O., S. 6. 25 So bspw. die Malikiten, s. Bergmann/Ferid, a.a.O., S. 6.

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2. Teil: Eheschutz

Auch die Gründe, aus denen in einigen afrikanischen Staaten der Grundsatz des „free and full consent" in das innerstaatliche Eherecht übernommen wurde, beleuchten die Situation. Nach überlieferter Anschauung ist dort die Frage der Heirat eine Angelegenheit der beteiligten Familien, des Familienrates 27 . War man sich in diesem Rahmen über die Heirat einig, so konnte es geschehen, daß die Brautleute in eine Lage gerieten, die es ihnen unmöglich machte, sich dem Entschluß ihrer Familien zu widersetzen. Vornehmlich die Braut hätte hier vor der Schwierigkeit gestanden, gegen den Willen ihrer Eltern zu handeln und sie damit öffentlich bloßzustellen. Dies jedoch ist mit der der Frau und Tochter traditionell zugedachten Rolle unvereinbar. Die Eheschließung vor einem „neutralen" Standesbeamten, der sich vergewissern muß, ob eine freie Entscheidung des Paares vorliegt, eröffnet gerade in solchen Situationen wenigstens eine Möglichkeit, dem Druck der Familie zu entkommen und die Eheschließung zu verweigern 28 . Damit bietet ein solches Eheschließungsverfahren die Gewähr, daß dem Einverständnis beider Teile rechtliche Bedeutung zukommt und Wirksamkeitsvoraussetzung für die Ehe ist. Eingedenk dieser Umstände wurde beispielsweise in Togo eine neue Eheund Familiengesetzgebung eingeführt, die den freien Entschluß zur conditio sine qua non der Eheschließung macht 29 . Auch Zaire wird dies im Rahmen seiner neuen Ehe- und Familiengesetzgebung berücksichtigen. Hier soll es sogar sanktioniert werden, wenn jemand auf den Entschluß der Brautleute Einfluß nimmt. Ausgenommen von dieser Sanktion sind lediglich die Eltern 30 . Wie diese Beispiele zeigen, bietet die Forderung nach einem „free and full consent" bei der Eheschließung die Möglichkeit, daß der unter Druck gesetzte Teil seine wahre Meinung in rechtlich relevanter Weise äußern und ggf. die Eheschließung verhindern kann. Davor, daß der soziale Druck so groß ist, daß er die Verweigerung nicht wagt, kann diese Bestimmung naturgemäß nicht unmittelbar schützen. Sie kann allerdings langfristig einen mittelbaren Einfluß dergestalt haben, daß in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen diese Voraussetzung bewußt gemacht und akzeptiert wird, so daß sich der soziale Druck allmählich verliert. 2. Bedeutung des Grundsatzes für de-facto-Ehen

Für den lateinamerikanischen Raum erweitert sich die Bedeutung des „free and full consent" um einen weiteren Aspekt: Da hier unter „Ehe" nicht nur die formell vor staatlichen Stellen eingegangene Verbindung, sondern auch 26

Tabandeh, A Muslim Commentary, S. 46. Thiam, Die Stimme der schwarzen Frau, S. 18 ff. 28 Dazu Ajavon/Creppy, RevJurPol 38 (1984), S. 405; Kalongo-Mbikayi, RevJurPol 40 (1986), S. 479. 29 Ajavon/Creppy, RevJurPol 38 (1984), S. 405. 30 Kalongo-Mbikayi, RevJurPol 40 (1986), S. 479 f. 27

4. Kap.:

ree and Full Consent"

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die in einem festgelegten staatlichen Verfahren anerkannte/registrierte faktische Gemeinschaft von Mann und Frau verstanden wird, stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß auch in dem Registrierungs- oder Anerkennungsverfahren Schutz vor unzulässiger Zwangsausübung gewährt werden muß. a) Vollständige

Gleichstellung

Geht man von dem Fall aus, daß die Anerkennung der de-facto-Ehe eine völlige rechtliche Gleichstellung mit einem Ehepaar bewirkt, läßt sich die Frage nach dem „ob" am leichtesten beantworten. Wäre eine Zwangsausübung auf einen der Partner oder beide zulässig, würde die Verbindung gegen den Willen eines oder beider Partner als Ehe behandelt. Eine solche Möglichkeit führte genau zu der Situation, die durch die Forderung des „free and full consent" vermieden werden soll. Der einzige Unterschied zu dem normalen Anwendungsbereich der Vorschrift liegt darin, daß kein formelles Eheschließungsverfahren durchlaufen wird, sondern stattdessen ein (formell erleichtertes) Anerkennungs- oder Registrierungsverfahren. Dieser Unterschied kann jedoch in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich sein, denn auch hier würde unter staatlicher Mitwirkung dem individuellen Selbstbestimmungsrecht zuwidergehandelt. Da in den Fällen rechtlicher Gleichstellung die Eheschließung sozusagen nur einen anderen Namen trägt, aber zu denselben Konsequenzen führt, muß sich der Schutz der free-and-full-consent-Bestimmung auch auf solche Fälle erstrecken. Hier ist zu verlangen, daß die Partner einer faktischen Gemeinschaft bei "der Registrierung/Anerkennung in demselben Maß vor unzulässiger Zwangsausübung geschützt werden wie bei einer herkömmlichen Eheschließung. Verwirklicht werden kann dies etwa dadurch, daß sich die staatliche Anerkennungs- oder Registrierungsinstanz zuvor der Freiwilligkeit des Entschlusses ebenso versichert wie bei einer formellen Eheschließung. b) Partielle Gleichstellung Anders sind möglicherweise die Fälle zu beurteilen, in denen nur eine partielle Gleichstellung mit einer formell geschlossenen Ehe erfolgt, beispielsweise in vermögensrechtlicher Hinsicht (wie in Paraguay, Venezuela). Wenn hier vermutet wird, daß während der Zeit des tatsächlichen Zusammenlebens Gütergemeinschaft bestand oder das Zusammenleben erbrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, beschränkt sich die Gleichstellung auf eng umgrenzte Tatbestände, die vor allem nicht die typischen Ehefolgen wie Pflicht zur ehelichen Gemeinschaft o. ä. betreffen. Vielmehr gleichen solche Konstruktionen der Normierung normaler Anspruchsgrundlagen zur Abwicklung vermögensrechtlicher oder erbrechtlicher Folgen ohne spezifischen Ehebezug. Solche Regelungen mit Konsequenzen nur in nicht ehespezifischen Bereichen schei-

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2. Teil: Eheschutz

nen eher dem Grundsatz des „venire contra factum proprium" Rechnung zu tragen, um unbillige Folgen vermögensrechtlicher Art für die Partner, die Hinterbliebenen und ggf. anspruchsberechtigte Dritte zu vermeiden 31 . In solchen Fällen besteht kein Bedürfnis für eine umfassende Anwendung des free-and-full-consent-Gedankens, da Regelungen der o. a. Art nicht in den elementaren Bereich persönlicher Selbstbestimmung eingreifen, wie dies bei Eintreten der vollständigen, auch ehespezifischen Folgen einer Eheschließung der Fall wäre. Bedenken begegnet daher die Regelung in Guatemala, wo an die Eintragung einer de-facto-Ehe sehr weitreichende Folgen geknüpft werden (u. a. müssen sich Mann und Frau den Rechten und Pflichten von Ehepartnern während der Ehe unterwerfen 32 ), die Registrierung aber einseitig von einem der Partner - auch gegen den Willen des anderen! - beantragt werden kann 33 . Widersetzt sich einer der Beteiligten der in diesem Fall durch Gerichtsurteil auszusprechenden Anerkennung der faktischen Gemeinschaft, um auch gerade den Eintritt der spezifisch eherechtlichen Konsequenzen zu vermeiden, und erfolgt gem. Art. 178 des guatemaltekischen Zivilgesetzbuches dennoch die Gleichstellung, so wird gegen sein individuelles Selbstbestimmungsrecht verstoßen: Sein entgegenstehender Wille ist letztlich unbeachtlich, da er die Gleichstellung mit einem Ehepartner nicht verhindern kann. Dies aber steht im Widerspruch zu der menschenrechtlichen Forderung, die Ehe - oder hier: die insoweit gleichzusetzende Anerkennung der faktischen Gemeinschaft - müsse auf dem freien Willen beider Partner beruhen. Weit weniger kritisch erscheint die Situation in Panama. Dort kann gem. Art. 3 des Gesetzes über Lebensbündnisse34 zwar auch ohne Antrag der Beteiligten ihr Lebensbündnis von daran Interessierten durch Erklärungen von fünf Zeugen von dem zuständigen Richter nachgewiesen werden. Doch diejenigen, die eine Beeinträchtigung ihrer Rechte durch die de-facto-Ehe befürchten, 31

Auch der Rechtsprechung der Bundesrepublik ist diese „Lücke" bewußt, die etwa durch Konstruktion einer BGB-Gesellschaft - z.T. notdürftig zu überwinden gesucht wird, vgl. die Zusammenstellung bei Zeidler, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 582 f. (mit zahlreichen weiteren Nachweisen und Beispielen). 32 § 182 Nr. 5 des guatemaltekischen Zivilgesetzbuches, Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Guatemala", 48. Lieferung (1974), S. 34; Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 514. 33 Art. 178 des guatemaltekischen Zivilgesetzbuchs, Bergmann/Ferid, a.a.O., S. 33: „Jedoch kann die Anerkennung eines Lebensbündnisses auch von nur einem der beteiligten Partner beantragt werden, wenn sich der andre widersetzt oder gestorben ist, und in diesem Fall hat sich der Betroffene an den zuständigen Richter der Instanz zu wenden, der in einem Urteil die Feststellung des Lebensbündnisses ausspricht, wenn es in vollem Umfang bewiesen wurde. . . . " 34 Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Panama", 85. Lieferung (1986), S. 15; s. auch Art. 53 der Verfassung Panamas (Text s. o., 3. Kapitel, Fn. 68).

4. Kap.:

ree and Full Consent"

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können innerhalb von 15 Tagen Einspruch erheben, u. U. also auch der sich widersetzende Partner. Problematisch ist die Regelung damit allenfalls unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs. Zudem sind gegen die richterliche Entscheidung Rechtsmittel zulässig (Art. 6 ff.). Somit kann der entgegenstehende Wille eines Beteiligten in diesem Verfahren berücksichtigt werden und die Anerkennung der de-facto-Ehe verhindern. Ob an die faktische Lebensgemeinschaft überhaupt keine rechtlichen Folgen geknüpft werden 35 oder ob - wohlgemerkt nur bei partieller Gleichstellung in Vermögens- und erbrechtlicher Hinsicht - die innerstaatliche Rechtsordnung dem Gedanken des Vertrauensschutzes in Form des venire contra factum proprium Vorrang gewährt, bleibt der Entscheidung des innerstaatlichen Gesetzgebers überlassen. Er ist hier nicht durch menschenrechtliche Erwägungen gezwungen, den einen oder anderen Weg zu wählen. Damit ist die eingangs aufgeworfene Frage, ob auch anerkannte/registrierte faktische Lebensbündnisse dem Schutz des free-and-full-consent-Vorbehalts unterfallen, grundsätzlich positiv zu beantworten. Doch variiert sein Anwendungsbereich je nach den innerstaatlich an die faktische Ehe geknüpften Rechtsfolgen. Stehen sie denen einer Ehe gleich, da sie insbesondere auch die ehetypischen Folgen umfassen, kommt er voll zum Tragen. Beziehen sie sich jedoch nur auf eng umgrenzte, nicht ehetypische Folgen, kann er zugunsten des Vertrauensschutzes zurücktreten. Die Frage, welche Verpflichtung den Mitgliedstaaten durch den Grundsatz des vollen und freien Einverständnisses bei der Eheschließung auferlegt wird, ist somit im wesentlichen schon beantwortet: Sie müssen ihr innerstaatliches Eheschließungsverfahren so ausgestalten, daß eine Zwangseinwirkung auf den Entschluß zur Heirat ihre Unwirksamkeit zur Folge hat. Die Rechtsfolgen einer Ehe dürfen nur dann angeordnet werden, wenn dies auf einer freien, selbstverantwortlich gefaßten Entscheidung der Betroffenen beruht. Darüber hinaus muß bei der Eheschließung vor staatlichen Stellen eine Kontrolle stattfinden, indem sich ein neutraler Standesbeamte die Freiwilligkeit des Entschlusses versichern läßt. Diejenigen Staaten, deren Gesetze eine Anerkennung/Registrierung faktischer Lebensgemeinschaften ermöglichen, müssen eine ebensolche Kontrolle dann sicherstellen, wenn die faktische Lebensgemeinschaft einer Ehe rechtlich gleichgestellt wird und insbesondere auch die ehetypischen Folgen eintreten sollen. Denn außer bei einer nur punktuellen Gleichstellung in Vermögens- und erbrechtlicher Hinsicht findet das Verbot der Zwangsausübung auch auf die Registrierung bzw. staatliche Anerkennung faktischer Lebensgemeinschaften Anwendung.

35

Wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland.

8 Palm-Risse

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2. Teil: Eheschutz

I I I . Zusammenfassung und Ergebnis Alle untersuchten Vertragswerke schützen die künftigen Ehepartner vor Eheschließungen, die nicht auf ihrem vollen und freien Einverständnis beruhen. Während die beiden universellen Verträge und die A E M R darüber eine ausdrückliche Bestimmung enthalten, ergibt sich dieser Grundsatz des „free and full consent" für die E M R K im Wege der Auslegung: Das europäische Ehebild setzt die Freiwilligkeit des Heiratsentschlusses voraus. Für den lateinamerikanischen Raum hat der Grundsatz des „free and full consent" nicht nur für die formell geschlossene Ehe Bedeutung, sondern ebenso für anerkannte faktische Ehen. Treten nach ihrer Anerkennung oder Registrierung auch spezifisch eherechtliche Folgen ein, werden beide Lebensformen also nicht nur punktuell gleichgestellt, so muß sichergestellt sein, daß der Eintritt dieser Rechtsfolgen dem freien Entschluß der Lebenspartner entspricht.

5. Kapitel Das Eheschließungsrecht I. „Statusrecht" 1. EMRK

Im Mittelpunkt der nun folgenden Untersuchung steht die Frage, für welche Lebenssachverhalte das Recht auf Eheschließung einschlägig ist, d. h. welches Verhalten seinem Schutz unterliegt und wer das Recht auf Heirat in Anspruch nehmen kann. Art. 12 E M R K ist, wie zuvor schon erwähnt wurde, schwerpunktmäßig ein Abwehrrecht 1 . Den Konventionsstaaten obliegt zunächst einmal die Verpflichtung, das Institut „Ehe" prinzipiell anzuerkennen und ihre Bürger an einer Eheschließung weder faktisch noch rechtlich zu hindern 2 , die Ehe also nicht zu schädigen. Für den Bürger folgt daraus ein subjektives Recht auf Eheschließung, sofern - dazu später - die innerstaatlichen Voraussetzungen für eine Heirat erfüllt sind. Dieses subjektive Recht auf Eheschließung beinhaltet " . . . essentially a right to form a legal relationship, to acquire a status." 3

Nicht mehr gewährleistet sein soll die Möglichkeit, mit dem Ehepartner zusammenleben oder auch nur die Ehe vollziehen zu können 4 . In dem ausländerrechtlichen Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, in dem der Gerichtshof ausländerrechtliche Maßnahmen der britischen Einwanderungsbehörden auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 8 E M R K überprüfte, befaßte 1 Jacobs, ECHR, S. 162; Hornyik, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Rechtsprechung, S. 520. 2 Pernthaler/Kathrein, EuGRZ 1985, S. 507; KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 14 § 62; K E v. 16. 5. 1985 zu Β 10503/83, F. P. J. M. Kleine Staarman ./. Niederlande, D R 42, S. 162 ff. (165). 3 KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 13 § 58; KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 78 § 45; KBer v. 12. 12. 1985 zu Β 11329/ 85, F ./. Schweiz, EuGRZ 1986, S. 687. 4 Huber, in: Barwig/Lörcher/Schumacher, Familiennachzug, S. 32; Hornyik, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Rechtsprechung, S. 520. Überholt sein dürfte inzwischen die Ansicht von Schorn, E M R K , S. 268, wonach Art. 12 als bloßer Programmsatz erst von der nationalen Gesetzgebung aktualisiert werden müsse, selbst aber kein unmittelbar geltendes Recht enthalte.

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2. Teil: Eheschutz

er sich auch mit dem Verhältnis des Art. 8 E M R K zu Art. 12 E M R K und stellte klar, daß sich das Zusammenleben der Ehepartner nicht nach Art. 12 E M R K , sondern allein nach Art. 8 E M R K beurteilt: "Whatever else the word 'family' may mean, it must at any rate include the relationship that arises from a lawful and genuine marriage. . . . Furthermore, the expression 'family life', in the case of a married couple, normally comprises cohabitation. The latter proposition is reinforced by the existence of Article 12, for it is scarcely conceivable that the right to found a family should not encompass the right to live together." 5

Auch im Fall Johnston, in dem es um die Möglichkeiten der Auflösung einer Ehe nach irischem Recht ging, interpretierten Gerichtshof und Kommission das Recht zu heiraten als Statusrecht: "The Court agrees with the Commission that the ordinary meaning of the words 'right to marry' is clear, in the sense that they cover the formation of marital relationships .. ." 6

Die Kommission hatte wie schon früher in ihrem Bericht zu der Beschwerde des britischen Strafgefangenen Hamer, der im Gefängnis hatte heiraten wollen 7 , auch im Fall Johnston hervorgehoben, " . . . that Article 12 is limited to conferring, a right to form a legal relationship, to acquire a status .. ." 8

Nach gefestigter Ansicht der EMRK-Organe schützt Art. 12 E M R K folglich nur den Gründungsakt, nicht aber das Führen eines Ehelebens. Gegen diese Auslegung bestehen keine Einwände, da einerseits keine Lücke im Ehe- und Familienschutz entsteht - Art. 8 E M R K schützt das weitere Zusammenleben der Gatten nach der Eheschließung - , und andererseits unnötige Überschneidungen mit dem Schutzbereich der Familienschutzbestimmung vermeidet. Infolgedessen ist das „right to marry" mit der Eheschließung konsumiert. 2. IPBPR

Auch Art. 23 I I IPBPR "The right of men and women of marriageable age to marry and to found a family shall be recognized"

gewährt den Begünstigten ein subjektives Recht auf Eheschließung: Aus der Anerkennung des Rechts folgt für die Mitgliedstaaten, daß sie innerstaatlich den Zugang zu diesem Institut gewähren müssen. Dieses Recht kann nicht nur 5 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62. Genaueres dazu unten, 13. Kapitel, Abschnitt I.6.b., Text zu Fn. 76 - 89. 6 EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 24 § 52. Näheres zu diesem Urteil unten, 8. Kapitel, Abschnitt I. 7 KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 16 § 71. 8 Opinion of the Commission im Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 43 § 92.

5. Kap.: Eheschließungsrecht

117

durch das Aufstellen rechtlicher Hindernisses verletzt werden, sondern auch dadurch, daß die Eheschließung zu gravierenden Nachteilen tatsächlicher Art führt und so Heiratswillige von der Eheschließung abgehalten werden. Dieses Problem wurde gestreift in einer dem Menschenrechtsausschuß unterbreiteten Beschwerde einer Indianerin, die gem. den Bestimmungen des kanadischen „Indian Act" ihren Status und ihre Rechte als Indianerin durch die Eheschließung mit einem Nicht-Indianer verlor. Der Menschenrechtsausschuß sah Art. 27 IPBPR (Minderheitenrechte) als verletzt an und befaßte sich mit den übrigen, geltend gemachten Rechten nur am Rande. Hinsichtlich der Verwirklichung der Eheschließungsfreiheit kritisierte das Gremium, " . . . that the relevant provision of the Indian Act, although not legally restricting the right to marry as laid down in article 23 (2) of the Covenant, entails serious disadvantages on the part of the Indian woman who wants to marry a non-Indian man and may in fact cause her to live with her fiancé in an unmarried relationship. There is thus a question as to whether the obligation of the State party under Article 23 of the Covenant with regard to the protection of the family is complied with." 9

Auch wenn die Frage nicht abschließend geklärt wurde, läßt doch das Zitat erkennen, daß das Gremium Verletzungen des Art. 23 I I IPBPR durch faktische Beeinträchtigungen für möglich hielt, ebenso wie dies auch schon für die Eheschließungsfreiheit der E M R K angenommen wurde. Fraglich ist, ob das im IPBPR niedergelegte Eheschließungsrecht ebenfalls nur ein Statusrecht ist oder ob hier auch das Zusammenleben der Ehegatten geschützt wird. Schon die Struktur beider Vertragswerke legt eine Gleichsetzung nahe: Während jeweils das Eheschließungsrecht in separaten Bestimmungen gewährleistet wird (Art. 12 E M R K , Art. 23 I I IPBPR), enthalten weitere Bestimmungen (Art. 8 E M R K , Art. 17 I IPBPR) ein die Familie schützendes Abwehrrecht. Unterschiedlich ist allerdings der Wortlaut der Familienschutzvorschriften: Art. 8 E M R K spricht ausdrücklich von „Familienleben", während Art. 23 I I IPBPR (ebenso wie Art. 12 Satz 1 A E M R ) die „Familie" schlechthin nennt. Dennoch fällt unter den Schutzbereich auch der Paktbestimmung gerade das Zusammenleben der Familienmitglieder und - da ein Ehepaar auch im Rahmen des Paktes als „Familie" gilt 1 0 - das Zusammenleben der Ehegatten 11 . 9

Sandra Lovelace ./. Kanada, Beschwerde R. 6/24 v. 29. 12. 1977, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, U N G A OR, 36th session, Suppl. Nr. 40 (A/36/40), Annexes X V I I I , S. 166 ff. (168 § 7.2). 10 So der Menschenrechtsausschuß im Fall der maurizischen Frauen (Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen), Beschwerde R. 9/35 v. 2. 5. 1978, Report of the Human Rights Committee, U N G A OR, 36th session, 1981, Suppl. 40 (A/36/40), S. 141 § 9.2 (b) 2 (ii) 1; dt. Übers, in EuGRZ 1981, S. 391 ff. (393). 11 S. die Ausführungen unten zu Art. 17 IPBPR, 13. Kapitel, Abschnitt I I L l . b .

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2. Teil: Eheschutz

Eine Lücke im Bereich des Ehe- und Familienschutzes würde also hier ebensowenig entstehen wie im Rahmen der E M R K , wenn man Art. 23 I I IPBPR als reines Statusrecht interpretierte. Mit dem Schutzbereich der Eheschließungsfreiheit hatte sich der Menschenrechtsausschuß im Fall der maurizischen Frauen 12 zu befassen, in dem eine angebliche Verletzung der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit eine (Neben)rolle spielte. Die Beschwerdeführerinnen wendeten sich gegen eine im Jahre 1977 beschlossene Änderung der maurizischen Ausländergesetzgebung zum Nachteil der Ehemänner maurizischer Frauen. Vor dieser Änderung hatten die Ehegatten maurizischer Staatsangehöriger das Recht zur freien Einreise nach Mauritius; sie waren vor Deportationen geschützt, also de facto aufenthaltsberechtigt. Die Gesetzesänderung 1977 führte zu einer Beschränkung dieser Rechte allein auf die ausländischen Ehefrauen maurizischer Staatsangehöriger, wohingegen ausländische Ehemänner künftig um eine Aufenthaltserlaubnis nachsuchen mußten, deren Ablehnung gerichtlich nicht anfechtbar war. Durch diese aufenthaltsrechtliche Unsicherheit sahen sich die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht aus Art. 23 I I IPBPR beeinträchtigt 13 . Der Ausschuß unterschied zunächst zwischen den 17 unverheirateten und drei verheirateten Beschwerdeführerinnen. Bei ersteren verneinte er die von Art. 1 des Fakultativprotokolls geforderte tatsächliche Betroffenheit: In ihr Recht aus Art. 23 I I IPBPR sei durch die neue Regelung noch nicht konkret eingegriffen worden 14 . In bezug auf die drei mit Ausländern verheirateten Beschwerdeführerinnen nahm der Ausschuß eine Verletzung der Art. 2 I. 3 und 26 i.V.m. 17 I und 23 I IPBPR an, verneinte aber eine Verletzung der übrigen Paktrechte, u. a. Art. 23 I I IPBPR 1 5 . Die vorgebrachten Beeinträchtigungen des tatsächlichen Zusammenlebens der Ehegatten wurden also nicht an Art. 23 I I IPBPR, sondern ausschließlich an Art. 17 I IPBPR gemessen. Zwar ist der Ausschuß nicht zur autoritativen Interpretation des Paktes berechtigt. Doch da seine Mitglieder die wichtigsten Rechtskreise der Welt repräsentieren, stellt der Menschenrechtsausschuß ein geeignetes Forum zur Klärung von Auslegungsfragen unter Berücksichtigung der je nach Rechtssystem und Kulturkreis unterschiedlichen Auffassungen dar 16 . Die von ihm geäußerten Ansichten geben daher Aufschluß über Übereinstimmungen im Verständnis der untersuchten Begriffe. Die eheliche Lebensgemeinschaft fällt 12 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/35 v. 2. 5. 1978, Report of the Human Rights Committee, U N G A OR, 36th session, 1981, Suppl. 40 (A/36/40), S. 134 ff. 13 Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 138 § 6.2. (e). 14 Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 139 § 9.2. (a). 15 Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 142 §§ 10.1, 10.2. 16 Tomuschat, CanHRYb 1984/85, S. 36.

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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danach nicht unter den Schutzbereich der Eheschließungsfreiheit, sondern zählt zu dem von einer anderen Vorschrift separat geschützten Familienleben. Demnach hält der Pakt ebenso wie die E M R K für den Schutz des Zusammenlebens der Ehegatten eine eigene Bestimmung bereit. Art. 23 I I IPBPR schützt mithin nur den Gründungsakt der Ehe, betrifft aber nicht das weitere Zusammenleben des Paares. 3. AmK

Keine Konsequenzen für die Auslegung des in Art. 17 I I niedergelegten Eheschließungsrechts der A m K "The right of men and women of marriageable age to marry and to raise a family shall be recognised . . . "

ergeben sich aus dem auch die anerkannte faktische Lebensgemeinschaft umschließenden Ehebegriff der Konvention: Ein subjektives Recht auf Anerkennung dieser Gemeinschaften kann aus dem Eheschließungsrecht nicht abgeleitet werden. Denn der Begriff der „Heirat" selbst erfährt keine Erweiterung durch die extensive Auslegung des Ehebegriffs. A n dem dem Verb „heiraten" üblicherweise beigemessenen Sinn, nämlich dem Durchlaufen eines staatlichen Eheschließungsverfahrens, hat sich auch auf dem amerikanischen Kontinent nichts geändert. Die Anerkennung einer faktischen Lebensgemeinschaft wird ja gerade nicht als Heirat verstanden, sondern die Verbindung wird der Ehe unter bestimmten Voraussetzungen lediglich gleichgestellt. Der Eintritt der Rechtsfolgen einer Eheschließung kann somit (sofern innerstaatlich eine völlige Gleichstellung vorgesehen ist) auf zwei Wegen erreicht werden: 1. durch Heirat im herkömmlichen Sinn oder 2. durch Anerkennung/ Registrierung einer faktischen Lebensgemeinschaft. Unter Schutz gestellt wird von Art. 17 I I A m K nur der erstgenannte Weg, indem die Konventionsstaaten zur Regelung eines staatlichen Eheschließungsverfahrens verpflichtet werden, das es den Heiratswilligen ermöglicht, den erstrebten Rechtsstatus „Ehepaar" erlangen zu können. Zweifelhaft erscheint, ob sich der Schutz des Art. 17 I I A m K nur - wie bei den bisher untersuchten Bestimmungen - auf den Gründungsakt der Ehe bezieht oder ob dieser Vorschrift eine weitergehende Bedeutung zukommt. Denn es fällt auf, daß die vier authentischen Fassungen in einer die Ermittlung des Schutzbereichs betreffenden Weise voneinander abweichen. Während die spanische, französische und portugiesische Version („fundar"/ „fonder"/„fundar") die in allen übrigen Menschenrechtsinstrumenten übliche Formulierung über die Gründung einer Familie enthalten, weicht der englische Text hier ab, indem er von dem „Aufziehen" einer Familie („raise") spricht. Legte man bei der Ermittlung des Schutzbereichs allein die englische Version zugrunde, käme man zu einer Erweiterung des Schutzbereichs dergestalt,

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2. Teil: Eheschutz

daß nicht nur der Gründungsakt der Familie, sondern auch das weitere Zusammenleben ihrer Mitglieder von Art. 17 I I A m K umfaßt wäre. Denn es ist schon aus rein praktischen Gründen schlechthin undenkbar, eine Familie ohne tatsächlichen Zusammenhalt, ohne räumliche Nähe großzuziehen. Soll also die nach der englischen Fassung zugeordnete Funktion erfüllt werden, setzt dies ein bestehendes Familienleben voraus. Eine an den übrigen authentischen Fassungen orientierte Auslegung käme hingegen zu dem Ergebnis, daß die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit eben den Umfang hat wie in der E M R K und dem IPBPR, sich nämlich im Gründungsakt erschöpfte. Die für die Bestimmung des Schutzbereichs entscheidende Divergenz ist folglich im Wege der Vertragsauslegung aufzuklären. Für die Auslegung von Verträgen in mehreren authentischen Sprachen stellt Art. 33 W V K Regeln auf, die auch auf die A m K anwendbar sind 17 . Danach ist der Text in jeder Sprache grundsätzlich gleichermaßen maßgeblich (Abs. 1). Soweit versucht wird, die Dominanz einer Fassung mit dem Vorrang der Verfahrenssprache zu begründen 18 , führt dies hier zu keiner Lösung, denn die Verhandlungen wurden jeweils in Englisch und Spanisch geführt, so daß die Unklarheit bestehen bleibt 19 . Nach Art. 33 I V W V K ist nun der Bedeutungsunterschied anhand der in den Art. 31, 32 W V K aufgestellten Grundsätze zu lösen. A n oberster Stelle steht dabei die Auslegung des Vertrages nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und seiner Zwecke (Art. 31 I WVK). Da die französische, spanische und portugiesische Fassung enger sind als die englische, könnten sie nach Treu und Glauben als die souveränitätsschonendere Auslegung vorzuziehen sein. Doch diese Methode, deren Geeignetheit schon bei multilateralen Verträgen generell zweifelhaft ist, wird dem Charakter eines menschenrechtlichen Vertrages nicht gerecht 20 , der nicht reziproke Verbindlichkeiten, sondern einen objekti17 Inter-Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof, Advisory Opinion OC-1/82 v. 24. 9. 1982, § 33, in: HRLJ 3 (1982), S. 140 ff. (147). 18 Eingehend dazu Hilf, Auslegung, S. 65-69; Bernhardt, EPIL 7, S. 324. 19 Auch alle offiziellen Dokumente und Materialien sind in Englisch und Spanisch als den in der OAS dominierenden Sprachen erhältlich, s. Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 169 Fn. 2. Die Gleichberechtigung der ΟAS-Sprachen findet Ausdruck auch in Art. 108 OAS-Charta, wonach die Charta in allen vier Sprachen verbindlich ist. S. auch Art. 19 I der Verfahrensordnung des Gerichtshofs: Offizielle Sprachen sind die der OAS; Abs. II: Arbeitssprachen sind die Muttersprachen der Richter und der Parteien, sofern sie Ο AS-Sprachen sind (Buergenthal/Norris/Shelton, Protection of Human Rights, S. 326). Ähnlich auch Art. 22 I der Commission-Regulations: Offizielle Sprachen sind Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Englisch (Buergenthal/Norris/Shelton, Protection of Human Rights, S. 310).

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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ven, für alle Mitglieder verbindlichen Standard aufstellt. Staaten, die einem menschenrechtlichen Vertrag beitreten, unterwerfen sich damit einem besonderen Rechtsregime, das ihnen Verpflichtungen nicht gegenüber anderen Staaten, sondern gegenüber den Menschen in ihrem Hoheitsbereich auferlegt. Die Achtung eines solchen Vertrages muß sich daher in erster Linie an seinem Ziel und Zweck orientieren 21 . Eine objektive, am Wortlaut orientierte Interpretation ist dabei gegenüber der Erforschung des subjektiven Parteiwillens zu bevorzugen 22. Das Ziel eines menschenrechtlichen Vertrages wie der A m K ist es, einen verbindlichen Standard an Garantien aufzustellen, um den Einzelnen gegen staatliche Willkür völkerrechtlich abzusichern. Dies bedeutet, daß die Konvention so auszulegen ist, daß der Einzelne als Objekt des internationalen Schutzes weitestmöglich begünstigt wird. Eine den Einzelnen begünstigende Auslegung wird versuchen, die Vertragsbestimmungen möglichst extensiv auszulegen und ihren Schutzbereich zu erweitern. Vorliegend wäre also eine extensive Auslegung des Art. 17 I I A m K insbesondere dann geboten, wenn das Zusammenleben der Familienmitglieder andernfalls nicht von der A m K geschützt wäre. Doch dies ist nicht der Fall: Denn wie in anderen Menschenrechtsinstrumenten findet sich auch in der A m K der Dualismus des Schutzes der Familie vor Eingriffen des Staates (Art. 11 II) und die Eheschließungsund Familiengründungsfreiheit (Art. 17 II). Neben dem umfassenden Abwehrrecht in Art. 11 I I A m K hebt Art. 171 A m K die besondere Bedeutung der Familie für die Gesellschaft hervor und erkennt ihr einen Anspruch auf positiven staatlichen Schutz zu. Eine enge Auslegung des Art. 17 I I A m K läßt also keine Lücke im Bereich des Familienschutzes entstehen, so daß eine Auslegung zugunsten des Individuums hier nicht notwendigerweise zu der extensiven Interpretation des Art. 17 I I A m K führen muß. Für eine enge, an der französischen, spanischen und portugiesischen Fassung ausgerichtete Interpretation spricht hingegen die Regelungsstruktur der Konvention. Da der Familienschutz schwerpunktmäßig in anderen Vorschriften als Art. 17 I I A m K niedergelegt ist, führte eine extensive Auslegung der 20 Allgemein zu Auslegungsbesonderheiten bei menschenrechtlichen Verträgen Hilf, Auslegung, S. 97. Zur A m K : Inter-Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof, Advisory Opinion OC-2/82, §§ 29-31, in: HRLJ 3 (1982), S. 153 ff. (162 f.), insbes. § 31: "These views about the distinct character of humanitarian treaties and the consequences to be drawn therefrom apply with even greater force to the American Convention . . . " , s. auch Buergenthal, Judicial Interpretation, S. 255 f. 21 Inter-Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof, Advisory Opinion OC-3/83 v. 8. 9. 1983, §§ 48, 49, in: HRLJ 4 (1983), S. 339 ff. (352); Advisory Opinion OC-4/84 v. 19. 4. 1984, §§ 21, 22, in: HRLJ 5 (1984), S. 161 ff. (165). S. auch Buergenthal, Judicial Interpretation, S. 258. 22 Inter-Amerikanischer Menschenrechtsgerichtshof, Advisory Opinion OC-3/83 v. 8. 9. 1983, in: HRLJ 4 (1983), S. 339 ff. (352).

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2. Teil: Eheschutz

Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit in weiten Bereichen zu Überschneidungen mit diesen Bestimmungen, was Unklarheiten hervorrufen kann. Auch der Kontext und die in menschenrechtlichen Verträgen übliche Bedeutung der Ehe- und Familienschutzbestimmungen sprechen gegen eine weite Auslegung. Im dritten Abschnitt der Präambel wird ausdrücklich auf die A E M R sowie universelle und regionale Menschenrechtskodifikationen Bezug genommen. Diese Instrumente haben auch entscheidend die Aufnahme und Ausarbeitung der einzelnen Kodifikationsbestimmungen beeinflußt 23 . Die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit wird darin immer nur als ein lediglich den Gründungsakt schützendes Recht verstanden; das Familienleben wird jeweils in einer separaten Bestimmung unter Schutz gestellt. Eben diese Differenzierung findet sich auch in der A m K , die folglich in diesem Punkt von der üblichen Regelungstechnik nicht abweicht. Mit ihrer gewöhnlichen Bedeutung im Gesamtzusammenhang des Vertragswerkes harmonisiert also eine enge Auslegung der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit besser als eine extensive, den Schutz des Familienlebens einbeziehende Interpretation. Das Bemühen um eine möglichst effektive Verwirklichung des Vertragszweckes und -zieles zwingt hier gerade nicht zu einer erweiternden Interpretation, da auch bei enger Auslegung keine Lücke im Schutzbereich der Konvention entsteht, sondern im Gegenteil die Forderung nach Klarheit es gebietet, Überschneidungen der Schutzbereiche zu vermeiden und nicht durch Auslegung gar erst zu schaffen. Die Interpretation richtet sich also nach der französischen, spanischen und portugiesischen Fassung, wonach Art. 17 I I A m K nur den Gründungsakt der Ehe und Familie betrifft und das Familienleben unter den Schutzbereich anderer Bestimmungen fällt. Mithin hat auch im Rahmen der A m K das Recht auf Eheschließung nur die enge, auch bei den übrigen Menschenrechtsinstrumenten aufgefundene Bedeutung. II. Weitere Staaten Verpflichtungen Aus dem Recht, einen bestimmten Status (nämlich den eines Ehepaares) erlangen zu können, folgen nun weitere Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten, die über bloße Unterlassenspflichten hinausgehen. Die Verwirklichung dieses Rechts setzt es nämlich voraus, daß der Staat die notwendigen technischen Voraussetzungen für eine Eheschließung bereitstellt (die ihrerseits wiederum durch die von ihm aufgestellten Eheschließungsvoraussetzungen bedingt sind). Insofern hat der heiratswillige Bürger einen Mindestanspruch auch auf positives Tun 2 4 . 23 24

§ 68.

Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 170. Für die E M R K : KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 15

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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Die weitere Bedeutung des Eheschließungsrechts erschließt sich erst in Verbindung mit den Diskriminierungsverboten 25 . Nach Art. 14 E M R K darf das Eheschließungsrecht weder aus Gründen der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion noch wegen politischer und sonstiger Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status verweigert werden. Ein fast gleichlautendes Diskriminierungsverbot enthält der IPBPR in Art. 2 I. Lediglich die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit wird nicht erwähnt, doch wird dies durch die Klausel „oder des sonstigen Status" aufgefangen 26. Das ebenfalls sehr ähnliche Diskriminierungsverbot der A m K ist in ihrem Art. 1 I niedergelegt. A n diese Verbote ist der Vertragstaat in seiner nationalen Gesetzgebung unbedingt gebunden, was angesichts des weiten Spielraums, der der innerstaatlichen Gesetzgebung hier offensteht, von erheblicher Bedeutung ist. Damit ist zunächst nur die Frage nach dem von der Eheschließungsfreiheit geschützten Tun geklärt. Von entscheidender Bedeutung ist nun weiter, wer Träger der Eheschließungsfreiheit sein kann. I I I . Heiratsalter Auch die Bestimmung des Schutzbereichs in personeller Hinsicht scheint staatlicher Regelung weitgehend offenzustehen: Er wird maßgeblich bestimmt durch die innerstaatliche Festlegung des Heiratsalters. 1. E M R K

Für die E M R K ergibt sich dieser Spielraum aus der doppelten Verweisung in Art. 12 E M R K auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten, nämlich erstens bezüglich der Festlegung des Heiratsalters und zweitens hinsichtlich der Ausübung des Rechts: "Men an women of marriageable age have the right to marry and to found a family, according to the national laws governing the exercise of this right.

bzw. )yA partir de läge nubile , l'homme et la femme ont le droit de se marier et de fonder une famille selon les lois nationales régissant Vexercice de ce droit. " 21

Während die letztgenannte Verweisung inhaltlich die Grenzen des Rechts und seine nähere Ausgestaltung betrifft (und daher erst bei den Schranken des Art. 12 zu erörtern sein wird), können die Mitgliedstaaten durch die Festlegung des Heiratsalters schon den Schutzbereich der Bestimmung beeinflussen. 25 Partsch, E M R K , S. 214. 26 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 398 § 8. 27 Hervorhebungen ν. Verf.

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2. Teil: Eheschutz

Seinem Wortlaut nach scheint Art. 12 E M R K den Staaten dabei keine Grenzen zu setzen. Da die Garantie des Art. 12 E M R K jedoch nicht über das nationale Recht ausgehöhlt werden darf, muß die Regelungsbefugnis der Staaten ihre Grenze am Wesensgehalt der Eheschließungsfreiheit finden. Dieser Wesensgehalt ist nun unter dem Aspekt zu ermitteln, ob und welche altersmäßigen Ober- und Untergrenzen er für die Festlegung des Heiratsalters vorgibt. a) Ober grenze Als Obergrenze biete sich das Erreichen der Volljährigkeit als letzte rechtlich relevante Entwicklungsstufe an. Wird also der Wesensgehalt des Eheschließungsrechts angestastet, wenn das nationale Recht Volljährigen eine Eheschließung nicht ermöglicht? Mit dem Erreichen der Volljährigkeit sind alle Erfordernisse erfüllt, die man billigerweise für die Heiratsfähigkeit voraussetzen kann: Einsichtsfähigkeit, generelle Fortpflanzungsfähigkeit, uneingeschränkte rechtliche Selbständigkeit und Mündigkeit. Die Festlegung eines höheren Heirats- als Volljährigkeitsalters würde daher als willkürliche Beschneidung der Eheschließungsfreiheit erscheinen, da einer großen Gruppe dieses Recht grundlos vorenthalten würde. Die Obergrenze des Heiratsalters ist daher bei Erreichen der Volljährigkeit zu ziehen, deren Festsetzung wiederum der nationalen Regelungskompetenz unterliegt. Insofern handelt es sich um eine flexible Grenze. b) Untergrenze Wesentlich problematischer ist, ob es auch eine Untergrenze für die staatliche Festlegungsbefugnis gibt mit der Folge, daß ein Staat dann, wenn er die Heirat von sehr jungen Personen - etwa ab Eintritt der Fortpflanzungsfähigkeit - zuläßt, konventionswidrig handelt. Vordergründig betrachtet scheint dies eine dem Sinn der Freiheitsrechte wenig angemessene Fragestellung zu sein, denn grundsätzlich wirkt es umso begünstigender, je früher Freiheitsrechte in Anspruch genommen werden können. In Einzelfällen kann dies aber zu einer Benachteiligung des scheinbar Begünstigten führen. So bestehen typischerweise Zweifel daran, ob der Heirat sehr junger Personen ein wirklich selbständiger, verantwortlicher Entschluß zugrundeliegt. Zugegeben, auch bei Volljährigen können Zweifel dieser Art bestehen, jedoch sind solche Bedenken dann nicht mehr altersbedingt typisch, und ein Staat ist nicht verpflichtet, seine rechtlich mündigen Bürger vor denkbaren Fehlentscheidungen zu bewahren. Anders könnte es sich aber dann verhalten, wenn ein solches Fehlverhalten absehbar ist und mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Es fragt sich daher, ob die Konventionsstaaten eine Untergrenze für die Heiratsfähigkeit gerade aus dem Gedanken des Ehe-

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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schutzes heraus festlegen müssen, da sonst wegen der regelmäßig noch nicht abgeschlossenen persönlichen Entwicklung der Betroffenen eine solche Ehe mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Bestand hätte. Eine solche Untergrenze könnte sich zunächst schon aus dem normalen Wortsinn von „marriageable age"/„âge nubile" ergeben. Da eine Eheschließung in der Regel auch mehr oder minder zum Zwecke weiterer Familiengründung geschieht, dürfte eine Voraussetzung sicherlich die Fortpflanzungsfähigkeit sein, die zwar bei den Heiratswilligen nicht tatsächlich vorliegen, altersmäßig aber der Normalfall sein müßte. Dennoch würde man wohl im normalen europäischen Sprachgebrauch dreizehnjährige „Kinder" noch nicht als heiratsfähig bezeichnen, da man es Personen diesen Alters gemeinhin nicht zutraut, einen das gesamte künftige Leben gestaltenden Entschluß bewußt zu fassen und eine auf Dauer angelegte Verbindung einzugehen. Schon auf der Grundlage der normalen Bedeutung von „Heiratsfähigkeit" kommt man also zu einer gewissen Untergrenze: Allein die physische Entwicklung ist nicht entscheidend, sondern weitere Bedingung ist ein prognostizierbares Verantwortungsbewußtsein. Eine genauere Begrenzung könnte sich aus der Entstehungsgeschichte der E M R K ergeben. Als Vorbild des Art. 12 E M R K diente Art. 16 A E M R 2 8 , was sich auch im Wortlaut der europäischen Eheschutzbestimmung widerspiegelt. Deren englische Fassung lautete anfangs: "Men and women of full age have the r i g h t . . . " 2 9 ,

während es in der französischen Fassung schon immer „ A partir de l'âge nubile . . . "

hieß 30 . Die zunächst gewählte englische Fassung „of full age" stimmt mit Art. 16 I A E M R überein. Interessant ist, daß bei der Formulierung des Art. 16 A E M R seinerzeit darauf hingewiesen wurde, „full age" meine nicht die innerstaatliche Volljährigkeitsgrenze, sondern sei gleichbedeutend mit der vollständigen physischen Entwicklung 31 . Nach der Deklaration sollte also die Heiratsfähigkeit durch nichts anderes bedingt sein als das Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters 32 . Damit sollte die Legalität von Kinderehen ausgeschlossen werden 33 . 28 Dazu die vergleichende Zusammenfassung in Y b H R for 1950 (1952), S. 419; Partsch, ZaöRV 15 (1953/54), S. 649 ff. 29 Hervorh. v. Verf. 30 Trav. Prép., Vol. I V , S. 280, 281 (Konferenz der Senior Officials ν. 8.-17. 6. 1950); Vol. V I , S. 208, 209 (2. Sitzung der Beratenden Versammlung). 31 Robinson, Universal Declaration, S. 125. 32 UN-Doc. A/C. 3/SR. 124, S. 5, 7, 8; A/C. 3/SR. 125, S. 3, 7, 8, U N G A OR, 3rd Committee, 3rd session, 1948/49, S. 363, 365, 366 und 369, 373, 374.

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2. Teil: Eheschutz

Für die historische Auslegung kommt es nun darauf an, ob die spätere Umstellung der englischen Fassung von „füll" auf „marriageable age" deswegen geschah, weil das Abstellen auf die bloße Fortpflanzungsfähigkeit als unsachgemäß und unzureichend empfunden wurde. Dies ist jedoch nicht der Fall, da die zunächst gewählte englische Fassung lediglich von einer Übersetzungsungenauigkeit herrührte, die bei der Harmonisierung der beiden authentischen Texte beseitigt wurde 34 . Bedenken ergaben sich seinerzeit insbesondere daraus, daß „full age" im Unterschied zu dem französischen „âge nubile" auf das Volljährigkeitsalter hinzudeuten schien und damit eine andere Bedeutung gehabt hätte, als dies noch bei der Ausarbeitung der A E M R angenommen wurde. Als Alternativen wurden „who have reached the age of consent" oder „of marriageable age" vorgeschlagen 35. Der Ausdruck „of marriageable age" ist folglich, so das Fazit aus der Entstehungsgeschichte, mißverständlich: Er kann sowohl Fortpflanzungsfähigkeit als auch Volljährigkeit umschreiben. Aus der sprachlichen Umstellung kann also nicht auf eine Abkehr von der Ansicht geschlossen werden, schon bei Vorliegen der biologischen Gegebenheiten ein Heiratsrecht zu haben. Lediglich sollte die Volljährigkeit (die damals später als heute erreicht wurde) nicht Voraussetzung für das Eheschließungsrecht sein. Legt ein Staat kein Mindestalter für die Heiratsfähigkeit fest, könnte des weiteren ein Konventionsverstoß unter dem Gesichtspunkt vorliegen, daß die Eheschließung zwischen sehr jungen Personen nicht auf ihrem freien und vollverantwortlich gefaßten Entschluß beruhen kann 36 , da altersbedingt eine solche, die spätere Zukunft mitgestaltende Entscheidung typischerweise noch nicht zu erwarten ist. Es ist vielmehr zu vermuten, daß sich die Betreffenden den Einflüssen ihrer Eltern - oder allgemein ihres sozialen Umfeldes - beugten, wenn sie eine Ehe eingingen. Dies kann sicherlich dazu führen, daß in solchen Fällen die Ehe in konventionswidriger Weise, nämlich ohne einen freien und selbständigen Entschluß des Paares, eingegangen wird. Damit kann eine ungefähre altersmäßige Untergrenze festgestellt werden: Sie liegt da, wo altersbedingt von einem freien, selbständigen Heiratsentschluß noch nicht generell ausgegangen werden kann. In den EMRK-Staaten liegt die gesetzlich festgelegte Ehemündigkeit zwischen 16 und 21 Jahren für Männer und für Frauen zwischen 15 und ebenfalls 21 Jahren 37 . Unter dem 33 UN-Doc. A/C. 3/SR. 125, S. 3, 7, 8, U N G A OR, 3rd Committee, 3rd session, 1948/49, S. 369, 373, 374. 34 Vgl. den Briefwechsel zwischen Robertson (Sekretariatsmitglied) und Downing (Foreign Office London), Trav. Prép., Vol. V I , S. 286, 290. 35 Robertson, Trav. Prép., Vol. V I , S. 286. 36 Volio, in: Henkin, International Bill, S. 202. 37 In Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, finden sich unter dem jeweiligen Länderstichwort folgende Angaben: Belgien: Art. 144 ZGB - Männer

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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Gesichtspunkt der soeben herausgearbeiteten Anforderungen ergeben sich daher keine Bedenken gegen die Konventionsmäßigkeit dieser innerstaatlichen Regelungen. Nicht bestritten werden soll, daß in besonderen Ausnahmesituationen von den angegebenen Altersgrenzen abgewichen und jüngeren Personen (mit Einwilligung der Eltern oder des Vormundes) die Eheschließung gestattet werden kann, wie dies in den Konventionsstaaten auch allgemein praktiziert wird. Das einschränkende Zustimmungserfordernis verstößt nicht gegen die Konvention 3 8 . Denn da die Staaten Personen diesen Alters das Eheschließungsrecht nicht zugestehen müssen, ja sogar zu einer gegenteiligen Regelung gehalten sind, können sie die Gewährung des Rechts von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig machen wie beispielsweise einer begründeten Ausnahmesituation oder Genehmigungen. c) Unterschiedliche

Festlegungen für Männer und Frauen

Fraglich ist schließlich, ob das Heiratsalter für Frauen und Männer unterschiedlich festgesetzt werden darf. Soweit ersichtlich, konkretisiert sich dieses Problem allgemein auf die Frage, ob es für Frauen niedriger als für Männer angesetzt werden darf, denn der umgekehrte Fall ist in der nationalen Gesetzgebung nicht praktisch geworden. Gegen die Zulässigkeit könnte das Diskriminierungsverbot des Art. 14 E M R K i. V.m. Art. 12 E M R K sprechen, wonach u. a. Ungleichbehandlungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit verboten sind. Da aber Art. 12 E M R K selbst nach „Mann und Frau" unterscheidet, ist zunächst zu klären, ob ab 18, Frauen ab 15 (81. Lieferung 1984, S. 22); Dänemark: § 1 des Gesetzes über die Eingehung und Auflösung der Ehe - beide 18 (66. Lief. 1979, S. 15); Frankreich: Art. 144 Code Civil - Männer ab 18, Frauen ab 15 (89. Lieferung 1987, S. 34 f.); Griechenland: Art. 1350 ZGB - beide 18 (82. Lieferung 1984, S. 17); Großbritannien: beide ab 16 (87. Lieferung 1986, S. 160); Irland: Sec. 1 Marriages Act ν. 1972-beide 16. Vorher: Männer ab 14, Frauen ab 12 (74. Lieferung 1982, S. 16); Island: § 7 des Gesetzes über Eheschließung und Ehescheidung - Männer ab 21, Frauen ab 18 (o. J., S. 6); Italien: Art. 84 ZGB - bei Volljährigkeit, die gem. Art. 2 ZGB bei 18 Jahren liegt (83. Lieferung 1985, S. 29); Liechtenstein: Art. 9 I EheG - Männer ab 20, Frauen ab 18 (59. Lieferung 1978, S. 13); Luxemburg: Art. 144 ZGB - Männer ab 18, Frauen ab 15 (52. Lieferung 1975, S. 12); Niederlande: Art. 31 BGB - beide 18 (88. Lieferung 1986, S. 53); Norwegen: § 1 des Gesetzes Nr. 2 über die Eingehung und Auflösung der Ehe - beide 18 (84. Lieferung 1985, S. 44); Österreich: § 1 EheG-Männer ab 19, Frauen ab 16 (86. Lieferung 1986, S. 124); Portugal: beide 16 (74. Lieferung 1982, S. 18); Schweden: § 1 EheG - beide 18 (72. Lieferung 1981, S. 15); Schweiz: Art. 96 ZGB - Männer ab 20, Frauen ab 18 (91. Lieferung 1987, S. 27); Spanien: Art. 46 Codigo Civil - Eintritt der Volljährigkeit, der gem. Art. 315 bei 18 liegt (80. Lieferung 1984, S. 19); Türkei: Art. 88 ZGB - Männer ab 17, Frauen ab 15 ( 91. Lieferung 1987, S. 22); Zypern: Marriage Law CAP 279 Nr. 12 - beide 21 (63. Lieferung 1979, S. 42). In der Bundesrepublik tritt gem. § 1 EheG die Heiratsfähigkeit nicht vor der Volljährigkeit ein. 38 KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (14 § 62).

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2. Teil: Eheschutz

das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts auf die Eheschließungsfreiheit überhaupt anwendbar ist. Denn dies ist nicht der Fall, wenn die Spezifizierung in Art. 12 E M R K so zu verstehen ist, daß hier ausnahmsweise die Konvention selbst die unterschiedliche Behandlung anordnet: Eine solche Spezialregelung würde den Rückgriff auf das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 14 E M R K verbieten. Doch aus der Erwähnung von „Mann und Frau" in Art. 12 folgt zunächst nur, daß die Geschlechtszugehörigkeit Auswirkungen auf den begünstigten Personenkreis hat insofern, als eine Eheschließung auch nach der Konvention verschiedengeschlechtliche Partner voraussetzt. Eine Ausdehnung der zulässigen Ungleichbehandlung auch auf die die Ausübung des Rechts regelnde nationale Gesetzgebung läßt sich daraus hingegen nicht herleiten. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 12 sowie der Überlegung, daß solche Ausnahmeregelungen - hier: zulässige Unterscheidung nach Geschlecht - eng auszulegen sind. Folglich ist die unterschiedliche Festsetzung des Heiratsalters für Männer und Frauen an Art. 14 E M R K zu messen39. Das Diskriminierungsverbot 40 ist nur dann verletzt, wenn sich für die unterschiedliche Regelung kein sachlicher Grund finden läßt 41 . Ein solcher Grund könnte in dem unterschiedlich ablaufenden körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklungsprozeß zu sehen sein 42 . Es läßt sich vertreten, Frauen wegen ihrer allgemein früher einsetzenden Entwicklung auch früher als heiratsfähig anzusehen. Insofern bietet die unterschiedlich verlaufende biologische Entwicklung einen nach Art. 14 E M R K zulässigen, sachlichen Differenzierungsgrund. Es ist folglich nicht konventionswidrig, wenn die Mitgliedstaaten das Heiratsalter für Frauen niedriger ansetzen als für Männer 43 . Der - noch nicht praktisch gewordene - umgekehrte Fall würde hingegen Bedenken begegnen, 39 Jacobs, ECHR, S. 162. Anders Partsch, E M R K , S. 214, der nur die übrigen Diskriminierungsverbote des Art. 14 für anwendbar hält, aber zum selben Ergebnis kommt. 40 Es handelt sich hier um ein echtes Diskriminierungsverbot und nicht um ein Verbot ungleicher Behandlung, wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt. Vgl. dazu nur Partsch, E M R K , S. 92. 41 Ständ. Spruchpraxis der europäischen Organe: E G M R , Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 34 § 10; Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 16 § 33; s. auch Frowein/Peukert, Art. 14 Rn. 17; Partsch, E M R K , S. 93. 42 Insofern wird die Frau nicht, wie Guradze, Stand der Menschenrechte, S. 222, einwendet, auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. In seiner späteren Kommentierung der E M R K (Guradze, E M R K , Art. 12 Rn. 5) werden solche Bedenken auch nicht mehr geäußert. 43 Jacobs, ECHR, S. 162; Partsch, E M R K , S. 214; Guradze, E M R K , Art. 12 Rn. 5; Schorn, Art. 12 Rn. 2, dessen Argumentation, Art. 12 sei Art. 14 gegenüber lex specialis, weshalb das Diskriminierungsverbot nicht verletzt sein könne, allerdings überholt ist.

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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da dann die unterschiedlich verlaufende Entwicklung von Männern und Frauen die Heiratsalterregelung gerade nicht rechtfertigt und daher ein sachlicher Grund wohl nicht aufzufinden sein dürfte. 2. IPBPR In Art. 23 I I IPBPR wird der Kreis der Berechtigten ebenfalls durch den nicht näher definierten Zusatz „of marriageable age" begrenzt. Auch hier obliegt die Festlegung des Heiratsalters dem nationalen Gesetzgeber, wie aus der Struktur der Bestimmung folgt und auch von der Entstehungsgeschichte bestätigt wird 4 4 . Denn in noch größerem Umfang als Art. 12 E M R K verweist diese Vorschrift auf das innerstaatliche Recht der Vertragstaaten, das die näheren Einzelheiten der Eheschließung - und damit auch das Heiratsalter regelt. Es folgt aus dem Ziel des Paktes, einen menschenrechtlichen Mindeststandard festzulegen, daß auch hier die Verweisung nicht grenzenlos sein kann. Daher müssen eine Ober- und Untergrenze für die innerstaatliche Festlegung des Heiratsalters gefunden werden, um eine Aushöhlung des Eheschließungsrechts zu verhindern. Noch weit mehr als bei der E M R K mit ihrem einheitlichen Mitgliederkreis gilt allerdings, daß diese Grenzen flexibel sein müssen und letztlich wieder durch die nationale Gesetzgebung konkretisiert werden, sofern diese den Wesensgehalt des Art. 23 I I IPBPR nicht verletzt. Obergrenze ist aus den schon oben dargelegten Gründen das Erreichen der innerstaatlich festgeschriebenen Volljährigkeit. Die Feststellung einer altersmäßigen Untergrenze ist im Rahmen des weltweit geltenden IPBPR von weit größerer Bedeutung und gleichzeitig Brisanz als bei der EMRK. Denn anders als im europäischen Raum hat sich weltweit noch nicht die Überzeugung eingebürgert, daß eine zu frühe Bindung dem Paar oft eher schadet als nützt. Im islamischen Recht beispielsweise tritt die Ehemündigkeit schon mit der Geschlechtsreife ein (die beim Mann nicht vor dem vollendeten 12, bei der Frau nicht vor dem 9. Lebensjahr angenommen wird) 4 5 . Zum Teil wird die Heirat auch von Versorgungsgesichtspunkten erheblich mitbestimmt; nicht immer steht eine selbstverantwortliche Entscheidung der künftigen Gatten im Mittelpunkt der Überlegungen 46 .

44 UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part I I ) , Annexes, S. 59 § 168. 45 Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Religiöse Eherechte - Islam", 78. Lieferung 1983, S. 5. 46 Vgl. dazu auch U N G A Res. 843 (IX), U N G A OR, 9th session, 1954, die die Staaten aufruft, Kinderheiraten und Verlöbnisse junger Mädchen in noch nicht heiratsfähigem Alter zu verbieten.

9 Palm-Risse

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2. Teil: Eheschutz

Eine Begrenzung, die gerade im Interesse der freien Selbstbestimmung der künftigen Ehegatten wünschenswert ist, kann sich zunächst am Eintritt der Fortpflanzungsfähigkeit als der biologischen Voraussetzung zu weiterer Familiengründung orientieren. Auch hier stellt sich wieder die Frage, welche Bedeutung der Wortwahl „of marriageable age" anstelle von „of full age" entsprechend der A E M R zukommt. Bei der Ausarbeitung des Paktes stellten die Staatenvertreter hierzu lediglich fest, daß beide Begriffe unterschiedlich ausgelegt werden könnten, und zwar sowohl i. S. körperlicher Reife als auch rechtlicher Volljährigkeit. Man kam überein, die nähere Definition dem innerstaatlichen Recht zu überlassen 47 . Somit war auch nach Ansicht der damals beteiligten Staatenvertreter der Eintritt der Fortpflanzungsfähigkeit die für den nationalen Gesetzgeber einzuhaltende Untergrenze für die Festsetzung des Heiratsalters. Ausgangspunkt für eine konkretere Festlegung des Mindestalters könnte die Konvention über die Erklärung des Ehewillens, das Heiratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen48 sein. Diesem Übereinkommen, das wie der IPBPR auf weltweite Geltung angelegt ist und das daher gerade auch die Verhältnisse in nicht-europäischen Ländern gebührend berücksichtigt, könnte eine Parallelwertung entnommen und für Art. 23 I I IPBPR als Anhaltspunkt für eine konkrete Definition der altersmäßigen Untergrenze fruchtbar gemacht werden. In Art. 2 dieses Übereinkommens heißt es: "States parties to the present convention shall take legislative action to specify a minimum age for marriage. No marriage shall be legally entered into by any person under this age, except where a competent authority has granted a dispensation as to age, for serious reasons, in the interest of the intending spouses."

Hierzu gibt Res. 2018 (XX) der Generalversammlung vom 1.11. 1965 unter Principle I I folgende Konkretisierung: "Member States shall take legislative action to specify a minimum age of marriage, which in any case shall not be less than fifteen years of age, no marriage shall be legally entered into by any person under this age, except where a competent authority has granted a dispensation as to age, for serious reasons, in the interest of the intending spouses."

Somit liegt ein konkreter Vorschlag für das Mindestalter vor, allerdings nur in Form einer nicht rechtsverbindlichen Generalversammlungsresolution. Sie bietet zwar einen Anhaltspunkt für ein allgemein befürwortetes Mindestalter, das weltweit gelten sollte, zwingt andererseits aber Staaten mit entgegenstehender Regelung nicht zur sofortigen Änderung ihrer Gesetzgebung. Ihre Bedeutung für die Auslegung des Art. 23 I I IPBPR geht daher über eine unverbindliche Leitlinie nicht hinaus. 47

UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part II), Annexes, S. 59 § 168. 48 UNTS, Vol. 521, S. 231; dt. Quelle: BGBl. 1969 I I , S. 162 ff.

5. Kap.: Eheschließungsrecht

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Eine - allerdings ebenfalls dehnbare - Eingrenzung ergibt sich aus Art. 23 I I I IPBPR. Die freie und volle Zustimmung zur Eheschließung setzt ein gewisses Alter voraus, vor dessen Erreichen typischerweise nicht von einem solchen Entschluß ausgegangen werden kann, wie schon dargelegt wurde. Auch hier gibt es keine starre Altersgrenze. Zudem verläuft die menschliche Entwicklung in den verschiedenen Teilen der Erde kultur- und klimabedingt zu unterschiedlich, um einen einheitlichen Richtwert angeben zu können. Geistig-seelische Reife und Eintritt der Fortpflanzungsfähigkeit können, müssen aber nicht notwendigerweise zusammenfallen. Hier dürfte den Vertragstaaten ein Entscheidungsspielraum zustehen, inwieweit sie die typische Situation ihres Landes und ihres Kulturkreises in ihrer innerstaatlichen Gesetzgebung berücksichtigen wollen. Es bleibt somit bei den Art. 23 IPBPR immanenten Grenzen der Verweisung: Absolute Untergrenze ist der Zeitpunkt der Geschlechtsreife. Damit wird zumindest das Hauptanliegen dieser Bestimmung verwirklicht, nämlich das Verbot von Kinderehen. Gleichzeitig bietet diese Auslegung den Vorteil großer Flexibilität, da sich das Heiratsmindestalter der in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich verlaufenden menschlichen Entwicklung anpaßt. Diese Untergrenze darf allerdings - anders als jene innerhalb der E M R K - nicht mehr unterschritten werden, da sonst das Ziel dieser Bestimmung konterkariert würde. Das bedeutet, daß ein Staat, dessen Heiratsfähigkeit nach nationalem Recht nur die Fortpflanzungsfähigkeitsgrenze kennt, keine Ausnahmegenehmigungen mehr zulassen darf, um die Heirat noch jüngerer Personen zuzulassen49. Das Diskriminierungsverbot wegen Geschlechtszugehörigkeit hindert die Mitgliedstaaten des Paktes nicht an einer unterschiedlichen Festlegung des Heiratsalters für Männer und Frauen, da, wie schon ausgeführt wurde, diese Ungleichbehandlung auf einem sachlichen Grund beruht. 3. AmK

Auch im Rahmen des Art. 17 I I A m K gelten die für den IPBPR angenommenen Eckdaten: Obergrenze für den innerstaatlichen Spielraum bei der Festlegung des Heiratsalters ist die Volljährigkeit, Untergrenze der Eintritt der Fortpflanzungsfähigkeit (mangels anderweitiger, verbindlicher Konkretisierung). So liegt denn auch in der lateinamerikanischen Region die innerstaatlich festgelegte Ehemündigkeit im Durchschnitt etwas unter dem in Europa üblichen Alter 5 0 . 49 Hier scheidet zudem der wichtigste Grund für Ausnahmen im Interesse der Ehegatten aus, nämlich die Schwangerschaft der Frau. 50 In Honduras beispielsweise sind Männer ab dem vollendeten 14., Frauen schon ab dem 12. Lebensjahr ehemündig, Art. 97 Nr. 1 BGB Honduras (Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Honduras", 78. Lieferung 1983, S. 3); in Vene-

9*

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2. Teil: Eheschutz

I V . Zusammenfassung Kern des Eheschließungsrechts ist also der rechtsverbindliche Zusammenschluß von Mann und Frau, die Erlangung des Status „Ehepaar". Mit diesem Gründungsakt ist die Garantie der Eheschließungsfreiheit ausgeschöpft. Die Staaten sind zunächst einmal verpflichtet, das Institut "Ehe" in ihren nationalen Rechtsordnungen anzuerkennen und ihre Gewaltunterworfenen an einer Eheschließung weder rechtlich noch faktisch zu hindern. Das weitere Zusammenleben der Ehegatten hingegen beurteilt sich nicht mehr nach den Bestimmungen über die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit. Ob die Ehegatten nach der Heirat zusammenleben werden oder die Ehe überhaupt vollzogen wird, sind keine unter diesen Vorschriften relevanten Fragen. Doch auch wenn der Schwerpunkt der Eheschließungsfreiheit auf der abwehrrechtlichen Komponente liegt, kann ihre Verwirklichung den Staaten in Grenzen ein positives Tätigwerden abverlangen. Denn das Eheschließungsverfahren muß innerstaatlich geregelt werden, damit dieses Recht überhaupt in Anspruch genommen werden kann. Hier kommt den in den einzelnen Vertragswerken niedergelegten Diskriminierungsverboten eine zentrale Bedeutung zu. Die Bestimmung des Schutzbereichs in personeller Hinsicht durch die Festschreibung des Heiratsalters liegt bei den Vertragstaaten. Dieser Spielraum besteht freilich nicht uneingeschränkt, sondern findet seine Grenze am Wesensgehalt der Eheschutzbestimmungen: Die internationalen Garantien dürfen nicht der Aushöhlung durch das nationale Recht preisgegeben werden. Als Obergrenze für die Festlegung des Heiratsalters ergibt sich so für alle Vertragswerke das Erreichen der (wiederum innerstaatlich festzulegenden) Volljährigkeit. Weit schwieriger ist es, eine Untergrenze festzustellen; eine starre Grenze gibt es hier nicht. Während sich für die EMRK-Staaten eine Untergrenze aus dem europäischen Ehebild ergibt, fehlen im Bereich des IPBPR und der A m K verbindliche Konkretisierungen, die mehr als nur den Eintritt der Fortpflanzungsfähigkeit voraussetzten. Immerhin wird schon durch diese Bedingung ein wichtiges Ziel erreicht, nämlich das Verbot reiner Kinderehen. Durch das Erfordernis, daß die Eheschließung auf dem freien Entschluß der künftigen Gatten beruhen muß, erfolgt zudem eine weitere, wenn auch sehr flexible Eingrenzung. Schließlich ist es den Staaten wegen der unterschiedlichen Entwicklung von Männern und Frauen gestattet, das Heiratsalter für Frauen niedriger als für Männer anzusetzen, ohne daß dies eine unzulässige Diskriminierung darstellte. zuela: Art. 46 ZGB - Männer ab 16, Frauen ab 14 (Bergmann/Ferid, „Venezuela", 79. Lieferung 1983, S. 15); Bolivien: Art. 44 FGB - Männer ab 16, Frauen ab 14 (Bergmann/Ferid, „Bolivien", 58. Lieferung 1977, S. 13).

6. Kapitel Das Recht auf Familiengründung I. EMRK Auch die Familiengründungsfreiheit in Art. 12 E M R K unterliegt in weitem Umfang der Regelung durch innerstaatliche Gesetzgebung: " . . . the right to marry and to found a family according to the national laws governing the exercise of this right."

bzw. „ . . . le droit de se marier et de fonder une famille selon les lois nationales régissant l'exercice de ce droit."

Zudem ist der Schutzbereich ebenso wie der der Eheschließungsfreiheit in personeller Hinsicht eingegrenzt: Das Recht kann nur von Personen im heiratsfähigen Alter wahrgenommen werden 1 , denn die doppelte Verweisung auf die nationale Gesetzgebung bezieht sich schon ihrem Wortlaut nach auf den gesamten Art. 12 E M R K . Wiederum ist nun der Schutzbereich des Rechtes zunächst im Hinblick auf den geschützten Personenkreis zu ermitteln. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Familiengründungsfreiheit allen heiratsfähigen Personen gewährleistet wird oder ob etwa unverheiratete Paare oder Alleinstehende von ihrem Schutz ausgenommen sind. Letzteres könnte der Fall sein, wenn das Recht auf Familiengründung mit der Eheschließungsfreiheit so eng verknüpft ist, daß es eine Heirat voraussetzt. Ein enger Zusammenhang zwischen Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit wird von niemandem geleugnet. Dessenungeachtet nehmen einige - ohne Begründung - an, Art. 12 E M R K beinhalte zwei separate Rechte, die unabhängig voneinander geltend gemacht werden könnten 2 . Angesichts des klaren Wortlautes des Art. 12 E M R K kann diese Ansicht jedoch nicht überzeugen. Denn aus den beiden authentischen Fassungen ergibt sich, daß nur ein Recht gewährleistet wird 3 , wie der Verweis auf die 1

KBer v. 21. 5. 1975 zu Β 6564/74, X ./. U K , D R 2, S. 106. Fawcett, Application, S. 226; Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 192; Jacobs, ECHR, S. 161 f.; Guradze, E M R K , S. 176 Nr. 4; V G H Österreich, VfGHSlg. 39, Nr. 7400/1974, S. 237; VfGHSlg. 42, Nr. 8037/1976, S. 280. 3 So auch K E v. 10. 7. 1975 zu B 6482/74, X ./. Belgien und die Niederlande, D R 7, S. 75 ff. (76 § 2); Frowein/Peukert, Art. 12 Rn. 6; Partsch, E M R K , S. 213; Vasak, 2

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2. Teil: Eheschutz

nationale Gesetzgebung, die „ . . . the exercise of this right .. ."/„l'exercice de ce droit .. ." 4 regeln soll, besonders deutlich erweist. Im übrigen steht die Annahme nur eines gewährleisteten Rechts dem nicht entgegen, daß dessen beide Konponenten, die Eheschließungs- und die Familiengründungsfreiheit, unabhängig voneinander geltend gemacht werden können, wie dies auch geschieht5. Aus dem Wortlaut des Art. 12 E M R K ergibt sich also, daß die Familiengründung als Folge der Heirat verstanden wird 6 mit der Konsequenz, daß nur Ehepaare unter den Schutzbereich des Art. 12 E M R K fallen. Mag dies uneingeschränkt für die Entstehungszeit der Konvention gelten, als nichteheliche Lebensgemeinschaften gesellschaftlich nicht toleriert wurde, so fragt es sich weiter, ob diese Auslegung auch heute noch in dieser Form aufrechterhalten werden kann. Denn in den zwischenzeitlich vergangenen Jahrzehnten hat sich in den Mitgliedstaaten ein sozialer Wandel dahingehend vollzogen, daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft aus dem gesellschaftlichen Abseits rückte und zu einer - je nach Vertragstaat - mehr oder weniger gebilligten Form des Zusammenlebens wurde 7 . Da die Konvention nicht in einer möglichst souveränitätsschonenden Weise, sondern unter Berücksichtigung der sich verändernden sozialen und rechtlichen Gegebenheiten in ihren Mitgliedstaaten auszulegen ist, könnte der Schutzbereich des Art. 12 angesichts der heutigen Lebensverhältnisse auch auf freie Lebensgemeinschaften oder Alleinstehende auszudehnen sein. Doch zwei Erwägungen sprechen entscheidend dagegen. Zunächst einmal erfordern Ziel und Zweck der E M R K eine solche Erweiterung nicht. Soweit Alleinstehende oder unverheiratet Zusammenlebende eine Familie gründen wollen, werden sie durch Art. 8 E M R K - Schutz der Privatsphäre - vor staatlichen Eingriffen bewahrt 8 . Denn das Recht auf Achtung des Privatlebens soll dem Einzelnen einen Freiraum sichern, in dem er sich ungestört von staatCEDH, S. 50; Robertson, Human Rights in Europe, S. 104; Weil, ECHR, S. 68; Schorn, E M R K , S. 266 Nr. 1. 4 Hervorh. v. Verf. 5 Vgl. z. B. KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 13 § 58. 6 K E v. 10. 7. 1975 zu Β 6482/74, X ./. Belgien und die Niederlande, D R 7, S. 76 § 2: „ I I semble, en premier lieu, que cette disposition ne garantisse pas le droit d'avoir des enfants en dehors du mariage. L' article 12 in fine envisage en effet le droit de se marier et de fonder une famille comme un seul et même droit." Ebenso Frowein/Peukert, Art. 12 Rn. 6; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 334. Kommission und Gerichtshof sehen so auch schon in der Heirat eine Familiengründung: K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (244); E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62. 7 Mit dem sozialen Wandel in den Bereichen Ehe/Familie befaßte sich 1986 auch die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. S. hierzu die Referate von v. Campenhausen, VVDStRL 45, S. 9 f., und Steiger, VVDStRL 45, S. 78. Vgl. auch Zippelius, D Ö V 1986, S. 807; Lecheler, DVB1. 1986, S. 908 f.; Zuleeg, N V w Z 1986, S. 801 f. » Vgl. dazu Fahrenhorst, EuGRZ 1988, S. 126, 128.

6. Kap.: Recht auf Familiengründung

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liehen Interventionen verwirklichen und die Erfüllung seiner Persönlichkeit anstreben kann 9 . Zur freien Entfaltung und Verwirklichung der Persönlichkeit zählt u. a. die autonome Entscheidung für oder gegen Nachkommenschaft. Staatliche Regelungen, die unverheirateten Paaren oder Alleinstehenden Kinder verbieten oder die Familiengründung erschweren wollten, sind daher schon gem. Art. 8 E M R K als unzulässige Eingriffe in die Privatsphäre konventionswidrig. Unter dem Gesichtspunkt der Abwehr staatlicher Eingriffe besteht daher keine Lücke im Familienschutzsystem der Konvention. Hingegen besteht eine Lücke insoweit, als ihr Recht auf Familiengründung im Rahmen der Konvention nicht ausdrücklich hervorgehoben wird. Eine diese Lücke ausgleichende Auslegung des Art. 12 E M R K kann aber erst dann in Betracht kommen, wenn sich die Situation in den Konventionsstaaten schon so tiefgreifend verändert hat, daß daraus ein Bedürfnis für die Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Ehepaaren erwachsen ist. Dies ist nicht der Fall. Denn in den Konventionsstaaten ist eine solche Gleichstellung (noch) nicht verwirklicht und wird oft auch überhaupt nicht angestrebt 10. Allein die Ehe wird unter den besonderen Schutz der Verfassungen gestellt 11 . Als besonders schütz- und förderungswürdig gilt also unverändert die rechtlich geordnete, vollständige Familie. Durch die Privilegierung der Ehe gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens soll ein zusätzlicher Anreiz zu formellen Eheschließungen gegeben werden, da solche, mit Rechtsbindungswillen eingegangene Verbindungen 12 in der Regel dauerhafter sind als nichteheliche Lebensgemeinschaften und sie daher als zur Erfüllung ihrer sozialen Funktionen geeigneter angesehen werden. Da die Konventionsstaaten übereinstimmend die Gründung von Familien innerhalb ehelicher Lebensgemeinschaften als den idealen, zu fördernden Zustand ansehen, kann eine Auslegung der E M R K , die ja einer gemeinsamen Entwicklung in den Mitgliedstaaten, soweit sie den in der Konvention niedergelegten „europäischen Mindeststandard" anhebt, lediglich folgt, selbst aber nicht initiiert, nicht über den innerstaatlich erreichten Schutzstandard hinaus9

Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 3. Für die Bundesrepublik Zippelius, D Ö V 1986, S. 808; v. Campenhausen, VVDStRL 45, S. 17 ff.; Steiger, VVDStRL 45, S. 62. Diese Ansicht teilte auch der EuGH im Fall 59/85, Niederlande ./. Reed, CMLR, Vol. 448 (1987), S. 448 ff. (465 § 15). S. auch die Ausführungen des Generalanwalts zu diesem Punkt, a.a.O., S. 460462. Im Fall Marckx wurde es im übrigen nicht als Verstoß gegen Art. 12 E M R K gewertet, daß den Eltern eines nichtehelichen Kindes nicht dieselben Rechte zustanden wie einem Ehepaar gegenüber seinem Kind, letzteres also privilegiert wurde: KBer v. 10. 12. 1977 zu Β 6833/74, Marckx ./. Belgien, Ser. B, Vol. 29, S. 9 ff. (55 § 103); E G M R , Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 28 f. § 67. 11 Bundesrepublik: Art. 6 GG; Griechenland: Art. 21 der Verfassung; Irland: Art. 41; Italien: Art. 29; Schweiz: Art. 54; Spanien: Art. 32 der Verfassung. 12 v. Campenhausen, VVDStRL 45, S. 14 f. 10

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2. Teil: Eheschutz

gehen. Einer evolutiven, freie Lebensgemeinschaften und Alleinstehende in den Schutzbereich des Art, 12 E M R K einbeziehende Interpretation ist daher schon in Anbetracht der tatsächlichen Situation der Boden entzogen, so daß auch im Lichte der heutigen Lebensverhältnisse Art. 12 in dieser Hinsicht nicht anders auszulegen ist als zum Zeitpunkt seiner Entstehung. 1. Das Recht auf leibliche Nachkommen

Ebenso wie die Eheschließungsfreiheit umfaßt das Familiengründungsrecht nur den Gründungsakt 13 . Der weitere Schutz des bestehenden Familie fällt hingegen aus seinem Schutzbereich heraus und unterliegt allein Art. 8 Schutz des Familienlebens. Das Recht auf Familiengründung realisiert sich zunächst schon mit der Eheschließung14, denn auch ein kinderloses Ehepaar bildet schon eine Familie i. S. der Konvention. Offensichtlich geht aber die Familiengründungsgarantie des Art. 12 E M R K über die Gewährleistung der Eheschließung hinaus, da andernfalls dem Zusatz des „right to found a family" als bloße Wiederholung des Eheschließungsrechts keine weitere, eigene Bedeutung zukäme. Folglich steht im Mittelpunkt der zweiten Garantie vor allem das Recht, Kinder zu zeugen und zu gebären 15. Hiervon muß wegen der Systematik der Konvention das Recht geschieden werden, mit diesen Kindern zusammenzuleben: Art. 12 als Abwehrrecht verschafft den Geschützten auch hier wiederum schwerpunktmäßig kein Recht auf positive staatliche Leistungen, etwa die Bereitstellung von Mitteln für den Familienunterhalt, Wohnungen u. a. Familienhilfen, sondern verbietet staatliche Eingriffe in die Familiengründung 16 . Ist die Familiengründung bereits mit der Heirat erfolgt, stellt sich auch unter Einbeziehung des Rechts auf Nachkommenschaft die Frage, welchen Vorgang oder welches Verhalten Art. 12 schützen will. Bei der Untersuchung dieser Frage ist von der Konzeption der E M R K auszugehen, die Entscheidungsfreiheit des einzelnen, in den gesellschaftlichen Verhältnissen situationsgebundenen Menschen vor (unverhältnismäßiger) staatlicher Reglementierung zu schützen. Bezogen auf das Recht der Familiengründung folgt aus dieser individualistischen Sicht der E M R K , daß nicht nur ein A k t oder eine bestimmte, festlegbare Zahl von Handlungen geschützt sein kann, wie es der Begriff „Grün13

Pernthaler/Kathrein, EuGRZ 1983, S. 507. K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (244); E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62. 15 K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (244). 16 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 333 § 7. 14

6. Kap.: Recht auf Familiengründung

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dung" zunächst nahelegen würde. Denn das Familiengründungsrecht wird mit der Geburt eines jeden Kindes, das aus der Verbindung hervorgeht, erneut verwirklicht. Wann eine Familie vollständig gegründet ist, hängt vor allem von der Entscheidung des Elternpaares ab. Während einige Paare die Ein-KindFamilie anstreben mögen, wird für andere erst bei einer möglichst zahlreichen Nachkommenschaft ihre Vorstellung von einer Familie verwirklicht sein. Je nach der subjektiven Vorstellung der Betroffenen kann eine staatliche Regelung der Kinderzahl genauso schwer wiegen wie das Verbot, überhaupt Kinder zu bekommen. Der Kernbereich der Familiengründungsgarantie ist damit also die Freiheit, über die Zahl der Kinder autonom entscheiden zu können 17 . Es wäre also ein Eingriff, wenn ein Staat generell zwangsweise Geburtenkontrolle, Schwangerschaftsabbrüche oder Sterilisationen anordnete oder duldete 18 . Anders verhält es sich hingegen, wenn hinter solchen Vorhaben kein staatlicher Zwang steht, sondern nur die Möglichkeit der Verwirklichung eines eigenen, freien Entschlusses geboten wird. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob ein Verstoß gegen das Familiengründungsrecht darin liegen kann, daß ein Konventionsstaat einem künftigen Vater, dessen Ehefrau einen Schwangerschaftsabbruch plant, keine Handhabe gegen ihren Entschluß gibt. Denn schließlich wird sein Wunsch auf Nachkommenschaft durch die Verwirklichung ihres Entschlusses zunichte gemacht. Anders gewendet: Seinem Wunsch nach Familiengründung steht ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens entgegen. Dieser Konflikt wird so gelöst, daß den Rechten der Frau als derjenigen, die in erster Linie von der Schwangerschaft betroffen ist, Priorität eingeräumt wird 1 9 . Überzeugend ist hier vor allem die Überlegung, daß schließlich gegen den Willen der Hauptbetroffenen kein Anspruch auf Familiengründung bestehen kann, sondern dies den übereinstimmenden Wunsch beider Partner voraussetzt. 2. Andere Arten der Familiengründung

Die Entwicklung der Fortpflanzungsmedizin wirft schließlich die Frage auf, ob Art. 12 E M R K nur das Recht auf eigene, auf natürlichem Wege gezeugten Nachkommen beinhaltet, oder ob dadurch auch Familiengründungen unter Anwendung moderner Geburtentechnologien geschützt werden. Ähnliche Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit der vertrauteren Figur der Adoption. Den Blickwinkel der Untersuchung gibt wieder die Struktur des Art. 12 als Abbwehrrecht vor. 17 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 334; a. A . Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 192. 18 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 333 § 7. 19 K E v. 13. 5. 1980 zu Β 8416/79, Χ ./. U K , D R 19, S. 244 ff. (254 § 27).

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2. Teil: Eheschutz

a) Adoption Im Hinblick auf eine Familiengründung durch Adoption reicht eine Unterlassenspflicht des Staates - Adoptionen nicht zu verbieten - nicht aus. Vielmehr stellt sich die Frage, ob ein Konventionsstaat zur Ermöglichung von Adoptionen durch die Bereitstellung und Regelung eines Adoptionsverfahrens verpflichtet ist. Gefordert wäre also ein positives staatliches Tun 2 0 , nämlich die Organisation eines Verfahrens, das mit der Zuerkennung des gewünschten rechtlichen Status' (Adoptiveltern bzw. -kinder) abschließen kann. Fraglich ist nun, inwieweit sich diese Forderung nach staatlichem Tätigwerden mit dem Charakter des Art. 12 E M R K als Abwehrrecht vereinbaren läßt. Ein von den Konventionsorganen ständig angewandter Grundsatz besagt, daß die E M R K ihre Mitgliedstaaten zur möglichst effektiven Gewährleistung ihrer Rechte verpflichtet. Dabei kann auch positives staatliches Tun erforderlich werden 21 . Namentlich in Fällen, in denen das geforderte Tätigwerden so geringfügig ist, daß es im Vergleich zu der Verweigerung des Rechts kaum ins Gewicht fällt, kann daher auch aus einem Abwehrrecht ein Anspruch auf (derart minimales) staatliches Handeln ausnahmsweise abgeleitet werden. Die im Bereich der Adoption den Mitgliedstaaten abverlangte Tätigkeit ist nicht sonderlich umfangreich. Sie erschöpft sich rechtstatsächlich in einem Unterlassen, nämlich der Nicht-Abschaffung schon bestehender Adoptionsverfahren, die in allen Konventionsstaaten schon geregelt sind 22 . Das Institut der Adoption würde also mit einer Art „Bestandsgarantie" versehen. Der Umfang der daraus resultierenden positiven Verpflichtungen (im wesentlichen wohl die Finanzierung der notwendigen Stellen) liegt im Rahmen dessen, was auch schon in anderen Bereichen aus Art. 12 E M R K abgeleitet wurde. So wurde etwa eine Gefängnisleitung als verpflichtet angesehen, die erforderlichen Verwaltungsmaßnahmen zu treffen, um den Insassen die* Eheschließung zu ermöglichen, Post zu befördern oder auch Hafturlaub zu gewähren, damit Gefangene an Begräbnissen teilnehmen konnten 23 . 20 So auch die Kommission, K E v. 10. 7. 1975 zu Β 6482/74, X ./. Belgien und die Niederlande, D R 7, S. 75 ff. (76 § 2). 21 Ζ. B. E G M R , Urt. v. 13. 7. 1983, Fall Zimmermann und Steiner, Ser. A , Vol. 66, S. 12 § 29; Urt. v. 9. 4. 1984, Fall Goddi, Ser. A , Vol. 76, S. 12 § 30; Urt. v. 10. 7. 1984, Fall Guincho, Ser. A , Vol. 81, S. 16 § 38; Urt. v. 26. 10. 1984, Fall De Cubber, Ser. A , Vol. 86, S. 20 § 35 sowie KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (80 § 55). Dazu auch Drzemczewski/Warbrick, Y b E L 4 (1984), S. 437 f. 22 So die Präambel des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern v. 24. 4. 1967, UNTS, Vol. 634, S. 255 ff.; deutsche Quelle: BGBl. 1980 I I , S. 1093. 23 KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 80 § 55. Ganz ähnlich auch der EGMR im Belgischen Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 31 § 3, zum Umfang des elterlichen Erziehungsrechts:

6. Kap.: Recht auf Familiengründung

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Eine aus Art. 12 E M R K folgende Pflicht, bestehende Adoptionen im Grundsatz nicht aufzuheben, kann aber nur dann angenommen werden, wenn so dieses Konventionsrecht effektiver gewährleistet wird. Dies ist der Fall, wenn Adoption eine Form der von Art. 12 E M R K geschützten Familiengründung ist. Nach Ansicht der Kommission kann eine Familie auch durch Adoption eines Kindes gegründet werden 24 ; allerdings gewähre Art. 12 nicht das Recht, ein Kind zu adoptieren oder sonst in die Familie zu integrieren, das nicht das leibliche Kind des betreffenden Paares ist 25 . Weder in der E M R K noch im IPBPR sei ein Adoptionsrecht verankert, auch im Schrifttum der Mitgliedstaaten werde es nicht mit einem Menschenrecht gleichgesetzt26. Aus Art. 12 lasse sich keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten herleiten, den Betreffenden den Status von Adoptiveltern und -kindern zuzuerkennen 27. Soweit nach dieser Rechtsprechung kein Anspruch auf Adoption eines bestimmten Kindes begründet wird, ist ihr zu folgen 28 . Denn vor jeder Adoption sind u. U. langwierige Prüfungen vorzunehmen, etwa über die Geeignetheit der Adoptionseltern, das Wohl des Kindes muß ermittelt und die verschiedenen Interessen gegeneinander abgewogen werden 29 . Soweit jedoch einerseits Adoption als Familiengründung anerkannt wird, andererseits aber Art. 12 E M R K keinen Anspruch die Verwirklichung einer solchen Familiengründung vermitteln soll, erscheint die Argumentation widersprüchlich. Denn ist einmal anerkannt, daß auch im Wege der Adoption eine Familie gegründet werden kann, lassen sich schwerlich Gründe dafür finden, warum dennoch nur eine Art der Familiengründung von Art. 12 geschützt sein soll. Dies gilt vor allem dann, wenn für ein Ehepaar Adoption die einzige Möglichkeit ist, die Familie zu vervollständigen 30 . Wenn Art. 12 " . . . all member States of the Council of Europe possessed, at the time of the opening of the Protocol to their signature, and still do possess, a general and official educational system. There neither was, nor is now, therefore, any question of requiring each State to establish such a system, but merely of guaranteeing to persons subject to the jurisdiction of the Contracting Parties the right, in principle, to avail themselves of the means of instruction existing at a given time." 24 K E v. 5. 12. 1977 zu Β 7229/75, X u. Y ./. U K , D R 12, S. 32 ff. (34 § 2); KBer v. 1. 3. 1979 zu B 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 10 ff. (28 § 59). 25 K E v. 5. 12. 1977 zu B 7229/75, X u. Y ./. U K , D R 12, S. 32 ff. (34 § 2). 26 K E v. 10. 7. 1975 zu B 6482/74, X ./. Belgien und die Niederlande, D R 7, S. 75 ff. (76 § 2). 27 K E v. 10. 7. 1975 zu Β 6482/74, Χ ./. Belgien und die Niederlande, D R 7, S. 75 ff. (76 § 2). 28 Insoweit zeigen sich Parallelen zu dem Eheschließungsrecht, das auch keinen Anspruch auf einen bestimmten Partner gibt, aber die Möglichkeit garantiert, einen bestimmten Status („Ehepaar") erhalten zu können. 29 Vgl. Art. 8 des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern v. 24. 4. 1967, UNTS, Vol. 634, S. 255 ff.; deutsche Quelle: BGBl. 1980 I I , S. 1093. 30 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 335 § 8.

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2. Teil: Eheschutz

E M R K die Freiheit der individuellen Entscheidung schützt, mit Kindern in einer Familie zu leben, dann kann es einem Staat nicht gewährt werden, die in diesen Fällen herkömmlicherweise einzige Möglichkeit zur Verwirklichung dieser freien Entscheidung zu versperren, obgleich es ein allgemein anerkanntes und in allen Europaratstaaten vorhandenes Rechtsinstitut gibt, mit dem der entsprechende Freiraum geschaffen werden kann. Folglich ist auch die Adoption eine von Art. 12 E M R K geschützte Form der Familiengründung 31 . Demnach sind die EMRK-Staaten verpflichtet, Adoptionen unter vernünftigen und auch den übrigen Konventionsgarantien (z. B. dem Diskriminierungsverbot) genügenden Bedingungen auch weiterhin zu ermöglichen und den Zugang zu diesem Verfahren zu gewährleisten 32. Diesseits der Willkürgrenze sind die Staaten damit aber frei, die Adoptionsvoraussetzungen zu regeln. b) Moderne Geburtentechnologie Im Hinblick auf eine Familiengründung unter Zuhilfenahme moderner Geburtentechnologie 33 stellt sich die Frage, ob die Konventionsstaaten durch Art. 12 E M R K verpflichtet werden, die Anwendung solcher Verfahren nicht zu verbieten, sondern zuzulassen und ggf. sogar zu fördern. Zur Zeit der Entstehung der Konvention waren solche Methoden zwar noch nicht entwickelt, doch könnten sie nunmehr im Wege einer evolutiven Auslegung der Konvention unter den Schutzbereich des Art. 12 zu fassen sein. Unter den von Art. 12 E M R K geschützten Lebensbereich fällt die Anwendung moderner Geburtenmedizin dann, wenn dies heutzutage ein überwiegend anerkannter Weg zur Verwirklichung eines Kinderwunsches ist. Zur Lösung dieser Frage bietet sich eine Kategorisierung nach den beteiligten Personen an, also eine Unterscheidung zwischen homologen Methoden einerseits und Techniken unter notwendiger Beteiligung Dritter andererseits. 31

So auch Fahrenhorst, EuGRZ 1988, S. 131. So auch van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 335 § 8. 33 Darunter fallen: 1. Künstliche Insemination: Das Sperma wird anders als durch Geschlechtsverkehr in den Mutterleib verbracht. Homologe Insemination: Sperma vom Ehemann; heterologe Insemination: Sperma stammt von einem (dritten) Spender. 2. In-vitro-Fertilisation: Befruchtung der Eizelle außerhalb des Mutterleibes mit anschließender Verpflanzung der Eizelle in den Mutterleib. Homolog: Sperma und Eizelle stammen von dem Ehepaar; heterolog: Eizelle und/oder Sperma stammen von anderen Spendern. 3. Embryo-Transfer (meist bei Unfruchtbarkeit der Frau): Eine von einer Spenderin stammende Eizelle wird mit dem Sperma des Ehemannes künstlich befruchtet, aus der Spenderin entfernt und der Ehefrau eingepflanzt. Möglich ist auch das Austragen durch eine sog. Leihmutter. Näheres hierzu bei Knoppers, AJCL 33 (1985), S. 1; Lauff/ Arnold, ZRP 1984, S. 279 (speziell zur In-vitro-Fertilisation) und Eberbach, MedR 1986, S. 254. 32

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Da Art. 12 E M R K nur die Familiengründung eines Ehepaares betrifft, muß auch an diejenigen Paare diese Bedingung gestellt werden, die ihren Kinderwunsch auf medizinischem Wege realisieren wollen. Es kann daher schon vorab festgehalten werden, daß es unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 E M R K nicht konventionswidrig ist, wenn Mitgliedstaaten den Zugang zu den neuen Geburtentechnologien von einer Eheschließung der betreffenden Paare abhängig machen 34 . Zugunsten Unverheirateter könnte allerdings Art. 8 E M R K eingreifen, zwar nicht unter dem Aspekt eines zu schützenden Familienlebens (dies würde eine schon bestehende Familie voraussetzen), wohl aber als Folge des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens. Die Konvention garantiert hier dem Einzelnen eine freie Sphäre, in der er die freie Verwirklichung und Erfüllung seiner Persönlichkeit anstreben kann 35 . Die Frage, ob eine unter Anwendung moderner Fortpflanzungsmedizin beabsichtigte Schwangerschaft noch ausschließlich der Privatsphäre der Frau oder des unverheiratet zusammenlebenden Paares zugerechnet werden kann, kann positiv beantwortet werden. Denn bei einer erst geplanten, gewünschten Schwangerschaft ist ein Kind und damit ein möglicherweise zusätzlicher Rechtsträger noch nicht entstanden, dessen Interessen der Privatheit der Situation entgegenstehen könnten. Anders als bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft ist also ein anderes, dann zu berücksichtigendes Rechtsgut - das werdende Leben - noch nicht entstanden36. Festgehalten werden kann hier, daß der Anspruch eines unverheirateten Paares auf Zugang zu diesen Techniken jedenfalls nicht weiter reichen kann als der eines Ehepaares. Dies ergibt sich aus dem besonderen Schutz, dem die Konvention Ehepaare unterstellt (Art. 12 EMRK). Die Frage soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden, da Untersuchungen über die Privatsphäre nicht mehr unter den Gegenstand der vorliegenden Arbeit fallen 37 . Die Anwendung von Geburtentechnologien, die notwendig die Beteiligung Dritter als Leihmütter oder Spender voraussetzen, unterscheiden sich von der herkömmlichen, „normalen" Familiengründung schon durch die Erweiterung des Beteiligtenkreises. Dies allein schließt aber ihre Subsumtion unter den Schutzbereich des Art. 12 nicht schon von vornherein aus, wie die recht34 In der Praxis findet die medizinische Unterstützung der Fortpflanzung ohnehin nur bei einem übereinstimmenden Entschluß beider Ehegatten statt, vgl. dazu Bernat, MedR 1986, S. 247; Deutsch, NJW 1986, S. 1972. 35 Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 3. 36 Konsequenterweise ist eine bestehende Schwangerschaft denn auch nicht mehr der Privatsphäre zugerechnet worden, KBer v. 12. 7. 1977 zu Β 6959/75, Brüggemann und Scheuten ./. Bundesrepublik, D R 10, S. 100 ff. (116). 37 Mit modernen Fortpflanzungstechnologien unter dem Aspekt der Garantie der Privatsphäre befaßt sich eingehend Fahrenhorst, EuGRZ 1988, S. 125 ff. Bzgl. des Zugangs unverheirateter Paare s. insbesondere S. 128 f.: Die Begrenzung auf Ehepaare wird unter Berufung auf die „Rechte und Freiheiten anderer", nämlich des zu zeugenden Kindes, gerechtfertigt.

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liehe Beurteilung der Familiengründung im Wege der Adoption zeigte. Doch darüber hinaus wirft die Beteiligung Dritter eine Reihe moralischer, ethischer und auch rechtlicher Probleme auf, die zur Zeit nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit heftig diskutiert werden 38 . Denkbar ist etwa die Verwendung von Fremdsperma und/oder Eizellen zu Versuchen aus genetischen Gründen (Verbesserung des Erbmaterials, „Zuchtstreben"). Anlage von Embryonenbanken, Kinder auf Bestellung, Auswahl der gewünschten Eigenschaften des Kindes, alles möglicherweise auf kommerzieller Basis, sind Schreckensvisionen, die dann in absehbarer Zukunft Realität werden könnten 39 . Auch das Austragenlassen eines Kindes durch eine sog. „Leihmutter" wirft ähnliche Probleme auf, denn hier wie dort werden das Kind und die Gebärfähigkeit der Frau wie eine Ware behandelt. Besonders gefährdet ist bei einer solchen Konstellation das Wohl des Kindes. Die während der Schwangerschaft aufgebaute Beziehung zur Leihmutter wird durch seine Weggabe unterbrochen; die „Auftraggeber" sind weder psychisch noch physisch mit dem Kind „synchronisiert". Zudem können rechtliche Streitigkeiten der verschiedenen Eltern über den Verbleib des Kindes äußerst negative Auswirkungen auf die Entwicklung eines normalen Eltern-Kind-Verhältnisses haben. Zu befürchten ist darüber hinaus, daß die psychische Situation der Leihmutter, die sich von vornherein auf die Weggabe des Kindes einstellen muß, der gesunden Entwicklung des Kindes im Mutterleib schadet40. A l l diese Bedenken führen zu überwiegend negativen Äußerungen in der Presse und der öffentlichen Diskussion zu diesem Bereich der Medizin. Es kann daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Rede davon sein, daß eine Familiengründung mit Hilfe von Spendern und Leihmüttern akzeptiert wäre. Die öffentlichen Debatten und Stellungnahmen lassen eher den gegenteiligen Schluß zu 41 . In den EMRK-Staaten haben sich die Anschauungen daher nicht in dem Sinne gewandelt oder überhaupt erst herausgebildet, daß eine Familiengrün38 Vgl. dazu Lauff/Arnold, ZRP 1984, S. 280 m.w.N.; Pap, MedR 1986, S. 234, 236; Hess, MedR 1986, S. 241; Bernat, MedR 1986, S. 245. 39 Lauff/Arnold, ZRP 1984, S. 280. 40 Sehr informativ sind hier diverse einschlägige Gesetzesvorhaben, Untersuchungen von Ethik- und Wissenschaftsgremien in den EMRK-Staaten Großbritannien, Frankreich, Österreich, Schweiz und Schweden, die einhellig die Inanspruchnahme oder Vermittlung von Leihmüttern ablehnen (zusammengefaßt bei Hirsch, MedR 1986, S. 240). Ebenso die vom 88. Deutschen Ärztetag 1985 beschlossenen Richtlinien, die von den Ärztekammern als Ergänzung ihres Berufsrechts vorgeschlagen wurden (eingehend dazu Hess, MedR 1986, S. 242). 41 Eberbach, MedR 1986, S. 258. Vgl. auch die recht liberalen Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Fortpflanzungsmedizin", Bundesanzeiger Nr. 4 a v. 6. 1. 1989, die aber Embryonen-, Ei- und Samenspende sowie Ersatzmutterschaft deutlich ablehnen (S. 9, 21 - 26). Stumpf, YaleLJ 96 (1986), S. 190 - 192, spricht sich für neue rechtliche Rahmenbedingungen der Ersatzmutterschaft aus, da die bisherige USRechtsprechung das Problem nicht adäquat behandelt habe.

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dung unter Zuhilfenahme heterologer Techniken anerkannt würde. Hinzu tritt, daß diese Techniken auch bei einem (unterstellt) gewandelten Bewußtsein wegen der mit ihnen verbundenen gesellschaftspolitischen Gefahren gewichtigen Bedenken begegnen. Deshalb ist es wohl auch für die Zukunft nicht zu erwarten, daß die Zulassung heterologer Techniken bis in den Wesensgehalt des Art. 12 E M R K vordringen kann, innerhalb dessen den Konventionsstaaten Eingriffe untersagt sind. Eine - durch den medizinischen Fortschritt faktisch mögliche - Familiengründung unter Beteiligung Dritter wird daher nicht von Art. 12 E M R K geschützt. Damit verbleiben als möglicherweise von dieser Vorschrift umfaßte Formen der Familiengründung die homologe künstliche Insemination und die homologe In-vitro-Fertilisation. Der einzige Unterschied zwischen homologer künstlicher Insemination und „natürlicher" Familiengründung besteht darin, daß der Zeugungsakt durch eine medizinische Maßnahme ersetzt wird. Überzählige Eizellen und Sperma fallen dabei nicht an, so daß spätere Manipulationen und Experimente mit etwaigem „Überschuß" ausgeschlossen sind. Im Gegensatz dazu gibt es bei der In-vitro-Fertilisation vielfältige Mißbrauchsmöglichkeiten, angefangen von Manipulationen am Embryo im Reagenzglas bis hin zu Experimenten an überzähligen Embryonen 42 . Vergleichbar mit der normalen Familiengründung ist daher nur die homologe künstliche Insemination, da sie im Gegensatz zu den übrigen Methoden moderner Geburtentechnologie nach überwiegender Ansicht keine zusätzlichen ethischen, moralischen und religiösen Zweifelsfragen aufwirft. Sie wird im übrigen auch in der Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen moderner Geburtsmedizin stets - sozusagen als unstreitiger Ausgangsfall - angeführt, ohne daß Bedenken geäußert würden 43 . Tatsächlich unterscheidet sie sich in ihrer Anwendung qualitativ und in der Schwere des Eingriffs nicht wesentlich von anderen, früher undenkbaren und heute alltäglichen Eingriffen, um körperliche Defekte des einen oder anderen Partners auszugleichen oder medizinischen Maßnahmen vor und während der Schwangerschaft, ohne die oft genug kein lebensfähiges Kind entstehen könnte. Die homologe künstliche Insemination stellt daher weniger eine eigenständige Form der Familiengründung dar als vielmehr eine besondere medizinische Behandlungsmethode 44 .

42 S. dazu auch die von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Fortpflanzungsmedizin" geäußerten Bedenken, Bundesanzeiger Nr. 4 a v. 6. 1. 1989, S. 17. 43 Knoppers, AJCL 33 (1985), S. 1; Koch, MedR 1986, S. 260 m.w.N.; vgl. auch die positive Stellungnahme der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Fortpflanzungsmedizin" in ihrem Abschlußbericht, Bundesanzeiger Nr. 4 a v. 6. 1. 1989, S. 11 f. 44 Dies nimmt Eicher, MedR 1986, S. 268, sogar für die homologe In-vitro-Fertilisation bei Ehegatten an.

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Familiengründung vermittels homologer künstlicher Insemination ist aus diesen Gründen mittlerweile allgemein akzeptiert und unterfällt bei einer evolutiven Auslegung der Konvention ihrem Art. 12. II. IPBPR Nicht nur für die Eheschließung, sondern auch bezüglich der Familiengründung verweist Art. 23 I I IPBPR auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten, das diesen Bereich regelt: "The right of men and women of marriageable age to marry and to found a family shall be recognized."

Die altersmäßige Begrenzung der Heiratsfähigkeit bezieht sich nicht nur auf die Eheschließung, sondern auch auf die Familiengründung und engt damit den Kreis der Berechtigten ein. Die weitere Ausgestaltung des Familiengründungsrechts obliegt wiederum dem nationalen Gesetzgeber, der insbesondere über die Heiratsfähigkeit den Kreis der Anspruchsberechtigten festlegt. Zwei Eckdaten sind ihm vorgegeben: Zum einen sollen nur heiratsfähige Personen Rechtsträger sein, zum anderen muß innerstaatlich zumindest Ehepaaren die Familiengründungsfreiheit zuerkannt werden. Denn ebenso wie in der E M R K ist sie eng mit der Eheschließungsfreiheit verknüpft und bildet mit ihr zusammen ein und dasselbe Recht, wie auch hier wieder der Gebrauch der Singularform „the right"/ „le droit" signalisiert. Somit wird auch im Rahmen des Paktes die Familiengründung als Folge der Heirat verstanden, wie die insoweit mit der E M R K identische Formulierung verdeutlicht. Darüber hinaus ist der nationale Gesetzgeber frei, wie weit er den Schutzbereich ausdehnen und auch Unverheiratete ausdrücklich begünstigen will. Eine Verpflichtung aus dem Pakt obliegt ihm hier allerdings nicht, denn auch in dieser Bestimmung wird das staatliche Interesse an intakten Familien berücksichtigt. 1. Das Recht auf leibliche Nachkommen

Zentraler Inhalt der Familiengründungsfreiheit ist wieder das Recht auf Nachkommenschaft, und zwar in der allein von den Eltern bestimmten Zahl. Insoweit ergeben sich keine Abweichungen zu den Ergebnissen, die bei der Untersuchung der E M R K gefunden wurden. Hingegen gewinnen auf universeller Ebene - und gerade in Ländern der Dritten Welt - zwei Problemkreise an Bedeutung, denen im europäischen Raum kaum praktische Relevanz zukam: zum einen dem Recht der Eltern auf Geburtenkontrolle, zum anderen, gewissermaßen spiegelbildlich, staatlich bestimmte und propagierte Beschränkungen der Kinderzahl.

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Das Recht, frei und verantwortlich über Zahl und zeitlichen Abstand der Kinder entscheiden zu können, wird in zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen als „Grund- und Menschenrecht" bezeichnet 45 , das u. a. aus der Familiengründungsfreiheit folge 46 . Daraus ergibt sich, daß ein staatliches Verbot jeder Geburtenkontrolle, staatliche Vertriebs verböte oder andere gezielte staatliche Maßnahmen zur Fernhaltung empfängnisverhütender Mittel gegen Art. 23 I I IPBPR verstieße. Größere Brisanz weist der umgekehrte Fall auf, nämlich eine staatlich verordnete Familienplanung, Beschränkungen der Kinderzahl oder Zwangssterilisationen. Angesichts der Überbevölkerung in weiten Teilen dieser Erde kann ein staatliches Interesse an einer konstant bleibenden oder sogar abnehmenden Bevölkerungszahl durchaus vitale Ziele verfolgen: Hunger, Armut, vorzeitige Erschöpfung nationaler Ressourcen und wirtschaftliche Unterentwicklung sind nur einige der Probleme, die sich aus stetig steigenden Bevölkerungszahlen ergeben. Es ist grundsätzlich Angelegenheit der betroffenen Staaten, welche Politik sie zur Bewältigung dieser Probleme verfolgen. Im Rahmen ihrer Bevölkerungspolitik müssen sie allerdings ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen beachten. Sie sind daher, sofern sie entsprechende Instrumente ratifiziert haben, an Ehe- und Familienschutzbestimmungen unvermindert gebunden und müssen daher den Grundsatz respektieren, daß jedes Paar über die Anzahl seiner Kinder frei entscheiden darf. Bevölkerungspolitik und Familiengründungsfreiheit sind also miteinander in Einklang zu bringen 47 . Die Interessen des Staates müssen dann zurücktreten, wenn sie nur um den Preis von Menschenrechtsverletzungen durchgesetzt werden können. Konkret stellen sich diese Probleme insbesondere dann, wenn ein Staat Familienplanung als Rechtspflicht in seine innerstaatliche Rechtsordnung übernimmt, wie dies beispielsweise Art. 49 der chinesischen Verfassung anordnet: "Both husband and wife have the duty to practise family planning."

45 S. ζ. Β. Res. X V I I I der Internationalen Konferenz für Menschenrechte (Teheran), Human Rights Aspects of Family Planning v. 12. 5. 1968, § 3; ECOSOC/E/ Res. 1854 ( L V I ) v. 23. 5. 1974, Study on the Interrelationship of the Status of Women and Family Planning. Zur Entwicklung s. Harmsen, V N 1969, S. 109 ff. 46 Dieses Recht findet sich auch in nationalen Verfassungen, z. B. Art. 191 der jugoslawischen Verfassung: "It is a human right freely to decide on family planning. This right may only be restricted for reasons of health." 47 So schon U N G A Res. 2211 (XXI) v. 17. 12. 1966, U N G A OR, 21st session, 1966: " . . . Recognizing the sovereignty of nations in formulating and promoting their own population policies, with due regard of the principle that the size of the family should be the free choice of each individual family . . . "

10 Palm-Risse

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Eine solche Pflicht zur Familienplanung ist im Grunde genommen mit einem Freiheitsrecht unvereinbar. Denn die Familiengründungsfreiheit will die Ehegatten gerade vor staatlicher Inpflichtnahme schützen; sie sollen autonom über das Ob und Wie ihrer Familienplanung entscheiden können. Legt somit schon die Statuierung einer Pflicht zur Familienplanung an sich die Ehegatten in unzulässiger Weise fest? Die Antwort hängt wesentlich von der näheren Ausgestaltung der Pflicht ab. Handelt es sich um ein striktes Gebot, das eventuell sogar mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann, so verstößt der dies anordnende Staat gegen die Familiengründungsfreiheit. Denn mit deren Wesensgehalt ist es unvereinbar, wenn Eltern für die Realisierung ihrer Familienvorstellungen belangt werden könnten, wenn beispielsweise die Geburt eines zweiten Kindes mit einem Bußgeld geahndet werden könnte. Bedenken begegnen daher die Methoden, die in China zur Durchsetzung der Ein-KindFamilie angewandt werden (China ist allerdings nicht Mitglied des IPBPR). Ehepaare, die sich verpflichten, nur ein Kind zu bekommen, werden mit Prämien, Mutterschaftsurlaub und Vergünstigungen belohnt. Während diese positiven Anreize zulässig sind, sprechen gute Gründe für die Annahme eines Verstoßes gegen die Familiengründungsfreiheit, wenn für ein zweites Kind eine Strafe zu zahlen ist, es keine Lebensmittelzuteilung und keinen Kindergartenplatz erhält 48 . Einer abschließenden Entscheidung über die Paktkonformität müßte allerdings eine sehr sorgfältige Untersuchung vorangehen, ob nicht solche Maßnahmen aufgrund einer - ausdrücklichen oder impliziten Schranke des Schutzes der Familiengründungsfreiheit zu rechtfertigen sind. Hierfür wäre eine genaue Kenntnis des tatsächlichen Hintergrundes unerläßlich, weshalb an dieser Stelle die Problematik nur allgemein aufgezeigt werden soll. Anders könnte die Rechtslage hingegen zu beurteilen sein, wenn die statuierte Pflicht als bloßer Programmsatz aufzufassen wäre, der nur die Wichtigkeit adäquater Familienplanung hervorheben will und nicht unmittelbar in die Entscheidungsfreiheit des Paares eingreift. Denn dann bestehen Zweifel, ob überhaupt ein staatlicher Eingriff in die Familiengründungsfreiheit vorliegt. Zwar erhebt auch ein als Pflicht formulierter Programmsatz Geltungsanspruch, doch liegt dieser nicht im streng rechtlichen, sondern im sittlich-moralischen Bereich. Nicht mit rechtlichen Zwangsmitteln soll dann eine Beschränkung der Kinderzahl durchgesetzt werden, sondern es soll eine gesellschaftliche Grundstimmung zugunsten kleiner Familien entstehen. Soll auf diese Weise ein Klima erzeugt werden, das kinderreiche Familien praktisch zu sozialen Außenseitern werden läßt, spricht viel dafür, dies als paktwidrig anzusehen. Denn im Wege einer gezielten Einwirkung auf die Gesellschaft würde dann der Vertragstaat wiederum - diesmal mittelbar - Zwang auf das Elternpaar ausüben. Soll hingegen die Formulierung des Programmsatzes den 48 Über solche und ähnliche Maßnahmen berichtet die Presse immer wieder, vgl. z. B. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15. 8. 1988 (Nr. 188), S. 8, Bericht von Petra Kolonko: „Viele Bauern nehmen für ein weiteres Kind auch Strafen in Kauf".

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künftigen Eltern in Erinnerung rufen, daß ihre Kinderplanung auf einer vernünftigen, bewußten Entscheidung beruhen sollte, so entspräche dies dem Geiste des Paktes und der Politik der Vereinten Nationen, deren Forderungen nach freier Selbstverwirklichung auf der Vorstellung verantwortlicher, aufgeklärter Menschen beruhen. Insofern würde die Postulierung einer Pflicht zur Familienplanung gleichbedeutend sein mit der Forderung nach einer bewußten Planung der Kinderzahl (wie diese im Endeffekt auch aussehen mag). Ein solcher Aufruf, Fortpflanzung nicht mehr als unabdingbares Fatum (der Frau) anzusehen, wäre nicht kinder- und familienfeindlich, sondern hätte eine Stärkung der Selbstbestimmung und -Verwirklichung des Menschen und damit letztlich seiner Würde zum Ziel. Gegen die Paktkonformität einer solchen Politik bestehen keine Bedenken, da sie Paare keinem Zwang aussetzt, sondern lediglich zu verantwortlichem Handeln aufruft. Nicht verwehrt ist es den Staaten daher auch, Aufklärungskampagnen durchzuführen und positive Anreize für eine Beschränkung der Kinderzahl zu schaffen, ebenso wie in unterbevölkerten Ländern kinderreiche Familien begünstigt werden und finanzielle Anreize zu einem Geburtenzuwachs beitragen sollen. Da die finanzielle und soziale Absicherung vieler Familien besonders in der Dritten Welt (zumindest auch) von einer großen Nachkommenschaft abhängt, die später den Unterhalt und die Altersversorgung der Familie bestreiten kann, könnten hier finanzielle Vergünstigungen einen Ersatz für die Arbeitskraft der Kinder darstellen und so diesen wirtschaftlichen Zusammenhang durchbrechen helfen. Als Ergebnis ist somit festzuhalten, daß Art. 23 I I IPBPR die Ausübung staatlichen Zwangs auf den individuellen Entschluß der Betroffenen über die Zahl ihrer Kinder grundsätzlich verbietet. Staatliche Bevölkerungspolitik ist ein an sich legitimes Mittel zur Steuerung des Bevölkerungszuwachses; sie muß aber in jedem Fall vor dem menschenrechtlich geschützten Freiraum des Ehepaares und der Familie Halt machen, der zu dem nicht mehr einschränkbaren Wesensgehalt des Rechts zählt 49 . 2. Adoption

Art. 23 I I IPBPR beinhaltet ebenso wie Art. JL2 E M R K in erster Linie ein Recht auf leibliche Nachkommenschaft. Ob dieses Recht auch auf andere Formen der Familiengründung erstreckt werden kann, erscheint fraglich. Denn anders als im Rahmen der E M R K verpflichtet Art. 23 IPBPR die Paktstaaten nicht zur Ermöglichung von Adoptionen. Zwar bilden Adoptiveltern und Kinder eine Familie, wie später noch zu erörtern sein wird, doch ergeben sich einmal hinsichtlich der Anerkennung des Instituts wesentliche Unterschiede zu 49

10*

Dazu sogleich, Kap. V I I , II.2.b)

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den EMRK-Staaten, zum anderen verbieten Ziel und Zweck des Paktes eine solche Auslegung. Der Grund, warum Art. 12 E M R K zur Bereitstellung eines Adoptionsverfahrens verpflichtet, liegt in erster Linie in der ausnahmslosen Akzeptanz dieses Instituts im europäischen Raum. Es steht daher ein allgemein anerkanntes und auch regelmäßig in Anspruch genommenes Verfahren zur Verfügung, mit dem kinderlcDse Ehepaare ihren Kinderwunsch und damit ihr Recht aus Art. 12 E M R K verwirklichen können. Auf universeller Ebene verhält es sich hingegen anders; in manchen Paktstaaten ist dieses Institut unbekannt 50 . Der Koran spricht sich sogar gegen Adoptionen aus 51 . Die Adoption ist folglich keine weltweit anerkannte Möglichkeit der Familiengründung. Wollte man die Adoption dennoch in den Schutzbereich des Art. 23 I I IPBPR einbeziehen, hieße das, den Mitgliedstaaten das Rechtsinstitut der Adoption vorzuschreiben: Sie müßten, wollten sie der in Art. 23 I I IPBPR niedergelegten Mindestverpflichtung entsprechen, eine ihrer Rechtsordnung ggf. fremde Rechtsfigur einführen. Dies läßt sich schon mit der Struktur des Art. 23 I I IPBPR, der weitgehend auf das nationale Recht verweist und lediglich einzelne Eckdaten aufstellt, schwer vereinbaren. Vor allem aber vermeidet es der Pakt, anderen Staaten fremde Rechtsinstitute vorzuschreiben; die internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten werden respektiert. Gerade das Gegenteil wird aber erreicht, wenn man alle Staaten zur Einführung eines Adoptionsverfahrens veranlassen will. 3. Moderne Geburtentechnologie

Die Gründe, warum Familiengründungen im Wege moderner Geburtentechnologie nicht unter die Familiengründungsfreiheit des Art. 12 E M R K fielen, gelten für Art. 23 I I IPBPR noch in weitaus größerem Maße. Eine Ausnahme gilt für die homologe künstliche Insemination, die auch hier gesondert zu berücksichtigen sein wird 5 2 . Moderne Geburtenmedizin ist weltweit weder allgemein verfügbar - in den meisten Paktstaaten bestehen derzeit keine technischen Möglichkeiten für die Anwendung solcher Methoden - noch als Weg der Familiengründung akzeptiert. Die Anwendung heterogener Methoden und der In-vitro-Fertilisation 50

Vgl. U N G A Res. 41/85 v. 3. 12. 1986, Anhang: Erklärung über die sozialen und rechtlichen Grundsätze über den Schutz und das Wohl von Kindern unter besonderer Berücksichtigung der Unterbringung in Pflegestellen und der Adoption auf nationaler und internationaler Ebene, insbes. die Präambel Abs. 7 und 10. Vgl. Chafi, RevJurPol 41 (1987), S. 358. 52 So berichtet auch Chafi, RevJurPol 41 (1987), S. 360, von zwei Fällen homologer künstlicher Insemination in Jordanien und spricht sich für die Zulassung dieser Methode aus, lehnt Weiterungen aber ab.

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begegnet auch für die Zukunft den schon erwähnten gesellschaftspolitischen Bedenken, die gerade auch in Ländern der Dritten Welt Platz greifen: Die Bereiche Geburtentechnologie und Geburtenkontrolle werden in manchen Gesellschaftsordnungen weitgehend tabuisiert, außerdem besteht ein großes Aufklärungsdefizit auf diesem Sektor (wie die Bemühungen um eine Einführung der Geburtenkontrolle zeig(t)en). Offen bleibt lediglich noch, ob ein etwaiges Verbot auch der homologen künstlichen Insemination die Familiengründungsfreiheit des Paktes verletzen würde, wie dies für Art. 12 E M R K anzunehmen war. Dies ist der Fall, wenn eine Familiengründung vermittels dieser Technik zum Wesensgehalt des Art. 23 I I IPBPR zu zählen ist. Neben ihrer Verfügbarkeit und Akzeptanz müßte dazu ihr Verbot als willkürlicher oder unverhältnismäßiger Eingriff in die vom Pakt geschützte persönliche Entscheidungssphäre erscheinen. Es fragt sich also, ob das Verbot einem gewichtigen Gemeinwohlzweck dienen könnte. Für den europäischen Bereich war ein solcher nicht ersichtlich. Doch wegen der Verschiedenheit der Vertragsparteien kann dieser Befund nicht ohne weiteres auf den Pakt übertragen werden. Es ist vorstellbar, daß beispielsweise ein Staat, dessen Gesetzgebung sich sehr stark an religiösen Lehren orientiert, eine solche Methode nicht als medizinischen Eingriff gleicher Qualität wie viele andere empfindet, sondern als unnatürlichen Eingriff ablehnt und für unvereinbar mit seinen Wertvorstellungen und Zielen hält. Das u . U . den moralischen Grundkonsens dieses Staates berührende Interesse an einem Verbot steht dann dem Interesse des Einzelnen am Schutz seiner persönlichen Entscheidung gegenüber. Daß der Pakt hier von vornherein den Staat verpflichtet, Familiengründungen vermittels einer von ihm aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnten Methode zuzulassen, kann nicht angenommen werden. Denn der Pakt will zwar einerseits die persönliche Freiheit des Individuums schützen und einen menschenrechtlichen Mindeststandard schaffen, doch andererseits ist er nationalen Eigentümlichkeiten und Wertvorstellungen gegenüber wesentlich offener als beispielsweise die E M R K , die auf den gemeinsamen Anschauungen eines homogenen Mitgliederkreises aufbauen kann. Das Bestreben, den Schutz und die Rechte des Einzelnen zu vergrößern, darf nicht dazu führen, den relativ gesicherten Menschenrechtsbestand durch eine Überdehnung des Wesensgehalts einer Bestimmung zu gefährden und für manche Staaten inakzeptabel werden zu lassen. Doch gerade diese Gefahr besteht, wenn in einem noch so neuen und ungesicherten Bereich wie dem der Geburtentechnologie den Staaten ein Weg vorgezeichnet werden soll, den diese nicht einzuhalten bereit sein könnten. Eine Erstreckung des Art. 23 I I IPBPR auf Familiengründungen unter Anwendung moderner Geburtentechnologie scheidet daher aus. Diese Vorschrift betrifft somit allein die Familiengründung im herkömmlichen Sinn.

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I I I . AmK Auch in Art. 17 I I A m K wird das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen, als ein Recht verstanden, dessen Ausgestaltung der innerstaatlichen Gesetzgebung unterliegt: "The right of men and women of marriageable age to marry and to raise a family shall be recognised if they meet the conditions required by domestic laws, in so far as such conditions do not affect the principle of non-discrimination established in this Convention."

Familiengründung wird hier ebenso wie in den bisher untersuchten Vertragswerken als Folge der Eheschließung angesehen, wie die insoweit identischen Texte und der Aufbau der Vorschriften zeigen. Somit ist vom nationalen Recht zumindest zu fordern, daß Ehepaaren das Recht auf Familiengründung gewährt wird. Welchen Regelungen ein Staat Alleinstehende oder freie Lebensgemeinschaften unterwirft, liegt hingegen auch hier wiederum in seinem Ermessen. Des weiteren stellt sich im Rahmen der A m K das Sonderproblem, ob Ehepaaren diejenigen de-facto-Ehen gleichgestellt werden müssen, die in dem dafür vorgesehenen staatlichen Verfahren anerkannt oder registriert wurden. Denn Staaten, die ein solches Anerkennungs-/Registrierungsverfahren vorsehen, könnten gehalten sein, diesen Verbindungen denselben Schutz einzuräumen wie Ehepaaren. Ihr Recht auf Familiengründung würde in diesem Fall auch von Art. 17 I I A m K besonders hervorgehoben und geschützt. Insbesondere diejenigen innerstaatlichen Regelungen, die nach der staatlichen Anerkennung der faktischen Lebensgemeinschaft auch ehetypische Folgen eintreten lassen, lassen die Anerkennung als formell erleichterte Art der Eheschließung erscheinen. Die weitgehende Gleichstellung solcher Paare mit Ehepaaren, gerade auch was die Inpflichtnahme der Partner anbetrifft, fordert eine Gleichbehandlung auch bei der Gewährleistung der Familiengründungsfreiheit. Wird also innerstaatlich die anerkannte faktische der ehelichen Lebensgemeinschaft weitgehend gleichgestellt, so kann der Staat auch international an dieser Entscheidung festgehalten werden mit der Folge, daß er diesen Verbindungen das Familiengründungsrecht ebenso explizit zuerkennen muß wie Ehepaaren. Inhalt der Familiengründungsfreiheit ist in erster Linie das Recht, frei von staatlicher Lenkung die Zahl und den Abstand der Kinder bestimmen zu können. Fraglich ist, ob darüber hinaus die Familiengründungsfreiheit einen Anspruch auf Zugang zu einem Adoptionsverfahren vermittelt. In den OAS-Staaten ist die Adoption ein allgemein anerkanntes und gesetzlich geregeltes Rechtsinstitut 53 . Insoweit ist die tatsächliche Ausgangssituation 53 In Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, finden sich unter dem jeweiligen Länderstichwort folgende Angaben: Argentinien: Adoptionsgesetz v.

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mit jener der Europaratstaaten vergleichbar, wo eine Verpflichtung der EMRK-Staaten angenommen wurde, Adoptionen als eine Form der Familiengründung i. S. Art. 12 E M R K zu ermöglichen. Im Unterschied zu Art. 12 E M R K wird im Rahmen der A m K das (innerstaatlich ausgestaltete) Recht auf Familiengründung lediglich „anerkannt", so daß die Gesetze der Mitgliedstaaten in diesem Bereich eine wesentlich bestimmendere Rolle spielen als dies bei der E M R K der Fall war, die ein von den nationalen Regelungen weitgehend unabhängiges Recht statuiert. Eine von den nationalen Adoptionsgesetzen unabhängige Garantie der Familiengründung auch im Wege der Adoption kann daher nicht angenommen werden. Während der Ausarbeitung der Konvention hatten die Vereinigten Staaten und Kolumbien vorgeschlagen, Art. 17 um einen 6. Absatz über Adoption zu erweitern: "6. The institution of adoption shall be recognized under safeguards for the child, the natural parents and the applicants." 54

Dieser Vorschlag wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt. Vor allem Chile hatte eingewandt, daß es sich bei der Regelung von Adoptionen weder um ein ernstes noch sehr bedeutsames Problem handele 55 . Daraus läßt sich einerseits folgern, daß die Adoption nach Ansicht der Delegierten nicht schon als in der Familiengründungsfreiheit enthalten ange21. 7. 1971 (83. Lieferung 1985, S. 42 ff.); Bolivien: 3. Titel des BGB (58. Lieferung 1977, S. 26 ff.); Brasilien: Gesetz Nr. 4655 über die Legitimation durch Adoption v. 2. 6. 1965 (61. Lieferung 1978, S. 43 f.); Chile: Adoptionsgesetz v. 11. 10. 1943 und Gesetz über die adoptive Legitimation v. 20. 10. 1965 (88. Lieferung 1986, S. 44 ff., 48 ff.); Costa Rica: II. Titel, 6. Kap. des FGB: „Adoptivkindschaft" (85. Lieferung 1986, S. 22 ff.); Dominikanische Republik: V I I I . Titel des BGB: Die Adoption (88. Lieferung 1986, S. 14 ff.); Ecuador: Minderjährigenschutzgesetz, 6. Kap. (81. Lieferung 1984, S. 41 ff.); El Salvador: Adoptionsgesetz v. 3. 11. 1955 (85. Lieferung 1986, S. 19 ff.); Guatemala: 6. Kap. des ZGB (48. Lieferung 1974, S. 38 ff.); Haiti: Dekret v. 25. 2. 1966 über die Einführung der Adoption (90. Lieferung 1986, S. 19 f.); Honduras: Dekret Nr. 56 über die Adoption (85. Lieferung 1986, S. 18 ff.); Kolumbien: X I I I . Titel des ZGB „Die Adoption" (57. Lieferung 1977, S. 34 f.); Kuba: III. Kap. des ZGB (59. Lieferung 1978, S. 16); Mexiko: V I I . Titel, 5. Kap. ZGB (57. Lieferung 1977, S. 34 f.); Nicaragua: Adoptionsgesetz v. 9. 3. 1960 (85. Lieferung 1986, S. 29 ff.); Panama: X I . Titel des BGB (o. J., S. 11 ff.); Paraguay: Gesetz über die Adoption v. 7. 9. 1962 (89. Lieferung 1987, S. 9 ff.); Peru: Seit Nov. 1984 neues ZGB in Kraft, das die Adoption neu regelt (84. Lieferung 1984, Vor „Peru"); USA: Uniformgesetz über die Adoption v. 1953 (80. Lieferung 1984, S. 70 ff.); Uruguay: Kap. X I I I des Kindergesetzes 1934 („Die Adoption") und Gesetz über die adoptive Legitimation v. 1945 (o. J., S. 34 ff, und 36 ff.); Venezuela: Gesetz über die Adoption v. 25. 5. 1972 (79. Lieferung 1983, S. 44 ff.). Über die übrigen OAS-Staaten (Antigua und Barbuda, Bahamas, Barbados, Dominica, Grenada, Jamaica, Saint Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Suriname, Trinidad und Tobago) lagen keine Informationen vor, doch ist anzunehmen, daß auch diese Staaten die Adoption kennen. 54 Minutes of the 10th session of Committee I (Summary version), Doc. 49, Corr. 1 v. 30. 1. 1970, in: Buergenthal/Norris, Human Rights, Booklet 12, S. 100, 102. 55 Ebenda, S. 102.

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2. Teil: Eheschutz

sehen wurde. Ebenso folgt daraus, daß nach überwiegender Ansicht die Konvention hierüber auch keine Regelung treffen sollte. Somit wird die oben vertretene Auslegung auch durch die Entstehungsgeschichte bestätigt: Aus Art. 17 I I A m K folgt kein Anspruch auf Zugang zu einem innerstaatlichen Adoptionsverfahren. Hinsichtlich der Familiengründung unter Anwendung moderner Geburtenmedizin kann im wesentlichen auf die Erörterung dieser Problematik bei der Untersuchung des Art. 23 I I IPBPR verwiesen werden 56 . Es bleibt abzuwarten, wie sich die vielfach vom Katholizismus beeinflußten Rechtsordnungen der lateinamerikanischen Staaten auf dem Sektor der Geburtentechnologie verhalten werden. Jedenfalls scheint hier ein Grundkonsens zumindest bezüglich der unproblematischsten Form dieser neuen Techniken, der homologen künstlichen Insemination, eher erreichbar zu sein als weltweit. Derzeit kann allerdings die Familiengründung unter Anwendung dieser Methode noch nicht zum Wesensgehalt des Art. 17 I I A m K gerechnet werden; auch hier darf den Staaten nicht die Entscheidung vorweggenommen werden, wie sie ihre Politik auf diesem neuen Gebiet ausrichten wollen. Art. 17 I I A m K betrifft daher nur die Gründung einer leiblichen Familie auf dem herkömmlichen Weg.

I V . Zusammenfassung und Ergebnis E M R K und IPBPR beziehen übereinstimmend die Familiengründungsfreiheit nur auf Ehepaare. Dies ergibt sich aus dem engen Zusammenhang mit dem Eheschließungsrecht: Beide Freiheiten werden in allen Verträgen als zwei Komponenten ein und desselben Rechts behandelt. Die Familiengründungsfreiheit der A m K umfaßt, auf die Besonderheiten des lateinamerikanischen Rechtskreises eigehend, darüber hinaus auch faktische Ehen, die nach innerstaatlichem Recht einer formell geschlossenen Ehe gleichgestellt sind. Kern der Familiengründungsfreiheit ist das Recht, frei und ohne staatlichen Druck über die Zahl der Kinder entscheiden zu können ebenso wie über den entsprechenden Zeitpunkt. Im Rahmen des IPBPR und der A m K beschränkt sich das Familiengründungsrecht auf leibliche Kinder. Denn auf universeller Ebene ist das Institut der Adoption nicht einhellig anerkannt, so daß die Vertragstaaten des Paktes nicht zur Einführung dieses Instituts verpflichtet sind. Die lateinamerikanischen Rechtsordnungen sehen zwar Regelungen über die Adoption vor, doch sollte nach dem Willen der mit der Ausarbeitung der A m K betrauten Delegierten die Konvention keine Regelung über die Familiengründung im Wege der Adoption treffen. Aus der A m K folgt daher ebenfalls kein Anspruch auf Zugang zu einem innerstaatlichen Adoptionsverfah56

S. dieses Kapitel, Abschnitt II.3.

6. Kap.: Recht auf Familiengründung

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ren. Anders verhält es sich bei der EMRK. Da in allen Staaten des Europarats eingespielte nationale Adoptionsregelungen vorhanden sind, begrenzt sich die Verpflichtung der Konventionsstaaten auf die Nichtabschaffung der bestehenden Regeln. Ein derart minimales staatliches Tun kann auch im Rahmen eines Abwehrrechts verlangt werden, wenn dadurch ein Konventionsrecht deutlich an Effektivität gewinnt. Die Familiengründungsfreiheit der E M R K erstreckt sich daher auch auf den Zugang zum nationalen Adoptionsverfahren. Die Familiengründung im Wege moderner Geburtentechnologie unterfällt, soweit sie heterologe Methoden betrifft, nicht den in den untersuchten Verträgen niedergelegten Familiengründungsgarantien. Etwas differenzierter ist das Bild bei homologen Techniken. So ist im europäischen Bereich die homologe künstliche Insemination mittlerweile allgemein akzeptiert und wird bei einer evolutiven Auslegung der Familiengründungsfreiheit der E M R K von ihr umfaßt. In Lateinamerika und auf universeller Ebene allerdings schließt das Familiengründungsrecht den Gebrauch weder homo- noch heterologer Methoden ein.

Siebentes Kapitel Die Schranken der Eheschließungsund Familiengründungsfreiheit I. EMRK Art. 12 E M R K ist nicht mit einer ausdrücklichen Schrankenregelung versehen worden wie andere Konventionsrechte, z. B. Art. 8 EMRK. Doch schon angesichts des Wortlauts mit seinem Verweis auf die „national laws governing the exercise of this right"/,, lois nationales régissant l'exercice de ce droit" kann ein schrankenlos gewährleistetes Recht realistischerweise nicht angenommen werden 1 . Der einschränkende Verweis auf das nationale Recht bezieht sich dabei nicht nur auf die Familiengründung, wie es die deutsche Übersetzung nahelegen könnte, sondern ebenso auf die Eheschließungsfreiheit, wie aus den beiden authentischen Fassungen folgt 2 . Die entscheidenden Fragen richten sich nun auf den Umfang der staatlichen Regelungskompetenz und die Anforderungen, die ein i. S. Art. 12 E M R K „einschlägiges" Gesetz erfüllen muß. Denn aus dem Wortlaut des Art. 12 ebenso wie aus seinem Sinn und Zweck folgt, daß die innerstaatliche Regelungskompetenz ihrerseits wiederum nicht uneingeschränkt gilt, sondern ihre Grenze an dem Wesensgehalt des Rechts findet: Die nationalen Gesetze „regeln" nur die Ausübung des Rechts; eine weitergehende Bedeutung kommt ihnen nicht zu. Eine bloße Regelung der Ausübung liegt aber dann nicht mehr vor, wenn in den Wesensgehalt des Rechts eingegriffen wird. Die Wesensgehalt-Grenze folgt also aus dem Gesetzesvorbehalt selbst, da andernfalls nicht nur die Ausübung des Rechts, sondern die Garantie selbst nationalem Belieben unterstellt wäre. Wollte man also eine umfassende, grenzenlose Ausfüllung des Rechts durch die nationale Gesetzgebung zulassen, würde schon der Schutzbereich des Rechts vollständig von seiner Ausformulierung durch innerstaatliche Gesetze abhängig sein mit der Folge, daß Art. 12 E M R K nur dann verletzt wäre, wenn gegen die entsprechenden nationalen Gesetze verstoßen würde 3 . 1

Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 330. Frowein/Peukert, Art. 12 Rn. 1; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 330 §§ 1, 2; Partsch, E M R K , S. 213 Fn. 719; Castberg, ECHR, S. 140; Jacobs, ECHR, S. 162; Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 190; Fawcett, Application, S. 225; Schorn, E M R K , S. 263 § 1; Guradze, E M R K , S. 176 § 4; Pernthaler/Kathrein, EuGRZ 1983, S. 507. 2

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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Eine so weitgehende Abhängigkeit vom nationalen Recht stünde auch dem Ziel der Konvention entgegen, einen menschenrechtlichen Mindeststandard festzuschreiben. Denn ein gesicherter Standard kann nicht durch einen Verweis auf die jederzeit abänderbare innerstaatliche Gesetzgebung erreicht werden. Vielmehr muß ihn die Konvention selbst unabhängig vom nationalen Recht garantieren und damit der staatlichen Disposition entziehen. Nur dann, wenn der nationale Gesetzgeber diesen Wesensgehalt repektieren muß, wird eine mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbare Aushöhlung der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit vermieden 4. So zählt es auch zu der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofes hinsichtlich der die Ausübung der Eheschliessungs- und Familiengründungsfreiheit regelnden nationalen Gesetze, daß " . . . the limitations thereby introduced must not restrict or reduce the right in such a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired." 5

Schon lange vor dem Inkrafttreten der E M R K kannte das Eherecht der europäischen Staaten traditionell Vorschriften über die Ehemündigkeit, Eheverbote oder das Eheschließungs verfahren. Mit den Garantien der E M R K sollten nun völkerrechtlich verbindliche Mindestgarantien eingeführt werden, um die Rechte der nationalen Verfügungsgewalt zu entziehen. Doch kann nicht davon ausgegangen werden, daß zugleich eine umfassende Reform oder Revision der innerstaatlichen Rechtsordnungen bezweckt war 6 . Dies allerdings schließt partielle, punktuelle Änderungen und Anpassungen der nationalen Gesetzgebung nicht aus, sofern dies ein effektiver Schutz der Konventionsgarantien erforderlich macht. 3

Jacobs, ECHR, S. 162. KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (14 § 60); KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (78 § 47): "As to the general question of interpretation it is clear that Art. 12 guarantees a fundamental 'right to marry'. Whilst this is expressed as a 'right to marry . . . according to the national laws governing the exercise of this right', this does not mean that the scope afforded to national law is unlimited. If it were, Art. 12 would be redundant. The role of national law, as the wording of the article indicates, is to govern the exercise of the right." Ebenso Jacobs, ECHR, S. 162. 5 E G M R , Urt. v. 17. 10. 1986, Fall Rees, Ser. A , Vol. 106, S. 19 § 50; ebenso EGMR, Urt. v. 18. 12. 1987, Fall F ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 16 § 32. Schon wesentlich früher befand der Gerichtshof im Belgischen Sprachenfall, Urt. v. 23. 7. 1968, Ser. A , Vol. 6, S. 32 § 5, zur Ausfüllung des Rechts auf Bildung (Art. 2 ZP) durch innerstaatliche Gesetzgebung: "The right to education . . . by its very nature calls for regulation by the State, regulation which may vary in time and place according to the needs and ressources of the community and of individuals. It goes without saying that such regulation must never injure the substance of the right to education nor conflict with other rights enshrined in the Convention." Bestätigt wurde dies auch in E G M R , Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 18 f. § 38 für Art. 6 E M R K , der ebenfalls keine ausdrückliche Schranke enthält. 6 Bernhardt, Fschr. Mosler, S. 78. 4

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2. Teil: Eheschutz

Gegen nationale Regelungen über die Ausübung der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit bestehen demnach grundsätzlich solange keine Bedenken, wie sie nicht den Wesensgehalt des Art. 12 E M R K tangieren. Wie schon früher die Kommission 7 erkannte auch der Gerichtshof kürzlich die grundsätzliche Unbedenklichkeit herkömmlicher formeller und materieller Regelungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit ausdrücklich an: "In all the Council of Europe's member States, these 'limitations' appear as conditions and are embodied in procedural or substantive rules. The former relate mainly to publicity and the solemnisation of marriage, while the latter relate primarily to capacity, consent and certain impediments." 8

Wie es um die Konventionsmäßigkeit der wichtigsten Regelungen im europäischen Rechtskreis im einzelnen bestellt ist, soll die anschließende Untersuchung klären. 1. Formvorschriften

Im Folgenden sollen zunächst die gängigsten Formvorschriften im Bereich des Eherechts auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 12 E M R K überprüft werden. a) Eheschließung In allen Konventionsstaaten muß bei der Eheschließung ein festgelegtes Verfahren eingehalten werden. Diese Formvorschriften stellen von ihrem Ansatz und Regelungsziel her keine Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit dar, sondern sollen den ordnungsgemäßen, reibungslosen Verfahrensablauf sicherstellen. Zumeist haben sie eine lange Tradition und finden sich übereinstimmend in allen europäischen Staaten. Nach den von den Konventionsorganen formulierten Voraussetzungen erscheint der Zwang zur Einhaltung eines bestimmten Verfahrens, der Publizität des Aufgebots etc. unbedenklich 9 , soweit die entsprechenden Vorschriften nicht diskriminierende Wirkung haben oder den Wesensgehalt antasten, indem sie eine Eheschließung aus praktischen Gründen unmöglich machen oder ungewöhnlich und substantiell erschweren. So würden Art. 12, 14 E M R K es beispielsweise gebieten, staatliche Alternativen zur kirchlichen Eheschließung zu schaffen, 7

KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (79 § 49) sowie KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (14 § 62); zuletzt s. auch die Ansicht der Kommission im Fall F ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 24 f. § 58. S. auch Hornyik, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Rechtsprechung, S. 518. « EGMR, Urt. v. 18. 12. 1987, Fall F ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 16 § 32. 9 K E v. 18. 12. 1974 zu Β 6167/73, X ./. Bundesrepublik, D R 1, S. 64 ff. (65); van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 330 § 2; Sieghard, S. 204; Pernthaler/Kathrein, EuGRZ 1983, S. 508.

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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um auch Nichtmitgliedern von Religionsgemeinschaften die Eheschließung zu ermöglichen; ansonsten läge eine religiös motivierte Diskriminierung vor 1 0 . Oft müssen Ausländer vor ihrer Heirat ein behördliches Zeugnis ihres Heimatlandes beibringen, daß der Eheschließung nach dortigem Recht kein Ehehindernis entgegensteht11. Da die Konvention nicht zwischen Aus- und Inländern unterscheidet, ersteren also auch in vollem Umfang die Eheschließungsfreiheit zusteht, fragt es sich, ob durch das geforderte Ehefähigkeitszeugnis eine sachlich unbegründete Erschwerung der Heirat bewirkt wird. Dabei ist zu bedenken, daß regelmäßig auch bei Inländern das Vorliegen von Ehehindernissen überprüft, also eine ganz ähnliche Form Vorschrift beachtet wird. Das Ehefähigkeitszeugnis dient dabei der Vereinfachung 12 , da damit ein Einstieg in eine fremde Rechtsmaterie und möglicherweise komplizierte Nachforschungen im Ausland entbehrlich werden. Somit ist die Forderung nach einem Ehefähigkeitszeugnis für Ausländer an sich nicht konventionswidrig 13 . Problematisch erscheint es aber, wenn auf diese Weise ein Mitgliedstaat ein nach ausländischem Recht bestehendes Ehehindernis anwenden müßte, das seinerseits nicht konventionsgemäß ist. Handelt dann der Staat konventionswidrig, der sich ein solches Ehefähigkeitszeugnis vorlegen läßt und daraufhin die Ehe nicht schließt? In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, ob der Konventionsstaat in einem solchen Fall gegen einen „europäischen ordre public" verstößt 14 . In der Tat sind die „ordre public" -Klauseln im internationalen Privatrecht der Staaten regelmäßig die Ansatzpunkte, über die Grund- und Menschenrechte in das internationale Privatrecht einfließen 15 . Dennoch braucht dem Begriff eines möglicherweise durch die E M R K geprägten „europäischen ordre public" in dem hier erörterten Zusammenhang nicht im einzelnen nachgegangen zu werden 16 . Denn die international-privatrechtlichen „ordre public"-Klauseln der Staaten haben die Funktion, die Geltung bestimmter fremder, die Beziehungen der Privaten untereinander betreffenden Vorschriften auszuschließen, wenn deren Wirkungen im Einzelfall unerwünscht sind oder als nicht hinnehmbar erachtet werden 17 . Die Verweigerung der Vornahme einer Eheschließung ist demgegenüber kein zu den privatrechtlichen Beziehungen der Partner untereinander zu rechnender Akt, sondern als pri10

Partsch, E M R K , S. 214; Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 191. Vgl. ζ. Β. § 10 EheG der Bundesrepublik. !2 Guradze, E M R K , S. 180; Schorn, S. 270 § 5. 13 Partsch, E M R K , S. 216; Guradze, E M R K , S. 180. 14 Partsch, E M R K , S. 217. 15 Β G H Z 60, S. 68 ff. (78); Palandt, BGB, Vorbem. vor Art. 7 EGBGB Rn. 15 sowie zu Art. 30 EGBGB Rn. 2 d m.w.N. 16 S. dazu ausführlich Ganshof van der Meersch, La Convention européenne, S. 167 f. 17 Ganshof van der Meersch, La Convention européenne, S. 183 ff. 11

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2. Teil: Eheschutz

vatrechtsgestaltender Verwaltungsakt unmittelbar Ausdruck hoheitlichen Handelns. Bei der Entscheidung sind die Konventionsstaaten unmittelbar an die Vorschriften der E M R K gebunden. Wenn ein Konventionsstaat im Hinblick auf ein von einem Drittstaat unter der Konvention widersprechenden Umständen verweigertes Ehefähigkeitszeugnis die Eheschließung vor seinen Organen ablehnt, so wirkt er unmittelbar daran mit, den Partnern ihr durch die Konvention garantiertes Eheschließungsrecht zu verweigern. Die an sich konventionsneutralen Regelungen seines Personenstands- und Familienrechts führen dann im Einzelfall unmittelbar zu einer Konventionsverletzung, da sie auf eine fremde - in concreto menschenrechtsverletzende - Rechtsordnung bzw. eine nach dieser Rechtsordnung menschenrechtsverletzend getroffene Entscheidung verweisen. b) Familiengründung Formvorschriften betreffend die Familiengründung sind nach der hier vertretenen Auffassung, derzufolge Art. 12 E M R K auch den Zugang zu einem Adoptionsverfahren garantiert, etwa die formellen Voraussetzungen und das Verfahren der Adoption; beides ist innerstaatlich festzulegen. 2. Materielle Vorschriften

Wesentlich brisanter als Formvorschriften sind substantielle Regelungen bezüglich der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit, da sie tendenziell eher zu einer Beschränkung des Kreises heiratsfähiger Personen führen. Im Bereich der Eheschließungsfreiheit gehören hierzu vor allem Eheverbote, auf die im einzelnen näher eingegangen werden soll. Einige dieser Eheverbote sind dem europäischen Ehebild inhärent und können daher schon von vornherein keinen Verstoß gegen die Konvention beinhalten, da diese ja ihrerseits auf dem europäischen Ehebild aufbaut. So führt beispielsweise das europäische Konzept der Einehe zwangsläufig zu dem Verbot, verheirateten Personen während der Bestandszeit ihrer ersten Ehe eine zweite Eheschließung zu gestatten. Andere substantielle Regelungen wie etwa die Wartezeit nach vorangegangener Ehe lassen unter den heutigen Gegebenheiten Zweifel an ihrer Notwendigkeit aufkommen, so daß sie als ungerechtfertigte Einschränkungen des in Art. 12 E M R K garantierten Rechts erscheinen. Fraglich ist nun, nach welchen Kriterien die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit solcher Vorschriften beurteilt werden soll. Die Kommission läßt alle „rules of substance" zu, die auf „generally recognised considerations of public interest" beruhen 18 . Das bedeutet, daß die im europäischen Raum traditionell « KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (79 § 48) sowie KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (14 § 61).

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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bestehenden Eheverbote, beispielsweise zwischen engen Blutsverwandten, weiter bestehen bleiben, sofern ein allgemein anerkanntes öffentliches Interesse an ihrer Beibehaltung besteht. Das Erfordernis allgemeiner Anerkennung eröffnet dabei die Möglichkeit, neuere Entwicklungen zu berücksichtigen und hergebrachte Ehehindernisse im Lichte der heutigen Zeitumstände neu zu überprüfen. Wird dabei festgestellt, daß ein früher übliches Eheverbot mehrheitlich nicht mehr akzeptiert wird, so entspricht es ungeachtet eines von dem betreffenden Staat angeführten öffentlichen Interesses nicht mehr den Anforderungen der Konvention. Dürfen somit die Konventionsstaaten neben Formvorschriften grundsätzlich auch substantielle Regelungen erlassen bzw. beibehalten, sofern sie die soeben geschilderten Voraussetzungen erfüllen und nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen 19 , so findet dieser Freiraum seine Grenze dort, wo in den Wesensgehalt der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit eingegriffen wird. Diese Grenze ist insbesondere dann überschritten, wenn einer Person oder Personengruppe ihr Recht aus Art. 12 E M R K vollständig genommen oder substantiell beschränkt würde 20 . a) Eheverbote Während einige Eheverbote aufgrund ihrer allgemeinen Akzeptanz und ihrer fast offensichtlichen Notwendigkeit oder ihrer ebenfalls offensichtlichen Unzulässigkeit kaum Fragen aufwerfen, geben andere Regelungen Anlaß zu Zweifeln, ob sie sich nicht auf mittlerweile überholte Anschauungen gründen und daher nicht (mehr) konventionsgemäß sind. Vor allem auf diese „Grauzone" soll näher eingegangen werden. Zweifelsohne konventionswidrig wären so etwa Verbote, Angehörige bestimmter Rassen oder Konfessionen zu heiraten, oder eine Bestimmung, die die Heirat von der finanziellen Lage des Paares abhängig machte (Art. 12 i.V.m. Art. 14 E M R K ) 2 1 . Ebenso unzweifelhaft zulässig sind so klassische Eheverbote wie Bigamie und Blutsverwandtschaft 22. Sie sind in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten fest verankert, und es läge fern anzunehmen, daß die Konvention daran etwas ändern wollte 23 . Eben diese beiden Eheverbote führte auch die Kommission als Beispiele für zulässige Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit 19

Partsch, EMRK, S. 214; Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 191. Zum Wesensgehalt eingehend unten, in diesem Kapitel, Abschnitt 1.3. 21 Partsch, E M R K , S. 214. 22 Sieghard, S. 204; Partsch, E M R K , S. 215; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 331 § 2; s. dazu auch Gernhuber, Familienrecht, S. 100 § 1 und S. 96 §§ 1, 2; Schorn, E M R K , S. 269 § 3; Pernthaler/Kathrein, EuGRZ 1983, S. 508. 23 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 331 § 2. 20

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2. Teil: Eheschutz

an 24 . Erfolglos rügte daher auch ein pakistanischer Strafgefangener das Verhalten der britischen Behörden, die ihm die Eheschließung im Gefängnis mit der britischen Mutter seines Kindes verwehrten. Der Grund hierfür war, daß er in Pakistan verheiratet war und nach englischem Recht Bigamie ein wirksames Ehehindernis ist 25 . Solche zulässigen Eheverbote, namentlich das der Bigamie, können auch Bedeutung gewinnen für den - aus europäischer Sicht - kulturellen Außenseiter, dessen Heimatrecht polygame Verbindungen zuläßt und der nun in einem Konventionsstaat eine zweite oder dritte Ehefrau nehmen möchte. Art. 12 E M R K gewährt ihm keinen dahingehenden Anspruch, da danach die Vertragstaaten gerade nicht zur Zulassung der Bigamie verpflichtet sind. Ob eine solche Heirat möglich ist, beurteilt sich demnach allein nach den nationalen Gesetzen der Mitgliedstaaten (die ja über den EMRK-Schutz hinausgehen können) 26 . Doch wie verhält es sich, wenn die Vielehe schon im Heimatland des Ausländers geschlossen wurde und er sich mit seinen Ehefrauen nunmehr legal in einem Mitgliedstaat aufhält oder er sie in einen EMRK-Staat nachreisen lassen will - ist dieser dann verpflichtet, sämtlichen Ehefrauen die aus ihrem Status resultierenden Vergünstigungen zu gewähren? Ausgangspunkt ist der Ehebegriff der E M R K , der nur das europäisch geprägte Eheverständnis, die Einehe, umfaßt. Nur diese Form des Zusammenlebens ist also unter den Schutz des Art. 12 E M R K gestellt, nur „Zweierbeziehungen" können also seine Garantien in Anspruch nehmen. Demnach gebietet Art. 12 E M R K nicht eine Anerkennung des Status der Zweitehefrauen. Dies EMRK-Staaten können sie daher weniger begünstigen als die erste Ehefrau des Betroffenen, ohne sich dem Vorwurf konventionswidrigen Verhaltens auszusetzen27. Ob dies ebenso uneingeschränkt auch dann gilt, wenn der Schutz des Familienlebens mit Kindern aus polygamer Ehe in Rede steht, wird später noch zu erörtern sein. Umgekehrt verstößt ein Mitgliedstaat dann, wenn er dies dennoch - freiwillig - tut, ebensowenig gegen die Konvention. Ein Verstoß könnte allenfalls darin gesehen werden, daß ein Staat, der im Ausland geschlossene Mehrehen anerkennt und beispielsweise Zweitehefrauen die aus ihrem personenrechtlichen Status resultierenden Ansprüche (z. B. auf Unterhalt) zuerkennt, Poly24 KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (79 § 48) sowie KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (14 § 61). 25 K E v. 22. 7. 1970 zu Β 3898/68, X ./. U K , CoD 35, S. 102 ff. (108). 26 K E v. 22. 7. 1970 zu Β 3898/68, X ./. U K , CoD 35, S. 102 ff. (108). In der Bundesrepublik verstieße dies beispielsweise gegen den „ordre public" (Art. 30 EGBGB), BVerwG, JZ 1985, S. 740 m.w.N. 27 So das BVerwG, JZ 1985, S. 741, für die insoweit vergleichbare Problematik bei Art. 6 I GG. Ebenso Kimminich, JZ 1985, in seiner Anmerkung zu diesem Urteil; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 332 § 3.

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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garnie in gewissem Umfang unterstützt. Daß die europäische Rechtstradition Polygamie nicht als erstrebenswerte Form des Zusammenlebens ansieht, weil sie der Verwirklichung bestimmter Grundsätze entgegensteht, denen sich die EMRK-Staaten verpflichtet fühlen (etwa der Gleichberechtigung), soll hier nicht bestritten werden. Ein Konventionsverstoß setzte aber voraus, daß die E M R K die Mehrehe verurteilt, so daß ihre Anerkennung der Konvention zuwiderliefe. Doch dies kann allein der Tatsache, daß sie nicht dem Schutzbereich der Konvention unterfällt und daß sie manche europäischen Wertvorstellungen nicht ausreichend berücksichtigt, nicht entnommen werden. Auch angesichts der Entwicklung, daß nunmehr Formen des Zusammenlebens geduldet werden, die früher als sittlich verwerflich galten (nichteheliche Lebensgemeinschaften), kann eine in anderen Rechtsordungen traditionell bestehende Eheform nicht mit einem solchen Makel behaftet werden, daß jede Anerkennung schlechthin verboten wäre. Auch ein - wie auch immer gearteter - „europäischer ordre public" könnte daher die freiwillige Berücksichtigung solcher Rechtsbeziehungen zwischen den Partnern nicht ausschließen, da Polygamie auch für europäische Maßstäbe keine schlechthin untragbare, verurteilungswürdige Eheform ist 28 . Zwar liegen den Regelungen der E M R K europäische Wertvorstellungen zugrunde; im Einklang mit ihnen wurden bestimmte Rechtsgüter unter Schutz gestellt, andere nicht. Wird nun einerseits die europäische Einehe mit besonderen Garantien ausgestattet, so bedeutet dies nicht, daß nun umgekehrt alle anderen Formen des Zusammenlebens als untragbar abqualifiziert würden; sie werden nur im Rahmen der Konvention nicht ausdrücklich geschützt. Es ist daher der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaates (und seinem ordre public) vorbehalten, inwieweit er Mehrehen akzeptiert und berücksichtigt. Weitere typische Eheverbote sind die der Verwandtschaft, der Schwägerschaft und des Adoptionsverhältnisses, denen eine ähnliche ratio zugrundeliegt - wenn auch in abgeschwächter Form - wie dem Eheverbot der Blutsverwandtschaft. Auch diesen Eheverboten liegen anerkannte sachliche Erwägungen zugrunde, wenn ein enges Verwandtschafts- oder Eltern-Adoptivkindverhältnis als grundsätzlich unvereinbar mit dem Ehestatus angesehen wird. Wegen dieser sachlichen Gründe sind auch im Hinblick auf Art. 14 E M R K , der an sich auch Diskriminierungen aufgrund des „sonstigen Status" verbietet, diese Eheverbote nicht unzulässig29. Von den letztgenannten Eheverboten sind nach vielen Rechtsordnungen Befreiungen möglich 30 . Es handelt sich dann nicht um absolute, sondern um 28 Ähnlich BVerwG, JZ 1985, S. 741. Zur Situation in der Bundesrepublik BVerwG, a.a.O., S. 740 m.w.N. 29 Partsch, E M R K , S. 215. 11 Palm-Risse

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2. Teil: Eheschutz

relative Eheverbote. Diese Befreiung macht das zulässige, gerechtfertigte Eheverbot für die Betreffenden gegenstandslos, wirkt also begünstigend. Befreiungen sind daher nicht als zusätzliche Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit zu bewerten, da sie auf einem Gebiet erteilt werden, auf dem die Staaten durch die Konvention ohnehin nicht zur Heiratserlaubnis verpflichtet sind. Bei anerkannten, typischen Eheverboten steht es den Vertragstaaten also frei, sie entweder als abstrakte oder relative Verbote festzulegen 31. Als ziemlich antiquiert im Zeitalter moderner Geburtentechnologie erscheint das Ehehindernis der Wartezeit für Frauen nach früherer Ehe, das viele Staaten für eine bestimmte Zeit nach Beendigung der ersten Ehe (meist zehn Monate) aussprechen 32. Indem ein in diesem Zeitraum geborenes Kind rechtlich dem früheren Ehemann zugeordnet wird, soll die Ungewißheit über seine Abstammung beseitigt werden 33 . Damit liegt der sachliche Unterscheidungsgrund für Männer und Frauen auf der Hand: Er liegt in der Gebärfähigkeit der Frauen. Dennoch könnte dieses Ehehindernis in unzulässiger Weise diskriminierend wirken. Denn als weitere Vergleichsgruppe bieten sich diejenigen Frauen an, die unverheiratet waren und daher der Wartezeit nicht unterliegen, unbesehen ob von ihrem künftigen Ehemann oder einem Dritten schwanger oder nicht. Der verbotene Anknüpfungspunkt wäre dann der des „sonstigen Status", nämlich des vormaligen Verheiratetseins. Allerdings ist auch hier ein sachlicher Differenzierungsgrund ersichtlich: Er liegt in dem Schutz der Beziehung des ersten Mannes zu seinem in ehelicher Lebensgemeinschaft gezeugten, leiblichen Kind, also der Vermeidung einer „turbatio sanguinisDa Staaten die eheliche Lebensgemeinschaft unter stärkeren Schutz stellen dürfen als die nichteheliche, also auch die daraus resultierenden Rechtsbeziehungen vermehrt schützen können, bestehen gegen die Bevorzugung des verheirateten Vaters keine Bedenken. Doch auch bei Vorliegen eines sachlichen Grundes kann eine die Eheschließungsfreiheit einschränkende Regelung nur dann Bestand haben, wenn sie verhältnismäßig ist, d. h. ein angemessenes Verhältnis zwischen der Maßnahme und dem damit verfolgten Zweck besteht 34 . Dabei wird den EMRKStaaten bei der Behandlung vergleichbarer Gruppen ein gewisser Spielraum 30

Z. B. §§ 4, 7 des EheG der Bundesrepublik; §§ 6-14 des österreichischen EheG. Partsch, E M R K , S. 215. 32 Eine Zusammenstellung bietet Juris Classeur de Droit International, Vol. 6, Fase. 546-A: Mariage, §§ 114 f., und Scholl, Das Eheverbot der Wartezeit, S. 26 ff. und S. 127: Danach gab es bis auf die anglo-amerikanischen und kommunistischen Staaten überall dieses Ehehindernis, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung. 33 Ambrock, EheG, § 8 Rn. 1; Hoffmann-Stephan, EheG, § 8 Rn. 5; Scholl, Das Standesamt 1973, S. 154. 34 Ständige Rspr., vgl. E G M R , Urt. v. 28. 11. 1984, Fall Rasmussen, Ser. A , Vol. 87, S. 14 § 38; Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 16 § 33; Frowein/ Peukert, Art. 14, Rn. 22. 31

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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bei der Beurteilung der Frage (margin of appreciation) zugestanden, inwieweit die Besonderheiten des Einzelfalles auch eine abweichende rechtliche Behandlung erfordern 35 . Einer der relevanten Entscheidungsfaktoren ist hierbei das Vorhandensein oder Fehlen ähnlicher Regelungen in anderen Mitgliedstaaten36. Die Verhältnismässigkeit des Ehehindernisses ist hier vor allem im Hinblick auf seine Geeignetheit zweifelhaft: Ist es ein geeignetes Mittel zur Klärung der biologischen Abstammung? Erreicht werden kann eine Klärung ohnehin nur im Sinn einer widerleglichen Vermutung; nicht ausgeschlossen sind spätere Vaterschafts- oder Anfechtungsklagen. Allerdings liegt zunächst eine klare Zäsur vor, anhand derer entschieden werden kann, wer als Vater des Kindes anzusehen ist. Seinen Zweck - die Verhinderung der turbatio sanguinis - kann dieses Eheverbot nur dann erfüllen, wenn die Frau nicht schon während ihrer ersten Ehe Beziehungen zu ihrem künftigen (zweiten) Mann unterhalten oder unmittelbar nach Beendigung ihrer ersten Ehe aufgenommen hat 37 . Bezieht man die Dispensmöglichkeit mit ein, kommt hinzu, daß die Frau den Vater des Kindes kennen und dies auch wahrheitsgemäß mitteilen muß. Statistischen Untersuchungen zufolge stammen in der Wartezeit geborene Kinder ganz überwiegend von dem neuen Ehemann ab 38 , so daß aus diesem Blickwinkel die Wartezeit in den meisten Fällen als überflüssig erscheint. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände und Unsicherheitsfaktoren bleiben erhebliche Bedenken an der Geeignetheit dieses Ehehindernisses bestehen39. Bei der Beurteilung der Schwere des Eingriffs ist zu bedenken, daß das Ehehindernis nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit gilt und zudem regelmäßig die Möglichkeit der Befreiung besteht 40 . Derzeit wird man angesichts der Tatsache, daß in einem Großteil der EMRK-Staaten - wenn auch mit abnehmender Tendenz - vergleichbare Wartezeiten gelten, noch nicht von einer Konventionswidrigkeit dieses Ehehindernisses der Wartezeit nach vorangegangener Ehe ausgehen können. Wie lange dies noch so bleibt, hängt in erster Linie von der Entwicklung des nationalen Eherechts der Mitgliedstaaten und der Akzeptanz dieses Ehehindernisses ab. 35 E G M R , Urt. v. 28. 11. 1984, Fall Rasmussen, Ser. A , Vol. 87, S. 15 § 40, ständ. Rspr., vgl. die zahlreichen Nachweise im Urteil Rasmussen, a.a.O. 36 E G M R , Urt. v. 28. 11. 1984, Fall Rasmussen, Ser. A , Vol. 87, S. 15 § 40. 37 Scholl, Das Eheverbot, S. 127. 38 Scholl, Das Eheverbot, S. 61 ff. und S. 127. 39 Guradze, E M R K , S. 180 § 13; Gernhuber, Familienrecht, S. 103; Scholl, Das Eheverbot, S. 127; Böhmer, Das Standesamt 1975, S. 8. A . A . Schorn, E M R K , S. 270 § 4; Müller-Gindullis, Münchner Kommentar, Bd. 5, zu § 8 EheG, Rn. 2. 40 In der Bundesrepublik beispielsweise soll der Standesbeamte die Befreiung nur dann versagen, wenn ihm bekannt ist, daß die Ehefrau von ihrem früheren Mann ein Kind erwartet, § 14 PStG A V O . Nach Scholl, Das Standesamt 1973, S. 154, wurde bei den Standesämtern Bonn, Hamburg und München in 1765 Fällen der Dispens nur einmal verweigert. 11*

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2. Teil: Eheschutz

Dieser große Einfluß der Entwicklung in den nationalen Eherechten führt zu einer anderen Beurteilung des eng mit dem Ehehindernis der Wartezeit der Frau nach früherer Ehe verwandten Ehehindernisses der Wartezeit nach schuldig geschiedener Ehe („Scheidungsstrafe"). Auch hier stellt sich die Frage, ob dieses Hindernis an Art. 12, 14 E M R K scheitert, da eine Ungleichbehandlung aufgrund des „sonstigen Status" vorliegt, nämlich des schuldig Geschiedenseins. Dem könnte allerdings von vornherein entgegenstehen, daß die Konventionsstaaten nicht zu einer Zulassung der Ehescheidung verpflichtet sind, die Konvention also kein „Recht auf Wiederheirat" gewährt 41 . Demgegenüber stellt es folglich ein „Mehr" an Rechten dar, wenn innerstaatlich die Scheidung und damit die Wiederheirat - wenn auch nach einer Wartezeit - möglich ist. Gegen diese Argumentation spricht jedoch, daß Geschiedenen das Eheschließungsrecht wieder in vollem Umfang zusteht mit der Folge, daß staatliche Regelungen die Wesensgehaltsgrenze zu beachten und dieses Recht diskriminierungsfrei zuzugestehen haben 42 . Die temporäre Beschränkung der Eheschließungsfreiheit ist mithin nur dann konventionskonform, wenn sie weder willkürlich noch unsachlich ist 43 . Ziel eines solchen zeitweiligen Wiederverheiratungsverbotes ist der Schutz des Instituts der Ehe, indem es dem schuldig Geschiedenen sein Fehlverhalten nachhaltig vor Augen führt. Indem der Geschiedene vor einer neuen Eheschließung gezwungen wird, sein Verhalten zu überdenken, um ähnliche „Fehler" nicht zu wiederholen, hat es darüber hinaus eine Sanktionsfunktion 4 4 . Dieser Aufgabe allerdings wird ein Eheverbot wohl nicht gerecht werden können. Denn regelmäßig sind die Gründe für das Scheitern einer Ehe äußerst vielschichtig, mag auch einem Teil die überwiegende Schuld zugesprochen werden. Es ist kaum zu erwarten, daß solche komplexen Konflikte durch ein staatliches Verbot gelöst werden können. Zudem betrifft das Verbot erwachsene Menschen, deren selbstverantwortliches Verhalten grundsätzlich nicht staatlicher Maßregelung unterliegen darf. Hinzu kommt schließlich, daß Scheidungsstrafen im europäischen Raum die Ausnahme sind: Sie finden sich nur noch in der Schweiz (Art. 150 ZBB) und in der Türkei (Art. 124 ZGB, der vom schweizerischen Recht beeinflußt wurde). Selbst in der Schweiz wird dieses Eheverbot schon seit langem kritisiert 45 , und seine Aufhebung wird diskutiert 46 . Ein analoges Ehehindernis (das der Geschlechtsgemeinschaft) ist in der Bundesrepublik 1976, in Österreich 1983 aufgehoben worden 47 . Dieses 41 42 43 44 45

Dazu eingehend unten, 8. Kapitel, Abschnitt I. K E v. 12. 12. 1985 zu Β 11329/85, F ./. Schweiz, EuGRZ 1986, S. 688. K E v. 12. 12. 1985 zu Β 11329/85, F ./. Schweiz, EuGRZ 1986, S. 688. Gmür, Das Schweizerische Z G B , S. 75. Dazu Gmür, Das Schweizerische ZGB, S. 74 f.; Hinderling, Ehescheidungsrecht,

S. 55. 46 Vgl. dazu den Schriftsatz der schweizerischen Regierung in K E v. 12. 12. 1985 zu Β 11329/85, F ./. Schweiz, EuGRZ 1986, S. 688.

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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sanktionierende Eheverbot nimmt also eine Außenseiterstellung ein und gehört damit weder zu den allgemein anerkannten Regeln über die Ausübung der Eheschließungsfreiheit noch entspricht es einem dringenden sozialen Bedürfnis 48 . Ebenso entschied kürzlich der Gerichtshof in der Beschwerde eines mehrmals geschiedenen Schweizers, der seine vierte Ehe erst nach Ablauf einer dreijährigen Scheidungsstrafe eingehen durfte. Hierin sah der Gerichtshof einen unzulässigen Eingriff in den Wesensgehalt des Eheschließungsrechts: Zwar verfolge die Scheidungsstrafe ein legitimes Ziel, indem sie die Stabilität der Ehe schützen wolle, doch sei sie ein ungeeignetes und daher unverhältnismäßiges Mittel 4 9 . Bedenken ergaben sich schon angesichts der unvermeidlichen Auswirkungen der Scheidungsstrafe auf Dritte, nämlich die künftige Ehefrau und ggf. während der Strafzeit geborene Kinder des künftigen Paares. Die Partnerin wird mitbestraft, da auch sie gezwungenermaßen ihre Heiratsabsichten verschieben muß. Den Hinweis auf den intendierten Schutz der Frau ließ der Gerichtshof zu Recht nicht gelten, da sie weder minderjährig noch geisteskrank war und folglich ihre Interessen selbständig und eigenverantwortlich vertreten konnte. Aus diesem Grunde ließ er auch das Ziel des Verbotes, den schuldig Geschiedenen zum Überdenken seiner Haltung zu zwingen, nicht ausreichen; auch er sei als mündiger Mensch für sein Handeln selbst verantwortlich 50 . Schließlich seien auch die Interessen der Kinder zu bedenken, die - selbst bei einer rechtlichen Gleichstellung mit ehelichen Kindern - den sozialen Makel der nichtehelichen Geburt tragen müßten (im konkreten Fall war das gemeinsame Kind einen Monat nach der Heirat zur Welt gekommen). Wenn also, so das klare Fazit des Gerichtshofs, das nationale Recht die Ehescheidung zuläßt, so garantiert Art. 12 E M R K dem Geschiedenen die Möglichkeit einer Wiederheirat ohne un verhältnismäßige, unvernünftige Einschränkungen seines Eheschließungsrechts 51. Die Scheidungsstrafe ist mithin ein konventionswidriger Eingriff in den Wesensgehalt des Art. 12 EMRK. b) Faktische Einschränkungen Neben gesetzlichen Vorschriften, die die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit gezielt regeln, gibt es solche, die einem anderen Regelungszweck dienen, faktisch aber auch Auswirkungen haben auf das in Art. 12 E M R K garantierte Recht. Regelmäßig treten diese faktischen Beschränkun47

So K E v. 12. 12. 1985 zu Β 11329/85, F ./. Schweiz, EuGRZ 1986, S. 688. Ebenso K E v. 12. 12. 1985 zu Β 11329/85, F ./. Schweiz, EuGRZ 1986, S. 688. 49 EGMR, Urt. v. 18. 12. 1987, Fall F. ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 17 f. § 36. so E G M R , Urt. v. 18. 12. 1987, Fall F. ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 18 § 37. 5i E G M R , Urt. v. 18. 12. 1987, Fall F. ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 18 § 38. 48

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2. Teil: Eheschutz

gen in den klassisch als „besondere Gewaltverhältnisse" bezeichneten Situationen auf. Besondere Gewaltverhältnisse gibt es in allen Mitgliedstaaten, und auch die Konvention erkennt sie an (z. B. den Strafvollzug in Art. 5). Selbstverständlich gelten die Konventionsrechte auch in einem besonderen Gewaltverhältnis. Bestimmte Einschränkungen werden allerdings zwingend vorausgesetzt, damit es seinen Zweck erfüllen kann. Strafvollzug beispielsweise ist ungeachtet aller Lockerungen und Reformen ohne Freiheitsentzug nicht denkbar. Weitere Einschränkungen sind zur Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung erforderlich. Es fragt sich nun, inwieweit Art. 12 E M R K nationale Regelungen mit faktischen Auswirkungen auf die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit zuläßt. Beschwerden Strafgefangener, die während der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe im Gefängnis heiraten wollten, führten zu Stellungnahmen der Kommission zu diesem Problemkreis. In Abkehr von ihrer früheren Rechtsprechung wertete sie seit der Entscheidung im Fall des britischen Häftlings Hamer die Unmöglichkeit einer Eheschließung im Gefängnis als Eingriff in Art. 12 E M R K , der nur gerechtfertigt werden könne " . . . as resulting from national law governing the exercise of the right to marry or by virtue of any implied limitation of the right." 5 2

Ausgangsfrage ist damit, ob faktische Beeinträchtigungen, die zwar durch Gesetz erfolgen, aber nicht gezielt, sondern quasi als unbeabsichtigte Nebenfolge auf das in Art. 12 E M R K garantierte Recht einwirken, überhaupt „einschlägige Gesetze" i. S. dieser Vorschrift sind. Der Wortlaut des Vorbehalts in Art. 12 E M R K spricht nicht dagegen, da auch solche Gesetze die Ausübung des Rechts regeln; eine „finale" Regelung setzt Art. 12 E M R K nicht voraus. Vereinzelt ist demgegenüber vorgeschlagen worden, nationale Vorschriften, die nur als Nebenfolge auf die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit einwirken, nicht unter den Vorbehalt des Art. 12 E M R K zu subsumieren 53. Die Norm könne sonst womöglich zu einer bloßen Feststellung des status quo eines innerstaatlichen Rechtssystems herabsinken. Doch abgesehen davon, daß sich eine solche Begrenzung auf ausschließlich finale Regelungen dem Wortlaut des Art. 12 E M R K nicht entnehmen läßt, hat sich die auch bei faktischen Einschränkungen geltende Wesensgehaltssperre (dazu sogleich) als durchaus ausreichende Sicherung des menschenrechtlichen Standards erwiesen. Faktische Beschränkungen können folglich unter den Vorbehalt des Art. 12 E M R K gefaßt werde, ohne daß die Figur der „implied limitations" herangezogen werden muß. Doch selbst dann, wenn man die gegenteilige Ansicht vertreten will, ist damit noch nicht über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit faktischer 52 53

KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (16 § 70). Hornyik, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Rechtsprechung, S. 520.

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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Beschränkungen entschieden, da sie über die Figur der „implied limitations" gerechtfertigt werden könnten. Hier stellt sich allerdings die Vorfrage, ob die Annahme dieser Figur überhaupt zulässig ist. Denn schon im Vagrancy-Fall und später noch klarer im Golder-Urteil - hatte der Gerichtshof diese Theorie zurückgewiesen, allerdings nur für Konventionsrechte mit einer ausdrücklichen Schrankenregelung. So lehnte der Gerichtshof „implied limitations" des Art. 8 E M R K ab und begründete dies damit, daß "he restrictive formulation used at para. 2 leaves no room for the concept of implied limitations. . . . In this regard, the legal status of the right to respect for correspondence, which is defined by Article 8 with some precision, provides a clear contrast to that of the right to a court." 5 4

Anders hingegen verhalte es sich bei Rechten ohne definierte Schranken wie etwa Art. 6 EMRK: "As this is a right which the Convention sets forth without, in the narrower sense of the term, defining, there is room, apart from the bounds delimiting the very content of any right, for limitations permitted by implication." 55

Nicht nur der Gerichtshof, sondern auch zahlreiche Stimmen in der Literatur lassen zumindest bei Konventionsrechten ohne ausdrückliche Schrankenregelung „implied limitations" zu, indem ausdrücklich auf sie verwiesen wird 5 6 oder Einschränkungen der Konventionsgarantien in besonderen Gewaltverhältnissen für zulässig erachtet werden 57 . Können folglich immanente Schranken bei Konventionsgarantien ohne ausdrückliche, klar umrissene Schranken angenommen werden, so stellt sich nunmehr die Frage, wie Art. 12 E M R K einzuordnen ist. Eine ausdrückliche Schranke wie bspw. die Art. 8-11 E M R K beinhaltet er nicht, lediglich einen Verweis auf die nationale Gesetzgebung, vergleichbar insoweit eher mit Art. 6 I E M R K als mit Art. 8 I I E M R K . Art. 12 E M R K unterliegt damit auch immanenten Schranken. Den zulässigen Einschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit aufgrund immanenter Schranken sind freilich ihrerseits wiederum Grenzen gesetzt: Sie sind nur soweit zulässig, wie sie das besondere Gewaltverhältnis zwingend erfordert 58 . Dies nahm die Kommission bei 54 E G M R , Urt. v. 18. 6. 1971, Vagrancy-Fall, Ser. A , Vol. 12, S. 45 f. § 93; Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 21 § 44. 55 E G M R , Fall Golder, a.a.O., S. 18 f. § 38. 56 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 337, die allerdings an anderer Stelle (S. 423 f.) die Annahme von „implied powers" als dem Grundkonzept der Konvention widersprechend ablehnen. Stattdessen sollen Beschränkungen zulässig sein, die den „ordinary and reasonable requirements inherent in that special legal position" (S. 424) entsprechen. Im Ergebnis weicht dies nicht von den Beschränkungen ab, die als immanente Schranken zulässig sind. 57 Jacobs, ECHR, S. 163; Robertson, Human Rights in Europe, S. 105. 58 Partsch, E M R K , S. 215.

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2. Teil: Eheschutz

Beschwerden Strafgefangener regelmäßig an, wenn sie zur Verwirklichung des Strafzwecks oder der Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung notwendig waren 59 . Die Existenz eines besonderen Gewaltverhältnisses an sich reichte hingegen noch nicht aus, um immanente Schranken einführen zu können 60 . Somit können grundsätzlich auch faktische Beschränkungen konventionsmäßig sein, und zwar entweder unter dem Vorbehalt des Art. 12 E M R K oder über die Annahme immanenter Schranken. Beide Wege vermeiden die weder beabsichtigte noch sinnvolle Folge, daß Regelungen aus anderen Sachgebieten, die nicht final, sondern als Nebenfolge in die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit eingreifen, a priori konventionswidrig wären. Damit ist nun allerdings nicht gesagt, daß faktische Beschränkungen unbegrenzt zulässig sind. Die Grenze zieht auch hier der Wesensgehalt des Art. 12 E M R K . Denn die Konventionsmäßigkeit faktischer Beschränkungen kann nicht weitergehend sein als jene der Gesetze, die die Ausübung des Rechts gezielt regeln. Andernfalls könnte der Bereich, der der Regelung durch einschlägige nationale Gesetze entzogen ist, auf dem Umweg über faktische Einschränkungen angetastet und Art. 12 E M R K ausgehöhlt werden. Daher sah die Kommission in der Verweigerung der Eheschließung im Gefängnis und der dadurch bewirkten Verzögerung der Heirat eine Verletzung des Art. 12 E M R K , da " . . . the imposition by the State of any substantial period of delay on the exercise of this right must in general be seen as an injury to its substance. This is so whether the delay results from national law purporting merely to 'govern the exercise' of the right, from administrative action, or a combination of both." 6 1

c) Übertragung der Schranken des Art. 8 II EMRK? Bedenken begegnet die Begründung zusätzlicher Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 12 E M R K , die sich weder auf einschlägige Gesetze noch auf immanente Schranken gründen. Denn nach (wohl überholter) Ansicht der Kommission soll des weiteren eine Verletzung von Art. 12 E M R K ausscheiden, wenn die gerügte Maßnahme gemäß Art. 8 I I E M R K gerechtfertigt ist 62 . So hielt die Kommission die Ablehnung des Gesuchs eines inhaftierten Ehe59 Z. B. K E v. 13. 4. 1961 zu Β 892/60, X ./. Bundesrepublik, CoD 6, S. 17 ff. (26); KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (16 §§ 70-73). 60 KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 5 ff. (16 § 72). 61 KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , DR 24, S. 5 ff. (16 § 72 f.). 62 K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. Anscheinend handelt es sich hierbei aber nur um eine vereinzelte Entscheidung, die wohl in dieser Form auch nicht mehr gutgeheißen wird. Im Fall F ./. Schweiz, Ser. A , Vol. 128, S. 24 § 56 hob die Kommission in ihrer Ansicht zu dem Fall jedenfalls hervor: "Unlike other rights guaranteed by the Convention, the exercise of the right to marry contained in Article 12 is not subjected to any restrictions similar to those provided for instance in paragraph 2 of Articles 8 to 11 of the Convention."

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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paares auf Zusammenlegung in eine gemeinsame Zelle zur Aufrechterhaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft gem. Art. 8 I I E M R K aus Gründen der Anstaltsordnung für gerechtfertigt. In eine nähere Prüfung des Art. 12 E M R K trat die Kommission nicht ein, da " . . . an interference with family life which is justified under Article 8 (2) cannot at the same time constitute a violation of Article 12." 63

Diese pauschale Übertragung der Schrankenregelung des Art. 8 E M R K vermag wegen erheblicher methodischer Bedenken nicht zu überzeugen 64. Art. 12 E M R K ist auch gegenüber Art. 8 E M R K ein selbständiges Konventionsrecht mit eigenem Schutz- und Anwendungsbereich, für das gerade keine Schrankenregelung wie in Art. 8 I I E M R K vorgesehen ist, sondern stattdessen eine Verweisung auf die nationalen Rechtsordnungen der EMRK-Staaten. Eben diese systematische Besonderheit des Art. 12 E M R K würde unterlaufen, wenn man diese Vorschrift - und zwar ohne Anhaltspunkt im Wortlaut und gegen die Intention ihrer Verfasser - einer analogen Anwendung des Art. 8 I I E M R K unterwerfen wollte. Die Schrankenbestimmung des Art. 8 I I E M R K ist folglich nicht auf die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit übertragbar. 3. Der Wesensgehalt als „Schranke der Schranke"

Formelle und materielle Beschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit finden, wie schon des öfteren erwähnt wurde, ihre Grenze am Wesensgehalt dieser Garantie, denn die Konventionsrechte dürfen nicht über die nationale Gesetzgebung ausgehöhlt werden. Solche Beschränkungen können dabei tatsächlicher Art sein ebenso wie rechtlicher Natur 65 . Auch ist nicht erforderlich, daß das Hindernis auf Dauer angelegt ist; es genügt eine „substantielle Verzögerung" des Genusses der Konventionsrechte, die in ihren Wesensgehalt eingreift 66 . Dieser Wesensgehalt des Art. 12 E M R K soll nun im Folgenden bestimmt und so vollends die Grenzen der Einschränkbarkeit seiner Garantie aufgezeigt werden.

63 K E V. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (244). 64 So auch van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 338. 65 E G M R , Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 13 § 26: „Hinderance in fact can contravene the Convention just like a legal impediment"; K E v. 13. 10. 1977 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 10, S. 174 ff. (188 § 8); KBer v. 13. 12. 1979 hierzu, D R 24, S. 5 ff. (15 § 65); KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (79 § 52). 66 E G M R , Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 13 § 26: " . . . hindering the effective exercise of a right may amount to a breach of that right, even if the hindrance is of a temporary character." S. auch KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 72 ff. (81 § 58).

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2. Teil: Eheschutz

Einen Ansatzpunkt bietet hier die Spruchpraxis der EMRK-Organe, die in zahlreichen Entscheidungen zu dem näheren Inhalt und den Grenzen des Art. 12 E M R K Stellung genommen haben. Sie sollen, in Fallgruppen untergliedert, näher untersucht und der Wesensgehalt der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit konturiert werden. a) Besondere Fallgruppen zur Eheschließungsfreiheit aa) Transsexuelle Die für eine gültige Eheschließung erforderliche Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner spielte bei den Beschwerden Transsexueller eine entscheidende Rolle. Das schließlich zur Beschwerde führende Problem bestand regelmäßig darin, daß die betreffenden Personen in amtlichen Dokumenten zunächst mit ihrem Geschlecht zum Zeitpunkt der Geburt aufgeführt wurden, nach der Geschlechtsumwandlung aber dem gegenteiligen Geschlecht zugehörten. Wollten sie nun Angehörige ihres ursprünglichen Geschlechts heiraten (wie es für sie nach der geschlechtsumwandelnden Operation gefühlsmäßig und biologisch „natürlich" war), ergaben sich Komplikationen insofern, als sie ausweislich ihrer Dokumente scheinbar einen Angehörigen ihres eigenen Geschlechts heiraten wollten. Die Eheschließung wäre dann unwirksam gewesen67. Da andererseits aber eine Ehe mit einer Person ihres „neuen" Geschlechts nicht in Betracht kam, hätten Transsexuelle überhaupt nicht heiraten können 68 . Um eine Lösung dieser unbefriedigenden Situation bemühte sich die Kommission im Fall des Transsexuellen van Oosterwijk. Ansatzpunkt ihrer Interpretation war die Verweisung auf die nationalen Rechtsordungen in Art. 12 E M R K . Sie dürfe nicht dazu führen, daß einer Person oder einer Gruppe von Personen 69 das Recht auf Eheschließung genommen wird 7 0 : Hier greift die Wesensgehaltsschranke ein. Um das subjektive Recht eines Transsexuellen auf Eheschließung nicht zu vereiteln, sind die Vertragstaaten verpflichtet, etwa durch Umschreibung der amtlichen Dokumente den Betroffenen die 67 Eingehend dazu E G M R , Urt. v. 6. 11. 1980, van Oosterwijk, Ser. A , Vol. 40, S. 7 ff., insbes. S. 9 § 13 (keine Sachentscheidung, da der innerstaatliche Rechtsweg nicht ausgeschöpft war). 68 KBer v. 1. 3. 1979 zu Β 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 26 f. § 54. 69 Verläßliche Zahlen über den Umfang dieser Gruppe existieren nicht. Schätzungen zufolge sollen in der Bundesrepublik auf 100.000 Einwohner, in Schweden auf 1.000 Einwohner jeweils 7 Transsexuelle kommen. Dazu Will, Gedächtnisschrift Constantinesco, S. 912. 70 KBer ν. 1. 3. 1979 zu Β 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 27 § 54; KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 14 § 62.

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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Eheschließung zu ermöglichen. Denn ein indirektes Verbot der Eheschließung, das ohne weitere Prüfung allein aus den amtlichen Dokumenten hergeleitet wird, verkenne, so hob die Kommission hervor, das Recht aus Art. 12 EMRK71. Anders entschied der Gerichtshof im parallel gelagerten Fall Rees. Der Beschwerdeführer, ursprünglich weiblichen, später männlichen Geschlechts, wurde gesellschaftlich als Mann akzeptiert, und bis auf seine Geburtsurkunde waren alle offiziellen Dokumente seinem neuen Geschlecht angepaßt worden. Dies allerdings führte dazu, daß der Beschwerdeführer hinsichtlich seiner beabsichtigten Eheschließung weiter als Frau galt und so seine Heiratsabsichten nicht verwirklichen konnte 72 . Einstimmig lehnte der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 12 E M R K ab: " I n the Court's opinion, the right to marry . . . refers to the traditional marriage between persons of opposite biological sex. . . . Article 12 lays down that the exercise of this right shall be subject to the national laws of the Contracting States. The limitations thereby introduced must not restrict or reduce the right in such a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired. However, the legal impediment in the United Kingdom on the marriage of persons who are not of the opposite biological sex cannot be said to have an effect of this kind." 7 3

Daran ist sicher richtig, daß Gleichgeschlechtlichkeit zu den allgemein akzeptierten Ehehindernissen zählt. Doch ob in Fällen wie dem geschilderten der Hinweis darauf ausreichend ist und die Entscheidung der Situation vollständig gerecht wird, erscheint sehr zweifelhaft. Denn das scheinbare Ehehindernis ergibt sich nur aus früheren, auf das ursprüngliche Geschlecht bezogenen Dokumenten, die von der Entwicklung vollständig überholt wurden: Da der Transsexuelle zwischenzeitlich sein Geschlecht wechselte und nun auch seinem neuen Geschlecht entsprechend fühlt, wäre es für ihn allein schon emotional unzumutbar und undurchführbar, entsprechend seiner Geburtsurkunde zu heiraten. Überdies wären in einem solchen Fall die Partner dann tatsächlich gleichgeschlechtlich. Diese unflexible staatliche Handhabung bewirkt also, daß Transsexuellen eine Eheschließung, so wie es für sie einzig möglich ist, de facto verwehrt ist. Dies ist unter dem Blickwinkel des Art. 12 E M R K ein nicht hinnehmbares Ergebnis. Denn läßt ein Staat Geschlechtsumwandlungen zu, so ist es ihm zuzumuten, den Betreffenden in seiner veränderten 71

§ 60. 72

KBer v. 1. 3. 1979 zu Β 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 28

E G M R , Urt. v. 17. 10. 1986, Fall Rees, Ser. A , Vol. 106, S. 19 §§ 48-50. E G M R , Urt. v. 17. 10. 1986, Fall Rees, Ser. A , Vol. 106, S. 19 §§ 49, 50. Ähnlich die abweichende Meinung der beiden Kommissionsmitglieder Sperduti und Kiernan, Belgien habe lediglich ein bestehendes Ehehindernis (Gleichgeschlechtlichkeit) festgestellt und Art. 12 folglich nicht verletzt; KBer ν. 1. 3. 1979 zu Β 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 30. 73

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2. Teil: Eheschutz

Existenz diskriminierungsfrei zu akzeptieren, ihm einer seiner neuen sexuellen Identität angepaßte Lebensführung zu ermöglichen. Dem widerspricht es, wenn der Staat formalistisch auf früher korrekte Dokumente verweist und die Betroffenen dadurch faktisch an der Wahrnehmung ihrer Konventionsrechte hindert. Diesen tatsächlichen Gegebenheiten wird die Auslegung der Kommission im Fall van Oosterwijk wesentlich gerechter als die recht rigorose Entscheidung des Gerichtshofs im Fall Rees. Im Fall Rees hatte die Kommission allerdings eine Verletzung des Art. 12 E M R K abgelehnt 74 . Während einige Kommissionsmitglieder den Fall schwerpunktmäßig unter Art. 8 E M R K prüften, eine Verletzung dieser Vorschrift verneinten und dann nicht mehr auf Art. 12 E M R K eingingen 75 , nahmen die übrigen Kommissionsmitglieder eine gesonderte Prüfung des Art. 12 vor, ohne allerdings zu einem anderen Ergebnis zu kommen: Da der essentielle Zweck der Heirat in der Gründung einer Familie liege, müsse es den Vertragstaaten erlaubt sein, " . . . to exclude from marriage persons whose sexual category itself implies a physical incapacity to procreate .. . " 7 6

Diese Verknüpfung des Eheschließungsrechts mit der Fortpflanzungsfähigkeit ist ein deutlicher Rückschritt im Vergleich zu der im Fall van Oosterwijk vertretenen Ansicht der Kommission: "Although marriage and the family are in fact associated with the Convention and in domestic legal systems, there is nothing to support the conclusion that the capacity to procreate is an essential purpose of marriage. Apart from the fact that a family can always be founded by the adoption of children, it should be noted in this connection that although impotence is sometimes considered a ground of nullity, this is not generally the case as regards sterility." 77

Eine menschenwürdige, situationsangepaßte Lösung des geschilderten Konfliktes heiratswilliger Transsexueller läßt sich daher nur in der Auslegung der Kommission im Fall van Oosterwijk finden. Danach gewährt Art. 12 E M R K Transsexuellen einen Anspruch, nach Änderung der amtlichen Dokumente die Person heiraten zu können, die ihrem neuen Status entspricht. Mittlerweile eröffnen zahlreiche EMRK-Staaten auf dem Gesetzes- oder Verwaltungswege Transsexuellen die Möglichkeit zur umfassenden Angleichung ihres personenrechtlichen Status mit ihrer neuen Identität 78 . Damit geht die 74

Ser. A , Vol. 106, S. 27 §§ 52, 53. Opinion M M . Frowein, Busuthil, Trechsel, Carrillo, Schermers, Ser. A , Vol. 106, S. 27 § 54. 76 Opinion M M . Fawcett, Tenekides, Gözübüyük, Soyer, Batlinder, Ser. A , Vol. 106, S. 29. 77 KBer v. 1. 3. 1979 zu Β 7654/76, van Oosterwijk ./. Belgien, Ser. B, Vol. 36, S. 28 § 59. 78 Drzemczewski/Warbrick, Y b E L 6 (1986), S. 430. Eingehend dazu auch Will, Gedächtnisschrift Constantinesco, S. 917-928: Bundesrepublik, S. 929-938: Italien. 75

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

173

Entwicklung in den Konventionsstaaten in die vom Gerichtshof befürwortete Richtung, wenn er am Schluß seines Urteils im Fall Rees betonte: "The need for appropriate legal measures should therefore be kept under review having regard particularly to scientific and societal developments." 79

bb) Gefangene Das aus Art. 12 E M R K folgende Verbot, eine Personengruppe von dem Eheschließungsrecht auszunehmen, steht auch im Mittelpunkt der Entscheidungen in Fällen heiratswilliger Inhaftierter, denen die Eheschließung während der Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe verweigert wurde. Der restriktiven Auslegung der beklagten Regierungen, die Ehe könne nach Verbüßung der Haftstrafe geschlossen werden, denn Art. 12 E M R K gewähre keinen Anspruch auf Eheschließung zu einer bestimmten Zeit und an einem festgelegten Ort 8 0 , folgte die Kommission nicht uneingeschränkt. Ihrer Ansicht nach läßt sich aus Art. 12 zwar kein Recht auf Heirat in einem ganz eng umgrenzten Zeitraum, beispielsweise an einem bestimmten Tag, oder an einem festgelegten Ort herleiten. Anders verhält es sich aber, wenn unter Hinweis darauf den Heiratswilligen die Verwirklichung ihres Vorhabens über einen längeren Zeitraum hinweg unmöglich gemacht wird: Auch Gefangenen dürfe die Eheschließungsfreiheit nicht vorenthalten oder ihre Ausübung soweit behindert werden, daß dies in den Wesensgehalt des Art. 12 E M R K eingreift 81 . Im Fall Draper (der Beschwerdeführer war zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden, seine Entlassung war frühestens nach 25 Jahren möglich) nahm die Kommission einen Verstoß gegen Art. 12 E M R K an, da der Beschwerdeführer in absehbarer Zukunft nicht freikommen und seine Heiratspläne verwirklichen konnte 82 . Im Fall Hamer war der Beschwerdeführer zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, von der zumindest drei Jahre vollstreckt werden würden. Hafturlaub war frühestens nach 15 Monaten möglich, so daß er erst nach 15 Monaten oder gar zwei Jahren (nach Entlassung) seine Heiratsabsichten würde verwirklichen können. Auch in diesem Fall hielt die Kommission die lange Wartezeit für konventionswidrig 83 . Bei diesen Entscheidungen kam es auf zwei Gesichtspunkte maßgeblich an, nämlich auf die Haftdauer und die unbeschadete Verwirklichung des Strafzwekkes. Da sich der Gehalt der Eheschließungsfreiheit in der Änderung des per79

E G M R , Urt. v. 17. 10. 1986, Ser. A , Vol. 106, S. 19 § 47. So die Argumentation der britischen Regierung in der Beschwerde 7114/75, Hamer ./. U K , D R 10, S. 179 und S. 187 § 5 sowie in der Beschwerde 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 79 § 51. 81 KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 79 § 49. 82 KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 75 § 12. 83 K E v. 13. 10. 1977 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 10, S. 187 § 3; KBer v. 13. 12. 1979 über diese Beschwerde, D R 24, S. 16 § 74. 80

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2. Teil: Eheschutz

sonenrechtlichen Status erschöpft und keinen Anspruch auf Zusammenleben der Ehegatten vermittelt, war der Strafzweck nicht gefährdet. Art. 12 E M R K verpflichtet also die Konventionsstaaten, Eheschließungen im Gefängnis nicht generell zu verbieten, sondern im Gegenteil die hierfür notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Dies gilt umso mehr, je länger die zu verbüßende Freiheitsstrafe ist. cc) Ausländer Im Ausländerrecht kann Art. 12 E M R K Bedeutung gewinnen, wenn ein heiratswilliger Ausländer nicht in das Aufenthaltsland seines zukünftigen Ehegatten einreisen darf oder seine Ausweisung aus dem gemeinsamen Gastland verfügt wird. Die Kommission lehnt eine Verletzung des Art. 12 grundsätzlich dann ab, wenn die Eheschließung in einem anderen Staat möglich ist und der von der ausländerrechtlichen Maßnahme nicht betroffene Partner dem künftigen Ehegatten ungehindert nachreisen kann 84 . Diese enge Auslegung mag dadurch beeinflußt worden sein, daß die Konvention Ausländern kein Einreise- und Aufenthaltsrecht vermittelt 85 . Art. 3 I I des 4. ZP garantiert ein solches Einreiserecht nur für Staatsangehörige des Gastlandes, nicht aber für ihre Ehepartner anderer Nationalität. Dies kann legt man die Spruchpraxis der Kommission zugrunde - insbesondere dann zu Härtefällen führen, wenn einer der künftigen Ehegatten Staatsangehöriger des Aufenthaltstaates ist, wegen der Ausweisung oder Einreise Verweigerung des Ausländers aber faktisch ebenfalls zur Ausreise und damit Aufgabe seines Lebensmittelpunktes gezwungen ist, wenn er ihn heiraten und eine Familie gründen will. Zur Eingrenzung der unter Art. 12 E M R K relevanten Problematik ist daran zu erinnern, daß diese Vorschrift keinen Anspruch auf ein tatsächliches Zusammenleben der Ehegatten vermittelt. Ihr Schutzbereich ist folglich nur dann tangiert, wenn der künftige Ehegatte nicht in den Konventionsstaat einreisen darf, dessen Staatsangehöriger der andere ist, eine Heirat in dem Konventionsstaat also schon rein praktisch nicht möglich ist. Hält sich hingegen der Ausländer im Land seines zukünftigen Ehegatten auf, so stehen einer Eheschließung keine rechtlichen Gründe entgegen, auch wenn die Aus84

K E v. 16. 7. 1965 zu Β 2335/65, X ./. Bundesrepublik, CoD 17, S. 28 ff. (30); K E v. 10. 10. 1970 zu Β 4403/70 u. a. (insbes. 4423/70), East African Asians (I) ./. U K , CoD 36, S. 92 ff. (120); K E v. 8. 2. 1972 zu Β 5269/71, X u. Y. ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (108); K E v. 3. 10. 1972 zu B 5301/71, X ./. U K , CoD 43, S. 82 ff. (84); K E v. 12. 7. 1976 zu B 7031/75, X ./. Schweiz, D R 6, S. 124 ff. (126); K E v. 17. 7. 1976 zu B 7175/75, X ./. Bundesrepublik, D R 6, S. 138 ff. (140). 85 Dies klingt an in K E v. 10. 10. 1970 zu B 4403/70 u. a. (insbes. 4423/70), East African Asians (I) ./. U K , CoD 36, S. 92 ff. (116); K E v. 8. 2. 1972 zu Β 5269/71, X u. Y. ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (107); K E v. 3. 10. 1972 zu B 5301/71, X ./. U K , CoD 43, S. 82 ff. (83); K E v. 12. 7. 1976 zu B 7031/75, X ./. Schweiz, D R 6, S. 124 ff. (126).

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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Weisung zu erwarten stünde und ein normales Eheleben nicht aufgenommen werden könnte. Die sich aus dieser Situation ergebenden Folgen werden bei der Auslegung des Art. 8 E M R K zu untersuchen sein. Unter Art. 12 E M R K ist also nur zu prüfen, ob das Ansinnen der Kommission konventionsgemäß ist, die Ehe in einem anderen Staat zu schließen. Wollte man dies verneinen und dem künftigen Ehepartner unter der Voraussetzung ein Einreiserecht zubilligen, daß er einen Inländer oder eine sich dort legal aufhaltende Person ehelichen will, würde durch diese Konstruktion ein neues, weder in der E M R K noch in ihren Zusatzprotokollen enthaltenes Recht geschaffen, nämlich ein Einreiserecht (unter bestimmten Bedingungen). Zweifelhaft ist, ob eine extensive, an Ziel und Zweck der Konvention ausgerichtete Interpretation der Eheschließungsfreiheit zu diesem Ergebnis führen kann. Eine solche Auslegungsmethode ermöglicht zwar u. U. die Anpassung des Konventionsinhaltes an neue gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen, bei der Kreation eines völlig neuen Rechts findet sie hingegen ihre Grenzen 86 . Denn eine Auslegung vorhandener Rechte kann nicht zu der Entwicklung völlig neuer Rechte führen, die in der Konvention nicht zumindest ansatzweise schon begründet sind. Die gegenteilige Auffassung würde zu unabsehbaren Konsequenzen für die Mitgliedstaaten führen, die das Ausmaß ihrer vertraglich übernommenen Verpflichtungen dann nicht mehr einschätzen könnten. Es ist daher daran festzuhalten, daß Art. 12 E M R K Ausländern kein Recht gewährt, in das Heimatland seines zukünftigen Ehegatten einzureisen. b) Familiengründung Das Recht auf Familiengründung scheint weitergehenden Einschränkungen zu unterliegen als die Eheschließungsfreiheit 87. Aufschlußreich sind hierzu die Entscheidungen über Beschwerden Strafgefangener, die während der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe dieses Recht geltend machten. Die Kommission bezog den Standpunkt, daß Art. 12 E M R K zwar generell das Recht auf Familiengründung gewährleiste, jedoch nicht zu jedem Zeitpunkt 88 . Demzufolge verstoßen zeitweilige Verhinderungen nicht gegen die Familiengründungsfreiheit. Dabei verkannte die Kommission nicht die Entwicklung im Strafrecht der europäischen Staaten, namentlich die angestrebte Angleichung von Gefängnisleben und Freiheit sowie eine zunehmende Betonung des Resoziali86

E G M R , Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 19 §§ 53 f. Hornyik, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Rechtsprechung, S. 519. 88 K E v. 21. 5. 1975 zu Β 6564/74, X ./. U K , D R 2, S. 105 f.; KBer v. 13. 12. 1979 zu Β 7114/75, Hamer ./. U K , D R 24, S. 13 § 58. In K E v. 4. 2. 1970 zu B 3603/68, X ./. Bundesrepublik, CoD 31, S. 48 ff. wurde das Ersuchen eines Gefangenen um Wochenendbesuche seiner Ehefrau zur Aufrechterhaltung seines Ehelebens unter Art. 8 geprüft und abgelehnt, a.a.O., S. 50. 87

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2. Teil: Eheschutz

sierungsgedankens. Sie stellte andererseits aber auch die Grenzen dieser Entwicklung fest: Nach wie vor werde ehelicher Verkehr im Gefängnis aus Gründen der Anstaltsordnung nicht gestattet 89 . Erstaunlich an diesen Entscheidungen, die immerhin auch Beschwerden Langzeitgefangener betrafen, ist die völlige Negierung des Zeitfaktors. Denn im Gegensatz zu den die Eheschließungsfreiheit betreffenden Entscheidungen hing die Beurteilung der Kommission erkennbar nicht von der Länge der zu verbüßenden Haftstrafe ab. Dies erscheint außerordentlich bedenklich. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, daß aufgrund äußerer Umstände das eheliche Zusammenleben zeitweise aufgehoben ist, etwa bei kasernierten Soldaten, Versetzungen von Beamten, ja schon bei Dienstreisen. Gerade die Normalität dieser Unterbrechungen zeigt, daß in solchen Fällen nicht von einer Beeinträchtigung des Familiengründungsrechts gesprochen werden kann. Insoweit ist der Kommission bei ihrer Auslegung zu folgen, Art. 12 E M R K vermittle keinen Anspruch auf die Rechtsverwirklichung zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Überzeugend ist diese Argumentation aber nur bei den Beschwerden Kurzzeitgefangener, deren Haftstrafe in absehbarer Zeit (etwa 3-5 Jahre) verbüßt sein wird. Doch anders verhält es sich in den Fällen, in denen der Gefangene in absehbarer Zukunft nicht wieder in Freiheit sein wird, ja vielleicht sogar zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Denn wird diesem Personenkreis während der Haftzeit nicht der ungestörte Kontakt zu dem Ehegatten gestattet, führt dies zwangsläufig dazu, daß der Gefangene von seinem konventionsmäßig verbürgten Recht keinen Gebrauch machen kann, es für ihn also bedeutungslos wird. In diesen Fällen wird der Wesensgehalt des Familiengründungsrechts angetastet90. Dagegen scheint der Einwand der Kommission, der Gefangene habe sich seine Haft und damit die Einschränkung seiner Rechte selbst zuzuschreiben 91, schwer nachvollziehbar. Zum einen erscheint es manchen modernen Kriminologen und Gerichtspsychiatern als sehr fraglich, ob hier von einem eigentlichen „Verschulden" gesprochen werden kann 92 . Zum anderen darf das Verhalten eines Berechtigten nicht zum völligen Verlust, zur Verwirkung einer Konventionsgarantie führen, solange dies nicht in der Konvention vorgesehen ist. Da bei der Familiengründungsfreiheit die Wesensgehaltsgrenze stets zu beachten ist, ist der Einwand der Kommission irrelevant. Auch der Hinweis, die Anstaltsordnung und Sicherheitsgründe machten ein solches Verbot zwingend notwendig 93 , kann angesichts der Wesensgehalts89 K E V. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (242-244). 90 Dies schließen auch van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 339 § 10, nicht aus. K E v. 21. 5. 1975 zu Β 6564/74, X ./. U K , D R 2, S. 105 ff. (106). 92 Dagegen auch van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 338 § 10. 93 K E ν. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (243).

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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grenze in den Fällen Langzeitgefangener nicht überzeugen. Ebenso wie den Staaten Vorkehrungen zur Ermöglichung von Eheschließungen im Gefängnis zugemutet werden, könnte es ihnen auch aufgegeben werden, die notwendigen SicherheitsVorkehrungen zu treffen, um den ungestörten Besuch des Ehepartners zu ermöglichen. Zusammenfassend läßt sich der Wesensgehalt des Art. 12 E M R K wie folgt umreißen: Den Mitgliedstaaten ist es verboten, den geschützten Personenkreis rechtlich oder tatsächlich an der Ausübung des Eheschließungsrechts dauernd oder auch nur vorübergehend (sofern dies nicht nur sehr kurzfristig und daher als Eingriff kaum spürbar ist) zu hindern. Über die Regelung des Eheschließungsverfahrens hinaus ergeben sich weitere Pflichten daraus, daß keiner Person oder Gruppe das Recht auf Heirat verwehrt werden darf. Dies kann es erfordern, daß der Staat in zumutbarem Rahmen entsprechende Vorkehrungen treffen muß, um den fraglichen Personengruppen den Weg zur Eheschließung zu öffnen. Dies gilt allerdings nur soweit, wie andernfalls es den Heiratswilligen unmöglich wäre, in einem absehbaren Zeitraum die Ehe einzugehen. Weitergehenden Einschränkungen unterliegt das Familiengründungsrecht, da Art. 12 kein Recht auf die Gründung einer Familie zu jeder Zeit gewährt. Kurzfristige Verhinderungen verletzen diese Vorschrift daher nicht, auch können in Grenzen wichtige andere Gründe (z. B. Anstaltsordnung) zu einer zulässigen Einschränkung des Rechts führen. Doch darf dies nicht bewirken, daß so dem Betroffenen de facto die Wahrnehmung seines Rechts auf Dauer unmöglich gemacht wird. Hier sind die Konventionsstaaten ebenso wie bei der Eheschließungsfreiheit aufgefordert, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß keine Personengruppe ihrer Konventionsrechte vollkommen verlustig geht. II. IPBPR 1. Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 23 I I IPBPR

Ebensowenig wie Art. 12 E M R K weist Art. 23 I I IPBPR eine spezielle Schrankenregelung auf, zudem fehlt selbst ein ausdrücklicher Verweis auf die die Ausübung des Rechts regelnde innerstaatliche Gesetzgebung. Auch eine generelle Schrankenregelung, wie sie die A E M R in Art. 29 I I enthält, kennt der Pakt nicht; sie wurde seinerzeit bewußt nicht aufgenommen. Diese Abkehr von einer Generalklausel läßt sich aus dem Bedürfnis erklären, die Einschränkbarkeit der Rechte auf das unbedingt notwendige Maß zu begrenzen 94 .

94

Kiss, in: Henkln, International Bill, S. 291.

12 Palm-Risse

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2. Teil: Eheschutz

Ist daraus nun zu folgern, daß die einzige Beschränkung der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit in der vorausgesetzten Heiratsfähigkeit liegt? Dagegen spricht, daß, wenn auch die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit ihrem Wortlaut nach keine ausdrückliche Schranke enthält, der Charakter des Rechts Schranken impliziert 95 . Die Struktur der Vorschrift sowie die Zwecke und Ziele des Paktes ergeben, daß die den Bereich Ehe/ Familie betreffenden nationalen Bestimmungen auch nach der Ratifikation des Paktes fortgelten sollten 96 . Der Pakt akzeptiert grundsätzlich die nähere Ausgestaltung dieser Garantie im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten, sofern ihr Wesenskern nicht verletzt wird 9 7 . Gerade das Recht auf Eheschließung und Familiengründung wird so, wie es im nationalen Recht ausgestaltet ist, „anerkannt" 98 . Denn ohne eine innerstaatliche Regelung des Verfahrens kann das Recht auf Eheschließung nicht verwirklicht werden. Jede Rechtsordnung stellt bestimmte Regeln für die Eheschließung auf und kennt Heiratsverbote, die bestimmten Personen (z. B. Geschwistern) die Heirat verwehrt. Da das innerstaatliche Eheschließungsverfahren bestimmte Voraussetzungen an eine wirksame Ehe knüpft und Ehehindernisse aufstellt, wird die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit eingeschränkt. Es kann nun aber nicht angenommen werden, daß diese Vorschriften durch Art. 23 I I IPBPR für unzulässig erklärt werden sollten, da damit nicht nur die innerstaatlichen Rechtsordnungen tiefgreifend umgestaltet würden, sondern eine solche Regelung auch weltweit völlig untypisch wäre. In keinem Staat der Welt ist nur das Erreichen eines bestimmten Alters Voraussetzung für die Eheschließung. Folglich werden durch Art. 23 I I IPBPR nicht nur die innerstaatlichen Ausgestaltungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit anerkannt, sondern grundsätzlich auch die damit untrennbar verknüpften Einschränkungen. Die schon bei der E M R K angesprochenen zulässigen Beschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit haben daher auch vor dem Pakt Bestand. Doch da der Pakt einen universellen Menschenrechtsstandard festschreiben will, müssen auch weitere Beschränkungen zulässig sein, die in nichteuropäischen Rechtsordnungen typischerweise eingehalten werden. Als Beispiel sei die Entrichtung einer Morgengabe als Gültigkeitsvoraussetzung für die Ehe genannt. Daneben sind auch Beschränkungen aus religiösen Moti95

Kiss, in: Henkin, International Bill, S. 292. Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 339 § 12. 97 Kiss, in: Henkin, International Bill, S. 290. 98 So auch die Ansicht einiger Experten aus dem Sachverständigenausschuß für Menschenrechte, Europarats-Dokument H (70) 7, Bericht des Sachverständigenausschusses an das Ministerkomitee: Probleme, die sich aus der Koexistenz der VN-Pakte über Menschenrechte und der E M R K ergeben, § 205. Andere wiederum sahen die Regelungen des Paktes als weitergehend an, da sie ihrer Ansicht nach keine Einschränkungen außer der Heiratsfähigkeit zuließen (dazu sogleich im Text). 96

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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ven denkbar", gegen deren grundsätzliche Zulässigkeit ebenfalls keine Bedenken bestehen. Der Pakt läßt ebenso wie die E M R K Einschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit zu, obwohl diese Garantie keine ausdrückliche Schrankenregelung beinhaltet. Dies ist eine notwendige Folge bei der Verwirklichung seines Anliegens, keiner Rechtsordnung, keinem Kultur kreis a priori die Anerkennung zu versagen, indem bestimmte, für diese Rechtsordnung vielleicht grundlegende Bestimmungen als unzulässig erachtet werden. Dementsprechend kann sich der Vertrag nicht auf eine Anerkennung nur der im europäischen Kulturkreis üblichen Einschränkungen dieser Garantie beschränken, sondern muß darüber hinaus auch solche Einschränkungen zulassen, die in nichteuropäischen Rechtskreisen für unverzichtbar gelten. 2. Der Wesensgehalt als „Schranke der Schranke"

Es fragt sich nun, wie weit die internationale Anerkennung der innerstaatlichen Ausgestaltungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit gehen kann. Denn ist einerseits zwar nationale Regelung geboten, so darf andererseits die internationale Garantie nicht soweit vom nationalen Recht abhängen, daß sie der Aushöhlung preisgegeben ist. Denn der Pakt soll und will einen menschenrechtlichen Mindeststandard festschreiben, indem er vom nationalen Recht unabhängige, gegen staatlichen Mißbrauch gesicherte Garantien aufstellt. Ein solcher Mindeststandard kann nur dann festgelegt werden, wenn die Anerkennung des nationalen Rechts nicht uferlos ist, sondern ihr Grenzen immanent sind. Diese Grenzen müssen dort gezogen werden, wo eine Aushöhlung der Garantien und damit die Wirkungslosigkeit des Paktes zu befürchten ist. Auch Art. 23 I I IPBPR kennt also einen Bereich, der der nationalen Verfügung entzogen ist, der absolut gewährleistet werden muß. Dieser feste Kern, dieser Wesensgehalt der Eheschliessungs- und Familiengründungsfreiheit muß vom nationalen Recht respektiert werden, wenn es Art. 23 I I IPBPR nicht verletzen will. Nationale Beschränkungen dieser Garantie sind also dann unzulässig, wenn sie ihren Wesensgehalt antasten würden 100 . Diesen Wesens«· 99 Ober die im europäischen Raum geltenden Ehehindernisse hinaus kennt etwa der Islam Eheverbote wegen Milchverwandtschaft (zwischen Amme und Kind), das Hindernis der dreifachen Verstoßung oder des Pilgerstandes. Nach jüdischem Eherecht wurde früher auch die Bastardschaft (Kind aus ehebrecherischer Beziehung oder nichtiger Ehe) angesehen. Noch heute gültig ist das Hindernis der früheren Geschlechtsgemeinschaft oder der Wiederverheiratung (Geschiedene dürfen nur unter erschwerten Voraussetzungen wieder heiraten). Diese Ehehindernisse werden heutzutage allerdings so liberal ausgelegt, daß sie ihre praktische Bedeutung immer mehr verlieren. Vgl. zu allem Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 1: Religöse Eherechte, Ehehindernisse. 100 Kiss, in: Henkin, International Bill, S. 292. Vgl. auch die im Rahmen eines von der Internationalen Juristenkommission initiierten Expertentreffens angenommenen

1*

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2. Teil: Eheschutz

gehalt gilt es nun zu ermitteln. Hierbei zeigen sich deutliche Parallelen zur E M R K , da hier wie dort dieselben Überlegungen maßgeblich sind. a) Eheschließungsfreiheit Um allen Interessierten die Eheschließung zu ermöglichen, ist der Vertragstaat zur Regelung eines staatlichen Eheschließungs Verfahrens verpflichtet. Gleichzeitig wird so sichergestellt, daß Andersgläubige nicht ausschließlich auf ein religiöses Zeremoniell verwiesen werden können und ihnen so de facto ihr Recht auf Heirat vorenthalten würde, falls sie nicht zum Wechsel ihrer Religion bereit sind. Daher begegnet unter diesem Aspekt das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit erheblichen Bedenken, das auch heute noch in den meisten islamischen Staaten gilt 1 0 1 . Danach müssen nichtmoslemische Frauen, die weder christlicher noch jüdischer Religionszugehörigkeit sind, vor ihrer Heirat mit einem Moslem zum Islam übertreten. Die Konversion erfolgt entweder durch eine entsprechende Erklärung der Frau oder wird als durch die Eheschließung vollzogen angesehen. Solche Regelungen kollidieren mit dem Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen. Vor allem dann, wenn das innerstaatliche Recht islamischer Staaten keinen anderen Weg der Eheschließung unter Vermeidung dieser zwangsweisen Konversion kennt, dürfte ein solches Eheverbot nicht mehr paktkonform sein. Der Staat darf zudem nur solche Ehen anerkennen, die auf einem freien Entschluß der künftigen Partner beruhen. Darüber hinaus muß das staatliche Verfahren so geregelt sein, daß nicht eine ganze Personengruppe von der Wahrnehmung dieses Rechts ausgenommen wird. Temporäre Beschränkungen (etwa bei Kurzzeitgefangenen) sind nur insoweit zulässig, als sie nicht zu einer Vereitelung dieses Rechts führen; dem Zeitfaktor kann hier entscheidende Bedeutung zukommen.

Syracusa Principles, HRQu 7 (1985), S. 5: General Interpretative Principles Relating to the Justification of Limitations, Nr. 2: "The scope of a limitation referred to in the Covenant shall not be interpreted so as to jeopardize the essence of the right concerned." Dies kann auf immanente Schranken in vollem Umfang übertragen werden, da sie ein Recht nicht weitergehend einschränken dürfen als ausdrücklich vorgesehene Schranken. 101 Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, „Religiöse Eherechte", „Islam", S. 6. Auch nach jüdischem Glauben besteht dieses Hindernis, a.a.O.; „Juden", S. 6.

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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b) Familiengründung Im Mittelpunkt steht hier das Recht eines Ehepaares, seine Kinderzahl frei und selbstverantwortlich bestimmen zu können. Die Garantie erschöpft sich dabei nicht in der Geburt des ersten Kindes, sondern wird mit jeder weiteren Geburt erneut verwirklicht. Jeder diese Entscheidung beeinflussende staatliche Zwang ist daher als Eingriff in den Kern des Rechts unzulässig. Da nur die „natürliche" Familiengründung geschützt ist, sind die Vertragstaaten nicht auf eine bestimmte Haltung gegenüber anderen Formen der Familiengründung wie Adoption oder moderner Geburtsmedizin festgelegt. Zeitweilige Beschränkungen der Familiengründungsfreiheit, z. B. im Strafvollzug, sind zulässig, sofern sie nicht zu einem faktischen Verlust dieses Rechts führen. Eine wichtige Begrenzung der Einschränkungsmöglichkeiten der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit ergibt sich auch im Rahmen des Paktes aus dem Diskriminierungsverbot. Der „Fall der sowjetischen Ehefrauen" 102 ist ein Beispiel hierfür. Der UdSSR wurden Verstöße gegen die Grundsätze der A E M R vorgeworfen, namentlich gegen Art. 13 (Ausreisefreiheit) und Art. 16. Einmal abgesehen von der Frage der Rechtsverbindlichkeit der A E M R sind die Probleme dieses Falles auch im Rahmen des IPBPR interessant, da Art. 16 A E M R eine Art. 23 I I IPBPR sehr ähnliche Bestimmung enthält. Die gegen die UdSSR erhobenen Vorwürfe richteten sich u. a. gegen ein Dekret von Februar 1947, das die Heirat zwischen Sowjetbürgern und Ausländern verbot 103 . Da die Ehefrauen durch die Heirat ihre Staatsangehörigkeit nicht verloren, konnten sie ihr Land nur entweder unter Verzicht auf die sowjetische Staatsangehörigkeit verlassen oder bei Bewilligung der Ausreise. Die Mehrheit der betroffenen Frauen hatte ohne Erfolg beide Anträge gestellt. Sie waren also gezwungen, in der UdSSR zu bleiben, und konnten ihren Ehemännern nicht ins Ausland folgen. Das Verbot, ausländische Staatsangehörige zu heiraten, wurde als unzulässige, diskriminierende Einschränkung der Eheschließungs· und Familiengründungsfreiheit des Art. 16 A E M R qualifiziert 104 . Daraus folgt, daß alle Einschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit diskriminierungsfrei erfolgen müssen 105 .

ίο2 U N G A Res. 285 (III) v. 25. 4. 1949, U N G A OR, 3rd session, 1948/49, Resolutions. 103 Zum Sachverhalt s. die Diskussion im 6. Ausschuß, U N G A OR, 3rd session, 1948/49, 6th Committee, 134.-139. mtg.; insbes. 134. mtg., S. 721; 135. mtg., S. 733; 136. mtg., S. 740. 104 Fitzmaurice (UK), U N G A OR, 3rd session, 1948/49, 6th Committee, 134. mtg., S. 734; Gross (USA), a.a.O., S. 736 f. 105 Ebenso Nr. 9 der Syracusa Principles, General Interpretative Principles Relating to the Justification of Limitations, bezüglich der Einschränkung der im IPBPR niedergelegten Rechte.

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2. Teil: Eheschutz

I I I . AmK Art. 17 I I A m K akzeptiert innerstaatliche Regelungen betreffend die Eheschließung und Familiengründung unter der scheinbar einzigen Voraussetzung, daß sie nicht diskriminierend sind: "The right of men and women of marriageable age to marry and to found a family shall be recognised if they meet the conditions required by domestic laws, in so far as such conditions do not affect the principle of non-discrimination established in this Convention."

Dieses Diskriminierungsverbot findet sich in Art. 11 A m K und enthält die auch in den übrigen Vertragswerken festgelegten Verbote. Doch auch hier kann das nationale Recht nicht beliebig Ehehindernisse und andere denkbare Beschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit aufstellen, wenn sie nur diskriminierungsfrei angewendet werden. Ließe beispielsweise ein Konventionsstaat Eheschließungen generell nur gegen Entrichtung einer astronomisch hohen Gebühr zu, so trifft diese Bedingung alle Bürger und ist folglich nicht diskriminierend. Sie bewirkt aber ein vollständiges Leerlaufen der Konventionsgarantie, da eine Heirat praktisch nicht mehr finanzierbar wäre. In einem solchen (hypothetischen) Fall würde die entsprechende Bestimmung des nationalen Rechts in den Wesensgehalt der Eheschließungsund Familiengründungsfreiheit eingreifen. Die aber kann die A m K ebensowenig zulassen wie alle übrigen menschenrechtlichen Verträge, da auch sie auf die Festschreibung eines menschenrechtlichen Mindeststandards abzielt, der einer unbegrenzten Zulässigkeit nationaler Regelungen entgegensteht. Daher muß der nationale Gesetzgeber zumindest Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter die Eheschließung und Familiengründung ermöglichen; letzteres auch in freier Gemeinschaft zusammenlebenden Paaren, sofern die de-factoEhe anerkannt oder registriert worden und innerstaatlich ein solches Verfahren vorgesehen ist. Dem entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts verstoßen gegen den Wesensgehalt der Konventionsgarantie und sind daher nicht mehr konventionsgemäß. Im übrigen ergeben sich keine Abweichungen gegenüber der Konkretisierung des Wesensgehaltes im Rahmen des IPBPR: Innerstaatliche Ehehindernisse und Verfahrensvoraussetzungen sind zulässig, sofern sie weder diskriminierend wirken noch in den Wesensgehalt des Art. 17 I I A m K eingreifen.

I V . Zusammenfassung und Ergebnis Das Recht auf Eheschließung und Familiengründung der E M R K wird nicht nur durch formelle Vorschriften, etwa bezüglich des Eheschließungsverfahrens, sondern auch durch substantielle Regelungen eingeschränkt. Während Formvorschriften regelmäßig nicht auf eine Beschränkung des Rechts abzie-

7. Kap.: Die Schranken der Eheschließungsfreiheit

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len, sondern in erster Linie seine Wahrnehmung regeln, führen die materiellen Vorschriften zu einer Einengung des Kreises berechtigter Personen. Sie sind nur zulässig, soweit sie anerkanntermaßen im Allgemeininteresse liegen. Es fallen darunter die meisten gängigen Ehehindernisse. Solche Einschränkungen dürfen allerdings nie dazu führen, daß einer Person oder Gruppe das Recht vollständig genommen wird; hier ist die Wesensgehaltsgrenze erreicht, die nicht unterschritten werden darf. Ein Vergleich des IPBPR mit der E M R K zeigt, daß die Unterschiede im Schutzbereich beider Bestimmungen nicht so gravierend sind, wie es ihr Wortlaut nahelegen könnte. Denn auch im Rahmen des Paktes existiert kein unbegrenztes Recht auf Eheschließung und Familiengründung. Im Unterschied zu Art. 12 E M R K verweist Art. 23 I I IPBPR nicht ausdrücklich auf die innerstaatlichen Ausgestaltungen dieser Garantie, doch setzt auch die Paktbestimmung ihrem Wesen und ihrer Systematik nach innerstaatliche Regelungen über die Eheschließung und Familiengründung voraus. Ein wichtiger Unterschied zu E M R K liegt darin, daß Art. 23 I I IPBPR als universell geltende Vorschrift nicht nur solche Beschränkungen der Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit zuläßt, die im europäischen Raum gängig sind, sondern auch solche, die in anderen Rechts- und Kulturkreisen typischerweise eingehalten werden. Da auch hier der Wesensgehalt der Bestimmung absolute Grenze für jede Art von Beschränkungen ist, ist auch das im Pakt verankerte Recht vor der Aushöhlung über das innerstaatliche Recht der Vertragstaaten geschützt. Die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit der A m K schließlich ist mit ihrer „Anerkennung" des Rechts der entsprechenden Paktregelung verwandter als jener der E M R K , obwohl sie in einem regionalen Vertrags werk enthalten ist. Ein fest umrissenes amerikanisches Ehebild gibt es ebensowenig wie auf universeller Ebene. Der Grund ist in der Beschaffenheit des Kreises der Vertragstaaten zu finden. Während es sich bei den EMRK-Staaten um einen homogenen Mitgliederkreis mit ähnlicher kultureller Tradition und Geschichte sowie vergleichbaren Lebensumständen handelt, der z.T. auch einen wirtschaftlichen Einigungsprozeß (EG) durchläuft und auch militärisch verbunden ist (NATO), kurzum, der sich in einem Prozeß des Zusammenwachsens und immer enger werdender nationaler Verflechtungen befindet, kann dies von den OAS-Staaten nicht in gleichem Maß behauptet werden (erinnert sei nur an den Konflikt zwischen den USA und Nicaragua) und noch viel weniger von dem universellen Mitgliederkreis des Paktes. Diese Ausgangssituation muß ein Vertrag bei der Formulierung seiner Standards berücksichtigen, wenn er von seinen (tatsächlichen oder potentiellen) Mitgliedern anerkannt und ernstgenommen werden will.

Achtes Kapitel Recht auf Ehescheidung? I. EMRK In der Konvention findet sich kein Recht auf Ehescheidung, auch wird dieser Begriff an keiner Stelle erwähnt. Möglicherweise könnte sich dennoch ein solches Recht aus Art. 12 E M R K ableiten lassen. Folgender Ansatz ist denkbar: Das europäische Ehebild basiert auf der Einehe. Ist jemand schon verheiratet und möchte später eine andere Person ehelichen, ist ihm in bezug auf die zweite Person das Recht auf Heirat genommen1. Das Recht auf Ehescheidung stellt sich also in diesem Zusammenhang als ein Recht auf Wiederheirat („right to remarry") dar. Konventionswidrig wäre ein Verbot der Ehescheidung dann, wenn das Wiederverheiratungsrecht zum Wesenskern des Eheschließungsrechts gehörte. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der normale Wortsinn des Eheschließungsrechts unter Berücksichtigung der Konventionsziele2. „Eheschließung" bedeutet allgemein die Herstellung einer ehelichen Verbindung, nicht deren Auflösung. Der normale Wortsinn spricht folglich gegen ein Ehescheidungsbzw. Wiederverheiratungsrecht, wie sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof im Fall Johnston einmütig befanden 3. Im Mittelpunkt des Falles stand das von Art. 41 I I I der irischen Verfassung ausgesprochene Verbot von Ehescheidungen. Der Beschwerdeführer, der sich von seiner Ehefrau einvernehmlich getrennt hatte und mit einer anderen Frau zusammenlebte, konnte folglich keine Scheidung seiner Ehe erwirken. Das gemeinsame Kind des Beschwerdeführers und seiner Lebensgefährtin galt als illegitim und würde deshalb später möglicherweise gesellschaftliche Benachteiligung erfahren. Die Kommission und der Gerichtshof hielten Irlands Verbot der Ehescheidung für konventionsgemäß, da aus der Konvention kein Recht auf Ehescheidung und Wiederverheiratung folge 4 . 1

So die Argumentation Zeidlers bzgl. Art. 6 GG, Fschr. Faller, S. 161. EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 24 § 52; Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 14 § 29; vgl. auch Art. 311 W V K . 3 EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 24 § 52; KBer v. 5. 3. 1985, Ser. A , Vol. 112, S. 41 ff. (43 § 92). 4 EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 33 § 2; KBer v. 5. 3. 1985, Ser. A , Vol. 112, S. 41 ff. (45 §§ 102, 103.). 2

8. Kap.: Ehescheidung

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Neben der Wortlautinterpretation spielte auch die Entstehungsgeschichte eine maßgebliche Rolle bei der Begründung. Danach wurde seinerzeit in bewußter Abkehr von dem Vorbild des heutigen Art. 12 E M R K , Art. 16 A E M R , nur der erste Teil dieser Vorschrift übernommen " . . . which affirms the right to marry and to found a family; but not the subsequent provisions of the Article concerning equal rights after marriage, since we only guarantee the right to marry. " 5

Ein Ehescheidungsrecht wurde demnach bewußt nicht in die Konvention aufgenommen, sollte also kein zu schützendes Ziel sein. Es fragt sich, ob dies auch heute noch gelten kann. Denn zum Entstehungszeitpunkt der E M R K kannte eine Reihe europäischer Staaten die Ehescheidung nicht 6 , doch wurde sie später im Zuge einer allgemeinen Liberalisierung des Eherechts in allen Europaratstaaten außer Irland eingeführt 7 . Dieser übereinstimmenden Entwicklung in den Mitgliedstaaten könnte nun im Wege einer evolutiven Auslegung des Art. 12 E M R K Rechnung zu tragen sein. Die Grenze einer jeden Auslegung ist jedoch dann erreicht, wenn mit ihrer Hilfe ein neues Recht in einen Vertrag hineingelesen werden soll, vor allem dann, wenn es sich wie hier um eine bewußte Lücke handelt 8 . Auch eine evolutive Auslegung kann also zu keinem anderen Ergebnis führen, wenn diese bewußte Lücke nach wie vor besteht. Eine den gegenteiligen Schluß zulassende Ergänzung des Art. 12 E M R K könnte sich aus Art. 5 des 7. ZP 9 ergeben, der die privatrechtliche Gleichberechtigung der Ehegatten hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe fordert. Hierdurch könnte die Ehescheidung nachträglich anerkannt worden sein. Aus Art. 7 I des 7. ZP ergibt sich, daß seine Vorschriften Zusatzartikel zu der Konvention sein sollen; insofern wird die Konvention tatsächlich ergänzt. Daß nunmehr auch ein Recht auf Ehescheidung anerkannt worden wäre, läßt sich dieser Ergänzung hingegen nicht entnehmen. Art. 5 des 7. ZP garantiert lediglich, daß dann, wenn ein Staat die Ehescheidung zuläßt, er nicht diskriminieren darf. Für eine Verpflichtung der Vertragstaaten, die Ehescheidung überhaupt zuzulassen, bietet schon der Wortlaut des Art. 5 des 7. ZP keinen Anhaltspunkt. In dem Erläuterungsbericht zu diesem ZP findet sich sogar der ausdrückliche Hinweis, daß das Verbot der Ungleichbehandlung bei der Auflösung der Ehe keinerlei Verpflichtung zur Einführung der Ehescheidung beinhalte 10 . 5

Trav. Prép., Vol. 1, S. 268. Hervorh. v. Verf. Vgl. Frowein/Peukert, Art. 12, Rn. 3. 7 Art. 41 I I I (2) der irischen Verfassung verbietet die Ehescheidung: "No law shall be enacted providing for the grant of a dissolution of a marriage." » EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 25 § 53. 9 Vom 22. 11. 1984, noch nicht in Kraft. Dt. Text bei Frowein/Peukert, S. 517 ff. 10 Rapport explicatif du Protocole No. 7, § 39. 6

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2. Teil: Eheschutz

Läßt sich somit aus Art. 12 E M R K kein Recht auf Ehescheidung ableiten, auch nicht unter Berücksichtigung von Art. 5 des 7. ZP, so könnte schließlich die Zulassung der Ehescheidung durch das in Art. 8 verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens geboten sein. Ohne schon an dieser Stelle näher auf den Inhalt dieses Rechts eingehen zu müssen, spricht schon ein systematisches Argument betreffend das Verhältnis des Art. 12 E M R K zu Art. 8 E M R K klar dagegen. Art. 12 stellt Eheschließungen unter seinen besonderen Schutz, während Art. 8 die (nicht notwendigerweise auf Heirat gegründete) Familie schützt. Die Ehescheidung als actus contrarius zur Heirat betrifft daher nur eine Teilgruppe der von Art. 8 geschützten Personen, jedoch den gesamten in Art. 12 angesprochenen Personenkreis, nämlich Paare, die zur wirksamen Auflösung ihrer Verbindung ein besonderes staatliches Verfahren durchlaufen müssen. Was die Regelung der Scheidung anbelangt, ist Art. 12 also die speziellere Vorschrift gegenüber Art. 8. Enthält nun die Spezialnorm bewußt kein Gebot zur Einführung der Ehescheidung, so käme es einer Umgehung gleich, wollte man es aus einer generelleren Norm ableiten 11 . Lediglich ein Mitglied des Gerichtshofs, Richter de Meyer, sah in einem unflexiblen Scheidungsverbot einen Verstoß gegen die Art. 12 und 8 E M R K , da ein Ehepaar selbst bei einem wohlüberlegten, gefestigten Entschluß zur endgültigen faktischen Trennung keine Möglichkeit hatte, nicht nur von der Pflicht zum Zusammenleben, sondern von allen ehelichen Banden befreit zu werden. Zwar müsse kein generelles Ehescheidungsrecht eingeführt werden, doch sei in einer demokratischen, toleranten Gesellschaft nicht zu rechtfertigen, die Unauflösbarkeit der Ehe ohne Ausnahmeregelungen vorzusehen: ,,L' exclusion radicale de toute possibilité de demander la dissolution civile d'une mariage n'est pas compatible avec le droit au respect de la vie privée et familiale, avec le droit à la liberté de conscience et de religion et avec le droit de se marier et de fonder une famille." 12

Im Gegensatz dazu steht die abweichende Meinung des irischen Richters O'Donoghue in dem früheren, ähnlich gelagerten Fall Airey, in dem es allerdings nicht um die Scheidung der Ehe, sondern um die „Trennung von Tisch und Bett" unter Weiterbestehen der Ehe ging. O'Donoghue warb um Verständnis für das irische Scheidungsverbot: "It may be a little strange for some members of the Court to appreciate the rigidity of this position but it will be seen that for over a century the law in Ireland placed many obstacles in the way of obtaining a dissolution of marriage. The Court has always been careful to abstain from recommending or suggesting a blue-print of any 11 E G M R , Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 26 § 57: " . . . the Court does not consider that the right to divorce, which has found to be excluded from Article 12 . . . , can, with consistency, be derived from Article 8, a provision of more general purpose and scope." 12 Teils zustimmendes, teils abweichendes Sondervotum des Richter de Meyer im Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 35 ff. (36 f. und 38 § 6).

8. Kap.: Ehescheidung

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constitutional or legislative changes in the law of member States. Many changes have taken place in recent times in the law enabling marriages to be dissolved in the several member States. I am not aware that it has ever been contended that divorce legislation is either required or prohibited by any Article of the Convention. There is a great variety in the laws enabling marriages to be dissolved and it is quite understandable that the rigid position at the moment in Ireland owing to the Constitutional prohibition is somewhat hard to be fully understood and appreciated by those from countries where divorce can be obtained with great facility and expedition." 13

Allen Positionen ist gemeinsam, daß sie die Außenseiterstellung Irlands betonen gegenüber den anderen EMRK-Staaten mit liberalen Scheidungsregelungen, die dem weltlichen Ehe Verständnis als auflösbarem Vertrag Rechnung tragen 14 . Auch wenn dagegen angeführt werden kann, daß dieser Vertrag nach dem Willen der Parteien auf Dauer gelten sollte, so ist es kein Widerspruch, seine Beendigung für Fälle vorzusehen, in denen ein Festhalten an der Ehe nicht mehr zumutbar ist. Als vorzugswürdig erscheint die Einräumung der Ehescheidung gerade unter dem Aspekt, daß einem verantwortlichen Entschluß mündiger Bürger über die Gestaltung ihres ureigensten, privatesten Bereiches nicht die rechtliche Anerkennung versagt wird. Darüber hinaus ermöglicht die Ehescheidung einen Neubeginn, indem spätere Partnerschaften „legalisiert" werden können. So steht das (wiederverheiratete) Ehepaar dann wiederum unter dem besonderen Schutz der Konvention und der nationalen Verfassungen; gemeinsame Kinder sind ohne weiteres ehelich. Wollte man umgekehrt Ehescheidungen und damit auch Wiederverheiratungen nicht zulassen, so führte dies zu Ungerechtigkeiten, die den Grund für die Privilegierung ehelicher Verbindungen ad absurdum führten. Denn gerade jene Verbindungen würden geschützt, die zwar das Etikett „Ehe" tragen, aber de facto nicht mehr bestehen, während die intakte, tatsächlich bestehende Lebensgemeinschaft mit einem neuen Partner nicht dem besonderen Schutz des Art. 12 unterfiele. Daß eine solche lebenslange, jedoch nur noch formal bestehende Bindung auch psychisch sehr belastend sein kann, liegt auf der Hand. Es sprechen also viele Gründe dagegen, einen einmal gefaßten Entschluß mit „Ewigkeitsgarantie" zu versehen, wie dies schon nach kirchlicher Auffassung der Fall ist, sondern die Rechtslage der sozialen Realität und den Bedürfnissen der Betroffenen anzupassen. Insofern verdient Richter de Meyers Hinweis vollste Zustimmung, in einer offenen, toleranten, pluralistischen Gesellschaft erscheine ein Scheidungsverbot als zu drakonische Maßnahme 15 . Eine völlig andere Frage ist es jedoch, ob diese Forderung mit Konventionsbestimmungen untermauert werden kann. Dies muß verneint werden, da hier die Grenzen der Auslegungsmöglichkeiten erreicht sind. Typischerweise wer13 Dissenting Opinion von Richter O'Donoghue im Fall Airey, Ser. A , Vol. 32, S. 21 ff. (23). 14 Zuleeg, N V w Z 1986, S. 805. 15 Sondervotum de Meyer im Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 35 ff. (37).

188

. Teil:

eschutz

den Entwicklungen in den Mitgliedstaaten im Wege einer evolutiven Auslegung der Konvention berücksichtigt. Dieser Weg ist hier aber deshalb versperrt, weil die Konvention nicht nur kein Recht auf Scheidung enthält und ein solches nicht in Art. 12 E M R K hineininterpretiert werden kann, sondern dieses Recht auch ganz bewußt nicht in die Konvention aufgenommen wurde. Die Vertragstaaten der Konvention haben ihre Zustimmung nur zu den Rechten abgegeben, die zumindest schon ansatzweise zum Ratifikationszeitpunkt vorhanden waren, so daß sie nun nicht allein aufgrund einer Änderung der europäischen Maßstäbe zur Gewährleistung eines neuen Rechts verpflichtet werden können. Eine solche Rechtsfolge widerspräche nicht nur dem Grundsatz der Staatensouveränität, sondern würde letztlich auch den Kernbestand relativ gefestigter Menschenrechte gefährden oder gar entwerten. Der angemessene Weg, den veränderten Umständen in den Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen, liegt vielmehr in einer ausdrücklichen Erweiterung der Konvention um ein Recht auf Ehescheidung, verankert etwa in einem weiteren Zusatzprotokoll. Dies bietet Gelegenheit zu einem Austausch der Argumente und Gegenargumente auf internationaler Ebene, und jedem Staat steht es dann frei, diese neue Verpflichtung einzugehen oder der Erweiterung fernzubleiben. Ein Recht auf Ehescheidung und Wiederverheiratung ist somit in der Konvention weder enthalten 16 noch im Wege der Auslegung zu ermitteln. Die Mitgliedstaaten der E M R K können daher über die Zulassung der Ehescheidung befinden, ohne daß ihnen von der E M R K ein bestimmter Weg vorgezeichnet wird 1 7 . I I . IPBPR Im Unterschied zur E M R K wird in Art. 23 I V IPBPR die Auflösung der Ehe erwähnt. Auch in diesem Fall soll die Gleichberechtigung der Partner gewährleistet und für den Schutz der Kinder gesorgt werden: "States Parties to the present Covenant shall take appropriate steps to ensure equality of rights and responsibilities of spouses as to marriage, during marriage and at its dissolution. In the case of dissolution, provision shall be made for the necessary protection of any children."

Außer durch den Tod eines Ehegatten kann eine Ehe durch Scheidung aufgelöst werden; insofern bezieht sich diese Vorschrift auf die Ehescheidung18. Doch schon ihrem Wortlaut nach kann dieser Bestimmung - und sie kommt 16 EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986, Fall Johnston, Ser. A , Vol. 112, S. 25 § 54; van Dijk/ van Hoof, Theory and Practice, S. 332 § 4; Frowein/Peukert, Art. 12 Rn. 3; Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 192; Fawcett, Application, S. 226. 17 Castberg, ECHR, S. 142. 18 Volio, in: Henkin, International Bill, S. 204.

8. Kap.: Ehescheidung

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als einziger Ansatzpunkt in Frage, da der Pakt keine weiteren, einschlägigen Vorschriften enthält - kein Recht auf Ehescheidung entnommen werden. Zudem liegt das Regelungsziel des Art. 23 I V IPBPR in der Verwirklichung der Gleichberechtigung und dem Schutz der Kinder; zur Ehescheidung nimmt diese Vorschrift weder positiv noch negativ Stellung 19 . Ihre Bedeutung für die Ehescheidung erschöpft sich darin, daß ein Staat dann, wenn er (ohne hierzu international verpflichtet zu sein) ein Ehescheidungsverfahren innerstaatlich normiert, er diesen beiden Gesichtspunkten in seiner Gesetzgebung ausreichend Rechnung tragen muß. Wie soeben für Art. 12 E M R K dargelegt, folgt auch aus dem Eheschließungsrecht selbst kein Recht auf Ehescheidung. Diese Erkenntnis ist auf die Paktbestimmung übertragbar, da die maßgeblichen Gründe entsprechend gelten. I I I . AmK In Art. 17 I V A m K wird in ganz ähnlicher Weise auf die Auflösung der Ehe Bezug genommen wie im IPBPR: "The States Parties shall take appropriate steps to ensure the equality of rights and the adequate balancing of responsibilities of the spouses as to marriage, during marriage, and in the event of its dissolution. In case of its dissolution, provision shall be made for the necessary protection of any children solely on the basis of their own best interests."

Ebensowenig wie Art. 23 I V IPBPR kann dem Wortlaut dieser Vorschrift ein Recht auf Ehescheidung entnommen werden. Denn Ziel auch der AmKBestimmung ist die Verwirklichung der Gleichberechtigung und der Schutz der Kinder bei der Auflösung der Ehe. Bedeutung hat Art. 17IV A m K für die Ehescheidung nur insoweit, als dann, wenn nach nationalem Recht die Ehescheidung möglich ist, die in der Konventionsbestimmung niedergelegten Bedingungen erfüllt sein müssen. I V . Ergebnis Keines der untersuchten Vertragswerke enthält also ein Recht auf Ehescheidung, ebensowenig läßt sich ein solches im Wege der Auslegung ermitteln. Auch wenn Bestimmungen des IPBPR oder der A m K die Ehescheidung erwähnen, folgt daraus keine Pflicht zu ihrer innerstaatlichen Zulassung. Nur für den Fall der (freigestellten) Zulassung der Ehescheidung werden den Vertragstaaten bestimmte Pflichten auferlegt. Somit mag eine Liberalisierung der Eherechte, die eine Scheidung der Partner ermöglicht, wünschenswert sein, doch besteht in diesem Bereich keine menschenrechtliche Verpflichtung. 19

Volio, in: Henkin, International Bill, S. 204.

Dritter

Teil

Schutz der Familie Neuntes Kapitel Abgrenzung des Familienschutzes von anderen Schutzgütern Der nun folgende Teil der Untersuchung widmet sich den in menschenrechtlichen Kodifikationen niedergelegten Familienschutzvorschriften. Ähnlich wie bei der Garantie der Eheschließungsfreiheit stellt sich auch hier als erste zentrale Frage jene nach dem dem zu untersuchenden Vertrag innewohnenden Familienbegriff, anhand dessen der Kreis der Begünstigten abzugrenzen ist. Die Familienschutzbestimmung der E M R K findet sich in Art. 8, dessen erster Absatz lautet: "Everyone has the right to respect for his private and family life, his home and correspondence. "

bzw. „Toute personne a droit au respect de sa vie privée et familiale, de son domicile et de sa correspondance."

Der Schutz des Familienlebens wird hier nicht isoliert, sondern gemeinsam mit dem des Privatlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs genannt. Ein besonders enger Zusammenhang scheint dem Wortlaut nach zwischen dem Schutz des Familien- und dem des Privatlebens zu bestehen. Eine ähnliche Verknüpfung der Schutzbereiche nimmt Art. 171 IPBPR vor, wonach niemand " . . . shall be subjected to arbitrary or unlawful interference with his privacy, family, home or correspondence . . . " ,

sowie in Art. 1 1 I I A m K : "No one may be the object of . . . interference with his private life, his family, his home, or his correspondence,

Die folgenden Vorüberlegungen sind daher nicht nur für die Untersuchung im Rahmen der E M R K , sondern auch für die des IPBPR und der A m K von Bedeutung.

9. Kap.: Abgrenzung von anderen Schutzgütern

191

Da sich insbesondere bei der Abgrenzung der beiden Schutzobjekte „Privatleben" und „Familienleben" diffizile Abgrenzungsprobleme ergeben, stellt sich vorab die Frage nach dem Sinn einer genauen Abgrenzung. Denn da in jedem Fall ein Eingriff in die genannten Rechtsgüter gem. Art. 8 I I E M R K bzw. Art. 17 I IPBPR und Art. 11 I I A m K gerechtfertigt sein muß, könnte eine Unterscheidung bedeutungslos und folglich obsolet sein1. Stellvertretend für die übrigen Bestimmungen soll diese Frage exemplarisch für Art. 8 E M R K geklärt werden. Dem Wortlaut nach gewährt Art. 8 I E M R K vier verschiedene Rechte, wobei allerdings Überschneidungen ihrer Schutzbereiche wahrscheinlich sind2. Der äußere Aufbau der Bestimmung spricht daher zunächst für eine sorgfältige Abgrenzung der Garantien, da auch das Privat- und Familienleben als gleichberechtigte Schutzobjekte nebeneinandergestellt werden und somit grundsätzlich von einem jeweils eigenständigen, gesonderten Schutzbereich auszugehen ist 3 . Doch bei Durchsicht der einschlägigen Konventionsrechtsprechung erweist es sich, daß sich sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof zur Umgehung schwieriger Abgrenzungsfragen des öfteren auf einen „kombinierten Schutzbereich" zurückgezogen und nur untersucht haben, ob ein Eingriff in das Privat- oder Familienleben festzustellen war. Im Rahmen einer Beschwerde, in der zu beurteilen war, ob die Beziehungen einer Pflegemutter zu ihrem Pflegekind als Familienleben geschützt seien, ließ die Kommission die Abgrenzungsfrage ausdrücklich offen: „ I I n'est pas nécessaire de décider ici du point de savoir si, en l'absence de tout rapport juridique de parenté, les liens entre la requérante et le jeune L. constituent une ,vie familiale' selon la disposition précitée. En effet, . . . la séparation prononcée par le juge affecte sans aucun doute sa ,vie privée', dont Γ article 8 assure également le respect." 4

Vor allem in frühen Kommissionsentscheidungen zu den Bereichen des Sorgeund Besuchsrechts sowie des Ausländerrechts wurden beide Schutzbereiche nicht getrennt untersucht. Diese Methode gab die Kommission jedoch später im ausländerrechtlichen Bereich völlig und bei Sorge- und Besuchsrechtsentscheidungen weitgehend auf und prüfte die relevanten Fragen unter dem Aspekt des Familienlebens5. Auch der Gerichtshof maß wiederholt Eingriffe 1

So van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 282, die eine klare Abgrenzung mangels Definition der Schutzobjekte für unmöglich halten. 2 Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 1. 3 Wolfrum, FW 58 (1975), S. 267; Jacobs, ECHR, S. 128; Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 1; Fawcett, ECHR, S. 187; Castberg, ECHR, S. 138; Breitenmoser, S. 106 f. 4 K E v. 10. 7. 1978 zu Β 8257/78, X ./. Schweiz, D R 13, S. 248 ff. (250). 5 Die Entwicklung der Spruchpraxis stellt Breitenmoser, S. 102-105, eingehend und mit zahlreichen Nachweisen dar. Da die Einzelheiten hier nicht weiter interessieren und zudem die für die vorliegende Untersuchung wichtigen Entscheidungen später in ihrem

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3. Teil: Familienschutz

an dem kombinierten Schutzbereich, und zwar unabhängig davon, ob er eine Verletzung bejahte 6 oder verneinte 7 . Nach der Spruchpraxis der EMRKOrgane ist die Zusammenfassung beider Schutzbereiche also zumindest eine zulässige Methode. Andererseits stufte die Kommission in vereinzelten Entscheidungen den Schutzbereich aber auch ab insofern, als sie unter Verneinung eines schützenswerten Familienlebens die zu beurteilenden persönlichen Beziehungen „nur" als Privatleben wertete. So stellte sie beispielsweise fest, daß Beziehungen Unverheirateter, die nicht ständig zusammenleben und keinen gemeinsamen Haushalt führen, nicht als Familien-, sondern nur als Privatleben vor staatlichen Eingriffen geschützt sind: "The Commission does not deny that extra-marital relationships may constitute family life . . . In the present case, however, . . . the relationship between the applicants only amounts to 'private life' within the meaning of Article 8 of the Convention." 8

Die Kommission sah demnach den Schutz des Privatlebens als die im Verhältnis zu dem Recht auf Achtung des Familienlebens generellere Bestimmung an, als Auffangtatbestand. Denn familiäre Beziehungen unterfallen immer auch dem Schutz der Privatsphäre, jedoch wird nicht auch umgekehrt das Privatleben nur durch Familienbeziehungen definiert. Ziel des Rechts auf Achtung des Privatlebens ist es, dem Einzelnen eine Sphäre zu sicher, in der er die Entwicklung und Erfüllung seiner Persönlichkeit anstreben kann 9 . Dazu gehört, daß er zu anderen Menschen Beziehungen knüpfen und aufrechterhalten kann. Diese Beziehungen können familiärer Art sein, müssen es aber nicht notwendigerweise. In erstgenanntem Fall greift das Recht auf Achtung des Familienlebens ein, in letzterem nur jenes auf Achtung des Privatlebens. Somit sind auch familiäre Beziehungen der Privatsphäre zugehörig, doch stehen sie darüber hinaus auch unter der Garantie des Familienschutzes. Im Bereich ehelicher und familiärer Beziehungen ist daher das Recht auf Achtung des Privatlebens die generelle Schutzvorschrift, das Recht auf Achtung des Familienlebens die Spezialnorm. Wollte man nun keine Trennung der Schutzbereiche vornehmen, so käme dem Recht auf Achtung des Familienlebens in weiten Bereichen kein eigenständiger, von der Privatsphäre nicht schon umfaßter Schutzbereich zu. Der in Art. 8 E M R K ausdrücklich enthaltenen Garantie würde also in vielen Fällen jeweiligen Zusammenhang erörtert werden sollen, wird insoweit auf Breitenmosers Darstellung verwiesen. 6 EGMR, Urt. v. 9. 10. 1979, Fall Airey, Ser. A , Vol. 32, S. 17 § 33. 7 E G M R , Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 32 § 7. 8 K E v. 14. 7. 1977 zu Β 7289/75 und 7349/76, X u. Y ./. Schweiz, D R 9, S. 57 ff. (74). 9 K E v. 12. 7. 1977 zu Β 6959/75, Brüggemann und Scheuten ./. Bundesrepublik, DR 10, S. 100 ff. (115).

9. Kap.: Abgrenzung von anderen Schutzgütern

193

keine eigene Bedeutung zugestanden, sie würde von dem Recht auf Achtung des Privatlebens konsumiert. Lassen schon diese Überlegungen eine möglichst genaue Abgrenzung vorzugswürdig erscheinen, so unterscheidet sich auch die Konventionsmäßigkeit eines Eingriffs danach, ob Familien- oder nur Privatleben betroffen ist. Denn bei der Abwägung der staatlichen Interessen an dem Eingriff gegenüber jenen des Einzelnen kommt dem Familienleben eine gesteigerte Bedeutung zu. Es ist dann nämlich nicht nur die Privatsphäre eines Individuums betroffen, sondern darüber hinaus sein Familienleben als besonders hervorgehobener Teil seiner Privatsphäre, zu dessen Schutz sich die Konvention ebenso bekennt wie zahlreiche nationale Verfassungen. Eine Interessenabwägung, bei der der Schutz des Familienlebens in die Waagschale geworfen werden kann, wird daher im Zweifel eher zugunsten des Individuums ausfallen als wenn der Betroffene sich nur auf den Schutz seiner Privatsphäre berufen kann. Schließlich spricht auch die Forderung nach Rechtsklarheit für eine sorgfältige Abgrenzung des Privat- und Familienlebens. Denn ein kombinierter Schutzbereich verwischt den Inhalt beider Schutzgüter. Wird nicht entschieden, welchem der beiden Rechte ein Sachverhalt zuzuordnen ist, verlieren sie schließlich ihre Konturen und damit ihre juristische Operabilität. Dies alles gilt nicht nur für Art. 8 E M R K , sondern trifft ebenso auf Art. 17 I IPBPR und Art. 11 I I A m K zu, die dieselbe Verknüpfung der Schutzbereiche aufweisen. Somit gilt nicht nur für Art. 8 I E M R K , sondern in gleichem Maße für die beiden anderen Bestimmungen: Wenn auch ein kombinierter Schutzbereich den Vorteil hat, diffizile Abgrenzungsprobleme zu umgehen und dafür für die Rechtsprechung in Einzelfällen eine praktikable Möglichkeit sein mag, so sollen wegen der geschilderten Bedenken in der nun folgenden theoretischen Untersuchung beide Schutzbereiche strikt getrennt werden. Auf die generelle Bestimmung, das Recht auf Achtung des Privatlebens, soll dabei nur dann eingegangen werden, wenn dies für das Verständnis des Rechts auf Achtung des Familienlebens erforderlich ist.

13 Palm-Risse

Zehntes Kapitel Der Begriff „Familie" I. Der Familienbegriff der £ M R K Art. 8 I E M R K gewährt jedermann einen Anspruch auf „respect for his . . . family life"/„respect de sa vie . . . familiale". Angesprochen werden hier nicht die Rechte der Familie als Einheit, sondern die Rechte der einzelnen Person im Rahmen ihrer familiären Beziehungen1. Der Familie selbst wird also keine eigene Rechtspersönlichkeit zuerkannt, sondern Träger der Rechte aus Art. 8 E M R K ist allein das Individuum. Der Kreis der Anspruchsberechtigten bestimmt sich danach, ob sie zu einer „Familie" i. S. dieser Vorschrift gehören. Da weder Art. 8 E M R K noch eine andere Vorschrift den Begriff „Familie " näher erläutern oder definieren, stellt sich die Frage nach dem Umfang des geschützten Personenkreises, den Familienangehörigen. Als Abgrenzungskriterium kommt dabei einerseits das tatsächliche Erscheinungsbild der Personenbeziehung in Betracht, andererseits könnte der Konvention aber auch ein juristischer Familienbegriff zugrundeliegen. Steht in erstgenanntem Fall hauptsächlich die Frage nach einer tatsächlich gelebten Gemeinschaft im Mittelpunkt, werden im zweiten Fall eheliche oder verwandtschaftliche Rechtsbeziehungen zwischen den Personen vorausgesetzt. Gegebenenfalls könnten auch beide Kriterien zu kombinieren sein. Eine sorgfältige Auslegung des Begriffs „Familie" ist daher erforderlich. Dabei stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, in welchem Umfang die nationalen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten mit ihrem Verständnis und ihren Definitionen von „Familie" herangezogen werden können. Auch hier sind mehrere Ansätze denkbar: Der Konvention könnte ein eigener, vom nationalen Recht der Mitgliedstaaten losgelöster Familienbegriff innewohnen. Er könnte aber auch ebensogut durch die innerstaatlichen Regelungen auszufüllen sein. Als Mittelweg würde sich anbieten, daß der Familienbegriff der E M R K zwar auf den nationalen Rechtsordnungen aufbaut, aber - in einem Kernbereich etwa - einen gemeinsamen Mindeststandard der Mitgliedstaaten enthält, der von den nationalen Rechtsordnungen losgelöst ist und von 1 Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 183, 187; Partsch, E M R K , S. 180; Wolfrum, FW 58 (1975), S. 266.

10. Kap.: Familienbegriff

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den einzelnen Staaten im Wege einer Änderung ihres nationalen Rechts nicht mehr beeinflußt werden kann. Zahlreiche Entscheidungen der Kommission und des Gerichtshofs befassen sich mit dem Familienschutz der Konvention. Bei der Durchsicht der einschlägigen Spruchpraxis fällt auf, daß nie die Bedeutung oder der Inhalt des Begriffs „Familie" an sich untersucht wird, sondern allein der Terminus „Familienleben", wie er auch in Art. 8 E M R K enthalten ist. Der Weg zur Ermittlung des Familienbegriffs führt also zwangsläufig über eine Untersuchung der Entscheidungen zum „Familienleben". Die daraus abzuleitenden Ergebnisse könnten dann Aufschluß über das Art. 8 zugrundeliegende Konzept der Familie geben. Nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane handelt es sich bei dem Begriff „Familienleben" um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention 2 . Solche autonomen Rechtsbegriffe 3 werden nicht allein durch das nationale Recht der Mitgliedstaaten ausgefüllt, sondern sind im Sinne der Konvention auszulegen und zu verstehen. Eine autonome Interpretation darf allerdings nicht dazu führen, daß der so ermittelte Konventionsbegriff von dem Begriffsverständnis in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten völlig losgelöst wird. Der Begriff „Familienleben" ist danach " . . . an autonomous concept which must be interpreted independently of the domestic law of the High Contracting Parties even though the general principles of such domestic law must necessarily be taken into consideration in this interpretation." 4

Das gemeinsame Recht der Mitgliedstaaten hat also auch auf die Auslegung autonomer Rechtsbegriffe Rückwirkungen und Einfluß 5 . Vor allem dann, wenn im europäischen Raum Begriffsfortbildungen und -Wandlungen stattfinden, kann dies über die Auslegung autonomer Konventionsbegriffe einer „Versteinerung" des Menschenrechtsstandards entgegenwirken 6. Denn die Konvention stellt keine vollständig eigene, von den mitgliedstaatlichen Regelungen abstrahierte Rechtsordnung auf, sondern harmonisiert und vereinheitlicht die Anwendung der Grund- und Menschenrechte. Eine Definition des Begriffs „Familienleben" - und mittelbar der Familie - muß also zunächst die Auslegung der EMRK-Organe selbst berücksichtigen und kann dann eventuelle Lücken durch einen Rückgriff auf das den Mitgliedstaaten gemeinsame Recht auszufüllen versuchen.

2 EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 14 § 31. 3 Beispiele weiterer autonomer Rechtsbegriffe sind zusammengestellt bei Matscher, Fschr. Mosler, S. 550. 4 KBer v. 10. 12. 1977 zu Β 6833/74, Marckx ./. Belgien, Ser. B, Vol. 29, S. 44 § 67. 5 Matscher, Fschr. Mosler, S. 521; Ganshof van der Meersch, EuGRZ 1981, S. 483. 6 Matscher, Fschr. Mosler, S. 522; Ganshof van der Meersch, EuGRZ 1981, S. 482; ders., Fschr. Wiarda, S. 202. 13*

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3. Teil: Familienschutz 1. Ehepaare

Schon die Beziehungen eines (kinderlosen) Ehepaares untereinander sind nach Auffassung der Konventionsorgane als Familienleben dem Schutz der Konvention unterstellt 7 . So erkannte der Gerichtshof in dem ausländerrechtlichen Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali ausdrücklich an: "Whatever else the word 'family' may mean, it must at any rate include the relationship that arises from a lawful and genuine marriage." 8

Art. 8 E M R K setzt schon seinem Wortlaut nach an sich ein bestehendes Familienleben voraus. Doch werden an die Beziehungen zwischen Eheleuten, die zu dem Kernbereich familiärer Beziehungen zählen, nicht so hohe Anforderungen gestellt wie an andere Personenbeziehungen. Aus der soeben zitierten Urteilspassage folgt sogar, daß allein schon das Faktum der Eheschließung gewisse Vorwirkungen auf das später geplante Zusammenleben hat, so daß der mit der Heirat öffentlich bekundete Wille zu künftigem Zusammenleben bei der Entscheidung, ob ein Familienleben schon existiert, positiv zu Buche schlägt. Denn die Beschwerdeführerinnen Abdulaziz, Cabales und Balkandali hatten mit ihren Ehemännern zwar vorübergehend, nicht aber zum Beschwerdezeitpunkt als Familie zusammengelebt, als sie ohne Erfolg um Einreisebzw. Aufenthaltserlaubnisse für ihre ausländischen Ehepartner nachsuchten und sich schließlich an die Konventionsorgane wandten. Dennoch nahm der Gerichtshof ungeachtet des noch nicht vollständig etablierten Zusammenlebens ein bereits bestehendes Familienleben an: "Art. 8 presupposes the existence of a family. . . . However, this does not mean that all intended family life falls entirely outside its ambit." 9

Bis zu einem gewissen Grad kann also die in der Eheschließung enthaltene Absichtserklärung das faktische Zusammenleben ersetzen mit der Folge, daß die eheliche Beziehung auch dann, wenn sie noch nicht voll zur Entfaltung gekommen ist, als Familienleben dem Schutz des Art. 8 unterfällt. Hervorzuheben ist aber, daß das Verhalten der Parteien einen realen Anknüpfungspunkt für diese Konstruktion bieten muß; das Faktum der Eheschließung für sich genommen impliziert noch kein bestehendes Familienleben.

7 E G M R , Urt. v. 28. 5.1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62; Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 14 § 21. Für die Kommission beispielsweise K E v. 17. 12. 1976 zu Β 7729/76, Agee ./. U K , D R 7, S. 164 ff. (173); K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (242); K E v. 8. 12. 1979 zu Β 8022/77, 8025/77 u. 8027/77, X , Y u. Ζ ./. U K , D R 23, S. 237; KBer v. 18. 3. 1981 zu B 8022/77, 8025/77 u. 8027/77, X , Y u. Z ./. U K , D R 25, S. 15 ff. (16, 51 f.) 8 Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62. 9 EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62.

10. Kap.: Familienbegriff

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Von untergeordneter Bedeutung ist hierbei die rechtliche Gültigkeit der Eheschließung. So hatte die britische Regierung im Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali Zweifel an der Wirksamkeit der nach philippinischem Recht geschlossenen Ehe einer der Beschwerdeführerinnen geäußert 10. Der Gerichtshof sah sich durch dieses Vorbringen nicht veranlaßt, die Gültigkeit der Eheschließung zu untersuchen, sondern hielt die entsprechende subjektive Überzeugung der Parteien für ausreichend, daß sie glaubten verheiratet zu sein, zusammenleben und ein normales Familienleben führen wollten 11 . Die Vernachlässigung der Frage nach der Rechtsgültigkeit der Eheschließung erscheint konsequent. Denn entscheidend für die Möglichkeit, ein intendiertes Zusammenleben als Indiz für ein bestehendes Familienleben werten zu können, ist die öffentliche, mit Rechtsbindungswillen abgegebene Absichtserklärung der Ehepartner. Dadurch, daß sie im Rahmen eines formalisierten Verfahrens abgegeben wird, gewinnt sie soweit an Gewicht, daß sie noch unvollständig entfaltete (aber immerhin ansatzweise real existierende) tatsächliche Verbindungen in einem bestimmten Licht erscheinen lassen kann. Mängel des Verfahrens dürfen dann insoweit nicht zu einer anderen Beurteilung führen, als sie nicht die Absicht zu künftiger gemeinsamer Lebensführung in Frage stellen. Wenn also auch bei Ehegatten grundsätzlich daran festgehalten wird, daß sie eine enge faktische Beziehung verbindet, so wird ihnen doch der Umstand der Eheschließung als „Bonus" zugute gehalten und ihre Gemeinschaft dem Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens unterstellt, wenn sie eine tatsächliche Lebensgemeinschaft noch nicht in vollem Umfang etablieren konnten. Diese Konstruktion ist insofern singulär, als sie nur auf Ehepaare anwendbar ist. Zum Teil mag dabei mitspielen, daß ihre Beziehungen einen Kernbereich des Familienlebens darstellen und jedes andere Ergebnis unbillig erschienen wäre. Vor allem aber ist die Heirat der einzige Fall, in dem eine rechtlich relevante Willenserklärung abgegeben wird, künftig als Familie zusammenleben zu wollen, ohne daß schon vorher notwendigerweise intensive Beziehungen wie Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, umfassende Sorge und Unterstützung u. ä. aufgenommen worden sein müssen. Für andere Personenbeziehungen kann daher eine bloße Absichtserklärung nicht als Indiz für ein bestehendes Familienleben fruchtbar gemacht werden.

E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 26 § 48. 11 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 33 § 63.

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3. Teil: Familienschutz 2. Nichteheliche Lebensgemeinschaften

Die Ansichten über nichteheliche Lebensgemeinschaften haben sich seit 1950 in den Konventionsstaaten signifikant gewandelt 12 . Diese Liberalisierung schlägt sich auch in der Rechtsprechung der EMRK-Organe nieder, die die Beziehungen Unverheirateter unter bestimmten Voraussetzungen als Familienleben ansehen13. Allerdings muß zweifelsfrei auf eine hinreichend gefestigte und enge Beziehung geschlossen werden können; die Anforderungen sind hier recht hoch. So ist zumindest erforderlich, daß die unverheirateten Partner ständig in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben14. Fraglich ist allerdings, ob dieser Einordnung freier Lebensgemeinschaften als Familienleben nicht grundsätzlich der Wille der Parteien entgegensteht: Sie sind ihre Beziehung ohne Rechtsbindungswillen eingegangen und haben eine Eheschließung mit den entsprechenden rechtlichen Folgen bewußt abgelehnt. Beruft sich nun einer der Partner auf diese Beziehung und will daraus Rechte für sich ableiten, könnte er dadurch den anderen Partner in die Rechtsordnung hineinzwängen, außerhalb derer er bleiben wollte. Dies könnte selbst dann gelten, wenn sich beide Partner Dritten gegenüber - etwa dem Staat - auf ihre Verbindung berufen. Denn sie könnten sich dadurch in Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten setzen, gerade nicht durch Rechtsbande miteinander verbunden sein zu wollen 15 . In der EMRK-Rechtsprechung bleibt dieses Problem unbeachtet, abgestellt wird allein auf die tatsächliche Lage. Durch die Anerkennung ihrer Beziehungen als Familienleben wird lediglich die tatsächliche Beziehung der zusammenlebenden Partner, für die sie sich frei entschieden haben und die sie aufrechterhalten wollen, unter den Schutz der Konvention gestellt. Zusätzliche, neue Pflichten der Partner untereinander entstehen dadurch nicht, lediglich dem Konventionsstaat sind Interventionen verboten. Insbesondere haben die Partner keine spezifisch eherechtlichen Folgen zu gewärtigen, gegen die sich ihre Entscheidung zu freier Lebensgemeinschaft in erster Linie richtete 16 . Ihre Verbindung wird daher nicht im Nachhinein „verrechtlicht", vielmehr wird ihnen in dem Maße Schutz vor staatlichen Eingriffen gewährt, wie dies die Intensität ihrer Beziehung rechtfertigt. Die Aufrechterhaltung des Status Quo soll ihnen so gerade ermöglicht werden. 12

EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 19 § 41. K E v. 14. 7. 1977 zu Β 7289/75 u. 7349/76, X u. Y ./. Schweiz, D R 9, S. 57 ff. (74: „The Commission does not deny that extra-marital relationships may constitute family life . . . " ) ; s. auch K E v. 2. 5. 1978 zu Β 7770/77, Χ ./. Bundesrepublik, DR 14, S. 175 ff. (176); K E v. 15. 3. 1984 zu Β 9639/82, Β , R und J ./. Bundesrepublik, D R 36, S. 130 ff. (140). 14 K E v. 14. 7. 1977 zu B 7289/75 u. 7349/76, X u. Y ./. Schweiz, D R 9, S. 57 ff. (74); so auch Villiger, Fschr. Wiarda, S. 658. 15 Diederichsen, NJW 1983, S. 1025. 16 Diederichsen, NJW 1983, S. 1019. 13

10. Kap.: Familienbegriff

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Auf der anderen Seite wird ein frei zusammenlebendes Paar von staatlichen Eingriffen in gleichem Maß getroffen und in seinem Zusammenleben gestört wie ein Ehepaar. Dabei erfüllt die Lebensgemeinschaft während ihres Bestehens im wesentlichen dieselben Funktionen wie eine eheliche Familie, nämlich gegenseitige Unterstützung der Partner, gemeinsame Verantwortung für die Erziehung der Kinder, Unterhalt, Wahrnehmung der elterlichen Sorge. Gravierende Unterschiede zwischen beiden Lebensformen zeigen sich erst bei der Auflösung der Gemeinschaft, wenn der möglicherweise mangelnde Wille zu gerechtem Interessenausgleich bei der freien Lebensgemeinschaft nicht durch entsprechende rechtliche Verpflichtungen aufgefangen werden kann. Doch im Rahmen des Art. 8 E M R K geht es nicht um die Auflösung der Gemeinschaft, sondern um die Behandlung intakter nichtehelicher Lebensgemeinschaften. Gegen die Gleichstellung freier mit ehelichen Lebensgemeinschaften könnten schließlich religiös motivierte Bedenken geltend gemacht werden. Doch sind in den Konventionsstaaten der staatliche und der kirchliche Bereich voneinander getrennt; die Rechtsordnungen sind ausschließlich weltlich. Dies spiegelt sich auch in den Konventionsbestimmungen wider, die über eine gewisse Orientierung an allgemeinen Anschauungen und Werten des christlichen Abendlandes keinerlei Bezug zu religiöser oder kirchlicher Rechtsetzung aufweisen 17. Religiöse Erwägungen sind bei der Beurteilung von Schutzansprüchen im Verhältnis Bürger-Staat, das die Konvention allein betrifft, daher fehl am Platz. Die vergleichbare tatsächliche Situation und Funktion rechtfertigen es also, stabile nichteheliche Lebensgemeinschaften dem Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens zu unterstellen 18 . 3. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften

Diese Gleichstellung bezieht sich allerdings nur auf verschiedengeschlechtliche freie Lebensgemeinschaften. Denn in den Europaratsstaaten werden homosexuelle Partnerschaften ungeachtet zunehmend toleranter Haltung allgemein nicht als Familie angesehen19, wobei offenbleiben kann, aus welchen Gründen ihnen die Anerkennung verweigert wird. Vorurteile mögen dabei eine ebenso große Rolle spielen wie die Assoziation der Familie mit Nachkommenschaft. Dementsprechend fassen auch die Konventionsorgane die Beziehungen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nicht unter Familienleben. Sie sind 17

Castberg, ECHR, S. 144. So auch Castberg, ECHR, S. 144. 19 Als Ausnahme erscheinen insoweit die Niederlande und Norwegen, die homosexuelle Partnerschaften - allerdings auch nur partiell für die Zwecke des Familiennachzuges - als Familie behandeln. Vgl. dazu die Länderberichte von Swart, The Legal Position of Aliens in Dutch Law, in: Frowein/Stein, Rechtsstellung, Teil 1, S. 884 Rn. 5, und von Grahl-Madsen, The Legal Position of Aliens in Norway, ebenda, S. 996 (b). 18

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3. Teil: Familienschutz

dennoch nicht schutzlos gestellt, da gleichgeschlechtliche Gemeinschaften als Privatleben zu achten sind 20 . 4. Geschiedene Paare

Den an nichteheliche Lebensgemeinschaften gestellten Anforderungen unterfallen auch geschiedene Paare. Denn das zwischen ihnen vormals bestehende Familienleben ist nach der Ehescheidung in aller Regel beendet 21 , so daß sie auch nicht über die Brücke eines dauernden Zusammenlebens als Mitglieder einer Familie angesehen werden können. Anders verhielte es sich nur dann, wenn die geschiedenen Ehepartner auch nach der Scheidung in dauernder, stabiler Verbindung lebten. In diesem, der Natur der Sache nach allerdings sehr unwahrscheinlichen Fall besteht ein Familienleben unter den Voraussetzungen, unter denen auch nichteheliche Lebensgemeinschaften als Familie angesehen werden. 5. Außereuropäische Familienmodelle

Der Schutz des Art. 8 E M R K könnte auch solchen Familien zuteil werden, die nicht nach europäischem, westlichem Konzept begründet wurden, sondern beispielsweise auf der Mehrehe aufbauen 22. Konkret stellt sich diese Frage beispielsweise dann, wenn eine nach einer außereuropäischen Rechtsordnung gegründete Familie in den Hoheitsbereich eines Konventionsstaates einreist und von dessen Behörden entschieden werden muß, ob dieser Personenkreis als „Familie" Vergünstigungen in Anspruch nehmen kann. In einem solchen Fall verpflichtet Art. 8 E M R K grundsätzlich zur Anerkennung des fremden Familienmodells. Uneingeschränkt gilt dies jedenfalls für solche Familienmodelle, die nicht gegen tragende Grundsätze und Anschauungen der europäischen Staatengemeinschaft verstoßen, die also, wie z. B. Polygamie, nach europäischen Vorstellungen nicht schlechthin intolerabel sind. Sollte es sich hingegen um Modelle handeln, die Familiengründungen unter Verletzung der Menschenwürde oder anderer grundlegender Werte und 20 EGMR, Urt. v. 22. 10. 1981, Fall Dudgeon, Ser. A , Vol. 45, S. 18 § 41; K E v. 3. 5. 1983 zu Β 9369/81, X u. Y ./. U K , D R 32, S. 220 ff. (220: „The relationship of a homosexual couple falls within the scope of the right to respect for private life, but not that of family life.") 21 K E v. 30. 5. 1974 zu Β 5416/72, Χ ./. Österreich, CoD 46, S. 88 ff. (92); K E v. 6. 5. 1980 zu Β 8604/79, X ./. Bundesrepublik, D R 20, S. 206 ff. (207). 22 Dies wurde von der Kommission implizit anerkannt in K E v. 15. 7. 1967 zu Β 2991/ 66 u. 2992/66, Alam, Khan und Singh ./. U K , CoD 24, S. 116 ff. Einer der Beschwerdeführer war nach moslemischem Recht mit zwei Frauen verheiratet und hatte aus beiden Ehen Kinder (a.a.O., S. 117). Die Kommission sah auch die Kinder aus zweiter Ehe als der Familie des Beschwerdeführers zugehörig an (a.a.O., S. 131). S. auch van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 288 § 3.

10. Kap.: Familienbegriff

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fundamentaler Konventionsgarantien zulassen, kann die Konvention ihre Mitgliedstaaten nicht zur Anerkennung solcher Verbindungen als Familie verpflichten, da damit Menschenrechtsverletzungen Vorschub geleistet würde. Solche Beziehungen sind folglich nicht mehr von dem in Art. 8 geschützten Familienleben umfaßt. Die Verpflichtung zur Anerkennung auch außereuropäischer Familienmodelle bedeutet nun allerdings nicht, daß ein Konventionsstaat zulassen muß, daß auf seinem Gebiet polygame Verbindungen eingegangen werden können. Denn aus Art. 12 E M R K als der hier einschlägigen Konventionsvorschrift folgte eine derartige Verpflichtung gerade nicht 23 . 6. Kernfamilie

Wurden bislang schwerpunktmäßig Paarbeziehungen untersucht, so stellt sich nun die Frage, welche Weiterungen des Familienlebens sich aus der Einbeziehung von Kindern ergeben. Die in Europa häufigste Form einer Familie mit Kindern ist mittlerweile die sog. „Kernfamilie", bestehend aus einem Ehepaar und minderjährigen Kindern. Sowohl die Beziehungen der Eltern untereinander als auch jeweils zu ihren Kindern sind hier durch Art. 8 E M R K geschützte familiäre Bande 24 . Bei einer intakten Familie ergeben sich die von der EMRK-Rechtsprechung zusätzlich geforderten engen Bindungen der Familienmitglieder untereinander aus ihrem alltäglichen Zusammenleben, gemeinsamer Sorge und Verantwortung füreinander sowie finanzieller und anderer Abhängigkeit. Die Kernfamilie ist sozusagen der Inbegriff eines „normalen" Familienlebens. So problematisieren denn auch die mit einer Kernfamilie befaßten Entscheidungen die Frage eines bestehenden Familienlebens überhaupt nicht, sondern gehen vom Normalfall aus: "It follows from the concept of family on which Article 8 is based that a child born of such a union [einer Ehe] is ipso jure part of that relationship; hence, from the moment of birth, there exists between him and his parents a bond amounting to family life .. . " 2 5

23

S. o., 7. Kapitel, Text zu Fn. 26 - 28. EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 19 § 41; Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 14 § 21. Die Kommission hat dies in zahlreichen Entscheidungen wiederholt, genannt seien hier stellvertretend K E v. 8. 10. 1974 zu Β 6357/73, X ./. Bundesrepublik, D R 1, S. 77 f.; aus jüngerer Zeit K E v. 6. 7. 1982 zu Β 9285/81, X , Y u. Ζ ./. U K , D R 29, S. 205; K E v. 17. 11. 1983 zu B 9276/81, C ./. U K , D R 35, S. 13 ff. (19); K E v. 19. 1.1984 zu B 9330/81, Abdulmassih, Jan & Ibrahim Bulus ./. Schweden, D R 35, S. 57 ff. (58, 64 f.); K E v. 13. 3. 1984 zu B 9580/81, L , H u. A ./. U K , D R 36, S. 100 ff. (111); K E v. 14. 5. 1984 zu B 10496/83, R ./. U K , D R 38, S. 189 ff. (195). 25 E G M R , Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 14 § 21. 24

3. Teil: Familienschutz

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„Familienleben" i. S. Art. 8 E M R K besteht daher in solch einem Normalfall sowohl zwischen den Ehepartnern als auch im Verhältnis beider Elternteile zu ihren Kindern. Die Beurteilung, ob ein Familienleben besteht zwischen - den Eltern untereinander, - Vater und Kindern sowie - Mutter und Kindern ist jeweils von der Einordnung der übrigen Beziehungen unabhängig. Grundsätzlich unbeeinträchtigt von der Trennung der Eltern bleibt daher das Familienleben mit ihren Kindern 26 . Dieses bleibt vielmehr solange bestehen, wie noch Bindungen tatsächlicher Art aufrechterhalten werden 27 , wie etwa durch regelmäßige Besuche des nicht sorgeberechtigten Elternteils nach der Ehescheidung28. Der Umstand, ob es sich um eheliche oder nichteheliche Kinder handelt, ist hierbei ohne Belang. 7. Nichteheliche Kinder

Die Konventionsrechtsprechung folgte der Entwicklung in den Mitgliedstaaten, die Schlechterstellung nichtehelicher Kinder zu beseitigen und sie mit ehelichen Kindern gleichzustellen29. Grundlegend über das Verhältnis natürlicher Eltern zu ihren nichtehelichen Kindern äußerte sich der Gerichtshof in dem wohl wichtigsten Fall zu diesem Bereich, dem Fall Marckx. Die Beschwerdeführerinnen, Paula Marckx und ihre nichteheliche Tochter Alexandra, fühlten sich dadurch benachteiligt und diskriminiert, daß nach belgischem Recht zwischen einer ledigen Mutter und ihrem Kind keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen bestanden, was u. a. nachteilige erbrechtliche Folgen hatte. Die Kommission und der Gerichtshof erkannten hier ungeachtet der belgischen Regelung an, daß allein schon das biologische Band zwischen Mutter und Kind ausreiche, um familiäre Beziehungen zwischen beiden zu begründen, wie dies auch nach belgischem Recht für eheliche Kinder angenommen wurde 30 :

26 Vgl. etwa K E v. 2. 5. 1978 zu Β 7770/77, X ./. Bundesrepublik, D R 14, S. 175 ff. (176): "The family life of the parents with their children . . . does not cease owing to the divorce of a married couple." 27 Ζ. B. K E v. 19. 12. 1974 zu Β 6577/74, Χ ./. Bundesrepublik, D R 1, S. 91 ff. (92); K E v. 29. 9. 1975 zu Β 6833/75, Marckx ./. Belgien, D R 3, S. 112 ff. (122); K E v. 9. 5. 1977 zu Β 7619/76, Χ ./. U K , D R 9, S. 166; K E v. 14. 7. 1977 zu B 7626/76, X ./. U K , D R 11, S. 160 ff. (162); K E v. 12. 12. 1977 zu B 7911/77, X ./. Schweden, D R 12, S. 192 ff. (193); K E v. 5. 12. 1978 zu B 7658/76, X ./. Dänemark, D R 15, S. 128 ff. (129); K E v. 4. 7. 1983 zu B 9018/80, Κ ./. Niederlande, D R 33, S. 9 ff. (12); K E v. 15. 3. 1984 zu B 9639/82, B, R und J ./. Bundesrepublik, D R 36, S. 130 ff. (139). 28 E G M R , Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 14 § 21. 29 Dazu nur E G M R , Urt. v. 13. 7. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 19 § 41.

10. Kap.: Familienbegriff

203

"Article 8 thus applies to the 'family life' of the 'illegitimate' family as it does to that of the 'legitimate' family." 3 1

Diese Grundsatzentscheidung gewann weit über den konkreten Fall hinaus Bedeutung für das gesamte Nichtehelichenrecht sowie die Stellung lediger im Vergleich zu verheirateten Eltern. A n die Intensität der Bindungen zwischen Eltern und ihren nichtehelichen Kindern werden nicht so hohe Anforderungen gestellt wie an jene zwischen den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft 32. So sprechen beispielsweise regelmäßige Besuche, die Wahrnehmung des Sorgerechts, finanzielle Unterstützung und vor allem das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt für das geforderte enge Band. Je nach den Umständen des konkreten Falles werden mehr oder weniger strenge Maßstäbe angelegt. So genügten etwa bei einer beträchtlichen räumlichen Distanz auch gelegentliche Besuche des Vaters bei seinen nichtehelichen Kindern für die Annahme eines Familienlebens33. Zum Erliegen kommt es, wenn nur noch ausnahmsweise Kontakt zu dem nichtehelichen Kind besteht oder es für die Zukunft weiteren Kontakt ablehnt 34 . Unbeeinflußt bleibt das Familienleben ebenso wie von der Trennung der Eltern von einer späteren Eheschließung eines Elternteils: Bei Eingehung einer zweiten Ehe nach Auflösung der ersten Verbindung zählen sowohl die Kinder aus erster wie aus zweiter Ehe zur Familie des wiederverheirateten Elternteils 35 . 8. Erwachsene Kinder

Schwieriger als bei Minderjährigen ist die Frage nach einem bestehenden Familienleben bei erwachsenen Kindern zu lösen, die sich ja im Normalfall von ihrer ursprünglichen Familie gelöst und einen eigenen Lebensmittelpunkt gefunden, ggf. auch schon eine eigene Familie gegründet haben. Es kann daher nicht mehr - wie bei minderjährigen Kindern - als Normalfall angesehen werden, daß zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern ein Familienleben i. S. Art. 8 E M R K besteht; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den Schluß hierauf zulassen36. Eine wesentliche Rolle 30 E G M R , Urt. v. 13. 7. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 16 f. § 36; KBer v. 10. 12. 1977 zu Β 6833/74, Marckx ./. Belgien, Ser. B, Vol. 29, S. 45 f. § 75. 3 1 E G M R , Urt. v. 13. 7. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 14 § 31. 32 K E v. 14. 7. 1977 zu Β 7289/76, X u. Y ./. Schweiz, D R 9, S. 57 ff. (74): " . . . the relationship between a father and his illegitimate children is always included in the concept of family life while this is not necessarily the case with extra-marital relationships even if they have led to the birth of children." 33 K E v. 14. 7. 1977 zu Β 7289/75 u. 7349/76, X u. Y ./. Schweiz, D R 9, S. 57 ff. (75). 34 So in K E v. 19. 12. 1974 zu B 6577/74, X ./. Bundesrepublik, D R 1, S. 91 ff. (92): Die mittlerweile 18-jährige Tochter lehnte künftige Besuche ihres natürlichen Vaters ab; s. auch K E v. 30. 5. 1974 zu Β 5416/72, X ./. Österreich, CoD 46, S. 88 ff. (92). 35 K E v. 6. 5. 1980 zu Β 8604/79, X ./. Bundesrepublik, D R 20, S. 206 f.

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3. Teil: Familienschutz

spielen hier das Alter und die Abhängigkeit der Kinder, wie folgende Beschwerde eines gemischt-nationalen Ehepaares gegen die Ausweisung des ausländischen Ehemannes veranschaulicht. Gegen das Ansinnen, ihrem Ehemann ins Ausland zu folgen, brachte die 26jährige Ehefrau u. a. vor, sie müsse sich in diesem Fall von ihren Eltern trennen, mit denen sie familiär und emotional eng verbunden sei 37 . Dennoch bewertete die Kommission diese Beziehungen nicht als Familienleben wegen des Alters, der finanziellen Selbständigkeit sowohl der Tochter als auch der Eltern sowie deshalb, weil die Tochter mit ihrem Ehemann schon eine eigene Familie gegründet hatte 38 . Doch genauso wenig, wie die Beziehungen minderjähriger Kinder zu ihren Eltern schon von vornherein ohne weitere Prüfung als Familienleben angesehen werden können, ist dies bei erwachsenen, vielleicht selbst schon verheirateten Kindern abzulehnen39. Aber da in solchen Fällen nicht mehr selbstverständlich von einem andauernden Familienleben ausgegangen werden kann, trifft den Beschwerdeführer hier eine umfangreichere Darlegungslast insofern, als er die fortbestehenden Bindungen vortragen und substantiiert darlegen muß. Tatsachen wie das Alter der Kinder oder eine eigene Familiengründung sprechen also für sich genommen nicht schon eindeutig gegen ein fortbestehendes Familienleben mit ihren Eltern; die Entscheidung muß vielmehr nach einer Würdigung der Gesamtumstände getroffen werden. 9. Adoptivkinder

Den leiblichen Kindern eines Paares stehen ihre Adoptivkinder gleich 40 . Mit der Adoption scheiden sie aus ihrer ursprünglichen Familie aus und zählen 36 K E v. 15. 7. 1967 zu Β 2991/66 u. 2992/66, Alam, Khan und Singh ./. U K , CoD 24, S. 116 ff. (131); K E v. 24. 4. 1965 zu Β 1855/63, X ./. Dänemark, Yb ECHR 8 (1965), S. 200 ff. (204: Kein Familienleben zwischen einem 41jährigen Mann und seinen Eltern, in deren Heimatland er schon seit über 20 Jahren nicht mehr lebte); K E v. 10. 12. 1984 zu Β 10375/83, D R 40, S. 196 ff. (Kein bestehendes Familienleben zwischen einer Mutter und ihrem 33jährigen Sohn), S. 198: "Generally, the protection of family life under Article 8 involves cohabiting dependents, such as parents and their dependent minor children. Whether it extends to other relationships depends on the circumstances of the particular case." 37 K E v. 8. 2. 1972 zu Β 5269/71, X u. Y ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (105). 38 K E v. 8. 2. 1972 zu B 5269/71, X u. Y ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (108). 39 So wurde ζ. B. in K E v. 2. 5. 1979 zu Β 8244/78, Uppal und Singh ./. U K , D R 17, S. 149 ff. aufgrund der engen Beziehungen der Familienmitglieder zueinander ein bestehendes Familienleben zwischen der drei Generationen umfassenden Großfamilie angenommen, und zwar auch im Verhältnis der Großeltern zu ihren erwachsenen und selbst schon verheirateten Kindern (S. 155). S. auch KBer v. 9. 7. 1980 zu diesem Fall, D R 20, S. 29 ff. (gütliche Einigung erzielt); sowie K E v. 19. 1. 1984 zu Β 9330/81, Bulus ./. Schweden, D R 35, S. 57 ff. (64) und K E v. 13. 3. 1984 zu Β 9466/81, S ./. U K , D R 36, S. 41 ff. (42, 44). 40 K E v. 18. 12. 1973 zu B 5913/72, X ./. Irland, CoD 45, S. 95 ff. (96); K E v. 10. 7. 1975 zu B 6482/74, X ./. Belgien und die Niederlande, D R 7, S. 75 ff. (76); K E v. 11. 7.

10. Kap.: Familienbegriff

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fortan nur noch zur Familie ihrer Adoptiveltern 41 . Als Familienleben geschützt sind konsequenterweise dann auch nur die Beziehungen der Adoptivfamilie, nicht mehr die (typischerweise ohnehin beendeten) Verbindungen zu der natürlichen Familie des Adoptivkindes. 10. Pflegekinder

Ob auch Beziehungen zwischen Pflegeeltern und -kindern „Familienleben" sein können, wurde von der Kommission bislang mit dem Hinweis offengelassen, sie seien ohnehin als „Privatleben" von Art. 8 E M R K geschützt42. Ihre Einordnung soll nachfolgend konkretisiert werden. Im Unterschied zur Adoption bleibt ein Pflegekind im Regelfall in Verbindung mit seiner natürlichen Familie, die nach wie vor persönlichen Kontakt mit dem Kind aufrechterhalten und die wichtigsten Entscheidungen treffen soll, bei der vor allem das Sorgerecht verbleibt 43 . Grundsätzlich sollen die Pflege Verhältnisse nicht so verfestigt werden, daß die leiblichen Eltern bei der Weggabe des Kindes mit seinem dauernden Verbleib in der Pflegefamilie rechnen müssen44. Im Normalfall wird daher das Familienleben zwischen den Eltern und ihrem leiblichen Kind durch dessen Aufenthalt in einer Pflegefamilie nicht zum Erliegen kommen. Doch es sind Konstellationen denkbar, wo das Pflegekind zunehmend in die Pflegefamilie integriert wird, während der Kontakt zu seiner leiblichen Familie kontinuierlich abnimmt und vielleicht sogar das Sorgerecht auf die Pflegefamilie übertragen wird 4 5 . In erster Linie kommt es aber auch hier auf das tatsächliche Zusammenleben, vor allem dessen Dauer 46 , und weniger auf dessen

1977 zu Β 7626/76, X ./. U K , D R 11, S. 160 ff. (162); K E v. 5. 10. 1982 zu Β 9993/82, Χ ./. Frankreich, D R 31, S. 241 ff. (242): ,,(L)es relations entre un adoptant et un adopté sont en principe de même nature que les relations familiales protégées par l'article 8 de la Convention." 41 K E ν. 1. 7. 1977 zu B 7626/76, X ./. U K , DR 11, S. 160 ff. (162): „Le droit moderne de l'adoption fait en effet sortir définitivement l'adopté de sa famille d'origine ou naturelle. . . . Les droits et obligations de nature familiale existant entre l'adopté et son père ou sa mère cessent d'exister." S. auch das einen gemeinsamen europäischen Grundsatz wiedergebende „Europäische Übereinkommen über die Adoption von Kindern" v. 24. 4. 1967, Art. 10 I I (BGBl. 1980 I I , S. 1093 ff.). 42 K E v. 10. 7. 1978 zu Β 8257/78, X ./. Schweiz, D R 13, S. 248 ff. (250). 43 Vgl. den 2. und 4. Grundsatz der Empfehlung Nr. R (87) 6 des Ministerausschusses an die Mitgliedstaaten über Pflegefamilien v. 20. 3. 1987, Anhang. S. auch Woods, VirgJIL 28 (1988), S. 563. 44 S. BVerfG, Beschluß v. 14. 4. 1987, NJW 1988, S. 125 ff. (126). 45 Für die Möglichkeit einer Übertragung spricht sich auch die Empfehlung Nr. R (87) 6 des Ministerausschusses an die Mitgliedstaaten über Pflegefamilien v. 20. 3. 1987 in ihrem 5. Grundsatz aus.

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3. Teil: Familienschutz

rechtliche Untermauerung an 47 . Sind im Einzelfall die persönlichen Bindungen eher einer Adoption als einem Pflegeverhältnis vergleichbar und tritt gleichzeitig der Kontakt des Kindes zu seiner natürlichen Familie immer mehr in den Hintergrund, ist es in solchen Fällen angemessen, die Beziehungen zwischen Pflegefamilie und Kind als Familienleben anzuerkennen 48. Im Gegensatz zu den Fällen der Adoption können also Pflegeverhältnisse nicht generell und abstrakt eingeordnet werden, sondern die Entscheidung, ob das fragliche Verhältnis als Privat- oder Familienleben von Art. 8 E M R K geschützt wird, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Ausgeschlossen ist die Annahme eines bestehenden Familienlebens zwischen der Pflegefamilie und dem Pflegekind jedenfalls nicht, vor allem dann, wenn sich das Pflegeverhältnis auf unabsehbare Zeit verlängert und die Eltern die Sorge langfristig nicht wahrnehmen können. 11. Moderne Geburtentechnologie

Familiengründungen unter Zuhilfenahme moderner Fortpflanzungsmedizin waren bislang noch nicht Gegenstand von Verfahren vor den EMRK-Organen. Die bisherigen Erkenntnisse über die Einordnung familiärer Beziehungen sollen daher auf den Komplex moderner Geburtentechnologie übertragen werden, um feststellen zu können, welche denkbaren Personenbeziehungen dem Recht auf Achtung des Familienlebens unterfallen können. Im Unterschied zu der unter Art. 12 E M R K erörterten Problematik geht es bei Art. 8 E M R K nicht um die Frage, inwieweit Staaten die Anwendung der Fortpflanzungsmedizin zulassen müssen, sondern um die Art des konventionsmäßigen Schutzes einmal entstandener Verbindungen. Die Frage, ob und wann eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung wünschenswert ist, ist daher in diesem Zusammenhang irrelevant: Gesellschaftspolitische, ethisch-moralische oder religiöse Bedenken treten hier zugunsten eines der vorgefundenen tatsächlichen Situation möglichst gerecht werdenden Schutzes der Beteiligten zurück. Allen homologen Methoden ist gemeinsam, daß ihre Anwendung nicht mit einer Erweiterung des herkömmlich beteiligten Personenkreises verbunden ist. „Genetische" und „soziale" Eltern fallen ebenso wie bei einer normalen Familiengründung zusammen, so daß die Einordnung der Eltern-Kind-Beziehung durch eine Anwendung homologer Insemination oder In-vitro-Fertilisation nicht beeinflußt wird. 46 Zu der tatsächlichen Situation Woods, VirgJIL 28 (1988), S. 565. Danach dauert die Unterbringung in Pflegefamilien in über der Hälfte der Fälle länger als 6 Jahre. 47 So war in K E v. 10. 3. 1981 zu Β 8924/80, X ./. Schweiz, D R 24, S. 183 ff. (184) auch nicht die rechtliche Übertragung des Sorgerechts, sondern dessen tatsächliche Wahrnehmung entscheidend. 48 So auch (und noch viel genereller) van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 289 §3.

10. Kap.: Familienbegriff

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Anders hingegen verhält es sich bei allen heterologen Methoden, bei denen der herkömmliche Beteiligtenkreis um mindestens eine weitere Person (Spender) bis hin zu drei zusätzlichen Beteiligten (zwei Spender als „genetische" Eltern und eine Leihmutter) erweitert wird. Als relativ unproblematisch stellt sich noch der Rückgriff auf Spender dar. Ihre Beteiligung an der Familiengründung beschränkt sich auf die Spende der biologischen Grundsubstanzen; der entstandene Embryo wird im Unterschied zu den Fällen der Leihmutterschaft von den Wunscheltern selbst ausgetragen. In aller Regel sind der oder die Spender an einem späteren Kontakt mit dem Kind nicht interessiert 49 ; die Spende wird zur Erschwerung etwaiger Nachforschungen anonymisiert 50 . Die Wunschmutter hingegen, die später für das Kind sorgen und es erziehen will, kann während der Zeit ihrer Schwangerschaft eine persönliche, emotionale Bindung zu dem Kind aufbauen, und auch der künftige Vater wird sich auf sein Kind einstellen. Die Parallelen zu der Entwicklung im Laufe einer normalen Schwangerschaft sind hier unübersehbar. Unter Übertragung der hierzu von der Konventionsrechtsprechung entwickelten Kriterien zeigt es sich, das die für die Annahme eines Familienlebens erforderlichen engen persönlichen Beziehungen, Abhängigkeiten und eine tatsächlich gelebte Gemeinschaft der werdenden Mutter mit ihrem Kind nur im Verhältnis des Kindes zu seinen sozialen Eltern zu finden ist 51 . Mithin besteht auch nur zwischen den Wunscheltern und ihrem Kind „Familienleben" i. S. Art. 8 EMRK. Eine echte Konfliktsituation mit einander entgegenstehenden, schützenswerten Interessen entsteht vor allem bei der Beteiligung von Leihmüttern. Denn ebenso, wie es „Auftraggeber" geben soll, die die Annahme des Kindes als „nicht wunschgemäß" ablehnen, wird von Fällen berichtet, in denen die Leihmutter nach Geburt des Kindes seine Herausgabe verweigerte 52 . Wessen Beziehungen sind nun in einem solchen Fall als „Familienleben" geschützt? Da es auf die tatsächlichen Beziehungen ankommt, ist jedenfalls das Schicksal des zwischen den Wunscheltern und der Leihmutter abgeschlossenen Vertrages irrelevant - er ist nach überwiegender Ansicht wegen Verstoßes gegen die Würde des Kindes nichtig 53 - , da sein Bestand oder Wegfall keinerlei Auswirkungen auf die faktischen Beziehungen hat. Entscheidungserheblich könnte hingegen die genetische Herkunft des Kindes sein: Eine genetische Beteiligung der Wunscheltern könnte gegen eine Entscheidung zugunsten der Leihmutter und umgekehrt ein über das Austragen des Kindes hinausgehender genetischer Beitrag der Leihmutter (die viel49

Dies verdeutlicht etwa die Diskussion über mögliche Auskunftsansprüche des Kindes über seine genetischen Eltern, dazu Deichfuß, NJW 1988, S. 113 ff. 50 Z. B. durch die Verwendung eines sog. „Samencocktails", der die Ermittlung des genetischen Vaters unmöglich macht. So auch Eberbach, MedR 1086, S. 254 f. 52 Eberbach, MedR 1986, S. 256 m. zahlr. w. N. 53 Eberbach, MedR 1986, S. 256.

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3. Teil: Familienschutz

leicht mit der Spende eines Dritten inseminiert wurde) gegen eine Entscheidung zugunsten der Wunscheltern. Nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane begründet die Tatsache der Geburt, d. h. die Existenz eines biologischen Bandes zwischen Mutter und Kind, Familienleben i. S. Art. 8 E M R K 5 4 , das mit der Geburt des Kindes beginnt 55 . Allerdings ging es bislang in allen Beschwerden nur um herkömmliche Fälle der Familiengründung, so daß das biologische Band nicht nur durch die genetische Abstammung, sondern auch durch Schwangerschaft und Geburt begründet wurde. Daraus läßt sich jedenfalls für die Beziehung auch genetisch beteiligter Leihmütter zu dem Kind der Schluß ziehen, daß in diesem Verhältnis weitaus eher der Ansatz eines Familienlebens besteht als mit den bislang unbeteiligten Auftraggebern. Verweigerte also die Leihmutter nach der Geburt die Herausgabe des Kindes, könnte sie sich auf ihr Recht auf Achtung des Familienlebens berufen. Darüber hinaus muß allerdings auch das Verhalten nach der Geburt berücksichtigt werden, wie aus den übertragbaren Entscheidungen der EMRKOrgane in vergleichbaren Konfliktsituationen folgt. In Betracht kommen hier insbesondere die Fälle, in denen sowohl die Adoptiv- als auch die leibliche Mutter das Kind beanspruchten. In einem besonders tragischen Fall 5 6 hatte eine ledige werdende Mutter ihren Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch aufgegeben, da sich ein adoptionswilliges Paar fand. Unmittelbar nach seiner Geburt wurde das Kind zu den Adoptiveltern gebracht. Als die Mutter aber kurze Zeit später erfuhr, sie werde keine weiteren Kinder mehr bekommen können, verweigerte sie ihre noch ausstehende Zustimmung zu der Adoption und forderte ihr Kind zurück. Nach zwei Jahren sprach ein englisches Gericht die Adoption gegen den Widerspruch der Beschwerdeführerin aus (gemäß den Bestimmungen des britischen Adoption Act v. 1958 kann die Adoption gerichtlich ausgesprochen werden, wenn die Weigerung der Mutter unvernünftig erscheint). Die Kommission hielt die Entscheidung des nationalen Gerichts für konventionsgemäß, da die Beschwerdeführerin nach der Geburt keinen Kontakt zu dem Kind hatte, es weder gesehen noch jemals bei sich aufgenommen hatte, so daß die Entscheidung zugunsten der Adoptiveltern im Interesse des Kindeswohls lag 57 . In einem späteren Fall hingegen fiel die Entscheidung zugunsten der natürlichen Mutter aus 58 . Das Kind wurde erst im Alter von fünf Jahren adoptiert und wurde nach sieben Jahren vorläufig zu seiner leiblichen Mutter zurückgegeben, da seine Adoptivmutter verstorben war und eine neuerliche Heirat des Adoptivvaters zu familiären Konflikten führte. Die Mutter weigerte sich zwei Jahre später, das Kind wieder herauszu54 E G M R , Urt. v. 13. 7. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 16 § 36; KBer v. 10. 12. 1977 zu Β 6833//74, Marckx ./. Belgien, Ser. B, Vol. 29, S. 44 § 69. 55 K E v. 15. 12. 1977 zu Β 7229/75, X u. Y ./. U K , D R 12, S. 32 ff. (34). 56 K E v. 11. 7. 1977 zu Β 7626/76, Χ ./. U K , D R 11, S. 160 ff. 57 K E v. 11. 7. 1977 zu Β 7626/76, Χ ./. U K , D R 11, S. 160 ff. (162). 58 K E v. 5. 10. 1982 zu Β 9993/72, Χ ./. Frankreich, D R 31, S. 241 ff.

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geben, bis es ihr schließlich gerichtlich zugesprochen wurde. Die Kommission nahm zwar familiäre Bande auch zu dem Adoptivvater an, hielt die Entscheidung aber wegen des physischen und psychischen Wohlergehens des Kindes für gerechtfertigt. Der Unterschied zu dem erstgenannten Fall, der zu der gegenteiligen Entscheidung führte, waren stärker ausgeprägte Kontakte zu der natürlichen Mutter, bei der das Kind einige Zeit vor der Adoption und erneut nach dem Tod der Adoptivmutter lebte, so daß auch zu der natürlichen Mutter eine intensive Beziehung bestand. Diese beiden Fälle verdeutlichen, daß eine generelle Entscheidung nicht getroffen werden kann, sondern daß die zwischen den Beteiligten bestehenden Beziehungen individuell untersucht und bewertet werden müssen. Überträgt man dieses Ergebnis auf die Fälle der Leihmutterschaft, so erweist es sich, daß auch hier keine generelle, abstrakte Einordnung erfolgen kann. Fest steht jedenfalls, daß das Austragen des Kindes allein oder unter genetischer Beteiligung der Leihmutter nicht zu einer Entscheidung zu ihren Gunsten zwingt, insbesondere, wenn sie nach der Geburt keinen Kontakt mehr zu dem Kind hatte. Zeigt sie kein Interesse mehr für das Kind und gibt es unmittelbar an die Wunscheltern heraus, erlischt ihre während der Schwangerschaft entstandene Bindung zu dem Kind, während gleichzeitig (ähnlich wie bei einer Adoption) das Familienleben der Wunscheltern mit ihrem Kind aufgenommen wird. Verweigert die Leihmutter allerdings nach der Geburt die Herausgabe und sorgt für das Kind, bleibt das durch Schwangerschaft und Geburt begründete Band bestehen und verdichtet sich zu „Familienleben" i. S. Art. 8 EMRK. Das Verhalten der Leihmutter nach der Geburt entscheidet folglich über den Fortbestand oder das Erliegen des mit ihr seit der Geburt zunächst bestehenden Familienlebens. Demgegenüber tritt die genetische Abstammung des Kindes in den Hintergrund. 12. Nahe Verwandte

„Familienleben" kann auch zwischen engen Verwandten wie Großeltern und ihren Enkeln 59 , Geschwistern 60 oder Onkel/Tante und Neffen/Nichten 61 59

E G M R , Urt. v. 13. 7. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 21 § 45: "[FJamily life, within the meaning of Article 8, includes at least the ties between near relatives, for instance those between grandparents and grandchildren, since such relatives may play a considerable part in family life." S. auch K E v. 5. 2. 1979 zu Β 8244/78, Uppal u. Singh ./. U K , D R 17, S. 149 ff. (150) sowie KBer ν. 9. 7. 1980 zu dieser Beschwerde, DR 20, S. 29 ff.; K E v. 10. 3. 1981 zu Β 8924/80, X ./. Schweiz, D R 24, S. 183 ff. (184); K E v. 7. 12. 1981 zu Β 9071/80, EuGRZ 1983, S. 19 Nr. 99. 60 K E v. 14. 3. 1980 zu Β 8986/80, X ./. U K , EuGRZ 1982, S. 311 Nr. 104; K E v. 14. 7. 1980 zu Β 9492/81, Familie Χ ./. U K , D R 30, S. 232 ff. (234). 61 E G M R , Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 21 § 45; K E v. 28. 2. 1979 zu B 7912/77, X ./. U K , EuGRZ 1981, S. 118 Nr. 91. 14 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

bestehen, wenn zwischen den Betreffenden eine enge Bindung besteht. Äußere Anhaltspunkte sind wiederum eine gemeinsame Wohnung, Sorge und Erziehung oder auch finanzielle oder andere Abhängigkeit 62 . 13. Zusammenfassung, Bewertung und Ergebnis

Nach der Spruchpraxis der Konventionsorgane kommt also ein recht weiter Personenkreis in Betracht, der durch „Familienleben" i. S. Art. 8 E M R K verbunden sein kann. Nicht nur die Kernfamilie, sondern auch nahe Verwandte sind umfaßt, wenn sie aktiv am Leben der Familie teilnehmen. Nichteheliche Kinder sind ehelichen gleichgestellt; auch ein unverheiratetes Paar kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Familie bilden. Adoptivkindern kommt derselbe Status zu wie leiblichen Nachkommen, wohingegen Pflegekinder in aller Regel weiterhin ihrer natürlichen und nur ausnahmsweise ihrer Pflegefamilie zuzurechnen sind. Darüber hinaus sind auch familiäre Verbindungen geschützt, die nicht der europäischen Familienkonzeption entsprechen. Kommen diese Personen grundsätzlich als Familienmitglieder in Betracht, muß zudem eine weitere Voraussetzung in Gestalt einer engen tatsächlichen Verbindung, eines „close link" vorliegen. Je nach Situation kann dies durch einen gemeinsamen Haushalt, Sorge, Erziehung oder Pflege, finanzielle Unterstützung, regelmässige Besuche u.a.m. indiziert werden. Der Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens baut also auf der vorgefundenen tatsächlichen Situation auf, zugunsten derer die rechtliche Qualifizierung des Personen Verhältnisses in den Hintergrund tritt 6 3 : So präkludieren die Rechtsverhältnisse für sich genommen die Frage nach einem bestehenden Familienleben weder in der einen noch in der anderen Weise. Ein unverheiratetes Paar ist durch kein rechtliches Band miteinander verknüpft, dennoch kann es unter bestimmten Voraussetzungen eine Familie i. S. Art. 8 E M R K darstellen. Wie wenig Bedeutung den innerstaatlichen Regelungen der Verwandtschaftsverhältnisse zukommen kann, zeigt bspw. auch die Entscheidung im Fall Marckx, 62 K E V. 14. 3. 1980 zu Β 8986/80, X ./. U K , EuGRZ 1982, S. 311 Nr. 104 (weder Abhängigkeit noch gemeinsames Wohnen, daher fehlte die notwendige Beziehung zwischen den Geschwistern); K E v. 28. 2. 1079 zu Β 7912/77, X ./. U K , EuGRZ 1981, S. 118 Nr. 91 (Onkel und Neffe hatten nie zusammengelegt, daher kein Familienleben); K E v. 10. 3. 1981 zu Β 8924/80, X ./. Schweiz, D R 24, S. 183 ff. (184: Zwischen Großmutter und Enkel bestand ein effektives Familienleben, da die Großmutter zwar nicht rechtlich mit dem Sorgerecht betraut war, dieses aber über Jahre hin tatsächlich ausübte); K E v. 14. 7. 1982 zu Β 9492/82, Familie X ./. U K , D R 30, S. 232 ff. (234: Wegen mangelnder Abhängigkeit der Geschwister voneinander Familienleben abgelehnt); K E v. 2. 5. 1979 zu Β 8244/78, Uppal u. Singh ./. U K , D R 17, S. 149 ff. (155: Großeltern waren ζ. T. finanziell und in ihrer Lebensführung vollständig abhängig, Familienleben wurde bejaht). 63 K E v. 11. 10. 1973 zu Β 5302/71, X u. Y ./. U K , CoD 44, S. 29 ff. (47 § 25): "[T]he 'de jure unity' of the family is, of itself, irrelevant to a consideration of the issue under Article 8. The article concerns not 'de jure' but 'de facto' family life."

10. Kap.: Familienbegriff

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ungeachtet der gegenteiligen Regelung des belgischen Rechts ein bestehendes Familienleben zwischen Mutter und nichtehelichem Kind anzunehmen. Somit kann zunächst festgehalten werden, daß der autonome Rechtsbegriff „Familienleben" zumindest nicht vorrangig durch abstrakte Rechtsbeziehungen ausgefüllt wird, sondern durch das tatsächliche Verhalten der betroffenen Personen selbst. Doch nun fragt es sich weiter, ob daraus folgt, daß in jeder denkbaren Personenkonstellation „Familienleben" bestehen kann, vorausgesetzt, daß ihre Bindungen die geforderte Intensität und Enge aufweisen. Zweifel daran wirft das Beispiel stabiler gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften auf. Die Beziehungen der Partner werden hier nicht als Familienleben anerkannt, auch wenn sie alle Voraussetzungen erfüllen, die das Zusammenleben verschiedengeschlechtlicher Partner als Familienleben erscheinen lassen würde. Keine europäische Rechtsordnung sieht solche Verbindungen umfassend als Familie an. Ebensowenig unterfällt das Zusammenleben in Wohngemeinschaften als Familienleben dem Schutz des Art. 8 EMRK. Auch in den Konventionsstaaten werden Wohngemeinschaften in Ermangelung einer wie auch immer gearteten familiären Struktur nicht als Familien angesehen. Diese Beispiele zeigen, daß das äußere Erscheinungsbild einer engen tatsächlichen Verbindung allein den Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens nicht auslösen, wohl aber ausschließen kann. Dies wiederum bedeutet, daß dann, wenn das geforderte „close link" vorliegt, die zu beurteilende Personenbeziehung in einem zweiten Prüfungsschritt daraufhin untersucht werden muß, ob sie familiäre Strukturen aufweist. Denn andernfalls ließe es sich auch nicht erklären, warum Art. 8 von „Familienleben spricht und nicht ganz allgemein sehr enge persönliche Beziehungen unter seinen Schutz stellt, was dann allerdings die Konturen der Schutzobjekte des Art. 8 und namentlich die Abgrenzung zu „privacy" weiter verwischte. „Familienleben" kommt daher zumeist nur dann in Betracht, wenn die eng miteinander verbundenen Personen zusätzlich in einem innerstaatlich festgelegten Verwandtschaftsverhältnis stehen. Daneben gibt es Personenbeziehungen, die den engsten Kreis einer Familie bezeichnen, die ihren „festen Kern" ausmachen (Mann und Frau, Eltern und Kinder). Bei diesem Kernbereich, so zeigte der Fall Marckx, ist die innerstaatliche Qualifizierung nicht entscheidend, da er so grundlegend familiärer Natur ist, daß seine rechtliche Einordnung daran nichts zu ändern vermag. Damit ergibt sich eine Zweistufigkeit der Prüfung (die aus Praktikabilitätsgründen ggf. in ihrer Reihenfolge auch vertauscht werden kann): - Zunächst ist die rechtliche Einordnung der Beziehung völlig irrelevant, zu fragen ist allein nach dem tatsächlichen Erscheinungsbild des Zusammenlebens. Weist es die geforderte Intensität nicht auf, greift das Recht auf Achtung des Familienlebens nicht ein; staatliche Eingriffe in nicht ausreichend enge 14*

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3. Teil: Familienschutz

Personenverbindungen sind keine Eingriffe in den Schutzbereich dieses Rechts. - Liegt das geforderte „close link" vor, genügt dies allein noch nicht, um einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens annehmen zu können. Vielmehr muß die Beziehung des weiteren familiäre Grundstrukturen aufweisen, indem sie dem Kernbereich der Familie zugehört oder nach nationalem Recht ein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Für entferntere Verwandtschaftsverhältnisse (Tante/Onkel, Neffe/Nichte) mag der rechtlichen Qualifikation sogar entscheidende Bedeutung zukommen 64 . Hieraus nun lassen sich endgültige Erkenntnisse über den der Konvention innewohnenden Familienbegriff gewinnen. Umfaßt sind grundsätzlich die nach innerstaatlichem Recht bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse. Daneben sind als Kern der Familie typische Familienverhältnisse umfaßt, wie sie zwischen Eltern und Kindern und Mann und Frau vorliegen. Diese werden zwar in aller Regel auch im innerstaatlichen Recht als Familie anerkannt, konstitutiv ist dies jedoch für die Zugehörigkeit zum Familienbegriff der Konvention nicht. Dementsprechend unterfallen auch stabile nichteheliche Lebensgemeinschaften dem Familienbegriff der E M R K , obwohl ihre Partner gerade nicht rechtlich miteinander verbunden sind. Der Konvention liegt also ein faßbarer Familienbegriff zugrunde. Er geht zum Teil über die in den Mitgliedstaaten rechtlich anerkannten Familienverhältnisse hinaus, da er auch solche Beziehungen umfaßt, die zwar nicht rechtlich, wohl aber ihrem Wesen nach familiäre Züge aufweisen. Doch für den Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens kommt dem Familienbegriff nur untergeordnete Bedeutung zu, da in erster Linie die tatsächlich gelebte Gemeinschaft, die Intensität der Beziehung entscheidend ist. Der Anwendungsbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens im Vergleich zu familienrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten ist mithin enger, da sich die Rechtsfolgen des nationalen Familienrechts an dem juristischen Familienbegriff orientieren und nicht den Ausschluß des Schutzes kennen, wenn die Beziehung nicht die geforderte Intensität aufweist. Diese Begrenzung des Schutzbereichs, die die Forderung nach einem „close link" bewirkt, erklärt sich allein daraus, daß Art. 8 E M R K nicht die Familie an sich, sondern das Zusammenleben ihrer Mitglieder schützt. Schutzobjekt des Art. 8 E M R K ist nicht - zumindest nicht unmittelbar - die Familie, sondern das in seinem Bestand zu achtende Familienleben.

64

Ähnlich Kammermann, S. 130.

10. Kap.: Familienbegriff

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II. Der Familienbegriff der Europäischen Sozialcharta Die ES wurde als Gegenstück zur E M R K geschaffen, um den europäischen Menschenrechtsschutz zu vervollständigen. Denn die ES enthält die in der A E M R proklamierten, aber nicht in die E M R K aufgenommenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und soll so die Prinzipien der westlichen Demokratien im sozialen Bereich stärken und vereinheitlichen 65 . Auf dem Sektor des Familienschutzes geschieht die neben der allgemeinen Zielerklärung in Teil I Nr. 16 ES vor allem durch Art. 16 ES über das Recht der Familie auf sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Schutz: "With a view to ensuring the necessary conditions for the full development of the family, which is a fundamental unit of society, the Contracting Parties undertake to promote the economic, legal and social protection of family life by such means as social and family benefits, fiscal arrangements, provision of family housing, benefits for the newly married, and other appropriate means."

Art. 17 ES befaßt sich mit dem Recht von Müttern und Kindern auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz. Art. 19 ES behandelt die Rechte einer speziellen Personengruppe, der Wanderarbeitnehmer. Von Interesse für die vorliegende Untersuchung ist der 6. Unterabschnitt, worin sich die Staaten verpflichten, "6. to facilitate as far as possible the reunion of the family of a foreign worker permitted to establish himself in the territory; . . . "

Im Unterschied zu allen anderen Verträgen enthält die ES in ihrem Anhang, der integraler Bestandteil der Charta ist, eine Legaldefinition des Terminus „family of a foreign worker": Umfaßt sind zumindest die Ehefrau des Wanderarbeitnehmers und seine Kinder unter 21 Jahren, für die er unterhaltspflichtig ist. 1. Art. 19 (6) ES

Fraglich ist, ob diese restriktive, nur die Kernfamilie umfassende Legaldefinition den Art. 19 (6) ES zugrundeliegenden Familienbegriff vollständig erfaßt. Eine Ausweitung könnte er namentlich durch die Praxis des Sachverständigenausschusses erfahren haben, ein Expertengremium, das sich seit Anfang der siebziger Jahre mit Staatenberichten über die Verwirklichung der Chartabestimmungen befaßt (gem. Art. 24, 25 ES) und dabei zwangsläufig auch eine Reihe von Auslegungen unternahm 66 . Verschiedentlich befaßte sich der Sachverständigenausschuß auch mit der Interpretation der bewußten AppendixVorschrift. So gab ihm die Prüfung des britischen Berichts Gelegenheit zur Betonung des an sich Selbstverständlichen, daß nämlich die Legaldefinition auch kranke und behinderte Kinder umfasse. Unzulässig war daher die briti65

Memorandum des Generalsekretariats des Ministerausschusses, A C , 5. Sitzungsperiode 1953, Doc. 140, S. 410 § 16. 66 Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 321.

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3. Teil: Familienschutz

sehe Regelung, kranken oder behinderten Kindern von Wanderarbeitnehmern die Einreise zu verweigern 67 . Unter zwei Voraussetzungen also sind Kinder von Wanderarbeitnehmern von Art. 19 (6) ES begünstigt: Sie müssen unter 21 Jahre alt und zudem von der Unterhaltspflicht ihrer Eltern abhängig sein. Den Begriff der Abhängigkeit legte der Sachverständigenausschuß weit aus: "The concept of 'dependent' persons shall be understood . . . as being that of persons who depend, for their existence, on their family, in particular because of economic reasons or, as the case may be, for such reasons as continuation of education without remuneration or for reasons of health." 68

Fraglich ist, ob die Altersgrenze von 21 Jahren unverändert gültig ist auch unter Berücksichtigung der europaweiten Absenkung des Volljährigkeitsalters. Für eine Absenkung auch der in der Legaldefinition angegebenen Altersgrenze von 21 auf 18 Jahren spricht, daß das in den Europaratstaaten bei der Ausarbeitung der Charta geltende Volljährigkeitsalter von 21 Jahren offensichtlich die Festlegung der Altersgrenze beeinflußt hat. Es liegt nun einerseits nahe, die Altersgrenze entsprechend der Verminderung des Volljährigkeitseintritts ebenfalls auf 18 Jahre 69 herunterzusetzen. Auf der anderen Seite spricht der Wortlaut der Interpretationsbestimmung im Annex der Charta eindeutig gegen eine Absenkung der Altersgrenze. Dies würde zudem zu einer textuell nicht vorgesehenen Begrenzung des Schutzbereichs in personeller Hinsicht und damit zu einer unnötigen Verkürzung des menschenrechtlichen Schutzes führen. So wies der Sachverständigenausschuß wiederholt darauf hin, daß die Absenkung des Mündigkeitsalters in den Vertragstaaten keinerlei Auswirkungen auf die Annexvorschrift habe. Als Korrektiv wirkt hier lediglich die zusätzlich geforderte Abhängigkeit der Kinder 70 . Nicht überzeugt zeigte sich daher das Expertengremium von dem österreichischen Versuch, eine Absenkung des Nachzugsalters auf 19 Jahre mit der relativen Selbständigkeit der Jugendlichen diesen Alters sowie mit Verwaltungsgründen zu rechtfertigen 71 . Auch die Absenkungen des Nachzugsalters in der Bundesrepublik auf 16 Jahre 72 , in Großbritannien auf 18 73 und in Norwegen auf 20 Jahre 74 wurden gerügt. Angesichts des klaren Wortlauts der Annexvorschrift sowie des Sinnes und Zweckes eines menschenrechtlichen Vertrages kommt folglich eine der allgemeine Absenkung des Mündigkeitsalters folgende Auslegung Conclusions I I (1971), S. 69. 68 Conclusions V I I I (1984), S. 212. 69 Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 344 Fn. 181. ™ Conclusions V (1977), S. 138; V I I I (1984), S. 212, 213, 215. 7 1 Conclusions V I (1979), S. 123 f.; V I I (1981), S. 104. 72 Conclusions V I I I (1984), S. 213; X-2 (1988), S. 150. 73 Conclusions V I I I (1984), S. 216. 74 Conclusions V I I I (1984), S. 215.

10. Kap.: Familienbegriff

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der Interpretationsbestimmung und damit des Art. 19 (6) ES nicht in Betracht 75 . Sind sowohl das Alters- als auch das Abhängigkeitserfordernis erfüllt, greift der Schutz des Art. 19 (6) ES ein. Weitere Einschränkungen des nachzugsberechtigten Personenkreises durch nationale Regelungen, die etwa an der Stellung des Wanderarbeitnehmers anknüpfen, sind dann unzulässig. So kritisierte das Sachverständigengremium denn auch die britische Regelung, die Hausangestellten keinen Anspruch auf Familienzusammenführung gewährte, und regte eine entsprechende Änderung der Rechtslage an 76 . Klärungsbedürftig ist schließlich die Ausgestaltung des Nachzugsrechts des Ehegatten. Dem Wortlaut nach hat nur der Wanderarbeitnehmer einen Anspruch auf Nachzug „seiner Ehefrau" („his wife"), nicht aber umgekehrt die in einem Vertragstaat lebende Ehefrau auf Nachzug ihres Mannes. Ist in einem solchen Fall also die Familienzusammenführung schon durch den Nachzug der Kinder - ohne den Ehemann - verwirklicht 77 ? Diesen Standpunkt vertritt der Sachverständigenausschuß: "The Committee considered that the term 'worker' as used in the Charter applied equally to female workers except in cases where the context demands a different interpretation. Consequently the definition of the family of a migrant worker appearing in the Appendix of the Charter includes the children (but not the husband) of a female worker." 7 8

Dies bedeutet, daß der Familiennachzug unterschiedlichen Umfang hat je nachdem, ob es sich um einen männlichen oder weibliche Wanderarbeitnehmer handelt, also eine Ungleichbehandlung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit vorliegt. Da hierfür kein sachlicher Grund ersichtlich ist, ist diese Differenzierung diskriminierend: Zwar mögen die Fälle, in denen ein männlicher Wanderarbeitnehmer seine Familie nachkommen lassen will, weitaus häufiger vorkommen als daß umgekehrt eine Wanderarbeitnehmerin Familiennachzug begehrt. Doch allein die Häufigkeit der Fälle ist kein sachlicher Unterschei75 So auch Zuleeg, in: Barwig/Lörcher/Schumacher, Familiennachzug, S. 56; Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 344. 76 Conclusions I (1969-70), S. 85; I I (1971), S. 69; I I I (1973), S. 96: "The Committee took note . . . that the U K failed to comply with Art. 19, paragraph 6, on three points: 1. The rule that a domestic servant of foreign nationality may not send for his or her spouse or children. . . . " Irrig insoweit Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 344, die hieraus ableiten, daß „alle von der Unterhaltspflicht Abhängigen . . . sowie deren Familienangehörige als auch Hausangestellte" nachreisen dürfen. Denn es geht nicht um den Nachzug der Hausangestellten, sondern um deren eigenes Recht auf Familienzusammenführung. 77 So ohne weitere Problematisierung Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 345. 78 Conclusions I V (1975), S. 124. A n anderer Stelle allerdings befand das Gremium ausdrücklich über die Möglichkeit ausländischer Arbeitnehmer, „ihren oder seinen Ehegatten und Kinder nachkommen zu lassen", vgl. z. B. Conclusions I I I (1973), S. 96.

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3. Teil: Familienschutz

dungsgrund, zumal gerade bei der gegebenen Konstellation die Vertragstaaten nicht mit einem deutlichen Ansteigen des Familiennachzuges und damit einer großen Belastung rechnen müssen. In Ermangelung eines sachlichen Unterscheidungsgrundes ist die ungleiche Behandlung zweier vergleichbarer Situationen (beide wollen mit dem Partner ihrer Wahl in einem Land leben, in dem sie sich legal aufhalten) diskriminierend. Auswirkungen auf die Auslegung der Annexvorschrift hat dies allerdings nur, wenn die Vertragstaaten verpflichtet sind, die Chartarechte diskriminierungsfrei zu gewährleisten. Der operative Teil der ES enthält kein Diskriminierungsverbot. Es ist aber zu bedenken, daß es sich bei der ES um einen menschenrechtlichen Vertrag handelt, dessen Anliegen die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte ist. Diesem menschenrechtlichen Anlegen würde es entgegenstehen, wollte man Diskriminierungen bei dem Genuß der Rechte zulassen. Darüber hinaus sind die Mitglieder der ES auch zugleich Vertragstaaten der E M R K und als solche dem Gedanken der Gleichberechtigung von Mann und Frau verpflichtet. Denn wenn sich auch das Diskriminierungsverbot in Art. 14 E M R K nur auf die Konventionsrechte bezieht, so folgt daraus doch auch ein allgemeines Bekenntnis zur Gleichberechtigung als erstrebenswertes Ziel. Auf die E M R K mit ihren Rechten und Freiheiten nimmt die Präambel der ES im übrigen Bezug und stellt damit einen Zusammenhang zwischen beiden Vertragswerken her. Schließlich haben sich die Vertragstaaten der ES in der Präambel darüber hinaus ausdrücklich dazu bekannt, daß die Ausübung sozialer Rechte sichergestellt sein muß, und zwar ohne Diskriminierung u. a. aufgrund des Geschlechts. Daraus folgt, daß auch im Rahmen der ES Diskriminierungen verboten sind 79 . Doch selbst wenn dennoch eine eindeutige rechtliche Verpflichtung zur Gleichbehandlung in der Frage des Familiennachzuges bezweifelt werden sollte, so sprechen der Gesamtzusammenhang und der Geist der beiden europäischen Menschenrechtsverträge E M R K und ES so eindeutig gegen die Zulässigkeit von Diskriminierungen, daß die gegenteilige Auslegung als einem effektiven Schutz abträgliche Interpretation nicht überzeugen kann 80 . Die fragliche Annexvorschrift der ES ist daher gleichberechtigungskonform in dem Sinne auszulegen, daß die „Familie eines Wanderarbeitnehmers" nicht nur die Ehefrau und die Kinder, sondern im Falle einer Wanderarbeitnehmerin auch deren Ehemann umfaßt. Dementsprechend steht sowohl männlichen als auch weiblichen Wanderarbeitnehmern das Recht auf Familiennachzug zu. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß sich auch unter Berücksichtigung der Anmerkungen des Sachverständigenausschusses keine Erweiterung des Berechtigtenkreises über die Kernfamilie hinaus ergibt: 79 80

So auch der Sachverständigenausschuß, Conclusions V I I I (1984), S. 30. Zuleeg, in: Barwig/Lörcher/Schumacher, Familiennachzug, S. 56.

10. Kap.: Familienbegriff

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Umfaßt sind nur die (nach gleichberechtigungskonformer Auslegung) männlichen und weiblichen Ehegatten sowie deren Kinder. Damit erstreckt sich die Nachzugsberechtigung nicht auf die weitere Verwandtschaft. Selbstverständlich bleibt den Vertragstaaten eine großzügigere Anwendung der Familiennachzugsregelung unbenommen, wie auch der Ausschuß verschiedentlich betonte. Doch gleichzeitig wurde auch stets darauf hingewiesen, daß diese (begrüßenswerten) Erweiterungen über den Wortlaut der Charta hinausgingen 81 . Damit ist der Familienbegriff der ES deutlich enger als jener der EMRK. 2. Art. 16 ES

Die Annexvorschrift nimmt nun ausdrücklich nur für sich in Anspruch, für die Auslegung des Familienbegriffs des Art. 19 (6) ES maßgeblich zu sein. Zu untersuchen bleibt daher noch, welcher Familienbegriff der allgemeinen Familienschutzvorschrift Art. 16 ES zugrundeliegt. Zunächst einmal könnte ungeachtet der Begrenzung auf die Auslegung des Art. 19 der Begriff „Familie" auch in Art. 16 ES restriktiv auszulegen sein. Hierfür spricht, daß dann ein- und demselben Vertragswerk nicht zwei verschiedene Familienbegriffe zugrundeliegen würden. Eine einheitliche Auslegung ist zwar nicht zwingend erforderlich, doch wären besondere Gründe erforderlich, wenn demselben Begriff verschiedene Inhalte zugeordnet werden sollten. Denn zunächst einmal deutet ein einheitlich verwendeter Begriff auch auf einen einheitlich zugeordneten Lebenssachverhalt hin. Doch solche besonderen Gründe, die gegen eine Übertragung der ausdrücklich auf Art. 19 (6) ES begrenzten Legaldefinition sprechen, liegen hier vor. Denn Art. 19 (6) ES befaßt sich mit Personen, denen nicht ohne weiteres ein Anspruch auf Zusammenleben im Gastland zusteht. Viele Staaten vertreten die Ansicht, Wanderarbeitnehmer könnten auf ein familiäres Zusammenleben allein in ihrem Heimatstaat verwiesen werden. Vor diesem Hintergrund will Art. 19 (6) ES die Familienzusammenführung erleichtern, indem er die Vertragstaaten auf einen Mindestinhalt des Familienbegriffs und damit auf eine Mindeststandard beim Familiennachzug verpflichtet. Dementsprechend definiert die Annexvorschrift ihrem Wortlaut zufolge auch nur die „Familie von Wanderarbeitnehmern" und nicht die Familie schlechthin. Art. 19 (6) ES sucht also die Situation und Rechtsstellung ausländischer Familien zu verbessern, die sich grundsätzlich nicht auf einen Rechtsanspruch auf Zusammenleben im Gastland berufen können. Den Vertragstaaten soll hier der partielle 81

Bspw. Conclusions V I I I (1984), S. 215 über die norwegische Regelungen, "which on this point went beyond the text of the Charter for the purpose of family reunion, dependent parents, especially single parents and other close relatives who had formerly been members of the household, could be admitted to Norway.

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3. Teil: Familienschutz

Verzicht auf ihren Freiraum im einwanderungs- und ausländerrechtlichen Bereich dadurch erleichtert werden, daß der begünstigte Personenkreis eingegrenzt wird. Die restriktive Auslegung des Familienbegriffs bei Wanderarbeitnehmern erklärt sich also letztlich aus Ziel und Zweck der Bestimmung. Völlig anders ist der Regelungsgehalt des Art. 16 ES, der den „Normalfall" einer Familie betrifft, die auf dem Gebiet eines Vertragstaates zusammenlebt. Die Verwendung des Begriffs „family life" eröffnet hierbei dieselben Auslegungsperspektiven wie im Rahmen der E M R K : Auch bei Art. 16 ES soll es demnach weniger auf das juristische Verwandtschaftsverhältnis ankommen als vielmehr auf real existierende, enge Bande der in Frage kommenden Personen. Wie die E M R K ist auch die ES ein auf den europäischen Bereich begrenztes Vertragswerk. Sie baut dementsprechend auf dem europäischen Ehe- und Familienbild ebenso auf wie die E M R K , was für eine Übertragung des EMRK-Familienbegriffs auf Art. 16 ES spricht. Schließlich spricht auch die raison d'être der ES für eine Übertragung des EMRK-Familienbegriffs. Denn sollte die ES das Parallelinstrument zur E M R K auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet sein, so deutet dies darauf hin, daß in beiden Verträgen gebrauchte unbestimmte Rechtsbegriffe einheitlich auszulegen sind, um Lükken im Menschenrechtsschutz zu vermeiden. Konkret: Versteht man „Familie" im Rahmen der E M R K weit, innerhalb der ES jedoch nur als Kernfamilie, dann unterfallen alle übrigen Familienmitglieder nicht dem Schutz des Art. 16 ES. Für sie beinhaltetet die ES dann keine Ergänzung ihrer in der E M R K niedergelegten Rechte. Es überwiegen folglich die Gründe für die Annahme zweier verschiedener Familienbegriffe innerhalb der ES. Denn für eine den Menschenrechtsschutz verkürzende, restriktive Auslegung des Art. 16 ES bestehen weder unter Einbeziehung des Zieles und des Zweckes dieser Vorschrift noch ihrer Entstehungsgeschichte irgendwelche Anhaltspunkte. Vielmehr spricht im Gegenteil das Anliegen der Charta, als Gegenstück zur E M R K die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte in Europa zu stärken, für eine Übertragung des EMRK-Familienbegriffs auf Art. 16 ES. Lediglich die Nachzugsbestimmung des Art. 19 (6) ES kann somit, der Legaldefinition des Annexes folgend, auf die Kernfamilie begrenzt werden.

3. Zusammenfassung und Ergebnis

Der Umfang der durch den Rechtsbegriff „Familie" angesprochenen Personengruppe variiert innerhalb der ES je nachdem, ob es sich um eine nicht näher qualifizierte Familie i. S. Art. 16 ES handelt oder um die „Familie eines Wanderarbeitnehmers", der Art. 19 (6) ES das Recht auf Zusammenführung gewährt und die in dem Annex zur ES definiert wird. Während sich der Familienbegriff des Art. 16 ES nicht von jenem der E M R K unterscheidet, ist der

10. Kap.: Familienbegriff

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Familienbegriff des Art. 19 (6) ES wesentlich restriktiver, da er nur den Ehegatten des männlichen oder (nach gleichberechtigungskonformer Auslegung der Annexvorschrift) weiblichen Wanderarbeitnehmers und dessen noch nicht selbständige Kinder unter 21 Jahren umfaßt. Die unterschiedlichen Familienbegriffe innerhalb desselben Vertrages ergeben sich aus dem unterschiedlichen Regelungsziel der Bestimmungen. Art. 16 ES weicht in seiner Schutzrichtung nicht von den bekannten menschenrechtlichen Familienschutzbestimmungen ab, da er die Familie allgemein begünstigen will. Dementsprechend weicht auch der dieser Vorschrift innewohnende Familienbegriff nicht vom Üblichen ab. Demgegenüber greift Art. 19 (6) ES eine bestimmte Art von Familien heraus, nämlich jene der Wanderarbeitnehmer, die er mit einem ihnen sonst nicht zustehenden (objektiven) Recht ausstattet. Dieses Recht begrenzt die Freiheit der Vertragstaaten im einwanderungs- und ausländerrechtlichen Bereich, indem sie die Zusammenführung dieser Familien zu gewährleisten haben. Um den Umfang der staatlichen Verpflichtung klar zu umreißen und gleichzeitig einen unbedingt einzuhaltenden Mindeststandard zu schaffen, wurde hier der Familienbegriff ausdrücklich und restriktiv definiert. I I I . Der Familienbegriff des IPBPR Der Gedanke des Familienschutzes findet Ausdruck in mehreren Bestimmungen des IPBPR. Während Art. 17 IPBPR "1. No one shall be subjected to arbitrary or unlawful interference with his . . . family 2. Everyone has the right to protection of the law against such interference or attacks."

schwerpunktmäßig ein Art. 8 E M R K vergleichbares Abwehrrecht enthält, stellt Art. 23 I IPBPR die Familie ausdrücklich unter staatlichen Schutz: "The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the State."

Art. 24 IPBPR behandelt die Rechte des Kindes, denen in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter nachgegangen werden soll, und Art. 18 I V IPBPR enthält das später gesondert zu behandelnde elterliche Erziehungsrecht. Eine eingehende Untersuchung des im Pakt verankerten Familienschutzes erfordert zunächst eine Bestimmung des diesen Vorschriften zugrundeliegenden. Familienbegriffs. Im Unterschied zu den Vertragstaaten der E M R K weisen die Mitgliedstaaten des universell geltenden Paktes kein einheitliches Familienmodell auf. Während beispielsweise im europäischen Raum eine immer deutlichere Entwicklung hin zur Kernfamilie erfolgt, herrscht in anderen Gesellschaftsordnungen, etwa des afrikanischen Kontinents, oft noch die

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3. Teil: Familienschutz

traditionelle Form der Großfamilie vor. Darüber hinaus gibt es Unterschiede in den Eheformen (Mono-, Polygamie), die gleichfalls zu unterschiedlichen Familienstrukturen führen. Der Pakt will nun einen menschenrechtlichen Mindeststandard festschreiben, den alle Vertragstaaten unabhängig von ihrem jeweiligen sozialen, historischen und kulturellen Hintergrund gleichermaßen einhalten müssen. Es ist daher davon auszugehen, daß bestimmte Personenbeziehungen dem Familienbegriff des Paktes als Mindestinhalt zuzuordnen sind. Daneben wird es ebenso wie bei dem Ehebegriff des Paktes Beziehungen geben, die seinem Familienbegriff unter bestimmten Voraussetzungen unterfallen können, die aber nicht zu seinem Begriffskern zählen. Da vorrangig zwei Vorschriften den Schutz der Familie betreffen, stellt sich des weiteren die Frage, ob er für Art. 17 und 23 I IPBPR identisch definiert werden kann oder ob sein Inhalt ebenso wie bei der soeben untersuchten ES variiert.

1. Art. 17 IPBPR

Im Unterschied zu Art. 8 E M R K schützt Art. 17 I IPBPR seinem Wortlaut nach nicht vor Eingriffen in das Familienleben, sondern in die Familie schlechthin. Doch ergeben sich aus diesem Formulierungsunterschied keine wesentlichen Abweichungen zu der EMRK-Bestimmung, denn auch bei Art. 17 I IPBPR liegt der Schwerpunkt des Schutzes auf der Achtung der familiären Beziehungen, des tatsächlichen Zusammenlebens der Familienmitglieder. Es fragt sich nun, welche Personenbeziehungen vom Pakt als „familiär" angesehen werden. Vom Familienbegriff umfaßt ist jedenfalls die Kernfamilie, also Eltern und deren minderjährige Kinder. Denn dieser Personenkreis ist der Inbegriff einer Familie; ohne ihren Schutz ist Familienschutz überhaupt nicht denkbar. In keinem Kultur- oder Rechtskreis bestehen hieran Zweifel. Ebenso unzweifelhaft bestehen zwischen Ehegatten familiäre Bande, da auch sie einen Kernbereich der Familie bilden. So ließ auch der Menschenrechtsausschuß im Fall der maurizischen Frauen keinen Zweifel daran, daß das Zusammenleben der Ehegatten " . . . clearly belongs to the area of 'family' as used in Article 17 (1) of the Covenant." 8 2

Im Vergleich zur E M R K ist der Schutzbereich des Paktes im Hinblick auf die geschützten ehelichen Verbindungen weiter gefaßt. Denn während die E M R K auf dem europäischen Ehebild aufbaut, das nur die Einehe kennt, schließt der Pakt polygame Verbindungen nicht aus. Polygamie ist eine paktkonforme 82 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/35 v. 2. 5. 1978, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, U N G A OR, Suppl. 40 (A/36/40), S. 134 ff. (140 § 9.2 (b) 2 (i) 1).

10. Kap.: Familienbegriff

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Eheform, wenn auch die Staaten zu ihrer schrittweisen Abschaffung gehalten sind. Die Partner einer Mehrehe sind folglich vom Familienbegriff des Paktes umfaßt. Des weiteren stellt sich die Frage, ob auch die Beziehungen unverheiratet zusammenlebender Personen dem Schutz des Art. 17 IPBPR unterfallen. Die Untersuchung der Rechtsordnungen Lateinamerikas hatte gezeigt, daß dort viele Staaten solche Lebensgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen einer formell geschlossenen Ehe gleichstellen oder ähnliche Rechtsfolgen eintreten lassen. Diese Entwicklung spiegelt sich jedoch auf weltweiter Ebene nicht wider. So wird in Europa ein unverheiratetes Paar allgemein nicht als Familie angesehen, und beispielsweise in moslemischen Ländern ist das Zusammenleben in freien Lebensgemeinschaften schlechthin undenkbar. In Ländern mit einer islamisch geprägten Rechts- und Gesellschaftsordnung würde eine Anerkennung faktischer Lebensgemeinschaften als „Familie" gegen grundlegende Wert- und Moral Vorstellungen verstoßen 83. Eine allgemeine, weltweite Übereinstimmung ist in diesem Bereich also nicht festzustellen. Hier hängt es mithin vom innerstaatlichen Recht ab, ob faktische Lebensgemeinschaften auch für Art. 17 IPBPR als Familie gelten. Denn erkennt ein Staat in seinem nationalen Recht solche Verbindungen als Familie an, so kann er auch im internationalen Bereich daran festgehalten werden. In anderen Ländern, die freie Lebensgemeinschaften nicht als Familienbeziehung gelten lassen, zählt die Gemeinschaft der Partner jedenfalls zu deren Privatsphäre und unterliegt damit ebenfalls dem Schutz des Paktes (Art. 17: „privacy"). Anders zu entscheiden ist hingegen die Frage, ob nichteheliche Kinder und ihre Eltern eine Familie bilden. Denn sobald der Kernbereich der familiären Beziehungen betroffen ist, können nationale Regelungen nicht mehr für die Einordnung dieser Bindungen entscheidend sein: Der Kernbereich der Familie ist der nationalen Verfügungsbefugnis entzogen. Entscheidend ist daher, ob das Verhältnis der Mutter/des Vaters zu ihrem bzw. seinem nichtehelichen Kind zu diesem Kernbereich zählt. Für den europäischen Raum konnte diese Frage eindeutig positiv beantwortet werden 84 . Doch weltweit sind die Bemühungen um eine Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Kindern noch nicht so weit fortgeschritten wie in Europa und begegnen wohl auch deutlich größeren Widerständen. Für eine Übertragung des Grundsatzes der Gleichstellung spricht aber, daß die enge Beziehung zwischen Eltern und Kindern von der Natur vorgegeben und somit vorrechtlicher Art ist. Eine Rechtsordnung, die diese elementaren natürlichen Bande nicht anerkennt, setzt sich in Widerspruch zu der menschlichen Natur. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind so grundlegend familiärer Art, daß es auf die staatliche oder 83

Dazu eindrucksvoll Tabandeh, A Muslim Commentary, Kapitel „The Veil and Modesty", S. 52 ff. (insbes. S. 54-56). 84 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 16 f. § 36.

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3. Teil: Familienschutz

gesellschaftliche Bewertung des Verhältnisses der Eltern zueinander und namentlich seine rechtliche Form (Ehe oder freie Lebensgemeinschaft) nicht ankommen kann. Da die einer Familie typischerweise und in allen Kulturkreisen gleichermaßen zugeschriebenen Funktionen wie Sorge, Pflege und Erziehung der Kinder unabhängig von dem Rechtsstatus der elterlichen Verbindung gegenüber den Kindern wahrgenommen werden, bilden auch unverheiratete Väter und Mütter mit ihren Kindern eine Familie. Aufgrund des denkbar engen biologischen und emotionalen Bandes zählen sie zu deren festem Kern, der unbeeinflußt von staatlicher Regelung als menschenrechtlicher Mindeststandard von Art. 17 I IPBPR geschützt ist. Zu untersuchen bleibt, ob nahe Verwandte wie Großeltern, Geschwister oder auch weitläufigere Verwandte (Onkel, Tanten, Neffen, Nichten) dem Familienbegriff des Art. 171 IPBPR unterfallen. Diese Personen werden zwar allgemein rechtlich zur Familie gezählt, doch sind die tatsächlichen Bindungen oft recht locker. Ebenso wie schon bei der Auslegung des Familienbegriffs der E M R K stellt sich auch hier die Frage, ob es für den Schutz des Art. 17 IPBPR schon ausreichen kann, daß ein Verwandtschaftsverhältnis im juristischen Sinn besteht. Für eine Ausdehnung des Schutzes auf Verwandte könnte die Entstehungsgeschichte des Art. 17 IPBPR sprechen, der ursprünglich die Familie nicht anführte, später aber aufgrund eines indischen Vorschlags um dieses Schutzobjekt ergänzt wurde 85 . Daraus könnte zu schließen sein, daß ein möglichst lückenloser, umfassender Schutz gegen staatliche Eingriffe gewährleistet werden sollte. Zwingend ist diese Folgerung jedoch schon deshalb nicht, weil auch bei einer engen Auslegung des Familienbegriffs keine Lücke entstünde, da „privacy" als Auffangtatbestand Eingriffe in das Privatleben auch solcher Personen verbietet, die keine „Familie" sind 86 . Eine auf den Kern der Familie begrenzte Auslegung legt der vertragliche Kontext nahe. Die andere Familienschutzvorschrift des Paktes, Art. 23 I IPBPR, bezeichnet die Familie als „natural and fundamental group unit of society". Damit werden nicht Rechtsbeziehungen angesprochen, sondern die Familie wird in ihren Funktionen und deren Bedeutung für die Gesellschaft gesehen. Diese „funktionale" Sicht der Familie in Art. 23 I IPBPR orientiert sich notwendigerweise nicht an dem juristischen Familienbegriff, sondern an der Rolle, die die Betroffenen tatsächlich in der Familie spielen. Es fragt sich nun, ob eine Übertragung dieses Familienverständnisses auf Art. 17 IPBPR möglich ist und dem Anliegen dieser Vorschrift gerecht wird. Eine Übertragung bietet sich deshalb an, weil dann nicht ein und demselben Begriff innerhalb eines Vertragswerkes verschiedene Bedeutungen zugrundegelegt werden 85 Report of the 3rd Committee, UN-Doc. A/4625 v. 8. 12. 1960, S. 7 § 40, U N G A OR, 15th session, 1960/61, Annexes, Agenda item 34. 86 Vgl. nur Volio, in: Henkin, International Bill of Rights, S. 195.

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müssen. Zur abschließenden Klärung dieser Frage sollen auch hier wieder die Vorarbeiten herangezogen werden. Die mit der Ausarbeitung des Paktes betrauten Delegierten hatten nicht die Familie im weiten, juristischen Sinne im Auge, als sie sich für deren Aufnahme in Art. 17 IPBPR einsetzten. Verschiedentlich hoben sie auf ihre Bedeutung als „nucleus of social life" 8 7 , „fundamental unit of society" 88 oder „nucleus of society" 89 ab, was auf ein enges, auf die typischen Funktionen einer Familie gerichtetes Verständnis dieser Gruppe schließen läßt. Aufschlußreich ist auch die Begründung für die Aufnahme der Familie als Schutzobjekt in Art. 17 IPBPR. Während einige Delegierte diese Erweiterung des Wortlauts als überflüssig empfanden, da schon der Begriff „home" die dort lebenden Personen - also auch die Familie umfasse 90, machten andere Teilnehmer darauf aufmerksam, daß in anderen Rechts- und Kulturkreisen „home" nur die Bedeutung einer Behausung, einer Wohnung habe, ohne den dort lebenden Personenkreis einzuschließen91. Aus dem Kontext und der Entstehungsgeschichte des Art. 17 IPBPR lassen sich nun folgende Schlüsse für die Auslegung des Familienbegriffs ziehen: Geschützt ist die Familie als Kerneinheit der Gesellschaft. Wird die Familie in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft gesehen, so wird auf ihre typischen Funktionen abgehoben, da ihre Bedeutung gerade in der Wahrnehmung dieser Aufgaben liegt. Mit ihrer Erfüllung ist in erster Linie die Kernfamilie befaßt. In Gesellschaftsordnungen, die einen ausgeprägten familiären Zusammenhalt kennen, spielen oft auch Verwandte eine wichtige Rolle in der Familie. In jedem Fall setzt die Erfüllung dieser familientypischen Aufgaben räumliche Nähe, einen faktischen Zusammenhalt der Personengruppe voraus. Daraus folgt, daß die Personen nicht nur rechtlich verwandt, sondern auch real miteinander verbunden sein müssen, um eine Familie i. S. Art. 17 IPBPR zu sein, eine Voraussetzung, die deutlich an das im Rahmen der E M R K geforderte „close link" erinnert. Diese Voraussetzung der tatsächlich gelebten Familieneinheit findet allerdings nur auf diejenigen Beziehungen Anwendung, die nicht schon zum festen Kern einer Familie zählen, also Eltern mit ihren ehelichen oder nichtehelichen Kindern sowie Ehepartnern. Denn diese Personengruppe ist als Inbegriff einer Familie von Art. 17 IPBPR als menschenrecht87

So beispielsweise Beaufort (Niederlande) im 3. Ausschuß, UN-Doc. A/C.3/SR. 1016, U N G A OR, 15th session, 1960/61, Annexes, Agenda item 34, 1016. mtg. (9. 11. I960), S. 173. 88 Duque Gomez (Kolumbien), UN-Doc. A/C.3/SR. 1016, U N G A OR, 15th session, 1960/61, Annexes, Agenda item 34, 1016. mtg. (9. 11. 1960), S. 175. 89 De las Barcenas (Spanien), UN-Doc. A/C.3/SR. 1018, U N G A OR, 15th session, 1960/61, Annexes, Agenda item 34, 3rd Committee, 1018. mtg. (10. 11. 1960), S. 182. 90 Z. B. Dadzie (Ghana), UN-Doc. A/C.3/SR. 1019, U N G A OR, 15th session, 1960/61, Annexes, Agenda item 34, 1019. mtg. (11. 11. 1960), S. 185. 91 Kano (Nigeria), ebenda, S. 187. Vgl. auch die Zusammenfassung der Debatten in UN-Doc. A/4625, Report of the 3rd Committee (8. 12. 1960), U N G A OR, 15th session, 1960/61, Annexes, Agenda item 34, S. 7 § 37.

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3. Teil: Familienschutz

licher Mindeststandard auch dann umfaßt, wenn es zu einer Störung des Zusammenlebens gekommen ist. Entscheidende Bedeutung gewinnt dieses zusätzliche Kriterium somit nur für die Zuordnung von Personen, die nicht zum engen Familienkreis zählen oder die ihm, wie etwa erwachsene Kinder mit eigener Familie, nach dem normalen Lauf der Entwicklung nicht mehr angehören. Diese Personen zählen nur dann zur Familie i. S. Art. 17 IPBPR, wenn sie familiäre Funktionen wahrnehmen, also andere Familienmitglieder pflegen, betreuen, erziehen, finanziell oder anderweitig in ihrer Lebensführung unterstützen. Die räumliche Nähe und Verbundenheit, die dabei vorausgesetzt werden, entsprechen den Vorstellungen der Delegierten bei der Ausarbeitung des Paktes, wenn sie „Heim" als Inbegriff nicht nur der Wohnung, sondern auch des dort zusammenlebenden Personenkreises verstanden. Doch andererseits gehören nicht alle Personen, die in einem Haushalt zusammenleben, schon allein aufgrund dieser Verbundenheit zur Familie. Denn diese Gruppe grenzt sich von anderen, ebenfalls eng zusammenlebenden Personen wie einer Wohngemeinschaft, einem Stamm oder einem Dorf dadurch ab, daß ihre Mitglieder miteinander verwandt sind. Insoweit begrenzt die nationalrechtliche Regelung des Verwandtschaftsverhältnisses den Umfang der Personengruppe, die alle sonstigen Voraussetzungen einer familiären Gemeinschaft erfüllt. Die von Art. 17 IPBPR geschützte Familie läßt sich folglich nur durch eine kombinierte Betrachtung der tatsächlichen Lebensumstände mit dem rechtlichen Verwandtschafts Verhältnis ermitteln. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zum Familienbegriff des Art. 8 E M R K .

2. Art. 23 I IPBPR

Art. 23 I IPBPR setzt schon seinem Wortlaut nach die Familie in Bezug zur Gesellschaft, indem ihre Schutzwürdigkeit als „natural and fundamental group unit of society" hervorgehoben wird. Daß dies zu einer funktionsbezogenen Betrachtung und entsprechenden Einordnung der als Familie geschützten Personen führt, wurde soeben dargelegt. In erster Linie schützt daher auch Art. 23 I IPBPR den engsten Kreis der Familie, die Kernfamilie 92 . Diese Auslegung wird durch die weiteren Abschnitte des Artikels erhärtet, die sich mit der Eheschließung und Familiengründung sowie der Gleichberechtigung der Ehepartner befassen und somit ebenfalls nur den Kern der Familie betreffen. Die Vorarbeiten lassen einen Definitionsversuch des Begriffs „Familie" nicht erkennen, wenn die Delegierten auch des öfteren auf die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft hinwiesen und damit eine funktionale Betrachtungsweise vertraten 93 . 92

Ebenso Volio, in: Henkin, International Bill, S. 200.

10. Kap.: Familienbegriff

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Unverheiratet zusammenlebende Paare werden aus den soeben dargelegten Gründen nur dann als Familie i. S. Art. 23 I IPBPR behandelt, wenn sie im nationalen Recht als Familie anerkannt werden. Auch im Menschenrechtsausschuß wurde die Ansicht vertreten, eine Familie im traditionellen Sinn setze eine Eheschließung voraus; allerdings könne eine entsprechende Anerkennung im nationalen Recht dazu führen, daß auch unverheiratet zusammenlebende Paare dem Familienschutz des Paktes teilhaftig werden 94 . Aus der Schutz- und Zielrichtung des Art. 23 I IPBPR ergibt sich des weiteren, daß nicht nur der engste Kreis der Familie geschützt ist, sondern darüber hinaus auch Verwandte, die in enger Gemeinschaft mit der Familie leben. Denn wenn die Familie gerade wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für die Gesellschaft geschützt wird, so führt diese funktionale Sicht zu einer Einbeziehung auch der Verwandten, die Aufgaben innerhalb der Familie erfüllen und somit einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Zudem darf der Pakt nicht dergestalt ausgelegt werden, daß er ein bestimmtes Familienmodell konkret: das der westlichen Industrienationen - bevorzugt schützt und dabei außer acht läßt, daß es in anderen Kulturkreisen auch andere Formen familiären Zusammenlebens gibt. So erfüllt beispielsweise in weiten Teilen des afrikanischen Kontinents die traditionelle Großfamilie wichtige soziale Aufgaben. Mehrere Generationen leben in enger räumlicher Gemeinschaft zusammen, kümmern sich gemeinsam um die Erziehung der Kinder und die Pflege und Versorgung der älteren Generation und der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts. Oft nehmen auch unverheiratete Verwandte solche Aufgaben wahr, was insbesondere für Frauen oft die einzige Möglichkeit sozialer Absicherung ist. Es kann nun nicht angenommen werden, daß der Pakt als universelles Vertragswerk solche traditionellen und für die betreffende Gesellschaft existentiellen Familienstrukturen nicht als schützenswert anerkennt. Denn die entsprechenden Staaten würden unnötig brüskiert, wenn ihre Lebensformen auf internationaler Ebene kein Verständnis und keine Berücksichtigung fänden. Nach der hier vertretenen Auslegung des Familienbegriffs wird die in vielen Staaten anzutreffende Großfamilie dadurch berücksichtigt, daß ihre Mitglieder über die zusätzliche Bedingung eines engen, tatsächlichen Kontaktes zur Familie gezählt werden können. Fehlen solche engen Bindungen, so zählen die nicht schon dem Kern der Familie zuzurechnenden Verwandten nicht zur familiären Gemeinschaft. Daraus folgt, daß diejenigen Staaten, deren Gesellschaft sich aus Kern- und nicht mehr aus Großfamilien zusammensetzt, einen kleineren Personenkreis als Familie i. S. des Paktes achten müssen als 93

Z. B. Bernardino Cappa (Dominikanische Republik), UN-Doc. A/C.3/SR. 1090, U N G A OR, 16th session, 1961/62, 3rd Committee, 1090. mtg. (.1. 11. 1961), S. 148; Capotorti (Italien), UN-Doc. A/C.3/SR. 1093, U N G A OR, 16th session, 1961/62, 3rd Committee, 1093. mtg. (6. 11. 1961), S. 164, zu damals noch Art. 22 des Entwurfs. 94 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, U N G A OR, 36th session, Suppl. 40 (A/36/40), S. 19 § 90. 15 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

jene, deren Gesellschaft sich in Großfamilien gliedert. Dies ergibt sich aus dem Fehlen bzw. Vorliegen eines tatsächlichen Zusammenhaltes zwischen Verwandten. 3. Vergleichende Zusammenfassung und Ergebnis

Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Zielrichtung liegt somit beiden Paktbestimmungen, Art. 17 IPBPR als Abwehrecht und Art. 23 I IPBPR als Verpflichtungsnorm, derselbe Familienbegriff zugrunde. Er beinhaltet einen festen Kern, der Eltern mit ihren Kindern (ehelichen oder nichtehelichen) sowie die beiden Ehepartner umfaßt. Dieser Personenkreis ist als menschenrechtlicher Mindeststandard von allen Paktstaaten gleichermaßen als Familie zu achten und anzuerkennen. Dieser feste Kern der Familie entspricht jenem Personenkreis, der auch im Rahmen der E M R K als Kernbestand einer Familie geschützt ist. Ebenso wie bei der E M R K gibt es neben diesem harten Kern auch Personenbeziehungen, die nicht schon per se zur Familie zählen, deren Zuordnung nicht nur von dem rechtlichen Verwandtschaftsverhältnis, sondern vor allem von dem tatsächlichen Erscheinungsbild des Zusammenlebens abhängt. Die Frage der tatsächlichen Verbundenheit entscheidet beispielsweise bei nahen Verwandten darüber, ob sie der Familie zuzurechnen sind. Die rechtliche Einordnung eines Verhältnisses hingegen steht etwa bei der Beurteilung polygamer Verbindungen im Vordergrund, die nur dann eine Familie sein können, wenn nach innerstaatlichem Recht wirksam eine Mehrehe geschlossen werden kann. Ebensowenig wie die E M R K verpflichtet der Pakt seine Mitgliedstaaten, diese Eheform in ihrem nationalen Recht zuzulassen. Doch haben sie solche Ehen als Familien zu achten, wenn sie nach dem nationalen Recht eines anderen Staates geschlossen werden konnten. Unverheiratete Paare schließlich unterfallen nur dann dem Familienschutz des Paktes, wenn sie im nationalen Recht als Familie anerkannt werden. Der Staat wird dann an seiner im nationalen Recht getroffenen Entscheidung auch auf internationaler Ebene festgehalten. Der internationale Menschenrechtsschutz ist in diesem Bereich also vollständig von der im nationalen Recht vorgefundenen Regelung abhängig; eine Sicherung des Schutzes gegen nationale Disposition findet hier nicht statt. Der Schutz freier Lebensgemeinschaften wird folglich nur in den Fällen verbessert, in denen der internationale Familienschutz weitergehende Verpflichtungen beinhaltet als das nationale Recht. Dies erklärt sich daraus, daß die weitaus meisten Staaten Paare nur dann als Familie anerkennen, wenn sie formell miteinander verheiratet sind. Eine Gleichstellung faktischer Verbindungen lehnen sie bewußt ab. Im Unterschied zu den Ehebegriffen beider Vertragswerke stimmen die Familienbegriffe der E M R K und des Paktes überein, wenn sich auch bei der Anwendung unterschiedliche Schwerpunkte ergeben (etwa hinsichtlich der

10. Kap.: Familienbegriff

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Bedeutung nicht-europäischer Ehe- und Familienmodelle). Die Unterschiede im Kreis der Vertragspartner, die Homo- bzw. Heterogenität der innerstaatlichen Rechtsordnungen und die Verschieden- bzw. Gleichartigkeit des kulturellen und sozialen Hintergrundes der Vertragsparteien wirkte sich bei der Ermittlung des Ehebegriffs wesentlich stärker aus als bei der des Familienbegriffs. Dies liegt daran, daß der Familienschutz sich viel stärker nach der tatsächlich vorgefundenen Situation bestimmt als der Eheschutz. Während es hier in erster Linie um den Schutz bestehender Gemeinschaften und vor allem der Kinder geht, steht bei den Eheschutzbestimmungen das Eheschließungsverfahren, also das anzuwendende Rechtsregime, im Vordergrund. Es geht um die bewußte staatliche Entscheidung, welche Personen in Zukunft als Ehepaare und Familien zu schützen sein werden. Bei dieser Grundsatzentscheidung über die Wirkungen künftiger Verbindungen fließen kulturelle, historische und soziale Besonderheiten legitimerweise weitaus mehr ein als bei dem Schutz schon existenter und insoweit nicht mehr beeinflußbarer Gemeinschaften. Anders gewendet: Steht beim Eheschutz die Frage nach dem Wünschenswerten im Vordergrund, geht es beim Familienschutz vorrangig um das Problem, wie eine vorgefundene Situation unter möglichst gerechter Berücksichtigung aller Interessen behandelt werden soll. Daher wirken sich im Bereich des Eheschutzes die Unterschiede beider Vertragswerke wesentlich deutlicher aus als beim Familienschutz.

I V . Der Familienbegriff des WSP Die Begriffsbestimmung im Rahmen des WSP folgt jener des IPBPR, da der WSP, abgesehen von seinem Inhalt und der Art seiner Verpflichtungswirkung („promotional obligation", keine subjektiven Rechte des Einzelnen), dieselben Charakteristika aufweist wie der IPBPR; er ist dessen Gegenstück auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet. So ist auch der WSP ein menschenrechtlicher Vertrag, der auf weltweite Geltung abzielt und dessen Mitgliedstaaten einen ganz unterschiedlichen historischen, sozialen und kulturellen Hintergrund haben. Sie decken sich im wesentlichen mit den Vertragstaaten des IPBPR. Auch der WSP will einen menschenrechtlichen Mindeststandard schaffen, indem er seine Vertragstaaten zur Anerkennung bestimmter Rechte verpflichtet, die nach und nach unter Ausschöpfung aller staatlichen Mittel voll zu verwirklichen sind (Art. 2 I WSP). In bezug auf die Familie heißt es in Art. 10 I WSP: "The State Parties of the present Covenant recognize that: 1. The widest possible protection and assistance should be accorded to the family, which is the natural and fundamental group unit of society, particularly for its establishment and while it is responsible for the care and education of dependent children." 1*

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3. Teil: Familienschutz

Es folgen das im Rahmen dieser Arbeit schon erörterte Verbot der Zwangsausübung bei der Eheschließung95; Abs. 2 schützt Mütter vor und nach der Geburt ihres Kindes insbesondere auf dem Arbeitssektor, und Abs. 3 enthält eine Schutzbestimmung zugunsten von Kindern und Jugendlichen mit u. a. dem Verbot von Kinderarbeit. Auch Art. 10 WSP kennzeichnet eine in erster Linie funktionsbezogene Sicht der Familie. Dies ergibt sich ebenso wie beim IPBPR aus der Qualifizierung dieser Gruppe als „natural and fundamental group unit of society" und wird darüber hinaus noch einmal deutlich gemacht durch die Betonung ihrer ganz besonderen Schutzwürdigkeit „while it is responsible for the care and education of dependent children". Ebenso wie beim IPBPR ist auch bei Art. 10 WSP der Kern des Begriffs „Familie" (Eltern mit ihren Kindern, Ehepaare) von Personenbeziehungen zu unterscheiden, die dem Familienbegriff auf internationaler Ebene unterfallen können, aber nicht müssen. Hier kommt dem tatsächlichen Erscheinungsbild des Zusammenlebens und der Einordnung der Beziehung im innerstaatlichen Recht entscheidende Bedeutung zu, letzteres etwa bei polygamen Verbindungen oder einem unverheirateten Paar, die nur dann dem Familienbegriff des WSP unterfallen, wenn sie nach nationalem Recht eine Familie sind bzw. die Mehrehe zulässig ist. Im Gegensatz dazu hängt die menschenrechtliche Einordnung des Kernbereichs einer Familie nicht von seiner innerstaatlichen Anerkennung ab: Er umschreibt die Personenbeziehungen, die den Mindestinhalt des internationalen Familienbegriffs ausmachen. Erkennt ein Vertragstaat des WSP die damit angesprochenen Gruppierungen nicht als Familie an, verstößt er gegen die aus Art. 10 I WSP resultierende Pflicht. Der Familienbegriff des WSP entspricht mithin vollinhaltlich jenem des IPBPR.

V . Der Familienbegriff der AmK Die Familienschutzbestimmungen der A m K sind fast identisch mit jenen des IPBPR. Die Parallelbestimmung zu Art. 17 IPBPR mit vornehmlich abwehrrechtlichem Charakter ist Art. 11 AmK: „Right to privacy". Der 1. Absatz erkennt jedermann das Recht auf Achtung seiner Ehre und Würde zu, die beiden folgenden Absätze schützen die Familie: "2. No one may be the object of arbitrary or abusive interference with his . . . family. 3. Everyone has the right to the protection of the law against such interference or attacks." 95

S. o., 4. Kapitel, Abschnitt I I . l .

10. Kap.: Familienbegriff

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Gleichlautend mit Art. 23 I IPBPR hebt Art. 17 I A m K die Familie als schützenswertes Rechtsgut hervor: "The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the State."

Im 5. Kapitel der A m K legt Art. 32 unter der Überschrift „Relationship between Duties and Rights" fest: "1. Everyone has responsibilities to his family, his community, and mankind.",

eine Vorschrift, die keine Entsprechung in den bislang untersuchten Familienschutzbestimmungen findet. Bis auf die letztgenannte Vorschrift entspricht also der Familienschutz der A m K jenem des IPBPR, so daß weitgehend auf die Untersuchung seiner Bestimmungen verwiesen werden kann. Im Folgenden soll schwerpunktmäßig auf Besonderheiten des amerikanischen Rechtskreises eingegangen und festgestellt werden, ob und inwieweit regionale Eigenheiten dem Familienschutz der A m K einen vom IPBPR abweichenden Inhalt zu geben vermögen. Der Familienbegriff der A m K umfaßt ebenso wie der des IPBPR den Kernbereich familiäre Beziehungen: Ehegatten, Eltern und Kinder, Väter/Mütter und ihre nichtehelichen Kinder sind auch im Rahmen der A m K eine Familie. Fraglich ist, ob die A m K nicht nur formell verheiratete Paare, sondern auch de-facto-Ehen als Familien ansieht. Schon für den IPBPR wurde dies dann angenommen, wenn sie im nationalen Recht einem Ehepaar gleichgestellt oder anderweitig als Familie anerkannt wurden. Dieses Ergebnis ist auf die gleichlautenden Familienschutzbestimmungen der A m K als Minimum übertragbar. Doch darüber hinaus könnte die A m K auch solche Staaten, die eine derartige Gleichstellung nicht vorsehen, über ihre Familienschutzbestimmungen zum Schutz faktischer Lebensgemeinschaften als Familie verpflichten. Dies setzt voraus, daß der Familienbegriff der A m K de-facto-Ehen als Teil seines der staatlichen Disposition entzogenen Kernbereichs umfaßt. Dafür könnte sprechen, daß die Gleichstellung oder rechtliche Annäherung der faktischen an formell geschlossene Ehen im Grundsatz von zahlreichen amerikanischen Rechtssystemen anerkannt und von einem Großteil der Bevölkerung als normal empfunden wird 9 6 . Doch schon die Untersuchung des Ehebegriffs der A m K hatte gezeigt, daß eine beträchtliche Anzahl lateinamerikanischer Staaten eine Gleichstellung faktischer mit formell geschlossenen Ehen nicht vornimmt und daß selbst in den Staaten, die dies tun, das Ausmaß der Gleichstellung oder Annäherung beträchtlich differiert 97 . Für den Ehebegriff der A m K bedeutete dies, daß faktische Lebensgemeinschaften zwar seinem Begriffshof, nicht aber seinem Begriffskern unterfielen, es also auf die 96 97

Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 523. S. o., 3. Kapitel, Abschnitt III.3.

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3. Teil: Familienschutz

nationale Rechtsordnung ankommt, ob für ein Land der menschenrechtliche Eheschutz auf de-facto-Ehen auszudehnen war. Dies muß auch für den Familienschutz gelten. Denn (noch?) sind die Staaten zu zahlreich, die eine Gleichstellung ablehnen, um von einem der überwiegenden Mehrzahl lateinamerikanischer Staaten gemeinsamen Phänomen zu sprechen. Es ist zudem zu bedenken, daß viele dieser Rechtsordnungen vom Katholizismus stark beeinflußt sind 98 , der ein freies Zusammenleben ehefähiger Partner bekanntlich ablehnt. Es ist daher zu vermuten, daß neben gesellschaftlichen Gruppen, die eine liberale Haltung in dieser Frage einnehmen, ebenso gesellschaftlicher Widerstand gegen eine Gleichstellung formuliert wird. Derzeit kann jedenfalls noch nicht von einer einheitlichen Entwicklung hin zur Gleichstellung faktischer mit formell geschlossenen Ehen ausgegangen werden, und es bleibt abzuwarten, ob und wieviele weitere Staaten sich der Liberalisierung anschließen werden. Dementsprechend können faktische Lebensgemeinschaften noch nicht dem dem lateinamerikanischen Rechtskreis eigenen Familienbild zugeordnet werden. Es bleibt daher bei dem Umfang der schon im Rahmen des IPBPR angenommenen und als Minimum auf die A m K übertragenen Verpflichtung zum Schutz nur der freien Lebensgemeinschaften, die innerstaatlich als Familie angesehen werden. Nur die Konventionsstaaten also, deren innerstaatliches Recht diese Anerkennung ausspricht, ggf. unter bestimmten Bedingungen wie Registrierung oder förmliche Anerkennung, haben faktische Lebensgemeinschaften auch im Rahmen der A m K als Familie zu achten. Für die übrigen Staaten folgt weder aus dem IPBPR noch aus der A m K eine Pflicht, unverheiratet zusammenlebende Paare als Familien unter besonderen Schutz zu stellen. Nichtsdestotrotz sind solche Verbindungen gegen staatliche Eingriffe geschützt, da auch im Rahmen der A m K der in Art. 11 I I ausgesprochene Schutz des Privatlebens als Auffangtatbestand dient. Lediglich an dem besonderen Schutz der Familie, den Art. 17 A m K vorsieht, haben sie nur nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung teil. Im Hinblick auf den über die Kernfamilie hinausgehenden Schutz auch naher Verwandter ergeben sich keine Unterschiede im Vergleich zu den gleichlautenden Bestimmungen des IPBPR. Auch der A m K liegt ein funktionales Familienverständnis zugrunde, das zwar auf der rechtlichen Regelung des Verwandtschaftsverhältnisses aufbaut, zusätzlich aber ein enges tatsächliches Band, die Wahrnehmung familiärer Aufgaben fordert. Eine intakte Großfamilie also, deren Mitglieder alle für die Familiengemeinschaft tätig sind, wird demnach auch von der A m K als Familie geschützt, während andere Verwandte, die nur lockere Beziehungen unterhalten und ihren Lebensmittelpunkt an anderer Stelle haben, nicht mehr zur Familie zählen. Diese Flexibili98

Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 511.

10. Kap.: Familienbegriff

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tät ermöglicht es, einerseits in Anbetracht der tatsächlichen Lebensumstände und Verhaltensweisen ungerechtfertigte Beschränkungen des Familienbegriffs zu vermeiden, andererseits aber auch seine Ausuferung zu vermeiden, indem allein die juristische Verwandtschaft nicht schon den Familienschutz der Konvention auslöst. Es kann also abschließend festgehalten werden, daß sich der Familienbegriff der A m K nicht von dem des IPBPR unterscheidet, obwohl die A m K einen weitaus homogeneren Kreis von Vertragspartner hat und insoweit eher Parallelen zu der E M R K und den Europaratstaaten aufweist. Doch gerade in dem Bereich, wo sich diese Tatsache hätte auswirken können (de-facto-Ehen), war in den amerikanischen Staaten keine einheitliche Praxis festzustellen.

V I . Der Familienbegriff der AfrC Die AfrC enthält zwar keine Eheschutz-, wohl aber mit Art. 18 AfrC eine Familienschutzbestimmung : "1. The family shall be the natural unit and basis of society. It shall be protected by the State which shall take care of its physical health and moral. 2. The State shall have the duty to assist the family which is the custodian of morals and traditional values recognized by the community. 3. The State shall ensure the elimination of every discrimination against women and also censure the protection of the rights of woman and the child as stipulated in international declarations and conventions. 4. The aged and the disabled shall also have the right to special measures of protection in keeping with their physical or moral needs."

Von Interesse für die vorliegende Untersuchung sind die Familienschutzbestimmungen im engeren Sinne, d. h. die ersten beiden Absätze. Für die afrikanische Gesellschaft ist allerdings das Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Frauen von ganz besonderer Bedeutung. Ihnen werden zwar im modernen afrikanischen Recht de lege alle Rechte zuerkannt, doch ihrer tatsächlichen Gleichberechtigung stehen noch immer überkommene Sitten und Vorstellungen entgegen". Auf die in Afrika anzutreffenden Familienmodelle wurde schon soeben anläßlich der Untersuchung des Familienschutzes des IPBPR eingegangen und festgestellt, daß zwar auch dort die Kleinfamilie im Vordringen begriffen ist, daneben aber die traditionelle Form der Großfamilie fortbesteht. Denn in der immer noch lebendigen traditionellen afrikanischen Gesellschaft ist das Konzept der Familie viel weiter gezogen als beispielsweise im heutigen Europa. Es umfaßt die Großfamilie als äußerst wichtige soziale und nicht zuletzt auch 99

D'Sa, Australian Y b I L 10 (1987), S. 115.

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3. Teil: Familienschutz

wirtschaftliche Einheit 1 0 0 . Darüber hinaus variieren auf dem afrikanischen Kontinent die nach innerstaatlichem Recht zulässigen Eheformen. Neben Ländern, deren staatliche Ehegesetz die Einehe vorsehen, gibt es auch Staaten, die beide Eheformen zulassen, in denen die Vielehe sogar vorherrscht 101 , was zu einer weiteren Vergrößerung der Familie führt. Es fragt sich nun, ob die AfrC ähnlich wie der IPBPR eine Vorliebe für eine bestimmte Eheform erkennen läßt, ob auch sie die schrittweise Abschaffung der Mehrehe favorisiert. Ebenso wie bei der Familienschutzbestimmung Art. 23 IPBPR könnte ein Anhaltspunkt dafür in dem Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter liegen (Art. 18 I I I AfrC) dergestalt, daß gleichberechtigungsfeindliche Eheformen abgeschafft werden sollten. Zweifel an der Bevorzugung der Einehe ergeben sich jedoch aus der Qualifizierung der Familie als „custodian of moral and traditional values recognized by the community". In einigen afrikanischen Staaten zumindest dürfte die Vielehe zu den traditionellen Sitten und Lebensformen zählen und sich nach wie vor gesellschaftlicher Anerkennung erfreuen. Ob nun die Viel- oder Einehe als gleichberechtigte Familienmodelle von der AfrC geschützt werden oder ob ihr eine Anregung zur schrittweisen Abschaffung polygamer Verbindungen zu entnehmen ist, kann aber letztlich offen bleiben. Denn jedenfalls ist die auf Polygamie gegründete Familie dann, wenn sie einmal entstanden ist, ebenso von Art. 18 AfrC umfaßt wie die monogame Familie. Hinsichtlich des geschützten Personenkreises ergeben sich auch darüber hinaus keine Abweichungen gegenüber dem IPBPR, in dessen Familienverständnis die weltweit vertretenen Vorstellungen und Übungen einflössen und das daher auch die afrikanischen Formen des Zusammenlebens berücksichtigte. Unterschiedlich ist allerdings die Ausgangssituation: Während weltweit die Frage der Polygamie eher in den Hintergrund der Betrachtung gerät, hat sie für Afrika als häufig praktizierte Form des Zusammenlebens große Bedeutung, wenn auch hier in neuerer Zeit die Bestrebungen in Richtung einer schrittweisen Abschaffung dieser Eheform gehen. In ländlichen Gebieten schließlich herrscht nach wie vor die Großfamilie vor, deren Mitglieder einen engen Zusammenhalt pflegen. Diese Faktoren führen dazu, daß die afrikanische Familie oft wesentlich mehr Personen umfaßt, als dies in anderen Regionen der Welt der Fall ist. Die afrikanischen Besonderheiten wirken sich somit mehr im tatsächlichen denn im rechtlichen Bereich des Menschenrechtsschutzes aus.

100 101

D'Sa, Australian Y b I L 10 (1987), S. 115. Dazu schon oben, Drittes Kapitel, Abschnitt II.

Elftes Kapitel Gleichstellung der ehelichen und der nichtehelichen Familie? Im Rahmen der folgenden Untersuchung sind zwei Fragenkreise voneinander zu unterscheiden: die Gleichstellung unverheirateter mit formell verheirateten Partnern und die Gleichstellung ehelicher mit nichtehelichen Kindern. Beide Fragen hängen zusammen, müssen aber nicht notwendigerweise gleich entschieden werden. I. EMRK Den Fall Marckx, der weit über die konkrete Fallentscheidung hinaus Bedeutung für das gesamte Nichtehelichenrecht gewann, nahm der Gerichtshof zum Anlaß, Grundlegendes zur Gleichberechtigung ehelicher und nichtehelicher Kinder und Familien auszuführen: "The Court concurs entirely with the Commission's established case law on a crucial point, namely that Article 8 makes no distinction between the 'legitimate' and the 'illegitimate' family. Such a distinction would not be consonant with the word 'everyone', and this is confirmed by Article 14 with its prohibition, in the enjoyment of the rights and freedoms enshrined in the Convention, of discrimination on the grounded on 'birth'". 1

Auch der Ministerausschuß des Europarats bekräftigte, daß eine alleinstehende Frau mit ihren Kindern nicht minder eine Familie sei als andere Arten der Familie 2 . Die Konventionsstaaten haben daher die volle Entfaltung und normale Entwicklung auch nichtehelicher Familien zuzulassen3. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß für eheliche und nichteheliche Kinder jeweils dieselben rechtlichen Regelungen Anwendung finden müssen. Vielmehr kann es oft geboten sein, der besonderen Situation nichtehelicher Kinder auch durch besondere Vorschriften Rechnung zu tragen 4. Art. 8 E M R K 1

E G M R , Urt. v. 13. 6. 1979, Ser. A , Vol. 31, S. 14 § 31. Res. (70) 15 v. 15. 5. 1970 über den sozialen Schutz unverheirateter Mütter und ihrer Kinder, §§ 1-10, II-5. 3 E G M R , Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 15 § 31. 4 K E v. 15. 3. 1984 zu Β 9639/82, B, R & J ./. Bundesrepublik, D R 36, S. 130 ff. (140): "However, the situation of children born out of wedlock necessitates a distinct legislative regulation which has to take into account the general aspects of the problems involved." 2

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3. Teil: Familienschutz

verbietet es nur, daß diese Sonderbehandlung zu einer Schlechterstellung dieser Kinder führt. Eine Privilegierung ehelicher gegenüber nichtehelicher Kinder ist damit ausgeschlossen. Schon die frühere Untersuchung des Art. 12 E M R K hatte erwiesen, daß nichteheliche Lebensgemeinschaften gegenüber Ehepaaren insofern schlechter gestellt sind, als sie nicht dem Schutz des Art. 12 E M R K unterfallen, der es aber umgekehrt gebietet, Ehen gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften jedenfalls nicht zu benachteiligen5. In den Mitgliedstaaten werden nichteheliche Lebensgemeinschaften denn auch tatsächlich in manchen Bereichen, etwa in steuerrechtlicher Hinsicht, benachteiligt, eine Praxis, die unter der Konvention nicht zu beanstanden ist und die auch von ihren Organen gebilligt wird 6 . Zu untersuchen bleibt, ob Art. 8 E M R K eine vollständige Gleichstellung verheirateter und nichtverheirateter Eltern bezüglich der Beziehungen zu ihren Kindern gebietet. Der wohl wichtigste Anwendungsfall ist die Zuerkennung des Sorgerechts. In einigen Staaten des Europarats, auch der Bundesrepublik, ist die elterliche Sorge für eheliche und nichteheliche Kinder unterschiedlich geregelt. Während sie bei ehelichen Kindern von beiden Elternteilen gleichermaßen wahrgenommen wird (§ 1626 f. BGB), steht sie bei einem nichtehelichen Kind allein der Mutter zu (§ 1705 BGB). Anläßlich der Beschwerde eines unverheirateten Vaters, der in der Sorgerechtsfrage einem verheirateten Vater gleichgestellt werden wollte, bestätigte die Kommission die Konventionsmäßigkeit dieser unterschiedlichen Regelungen. Schließlich stehe es den Eltern frei, zu heiraten und so an der Privilegierung verheirateter Väter teilzuhaben. Entschieden sich die Eltern jedoch gegen eine Ehe, so stellten sich bei der Regelung des Sorgerechts andere Probleme als innerhalb einer ehelichen Familie, so daß unterschiedliche Vorschriften angebracht seien7. Dem ist zuzustimmen. Spätestens bei dem Auseinanderbrechen einer Familie stellt sich in aller Schärfe die Frage, wer die Sorge für die Kinder wahrnehmen soll. Ist das Elternpaar verheiratet, so wird diese Frage gerichtlich geprüft. Doch ein unverheiratetes Paar trennt sich ohne Scheidung, so daß über die Sorgerechtsfrage nicht in einem objektivierten Verfahren entschie5 S. o., Sechstes Kapitel, Abschnitt I I a . 6 Z. B. K E v. 15. 3. 1984 zu Β 9639/82, B, R & J ./. Bundesrepublik, D R 36, S. 130 ff. (140): "The relations between man and woman forming a couple, as well as their legal relationship towards their children, are governed by family law. The full protection of this family unit requires that the couple be lawfully married." 7 K E v. 15. 3. 1984 zu Β 9639/82, B, R & J ./. Bundesrepublik, D R 36, S. 130 ff. (140); ebenso schon K E v. 5. 12. 1978 zu Β 7658/76, X ./. Dänemark, D R 15, S. 128 ff. Auf dieses Problem mußte jedoch wegen einer Änderung der dänischen Gesetzgebung nicht eingegangen werden.

11. Kap.: Nichteheliche Familie

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den wird. Die Gefahr ist daher groß, daß das Kind zum Spielball widerstreitender Interessen seiner Eltern und Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen wird. Daher liegt es nicht zuletzt im Interesse des Kindes, wenn die Zuständigkeit eines Elternteiles für alle das Kind betreffenden Angelegenheiten von vornherein festgelegt ist. Denn nur so ist die ungebrochene Fortsetzung des Sorge Verhältnisses auch nach Trennung der Eltern gewährleistet. Eine andere Frage ist es, wie die Bevorzugung der Mutter in der Sorgerechtsfrage zu rechtfertigen ist. Zwar ist i.d.R. die Beziehung zwischen Mutter und Kind stärker und vor allem verläßlicher als zu dem Vater, der vielleicht nicht an dem Kind interessiert oder nicht auffindbar ist 8 . Zudem ist sie offensichtlich und feststellbar („maier semper certa est") und bietet folglich einen praktikablen Ansatz für eine generelle gesetzliche Zuordnung. Doch auf der anderen Seite nimmt eben jene generelle Regelung dem nicht verheirateten Vater, der zu seinem Kind steht und für es sorgen will, jegliche Möglichkeit, das Sorgerecht zu erhalten. Er kann es - ohne Eheschließung - beispielsweise nach deutschem Recht nur dadurch erhalten, daß er seine eigenes Kind adoptiert oder sich zum Vormund bestellen läßt. In diesen Fällen verliert die Mutter zwangsläufig das Sorgerecht. Es würde sich anbieten, Ausnahmeregelungen zuzulassen, indem etwa auf Antrag dem Vater oder beiden Elternteilen das Sorgerecht gerichtlich zuerkannt wird und die Entscheidung auch nur gerichtlich abänderbar ist. Dieses Verfahren böte den Vorteil, daß eine ausreichende Berücksichtigung der Interessen und des Wohls des Kindes auch bei einer späteren Trennung der Eltern gesichert ist und gleichzeitig die erzieherischen Fähigkeiten der Eltern, ihre Beziehung zu dem Kind und ihre persönlichen Verhältnisse besser berücksichtigt werden können. Grundsätzliche Unsicherheiten über die Zuständigkeit können dadurch vermieden werden, daß es bei fehlendem Antrag bei der generellen Entscheidung zugunsten der Mutter bliebe. Abschließend kann also festgehalten werden, daß Art. 8 E M R K keine Privilegierungen der ehelichen gegenüber nichtehelichen Kindern zuläßt, daß aber Ehepaare - auch in ihren Beziehungen zu ihren Kindern - gegenüber nichtehelichen Verbindungen bevorzugt werden dürfen. I I . Europäische Sozialcharta Auch im Rahmen der ES konzentriert sich die Frage nach einer zulässigen Besserstellung der ehelichen gegenüber der nichtehelichen Familie allein auf das Verhältnis der Partner. Eine Schlechterstellung nichtehelicher Kinder ist schon deshalb unzulässig, weil sie gegen das in der Präambel der ES ange8 So auch die Kommission, K E v. 15. 3. 1984 zu Β 9639/82, B, R & J ./. Bundesrepublik, D R 36, S. 130 ff. (140).

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3. Teil: Familienschutz

führte Diskriminierungsverbot aufgrund der Geburt und damit gegen einen Grundgedanken des europäischen Menschenrechtsschutzsystems verstieße. Anders verhält es sich aus den soeben dargelegten Gründen bei der Beziehung der erwachsenen Partner zueinander, da Staaten ein legitimes Interesse an der Privilegierung formeller Ehen haben und insoweit die europäischen Rechtsordnungen übereinstimmen. Art. 16 ES selbst nimmt im übrigen in seiner Aufzählung exemplarischer Schutzmaßnahmen eine Privilegierung ehelicher Verbindungen vor, wenn er Hilfen für junge Eheleute, nicht aber für faktische Lebensgemeinschaften nennt. Noch deutlicher ist Art. 19 (6) ES i.V.m. seiner Annexbestimmung, die nur Ehepartner, nicht aber Lebensgefährten zur Familie zählt. Ebenso wie ihr Gegenstück auf dem Gebiet der bürgerlichen und politischen Rechte, die E M R K , verbietet folglich auch die ES Diskriminierungen nichtehelicher Kinder, läßt aber die Privilegierung der Ehepaare gegenüber freien Verbindungen weiterhin zu. I I I . IPBPR Während die Beziehungen unverheirateter Eltern zu ihren leiblichen Kindern grundsätzlich familiärer Art sind, konnte dies für das Verhältnis der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft untereinander nicht angenommen werden, da hierüber kein universeller Konsens besteht. Es fragt sich nun, ob und inwieweit die Paktbestimmungen eine Privilegierung der ehelichen gegenüber der nichtehelichen Familie verbieten. 1. Art. 17 IPBPR

Schon der Wortlaut dieser Bestimmung spricht für einen gleichberechtigten Schutz beider Familienformen. Denn gem. Art. 17 IPBPR darf „niemand" willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in seine Familie ausgesetzt werden, ohne daß sich Anhaltspunkte für eine Beschränkung nur auf eheliche Familien finden ließen. Für das Verhältnis unverheirateter Eltern zu ihren Kindern ergibt sich dieser Schluß auch aus dem in Art. 21 IPBPR niedergelegten Diskriminierungsverbot, wonach die Paktrechte allen ohne Unterschied (z. B. der Geburt) zu gewährleisten sind. Erkennt ein Staat freie Lebensgemeinschaften als Familie an, so daß sie dem Schutz des Art. 17 überhaupt teilhaftig werden, verbietet Art. 2 I IPBPR Eingriffe ebenso wie in die Beziehungen von Ehepartnern. Andernfalls läge eine verbotene Diskriminierung aufgrund des „sonstigen Status" (formell verheiratet oder nicht) vor, da sich kein sachlicher Grund dafür finden läßt, warum ein Staat in von ihm als Familie anerkannte freie Verbindungen eingreifen darf, nicht aber in eheliche Lebensgemeinschaften. Denn die Anerkennung freier Gemeinschaften als schützens-

11. Kap.: Nichteheliche Familie

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werte Familie führt dazu, daß der Staat sie dann auch in demselben Umfang in ihrer Einheit achten muß wie die eheliche Familie. 2. Art. 23 I IPBPR

Eine Begrenzung des aus Art. 23 I IPBPR folgenden Schutzanspruchs auf „legale" Familien läßt sich auch dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht entnehmen, doch befassen sich ihre folgenden drei Abschnitte nur mit der ehelichen Familie (Eheschließung, Rechte der Ehegatten). Beeinflußt nun dieser Kontext die Auslegung des ersten Abschnitts? Im Hinblick auf nichteheliche Kinder ist dies zu verneinen. Denn zum einen dürfen sie aufgrund ihrer Geburt schon gem. Art. 2 I IPBPR nicht benachteiligt werden, zum anderen wird ihr Schutzanspruch ungeachtet ihrer ehelichen oder nichtehelichen Geburt nochmals in Art. 24 I IPBPR hervorgehoben. Mit diesen Bestimmungen ist eine Benachteiligung nichtehelicher Kinder und ihrer Mütter und Väter unvereinbar, doch sind im einzelnen unterschiedliche Regelungen möglich und geboten. Denn ebensowenig wie Art. 8 E M R K verwehrt es der Pakt den Vertragstaaten, den verschiedenen Problemen durch entsprechend differenzierte Rechtsregeln Rechnung zu tragen. In keinem Fall aber, so das Gebot des Art. 23 I IPBPR, darf dies zu einer Benachteiligung der nichtehelichen Kinder führen. Gilt dies nun auch in gleichem Maße für die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit der Folge, daß Ehepaare nicht bevorzugt werden dürfen? Anders gewendet: Kann ein sachlicher Unterscheidungsgrund gefunden werden, der eine unzulässige Diskriminierung nach Art. 2 I IPBPR ausschließt? Zunächst ist daran zu erinnern, daß diese Frage sich ohnehin nur auf solche Lebensgemeinschaften bezieht, die in den nationalen Rechtsordnungen als Familie anerkannt werden (wie z. B. in vielen lateinamerikanischen Staaten), da sie andernfalls schon nicht dem Schutzbereich des Art. 23 I IPBPR unterfallen. Ein sachlicher Unterscheidungsgrund könnte in der unterschiedlichen Fähigkeit zur Erfüllung familientypischer Aufgaben liegen. In der Regel erweisen sich formell geschlossene Verbindungen als dauerhafter als jene, die auf einem nicht formalisierten, jederzeit zurücknehmbaren Entschluß zum Zusammenleben beruhen. Sie bieten daher eine größere Sicherheit dafür, daß die Partner zusammenbleiben und gemeinsam für sich und ihre Nachkommen sorgen, also ihren familiären Pflichten und Aufgaben reibungslos nachkommen können 9 . Hieran haben alle Staaten ein besonderes Interesse, und gerade deswegen wird die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft" erhöht geschützt. Dementsprechend stellen zahlreiche nationale Verfassungen die Ehe unter 9 Anderes mag für anerkannte/registrierte de-facto-Ehen gelten, auf die jedoch gesondert im Rahmen der A m K (Abschnitt V dieses Kapitels) eingegangen werden soll.

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3. Teil: Familienschutz

besonderen staatlichen Schutz, nicht aber die freie Lebensgemeinschaft 10. Die einer formell und mit Rechtsbindungswillen eingegangenen Verbindung innewohnende Vermutung erhöhter Dauerhaftigkeit und damit der problemlosen Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben ist ein hinreichend sachlicher Grund, um Privilegierungen ehelicher Verbindungen nicht dem Vorwurf unzulässiger Diskriminierung auszusetzen. Ebensowenig wie die Vertragstaaten der E M R K sind somit die Paktstaaten daran gehindert, Anreize für Eheschließungen zu schaffen und Ehen gegenüber faktischen Verbindungen zu bevorzugen, sofern es um positive Leistungen des Staates im Rahmen des Art. 23 I IPBPR geht. Eingriffen aber hat sich der Staat gegenüber beiden Familienformen gleichermaßen zu enthalten, ebenso wie er eheliche Kinder gegenüber nichtehelichen nicht bevorzugen darf. I V . WSP Das für Art. 23 I IPBPR gefundene Ergebnis ist in vollem Umfang auf den WSP übertragbar. Denn ebenso wie Art. 10 WSP stellt diese Bestimmung die Familie unter positiven staatlichen Schutz, gewährt ihr Anspruch auf später näher zu konkretisierende Unterstützung. Demgegenüber ist Art. 17 IPBPR als Abwehrrecht mit Art. 10 WSP nicht vergleichbar, so daß das zu dieser Bestimmung Ausgeführte für die Untersuchung im Rahmen des WSP nicht von Interesse ist. Danach ist die Schlechterstellung nichtehelicher Kinder untersagt. Abgesehen davon, daß sich aus Art. 10 WSP keinerlei Bevorzugung ehelich geborener Kinder herauslesen läßt, verstieße das auch gegen das in Art. 2 I I WSP niedergelegte Diskriminierungsverbot aufgrund der Geburt, das in Art. 10 I I I WSP noch einmal speziell für den Bereich des Familienschutzes wiederholt wird: "Special measures of protection and assistance should be taken on behalf of all children and young persons without any discrimination for reasons of parentage or other conditions."

Anderes gilt auch im Rahmen des WSP für freie Lebensgemeinschaften, auch wenn sie das innerstaatliche Recht als Familie ansieht. Ebensowenig wie 10 Beispielsweise die Verfassungen von Äquatorialguinea (Art. 41), Albanien (Art. 49), Benin (Art. 126), der Bundesrepublik (Art. 6 GG), China (Art. 49), Costa Rica (Art. 52: „Marriage is the essential basis of the family . . . " ) , D D R (Art. 38), Dominikanische Republik (Art. 15 c: „Marriage is recognized as the legal basis of the family."), Gabun (Art. 1 Nr. 9), Griechenland (Art. 21), Haiti (Art. 46: „The State encourages marriage in order to improve the organization of the family . . . " ) , Irland (Art. 41), Italien (Art. 29), Schweiz, Art. 54, Spanien (Art. 32), Syrien (Art. 44 (2): „The State encourages and protects marriage and will eliminate the material and social obstacles hampering marriage.").

11. Kap.: Nichteheliche Familie

239

Art. 23 I IPBPR verwehrt es Art. 10 I WSP seinen Mitgliedstaaten, Anreize zur Legalisierung freier Lebensgemeinschaften zu schaffen. V . AmK Die Ausgangssituation für die Beurteilung der Frage, ob die Konventionsstaaten die in einem formellen Verfahren geschlossene Ehe und die „legale" Familie privilegieren dürfen, ist identisch mit jener des IPBPR. Während die Beziehungen unverheirateter Mütter und Väter zu ihren Kindern auch hier wiederum zu dem Kernbereich familiärer Beziehungen zählen, hängt die Zuordnung faktischer Lebensgemeinschaften von der innerstaatlichen Entscheidung ab, de-facto-Verbindungen als Familien anzuerkennen oder nicht. 1. Art. 11 AmK

Ebenso wie Art. 17 I IPBPR spricht schon der Wortlaut auch des Art. 11 I I A m K : „No one may be the o b j e c t . . . " gegen einen minderen Schutz nichtehelicher Eltern-Kind-Beziehungen oder, sofern national anerkannt, faktischer Lebensgemeinschaften. Denn eine solche Differenzierung ließe sich mit dem kategorischen Verbot, „niemand" dürfe willkürlichen oder mißbräuchlichen Eingriffen ausgesetzt werden, nicht vereinbaren. Für nichteheliche Kinder ergibt sich das Verbot der Schlechterstellung im übrigen aus Art. 17 V AmK: "The law shall recognize equal rights for children born out of wedlock and those born in wedlock."

Im Hinblick auf freie Lebensgemeinschaften greift das Diskriminierungsverbot des Art. 11 A m K ein, das u. a. neben den gängigen Diskriminierungsverboten Ungleichbehandlungen aufgrund „any other condition" verbietet. Ein sachlicher Grund, warum faktische Lebensgemeinschaften dann, wenn sie innerstaatlich Ehepaaren gleichgestellt oder als Familie anerkannt werden, schlechter gestellt werden dürfen, ist nicht ersichtlich. Gegen staatliche Eingriffe ist folglich die „illegale" ebenso wie die „legale" Familie geschützt. 2. Art. 17 AmK

Für eine Begrenzung des positiven Schutzes auf eheliche Familien könnte ebenso wie bei Art. 23 I IPBPR der Kontext dieses Absatzes angeführt werden, da die beiden folgenden Absätze die Eheschließung und damit die Gründung einer „legalen" Familie ansprechen. Hinsichtlich nichtehelicher Kinder kann in vollem Umfang auf die Ergebnisse zu Art. 23 I IPBPR verwiesen werden: Weder mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot der Konvention in Art. 11 A m K („birth") noch dem ausdrücklichen Gleichstellungsgebot in Art. 17 V A m K wäre eine solche Differenzierung vereinbar.

240

3. Teil: Familienschutz

Fraglich ist, ob dies genauso uneingeschränkt für freie Lebensgemeinschaften gilt. Dabei betrifft die Frage nach einer zulässigen Besserstellung „legaler" Familien im Rahmen staatlicher Schutz- und Förderungsmaßnahmen nur diejenigen Staaten, die de-facto-Verbindungen als Familie anerkennen. Denn wurde eine solche Entscheidung getroffen, verbietet grundsätzlich Art. 1 I A m K ihre Schlechterstellung gegenüber ehelichen Familien. Eine Privilegierung der ehelichen Familie kann folglich nur dann konventionskonform sein, wenn es einen sachlichen Unterscheidungsgrund für eine ungleiche Behandlung beider Familienformen bei der Teilhabe am positiven Familienschutz gibt. In ihren nationalen Rechtsordnungen zeigen sich manche Staaten des amerikanischen Raumes außerordentlich großzügig. So bestimmt beispielsweise Art. 193 der bolivianischen Verfassung: "Free or de facto unions that meet the conditions of stability and singularity, and that are maintained between persons having the legal capacity to marry, produce effects similar to marriage, both in the personal and property relations of the parties living together and with respect to the children born to them."

Noch weiter geht Art. 32 der Verfassung von El Salvador: "The State shall promote marriage, but the lack of this shall not affect the enjoyment of the rights that are established in favour of the family."

Eine völlige Gleichstellung faktischer und legaler Ehen ordnet Art. 53 der panamaischen Verfassung an: " A de facto union between persons legally competent to contract marriage, maintained during five consecutive years in an exclusive and stable relationship, shall have all the effects of civil marriage." 11

Diese Beispiele verdeutlichen, wie sehr manche Staaten beide Familienformen einander angenähert bis hin zu einem völligen Verzicht auf Privilegierungen der formellen Ehe. Fraglich ist allerdings weiterhin, ob dieser Verzicht einer rein innerstaatlichen Begünstigung entspringt oder ob er darüber hinaus auch international geboten ist. Staaten, die eine Gleichstellung oder Annäherung beider Lebensformen vollzogen haben, machen die Anerkennung faktischer Ehen von hohen Anforderungen abhängig (Ausschließlichkeit, Beständigkeit, Fehlen essentieller Ehehindernisse). Das Argument, freie Lebensgemeinschaften böten keine hinreichende Sicherheit für eine dauerhafte und reibungslose Erfüllung ihrer familiären Aufgaben, schlägt gegenüber diesen anerkannten de-facto-Ehen also nicht durch. Denn sie haben ihre Beständigkeit schon unter Beweis gestellt, da dies eine Anerkennungsvoraussetzung ist. Eine ungünstige Pro-

11

Alle Verfassungstexte zitiert nach Blaustein/Flanz.

11. Kap.: Nichteheliche Familie

241

gnose hinsichtlich ihrer Dauer wäre ungerechtfertigt und kann folglich nicht als Privilegierungsgrund für eheliche Familien angeführt werden. Dennoch sind Gründe denkbar, die eine Privilegierung der formell geschlossenen Verbindung rechtfertigen können. Denn selbst bei einer Gleichstellung beider Arten des Zusammenlebens ist das rechtliche Regime, dem de-facto-Ehen unterliegen, insgesamt wesentlich lückenhafter und unvollkommener als das „offizielle" Eherecht. So enthält fast keine Rechtsordnung besondere Vorschriften für die Auflösung einer faktischen Gemeinschaft. In der Regel kann sie durch einseitigen Entschluß eines der beiden Partner beendet werden 12 , ohne daß auch die Interessen des anderen Teil berücksichtigt und ausgeglichen werden, wie dies beispielsweise im Ehescheidungsverfahren geschieht. Darüber hinaus bleiben vor allem in den Staaten, die keine Beurkundung oder Registrierung der faktischen Ehe verlangen, Unsicherheiten tatsächlicher Art bestehen (z. B. über ihre Dauer). Die staatliche Anerkennung faktischer Lebensgemeinschaften ist somit zwar ein begrüßenswerter Weg, Achtung vor den traditionellen Eheschließungsformen der Eingeborenen zu zeigen und der Tendenz weiter Teile der Bevölkerung nachzugeben, in faktischen Verbindungen zusammenzuleben. Doch bietet die formalisierte Form der Eheschließung deutliche Vorteile. Vor allem Aspekte der Rechtssicherheit und -klarheit lassen ihre Bevorzugung als zulässig erscheinen. Selbst Staaten mit einer sehr weitgehenden Annäherung wie El Salvador sehen daher weiterhin eine staatliche Förderung formeller Eheschließungen vor 1 3 . Auch jenen Staaten, die de-facto-Ehen als eine der Ehe angenäherte oder gleichgestellte Form des Zusammenlebens anerkennen, ist es daher nicht verwehrt, im Rahmen familienbegünstigender Maßnahmen formell geschlossene Ehen bzw. „legale" Familien zu bevorzugen, um Anreize für künftige Eheschließungen zu schaffen. Ein sachlicher Unterscheidungsgrund liegt insoweit vor. Allerdings dürfen de-facto-Ehen dabei nicht vollständig übergangen werden, da auch sie zu schützende Familien i. S. Art. 17 I A m K sind, sofern sie ein Staat in seinem nationalen Recht als solche anerkannt hat. In keinem Fall aber dürfen nichteheliche Kinder benachteiligt werden. Insoweit ergeben sich keine Unterschiede zu der Untersuchung der EMRK- oder IPBPR-Bestimmungen. Konventionsgemäß ist lediglich die Privilegierung der elterlichen Beziehung je nachdem, ob sie ehelich ist oder nur in Form einer freien Lebensgemeinschaft besteht.

12 13

Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 525. Art. 32 der Verfassung El Salvadors.

16 Palm-Risse

242

3. Teil: Familienschutz V I . AfrC

Auch im Rahmen der AfrC ist es den Vertragstaaten nicht verwehrt, eheliche gegenüber nichtehelichen Verbindungen zu privilegieren, sofern diese Besserstellung auf die elterliche Beziehung begrenzt bleibt. Insofern ergeben sich keine Unterschiede zu den Ausführungen zu Art. 23 I IPBPR. Kinder sind vor Diskriminierungen aufgrund ihrer Geburt neben dem allgemeinen Diskriminierungsverbot in Art. 2 AfrC auch durch Art. 18 I I I AfrC geschützt, der die Vertragstaaten noch einmal gesondert auffordert " . . . to censure the protection of the rights of the . . . child as stipulated in international declarations and conventions."

V I I I . Ergebnis Alle untersuchten Vertragswerke verbieten also die Schlechterstellung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichen, ohne daß dabei allerdings immer identische Regelungen anwendbar sein müßten. Da sich bei nichtehelichen Kindern oft andere Probleme stellen als bei ehelichen Nachkommen, darf und muß dies in der innerstaatlichen Gesetzgebung berücksichtigt werden, gerade um Benachteiligungen zu vermeiden. Nicht so einheitlich ist das Ergebnis hinsichtlich der Zulässigkeit von Privilegierungen nichtehelicher Lebensgemeinschaften. Abweichungen ergeben sich hier allerdings nicht primär aus der Natur der Verträge (unmittelbar verpflichtende/schrittweise zu verwirklichende Bestimmungen, regional/universell), sondern aus der Zielrichtung der eingegangenen Verpflichtung. Ist sie abwehrrechtlich, dürfen nichteheliche Verbindungen, so sie innerstaatlich als Familie anerkannt sind, nicht weniger als Ehepaare vor staatlichen Eingriffen geschützt werden. Geht es aber um die Teilhabe an staatlichen Schutz- und Förderungsmaßnahmen, dürfen Ehepaare auch weiterhin bevorzugt werden, um Anreize für formelle Eheschließungen zu schaffen. Denn zumeist rechtfertigt schon die bei ehelichen Lebensgemeinschaften günstigere Prognose hinsichtlich ihrer Dauer, Stabilität und damit Eignung zur Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben ihre Privilegierung. Anders verhält es sich allerdings bei den anerkannten de-facto-Ehen im lateinamerikanischen Raum, die Ehepaaren oft weitgehend gleichgestellt sind. Sie bieten ebenso Gewähr für ihre Stabilität wie Ehen. Doch rechtfertigt sich auch hier eine Privilegierung von Ehen, da sie einem wesentlich ausformulierteren Rechtsregime unterliegen und insbesondere bei ihrer Auflösung ein gerechter Interessenausgleich sichergestellt ist. Nur bei den abwehrrechtlichen Bestimmungen Art. 17 I IPBPR und Art. 11 I I A m K darf also die Form des Zusammenlebens für den Schutz keine Rolle spielen, ansonsten ist die Besserstellung ehelicher Lebensgemeinschaften unvermindert zulässig.

Zwölftes Kapitel Das Recht auf Achtung des Familienlebens I. Schutzbereich des Art. 8 I EMRK Art. 8 I EMRK: "Everyone has the right to respect for his . . . family life" bzw. „Toute personne a droit au respect de sa vie . . . familiale" stellt von seinem Wortlaut her nicht die Familie an sich, sondern das Zusammenleben ihrer Mitglieder unter Schutz. Der Schutzbereich dieser Bestimmung kann also nur dann berührt sein, wenn sich der Betroffene auf ein bestehendes Familienleben berufen kann, also eine enge tatsächliche Bindung vorliegt 1 . Nach einhelliger Ansicht entfaltet Art. 8 dabei keine Wirkungen in dem Sinne, daß ein Familienmitglied von einem Konventionsstaat verlangen könnte, ein zerrüttetes, nicht mehr intaktes Familienleben wiederherzustellen 2 . Bindungen tatsächlicher Art entscheiden also darüber, ob Art. 8 E M R K überhaupt eingreifen kann. Anders gewendet: Das geforderte „close link" liegt auf der Tatbestands-, nicht der Rechtsfolgenseite. Eine andere Frage ist es, welche Verpflichtungen den Konventionsstaaten obliegen, wenn ein Familienleben im geschilderten Sinn vorliegt. Müssen sie sich nur ungerechtfertigter Eingriffe in diese persönlichen Bindungen enthalten oder erwachsen ihnen auch positive Verhaltenspflichten? Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage ist jene nach Bedeutung und Inhalt des Begriffs „respect" in Art. 8 I EMRK.

1 Z. B. K E v. 15. 12. 1977 zu Β 7229/75, X u. Y ./. U K , D R 12, S. 32 ff. (32); KBer v. 10. 12. 1977 zu B 6833/74, Marckx ./. Belgien, Ser. B, Vol. 29, S. 44 § 69. 2 So schon K E v. 30. 5. 1974 zu B 5416/72, X ./. Österreich, CoD 46, S. 88 ff. (92): "[T]his provision is primarily negative in the sense that it gives protection against unjustified interference with family life by public authorities, but does not oblige the State positively to re-establish conditions of family life already impaired." S. auch K E v. 19. 12. 1974 zu Β 6577/74, Χ ./. Bundesrepublik, D R 1, S. 91 f. (91).

16*

244

3. Teil: Familienschutz 1. Art. 8 EMRK als Abwehrrecht

Im normalen Sprachgebrauch meint der Begriff „Achtung" zunächst, etwas Vorgefundenes unangetastet zu lassen, es in seiner Eigentümlichkeit und Charakteristik zu respektieren und nicht verändern zu wollen. In rechtliche Kategorien übertragen bedeutet dies, nicht ohne Not in einen vorgefundenen Freiraum einzugreifen. Dies bringt für den Begünstigten das Recht mit sich, einen bestimmten Lebensbereich - hier seine familiären Beziehungen - ohne staatliche Intervention allein, selbständig und nach seinen persönlichen Maßstäben und Entscheidungen gestalten zu dürfen. Dies ist die abwehrrechtliche Komponente des Rechts auf Achtung des Familienlebens. Hierzu finden sich zentrale Ausführungen des Gerichtshofs in seinem Urteil zum Belgischen Sprachenfall 3. Schon vor der Kommission hatten die Beschwerdeführer ihre Auslegung des Art. 8 dargelegt: „Recht auf Achtung des Familienlebens" bedeute ein Verbot jeglicher Zwangsausübung sowie eine Pflicht zu rechtlichem Schutz der Familie. Nach Ansicht der belgischen Regierung beinhaltete Art. 8 eine Verpflichtung ausschließlich negativen Charakters dergestalt, daß dem Staat Eingriffe verboten sind. Er sei demgemäß nicht verpflichtet, sein Schulwesen so zu organisieren, daß alle Kinder mit denkbar geringem Aufwand und möglichst geringen Unannehmlichkeiten am Schulunterricht teilnehmen könnten. Dementsprechend verstießen die das Schulwesen regelnden Gesetze nicht gegen Art. 8 E M R K 4 . Schon die Kommission hatte Bedenken gegen die Auslegung der belgischen Regierung geäußert insofern, als sie aufgrund der neuen Gesetzgebung eine „Schulemigration" und damit Störungen des Privat- und Familienlebens für möglich hielt 5 . Dies wurde vom Gerichtshof bestätigt, der allerdings deutlich den grundsätzlich abwehrrechtlichen Charakter der Vorschrift betonte: ,,[E]lle a essentiellement l'objet de protéger l'individu contre les ingérences arbitraires des pouvoirs publics dans sa vie privée ou familiale." 6

In das Familienleben dürfe daher nicht ungerechtfertigt eingegriffen werden, indem beispielsweise Kinder von ihren Eltern willkürlich getrennt werden. Dies war im Belgischen Sprachenfall jedoch nicht festzustellen, so daß der Gerichtshof keinen Verstoß gegen Art. 8 E M R K annahm. Das Recht auf Achtung des Familienlebens gewährt dem Einzelnen mithin in erster Linie einen Anspruch auf Nichteinmischung des Staates in seine 3 Eine eingehende Darstellung des Falles nebst Sachverhalt findet sich im 13. Kapitel, Text zu Fn. 29 - 39. 4 E G M R , Urt. v. 23. 7. 1968, Fall betreffend einige Aspekte des Sprachenregimes für das Unterrichtswesen in Belgien (künftig „Belgischer Sprachenfall"), Ser. A , Vol. 6, S. 24. 5 E G M R ; Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 25. 6 E G M R ; Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 33.

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

245

bestehenden familiären Beziehungen. A n den Konventionsstaat richtet Art. 8 das grundsätzliche Verbot, in familiäre Angelegenheiten zu intervenieren. Dieses Verständnis des Rechts auf Achtung des Familienlebens wurde oft bestätigt7 und ist bis heute gültig. Doch die Bedeutung dieses Menschenrechts erschöpft sich, wie nun zu zeigen sein wird, bei weitem nicht in einem Unterlassensanspruch. 2. Weitentscheidung

Über seine abwehrrechtliche Komponente hinaus enthält Art. 8 E M R K eine positive Wertentscheidung zugunsten der Familie, die die Auslegung dieser Vorschrift beeinflußt. Denn schon im alltäglichen Gebrauch des Wortes „Achtung" ist damit eine gewisse positive Wertung und Bewertung des Objekts der Achtung verbunden, nämlich das Urteil, das zu Achtende sei es wert, in seiner bisherigen Form fortzuexistieren. „Achtung" ist damit in gewisser Weise gleichbedeutend mit „Anerkennung". Eine ausdrückliche Anerkennung der Familie in ihrer grundlegenden Bedeutung für Staat und Gesellschaft findet sich abweichend von den meisten anderen Menschenrechtsinstrumenten in der E M R K allerdings nicht. Sie formuliert den Familienschutz in der endgültigen Fassung des Art. 8 E M R K als individuelles Abwehrrecht. Doch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift macht deutlich, daß diesem Abwehrrecht eine bewußte Anerkennung des Wertes der Familie für Staat und Gesellschaft steht. Denn nicht nur das Interesse des Einzelnen, sondern auch der Familie als Gemeinschaft sollte die Familienschutzbestimmung dienen8. Der „Schutz vor willkürlicher Einmischung in die Familie" als 7. von 12 Grundrechten, das der Internationale Rat der Europäischen Bewegung in seiner Resolution zum Schutz der Menschenrechte im Februar 1949 formulierte 9 , wurde dann zunächst in „die natürlichen Rechte, die sich aus Ehe und Vaterschaft ergeben und die, die der Familie gehören" abgeändert und im Juli 1949 dem vorbereitenden Ministerausschuß des Europarates zur Aufnahme in eine europäische Konvention vorgeschlagen 10. Beiden Fassungen ist gemein, daß sie die Familie an 7

Vgl. nur EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 15 § 31; Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 33 § 67. Dazu auch Connelly, ICLQ 35 (1986), S. 570-572 m.w.N. « Wolfrum, FW 58 (1975), S. 267. 9 Schlußfolgerungen und Empfehlungen des Brüsseler Kongresses der Europäischen Bewegung. Angenommen anläßlich der ersten Sitzung des Internationalen Rates der Europäischen Bewegung in Brüssel vom 25.-28. 2. 1949, in: E A 1949, S. 2025 ff.

(2028).

10 Entwurf des Rechtskomitees der Europäischen Bewegung, Plan einer Konvention der Menschenrechte, Teil I, Art. 1 Nr. i): „Tout Etat adhérent à la présente Convention garantira à ses citoyens les droits ci-dessous:

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3. Teil: Familienschutz

sich unter Schutz stellen, ihr als Gemeinschaft eigene Rechte zuerkennen 11 . Die schon in der zweiten Formulierung deutliche Aufnahme individueller Rechte („die sich aus Ehe und Vaterschaft ergeben") wurde unter Aufgabe der kollektivrechtlichen Aspekte weiter ausgebaut zur „Freiheit vor willkürlichen Eingriffen in das . . . Familienleben . . . in Übereinstimmung mit Art. 12 A E M R " 1 2 und wurde schließlich weiter abgeschwächt13 in den individuellen Anspruch auf bloße „Achtung des Familienlebens". Daß man nun zuletzt den Familienschutz aus rechtstechnischen Gründen 14 allein als subjektives Abwehrrecht formulierte, bedeutet nun freilich nicht, daß damit die aus den früheren Formulierungen hervorgehende Wertentscheidung aufgegeben werden sollte. Dagegen spricht einerseits, daß stets Art. 12 A E M R als Vorbild diente, der neben der Proklamation eines individuellen Abwehrrechts auch willkürliche Eingriffe in die Familie als solche verbietet und damit auch einen kollektiven Schutzaspekt enthält. Vor allem die Gründe aber, aus denen Eheund Familienschutzbestimmungen in die Konvention aufgenommen wurden, machen deutlich, daß hinter dem Individualrecht eine positive Wertentscheidung steht: Die Erfahrungen mit totalitären, faschistischen Regimen hatten gezeigt, daß selbst die privateste Sphäre des Menschen, die Familie, nicht vor staatlichem Zugriff sicher war 15 . Ihre Anerkennung als schützenswerte Grundeinheit des staatlichen Gemeinwesens und ihre Bedeutung für die Entwicklung einer demokratischen Grundordnung führte zu ihrem Schutz in der Konvention 16 . Aus der Entstehungsgeschichte läßt sich also der Schluß ziehen, daß hinter dem individuellen Abwehrrecht eine Wertentscheidung zugunsten der Familie steht. Dabei soll jedoch noch einmal betont werden, daß es sich bei Art. 8 nicht um ein Kollektiv-, sondern ausschließlich um ein Individualrecht handelt. Doch dadurch, daß der Einzelne einen subjektiven Anspruch auf Achtung des Familienlebens hat, werden nicht nur seine eigenen Interessen geschützt, sondern darüber hinaus die der Familie als tragende Säule der Gesellschaft 17.

g) les droits naturels qui découlent du mariage et de la paternité, et ceux qui appartiennent à la famille; . . . " Text und Übersetzung in: Weiß, E M R K , S. 37. 11 Wolfrum, FW 58 (1975), S. 265 f. 12 Art. 2 (4) der Empfehlungen der Beratenden Versammlung an den Ministerausschuß v. 8. 9. 1949, A C , 1ère session 1949, Doc. 108; sowie in Weiß, E M R K , S. 40. 13 Partsch, E M R K , S. 180; Fawcett, ECHR, S. 186; Wolfrum, FW 58 (1975), S. 266. 14 Partsch, E M R K , S. 180. 15 Dazu Partsch, E M R K , S. 180. 16 Wolfrum, FW 58 (1975), S. 267. 17 Wolfrum, FW 58 (1975), S. 268 nennt dies treffend „gruppenbezogene Ausprägung".

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

247

Die Verpflichtungen, die sich aus diesem Bekenntnis zur Familie und ihrer Einheit ergeben, sind eher allgemeiner Natur. Zunächst einmal folgt daraus eine allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Einheit der Familie als schützenswert und förderungswürdig anzuerkennen und dementsprechend vor Beeinträchtigungen zu bewahren 18 . Konventionsstaaten sind daher gehalten, eine generell familienfreundliche und -fördernde Politik zu verfolgen und den Zusammenschluß von Personen zu familiären Gemeinschaften nicht zu behindern, sondern den familiären Verbund als Grundform menschlichen Zusammenlebens zu achten. Diese Erkenntnis kann nun wiederum für die Auslegung des Rechts auf Achtung des Familienlebens fruchtbar gemacht werden. Zum einen ergibt sich daraus, daß bei der Rechtfertigung eines Eingriffs diese Wertentscheidung in die Abwägung einbezogen werden muß und zugunsten des Einzelnen in die Waagschale fällt. Zum anderen beeinflußt die Wertentscheidung die Interpretation des Begriffes „respect". Denn in zahlreichen Fällen wird es nicht genügen, wenn Staaten Eingriffe in das Familienleben unterlassen, die Familie im übrigen aber völlig auf sich selbst gestellt bleibt. Die Entscheidung zum Schutz der Familieneinheit könnte die Konventionsstaaten verpflichten, ein familienfreundliches soziales und rechtliches Umfeld zu schaffen. Wie weit solche positiven Verhaltenspflichten gehen und wie konkret sie sind, soll nun im Folgenden geklärt werden. 3. Positive Pflichten

Die Konventionsrechtsprechung blieb bei ihrer frühen Auslegung des Art. 8 E M R K nicht stehen. Schon bald wurde anerkannt, daß die Bedeutung dieser Vorschrift sich nicht in dem Verbot staatlicher Eingriffe erschöpft, sondern darüber hinaus auch positive Pflichten auferlegt 19 . In weiten Bereichen des Familienschutzes reicht eine bloße staatliche Abstinenz nicht aus, um das Recht auf Achtung des Familienlebens innerstaatlich zu gewährleisten. Trifft ein Konventionsstaat beispielsweise keine Vorkehrun18

Wolfrum, FW 58 (1975), S. 268; Vasak, CEDH, S. 51; Scheuner, Vergleich der Rechtsprechung, S. 602. 19 Bspw. EGMR, Urt. v. 26. 3. 1985, Fall X u. Y ./. Niederlande, Ser. A , Vol. 91, S. 11 § 23: "[A]lthough the object of Article 8 is essentially that of protecting the individual against arbitrary interference by the public authorities, it does not merely compel the State to abstain from such interference: in addition to this primarily negative undertaking, there may be positive obligations inherent in an effective respect for private and family life." S. auch K E v. 4. 2. 1982 zu Β 8542/79, Godfrey ./. U K , D R 27, S. 94 ff. (97): "[T]his provision goes further than merely requiring that the State refrain from interfering with the right to respect for private and family life." Vgl. auch Connelly, ICLQ 35 (1986), S. 572-575.

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3. Teil: Familienschutz

gen dagegen, daß Private ganz ungehindert in den geschützten innerfamiliären Bereich eingreifen können, so kann je nach Fallkonstellation und Schwere des Eingriffs dieses Unterlassen eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit begründen 20 . Denn der Staat hat dann zwar nicht selbst in einen konventionsrechtlich geschützten Freiraum eingegriffen, wohl aber Eingriffe von anderer (privater) Seite ermöglicht. Läßt er solche Situationen zu, ohne der Familie den in seiner Macht stehenden Schutz zukommen zu lassen, so ist er seiner ihm aus Art. 8 E M R K erwachsenden Pflicht innerstaatlich nicht ausreichend nachgekommen. Zu beachten ist hierbei allerdings stets, daß die Konvention Ansprüche gegen des Staat, nicht aber gegen Private vermittelt: Gem. Art. 1 E M R K sind allein Staaten Vertragsparteien, so daß die Konventionsrechte keine unmittelbare Drittwirkung entfalten. Darüber hinaus verbietet auch Art. 25 I E M R K die gegenteilige Annahme, da eine Individualbeschwerde nur zulässig ist, wenn die Verletzung der Konventionsrechte „durch einen Mitgliedstaat" gerügt wird. Art. 8 E M R K schließlich setzt seinem Wortlaut nach den Eingriff einer „öffentlichen Behörde" voraus. Wortlaut und System der Konvention sprechen folglich eindeutig gegen eine unmittelbare Verpflichtung Privater; Anknüpfungspunkt ist stets ein staatlichen Tun oder Unterlassen. Eine sog. „mittelbare" Drittwirkung der Konventionsrechte ist damit allerdings nicht ausgeschlossen, da sich die völkerrechtliche Verantwortlichkeit gerade aus einem staatlichen Verhalten ableitet, nämlich der unzureichenden Umsetzung der Konventionsgarantien im nationalen Recht. Der Gerichtshof hat eine mittelbare Drittwirkung des Art. 8 E M R K ausdrücklich anerkannt in einem Fall, in dem sich der Vater einer sexuell mißbrauchten, geisteskranken Minderjährigen dagegen wandte, daß die strafrechtliche Verfolgung dieses Delikts am fehlenden Antrag seiner Tochter scheitern sollte: "[T]here may be positive obligations inherent in an effective respect for private and family life. .. These obligations may involve the adoption of measures designed to secure respect for private life even in the sphere of the relations of individuals between themselves." 21

Dieser Fall betraf zwar die Privatsphäre, doch sind die zitierten Ausführungen des Gerichtshofs über die mittelbare Drittwirkung des Art. 8 E M R K in vollem Umfang auf den Familienschutz übertragbar: Beide Rechtsgüter sind eng miteinander verwandt; die familiären Beziehungen können als Unterfall des Privatlebens begriffen werden. Ebenso wie die Privatsphäre kann das Zusammenleben der Familienmitglieder durch Einwirkungen Privater so empfindlich gestört und bedroht werden, daß die Konventionsstaaten zum Schutz der Familie hiergegen innerstaatlich Abhilfe schaffen müssen. Andernfalls schüt20 Duffy, Y b E L 2 (1982), S. 200; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 15, 18; Breitenmoser, S. 67 m.w.N. in Fn. 122. 21 E G M R , Urt. v. 26. 3. 1985, Fall X u. Y ./. Niederlande, Ser. A , Vol. 91, S. 11 § 23.

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

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zen sie das Recht auf Achtung des Familienlebens nicht ausreichend, obwohl sie selbst nicht aktiv in sein Schutzgut eingegriffen haben. In den Fällen, in denen aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens positive Pflichten der EMRK-Staaten abgeleitet wurden, standen bislang keine Verletzungen durch Private zur Prüfung an, sondern ausschließliches staatliches Unterlassen. Im Fall Marckx hatte der Gerichtshof zum ersten Mal eindeutig festgestellt, daß Art. 8 sehr wohl auch zu positivem Tun verpflichten kann: "[T]he object of Article 8 is 'essentially' that of protecting the individual against arbitrary interference of the public authorities. Nevertheless, it does not merely compel the State to abstain from such interference: in addition to this primarily negative undertaking, there may be positive obligations inherent in an effective respect for family life." 2 2

Bestätigt wurde diese Auslegung in der kurze Zeit später ergangenen Entscheidung im Fall Airey, der die Trennungsmöglichkeiten von Ehepartnern nach irischem Recht zum Gegenstand hatte. Ein Ehepaar konnte danach zwar keine Scheidung der Ehe erreichen, wohl aber eine gerichtliche Trennung. Diese Möglichkeit, so der Gerichtshof, müsse jederzeit gewährt werden, denn: "Effective respect for private or family life obliges Ireland to make this means of protection effectively accessible, when appropriate, to anyone who may wish to have recourse thereto." 23

Ein Mitgliedstaat kann sich also mit dem Einwand, er habe nicht aktiv in ein bestehendes Familienleben eingegriffen, seiner Verpflichtung aus Art. 8 E M R K nicht entziehen. In der Folgezeit wurde dieser Auslegungsansatz weiterentwickelt und der Umfang der positiven Pflichten näher bestimmt: "[A]s far as those positive obligations are concerned, the notion of 'respect' is not clear cut: having regard to the diversity of the practices followed and the situations obtaining in the Contracting States, the notion's requirements will vary considerably from case to case. Accordingly, this is an area in which the Contracting Parties enjoy a wide margin of appreciation in determining the steps to be taken to ensure compliance with the Convention with due regard to the needs and resources of the community and of individuals . . . " 2 4

Schon an dieser Stelle ist auf eine Besonderheit dieser positiven Pflichten hinzuweisen, die für die Bestimmung ihres Umfanges von großer Bedeutung ist: Ist der Konventionsstaat zu aktivem Tun verpflichtet, so kann keine Korrektur seiner Verpflichtung über Art. 8 I I E M R K erfolgen, d. h. gerechtfer-

22

E G M R , Urt. v. 13. 6. 1978, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 15 § 31. E G M R , Urt. v. 9. 10. 1979, Ser. A , Vol. 32, S. 17 § 33. 24 EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 33 § 67. 23

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3. Teil: Familienschutz

tigte Ausnahmen von der Verpflichtung gibt es nicht. Denn wird ein staatliches Tätigwerden gefordert, steht ein Eingriff als Tatbestandsvoraussetzung des Art. 8 I I E M R K nicht in Rede. Hat der Konventionsstaat die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, hat er seine Pflichten aus Art. 8 E M R K erfüllt, hat er es unterlassen, hat er sie nicht erfüllt und damit Art. 81 E M R K verletzt. Da diese Verletzung in einem Unterlassen besteht, liegt kein „Eingriff" i. S. des Art. 8 I I E M R K vor, der die Rechtfertigungsmöglichkeit gem. Abs. I I eröffnen könnte. Dieser Verzicht auf den Rechtfertigungstest nach Art. 8 I I E M R K ist in allen Urteilen des Gerichtshofs festzustellen, deren Gegenstand positive staatliche Handlungspflichten waren. Ließ anfangs das Marckx-Urteil 25 noch den Schluß zu, daß der Grund für den Verzicht in der herausragenden Bedeutung der nicht erfüllten Pflicht für den Familienschutz liegen könnte 26 , so stellte das einige Monate später ergangene Urteil im Fall Airey klar, daß die Rechtfertigung des staatlichen Unterlassens an dem fehlenden Eingriff scheiterte. Denn der Gerichtshof befand gerade nicht, " . . . that Ireland can be said to have 'interfered' with Mrs. Airey's private or family life: the substance of her complaint is not that the State has acted but that it has failed to act." 2 7

Der Verzicht auf die Prüfung möglicher Rechtfertigungen nach Art. 8 I I E M R K bedeutet nun allerdings nicht, daß die in diesem Rahmen anzustellenden Erwägungen völlig außer acht gelassen würden. Denn es ist schon gedanklich ausgeschlossen, daß das Recht auf Achtung des Familienlebens eine Verpflichtung zu positivem Tun beinhaltet in einer Situation, in der der Staat gerechtfertigterweise gem. Art. 8 I I E M R K in dieses Recht eingreifen dürfte. Die Handlungspflichten eines Staaten hätten dann einen deutlich weiteren Umfang als seine ihm in erster Linie obliegenden Unterlassenspflichten. Dieser Widerspruch wird dadurch vermieden, daß schon bei der Definition der positiven Pflicht sämtliche unter Abs. I I wichtigen Aspekte berücksichtigt werden und so den Umfang der Pflicht von vornherein begrenzen. Wenn also auch eine formelle Prüfung des Abs. I I entfällt, fließen seine Elemente dennoch in die Bestimmung der Handlungspflicht ein 28 . Anders gewendet: Die Prüfung von Rechtfertigungsgründen ist deshalb obsolet, weil die Gründe, aus denen staatliches Unterlassen zulässig sein könnte, schon an früherer Stelle geprüft werden. 25

EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 15 § 31. Duffy, Y b E L 2 (1982), S. 200. 27 EGMR, Urt. v. 9. 10. 1979, Ser. A , Vol. 32, S. 17 § 32. Ebenso E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 69: " . . . there was . . . no 'lack of respect' for family life and, hence, no breach of Article 8." 28 Duffy, Y b E L 2 (1982), S. 200. 26

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

251

Diese vorgezogene Prüfung führt, verglichen mit der herkömmlichen Reihenfolge, zu einer Einengung des Schutzbereichs des Rechts auf Achtung des Familienlebens. Die Zulässigkeit solchen Vorgehens wurde selbst von Mitgliedern des Gerichtshofes bezweifelt, da sie " . . . in fact places inherent limitations upon the rights guaranteed in paragraph 1 of Article 8." 2 9

Gleichzeitig verliert die Prüfung durch die Verquickung von Schutzbereich und Einschränkungen an Transparenz. Zumindest teilweise verloren geht auch die Appellfunktion des Rechts an sich, die der herkömmliche Aufbau betont, indem er klarstellt, daß das Recht grundsätzlich zu gewährleisten ist und erst in einem zweiten Schritt Ausnahmen zuläßt. Der ausländerrechtliche Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali verdeutlicht zudem, wie unterschiedlich die vom Gerichtshof im Fall Airey formulierte Abgrenzung nach der „substance" der Beschwerde ausfallen kann, nach der es sich beurteilt, ob ein Eingriff oder ein Unterlassen gerügt wird: Während der Gerichtshof eine positive staatliche Pflicht zur Aufnahme der Ehemänner der Beschwerdeführerinnen untersuchte, wählten die Richter Bernhardt und Vilhjâlmsson, die im Ergebnis dem Gerichtshof folgten, den herkömmlichen Ansatz. Sie werteten die gerügte ausländerrechtliche Maßnahme als Eingriff und unterzogen sie dem Rechtfertigungstest nach Abs. I I 3 0 . Zumindest eine eindeutige Unterscheidung beider Fallkonstellationen will ein Abgrenzungsvorschlag ermöglichen, demzufolge nach dem Begehren des Beschwerdeführers unterschieden werden soll 31 : Richtet sich die Beschwerde gegen ein staatliches Eindringen in den von Art. 8 I E M R K geschützten Bereich, so soll der „negative Ansatz" verfolgt und Abs. I I geprüft werden. Zielt die Beschwerde hingegen auf ein staatliches Tätigwerden ab, sei der „positive Ansatz" gefordert. Doch auch dieser Vorschlag vermag Abgrenzungsschwierigkeiten nicht zu vermindern. Im Falle der Ausweisung eines ausländischen Familienmitgliedes etwa kann sich die Beschwerde sowohl gegen die Ausweisung richten - dann würde ein Eingriff gerügt und der „negative Ansatz" wäre zu verfolgen - als auch auf die Aufnahme des Ausländers und damit auf ein positives staatliches Tun gerichtet sein, was nach dem „positiven Ansatz" verlangte. Diese Schwierigkeiten verringern sich nur geringfügig, wenn unabhängig vom Antrag das „eigentliche" Begehren ermittelt und dem Abgrenzungsversuch zugrundegelegt wird. So wird ein Beschwerdeführer, der noch keinen gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status hat, eher Aufnahme in das betreffende Land fordern, auch wenn er sich formal gegen die Ausweisung 29

Concurring Opinion des Richters Bernhardt im Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 47. 30 Concurring Opinion der Richter Thor Vilhjâlmsson und Bernhardt im Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 47. 31 Connelly, ICLQ 35 (1986), S. 588 f.

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3. Teil: Familienschutz

wendet, wohingegen ein schon längere Zeit in dem beklagten Land lebender Ausländer eher die Aufrechterhaltung des Status Quo verlangen und nur die Ausweisung anfechten wird. Doch auch hier verbleibt eine weite Grauzone, in der die Grenzziehung kaum eindeutig möglich sein und sich daher dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen dürfte. Die dargestellten Schwierigkeiten könnten dadurch vermieden werden, daß auch ein staatliches Unterlassen als Eingriff gewertet wird in Fällen, in denen der Staat zu positivem Tun verpflichtet ist. Dieses erweiterte Eingriffsverständnis ist der Konventionsrechtsprechung nicht fremd, wie eine zu Art. 12 E M R K ergangene Entscheidung zeigt, in der es um das Eheschließungsrecht von Strafgefangenen ging. Die Kommission bejahte die Verpflichtung der Gefängnisleitung, bestimmte positive Maßnahmen zu ergreifen, um die Konventionsrechte effektiv zu gewährleisten. Das Unterlassen der geforderten Maßnahmen wertete sie als Eingriff 32 . Doch ob nun schon die staatliche Verpflichtung eingegrenzt wird oder ob die Pflicht umfassend formuliert und Unterlassen als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff verstanden wird, ist letztlich eine dogmatische Frage. Denn in jedem Fall findet eine eingehende Abwägung statt, in der hier wie dort die in Art. 8 I I E M R K angeführten Rechtfertigungsgründe eine entscheidende Rolle spielen, indem sie die Zulässigkeit des staatlichen Unterlassens begründen oder ausschließen. Denn auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes wird die staatliche Verpflichtung nicht abstrakt festgelegt oder verneint, sondern ihr Bestehen bzw. Nichtbestehen wird fallbezogen untersucht 33 . In ihrer Einzelfallbezogenheit unterscheiden sich die beiden Ansätze also nicht. Da folglich jeweils dieselben Erwägungen mit gleicher Gewichtigkeit Platz greifen, können im konkreten Fall die Ergebnisse nicht unterschiedlich ausfallen je nachdem, ob der „positive" oder der „negative" Ansatz verfolgt wird. Abstrakt kann somit schon an dieser Stelle festgehalten werden, daß es von der konkreten Fallkonstellation und namentlich von dem betroffenen Sachgebiet abhängt, welche positiven Pflichten die Konventionsstaaten treffen. Festzuhalten ist zunächst, daß solche positiven Pflichten existieren, sich der Gehalt des Art. 8 E M R K also nicht nur in seiner abwehrrechtlichen Komponente oder einem allgemeinen Bekenntnis zur Familie erschöpft.

32

KBer v. 10. 7. 1980 zu Β 8186/78, Draper ./. U K , D R 24, S. 80 § 55. So lehnte der Gerichtshof im Fall Abdulaziz, Cabales Balkandali nur eine „general obligation" zur Aufnahme ausländischer Ehegatten ab und deutete damit gleichzeitig an, daß unter anderen tatsächlichen Voraussetzungen im konkreten Fall eine solche Verpflichtung bestehen kann, Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 68. 33

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

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I I . Schutzbereich der Familienschutzbestimmungen der ES Beide Familienschutzbestimmungen in Teil I I der ES, Art. 16 und Art. 19 (6), fordern die Vertragstaaten, die diese Vorschriften als für sich bindend anerkannt haben (Art. 20 I b ES), zu positivem Tätigwerden auf. Schutzobjekt beider Vorschriften ist die Familieneinheit, das Zusammenleben der Familienmitglieder 34 . Für Art. 16 ES ergibt sich dies aus dem Begriff „Familienleben", womit tatsächlich gelebte, real existierende Beziehungen gemeint sind ebenso wie im Rahmen des Art. 8 I E M R K , der denselben Begriff verwendet. Art. 19 (6) hat ausdrücklich die Familienzusammenführung und damit die Wiederherstellung der räumlichen Familieneinheit zum Regelungsgegenstand. 1. Art. 16 ES

Art. 16 ES will die Familie wegen ihrer elementaren Bedeutung für die Gesellschaft in ihrer Entfaltung fördern. Dieses Ziel soll über eine Verpflichtung der Chartastaaten zur Entwicklung und Stärkung des wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutzes des Familienlebens erreicht werden. Als exemplarische Maßnahmen nennt Art. 16 Sozial- und Familienleistungen, Steuerbegünstigungen, Förderung des Baues familiengerechter Wohnungen und Hilfen für junge Ehepaare. Diese Vorschrift mutet daher in ihren Formulierungen wesentlich konkreter, faßbarer an als andere Festlegungen positiver Pflichten, die die Familie allgemein als schützenswerte Einheit anerkennen (z. B. Art. 23 I IPBPR, Art. 18 I AfrC). Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß selbst dann, wenn ein Staat Art. 16 ES als für sich bindend anerkannt hat, dem Einzelnen dadurch kein subjektives Recht vermittelt wird, sondern daß der Staat zur unverzüglichen Anpassung seiner Rechtsordnung verpflichtet ist. Liegt die entsprechende Anerkennung des Staates hingegen nicht vor, muß er Art. 16 ES entgegenstehendes nationales Recht nur schrittweise außer Kraft setzen35.

2. Art. 19 (6) ES

Ebenso verhält es sich mit der aus Art. 19 (6) ES folgenden staatlichen Verpflichtung, im Rahmen des Möglichen die Familienzusammenführung eines Wanderarbeitnehmers mit seiner Familie zu erleichtern. Auch Art. 19 (6) gewährt dem Wanderarbeitnehmer keinen unmittelbaren Anspruch. Im Unterschied zu Art. 16 ES klingt diese Bestimmung allerdings ausgesprochen 34 35

Wolfrum, FW 58 (1975), S. 274. Dazu oben, Zweites Kapitel, Abschnitt II.

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3. Teil: Familienschutz

vage: „Erleichtern" ist ein sehr dehnbarer Begriff, und zudem sind die Vertragstaaten nur „soweit möglich" zur Erleichterung der Familienzusammenführung gehalten. 3. Teil I Nr. 16 ES

Schließlich gibt es Staaten, die keine der beiden genannten Familienschutzbestimmungen als bindend anerkannt haben. Doch selbst dann haben sie sich mit der Ratifikation der ES zur Familie als schützenswerter Institution bekannt. Denn in Teil I Nr. 16 ES haben sie ihren Willen rechtsverbindlich bekundet, mit allen zweckdienlichen Mitteln staatlicher und zwischenstaatlicher Art eine familienfreundliche Politik zu verfolgen, die den sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schutz der Familie gewährleistet. Die Familienschutzbestimmungen der ES verpflichten also die Vertragstaaten zu positivem Tun. Die Abstufung der Verpflichtungen spiegelt sich insofern wider, als der für die nötigen Maßnahmen zur Verfügung stehende Zeitraum variiert bzw. der Familienschutz nur als politisches Ziel zu verfolgen ist.

I I I . Schutzbereich der Familienschutzbestimmungen des IPBPR 1. Art. 17 I IPBPR

Ebenso wie Art. 8 E M R K findet Art. 17 I IPBPR nur dann Anwendung, wenn eine Familie bereits besteht. Denn seinem Wortlaut nach "No one shall be subjected to arbitrary or unlawful interference with his . . . family."

setzt Art. 17 I IPBPR ein Objekt voraus, das Gegenstand potentieller staatlicher Eingriffe sein kann. a) Abwehrrechtliche

Seite

Art. 17 I IPBPR sichert dem Einzelnen eine grundsätzlich staatsfreie Sphäre zu, die es ihm ermöglichen soll, " . . . to enjoy a circle of generic and unequaled loyalty; a warm and emotional atmosphere where real and edifying spontaneity reigns, and which persists even when the group is dissolved by life's contigencies." 36

Indem Art. 17 I IPBPR dem Einzelnen einen Freiraum zusichert, hat dieser Artikel vornehmlich abwehrrechtlichen Charakter. Er verbietet es den Paktmitgliedern, willkürlich oder rechtswidrig in die familiären Beziehungen der ihrer Hoheitsgewalt unterworfenen Personen zu intervenieren. 36

So die fast poetische Formulierung von Volio, in: Henkin, International Bill, S. 196.

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

255

b) Positive Pflichten Dieses Verbot betrifft nicht nur staatliche Eingriffe, sondern auch solche von privater Seite: Die Familie soll umfassend vor Beeinträchtigungen geschützt sein. Dieser Gesichtspunkt fand schon bei der Ausarbeitung der Bestimmung besondere Beachtung, indem hervorgehoben wurde, daß Art. 17 I IPBPR " . . . seeks to protect the individual against acts not only of public authorities, but also of private persons." 37

Dies darf nun wiederum nicht i. S. einer unmittelbarèn Drittwirkung mißverstanden werden, d. h. als unmittelbar an Private gerichtetes Verbot, in die Familie einzugreifen. Denn Vertragspartner sind ausschließlich Staaten, niemals Individuen, und sowohl das Staaten- als auch das Individualbeschwerdeverfahren setzen ausdrücklich eine Verletzung der Paktrechte seitens eines Konventionsstaates voraus 38 . Eingriffe von privater Seite sollen vielmehr staatlicherseits dadurch unterbunden werden, daß die Paktstaaten entsprechende nationale Schutz- und Verbotsnormen erlassen. Welche konkreten Schritte in dieser Hinsicht zu unternehmen sind, bleibt der nationalen Entscheidung vorbehalten, sofern nur das Gebot des Art. 17 I IPBPR in ausreichender Weise verwirklicht wird 3 9 . Die Arbeiten des Menschenrechtsausschusses an seinen Anmerkungen („General Comments") zu Art. 17 verdeutlichen diesen Auslegungsansatz. Schon die den Kommentierungsentwurf vorbereitende Arbeitsgruppe hatte folgende Erklärung vorgeschlagen: "The protection is guaranteed whether the prohibited acts emanate from the State or private individuals or bodies. This means that the State itself must provide effective means to prohibit such acts and establish the necessary legal framework for the protection of this right." 4 0

Dieses Verständnis des Art. 17 IPBPR fand die Zustimmung der Experten, die lediglich z.T. eine geringfügig abweichende Formulierung vorschlugen 41. 37 So die Kommentierung der Paktvorschriften, UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part I I ) , Annexes, S. 46 § 100. 38 Art. 411 IPBPR: „ . . . a State Party claims that another State Party is not fulfilling its obligations"; Art. 1 Fakultativprotokoll: „ . . . victims of a violation of a State Party «

39

Auf die Notwendigkeit eines staatlichen Entscheidungsspielraums war schon bei den Vorarbeiten hingewiesen worden, vgl. UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part II), Annexes, S. 46 § 100. 40 30. Tagung des Menschenrechtsausschusses, UN-Doc. CCPR/C/SR.749 v. 23. 7. 1987, S. 2. 41 Hauptsächlich gerichtet auf einen Ersatz des Ausdrucks „private bodies" durch andere Begriffe, z. T. aber auch hinsichtlich einer konkreteren Fassung der staatlichen Pflicht aus Art. 17, vgl. etwa Lallah, CCPR/C/SR.749 v. 23. 7. 1987, S. 4 § 13:

256

3. Teil: Familienschutz

Soweit demnach die Paktstaaten zur Verhinderung privater Übergriffe gehalten sind, obliegen ihnen positive Pflichten, nämlich den entsprechenden rechtlichen Rahmen zu schaffen, um solche Übergriffe möglichst auszuschließen. 2. Art. 17 I I IPBPR

Art. 17 I I IPBPR: "Everyone has the right to the protection of the law against such interference or attacks."

verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung von Rechtsschutz gegen private oder staatliche Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens. Angesichts der schon in Art. 2 I I IPBPR niedergelegten Verpflichtung, die notwendigen gesetzgeberischen und sonstigen Vorkehrungen zu treffen, um den Paktgarantien zur Wirksamkeit zu verhelfen, kommen Zweifel an der Erforderlichkeit des Art. 17 I I IPBPR auf 42 . Dennoch ist diese Vorschrift nicht überflüssig, stellt sie doch eindeutig klar, daß der Einzelne nicht nur Anspruch auf eine staatsfreie Sphäre hat, sondern darüber hinaus das Recht auf gesetzlichen Schutz gegen Übergriffe in diesen geschützten Bereich 43 . Mittlerweile wird dieser Absatz teilweise sogar als die Vorschrift angesehen, die den eigentlichen Schutz bietet. Die mit der Ausarbeitung genereller Anmerkungen zu den Paktrechten betraute Arbeitsgruppe hatte in diesem Zusammenhang das Zusammenspiel beider Absätze hervorgehoben: "Although the first paragraph of Article 17 is cast in negative terms, yet taken together with the second paragraph which is cast in positive terms, the right guaranteed by Article 17 can be understood." 44

Diese Formulierung sollte verdeutlichen, daß das eigentliche Schutzkonzept in Abs. I I angesiedelt ist 45 . Dabei darf die Formulierung „protection by the law" nicht eng aufgefaßt werden. Gemeint sind nämlich nicht nur Gesetze, sondern auch Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften u. ä. 4 6 . Denn zu Recht "The obligations imposed by this article require the State to adopt legislative measures to guarantee the protection of this right." 42 Diese Zweifel traten auch schon bei den Vorarbeiten zutage, vgl. UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part II), Annexes, S. 47 § 104. 43 Die Befürworter dieses Absatzes setzten sich daher auch während der Vorarbeiten durch, s. UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part II), Annexes, S. 47 § 104. 44 UN-Doc. CCPR/C/SR.749 v. 23. 7. 1987, S. 2. 45 So die Erklärung des Experten El-Shafei in der Diskussion über den Entwurf der Arbeitsgruppe auf der 30. Tagung des Menschenrechtsausschusses, UN-Doc. CCPR/C/ SR.749v. 23. 7. 1987, S. 3 § 12. 46 So auch ausdrücklich einige Experten im Menschenrechtsausschuß, z. B. Lallah, UN-Doc. CCPR/C/SR.749 v. 23. 7. 1987, S. 4 § 17; Cooray, a.a.O., S. 5 § 22; Wako, a.a.O., S. 5 §23.

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

257

wies die Vorsitzende der Arbeitsgruppe, Higgins, im Menschenrechtsausschuß darauf hin, daß der Erlaß entsprechender Gesetzgebung möglicherweise nicht schon ausreiche, um einen wirklich effektiven Schutz sicherzustellen 47 . Aus Art. 17 I I IPBPR folgt somit eine recht umfassende staatliche Verpflichtung: Durch geeignete nationale Rechtsakte wie Gesetze, Rechtsverordnungen, Verwaltungs- und Dienstvorschriften ist sicherzustellen, daß weder von öffentlicher noch von privater Seite Übergriffe auf die Familie erfolgen können. Gegen Eingriffe ist effektiver Rechtsschutz zu gewähren. Fraglich ist, ob Art. 17 IPBPR darüber hinaus ebenso wie Art. 8 E M R K eine Wertentscheidung zugunsten der Familie enthält. Eine Anerkennung der Familie als schützenswertes Rechtsgut ist dieser Vorschrift insofern zu entnehmen, als sie den familiären Freiraum ausdrücklich unter ihren Schutz stellt. Der Wert der Familie wird ausdrücklich jedoch erst in Art. 23 I IPBPR hervorgehoben, so daß diese Vorschrift in dieser Hinsicht Spezialnorm ist. 3. Art. 23 I IPBPR

Art. 23 I IPBPR: "The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the State."

spricht die leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes an. a) Wertentscheidung In kategorischer Weise wird zunächst die gesellschaftliche Bedeutung der Familie hervorgehoben. Sie liegt in der Wahrnehmung ihrer vielfältigen, schon oft erwähnten Aufgaben, woran die Gesellschaft ein vitales Interesse hat. Heranwachsende Generationen werden hier auf ihre Rolle in der Gesellschaft vorbereitet, Wertvorstellungen und Traditionen werden weitergegeben oder auch verworfen. Daraus ergibt sich einerseits die notwendige Kontinuität der vermittelten Überzeugungen, die die kulturelle Identität einer Gesellschaft wahrt, andererseits wirkt der Meinungsaustausch zwischen den Generationen einer Versteinerung der Anschauungen entgegen und bereitet den Weg für sozialen Wandel, der es einer Gesellschaft ermöglicht, sich neuen Gegebenheiten flexibel anzupassen. Diese persönlichkeitsbildenden Auseinandersetzungen finden zwar auch in anderen Gruppen statt (Schule, Freundeskreis), doch werden die grundlegenden Fähigkeiten in der Familie vermittelt 47 UN-Doc. CCPR/C/SR.749 v. 23. 7. 1987, S. 4 § 14. Besonders augenfällig wird dies z. B. beim Schutz des Lebens.

17 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

als dem Kreis, mit dem das Kind als erstem in Berührung kommt und dem es rückhaltlos vertrauen kann. Nicht nur in ihrer individuellen, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ist die Familie daher unersetzlich. Die Wertentscheidung des Art. 23 I IPBPR verpflichtet die Vertragstaaten zu Achtung dieser gesellschaftlichen Grundeinheit. Ihre Strukturen sind zu respektieren, ihre Entwicklung darf nicht behindert werden. Plant ein Staat Maßnahmen, die Auswirkungen auf die Familie haben können, so muß er deren Bedeutung in seine Überlegungen und Abwägungen gebührend einbeziehen. Allgemein obliegt es den Staaten, im Rahmen ihrer Politik die Einheit und Funktionsfähigkeit der Familie als schützenswertes Gut anzuerkennen. b) Positive Verhaltenspflichten Neben dieser generellen Verpflichtung zu einer familienfreundlichen Politik erwachsen den Paktstaaten aus Art. 23 I auch ganz konkrete Verhaltenspflichten zur Verwirklichung des Familienschutzes. Gerade bei dem IPBPR als einem universellen Vertrag werden sie allerdings oft genug nicht in allgemeingütiger Weise erfolgen können, da diese Pflichten in bezug zu dem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund gesehen werden müssen. So befand auch der Menschenrechtsausschuß im Fall der maurizischen Frauen, " . . . that the legal protection or measures a society or a State can afford to the family may vary from country to country and depend on different social, economic, political and cultural conditions and traditions." 48

Diese Flexibilität trägt dem Umstand Rechnung, daß die Vertragstaaten des Paktes aus allen Rechts- und Kulturkreisen stammen mit oft sehr unterschiedlichen Auffassungen und Wertvorstellungen, die sich auch auf den familienrechtlichen Sektor auswirken. Einer zwangsläufigen Vereinheitlichung, die von den Unterzeichnern des IPBPR nicht beabsichtigt war, wird dadurch entgegengewirkt. Auf der anderen Seite muß es aber auch Bereiche geben, in denen der Familienschutz des Paktes zwingend ist, bei denen sich die Staaten nicht auf ihre nationalen Besonderheiten zurückziehen dürfen, da andernfalls eine Aushöhlung des Schutzes zu befürchten ist. Die Ermittlung der zwingenden und der dispositiven Bereiche des Familienschutzes wird Gegenstand des folgenden Teils der Arbeit sein 49 .

48 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/35 v. 2. 5. 1978, Bericht des Menschenrechtsausschusses, U N G A OR, 36th session (1981), Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 134 ff. (141 § 9.2(b)2(ii)l). 49 13. Kapitel, Abschnitt I I I .

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

259

I V . Schutzbereich des Art. 10 I WSP In Art. 10 I WSP erkennen die Vertragstaaten an, daß der Familie größtmöglicher Schutz und Beistand zu leisten ist. Angesprochen wird damit ausschließlich die leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes. Im Vergleich mit dem ebenfalls leistungsrechtlichen Art. 23 I IPBPR fällt auf, daß nach den Formulierungen des WSP der Familie anscheinend kein unmittelbarer Schutzanspruch zuerkannt wird, sondern die Vertragstaaten lediglich „anerkennen", daß die Familie Schutz und Beistand genießen soll. Während Art. 23 I IPBPR bestimmt: " . . . is entitled to protection . . . " ,

heißt es in Art. 10 I WSP: "The States Parties to the present Covenant recognize that: 1. The widest possible protection and assistance should be accorded to the family."

Es fragt sich daher, ob sich diese Formulierungsdivergenz auf den materiellen Familienschutz auswirkt in dem Sinne, daß die Vertragstaaten des WSP nicht unmittelbar zur Gewährleistung des Familienschutzes verpflichtet werden, sondern nur seine - weitgehend folgenlose - Anerkennung ausgesprochen haben. Nachzutragen ist an dieser Stelle zunächst, daß die einleitende Passage „The States Parties . . . recognize that" vor dem eigentlichen Recht kein Spezifikum der Familienschutzbestimmung ist, sondern sich in dieser oder ähnlicher Form in sämtlichen Paktbestimmungen wiederfindet. Wollte man nun unterstellen, daß nur eine bloße Anerkennung der Tatsache geschuldet wird, daß dem Einzelnen bestimmte Rechte zustehen, ohne daß den Staaten weitergehende Verpflichtungen auferlegt werden, so würde praktisch das gesamte Vertragswerk leerlaufen, wäre jedenfalls nicht mehr zur Festschreibung eines menschenrechtlichen Mindeststandards geeignet. Unvereinbar wäre ein solches Verständnis nicht zuletzt auch mit Art. 2 I WSP, der die Staaten zur (allmählichen) vollen Verwirklichung der Paktgarantien verpflichtet. Viel näher liegt daher der Schluß, daß mit der fraglichen Einleitung hervorgehoben werden sollte, daß hier keine subjektiven Rechte gewährt werden (wie im IPBPR), sondern die Staaten nur objektiv zur schrittweisen Verwirklichung der Garantien verpflichtet sind (was natürlich letzlich wieder, wie stets bei menschenrechtlichen Regelungen, dem Einzelnen zugute kommt). Somit weist die einleitende Passage nicht auf einen grundsätzlich anderen Inhalt der Verpflichtung hin, sondern nur auf ihren andersgearteten Charakter: Sie ist eine „promotional obligation".

17*

260

3. Teil: Familienschutz

V. Schutzbereich der Familienschutzbestimmungen der AmK Die Familienschutzbestimmungen der A m K sind fast wortgleich mit jenen des Paktes. Lediglich bei den Schranken weist Art. 11 I I A m K eine geringfügige Abweichung auf. Ebenso wie der IPBPR enthält auch die A m K zwei zentrale Familienschutzbestimmungen, die die ab wehr- und leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes abdecken. 1. Art. 11 AmK

Art. 11 I I A m K verbietet den Konventionsmitgliedern willkürliche oder mißbräuchliche Eingriffe in die Familie, garantiert also einen von staatlichen Übergriffen freien Raum. Es handelt sich bei dieser Bestimmung folglich um ein Abwehrrecht. Parallel zu Art. 17 I I IPBPR verpflichtet Art. 11 I I I A m K zur Gewährleistung von Rechtsschutz gegen dennoch stattfindende Übergriffe. 2. Art. 17 AmK

Die Wertentscheidung zugunsten der Familie findet sich in dem mit Art. 23 I IPBPR wortgleichen Art. 171 AmK. Sie verpflichtet die Konventionsstaaten allgemein zur Anerkennung der Familie, deren Zusammenhalt und Entwicklung durch eine familienfreundliche Politik gefördert werden soll. Daraus resultierende konkrete Verhaltenspflichten erstrecken sich auf viele Gebiete wie beispielsweise Sozialleistungen oder das Steuerrecht. Auch im Rahmen der A m K hängen die entsprechenden Möglichkeiten oft von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Vertragstaaten ab, doch gibt es auch hier Mindesterfordernisse, ohne deren Erfüllung die Staaten ihrer Pflicht aus Art. 17 A m K nicht genügen. Im folgenden Kapitel wird näher auf sie einzugehen sein.

V I . Schutzbereich des Art. 18 AfrC Die Familienschutzvorschrift der AfrC, Art. 18, beginnt mit einer ausdrücklichen Wertentscheidung zugunsten der Familie als der „natural unit and basis of society". Darin entspricht sie den übrigen, bislang untersuchten Menschenrechtsinstrumenten, die alle (die E M R K allerdings nur implizit) die besondere Bedeutung der Familie für die Gesellschaft und ihre daraus resultierende erhöhte Schutzwürdigkeit hervorheben. Neu am Familienschutzsystem der AfrC ist, daß es kein Abwehrrecht enthält. Denn die übrigen Menschenrechtsinstrumente, die Vorschriften über eine ausdrückliche staatliche Schutzpflicht enthalten (Art. 23 I IPBPR, Art.

12. Kap.: Achtung des Familienlebens

261

17 A m K ) , kennen im Gegensatz zur AfrC auch eine abwehrrechtliche Vorschrift, nämlich Art. 17 IPBPR bzw. Art. 11 A m K . Die ES und der WSP, die beide nur die leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes ansprechen, sollen den Familienschutz auf europäischer bzw. universeller Ebene um wirtschaftliche und soziale Rechte ergänzen. In Europa, Amerika und auf universeller Ebene wird also jeweils die abwehr- und leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes abgedeckt. Demgegenüber betrifft die AfrC allein die leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes. Art. 18 AfrC läßt den Staat stets als den aktiv Handelnden erscheinen: Er schützt die Familie, kümmert sich um ihre physische Gesundheit und Moral (Art. 18 I AfrC) und steht ihr bei (Art. 18 I I AfrC). Seinem Wortlaut nach beinhaltet Art. 18 AfrC demnach kein Abwehrrecht. Inwieweit es im Wege der Auslegung ermittelt werden kann, wird später zu prüfen sein. Schon hier kann aber festgehalten werden, daß die AfrC einen anderen Ansatz für den Familienschutz wählt als andere Verträge, die großes Gewicht auf das Verbot staatlicher Eingriffe in den familiären Bereich legten. Die AfrC hingegen legt den Schwerpunkt auf den aktiven, positiven Schutz der Familie, um auf diesem Weg eine Stärkung des Verbundes zu erreichen 50 . Ob dies ein Fort- oder eher ein Rückschritt ist, wird eingehend zu untersuchen sein. V I I . Zusammenfassung Aus den untersuchten Familienschutzbestimmungen ergaben sich sowohl Unterlassenspflichten der Staaten als auch Verpflichtungen zu positivem Tun. Die abwehr- bzw. leistungsrechtliche Komponente des Familienschutzes ist daher bei den verschiedenen Bestimmungen unterschiedlich ausgeprägt. Die Familienschutzbestimmung der E M R K hat vornehmlich abwehrrechtlichen Charakter; sie verbietet staatliche Eingriffe in vorgefundene familiäre Beziehungen. Dieses Abwehrrecht steht vor dem Hintergrund einer Wertentscheidung zugunsten der Institution „Familie", die zwar nicht ausdrücklich in den Wortlaut der Bestimmung aufgenommen wurde, sich aber klar aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt. Schließlich können sich aus Art. 8 E M R K positive Verhaltenspflichten ergeben, wenn dies zur Verwirklichung eines effektiven Familienschutzes erforderlich ist. Da es in diesem Bereich nicht um einen staatlichen Eingriff geht, sondern gerade ein Unterlassen gerügt wird, greifen bei positiven Pflichten die Rechtfertigungsgründe des Art. 8 I I E M R K nicht ein. Die in diesem Absatz niedergelegten Gedanken sind daher schon zur Begrenzung der positiven Pflicht heranzuziehen, um die Konventionsstaaten nicht zu aktivem Tun in Bereichen zu verpflichten, in denen sie sogar gerechtfertigterweise in das Familienleben hätten eingreifen können. so D'Sa, Australian Y b I L 10 (1987), S. 114.

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3. Teil: Familienschutz

Im Rahmen des IPBPR wird die abwehr- und leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes durch zwei verschiedene Bestimmungen abgedeckt. Während Art. 17 I IPBPR dem Einzelnen einen Freiraum zusichert, also ein mit Art. 8 vergleichbares Abwehrrecht beinhaltet, folgen aus der Anerkennung der Familie in Art. 23 I IPBPR positive Leistungspflichten, die entsprechend den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der Staaten mehr oder weniger dicht sind. Die abwehrrechtlichen Bestimmungen in EMRK und IPBPR erlegen schließlich den Staaten Schutzpflichten auf insofern, als sie - beispielsweise durch entsprechende Gesetze - dafür Sorge tragen müssen, daß Private nicht völlig ungehindert in den familiären Bereich eingreifen dürfen (sog. „mittelbare Drittwirkung"). Die A m K weist dieselbe Zweiteilung des Familienschutzes in eine vornehmlich abwehrrechtliche und eine vorwiegend leistungsrechtliche Bestimmung auf; beide Vorschriften stimmen fast wörtlich mit denen des IPBPR überein. Demgegenüber betonen die Familienschutzbestimmungen der ES und des WSP die leistungsrechtliche Seite des Familienschutzes und ergänzen damit ihr europäisches bzw. universelles Gegenstück im bürgerlich-politischen Bereich um wirtschaftliche und soziale Aspekte des Schutzes. Auch die AfC enthält in Art. 18 Bestimmungen über die leistungesrechtliche Seite des Familienschutzes. Doch im Rahmen dieser Charta fehlt ein ausdrücklich proklamiertes Abwehrrecht; insofern liegt eine von den übrigen Kodifikationen abweichender Auffassung von Familienschutz vor.

Dreizehntes Kapitel Inhalt des Familienschutzes I. EMRK

Die bislang gewonnenen Erkenntnisse über den durch Art. 8 E M R K vermittelten Schutz sind noch recht generell. Sie sollen nun anhand der Spruchpraxis der EMRK-Organe konkretisiert, verdeutlicht und überprüft werden. 1. Schutz der Funktionsfähigkeit

der Familie

„Achtung des Familienlebens" bedeutet für eine intakte, „normale" Familiengemeinschaft zunächst einmal die Garantie, unbehelligt und ihren eigenen Vorstellungen gemäß zusammenleben, die Kinder nach ihren Erziehungsidealen ohne staatliche Intervention großziehen, füreinander sorgen, kurzum: ein gemeinsames Leben führen zu können. Diese typisch familiären Aufgaben unterliegen dem sozialen Wandel 1 . Lag früher die Bedeutung der Familie neben der Wahrnehmung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben auch in ihrem Charakter als Produktionsgemeinschaft, so führten die fortschreitende Industrialisierung und die damit verbundene Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung zu einem Funktionsverlust: Die Familie verlor weitgehend ihre Produktionsfunktion und wurde zur Konsumgemeinschaft 2. Die erwerbswirtschaftliche Komponente der Familie als Produktionseinheit spielt dementsprechend heute regelmäßig keine Rolle mehr 3 , so daß diese Funktion weder in den nationalen Rechtsordnungen noch in der Konvention inhaltlich berücksichtigt wird. Anders verhält es sich mit ihren Sicherungs- und Fürsorgefunktionen. Diese haben zwar heute auch weithin die öffentliche Hand oder private Träger übernommen 4 , ohne dabei allerdings die Familie ihrer klassischen Versorgungsaufgaben entkleidet zu haben5. Denn zum einen greifen die meisten Leistungen 1

Mit diesem Phänomen befaßte sich 1986 eingehend die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. S. insbesondere die Berichte von v. Campenhausen. VVDStRL 45 (1987), S. 8-16; und Steiger, a.a.O., S. 62-66. Vgl. auch Lecheler, DVB1. 1986, S. 908910; Mikat, S. 13-30. 2 Gernhuber, Familienrecht, S. 3; Mikat, S. 15. 3 Mikat, S. 15. 4 Gernhuber, Familienrecht, S. 3; Lecheler, DVB1. 1986, S. 909. 5 Lecheler, DVB1. 1986, S. 909.

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3. Teil: Familienschutz

nur subsidiär im Bedarfsfall ein, also dann, wenn sie von den Familienmitgliedern nicht selbst erbracht werden können, zum anderen könnten sie wegen der allenthalben sich ungünstig entwickelnden Finanzlage jederzeit eingeschränkt oder zurückgenommen werden müssen. A n erster Stelle jedoch steht der Erziehungsauftrag der Familie, der auch in zahlreichen nationalen Verfassungen anerkannt wird 6 . Die Familie ist danach für die Sorge, Pflege und Erziehung der Kinder vorrangig zuständig. Die zur Achtung des Familienlebens verpflichteten Konventionsstaaten müssen die geschilderten Aufgaben der Familie respektieren und die originäre Zuständigkeit der Familie auf diesem Sektor anerkennen. 2. Familiengesetzgebung

In allen Staaten wird es als Selbstverständlichkeit angesehen, daß der Gesetzgeber verbindliche Regelungen auch in den Bereichen Ehe und Familie aufstellt. So werden Unterhaltspflichten festgelegt, Pflichten und Rechte hinsichtlich der ehelichen Lebensgemeinschaft und elterlichen Sorge statuiert, Vermögensregelungen getroffen u.a.m. Viele dieser Vorschriften betreffen nicht nur Äußerlichkeiten des Zusammenlebens, sondern wirken auch in familieninterne, private Bereiche hinein. a) Staatliche Kompetenz zur Familiengesetzgebung „Achtung des Familienlebens" kann nun nicht bedeuten, daß diese Regelungen, die den Betroffenen ein bestimmtes Verhalten verbindlich abverlangen, generell als Eingriffe in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens zu werten und damit gem. Art. 8 I I E M R K rechtfertigungsbedürftig sind 7 . Denn andernfalls wäre „Achtung" gleichzusetzen mit dem Verbot, die bewußten Bereiche zu regeln; Ehe und Familie existierten dann im rechtsfreien Raum. Die dann obwaltenden chaotischen Zustände würden den Schutz der Familie verringern und damit dem Gedanken des Art. 8 E M R K zuwiderlaufen. Daß je nach Eigenart des in Rede stehenden Rechts auch und gerade der menschenrechtliche Wesensgehalt der gesetzgeberischen Ausgestaltung, Regelung 6

Beispielsweise in Art. 6 I I GG: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.", Art. 42 I der irischen Verfassung: "The State acknowledges that the primary and natural educator of the child is the family and guarantees to respect the inalienable right and duty of parents to provide, according to their means, for the religious and moral, intellectual, physical and social education of their children.", Art. 30 der italienischen Verfassung: "It is the duty and right of parents to support, instruct and educate their children . . . " 7 Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 197.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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und Konturierung bedarf, ist eine auch in der Konventionsrechtsprechung anerkannte Einsicht 8 . Nicht nur intakte Familiengemeinschaften werden von der Familiengesetzgebung erfaßt, sondern gerade auch Konfliktsituationen sollen geregelt werden, indem für einen möglichst gerechten Interessenausgleich gesorgt wird. Beispiele hierfür sind die Regelungen über die Ehescheidung, die Vormundschaft, das Sorge- und Besuchsrecht. Viele dieser Vorschriften setzen lediglich die sozialen Funktionen der Familie in durchsetzbare Rechtspflichten und Ansprüche um, etwa jene über die eheliche Lebensgemeinschaft, Unterhaltspflichten oder elterliche Sorge. Andere Regelungen, z. B. über die Vormundschaft oder Vermögensrechte, waren stets in den Konventionsstaaten üblich. Sie wurden gerade zum Schutz der Familie erlassen, um ein rechtliches Gerüst für geregelte Familienbeziehungen anzubieten. Oft steht es hier ohnehin im Belieben der Familienmitglieder, ob sie von ihnen Gebrauch machen wollen (z. B. im güterrechtlichen Bereich) oder wie sie sie anwenden (zu denken ist hier etwa an elterliche Sorge und Erziehung). Wenn nun „Achtung des Familienlebens" das Gebot an den Staat beinhaltet, die Entwicklung normaler Familienbeziehungen zuzulassen9, so bedeutet dies bezogen auf eine normale, intakte, ihre gesellschaftlichen Aufgaben umfassend erfüllende Familie das Gebot, ihren Entwicklungs- und Entscheidungsprozeß nicht zu stören. Jede staatliche Intervention wäre in einem solchen Fall überflüssig und unnötig. Eine generelle Vorschrift etwa des Inhalts, daß sich auch bei intakten Familien grundsätzlich das Jugendamt in die Erziehung einschalten würde, wäre demzufolge ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, da ohne Not in eine funktionierende Einheit interveniert und sie in ihrer Entscheidungsfreiheit beschnitten würde. Anders stellt sich die Situation dar, wenn in typischen Konfliktsituationen Rechte des einzelnen Familienmitgliedes den Interessen der Familiengesamtheit entgegenstehen und, bliebe die Entscheidung vollständig der Familie überlassen, seine Rechte gefährdet sein könnten. Als Beispiel mag hier die allgemeine Schulpflicht genannt werden. Es sind Fälle denkbar, in denen die Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken, um sie für andere Aufgaben und Arbeiten heranziehen zu können. Dies ginge zulasten der persönlichen Entwicklung und Ausbildung der Kinder und könnte Konflikte provozieren. 8 K E v. 13. 5. 1982 zu Β 8811/79, 7 Einzelpersonen ./. Schweden, D R 29, S. 104 ff. (114): "Nor does the mere fact that legislation, or the state of the law, intervenes to regulate something which pertains to family life constitute a breach of Article 8, paragraph 1, of the Convention unless the intervention in question violates the applicants' right to respect for their family life." In der deutschen Grundrechtsdogmatik hat Häberle bereits früh auf diesen Umstand hingewiesen [(Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962 (3. Aufl. 1983), S. 180 ff. (340 ff.); neuestens ders., AöR 1989, S. 374]. 9 EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 15 § 31.

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3. Teil: Familienschutz

Hier ist eine staatliche Regulierung angezeigt, um die einander entgegengesetzten Interessen in Einklang zu bringen und den Schwächeren zu schützen. Wieder anders verhält es sich, wenn eine Familie ihren Aufgaben ganz oder zum Teil nicht mehr nachkommen kann oder die Gemeinschaft auseinanderzubrechen droht. Dann kann staatliche Intervention zum Schutz ihrer Einheit und zu ihrem Erhalt geboten sein, um ihr Wege zur Normalisierung der Situation zu eröffnen. In Fällen, in denen die Familie schon auseinandergebrochen ist, etwa durch Trennung oder Scheidung der Eltern, können staatliche Regelungen Abwicklungsmodelle anbieten und es den Betroffenen ermöglichen, wenigstens Restbestände familiärer Beziehungen aufrechtzuerhalten. Hier sind beispielsweise gesetzliche Regelungen des Sorge- und Besuchsrechts nach der Ehescheidung einzuordnen 10 . Allen diesen Vorschriften ist gemein, daß sie im Interesse der Familie erlassen wurden, zu ihrem Schutz und zur Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit. Solche Vorschriften werden als normal empfunden, finden sich in allen Konventionsstaaten und werden in der Regel nicht als Eingriffe in die menschenrechtlich abgesicherten Freiräume der Familie angesehen11, da sie die Familie als schützenswerte Einheit anerkennen und bewahren helfen wollen. Doch ebenso sind Gesetze vorstellbar, die ganz eindeutig dem geforderten Schutz des Familienlebens entgegenstehen, die seinen Wert negieren und die Familienmitglieder für familienfremde, staatliche Interessen einspannen wollen. Als Beispiel mag hier an die totalitären Praktiken im Dritten Reich erinnert werden, die zur Entfremdung der Familienmitglieder untereinander, Deportationen, Aufwiegelung der Kinder gegen ihre Eltern u. ä. führten. b) Abgrenzung zwischen Eingriff

und Regelung

Steht somit einerseits fest, daß die Konventionsstaaten nicht daran gehindert sind, die Bereiche Ehe und Familie gesetzlich zu regeln und daß nicht schon jede Regelung in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreift, andererseits aber ebenso klar Gesetze denkbar sind, die gegen den in Art. 8 E M R K geforderten Familienschutz verstoßen, so stellt sich nunmehr die entscheidende Frage nach der Abgrenzung: Wann greift eine Regelung in das Recht auf Achtung des Familienlebens ein mit der Folge, daß sie der Rechtfertigung bedarf, und wann nicht? io Vgl. dazu KBer v. 8. 3. 1982 zu Β 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 5 ff. (18 § 120): " . . . it is an important function of the law in a democratic society to provide safeguards in order to protect children, particularly those who are specially vulnerable because of their low age, as much as possible from harm and mental suffering resulting, for instance, from a divorce of their parents." n Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 198 f.

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Ausgangspunkt bei der Grenzziehung ist die Situation des Einzelnen. Bleibt sie von der Regelung völlig unberührt, so liegt kein Eingriff vor. Unzweifelhaft liegt ein Eingriff hingegen dann vor, wenn die Rechte des Einzelnen aufgehoben oder eingeschränkt werden 12 . Dabei ist unerheblich, ob die Beeinträchtigung eine rechtliche Grundlage hat oder nur tatsächlicher Art ist. Darüber hinaus muß die Beeinträchtigung nicht auf Dauer bestehen, denn auch befristete Einschränkungen können die Konventionsrechte verletzen 13 . Schwierigkeiten entstehen dann, wenn der Beschwerdeführer nicht darlegen kann, daß die angegriffene Gesetzgebung jemals auf ihn angewendet wurde 14 . In der Konventionsrechtsprechung ist anerkannt, daß unter bestimmten Voraussetzungen schon die bloße Existenz eines Gesetzes einen Eingriff darstellen kann. Wie hier die Grenze gezogen wird, illustriert der Fall Klass, in dem der Gerichtshof einen Eingriff in Art. 8 E M R K durch die Möglichkeit einer geheimen Telefonüberwachung annahm, obwohl die Beschwerdeführer nicht beweisen konnten, daß sie selbst Opfer einer solchen Überwachung waren: "In the mere existence of the secret surveillance legislation itself, there is involved, for all those to whom the legislation could be applied, a menace of surveillance; this menace necessarily strikes at freedom of communication services and thereby constitutes an 'interference by a public authority' with the applicant's right to respect for private and family life and for correspondence." 15

Nicht nur im Wege spezieller Einzelfallmaßnahmen kann also in Konventionsrechte eingegriffen werden, sondern auch in der gesetzlichen Regelung an sich kann schon ein Eingriff liegen. Voraussetzung ist dabei allerdings, daß das Gesetz nicht abstrakt wegen seiner Konventionswidrigkeit angegriffen werden soll, sondern daß es konkret und gegenwärtig negative Auswirkungen auf den Beschwerdeführer hat, er also allein schon durch die Existenz der gesetzlichen Regelung beschwert ist: "In principle, it does not suffice for an individual applicant to claim that the mere existence of a law violates his rights under the Convention: it is necessary that the law should have been applied to his detriment. . . . [A] law may by itself violate the rights of an individual if the individual is directly affected by the law in the absence of any specific measure of implementation." 16 12

Duffy, Y b E L 2 (1982), S. 201. E G M R , Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 13 § 26. 14 Dieser Gesichtspunkt spielt auch im Rahmen von Art. 25 E M R K eine Rolle, doch soll dieser Problematik hier nicht weiter nachgegangen werden. 15 E G M R , Urt. v. 6. 9. 1978, Fall Klass u. a., Ser. A , Vol. 28, S. 21 § 41. ι 6 E G M R , Urt. v. 6. 9. 1978, Fall Klass u. a., Ser. A , Vol. 28, S. 18 § 33. Bestätigt wurde dies z. B. in E G M R , Urt. v. 2. 8. 1984, Fall Malone, Ser. A , Vol. 82, S. 31 § 64. Vgl. auch KBer. v. 13. 3. 1980 zu Β 7525/76, Dudgeon ./. U K , Ser. Β , Vol. 40, S. 11 ff. (34 § 90), Ähnlich KBer v. 12. 10. 1978 zu Β 7215/75, X ./. U K , D R 19, S. 66 ff. (76): Nicht jede das Sexualverhalten betreffende Regelung ist schon ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens. 13

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3. Teil: Familienschutz

Besonders deutlich wird diese Beschwer bei Strafgesetzen, die die Sphäre des Einzelnen schon durch die Androhung beeinträchtigen, daß bei Zuwiderhandlungen mit Strafverfolgung zu rechnen ist 17 . So bejahte der Gerichtshof im Fall Dudgeon, in dem es um die Strafbarkeit männlicher Homosexualität bei Erwachsenen ging, ungeachtet der Tatsache, daß die Strafgesetzgebung schon seit geraumer Zeit nicht mehr angewendet wurde, einen Eingriff in das Privatleben: Die umfassende Pönalisierung der Homosexualität zwinge den Beschwerdeführer zu einer Änderung seines Sexualverhaltens, wenn er nicht das Risiko einer Strafverfolgung eingehen wolle 18 . Letztlich ist es also eine Frage des Einzelfalles, ob allein schon in der Existenz eines Gesetzes ein Eingriff liegen kann. Dieser Ansatz, unter Würdigung der Gesamtumstände die Auswirkungen der staatlichen Maßnahme auf den Beschwerdeführer zu untersuchen, erscheint als juristisch operable und gleichzeitig flexible Methode zur Ermittlung eines Eingriffs. Ein anderer Versuch der Grenzziehung zwischen bloß regelnden Maßnahmen einerseits und staatlichen Eingriffen andererseits erscheint dagegen weniger überzeugend. Exemplarisch soll dieser Weg an dem Fall eines Beschwerdeführers aufgezeigt werden, dem die nationale Behörde die Erlaubnis verweigert hatte, nach seinem Tod seine Asche in seinem Garten verstreuen zu lassen. Die Versagung der Erlaubnis wertete die Kommission nicht als Eingriff in sein Privatleben, da die Friedhofsgesetzbgebung im öffentlichen Interesse (gesundheitliche und planerische Erwägungen) erlassen worden sei 19 . Hier wird also nicht mehr allein die Auswirkung der angegriffenen Maßnahme auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers untersucht, sondern schon an dieser Stelle findet eine Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Maßnahme statt. Überwiegt es die Beeinträchtigung des Beschwerdeführers, soll kein Eingriff vorliegen. Methodisch bedenklich erscheint dieser Ansatz vor allem deshalb, weil ein Eingriff aus Gründen und Erwägungen abgelehnt wird, die für die Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 8 I I E M R K ausdrücklich angeführt werden. Zu dieser Rechtfertigung kommt man jedoch nicht mehr, wenn man die entscheidenden Gesichtspunkte schon für die Bestimmung des Eingriffs heranzieht 20 . Es erscheint verfrüht, schon an dieser Stelle die Beein17 KBer. v. 13. 3. 1980 zu Β 7525/76, Dudgeon ./. U K , Ser. Β , Vol. 40, S. 11 ff. (34 §90). EGMR, Urt. v. 22. 10. 1981, Ser. A , Vol. 45, S. 18 § 41. K E v. 10. 3. 1981 zu Β 8741/79, X ./. Bundesrepublik, D R 24, S. 137 ff. (139): "The legislation concerning cemetaries is intended to protect public interests. The legislator had regard to such factors as to securing a peaceful resting place for human remains, an adequate treatment of corpses and crematorial ashes, the protection of public health and public order and also urban and road planning. . . . It can be seen therefrom that the choice of the circumstances and of the place of burial is generally not left solely to the individual's discretion. The Commission therefore finds that not every regulation for burials constitutes an interference . . . " Weitere Nachweise bei Connelly, ICLQ 35 (1986), S. 583 u. Fn. 71.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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trächtigung des Einzelnen gegen Gründe abzuwägen, die gem. Art. 8 I I E M R K erst zu einer Rechtfertigung des Eingriffs führen können. Vor allem dann, wenn sich die Abwägungskriterien mit den in Art. 8 I I E M R K aufgezählten Rechtfertigungsgründen decken, verliert dieser Abschnitt an Bedeutung. Vorzugs würdig ist daher der erste Ansatz, demzufolge ein Eingriff immer dann vorliegt, wenn die Position des Betroffenen verschlechtert wird. 3. Recht auf Zusammenleben

Die Wahrnehmung der klassischen Aufgaben einer Familie wie gegenseitige Fürsorge und Unterstützung ihrer Mitglieder sowie Pflege und Erziehung der Kinder wird erschwert oder gar unmöglich gemacht, wenn die betreffenden Personen nicht in räumlicher Nähe, einem gemeinsamen Haushalt leben können. Über eine bloße Wohnmöglichkeit hinaus repräsentiert er den Ort des ungestörten Zuammenfindens, den Lebensmittelpunkt. Hier verwirklicht sich die Entscheidung der Familie, ein gemeinsames Leben führen zu wollen. Es fragt sich daher, ob die Konvention Schutz vor ungewollter räumlicher Trennung gewährt, den Familienmitgliedern also ein Recht auf Zusammenleben zusteht. Dabei mag auf den ersten Blick verwirrend sein, daß ein enges tatsächliches Zusammenleben der Betreffenden ja schon Voraussetzung dafür ist, daß Art. 8 E M R K überhaupt eingreift. Denn diese Bestimmung stellt nur ein bereits existierendes Familienleben unter Schutz; nur dann, wenn ein „close link" die Personen verbindet, kommen sie als Familie i. S. der Konvention in Betracht. Ein wichtiges, aber nicht das einzige Indiz für das geforderte enge Band ist das räumliche Zusammenleben. Dies gilt insbesondere für Personenbeziehungen, die nicht zum Kernbestand der Familie zählen (entferntere Verwandte, freie Lebensgemeinschaften). Kann nun das Hauptindiz für das Vorliegen einer familiären Beziehung gleichzeitig Rechtsfolge sein dergestalt, daß Art. 8 E M R K einer eng zusammenlebenden Familie das Recht gewährt, auch weiterhin zusammenzuleben? Schon hier zeichnet sich die positive Antwort ab: Die Anwendungsvoraussetzung des Vorschrift betrifft einen zeitlich anderen Sachverhalt als ihre Rechtsfolge, so daß die Tatbestandsvoraussetzung und Rechtsfolge nicht identisch sind. Art. 8 E M R K verpflichtet die Vertragstaaten, der normalen Entwicklung familiärer Bande keine Hindernisse in den Weg zu stellen 21 . Die Wohngemeinschaft, das Zusammenleben naher Familienangehöriger ist bei harmonischen, intakten Familienbeziehungen der Normalfall, so daß die Konventions20 So auch Connelly, ICLQ 35 (1986), S. 548. 21 EGMR, Urt. v. 13. 6. 1978, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 21 § 45.

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3. Teil: Familienschutz

Staaten in diese normale Entwicklung gem. Art. 8 I E M R K nicht störend eingreifen dürfen. "The mutual enjoyment by parent and child of each other's company constitutes a fundamental element of family life .. . " 2 2 ,

erkannte auch der Gerichtshof an. Eltern und Kinder haben also das Recht, gemäß ihren eigenen Vorstellungen zusammenleben zu können 23 . Daher verstand die Kommission regelmäßig eine gegen den Willen der Mutter ausgesprochene Adoption als besonders gravierenden Eingriff. Denn Art. 8 „ . . . protège en principe contre tout acte d'une autorité publique de nature à compromettre ou rendre impossible à l'avenir la reprise de la vie familiale." 24

Ebenso normal ist es, daß Ehegatten zusammenleben: "[T]he expression 'family life', in the case of a married couple, normally comprises cohabitation. The latter proposition is reinforced by the existence of Article 12, for it is scarcely conceivable that the right to found a family should not encompass the right to live together." 25

Insoweit stellt Art. 8 E M R K eine wichtige Ergänzung der Eheschließungsund Familiengründungsfreiheit dar, die nur den Gründungsakt der Verbindung, nicht aber das weitere Zusammenleben der Partner betrifft. Mit dem aus Art. 8 E M R K resultierenden Recht auf Zusammenleben waren die EMRK-Organe vornehmlich bei Beschwerden Inhaftierter befaßt, die sich durch die haftbedingte Trennung von Ehegatten und Kindern in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens beeinträchtigt sahen. Hier wurde zwar regelmäßig ein Anspruch auf Zusammenleben mit dem Rest der Familie angenommen, der staatliche Eingriff jedoch zumeist gem. Art. 8 I I E M R K gerechtfertigt. So beschied die Kommission die Beschwerde eines Strafgefangenen negativ, der ungestörte Wochenendbesuche seiner Ehefrau begehrte, um die eheliche Gemeinschaft aufrechterhalten zu können: Zwar führten Reformbestrebungen in Europa zu einer steigenden Liberalisierung des Strafvollzuges, doch sei die Verweigerung von Ehegattenzellen ein im Interesse der öffentlichen Sicherheit und der Anstaltsordnung gerechtfertigter Eingriff 26 . 22

EGMR, Urt. v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 29 § 59. Z. B. K E v. 14. 12. 1979 zu Β 8500/79, X ./. Schweiz, D R 18, S. 238 ff. (242), wo es um die Trennung eines Jugendlichen von seinen Eltern im Rahmen eines Strafverfahrens ging. 24 K E v. 11. 7. 1977 zu Β 7626/76, X ./. U K , D R 11, S. 160 ff. (162); s. auch K E zu Β 9580/81, 9840/82 sowie den Fall Rennix, alle in EuGRZ 1985, S. 521-524. 25 EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 62. 26 K E v. 4. 2. 1970 zu Β 3603/68, X ./. Bundesrepublik, CoD 31, S. 48 ff. (50); K E v. 21. 5. 1975 zu Β 6564/74, X ./. U K , D R 2, S. 105 ff. (106); K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/ 78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (243); K E v. 3. 5. 1978 zu B 8065/77, X ./. U K , D R 14, S. 246 ff. (247); KBer v. 18. 3. 1981 zu B 8022/77, 8025/77 & 8027/77, Me Veigh, O'Neill & Evans ./. U K , D R 25, S. 15 ff. (52 § 234). 23

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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Das Recht auf räumliche Gemeinschaft ermöglicht es der Familie, nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen frei von staatlicher Einflußnahme zusammenleben zu können. Unzulässig sind danach beispielsweise Dienstverpflichtungen der Familienmitglieder während ihrer der Familie gehörenden Freizeit, Regelungen der Schulpflicht dergestalt, daß die Kinder nicht mehr am Familienleben teilnehmen können, oder auch der Zwang, Kinder in staatliche Jugendorganisationen schicken zu müssen, die dann als „Familienersatz" dienen 27 . Ist somit jedenfalls für Eltern und Kinder sowie Ehegatten, den Kernbereich der Familie also, das Recht auf Zusammenleben von Art. 8 E M R K umfaßt 28 , so fragt es sich weiter, ob dies in gleichem Maße auch für andere Verwandte gilt. Hier ist daran zu erinnern, diese Personen ohnehin nur dann zur Familie zahlen, wenn sie ein enges Band verbindet. Ein wichtiges Indiz dafür ist die räumliche Gemeinschaft, doch kann das Familienleben auch z. B. durch regelmäßige Besuche, Unterstützung finanzieller und anderer Art u. ä. aufrechterhalten werden. Steht nun im Einzelfall fest, daß die fraglichen Personen als Familie den Schutz des Art. 8 E M R K genießen, so lassen sich aus dieser Vorschrift keine Anhaltspunkte dafür ableiten, daß der Inhalt oder Umfang ihres Schutzes schon bei der Beurteilung, ob ein Eingriff in geschütztes Familienleben vorliegt, entsprechend dem Verwandtschaftsgrad variiert. Filter- oder Begrenzungsfunktion hinsichtlich der Anspruchsberechtigten kommt insoweit nur der Anspruchsvoraussetzung des „close link" zu. Die Anforderungen, die hieran gestellt werden, bestimmen sich dann allerdings nach der Art der zu beurteilenden Personenverbindung: Je enger sie ist (z. B. zwischen Mutter und Kind), desto niedriger sind die Voraussetzungen, unter denen ein bestehendes Familienleben anzunehmen ist. Leben also Großeltern und Enkel in einem gemeinsamen Haushalt zusammen, so verletzt sie eine ungewollte Trennung in ihrem Recht auf Zusammenleben ebenso wie ein Ehepaar, das unfreiwillig getrennt würde. Allerdings sind die Fälle, in denen Art. 8 Verwandten ein Recht auf Zusammenleben mit der übrigen Familie gewährt, auf die (gar nicht so häufigen) Konstellationen begrenzt, in denen die betreffenden Personen vor der Trennung in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebten. Denn da Art. 8 es nur verbietet, in vorgefundene Situationen familiärer Gemeinschaft einzugreifen, können sich Familienmitglieder, die ohnehin aufgrund ihrer eigenen, freiwilligen Entscheidung über einen nicht unbeachtlichen Zeitraum hinweg getrennt leben, nicht auf ein Recht zum Zusammenleben berufen. In solchen Fällen wird nicht in das in dem Recht auf Achtung des Familienlebens enthaltene Recht auf Zusammenleben eingegriffen, da ein Zusammenleben in Form einer häuslichen oder räumlichen Gemeinschaft nicht bestand. 27 28

Diese Beispiele nennt Partsch, E M R K , S. 181. Frowein/Peukert, E M R K , Art. 8 Rz. 13.

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3. Teil: Familienschutz

Im Grundsatz gewährt also Art. 8 allen in räumlicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen das Recht, frei von ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen ihr Leben in dieser Form fortsetzen zu können. Eine unfreiwillige Trennung stellt sich dann unabhängig von dem Verwandtschaftsgrad als Eingriff dar. Inwieweit es dennoch für die Konventionsmäßigkeit des Eingriffs eine Rolle spielen kann, ob es sich um den Kern der Familie oder um andere Angehörige handelt, wird bei den Rechtfertigungsmöglichkeiten zu untersuchen sein. 4. Recht auf Familieneinheit i. S. kultureller Homogenität

Der Inhalt des Recht auf Achtung des Familienlebens erschöpft sich nicht schon in dem Verbot, ungerechtfertigt in die räumliche Gemeinschaft einer Familie einzugreifen. Denn nicht nur die räumliche Nähe ist kennzeichnend für die familiäre Verbundenheit; darüber hinaus verbinden ihre Mitglieder gemeinsame ideelle und kulturelle Wertvorstellungen. Die staatliche Verpflichtung zur Achtung der kulturellen Homogenität als Teil der Familieneinheit war Gegenstand des Belgischen Sprachenfalls, in dem sich wallonische Eltern über die belgische Schulgesetzgebung beschwerten. Sie zwinge sie dazu, entweder ihre Kinder auf flämische Grundschulen zu schicken (was sie ablehnten), oder, wenn die Kinder in französischer Sprache unterrichtet werden sollten, sie auf ein Internat oder eine weit entfernte Schule zu schicken. Die Eltern sahen sich bei beiden Alternativen in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt: Bei Besuch einer flämischsprachigen Schule werde die geistige Einheit der (französischsprachigen) Familie verletzt, bei Besuch einer weit entfernten französischsprachigen Schule führe der lange Schulweg bzw. der Internatsaufenthalt zu einer Trennung der Familie 29 . Gegen die belgische Gesetzgebung führten die Beschwerdeführer insbesondere an, daß sie das Familienoberhaupt an der Entscheidung über die Unterrichtssprache seiner Kinder hindere, sie die Eltern vor die Wahl stelle, entweder lange Schulwege oder eine abgelehnte Unterrichtssprache in Kauf zu nehmen und sie schließlich die intellektuelle Entwicklung der in einer anderen als ihrer Muttersprache unterrichteten Kinder hemme 30 . Aus finanziellen Gründen schieden die verbleibenden Alternativen aus, die Kinder zu Hause zu unterrichten oder französischsprachige Schulen in der Nähe zu errichten. Nach Ansicht der belgischen Regierung folgte aus Art. 8 E M R K 29 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Β 1474/62, 23 Einwohner von Alsemberg u. Beersei; Β 1677/62, 5 Einwohner von Kaainem; Β 1691/62, 62 Einwohner von Antwerpen und Umgebung; Β 1769/69/63, Einwohner von Ghent und Umgebung; Β 2126/64, 85 Einwohner von Vilvorde (im Folgenden: 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien), Ser. B, Vol. 1, S. 141 § 187. 30 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1, S. 287 § 385.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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keine Pflicht, öffentliche Leistungen so anzubieten, daß sie von allen unter minimalen Beeinträchtigungen ihres Familienlebens in Anspruch genommen werden können 31 . Die Kommission ging zunächst auf das Verhältnis der möglicherweise tangierten Vorschriften Art. 8,12 E M R K und 2 ZP zueinander ein und befand, „ . . . chacune de ces dispositions régit un secteur bien déterminé de la vie privée et familiale. Partant, même si l'on admet qu'ils puissent donner lieu, dans certaines circonstances, à une application combinée ou conjointe, il ne paraît pas possible d'interpreter l'une quelconque d'entre elles d'une manière qui entraînerait une extension des droits reconnus par les deux autres dans les domaines qui leur sont propres." 32

Ein elterliches Erziehungsrecht könne nicht in Art. 8 hineininterpretiert werden, wie schon das unterschiedliche Schicksal des Art. 8 E M R K und des elterlichen Erziehungsrechts zeige, das so umstritten war, daß es erst in das ZP aufgenommen werden konnte. Doch auch wenn demnach weder Art. 2 S. 2 ZP noch Art. 8 E M R K den Staat verpflichten, einen bestimmten Unterricht anzubieten, zu unterstützen oder anzuerkennen, so können dennoch erziehungspolitische Maßnahmen den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens antasten, wenn sie zu einer Entfremdung der Kinder von ihren Eltern führen. Dies ist der Fall, wenn die Kinder zwangsläufig ein Internat besuchen müssen oder der Unterricht so gelegt wird, daß sie am normalen Leben in der Familie nicht mehr teilnehmen können 33 . Die Kommission hielt den Besuch flämischer Schulen zur Vermeidung langer Schulwege mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens für vereinbar, da ein solcher Unterricht in einem mehrsprachigen Land keine „Depersonalisierung" sei 34 . Den Eltern stünden genügend Möglichkeiten offen, ihre Kinder selbst in ihrer Muttersprache zu erziehen, um einer angeblichen Entfremdung vorzubeugen 35. Auch der Gerichtshof verneinte eine Konventions V e r l e t z u n g , da aus Art. 8 E M R K kein Recht folge, in staatlichen Schulen in der Muttersprache der Eltern unterrichtet zu werden. Ebenso wie die Kommission betonte er, daß Art. 8 kein Erziehungsrecht beinhalte, ohne sich jedoch näher mit dem Aspekt des geistigen Zusammengehörigkeitsgefühls auseinanderzusetzen. Eine Konventionsverletzung durch die räumliche Trennung während des Schulbesuchs und -weges oder der Internatsunterbringung lehnte er mangels 31 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1,S. 288 § 385. 32 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1, S. 291 § 388. 33 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1, S. 292 § 388 f. 34 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1,S. 294 §391. 35 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1, S. 297 § 393. Weder Art. 8 E M R K noch Art. 2 I I ZP seien verletzt, weder allein noch i.V.m. Art. 14 E M R K , wohl aber Art. 2 I ZP.

18 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

staatlichen Eingriffs ab; die für französischen Unterricht in Kauf genommene Trennung resultiere allein aus der freien elterlichen Entscheidung 36 . Ebensowenig wie die Kommission sah er die Gefahr der „Depersonalisierung" durch flämischsprachigen Unterricht 37 . Der Aspekt des geistigen Zusammengehörigkeitsgefühls wurde also nur von der Kommission vertieft geprüft, die zwischen „moral unity" und „physical unity" unterschied 38. Sie erkannte ausdrücklich an, daß das Familienleben sowohl in Form eines räumlichen Zusammenlebens als auch eines geistigen Zusammengehörigkeitsgefühls von Art. 8 E M R K geschützt werde. Aus dem Umstand, daß der Gerichtshof diesen Gesichtspunkt vernachlässigte, kann nicht auf eine Abkehr von der Auslegung des Art. 8 E M R K als Schutzgarantie auch der geistigen Einheit geschlossen werden 39 , zumal er sich mit der angeblichen „Depersonalisierung" ausführlich auseinandersetzte. Die Einheit der Familie beschränkt sich also nicht nur auf eine räumliche Komponente, sondern wird ebenso durch ein geistiges Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitglieder geprägt. Denn die familiäre Gemeinschaft kann durch geistige Entfremdung ebenso zerstört werden wie durch eine räumliche Trennung, wenn die Familie als Forum geistiger Auseinandersetzung verloren geht. Selbst wenn die Gemeinschaft noch äußerlich intakt erschiene, wäre die durch Art. 8 E M R K gebotene Achtung unterlaufen worden. Einem wichtigen Aspekt dieser Gemeinschaft wird allerdings in einer anderen Vorschrift Rechnung getragen, nämlich dem Erziehungsrecht der Eltern in Art. 2 I I ZP. Diese Vorschrift ist für Eingriffe im Rahmen staatlicher Erziehungs- und Unterrichtsmaßnahmen Spezialnorm zu Art. 8 EMRK. Daneben sind eine Reihe von Eingriffen denkbar, die nicht das in Art. 2 I I ZP geregelte elterliche Erziehungsrecht betreffen, aber die von Art. 8 E M R K geschützte geistige Zusammengehörigkeit der Familie beeinträchtigen. Ein Beispiel ist die Beschwerde schwedischer Eltern gegen die umfassende Pönalisierung von Körperverletzungen im schwedischen Strafgesetzbuch. Die Eltern, die einer körperliche Züchtigungen befürwortenden Religionsgemeinschaft angehörten, sahen sich in ihren elterlichen Rechten aus Art. 8 E M R K verletzt, da solche Züchtigungen nun gegen den „Code of Parenthood" und in schweren Fällen gegen Strafvorschriften verstießen. Zudem befürchteten sie eine geistig-mora36

E G M R , Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6 , S. 43. EGMR, Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 56. Er nahm nur eine Verletzung von Art. 2 I ZP an, weil die angegriffene Gesetzgebung einigen Kindern die Aufnahme in französische Schulen von Brüsseler Randgemeinden verwehre. I.V.m. Art. 14 E M R K wurde eine Diskriminierung mehr noch als aus Gründen des Wohnorts vor allem aufgrund der Sprache angenommen und das Recht der Kinder auf Bildung als verletzt angesehen (S. 70). 38 KBer v. 24. 6. 1965 zu den Beschwerden von 6 Gruppen belgischer Bürger ./. Belgien, Ser. B, Vol. 1, S. 292 § 389. 39 Wolfrum, FW 58 (1975), S. 271. 37

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

275

lische Entfremdung ihrer Kinder, denn bei einer Erziehung gemäß ihren (ein Züchtigungsrecht einschließenden) Überzeugungen sei zu erwarten, daß den Kindern in der Schule die Ansichten ihrer Eltern als asozial und kriminell vorgehalten würden 40 . Die Kommission betonte, " . . . that parental rights and choices in the upbringing and education of their children is paramount as against the State. This is inherent in the terms of the guarantee of respect for family life contained in Article 8, para. 1, since the upbringing of the children is a central aspect of family life." 4 1

Demgemäß schützt Art. 8 E M R K nicht nur vor räumlicher Trennung, sondern auch vor geistiger Entfremdung der Familienmitglieder, sofern sie auf staatliches Eingreifen zurückgeführt werden kann. Art. 8 E M R K stellt sich damit als Verbürgung für die ungestörte Aufrechterhaltung nicht nur der äußeren, sondern auch der kulturellen, geistigen und moralischen Familieneinheit dar. 5. Zerrüttete Familien

Nicht immer sind Familien auf Dauer in der Lage, die ihr gesellschaftlich zugedachten Aufgaben zu erfüllen. Manche Eltern sind aufgrund eigener, schwerer Probleme unfähig, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten, ihre Kinder selbständig zu versorgen und zu erziehen. Durch Trennung oder Scheidung des Elternpaares brechen zahlreiche Familien auseinander. Daraus können Situationen entstehen, die die Trennung von Eltern und Kindern unvermeidlich machen und die gerade im Interesse der Kinder geboten sein kann. Die Gesetze der Konventionsstaaten bieten hier vielfältige Möglichkeiten an, auf solche Konflikte einzugehen und Lösungen anzubieten. Stichworte sind hier Sorge- und Besuchsrecht nach der Ehescheidung, Versorgung der Kinder in Pflegefamilien, öffentliche Fürsorge. Solche Vorschriften sind gerade im Interesse und zum Schutze der Familie, zum möglichst gerechten Ausgleich der Interessen geschaffen worden. Von ihrem Ansatz und Ziel her sind sie daher unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf Achtung des Familienlebens an sich nicht zu beanstanden. Wichtig ist dabei allerdings, daß stets die fundamentale Bedeutung beachtet wird, die das Zusammenleben der Familienmitglieder im Normalfall hat. So vertreten Kommission 42 und Gerichtshof 43 in 40

K E v. 13. 5. 1982 zu Β 8811/79, 7 Einzelpersonen ./. Schweden, D R 29, S. 104 ff.

(106).

41 K E v. 13. 5. 1979 zu Β 8811/79, 7 Einzelpersonen ./. Schweden, D R 29, S. 104 ff. (111). Doch da durch die gerügte Ergänzung des „Code of Parenthood" die Beschwerdeführer weder Zwangs- noch anderen konkreten Maßnahmen unterworfen wurden, fehlte es an einem Eingriff. 42 Ζ. B. K E v. 4. 7. 1983 zu Β 9018/80, Κ ./. Niederlande, D R 33, S. 9 ff. (14); K E v. 17. 11. 1983 zu Β 9276/81, C ./. U K , D R 35, S. 13 ff. (19); K E v. 14. 5. 1984 zu Β 10496/83, R ./. U K , D R 38, S. 189 ff. (195); KBer v. 15. 10. 1985 im Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 43 ff. (44 § 98).

18*

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3. Teil: Familienschutz

ständiger Rechtsprechung, daß wegen der grundlegenden Bedeutung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern selbst dann, wenn ihr Familienleben i. S. Art. 8 E M R K zum Erliegen gekommen ist, weiterhin Kontakt ermöglicht werden soll (bspw. bei Sorgerechtsentscheidungen im Scheidungsverfahren oder der Anordnung öffentlicher Obhut). Eine Beschränkung des Zugangs zu den Kindern ist damit ein Eingriff in das Eltern immer zustehende Recht auf Kontakt zu ihren Kindern und damit in das Recht auf Achtung des Familienlebens 44 . Kontaktbeschränkungen treten typischerweise als Folge von Sorgerechtsentscheidungen auf oder in Fällen, in denen die Heimerziehung oder Unterbringung in einer Pflegefamilie angeordnet wird. Ihnen soll im Folgenden nachgegangen werden. a) Regelung des Sorge- und Besuchsrechts Das Familienleben der Eltern und ihrer Kinder ist grundsätzlich unabhängig von dem Bestand der Ehe oder der elterlichen Beziehung, so daß es auch nach der Ehescheidung oder Trennung der Eltern fortbesteht 45 . Dennoch kann und muß das nationale Recht der Mitgliedstaaten Regelungen für solche Fälle bereithalten, in denen die elterlichen Rechte und Pflichten nicht mehr von beiden Elternteilen wahrgenommen werden. In aller Regel ist die Beziehung der Eltern so zerrüttet, daß nur einer Seite das Sorgerecht zuerkannt werden kann. So wird nicht zuletzt im Interesse der Kinder vermieden, daß auch nach der Trennung die elterlichen Auseinandersetzungen über die Erziehung der Kinder ständig fortgesetzt werden. Doch für den nicht sorgeberechtigten Elternteil bringt diese Entscheidung einen schwerwiegenden Eingriff in sein Recht auf Achtung des Familienlebens mit sich, da er nunmehr den Kontakt zu seinen Kindern nicht mehr in gewohnter Intensität aufrechterhalten kann und zwangsläufig eine gewisse Entfremdung eintritt. Hier gebietet es Art. 8 E M R K , dem nicht Sorgeberechtigten Kontakt zu seinen Kindern zu gestatten, wann immer dies möglich ist. Besuchs- und Zugangsbeschränkungen sind nach ständiger Spruchpraxis der EMRK-Organe nur in den engen Grenzen des Art. 8 I I E M R K , namentlich zum Wohle des Kindes, zulässig46. 43

EGMR, Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 27 § 59; Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 71 § 60; Fall R ./. U K , a.a.O., S. 117 § 64. 44 K E v. 12. 12. 1977 zu Β 7911/77, X ./. Schweden, D R 12, S. 192 ff. (193); K E v. 13. 3. 1980 zu Β 8427/78, X ./. Niederlande, D R 18, S. 225 ff. (230); K E v. 13. 3. 1984 zu Β 9580/81, L, Η & A ./. U K , D R 36, S. 100 ff. (111); K E v . 13. 3. 1980 zu B 8427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 18, S. 245 ff. (230); K E v. 3. 10. 1984 zu B 10141/82, L ./. Schweden, D R 40, S. 140 ff. (151). 45 Dazu ausführlich oben, 10. Kapitel, Text zu Fn. 26 - 28. 46 K E v. 13. 3. 1980 zu Β 8427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 18, S. 225 ff. (230); K E v. 12. 12. 1977 zu Β 7911/77, X ./. Schweden, D R 12, S. 192 ff. (193).

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

277

Doch um von diesem Recht Gebrauch machen zu können, muß der nicht sorgeberechtigte Elternteil überhaupt erst einmal tatsächlich in der Lage sein, den Aufenthalt des Kindes herauszufinden. Im Fall eines britischen Staatsangehörigen allerdings, dessen geschiedene Frau mit dem gemeinsamen Kind unter Genehmigung der britischen Behörden nach Mallorca verzogen war, ohne dem Beschwerdeführer ihren neuen Wohnsitz mitzuteilen, leitete die Kommission aus Art. 8 E M R K erstaunlicherweise kein Recht des Beschwerdeführers auf genaue Kenntnis dieses Ortes ab: Zu Recht hätten die britischen Behörden die Adresse ohne die Einwilligung der geschiedenen Ehefrau nicht weitergegeben, um sie vor unwillkommenen Kontaktversuchen zu schützen47. Diese Entscheidung erscheint umso unverständlicher, als dem Beschwerdeführer gerichtlich das Recht auf „reasonable access" zuerkannt worden war. Durch die Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Staat hatte es die Mutter des Kindes somit in der Hand, unter Verweigerung der Herausgabe ihrer Anschrift das Recht des Beschwerdeführers zu vereiteln. Denn es ist zweifelhaft, ob der allein über die Konsularbehörde mögliche Briefkontakt einen „reasonable access" darstellt oder nicht vielmehr eine unzulässige Beschränkung der Kontaktmöglichkeiten beinhaltet. Die Antwort hängt von den näheren Umständen des Falles ab (die in concreto aus der Entscheidung nicht hervorgehen), insbesondere von dem Inhalt und Umfang des Kontaktrechts sowie eventuell befürchteter negativer Auswirkungen auf das Wohl des Kindes. Wurden beispielsweise regelmäßige Besuche als mit dem Kindeswohl vereinbar angesehen, so darf es nicht allein von der Kooperationsbereitschaft der Mutter abhängen, ob dieses Recht auch verwirklicht werden kann. Die einschlägigen innerstaatlichen Vorschriften müßten für solche Fälle bspw. Ausnahmeregelungen und Befreiungen von dem Einwilligungserfordernis bei der Adressenoffenlegung vorsehen, da andernfalls unter staatlicher Mitwirkung das Kontaktrecht beeinträchtigt wird. Mit eben diesem Argument wandte sich ein geschiedener Vater gegen die Entscheidung niederländischer Behörden, ihm den Kontakt zu seinem Sohn zu verweigern. Die sorgeberechtigte Mutter hatte selbst einen einmaligen Besuch unter Hinweis auf das Wohl des Kindes verhindert. Der Beschwerdeführer sah sich durch die richterliche Praxis, bei Besuchsregelungen stets der Ansicht der Mutter Vorrang einzuräumen, in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt. Sie ermögliche es den Müttern, den leiblichen Vätern den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern zu verwehren und so ihre Rechte zu vereiteln. A n der Vorschrift über sie Besuchsregelung kritisierte die Kommission vor allem, daß sie den Besuch des nicht Sorgeberechtigten nicht als Rechtsanspruch behandele, sondern (nach Auskunft des niederländischen Justizministers) als „Privileg", das oft schon dann nicht zugestanden werde, wenn der andere Teil entschieden dagegen opponiere 48 . 47 K E v. 16. 5. 1977 zu Β 7434/76, X ./. U K , D R 9, S. 103 ff. (105). Nicht so eng K E v. 15. 12. 1977 zu Β 7547/76, X ./. U K , D R 12, S. 73 ff. (74).

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3. Teil: Familienschutz

Abweichend davon sahen vier Kommissionsmitglieder einen Verstoß schon darin, daß die niederländische Vorschrift zwar das Gericht zur Besuchsregelung autorisierte, ohne jedoch die einzelnen Entscheidungskriterien zu konkretisieren 49 . Ihre hierfür vorgebrachten Argumente überzeugen. Wenn eines der wichtigsten von Art. 8 E M R K umfaßten Rechte jenes auf Zugang zu dem eigenen Kind ist, so ist von den nationalen Rechtsordnungen zu fordern, daß sie der Bedeutung dieses Rechts in ihren Besuchsregelungen Rechnung tragen. Mindestvoraussetzung muß es hier sein, daß die Forderung des nicht Sorgeberechtigten als Rechtsanspruch verstanden wird und nicht Gegenstand einer „Gnadenentscheidung" ist. Denn es würde den Konventionsschutz drastisch verkürzen, wenn bei der Umsetzung der Konventionsgarantien ihr Charakter als rechtlicher Anspruch verlorenginge und sich ihre Garantien nur noch als „Privilegien" in den nationalen Rechtsordnungen wiederfinden. Insbesondere muß dafür gesorgt werden, daß nicht schon a priori die Weigerung der Mutter, Besuche zuzulassen, zu einer für den Vater negativen Entscheidung führt. In jedem Fall muß in den Entscheidungsprozeß einfließen, daß die Besuchsregelung das Recht auf Achtung des Familienlebens vor allem des nicht sorgeberechtigten Elternteil berührt. Dies muß auch bei der Abwägung der einander entgegenstehenden Interessen berücksichtigt werden. Es liegt auf der Hand, daß der Forderung nach Zugang zu dem Kind ein ganz anderes Gewicht zukommt, wenn ihr ein Rechtsanspruch zugrundeliegt. Denn dieser kann nur unter genau festgelegten, eng umgrenzten Voraussetzungen eingeschränkt werden, namentlich im Interesse des Kindes. Damit soll nun nicht gefordert werden, daß das entscheidende Gericht oder die zuständige Behörde keinen Ermessenspielraum haben dürfe. Gerade in dem sensiblen Bereich des Sorge- und Besuchsrechts könnte andernfalls keine fallorientierte, flexible Lösung getroffen werden. Doch das Ermessen der nationalen Instanzen darf sich nicht auf die Frage beziehen, ob der Forderung des nicht Sorgeberechtigten die Qualität eines Rechtsanspruchs zukommt oder ob schon dann zu Lasten dieses Elternteil entschieden werden kann, wenn dies praktische Gründe nahelegen, wenn etwa der andere Teil erkennbar nicht kooperieren würde. Nur solche innerstaatlichen Vorschriften, die eine sorgfältige Abwägung aller Interessen vorschreiben und das Besuchsrecht der Eltern als Rechtsanspruch anerkennen, tragen den Anforderungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens ausreichend Rechnung.

48

KBer v. 8. 3. 1982 zu Β 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 5 ff. (16). Abweichende Meinung der Mitglieder M. Melchior, J. Sampaio, A . Weitzel und H. G. Schermers zu KBer v. 8. 3. 1982 zu Β 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 43 ff. (43). 49

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

b) Pflegschaft,

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Heimerziehung und Adoption

"[0]nly the most pressing grounds can be sufficient in a democratic society to justify the disruption of existing family ties even where the material conditions of the family are poor. Moreover, it must be observed that as a general rule the raising of a child at home would seem to be preferable to any education in a public institution." 50

Von dieser Regel können im Interesse der Kinder Ausnahmen geboten sein und eine Trennung von ihrer Familie erfordern. Unterbringung in einer Pflegefamilie, in einem Heim oder ihre Freigabe zur Adoption sind dann die Folgen, die die schwersten denkbaren Eingriffe in das Recht der Eltern und Kinder auf Achtung ihres Familienlebens darstellen. Fälle dieser Art sollen nun im Folgenden näher untersucht werden. In drei ähnlich gelagerten Beschwerden gegen Großbritannien, in denen es um die Kontaktmöglichkeiten natürlicher Eltern zu ihren in öffentlicher Fürsorge befindlichen Kindern ging, waren sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof mit dieser Problematik befaßt. In diesen Fällen spielte der Zeitfaktor eine wichtige Rolle, da die Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung dazu führte, daß sich die bei Pflegeeltern untergebrachten Kinder ihren natürlichen Eltern zwangsläufig entfremdeten und so das weitere Schicksal der Kinder faktisch präjudiziert wurde. Im Fall W ./. Großbritannien, der hier stellvertretend für die beiden anderen, parallel gelagerten Beschwerden mit gleicher Problematik 51 näher dargestellt werden soll, wurde das Kind S des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau zunächst vorübergehend in Pflege gegeben ebenso wie zwei ältere Kinder, die im Gegensatz zu S später wieder in die Familie zurückkamen. Aufgrund der schlechten Familiensituation (Eheprobleme, Alkoholismus) entschlossen sich die zuständigen Behörden, für S eine Langzeitpflegschaft mit dem Ziel der Adoption zu arrangieren und den Kontakt zu seiner natürlichen Familie stark einzuschränken. Gegen den Widerstand der Eltern geschah dies im Mai 1980. In diesem Verfahren wurden die Eltern nicht oder zumindest nur unzureichend informiert und beteiligt, auch wurde ihnen der Aufenthaltsort der Pflegefamilie und damit ihres Kindes verschwiegen. Kurz darauf besserte sich die familiäre Situation signifikant, und die Eltern erwirkten ein Urteil des Jugendgerichts, wonach S nach Hause zurückkehren sollte. Die Behörde legte gegen diese Entscheidung im Januar 1981 Berufung ein, über die erst im Juni 1981 entschieden wurde. Da der letzte Kontakt zwischen Eltern und Kind 50

K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8059/77, X u. Y ./. Bundesrepublik, D R 15, S. 208 ff. (209). E G M R , Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 3 ff.; KBer v. 15. 10. 1985 zu Β 9749/82, W ./. U K , a.a.O., S. 43 ff. Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 57 ff.; KBer v. 4. 12. 1985 zu Β 9840, Β ./, U K , a.a.O., S. 84 ff. Fall R ./. U K , a.a.O., S. 100 ff.; KBer v. 4. 12. 1985 zu Β 10496/83, R ./. U K , a.a.O., S. 129 ff. Vgl. im übrigen auch Beschwerde 11240/84, Campbell ./. U K , EuGRZ 1988, S. 535 f. über Beschränkungen des Verkehrsrechts; es wurde eine gütliche Einigung erzielt. 51

280

3. Teil: Familienschutz

schon über ein Jahr zurücklag, wurde entschieden, daß S bei seiner Pflegefamilie bleiben sollte. Den Eltern wurde im Interesse des Kindeswohls weiterer Kontakt zu S untersagt. Weitere rechtliche Schritte blieben erfolglos, da nun festgestellt wurde, daß S ohnehin die meiste Zeit in der Obhut seiner Pflegefamilie gestanden habe. Im März 1982 wurde den Pflegeeltern die Adoption bewilligt; im Oktober wurde gerichtlich entschieden, von dem elterlichen Zustimmungserfordernis zur Adoption abzusehen, da die Weigerung der Eltern unvernünftig sei 52 . Der Beschwerdeführer machte geltend, das Verfahren, das zur Beendigung des elterlichen Kontakts zu S geführt habe und die Länge des Verfahrens hätten ihn in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt. Der Gerichtshof (wie schon zuvor die Kommission 53 konzentrierte sich auf die verfahrensrechtliche Komponente des Rechts auf Achtung des Familienlebens: "It is true that Article 8 contains no explicit procedural requirements, but this is not conclusive of the matter. The local authority's decision-making process clearly cannot be devoid of influence on the substance of the decision, notably by ensuring that it is based on the relevant considerations and is not one-sided and, hence, neither is nor appears to be arbitrary." 54

Die nationalen Behörden haben zwar bei der Entscheidung, in welcher Familie das Kind künftig leben soll, aufgrund ihrer Sachnähe einen gewissen Entscheidungsspielraum. Doch entspricht der Entscheidungsprozeß nur dann Art. 8 E M R K , wenn die Ansichten und Interessen der natürlichen Eltern ausreichend und rechtzeitig berücksichtigt werden 55 . Wegen seiner faktisch präjudizierenden Wirkung kommt auch dem Zeitfaktor eine entscheidende Rolle zu 5 6 , denn " . . . an effective respect for family life requires that the future relations between parent and child be determined solely in the light of all relevant considerations and not by the mere effluxion of time." 5 7

52

E G M R , Urt. v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 24 f. §§ 52 f. KBer im Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 45 § 100; im Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 86 §72; im Fall R ./. U K , a.a.O., S. 131 § 102; s. auch K E v . 17. 11. 1983 zu Β 9276/81, C . / . U K , D R 35, S. 13 ff. (20). 54 E G M R , Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 28 § 62; ebenso in Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 73 § 63; Fall R ./. U K , a.a.O., S. 118 § 67. 55 E G M R , Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 28 § 63; ebenso in Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 73 § 64; Fall R ./. U K , a.a.O., S. 118 § 68. 56 So auch zuvor schon die Kommission, KBer zu W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 47 § 106; ebenso zu Β ./. U K , a.a.O., S. 88 § 78 und zu R ./. U K , a.a.O., S. 133 § 108, und schon früher in K E v. 13. 10. 1983 zu Β 9893/82, Pedersen ./. Dänemark, D R 37, S. 50 ff. (57). 57 EGMR, Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 29 § 65. 53

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

281

In allen drei Fällen wurde ein Verstoß gegen Art. 8 E M R K angenommen, da die Eltern selbst bei so richtungsweisenden Entscheidungen wie der Begründung einer Langzeitpflegschaft oder Besuchs- und Kontaktverboten nicht ausreichend informiert und konsultiert wurden 58 und die verfahrensmäßigen Verzögerungen zu einem erheblichen Teil auf behördliches Verschulden zurückzuführen waren 59 . Noch prägnanter formulierten die Richter Pinheiro Farinha, Pettiti, de Meyer und Valticos die elterlichen Rechte, indem sie forderten, "(1) that, at every stage of a procedure concerning . . . parental rights, and in particular access to their children, a father and a mother have the right to be effectively consulted, heard and informed, and to have their observations duly taken into account; (2) that the right may not be disregarded on account of the 'practicabilities of the matter' and their requirements, and may be the subject of derogation only when its exercise is really impossible." 60

Diese drei Urteile sind insofern von erheblicher Bedeutung, als sie eindeutig klarstellen, daß das Recht auf Achtung des Familienlebens auch prozedurale Auswirkungen auf familienrechtliche Verfahren hat. Je schwerer der Eingriff in das Familienleben ist, desto höhere Anforderungen stellt Art. 8 E M R K an das zugrundeliegende Verfahren. In familienrechtlichen Verfahren ist dabei insbesondere sicherzustellen, daß in allen Stadien die betroffenen Eltern soweit wie möglich beteiligt werden und daß nicht schon die Dauer des Verfahrens dergestalt Fakten schafft, daß eine Entscheidung zugunsten der Aufrechterhaltung der Familieneinheit schon wegen der zwischenzeitlichen Entfremdung der Familienmitglieder ausgeschlossen ist. In ganz besonderem Maß gilt dies für Verfahren mit dem Ziel der Beendigung des Sorge- und Besuchsrechts, Anordnung einer Langzeitpflegschaft oder Freigabe zur Adoption, da alle diese Maßnahmen zum endgültigen Ende des ursprünglichen Familienlebens führen. Sie sind damit die schwersten denkbaren Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens. Absolute Priorität genießt daher grundsätzlich die Möglichkeit der Eltern, auch nach dem Zusammenbruch der Familie weiterhin Kontakt und Zugang zu ihrem Kind zu haben. Allein der Umstand, daß eine Familie ihren Sorgeund Erziehungsaufgaben nicht mehr nachkommen kann, berechtigt die Konventionsstaaten nicht, sich über die elterlichen Ansichten hinwegzusetzen und mit den Kindern nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Zumindest ein Rest der elterlichen Rechte bleibt bei der Familie, die daraus beispielsweise einen 58 E G M R , Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 31 § 68; ebenso in Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 74 §§ 67 f.; Fall R ./. U K , a.a.O., S. 120 f. § 73. 59 EGMR, Urteile v. 8. 7. 1987, Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 31 § 69; Fall R ./. U K , a.a.O., S. 121 § 74. 60 Joint Seperate Opinion im Fall W ./. U K , Ser. A , Vol. 121, S. 39; im Fall Β ./. U K , a.a.O., S. 83; im Fall R ./. U K , a.a.O., S. 128.

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3. Teil: Familienschutz

Anspruch auf Zugang zu ihren natürlichen Kindern ableiten kann. Nur unter ganz engen Voraussetzungen, namentlich im wohlverstandenen Interesse des Kindes, kann auch dieses letzte familiäre Band gekappt werden. 6. Ausländer

Entscheidungen der nationalen Ausländerbehörden über Einreiseerlaubnisse und Ausweisungsverfügungen waren des öfteren Gegenstand von Beschwerdeverfahren vor der Kommission und dem Gerichtshof, auch und gerade soweit das Recht auf Achtung des Familienlebens betroffen war. Zumeist machte die Ausweisung eines Familienmitgliedes die Fortsetzung des Familienlebens in dem ausweisenden Staat unmöglich oder aber die fehlende Einreiseerlaubnis vereitelte die Wiederherstellung der räumlichen Familieneinheit. a) Problemstellung Maßgeblich war dabei für die Konventionsorgane, daß die E M R K weder die Einreise noch den Aufenthalt von Ausländern an sich regelt 61 . In ständiger Spruchpraxis halten sie daher daran fest, daß die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise, Einbürgerung und Aufenthalt in einem bestimmten Staat gewährt 62 . Lediglich Inländern kann die Einreise in ihr eigenes Land nicht verwehrt werden. So darf nach Art. 3 I I des ZP 4 niemandem das Recht entzogen werden, in das Hoheitsgebiet des Staates einzureisen, dessen Staatsangehöriger er ist. Ein Einreiserecht fremder Staatsangehöriger wird gerade nicht statuiert. Doch mit Beitritt zu der Konvention haben sich die Vertragstaaten verpflichtet, Beschränkungen ihrer Freiheit im Einwanderungs- und Aufenthaltsbereich hinzunehmen, sofern andernfalls der effektive Genuß der Konventionsrechte vereitelt würde 63 . So können unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Achtung des Familienlebens Durchbrechungen der Freiheit im Einwanderungs- und Aufenthaltsbereich geboten sein, wenn die strikte Inanspruchnahme dieser Freiheit bewirkte, daß Familien getrennt und ihre Einheit in einem anderen Staat nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Es ist daher anerkannt, daß " . . .the exclusion of a person from a country where close members of his family are living can amount to a violation of Article 8." 0 4 61

Frowein/Peukert, Art. 8 Rz. 23; Villiger, Fschr. Wiarda, S. 657. K E v. 10. 10. 1970 zu Β 4403/70 u. a., „East African Asians I " , CoD 36, S. 92 ff. (116); K E v. 12. 7. 1976 zu Β 7031/75, Χ ./. Schweiz, D R 6, S. 124 ff. (125); K E v. 19. 5. 1977 zu Β 7671/76 und 14 weitere Beschwerden, 15 ausländische Studenten ./. U K , D R 9, S. 185 ff. (187); K E v. 6. 5. 1981 zu Β 8245/78, X ./. U K , D R 24, S. 98 ff. (99). 63 K E v. 30. 6. 1959 zu Β 434/58, Χ ./. Schweden, Yb 2 (1958/59), S. 354 ff. (372). 62

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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Aus dem Blickwinkel der Konventionsstaaten ergeben sich hieraus gewichtige Folgen für ihre Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Während sie hinsichtlich rein ausländischer Familien grundsätzlich über deren Einreise und Aufenthalt frei entscheiden können 65 , müssen sie bei gemischt-nationalen Familien zumindest den inländischen Teil einreisen lassen und ihm Aufenthalt gewähren. Zu untersuchen ist nun, wie sich das Recht auf Achtung des Familienlebens auf die ausländerrechtlichen Entscheidungen der Mitgliedstaaten auswirkt. Dabei soll zwischen gemischt-nationalen und rein ausländischen Familien unterschieden werden. Zwar differenziert die E M R K nicht nach Aus- und Inländern, sondern die Konventionsstaaten sichern die Rechte allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen zu. Doch die eben geschilderten unterschiedlichen Freiräume bei der Aufnahme eigener oder fremder Staatsangehöriger könnten zu unterschiedlichen Ausprägungen auch des jeweils geschuldeten Familienschutzes führen. Entscheidende Bedeutung für die Frage, ob überhaupt ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens vorliegt, kam bislang sowohl bei gemischt-nationalen als auch rein ausländischen Familien der Möglichkeit der übrigen Familienangehörigen zu, dem Ausgewiesenen ins Ausland folgen zu können. Denn bestand die Möglichkeit, ein normales Familienleben in einem anderen als dem derzeitigen Aufenthaltsstaat führen zu können, wurde nicht das Familienleben an sich als von der ausländerrrechtlichen Maßnahme gefährdet angesehen, sondern lediglich der Aufenthaltsort der Familie. Der Weiterbestand des Familienlebens, so die Argumentation, hinge dann nicht mehr von der staatlichen Maßnahme, sondern von der Entscheidung der übrigen Familienangehörigen selbst ab, ob sie dem Ausländer in seine Heimat oder einen aufnahmebereiten Drittstaat folgen wollen oder nicht. b) Untersuchung der Spruchpraxis zu gemischt-nationalen Familien Fraglich ist, ob der Umstand, daß bei gemischt-nationalen Familien zumindest ein Angehöriger eine enge, staatsangehörigkeitsrechtlich verfestigte Beziehung zu dem Aufenthaltsstaat hat, zu ihrer Privilegierung gegenüber rein ausländischen Familien führt, indem beispielsweise an die Zumutbarkeit 64 K E v. 8. 10. 1974 zu Β 6357/73, X ./. Bundesrepublik, D R 1, S. 77 f. (77); K E v. 15. 12. 1967 zu Β 3325/67, Χ , Υ , Ζ , V & W ./. U K , Yb 10 (1967), S. 528 ff. (536); K E v. 20. 5. 1976 zu B 7216/75, X ./. Bundesrepublik, D R 5, S. 137 ff. (139); K E v. 15. 12. 1977 zu B 8041/77, X ./. Bundesrepublik, D R 12, S. 197 ff. (198); K E v. 2. 5. 1979 zu B 8244/78, Uppal u. Singh ./. U K , D R 17, S. 149 ff. (155); K E v. 6. 5. 1981 zu B 8245/78, X . / . U K , D R 24, S. 98 ff. (99). 65 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 67.

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3. Teil: Familienschutz

der Weiterführung des Familienlebens in einem anderen Staat strengere Maßstäbe angelegt werden als bei rein ausländischen Familien. Bei der Untersuchung der hierzu ergangenen Entscheidungen ist zunächst festzustellen, daß es auch inländischen Familienangehörigen grundsätzlich zugemutet wird, ihren ausländischen Angehörigen in deren Heimat oder ein Drittland zu folgen 66 . Bestand diese Möglichkeit, so wurde schon ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I E M R K abgelehnt, eine Rechtfertigung der belastenden Maßnahme gem. Art. 8 I I E M R K war daher nicht erforderlich 67 . Mit der Entscheidung über die Folgemöglichkeit wurden also die Weichen dafür gestellt, ob überhaupt ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens vorlag. Eine nähere Untersuchung der Gründe, die gegen eine Fortführung des Familienlebens im Ausland sprechen, ist daher von Bedeutung für die Ermittlung des Schutzbereichs des Rechts auf Achtung des Familienlebens. Die Kommission verfolgte hier zunächst eine äußerst enge Auslegung und verlangte, der Gründung des Familienwohnsitzes im Ausland müßten rechtliche Hinderungsgründe entgegenstehen. Vergeblich brachte daher die Ehefrau eines Zyprioten eine Reihe persönliche Gründe vor - neben Eigentum in Großbritannien und der Gewöhnung an Leben und Arbeit sowie den vergleichsweise hohen Lebensstandard vor allem ihre emotionale Abhängigkeit von ihren ebenfalls in Großbritannien lebenden Eltern 6 8 - , die sie an seiner Begleitung hinderten. Da dem Aufenthalt in Zypern keine rechtlichen Hinderungsgründe entgegenstanden, lehnte die Kommission einen Eingriff in Art. 8 I E M R K ab 69 . Später zeigte sie sich zumeist insofern großzügiger, als sie es den Familien nicht mehr zumutete, in einem Land zu leben, zu dem keiner der Angehörigen eine Beziehung hatte, das also völlig fremd war 70 . Diese Entwicklung ist insofern begrüßenswert, als sie den kulturellen Hintergrund der Familienmitglieder berücksichtigt und die zusätzliche Belastung zu vermeiden sucht, sich in vollständig unbekannten Lebensumständen zurechtfinden zu müssen. Zu eng 66 K E v. 16. 7. 1965 zu Β 2535/65, X ./. Bundesrepublik, CoD 17, S. 28 ff. (30); K E v. 15. 12. 1977 zu Β 8041/77, X ./. Bundesrepublik, D R 12, S. 197 ff. (198); K E v. 5. 5. 1981 zu Β 9203/80, X ./. Dänemark, D R 24, S. 239 ff. (240). 67 K E v. 16. 7. 1965 zu Β 2535/65, X ./. Bundesrepublik, CoD 17, S. 28 ff. (30); K E v. 15. 12. 1967 zu Β 3325/67, Χ , Υ , Ζ , V & W ./. U K , Yb 19 (1967), S. 528 ff. (536); K E v. 10. 10. 1970 zu Β 4403/70 u. a., „East African Asians I " , CoD 36, S. 92 ff. (116); K E zu Β 5269/71, X u. Y ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (107); K E v. 12. 7. 1976 zu B 7031/75, X ./. Schweiz, D R 6, S. 125 ff. (125). 68 K E v. 8. 2. 1972 zu B 5269/71, X u. Y ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (105). 69 K E v. 8. 2. 1972 zu B 5269/71, X u. Y ./. U K , CoD 39, S. 104 ff. (108). Allein auf rechtliche Hinderungsgründe stellte die Kommission auch noch in einigen späteren Entscheidungen ab, z. B. K E v. 19. 5. 1977 zu Β 7671/76 und 14 weitere Beschwerden, 15 ausländische Studenten ./. U K , D R 9, S. 185 ff. (187). 70 K E v. 3. 10. 1972 zu Β 5301/71, X ./. U K , CoD 43, S. 82 ff. (84).

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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erscheint es dabei aber, wenn nur in diesem Ausnahmefall auf die Forderung nach rechtlichen Hinderungsgründen verzichtet wird. Denn nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Gründe können so schwerwiegend sein, daß sie den übrigen Familienangehörigen die Begleitung unzumutbar machen. In diesen Fällen ist der Bestand der Familie ebenso gefährdet wie bei Vorliegen rechtlicher Hindernisse. Allmählich wurde dies auch von der Kommission anerkannt, die sich schließlich in der Anerkennung beachtlicher Hinderungsgründe immer großzügiger zeigte. Sie stellte auf "serious obstacles preventing the entire family from . . . rejoining" 71

oder sogar bloß auf "practicability and reasonableness of the close members of the family concerned accompanying or following the applicant" 72

ab. In ihren neuesten Entscheidungen war maßgeblich, ob „any unsurmountable obstacles" der Fortführung des Familienlebens in einem anderen Staat entgegenstanden73. Doch nach wie vor wurden hier recht hohe Anforderungen an die Hinderungsgründe gestellt; ein längerer Aufenthalt, Verwandte und Freunde oder eine Beschäftigung im Aufenthaltsstaat reichten nicht aus 74 . Dennoch ist insgesamt eine zunehmend großzügige Praxis bei der Anerkennung von Hinderungsgründen zu vermerken, die in einigen Fällen sogar zu der Annahme von Eingriffen in das Recht auf Achtung des Familienlebens führte (die dann allerdings gem. Art. 8 I I E M R K gerechtfertigt wurden). So beurteilte die Kommission im Fall einer mit einem Ägypter verheirateten Dänin die Ausweisung des Ehemannes, der eine vierjährige Haftstrafe wegen eines Drogendelikts verbüßt hatte, als Eingriff in Art. 8 I EMRK. Die dänische Ehefrau hatte Arbeit und Wohnung in Dänemark und erwartete ein Kind 7 5 . Die etwas großzügigere Anerkennung von Hinderungsgründen führt zu einer deutlichen Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 8 I E M R K , da aus71

K E v. 6. 5. 1981 zu Β 8245/78, X ./. U K , D R 24, S. 98 ff. (100). K E v. 8. 12. 1981 zu Β 9478/81, Χ ./. Bundesrepublik, DR 27, S. 243 ff. (244). 73 K E v. 6. 3. 1982 zu Β 9088/80, Χ ./. U K , D R 28, S.160 ff. (162); K E ν. 6. 7. 1982 zu Β 9285/81, X , Y u. Ζ ./. U K , D R 29, S. 205 ff. (209); K E v. 14. 7. 1982 zu B 9492/81, Familie X ./. U K , D R 30, S. 232 ff. (234). 74 So wurde die Rückkehr einer in Großbritannien lebenden zyprischen Familie in den türkischen Sektor Zyperns für zumutbar gehalten, obwohl fast alle Verwandten in Großbritannien lebten und der älteste Sohn seine Studien abbrechen mußte, K E v. 14. 7. 1982 zu Β 9492/81, Familie X ./. U K , D R 30, S. 232 ff. (234 f.). 75 K E v. 5. 5. 1981 zu Β 9203/80, X ./. Dänemark, D R 24, S. 239 ff. (240). Eingriffe in das Familienleben wurden auch angenommen in K E v. 19. 5. 1977 zu Β 7816/77, X u. Y ./. Bundesrepublik, D R 9, S. 219 ff. (221) wegen nicht näher spezifizierter „serious obstacles", und K E v. 15. 12. 1977 zu Β 8041/77, X ./. Bundesrepublik, D R 12, S. 197 ff. (199), wo die Einreiseverweigerung der Ehefrau wegen ihrer kriminellen Vergangenheit absehbar war. 72

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3. Teil: Familienschutz

länderrechtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten dann, wenn sie die nur auf ihrem Gebiet zumutbar aufrechtzuerhaltende Familieneinheit gefährden, rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in Art. 8 I E M R K darstellen. Je enger die Zumutbarkeit ausgelegt wird, desto größer wird die Zahl rechtfertigungsbedürftiger Eingriffe. Insofern führt die Liberalisierung bei der Anerkennung von Hinderungsgründen zu einer Effektivierung des Familienschutzes, da ausländerrechtliche Maßnahmen verstärkt der Kontrolle des Art. 8 E M R K unterworfen werden. Fortgeführt wurde diese Liberalisierung in der kürzlich ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs im Fall Berrehab, auf die sogleich eingegangen werden soll. Bislang hatte der Gerichtshof wenig Gelegenheit, sich zu dem Problemkreis „Ausländerrecht und Familienleben" zu äußern. Seine Ausführungen im Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali 76 lassen erkennen, daß auch er nicht allein die rechtliche Möglichkeit der Begleitung für entscheidend hält, sondern auch auf die Zumutbarkeit der Weiterführung des Familienlebens im Ausland abstellt. Die drei Beschwerdeführerinnen (zwei hatten die britische Staatsbürgerschaft, die dritte war nach eigenen Angaben staatenlos) wandten sich gegen die britische Einwanderungs- und Aufenthaltsgenehmigungspraxis. Sie hatten sich rechtmäßig im Vereinigten Königreich niedergelassen und später Ausländer geheiratet. Bis auf die Beschwerdeführerin Cabales hatten sie dann kurze Zeit mit ihren Männern in Großbritannien zusammengelebt, wobei ihnen deren unsicherer aufenthaltsrechtlicher Status bewußt war. Durch die ausländerrechtlichen Maßnahmen Großbritanniens (Ausweisung bzw. Versagung der Einreiseerlaubnis) sahen sie sich nun vor die Wahl gestellt, ihren Ehemännern in deren Heimat Portugal, Türkei oder die Philippinen zu folgen oder sich von ihnen zu trennen. Aus unterschiedlichen tatsächlichen, nicht aber rechtlichen Gründen erschien ihnen die Begleitung unzumutbar: Frau Abdulaziz hatte keine Angehörigen in Portugal und war der Landessprache nicht mächtig, zudem wollte sie sich nicht von ihren in Großbritannien lebenden Verwandten (Mutter, Geschwister) trennen 77 . Frau Cabales hatte sich in die britische Arbeitswelt integriert und sah keine berufliche Zukunft in ihrem Geburtsland und der Heimat ihres Mannes, den Philippinen 78 . Frau Balkandali, die seit 9 Jahren in Großbritannien lebte und eine Universitätsausbildung absolvierte, befürchtete, in der Türkei wegen ihrer Ausbildung und einem in England geborenen, nichtehelichen Kind als soziale Außenseiterin zu gelten 79 . Alle diese Einwände ließ der Gerichtshof jedoch nicht als Hinderungsgründe gelten, sondern hielt die Begleitung der Ehemänner in deren Heimat ungeach76 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94; dazu K E v. 11. 5. 1982 zu Β 9214/80, 9473/81 u. 9474/81, Fr. X , Cabales & Balkandali./. U K , D R 29, S. 176 ff. 77 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 24 § 43. 7 » E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 27 § 49. 79 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 29 § 54.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

287

tet der einschneidenden Änderungen im Leben der Familien und insbesondere der Frauen für zumutbar. Er hob zusätzlich auf die Vorhersehbarkeit der ausländerrechtlichen Maßnahmen ab: Den Beschwerdeführerinnen sei der unsichere aufenthaltsrechtliche Status ihrer Ehemänner bekannt gewesen80. Der Vorhersehbarkeit kommt also insofern Bedeutung zu, als sie das Vertrauen auf künftigen Verbleib im Aufenthaltsstaat einschränkt. Dem ausweisenden Staat kann dann nicht entgegengehalten werden, die Beziehungen zum Aufenthaltsstaat seien so verfestigt, daß auch aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Übersiedlung unzumutbar sei. Der Gerichtshof verstand also die Zumutbarkeit der Begleitung recht weit. Die als Gegengründe geltend gemachten Beziehungen zum Aufenthaltsstaat wurden in doppelter Hinsicht für unzureichend erklärt: Zunächst waren sie schon für sich genommen nicht ausreichend, um eine Unzumutbarkeit zu begründen, und darüber hinaus konnten sie, da der Aufenthalt bekanntermaßen nicht gesichert war, keinen Vertrauensschutz begünden. Dies bedeutet, daß Ehepaare, deren einer Partner Ausländer mit ungesichertem aufenthaltsrechtlichen Status ist, mit ihren Kindern ständig unter dem Damoklesschwert der Ausweisung leben müssen. Jederzeit können sie in den Konflikt gebracht werden, das Land verlassen oder auf das Zusammenleben mit ihren Familienangehörigen verzichten zu müssen. Ihre Entscheidung, eine Existenz in dem Heimatstaat des einen Ehepartners aufzubauen, dort zu arbeiten, sich einzugliedern, kann durch eine Ausweisung jederzeit zunichte gemacht werden. Selbst wenn sich dieses Risiko nicht realisieren sollte, führt allein diese Unsicherheit schon zu einer gravierenden Belastung der Familie. Angesichts der hinter Art. 8 E M R K stehenden Wertentscheidung zugunsten der Familie und der Verpflichtung zum Schutz ihrer Einheit erscheint diese staatliche Praxis nicht unbedenklich 81 . Denn wenn auch das familiäre Zusammenleben in einem anderen Staat fortgesetzt werden kann, muß die Familie doch alle privaten und beruflichen Bindungen, die sie im Laufe der Zeit aufgebaut hat, abbrechen und in einem zumindest dem einen Ehepartner fremden Land neu begründen. In vielen Fällen verliert der inländische Ehepartner nicht nur seine Heimat, sondern muß sich darüber hinaus in einem fremden Kulturkreis und einer ihm fremden Gesellschaftsordnung zurechtfinden. Auf eben diese problematische Situation hatten die Beschwerdeführerinnen Abdulaziz, Cabales und Balkandali hingewiesen, die durch die erzwungene 8° E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 68. Diese Erwägung findet sich auch als Zusatzargument des öfteren in Entscheidungen der Kommission, z. B. schon in K E v. 16. 7. 1965 zu Β 2535/65, X ./. Bundesrepublik, CoD 17, S. 28 ff. (30); K E v. 15. 12. 77 zu Β 8041/77, X ./. Bundesrepublik, S. 197 ff. (199). si Ebenso Tomuschat, AöR 97 (1972), S. 142.

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3. Teil: Familienschutz

Wahl zwischen ihren Ehegatten oder dem Aufenthalt im Land ihr Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt sahen. Die Regierung, deren Ansicht, Art. 8 E M R K sei auf Fragen der Einwanderungskontrolle nicht anwendbar und könne daher keinerlei Rechte im Bereich der Einwanderung begründen, schon von der Kommission zurückgewiesen worden war 8 2 , brachte vor, in Wirklichkeit werde ein Recht auf Wahl des Aufenthaltstaates geltend gemacht. Darauf gewähre Art. 8 E M R K aber keinen Anspruch 83 . Dieser Argumentation folgte der Gerichtshof im wesentlichen. Er befand, hier stehe kein staatlicher Eingriff in Rede, sondern die positive Verhaltenspflicht, Ausländer in das eigene Staatsgebiet zuzulassen. Vornehmlich für Bereiche, in denen eine weitgehend unbeschränkte staatliche Regelungskompetenz besteht, stellte der Gerichtshof einen weiten Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten fest 84 . Daher sei die Entscheidung einer gemischt-nationalen Familie über den Ort ihres Zusammenlebens nicht generell zu akzeptieren: "The duty imposed by Article 8 cannot be considered as extending to a general obligation on the part of a Contracting State to respect the choice by married couples of the country of their matrimonial residence and to accept the non-national spouses for settlement in that country." 85

Somit ließen die ausländerrechtlichen Maßnahmen keinen mangelnden Respekt des Familienlebens erkennen, da Großbritannien nicht zur Aufnahme der ausländischen Ehemänner verpflichtet war 86 . Dabei fällt auf, daß der Gerichtshof einen anderen Ansatz wählte als die Kommission. Er hob nicht auf einen staatlichen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens ab, sondern prüfte das Bestehen einer Verpflichtung zur Aufnahme der ausländischen Ehemänner. Es erscheint etwas verwirrend, daß der Gerichtshof von dem üblichen Konzept abwich und statt eines Eingriffs das Bestehen einer positiven staatlichen Pflicht untersuchte. Es fragt sich vor allem, auf welche Fallkonstellationen dieser „positive Ansatz" Anwendung finden soll. Der Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali weist nämlich im Vergleich zu den bislang untersuchten Fällen eine Besonderheit insoweit auf, als die Entwicklung der von Art. 8 I E M R K geschützten familiären Beziehungen erst begonnen hatte, nachdem die Beschwerdeführerinnen einen gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status in Großbritannien erlangt hatten. In allen 82

K E v. 11. 5. 1982 zu Β 9214/80 u. a., Fr. X , Cabales & Balkandali./. U K , D R 29, S. 176 ff. (183). 83 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 32 § 61. EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 67. 85 EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 68. 86 Bejaht wurde aber ein Verstoß gegen Art. 8 i. V. m. Art. 14 E M R K , da es für Männer leichter war als für Frauen, Einreise- oder Aufenthaltsgenehmigungen für ihre ausländischen Ehepartner zu erhalten, E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Ser. A , Vol. 94, S. 35-39.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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anderen Fällen bestanden sie schon vor der Ausreise in ein anderes Land. So grenzte der Gerichtshof seinen Ansatz auch folgendermaßen ein: "The Court observes that the present proceedings do not relate to immigrants who already had a family which they left behind in another country until they had achieved settled status in the U K . It was only after becoming settled in the U K , as single persons, that the applicants contracted marriage." 87

Worin sich ein solcher Fall allerdings so gravierend von Situationen unterscheidet, in denen die Familiengründung schon vor der Einreise in den Konventionsstaat erfolgte, bleibt offen. Allenfalls für den Aufnahmestaat kann der Zeitpunkt der Familiengründung von Bedeutung sein, da er die Existenz einer Familie dann bei der Entscheidung, ob er den Ausländer aufnimmt, berücksichtigen kann. Für die Betroffenen steht sicherlich immer im Vordergrund, daß sie in einem Land, in dem sie sich rechtmäßig aufhalten und in dem sie Wohnung, Arbeit, ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben, nicht mit dem Partner ihrer Wahl zusammenleben können. Daß hier auch gut ein anderer Ansatz vertreten und ein staatlicher Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens angenommen werden kann, zeigen die Sondervoten der Richter Bernhardt und Vilhjlmsson, die einen (gerechtfertigten) Eingriff annahmen 88 und damit im Ergebnis nicht vom Urteil des Gerichtshofs (keine Verletzung des Art. 8 EMRK) abwichen. Die angesprochenen dogmatischen Unterschiede wirken sich also im Ergebnis nicht aus und sollten nicht überbewertet werden. Auch der Gerichtshof lehnte nicht von vornherein eine staatliche Pflicht zur Aufnahme ausländischer Familienangehöriger ab, sondern sprach sich nur gegen eine dahingehende generelle Verpflichtung aus 89 . Letztlich bleibt es sich gleich, ob man schon eine staatliche Verpflichtung unter Heranziehung der im Rahmen des Abs. I I anzustellenden Überlegungen ablehnt („positiver Ansatz") oder ob man eine umfassende Pflicht annimmt, diese aber sogleich in einem zweiten Schritt über die Rechtfertigungsgründe einschränkt („negativer Ansatz"). Hier wie dort spielen dieselben Erwägungen mit gleichem Gewicht eine Rolle, so daß in keinem Fall die Gefahr eines Abwägungsdefizits besteht. Im konkreten Fall wird dies anschaulich demonstriert durch das Sondervotum, in dem der dort angenommene Eingriff aus denselben wirtschaftlichen Erwägungen gerechtfertigt wird, die der Gerichtshof zur Begrenzung der staatlichen Verpflichtung herangezogen hatte.

87 E G M R , Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 68. 88 Concurring Opinion im Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 47. Dazu schon oben, 12. Kapitel, Text zu Fn. 30. 89 EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz, Cabales & Balkandali, Ser. A , Vol. 94, S. 34 § 68.

19 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

Nicht mit einer Ablehnung der Einreiseerlaubnis, sondern mit der Ausweisung eines Ausländers war der Gerichtshof in seinem letzten Fall zu Art. 8 E M R K befaßt. Das im Fall Berrehab ergangene Urteil wirft die Frage auf, ob und inwieweit nunmehr eindeutig eine liberale Spruchpraxis begründet wurde. Der Beschwerdeführer, marokkanischer Staatsangehöriger, lebte in den Niederlanden mit seiner niederländischen Ehefrau zusammen, die ein Kind von ihm erwartete. Noch vor dessen Geburt reichte sie die Ehescheidung ein. Mit dem Beschwerdeführer einigte sie sich, er dürfe sein Kind mehrmals wöchentlich für einige Stunden sehen. Kurze Zeit später wurde er jedoch ausgewiesen, seine Beschwerden blieben erfolglos. Um den Kontakt zu seinem Kind nicht abreißen zu lassen, besuchte ihn seine geschiedene Frau mit Kind in Marokko. Seinen Gegenbesuch in den Niederlanden mußte er auf einen Monat beschränken, da sein Visum nicht verlängert wurde. Die Situation verbesserte sich entscheidend, als er schließlich die Mutter seines Kindes zum zweiten Mal heiratete: Problemlos erhielt er eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Niederlande 90 . Der Beschwerdeführer machte geltend, die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis und die Ausweisung nach seiner Scheidung hätten ihn in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt. Kommission 91 und Gerichtshof stimmten dem zu. In das auch nach der Scheidung durch zahlreiche und intensive Kontakte mit dem Kind aufrechterhaltene Familienleben sei durch die gerügten Maßnahmen eingegriffen worden. Nicht überzeugend wirkte dagegen das Vorbringen der niederländischen Regierung, der Beschwerdeführer habe sein Besuchsrecht schließlich durch ständige Reisen von Marokko in die Niederlande wahrnehmen können. Denn angesichts der beträchtlichen Entfernung und der finanziellen Schwierigkeiten des Beschwerdeführers sei dies eine rein theoretische Möglichkeit, das Familienleben aufrechtzuerhalten 92. Dem ist uneingeschränkt beizupflichten. Denn könnte ein Verweis auf zwar theoretisch mögliche, aus praktischen Gründen aber ganz offensichtlich nicht realisierbare Alternativen zur Ablehnung eines Eingriffs führen, würde der Schutz der Konventionsgarantien vollkommen entwertet. Die Konvention würde zu einer stumpfen Waffe gegen staatliche Eingriffe in ihre Rechte, was mit ihrem Grundanliegen unvereinbar ist. Die Berrehab-Entscheidung verdeutlicht somit, daß zwar in vielen Konstellationen von dem Betroffenen nach wie vor verlangt werden kann, die familiären Kontakte anders als durch Verbleib in dem Gastland aufrechtzuerhalten. Es muß jedoch die realistische Möglichkeit hierzu bestehen, eine nur theoretisch denkbare Alternative reicht nicht aus. Die Entscheidung hebt sich mit 90 EGMR, Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 8 ff. §§ 7-13. 91 E G M R , Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 13 § 19. 92 EGMR, Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 14 §§ 22, 23.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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ihrer Betonung der Praktikabilität positiv von den bislang erörterten Entscheidungen vor allem der Kommission ab. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß hier nicht die Beziehungen erwachsener Ehepartner, sondern das Verhältnis eines Vaters zu seinem kleinen und daher besonders schutzwürdigen Kind zu untersuchen war. Es kann aber vermutet werden, daß die gerichtlichen Ausführungen nicht auf Fälle dieser Art beschränkt bleiben sollten, sondern ebenso auf das Verhältnis anderer Familienmitglieder Anwendung finden könnten. Wenn auch derzeit noch nicht sicher davon ausgegangen werden kann, so spricht doch für eine Übertragung etwa auch auf Ehegatten, daß damit der schon eingeschlagene Weg zu einer liberalen Auslegung des Art. 8 E M R K fortgeführt würde, denn auch in Entscheidungen betreffend das Zusammenleben erwachsener Ehepartner wurden schon familienfreundliche Maßstäbe an die Zumutbarkeit der Weiterführung der Gemeinschaft im Ausland angelegt. Doch ließen die Ausführungen oft genug noch Wirklichkeitsnähe oder Verständnis für die menschlichen Konflikte, die gravierende Belastung des Zusammenlebens vermissen. Denn kann wirklich ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß der inländische Ehepartner ohne weiteres seinen gesicherten Status, seine Wohnung, Arbeit und seinen Freundeskreis aufgibt, um seinem Ehepartner in dessen oft völlig fremde Heimat zu folgen, in eine völlig ungewisse Zukunft also? Liegt nicht der Schluß näher, daß an dieser Konfliktsituation die Ehe schließlich zerbricht? Es ist daher ein bedeutender Fortschritt für die Verwirklichung eines effektiven Familienschutzes, wenn bei der Beurteilung dieser Konflikte nicht allein auf das rechtlich mögliche oder theoretisch denkbare, sondern auf das zumutbarerweise zu erwartende Verhalten abgestellt wird, wie dies im Fall Berrehab geschah. Insoweit bedeutet dieses Urteil tatsächlich einen Einschnitt in der Rechtsprechung der Konventionsorgane, eine Wende hin zu einer effektiven Verwirklichung des Familienschutzes. Festzuhalten bleibt, daß nach Ansicht der Konventionsorgane den Mitgliedstaaten zwar keine generelle Verpflichtung obliegt, ausländische Familienangehörige in ihr Staatsgebiet aufzunehmen und damit die Entscheidung der Familie über ihren Aufenthaltsort zu akzeptieren. Aus der geschilderten Spruchpraxis ergibt sich einerseits, daß die Regelungs- und Entscheidungsfreiheit der Konventionsstaaten im Bereich des Ausländerrechts durch Art. 8 E M R K zwar eingeschränkt wird, doch andererseits wird auch dem staatlichen Entscheidungsspielraum gebührend Rechnung getragen. Das geschieht dadurch, daß grundsätzlich von der Familie verlangt wird, ihr Zusammenleben im Ausland fortzusetzen, sofern dies rechtlich möglich und tatsächlich zumutbar ist. Doch die Grenze der staatlichen Entscheidungsfreiheit ist jedenfalls dann erreicht, wenn die Familieneinheit weder in der Heimat des Ausländers noch in einem Drittstaat aus rechtlichen oder schwerwiegenden tatsächlichen Gründen wiederhergestellt werden kann oder das Familienleben aus praktischen Gründen nicht anders als durch Verbleib im Gastland aufrechter1*

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halten werden kann. Denn dann hängt der Fortbestand der Familie nicht mehr von der privaten Entscheidung ihrer Mitglieder ab, sondern von der ausländerrechtlichen Entscheidung des Konventionsstaates, der sich in einem solchen Fall dem Vorwurf mangelnder Achtung des Familienlebens aussetzt. c) Untersuchung der Spruchpraxis zu rein ausländische Familien Im Unterschied zu den bislang erörterten Fällen geht es nunmehr um Familien, deren Angehörige typischerweise keine verfestigte staatsangehörigkeitsrechtliche Beziehung zu dem Land besitzen, in dem der Familienwohnsitz begründet werden soll. Im Gegensatz zur Einreise eigener Staatsangehöriger, die zu gestatten der Mitgliedstaat verpflichtet ist, beruht die Erteilung der Einreise· und Aufenthaltserlaubnis für Ausländer auf einer freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung der Staaten93. Im Mittelpunkt steht die Frage des Nachzuges ausländischer Familienangehöriger zu einem sich legal in einem Konventionsstaat aufhaltenden Ausländer. In den Zeiten des Arbeitskräftemangels waren solche Entscheidungen hauptsächlich im Hinblick auf ausländische Arbeitnehmer zu treffen. Das staatliche Interesse an der Arbeitskraft sog. „Gastarbeiter" führte zu der Situation, daß (zumeist männliche) potentielle Arbeitnehmer erwünscht, ihre Familien aber eher als wirtschaftliche und soziale Belastung empfunden wurden. Diese verblieben daher i.d.R. im Ausland, während der Erwerbstätige eine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Soll nun die Trennung der Familie aufgehoben werden, stellt sich die Frage, ob das Gastland des Ausländers zur Aufnahme seiner Angehörigen verpflichtet ist. Ein Anknüpfungspunkt für eine solche Verpflichtung könnte in der freiwilligen Aufnahme des Ausländers zu sehen sein. Das Gastland könnte gehalten sein, seine familiären Beziehungen zu respektieren und ihn nicht isoliert als Einzelperson, als willkommene Arbeitskraft zu behandeln 94 . Die Annahme einer solchen Pflicht führte allerdings zu einer Besserstellung ausländischer gegenüber gemischtnationalen Familien, denen ja, wie soeben ausgeführt wurde, oft genug die Fortführung ihres Familienlebens im Ausland zugemutet wird. Ungewöhnlich erscheint diese Lösung insbesondere deshalb, weil die Bindungen zumindest eines Familienangehörigen an den Aufenthaltsstaat sehr intensiv sind, während der Lebensmittelpunkt einer ausländischen Familie (jedenfalls vor der Ausreise eines Mitgliedes) typischerweise im Ausland liegt. Die Kommission lehnt eine Verpflichtung zum Nachzug ausländischer Familienangehöriger grundsätzlich ab unter Hinweis auf die Entscheidungsfreiheit der Konventionsstaaten im ausländerrechtlichen Bereich 95 . Daß dies 93 94

Tomuschat, AöR 100, S. 411; Kammermann, Familiennachzug, S. 148. Tomuschat, AöR 100 (1975), S. 411; Kammermann, Familiennachzug, S. 148.

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jedoch nicht uneingeschränkt gilt, sondern daß auch die Einwanderungsgesetzgebung an den Konventionsgarantien zu messen ist, hatte schon der wohl bekannteste Fall in diesem Bereich, Alam und Khan ./. Großbritannien gezeigt, der zu einer Ergänzung der britischen Einwanderungsgesetzgebung führte 96 . Der damals schon mehrere Jahre in Großbritannien lebende Pakistani Mohamed Alam hatte mehrmals vergeblich versucht, eine Einreiseerlaubnis für seinen minderjährigen Sohn Mohamed Khan zu erlangen. Nachdem die Kommission die dagegen erhobene Beschwerde für zulässig erklärt hatte 97 , wurde später eine gütliche Einigung erzielt und Mohamed Khan die Einreise gestattet. Bei Beschwerden ausländischer Familien sind dieselben Kriterien entscheidungserheblich wie bei jenen gemischt-nationaler Familien, insbesondere die Möglichkeit, ein normales Familienleben im Ausland führen zu können. Wie hoch auch hier die Anforderungen sind, verdeutlicht der Fall eines amerikanischen Journalisten und ehemaligen CIA-Mitarbeiters, der sich gegen seine Ausweisung aus Großbritannien wehrte, wo er mit seiner brasilianischen Ehefrau und seinen zwei Kindern mehrere Jahre gelebt hatte 98 . Er befürchtete, wegen seiner Veröffentlichungen über die Tätigkeiten der C I A in USA als dem einzigen Staat, wo er sich legal aufhalten könne, verfolgt zu werden. Auch äußerte er begründete Zweifel, ob seiner Frau ein Einreisevisum erteilt werden würde. Deren Rückkehr in ihre Heimat Brasilien stand entgegen, daß sie dort schon gefoltert und inhaftiert worden war. Dennoch hielt die Kommission den Verbleib der Familie in Großbritannien nicht für zwingend, da beide Ehepartner Ausländer waren, die nur vorübergehend in diesem Staat lebten und zudem nicht dargelegt hätten, daß ihnen Vorkehrungen unmöglich seien, ein gemeinsames Leben im Ausland führen zu können. Ein Eingriff in das Familienleben wurde daher ungeachtet „some disturbances in the applicant's family life" abgelehnt 99 . Ist somit auch bei Beschwerden rein ausländischer Familien die Möglichkeit, dem Ausgewiesenen folgen zu können, ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Entscheidung, ob die ausländerrechtliche Maßnahme in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreift, so fragt es sich weiter, ob diesem Gesichtspunkt auch hier wieder dieselbe Schlüsselstellung zukommt wie bei den Beschwerden gemischt-nationaler Familien. Spricht also die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Begleitung gegen einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Art. 8 I EMRK? 95 Z. B. K E V. 9. 3. 1977 zu Β 7048/75, X ./. U K , D R 9, S. 42 ff. (43); K E v. 8. 12. 1981 zu Β 9478/81, Χ ./. Bundesrepublik, D R 27, S. 243 ff. (244). 96 Kammermann, Familiennachzug, S. 141. 97 K E v. 15. 7. 1967 zu B 2991/66, Alam und Khan ./. U K , CoD 24, S. 116 ff. 98 K E v. 17. 12. 1976 zu B 7729/76, Agee ./. U K , D R 7, S. 164 ff. 99 K E v. 17. 12. 1976 zu B 7729/76, Agee ./. U K , D R 7, S. 164 ff. (173 f. §§ 15-17).

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3. Teil: Familienschutz

In der soeben geschilderten Entscheidung Agee ./. Großbritannien wurde dies noch so beurteilt 100 . Eine partielle Änderung der Sichtweise deutet sich in einem kurz darauf entschiedenen Fall an, in dem die Kommission zwar wieder einen Eingriff ablehnte, da ein ausländisches Paar grundsätzlich kein Recht auf einen gemeinsamen Wohnsitz in einem bestimmten Konventionsstaat habe, dabei aber ausdrücklich offenließ, ob eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis des einen Partners die Lage ändern könnte 101 . In der Beschwerde einer indischen Großfamilie gegen die Ausweisung des Elternpaares, während die sich legal im Land aufhaltenden Großeltern und Kinder hätten bleiben dürfen, wurde nicht schon deshalb ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens abgelehnt, weil das Zusammenleben in einem anderen Staat hätte fortgesetzt werden können 102 . Die Beschwerde wurde vielmehr zugelassen, ohne daß das Vorbringen der Regierung untersucht wurde, die Familie können gemeinsam in Indien leben. Dies legt den Schluß nahe, daß die Kommission diesem Aspekt zumindest keine allein entscheidende Bedeutung bei der Beurteilung eines möglichen Eingriffs beimaß. Sein früheres Gewicht scheint der Verweis auf die mögliche Fortsetzung des Familienlebens im Ausland auch in einigen späteren Entscheidungen der Kommission eingebüßt zu haben. Denn selbst dann, wenn die Zumutbarkeit der Begleitung bejaht wurde, wurde die Ausweisung als Eingriff in Art. 8 I E M R K verstanden. So wurde beispielsweise der Ehefrau eines Pakistani, dessen Eltern und Geschwister sich schon einige Zeit rechtmäßig in Großbritannien aufhielten, die Übersiedlung nach Pakistan zugemutet, da sie ebenfalls aus Pakistan stamme, dies aber gleichzeitig als (gerechtfertigter) Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens gewertet 103 . In den Fällen also, in denen andere Familienmitglieder aufgrund ihres gesicherten Aufenthaltsrechts im Land bleiben konnten, nahm die Kommission einen Eingriff an ungeachtet der Frage, ob diese Familienangehörigen dem Ausgewiesenen ins Ausland folgen konnten 104 . Doch inwieweit diese Entscheidungen auf eine wirkliche Liberalisierung der Spruchpraxis schließen lassen, erscheint angesichts neuerer Entscheidungen 100

K E v. 17. 12. 1976 zu Β 7729/76, Agee ./. U K , D R 7, S. 164 ff. (173 § 16). K E v. 9. 3. 1977 zu Β 7048/75, X ./. U K , D R 9, S. 42 ff. (43). 102 K E v. 2. 5. 1979 zu Β 8244/78, Uppal und Singh ./. U K , D R 17, S. 149 ff. (155). Eine Entscheidung in der Sache selbst erübrigte sich, da die Ausweisung zurückgenommen wurde (KBer. v. 9. 7. 1980, D R 20, S. 29 ff.). 103 K E v. 6. 3. 1982 zu Β 9088/80, X ./. U K , D R 28, S. 160 ff. (162); ähnlich K E ν. 6. 7. 1982 zu Β 9285/81, Χ , Y & Ζ ./. U K , D R 29, S. 205 ff. (209). Auch in K E v. 19. 1. 1984 zu Β 9330/81, Bulus ./. Schweden, D R 35, S. 57 ff., wurde die Ausweisung eines syrischen Jugendlichen als Eingriff in Art. 8 I E M R K verstanden, da seine Mutter und Schwester in Schweden bleiben durften. Später wurde eine gütliche Einigung erzielt; die Familie blieb in Schweden (KBer v. 8. 12. 1984, D R 39, S. 75 ff.). 104 Ähnlich Frowein/Peukert, E M R K , Art. 8 Rz. 23. 101

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fraglich, in denen bei vergleichbaren Fallkonstellationen Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens abgelehnt wurden. Eine dieser neueren Entscheidungen betraf eine zyprische Familie, deren Mitglieder - ein Ehepaar mit vier minderjährigen Kindern - sämtlich ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in Großbritannien lebten. In der Ausweisung der Eltern und des ältesten Sohnes sah die Kommission keinen Eingriff, da keine Anhaltspunkte dafür vorlagen, daß nicht die ganze Familie nach Zypern zurückkehren konnte 105 . Etwas anders gelagert war der Fall einer Indonesierin, die 1970 als Studentin in die Bundesrepublik einreiste, um mit ihrem ebenfalls studierenden indonesischen Ehemann dort zusammenzuleben. 1973 erhielt die Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltserlaubnis, um ihre mittlerweile um zwei Kinder erweiterte Familie unterhalten zu können. Die Erlaubnis galt nur bis zum Ende des Studiums und das Paar hatte schriftlich die besondere Natur der Erlaubnis sowie ihre Befristung anerkannt. 1977 wurde das Ehepaar geschieden, 1980 wurde die Aufenthaltserlaubnis der Beschwerdeführerin nicht mehr verlängert und die Ausweisung angedroht, da die vorgesehenen Bedingungen nicht mehr vorlagen. Die Kommission sah darin keinen Eingriff in Art. 81 E M R K , da die Beschwerdeführerin noch regelmäßigen Kontakt zu ihren in Indonesien lebenden Eltern hatte und daher ihre Kinder auch dort großziehen konnte 106 . Im Unterschied zu den zuvor behandelten Fällen handelt es sich bei den beiden letztgenannten Entscheidungen, in denen schon ein Eingriff verneint wurde, um Familienmitglieder, die sich illegal oder nur zweckgebunden und befristet in einem Konventionsstaat aufhielten. Die übrigen Entscheidungen, die einen Eingriff annahmen, betrafen hingegen Familien, die sich - bis auf den Ausgewiesenen - rechtmäßig und regelmäßig nicht nur für kurze Zeit in einem Konventionsstaat aufhielten. Damit kann nun der Bereich umgrenzt werden, in dem die Kommission ihre Spruchpraxis liberalisierte; sie betrifft nur die letztgenannte Konstellation. Festzuhalten ist, daß die Kommission in diesen Fällen einen Eingriff auch dann annimmt, wenn die Angehörigen dem Ausgewiesenen folgen könnten. Darüber hinaus wird bei den Familienangehörigen vorausgesetzt, daß sie enge familiäre Beziehungen zu dem Ausgewiesenen unterhalten, daß also ein tatsächlich gelebtes Familienleben besteht 107 . Dies verwundert nicht weiter, da damit nur die Voraussetzung angesprochen ist, unter der Art. 8 E M R K überhaupt eingreift („Familienleben"). Der Anwendungsbereich der Vorschrift scheint aber insofern etwas eingeschränkt zu werden, als es sich um nahe Verwandte handeln muß. Wie eng dies ausgelegt wird, kann hier abschließend nicht beurteilt werden, da bislang noch keine Zweifelsfälle auf105 K E v. 14. 7. 1982 zu Β 9492/81, Familie X ./. U K , D R 30, S. 232 ff. (234). 106 K E v. 14. 7. 1982 zu Β 9478/81, X ./. Bundesrepublik, D R 27, S. 243 ff. (245). 107 K E v. 14. 7. 1982 zu Β 9492/81, Familie X ./. U K , D R 30, S. 232 ff. (234).

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3. Teil: Familienschutz

tauchten. Positiv entschieden wurde jedenfalls für Ehegatten, Kinder, Eltern und Geschwister. d) Vergleich der untersuchten Spruchpraxis Vergleicht man nun die Entwicklung bei den Entscheidungen zu rein ausländischen Familien mit jenen zu gemischt-nationalen Verbindungen, so fällt auf, daß bei ersteren weitaus eher ein Eingriff in das Familienleben angenommen wurde als bei letzteren, und zwar selbst dann, wenn die übrigen Familienangehörigen den Ausländer hätten begleiten können. Bei gemischt-nationalen Familien wurde unter diesen Umständen regelmäßig ein Eingriff abgelehnt mit der Folge, daß eine Rechtfertigungspflicht entfiel. Eingriffe wurden in den Entscheidungen über gemischt-nationale Familien hingegen angenommen, wenn es den Angehörigen unzumutbar war, dem Betroffenen ins Ausland zu folgen. Diese großzügigere Behandlung rein ausländischer Familien mag auf die Überlegung zurückzuführen sein, daß anders als bei eigenen Staatsangehörigen, die vom Heimatstaat aufgenommen werden müssen, der Aufnahmestaat bei der Einreise und Aufenthaltserlaubnis von Ausländern eine bewußte Entscheidung trifft, indem er willentlich und wissentlich auf seine Freiheit verzichtet, diesen Ausländer nicht aufnehmen zu müssen. A n diesem vorsätzlichen Verzicht kann - und sollte - der Staat dann auch festgehalten werden, wenn es um die Einreise und den Aufenthalt der (ausländischen) Familienangehörigen geht. Denn ein längerer Aufenthalt im Ausland kann zu einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes führen, insbesondere dann, wenn die Familie legal in dem Konventionsstaat zusammenlebt 108 . Inwieweit hier das Urteil im Fall Berrehab eine Wende hin zu einer großzügigeren Annahme von Eingriffen auch bei gemischt-nationalen Familien bedeutet, bleibt zunächst noch abzuwarten. Denn wie geschildert war die Situation insofern eine besondere, als nicht die Beziehungen zweier erwachsener Partner zu beurteilen waren, sondern eines Vaters zu seinem kleinen Kind, ein Bereich also, in dem sich die EMRK-Organe ohnehin großzügiger verhalten als bei den Beziehungen erwachsener Personen. e) Untersuchung der ausländerrechtlichen in einigen Konventionsstaaten

Praxis

Gestatten nun die Konventionsstaaten - ohne hierzu verpflichtet zu sein die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern (z. B. zu Erwerbszwecken), so dürfen sie die familiären Bindungen des Ausländers nicht unberücksichtigt lassen, sondern müssen ihm ein normales Familienleben auf ihrem Territo108

Huber, in: Barwig/Lörcher/Schumacher, Familiennachzug, S. 36

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rium ermöglichen . Die meisten Konventionsstaaten verfolgen denn auch eine familienfreundlichere Politik, als sie nach der Spruchpraxis der EMRKOrgane gehalten wären. So erkennen manche Länder einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug an, beispielsweise Belgien, Schweden, Dänemark oder die Schweiz 110 . Zumeist wird der Familiennachzug jedoch durch das Aufstellen weiterer Voraussetzungen wie Nachzugsfristen, Nachweis einer Wohnung oder einer Arbeit reguliert 111 . Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Urteil des französischen Conseil d'Etat über die Aufhebung eines Dekrets, das die liberale Nachzugspraxis für Ehegatten und Kinder von in Frankreich lebenden Ausländern dahingehend einschränkte, daß der Nachzug für drei Jahre suspendiert wurde, sofern die Familienangehörigen nicht auf die Aufnahme einer Beschäftigung verzichteten 112 . Aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der Präambel der Verfassung vom 27. 10. 1946, auf die sich die Verfassung vom 4. 10. 1958 bezieht, leitete der Conseil d'Etat das Recht eines sich ordnungsgemäß in Frankreich aufhaltenden Ausländers ab, ebenso wie französische Staatsangehörige ein normales Familienleben führen zu können. Eingeschlossen sei dabei die Befugnis, Ehegatten und Kinder nachreisen zu lassen, ohne daß dies von vornherein unter die generelle Bedingung des Verzichts auf Erwerbstätigkeit gestellt werden dürfe. Das deutsche BVerwG geht in seiner Rechtsprechung nicht so weit, da nach seiner Auslegung Art. 6 I GG unmittelbar kein Recht auf Aufenthalt im Geltungsbereich des Ausländergesetzes gewährleistet 113 . Vielmehr seien im Aufenthaltsrecht Verfassungsrang und Schutzgehalt des Grundrechts zu berücksichtigen. Das Schutzgebot in Art. 6 I GG wird so lediglich als „wertentscheidende Grundsatznorm" bei der gebotenen Güter- und Interessenabwägung berücksichtigt 114 , wobei im wesentlichen dieselben Kriterien wie in der Konventionsrechtsprechung Anwendung finden: „Rein ausländische Familien genießen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts regelmäßig nicht einen so weitreichenden Schutz wie ausländische Ehegatten von deutschen Staatsangehörigen. Ausländer können den Nachzug zu ihren ausländischen Familienangehörigen im Bundesgebiet nicht ohne weiteres verlangen, selbst wenn sie 109

Tomuschat, AöR 100 (1975), S. 411; Kammermann, Familiennachzug, S. 148. Zusammenfassend Thomsen, in: Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, Bd. 2, S. 1939, unter Angabe weiterer Nachweise in den Länderberichten, s. Fn. 41 und 42. 111 Thomsen, in: Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, Bd. 2, S. 1940. 112 Arrêt du 8 décembre 1979, Groupe d'information et de soutien des travailleurs immigrés (GISTI). Eine eingehende Besprechenung findet sich bei Tomuschat, EuGRZ 1979, S. 191 ff. u 3 BVerwGE 56, S. 246 ff. (249 f.). 114 Kritisch dazu Franz, NJW 1984, S. 532. 110

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zu dem von Art. 6 I GG geschützten Personenkreis zählen. Andererseits aber können ausländische Familien auch nicht stets darauf verwiesen werden, die Familieneinheit in ihrem Heimatstaat herzustellen. Der Familienschutz auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts soll die familiäre Gemeinschaft gewährleisten. Fehlt es an einer solchen, so kommt dem Schutzgebot aufenthaltsrechtlich kein oder nur geringes Gewicht zu." 1 1 5

Auch nach Ansicht des BVerwG drückt sich allerdings die Familieneinheit nicht notwendigerweise in einer häuslichen Gemeinschaft aus, so daß Art. 6 I GG bei Nachzugsfällen, wo eine solche ja nicht besteht, nicht schon von vornherein ausgeschlossen ist 1 1 6 . Im Unterschied zu der Ansicht des Conseil d'Etat und im Einklang mit jener der Konventionsorgane billigt das BVerwG Ausländern also grundsätzlich kein Recht zu, ihr Familienleben in dem jeweiligen Gastland führen zu können. Auf dieser Linie liegt auch die Rechtsprechung des deutschen BVerfG. Zwar wird die Konfliktsituation des Ausländers - räumliche Trennung von seiner Familie oder Verzicht auf sein Aufenthaltsrecht und ggf. seinen Erwerb - als Beeinträchtigung seines Ehe- und Familienlebens verstanden und an Art. 6 I GG gemessen117. Doch ein Eingriff in sein Familienleben soll nur dann vorliegen, wenn Art. 6 I GG für ausländische Familienangehörige einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzug zu ihren im Bundesgebiet lebenden Angehörigen gewährt, was strikt abgelehnt wird: „Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG gebietet es regelmäßig nicht, dem Wunsch eines Fremden nach ehelichem und familiärem Zusammenleben im Bundesgebiet zu entsprechen, wenn er oder sein Ehegatte hier nicht seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat." 1 1 8

Dieser hat sich nicht schon immer dann in die Bundesrepublik verlagert, wenn der Ausländer eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erlangt hat, sondern erst nach einer deutlichen wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung (die freilich nicht bis zur kulturellen Selbstaufgabe reichen muß).

115 BVerwGE 65, S. 188 ff. (193); s. auch BVerwGE 48, S. 299 ff. (304); 60, S. 126 ff. (129 f.); 61, S. 32 ff. (35, 39); 66, S. 268 ff. (272 f.). Gegen die Zumutbarkeit einer Verweisung auf den Heimatstaat spricht es etwa, wenn der nicht ausgewiesene Ehegatte seine in der Bundesrepublik erworbene Existenz verliert, mit der er seine Familie ernährt, BVerwGE 61, S. 32 ff. (39). 116 BVerwGE 65, S. 188 ff. (193, 195). 117 BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (99). Ebenso Zuleeg, D Ö V 1988, S. 588. 118 BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (102). Kritisch dazu Zuleeg, D Ö V 1988, S. 588 f. Befürwortend aber Meyer-Teschendorf, D Ö V 1989, S. 106 f., gleichzeitig mit Nachweisen über den aktuellen Streitstand.

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f) Stellungnahme und erweiternde Interpretation des Art. 8 EMRK für rein ausländische Familien aa) Recht auf ein normales Familienleben im Gastland Familienfreundlicher ist unzweifelhaft das französische Urteil, dessen Kernaussage, daß sich ordnungsgemäß in einem Konventionsstaat aufhaltende Ausländer das Recht auf ein normales Familienleben haben, uneingeschränkt zugestimmt werden kann. Sie enthält, überträgt man sie auf den EMRKBereich, gleichzeitig diejenige Auslegung des Art. 8 E M R K , die seiner Wertentscheidung für die Familie am besten Ausdruck verleiht, ohne dabei seinen Schutzbereich zu überdehnen. Ob Ausländern ein Recht auf Nachzug zu ihren Angehörigen zugestanden wird, liegt danach dem Grunde nach nicht mehr in der Sphäre staatlicher Entscheidungsfreiheit, sondern ergibt sich positiv aus der staatlichen Pflicht zur Achtung des Familienlebens. Unbestrittenermaßen haben die Konventionsstaaten zwar nach wie vor eine nahezu uneingeschränkte Freiheit, über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern zu entscheiden. Dieser Freiheit begeben sie sich aber im konkreten Fall, wenn sie ohne dahingehende Verpflichtung einen Ausländer aufnehmen. Dann greift der in der Konvention verankerte Familienschutz ein, der zur Achtung des Familienlebens verpflichtet, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine aus- oder inländische Familie handelt. Denn in Art. 1 E M R K haben sich die Vertragstaaten verpflichtet, allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die Konventionsrechte zu gewähren. „Achtung des Familienlebens" bedeutet dabei u. a., den Ausländer nicht isoliert als Einzelperson oder bloße Arbeitskraft, sondern als in familiäre Beziehungen verflochtenen Menschen zu sehen und zu respektieren. Dem Argument, das Familienleben könne schließlich auch im Ausland fortgesetzt werden, kann dann nur untergeordnete Bedeutung zukommen. Denn bezüglich des einen Familienmitgliedes hat der Aufenthaltsstaat ja gerade entschieden, dieser dürfe auf seinem Gebiet leben. Diese Entscheidung impliziert dann auch gleichzeitig, daß er in dem Gastland menschenwürdig, d. h. hier: unter Gewährung der Konventionsgarantien, leben darf. Da die Konvention die Einheit der Familie unter Schutz stellt, müssen aus diesem Gebot auch die entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen für die Familienangehörigen gezogen und ihr Nachzug grundsätzlich gestattet werden. Denn nur so kann ein Konventionsstaat die ihm aus Art. 8 E M R K obliegende Verpflichtung erfüllen, die der Gerichtshof im Fall Marckx als „obligation for the State to act in a manner calculated to allow these ties to develop normally" 1 1 9 formulierte. Dagegen wird nun häufig eingewandt, keine staatliche Stelle, sondern einzig der Entschluß des seine Heimat verlassenden Ausländers habe die Trennung 119 E G M R , Urt. v. 13. 6. 1979, Fall Marckx, Ser. A , Vol. 31, S. 21 § 45.

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der Familie herbeigeführt 120 . Dies ist sicherlich insoweit richtig, als der Aufenthaltsstaat niemanden zur Einreise und zur Aufenthaltsnahme zwingt: Er schafft lediglich Anreize 121 . Hieraus kann keinem Staat ein Vorwurf gemacht werden. Das - nach hier vertretener Auslegung - in Art. 8 E M R K eingreifende Verhalten des Konventionsstaates liegt vielmehr darin, daß er den übrigen Familienmitgliedern entgegen ihrem erklärten Willen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt nicht gestattet und damit eine Entscheidung trifft, die ihr Familienleben tangiert, das ja, wie schon mehrfach erwähnt, ungeachtet der räumlichen Trennung fortbestehen kann. Die freiwillige Entscheidung des Ausländers zur Einreise in einen EMRK-Staat kann daher auf der Ebene der Eingriffsprüfung noch keine Rolle spielen, sondern erst bei den später zu erörternden Schranken des Rechts. Ein Eingriff könnte nur dann ausscheiden, wenn der freiwilligen Aufenthaltsnahme des Ausländers ein Verzicht auf sein Recht auf Achtung des Familienlebens entnommen werden könnte. Abgesehen von der schwierigen Frage, ob und auf welche Konventionsrechte verzichtet werden kann, hieße es das Faktum der Aufenthaltsnahme überzustrapazieren, wollte man daraus einen Verzicht ableiten. Denn für die Herbeiführung einer so schwerwiegenden Rechtsfolge dürfte es erforderlich sein, daß die Erklärung ausdrücklich erfolgen und dem Verzichtenden die Konsequenz seines Tuns bewußt sein muß. Außerdem ist die Situation in den meisten Fällen dergestalt, daß der Einreisende zunächst die Entwicklung der Verhältnisse im Gastland (Arbeit, Wohnung) abwarten will, bevor er seine Familie nachkommen läßt. A n seiner diesbezüglichen Absicht ändert dies jedoch nichts. Die Freiwilligkeit der Aufenthaltsnahme steht der Annahme eines Eingriffs in Art. 8 I E M R K mithin nicht entgegen. bb) Eingrenzung des Rechts auf ein normales Familienleben im Gastland Aus der Begründung für ein Recht auf Nachzug der Familienangehörigen ergeben sich gleichzeitig seine Grenzen: Es steht und fällt mit der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. In den Fällen illegaler Wohnsitznahme nämlich hat der Staat gerade nicht seine Entscheidungsfreiheit im Einreise- und Aufenthaltsbereich eingeschränkt und kann daher nicht an seinem vorangegangenen Verhalten festgehalten werden. Die Grenzen des Rechts sind auch dort erreicht, wo dem Ausländer der Aufenthalt nur für kurze Zeit oder beschränkt auf bestimmte Zwecke, etwa das Absolvieren eines Studiums, 120 Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 205, der allerdings einschränkend bemerkt: „The question of (main) cause and effect is not always simple, however." 121 Verfehlt erscheint daher der Ansatz von Kammermann, Familiennachzug, S. 145, der aus der steigenden Zahl der Auswanderungen auf einen Zwang hierzu (vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen) schließen will.

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gestattet wird. Denn hier hat der Aufnahmestaat von vornherein darauf hingewiesen, daß er den Aufenthalt des Ausländers auf längere Zeit nicht will und einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes vorgebeugt werden soll 122 . Von der vom BVerfG angesprochenen Verlagerung des Lebensmittelpunktes, die nicht schon durch den Erhalt einer unbegrenzten Aufenthaltserlaubnis erfolgt sei 123 , ist das Recht auf Nachzug jedoch nicht abhängig. Denn schon bei Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis muß der Aufnahmestaat mit einem dauerhaften Aufenthalt des Ausländers rechnen, und ab diesem Zeitpunkt steht er unter dem menschenrechtlichen Gebot, den Ausländer nicht nur isoliert, sondern als Familienmitglied anzusehen, der ein natürliches und vitales Interesse an normalem Zusammenleben mit seinen Angehörigen hat. Ob dieses Recht allerdings aus bestimmten Gründen zulässigerweise beschränkt werden darf, wird später bei der Untersuchung der Nachzugsbestimmungen zu prüfen sein. A n der Zuerkennung des Rechts auf Zusammenleben mit der Familie auch im Gastland ändert dies jedoch nichts. Es wird nicht verkannt, daß die hier vertretene Auslegung des Art. 8 E M R K z.T. über die von den Konventionsorganen angenommene Verpflichtungswirkung hinausgeht. Während die Kommission in aller Regel auf die Möglichkeit zur Fortführung des Familienlebens im Ausland abstellt und dies den Betroffenen auch zumeist zumutet, setzt die hier befürwortete Auslegung einen anderen Akzent. Sie geht zunächst davon aus, daß ein sich rechtmäßig in einem Konventionsstaat aufhaltender Ausländer grundsätzlich nicht darauf verwiesen werden kann, entweder auf seine Familie zu verzichten oder auszureisen. Dieser Grundsatz gilt jedoch ebensowenig uneingeschränkt wie jener der Kommission, das Familienleben sei im Ausland fortzusetzen. Daher werden beide Auslegungsvarianten oft zu denselben Ergebnissen führen, wenn auch der Ansatz verschieden ist. Vorzugs würdig erscheint die hier vertretene Interpretation vor allem deshalb, weil sie zunächst einmal der aus Art. 8 E M R K resultierenden Pflicht zur effektiven Achtung des Familienlebens einen größeren Anwendungsbereich verschafft und erst in einem zweiten Schritt Einschränkungen zuläßt, die wegen der staatlichen Freiheit im Ausländerbereich geboten sein mögen. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs führt zu einer stärkeren Kontrolle und Überprüfbarkeit der ausländerrechtlichen Entscheidungen, was unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effektiven Achtung des Familienlebens begrüßenswert ist. Denn dogmatisch schlägt sich diese unterschiedliche Auslegung darin nieder, daß in weit größerem Umfang als in der Kommissionsspruchpraxis Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens angenommen werden, die den Rechtfertigungstest des Art. 8 I I E M R K bestehen müssen 124 . 122

Vgl. hierzu K E v. 8. 12. 1981 zu Β 9478/81, X ./. Bundesrepublik, D R 27, S. 243 ff. (244). * 2 3 BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (102).

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3. Teil: Familienschutz

cc) Übertragung der erweiternden Auslegung des Art. 8 E M R K auf gemischt-nationale Familien Überträgt man die Auslegung des Art. 8 I E M R K , wonach auch fremde Staatsangehörige unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf ein normales Familienleben im Gastland haben, auf die Situation gemischt-nationaler Familien, so scheint sie deren besonderer Situation besser gerecht zu werden als die restriktive Auslegung der Kommission. Denn in noch weit größerem Ausmaß als bei rein ausländischen Familien erzeugt der Verweis auf die Fortführung des Familienlebens im Ausland bei gemischt-nationalen Familien Konflikte, die dem Familienleben höchst abträglich sind und dem Gedanken eines möglichst effektiven Familienschutzes widersprechen 125 . Zudem führte die Verweisung bei konsequenter Durchführung zu der schwer nachvollziehbaren Konsequenz, daß der inländische Ehepartner sein von der Konvention geschütztes Familienleben erst außerhalb des dieses Recht garantierenden Staates verwirklichen könnte 126 . Dennoch nahm die Kommission in den meisten Fällen nicht einmal einen Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens an, sondern verwies sogleich auf die zumutbare Fortsetzung des Familienlebens im Ausland. Erstaunlich ist dabei vor allem, daß solchen gemischt-nationalen Familien im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung nicht vermehrt als gewisser „Bonus" zugutegehalten wurde, daß einer der Familienangehörigen seinen Lebensmittelpunkt schon immer in dem betreffenden Konventionsstaat hatte, Bindungen vielfältiger Art entwickelte und nun vor der Wahl steht, in einem anderen, ihm vielleicht völlig fremden Staat neu anzufangen oder aber mit dem Partner seiner Wahl nicht zusammenleben zu können. Diese ungewöhnliche Härte sollte sich in den Entscheidungen deutlicher als bislang zugunsten der Familie niederschlagen, um dem Gedanken des Familienschutzes größere Effektivität zu verleihen 127 . Wegweisend könnte hier das Urteil im Fall Berrehab wirken. dd) Zulässige Privilegierung gemischt-nationaler Familien Fraglich ist, ob eine solche Bevorzugung von ausländischen Angehörigen inländischer Staatsangehöriger gegenüber anderen Ausländern überhaupt zulässig, insbesondere nicht diskriminatorisch ist. Das Diskriminierungsverbot 124

Auch Huber, NJW 1985, S. 1249, sieht einen Widerspruch darin, daß die Kommission bestimmte Beziehungen als „Familienleben" dem Schutzbereich des Art. 8 I E M R K unterwirft, ein Einreiseverbot beispielsweise dann aber nicht als Eingriff wertet. Huber nimmt in solchen Fällen einen Eingriff an. 125 Cvetic, ICLQ 36 (1987), S. 650. 126 Cvetic, ICLQ 36 (1987), S. 655. 127 So auch Cvetic, ICLQ 36 (1987), S. 650.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

303

steht einer solchen Bevorzugung deshalb nicht entgegen, weil in den Bereichen Einwanderung und Aufenthalt die Ausländereigenschaft als sachlicher Unterscheidungsgrund gilt. Staaten dürfen hier Ausländer grundsätzlich anders als Inländer behandeln 128 und selbst innerhalb der Gruppe der Ausländer Differenzierungen vornehmen 129 . Eine in bezug auf gemischt-nationale Verbindungen besonders familienfreundliche Politik ist demnach grundsätzlich möglich und würde, da sie dem Schutz des Familienlebens mehr als bislang Rechnung trüge, durchaus im Sinne der Konventionsgarantie liegen. Die nationale Praxis der Konventionsstaaten führt eine solche Privilegierung zumeist durch. So geht etwa das deutsche BVerwG davon aus, daß von deutschen Ehegatten nicht generell erwartet werden kann, dem ausländischen Ehegatten in dessen Heimat zu folgen 130 . Auch das BVerfG fordert hier eine Abwägung, die nicht pauschal die Folgepflicht des deutschen Ehegatten ins Ausland ohne Rücksicht auf sonstige Bindungen im Inland annehmen könne. Denn die „ . . . Abschiebung des ausländischen Ehepartners zwingt den deutschen Partner, entweder sein Heimatland aufzugeben, um an der Ehe festhalten zu können, oder die Trennung der ehelichen Gemeinschaft hinzunehmen, um in der Heimat zu bleiben. Dieser Zwang kann die betroffene Ehe gefährden. Daraus folgt nicht, daß die Ehe mit einem deutschen Partner den ausländischen Staatsangehörigen schlechthin vor einer Abschiebung schützt. Jedoch müssen bei der gebotenen Abwägung auch die eigenen Interessen des deutschen Ehepartners . . . dem öffentlichen Interesse . . . gegenübergestellt werden." 1 3 1

In einer jüngeren Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde einer deutschen Ehefrau gegen die Ausweisung ihres ausländischen Ehegatten befürwortete das BVerfG ausdrücklich die Privilegierung gemischt-nationaler Familien: Bei der Entscheidung über die Ausweisung des ausländischen Ehegatten sei das verfassungsmäßig geschützte Interesse des deutschen Ehegatten an der Familiengemeinschaft im Bundesgebiet zu berücksichtigen 132 . Diese Ansicht des BVerfG verdient uneingeschränkte Zustimmung, da durch die begünstigende Berücksichtigung der Bindungen des inländischen Familienangehörigen zumindest die ärgsten Härten von gemischt-nationalen Familien abgewendet werden sollen.

128

K E v. 17. 12. 19776 zu Β 7729/76, Agee ./. U K , D R 7, S. 164 ff. (177): "His status as an alien would in itself provide objective and reasonable justification for his being subject to different treatment in the field of immigration law to persons holding United Kingdom citizenship." 129 K E v. 6. 7. 1982 zu Β 9285/81, X , Y u. Ζ ./. U K , D R 29, S. 205 ff. (210). 130 BVerwGE 65, S. 188 ff. (193). Dazu auch Gusy, D Ö V 1986, S. 324 m.w.N. aus der Rechtsprechung. 131 BVerfGE 35, S. 382 ff. (408). 132 BVerfGE 51, S. 386 ff. (397 f.).

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3. Teil: Familienschutz

Die Privilegierung dieser Verbindungen sollte daher auch auf den Konventionsbereich übertragen werden, indem beispielsweise an die Zumutbarkeit, dem ausländischen Familienangehörigen in dessen Heimat zu folgen, höhere Anforderungen gestellt werden als bei rein ausländischen Familien. Gerade dann, wenn ein Familienmitglied Staatsangehöriger des Gastlandes ist, dort stets gelebt und gearbeitet sowie Bindungen der vielfältigsten Art entwickelt hat, wird oft auch der Integrationswille des ausländischen Arbeitnehmers besonders ausgeprägt sein. Seine fortschreitende Eingliederung wird dann innerhalb kurzer Zeit zu einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes der Familie im Gastland führen. Besonders zu berücksichtigen ist schließlich die ohnehin schwierige Situation der Kinder aus gemischt-nationalen Ehen, deren Belastung nicht noch durch eine dauernde Unsicherheit über den künftigen Aufenthalt der Familie verschärft werden sollte. Idealerweise sollte es gemischt-nationalen Familien freigestellt sein, in welchem Land sie ihr gemeinsames Leben führen wollen, zumindest aber muß ihrer besonderen Situation bei der Abwägung ihrer Interessen gegenüber jenen des ausweisenden Gaststaates begünstigend Rechnung getragen werden.

ee) Anwendung der entwickelten Auslegung des Art. 8 E M R K auf gängige Nachzugsregelungen in den Konventionsstaaten Im Folgenden soll die hier entwickelte Auslegung des Art. 81 E M R K näher dargelegt und anhand verschiedener gängiger Nachzugsbeschränkungen verdeutlicht werden. Unabdingbare Voraussetzung für einen möglichen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens ist, soweit herrscht Einigkeit, ein bestehendes Familienleben. Da dieses nicht nur durch das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, sondern auch durch anderweitigen intensiven Kontakt aufrechterhalten werden kann, schließt allein der Umstand, daß die nachzugswilligen Angehörigen noch im Ausland leben, die Annahme eines Familienlebens i. S. Art. 8 I E M R K nicht aus. Ein Eingriff kommt nur dann in Betracht, wenn der Aufenthalt des Ausländers die soeben dargelegten Anforderungen erfüllt, also rechtmäßig, auf Dauer angelegt und nicht zweckgebunden ist. Ist im konkreten Fall von einem bestehenden Familienleben auszugehen und sind die Anforderungen an die Aufenthaltsberechtigung erfüllt, so greifen ausländerrechtliche Maßnahmen in den Schutzbereich des Art. 8 I E M R K ein, sofern sie die Familieneinheit gefährden oder beeinträchtigen 133 . Sie sind dann in jedem Fall nach Art. 8 I I E M R K zu rechtfertigen, wobei der Möglichkeit der Fortsetzung des Familienlebens im Ausland nicht entscheidendes Gewicht, wohl aber Bedeutung als Abwägungskriterium zukommt.

133

So auch Huber, NJW 1985, S. 1249.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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Zu untersuchen bleibt nun, ob unter Berücksichtigung des Rechts auf ein normales Familienleben im Gastland die in vielen Konventionsstaaten praktizierten Nachzugsbeschränkungen für die Familien ausländischer Arbeitnehmer als Eingriffe in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens zu verstehen sind. aaa) Beschränkungen auf Ehegatten und Kinder In der Regel beschränken Staaten den Nachzug auf enge Verwandte des Ausländers, namentlich auf Ehegatten und Kinder. Schlechter gestellt im Hinblick auf die Nachzugserlaubnis sind dabei oft solche Familien, die unter europäischem Blickwinkel als „kulturelle Außenseiter" gelten, vor allem jene, die auf der Mehrehe aufbauen. So soll es nach Ansicht des BVerwG der Gleichheitssatz des Grundgesetzes nicht verbieten, die Zweit- gegenüber der ersten Ehefrau hinsichtlich der Nachzugserlaubnis zu benachteiligen: „Da Art. 6 I GG vom überkommenen Leitbild der Einehe ausgeht und daher zwischen Ein- und Mehrehe differenziert, ist es nicht willkürlich, die dem europäischen Kulturkreis fremde Mehrehe und die daraus hervorgehende Familie aufenthaltsrechtlich weniger zu begünstigen als die Einehe." 1 3 4

Unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 E M R K begegnet diese Ansicht Bedenken. Denn unabhängig von der Art der Eheschließung sind die Beteiligten mit ihren Kindern eine Familie, deren Einheit schützenswert ist. Zwar ist kein Konventionsstaat verpflichtet, auf seinem Gebiet die Eingehung von Mehrehen zu ermöglichen, doch unterfallen sie, so sie einmal gegründet sind, dem Familienschutz der Konvention 135 . Anderes gilt nur dann, wenn ein Familienmodell für europäische Begriffe schlechthin inakzeptabel ist, was auf polygame Verbindungen nicht zutrifft 136 . Allerdings steht es den Staaten frei, bei der Erteilung von Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen innerhalb der Gruppe der Ausländer unterschiedliche Regelungen zu treffen. Sie dürfen insbesondere Angehörige solcher Staaten bevorzugen, zu denen sie eine enge Verbindung haben und die ihnen auch kulturell nahestehen137. Es bleibt den Konventionsstaaten daher unbenommen, unter Hinweis auf den fremden Kulturkreis generell Staatsangehörige aus Ländern, die die Mehrehe gestatten, bei der Erteilung von Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen zurückhaltender zu behandeln als bspw. solche aus europäischen Staaten. Die oben geäußerten Bedenken greifen demnach angesichts des großen staatlichen Freiraums im ausländerrechtlichen Bereich nicht durch.

134 135 136 137

BVerwG, JZ 1985, S. 740 ff. (741). Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 213. Dazu schon eingehend oben, 7. Kapitel, Text zu Fn. 26-28. Dazu K E v. 6. 7. 1982 zu Β 9285/81, X , Y und Ζ ./. U K , D R 29, S. 205 ff. (210).

20 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

Da der Familienbegriff nicht nur Eltern und Kinder umfaßt, sondern wesentlich weiter ist, stellt sich die Frage, ob sich auch andere Familienmitglieder, die nicht zur Kernfamilie zählen, auf ein Recht zum Führen eines normalen Familienlebens im Aufenthaltsstaat eines ihrer Angehörigen berufen können oder ob die Konventionsstaaten (nach der hier vertretenen Auslegung) nur im Hinblick auf die nächsten Angehörigen verpflichtet sind. Letzteres ist der Fall. Denn das Recht soll das Individuum in seiner familiären Verbundenheit schützen, die es ihm erlaubt, Beziehungen zu denjenigen Menschen aufrechtzuerhalten, die ihm am meisten bedeuten und ohne die er nicht das seinen Vorstellungen entsprechende Leben führen kann. Bei einem erwachsenen Menschen besteht dieser Zusammenhalt typischerweise innerhalb der von ihm selbst gegründeten Familie, umfaßt also den Ehegatten und Kinder. In diesem Bereich ist daher das Recht auf ein normales Familienleben auch im Ausland so verfestigt, daß ihm gegenüber Erwägungen der staatlichen Entscheidungsfreiheit im ausländerrechtlichen Bereich zurückstehen müssen, um es nicht der Aushöhlung preiszugeben. Die Beziehungen innerhalb einer Kernfamilie betreffen den „festen Kern" dieses Rechts. Anders hingegen verhält es sich mit den Beziehungen zu weiter entfernten Verwandten. Dies zeigte schon die Untersuchung der Kommissionsentscheidungen, wonach in jenen Fällen ganz konkrete Anhaltspunkte vorgetragen werden mußten, die auf das geforderte „close link" schließen ließen 138 . In der Regel werden solche Beziehungen daher nicht die an ein „Familienleben" i. S. Art. 8 I E M R K gestellten Anforderungen erfüllen, so daß schon aus diesem Grund ein Eingriff ausscheidet. Es ist daher legitim, wenn sich die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Nachzugsregelungen an diesem typischen Erscheinungsbild orientieren, wonach die engsten Beziehungen zwischen den Ehepartnern und ihren Kindern vorliegen und daher nur für diesen Personenkreis den Nachzug vorsehen. Doch wie verhält es sich, wenn ausnahmsweise auch zwischen anderen Personen als den Mitgliedern einer Kernfamilie so enge Bindungen vorliegen, daß sie sich auf „Familienleben" i. S. Art. 8 I E M R K belaufen? Gegen eine Verpflichtung zur Gestattung des Nachzuges kann angeführt werden, daß ein Konventionsstaat zwar davon ausgehen muß, daß der einreisende Ausländer eine Familie hat, mit der er zusammenleben will, daß er aber gleichermaßen davon ausgehen darf, daß es sich um den Normalfall familiärer Bindungen handelt, auf die er sich zur Erfüllung seiner Konventionspflichten einstellen muß. Doch diese Überlegung würde es nur rechtfertigen, daß ein Staat überhaupt generelle Regelungen über den Familiennachzug treffen kann, nicht aber, ob er auch andere als der Kernfamilie zuzurechnende Verwandte aufnehmen muß. In den eher seltenen Fällen, in denen zu entfernteren Familienangehörigen so enge Bindungen bestehen, daß ein Familienleben besteht, 138 s. o., 10. Kapitel, Abschnitt I. 12.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

307

kann die Verweigerung des Nachzuges zu vergleichbaren Härten führen wie in den klassischen Nachzugsfällen. Da die Staaten durch eine flexible Handhabung ihrer Nachzugspraxis auch ohne weiteres auf solche Sondersituationen eingehen können, kann es ihnen zugemutet werden, auch andere als der Kernfamilie zugehörige Verwandte aufnehmen zu müssen, sofern die Bindungen hinreichend eng sind. Die Beweislast hierfür trägt der den Nachzug beantragende Ausländer. Eine generelle Nachzugsbeschränkung auf Kinder und Ehegatten ist also unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 E M R K so lange unbedenklich, wie sie nicht automatisch zu einer Ablehnung anderer Angehöriger führt, sondern Ausnahmen zuläßt. Eine solche Nachzugsregelung stellt dann keinen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 E M R K dar. bbb) Beschränkungen auf minderjährige Kinder Hinsichtlich der Nachzugsbeschränkungen auf minderjährige Kinder kann weitgehend auf obige Ausführungen verwiesen werden. Denn die normale Entwicklung geht dahin, daß sich Kinder mit zunehmendem Alter von ihrer Primärfamilie lösen und eigene Bindungen aufbauen. In den überwiegenden Fällen werden daher die Beziehungen der Eltern zu ihren volljährigen Kindern nicht (mehr) als Familienleben i. S. des Art. 8 I E M R K zu qualifizieren sein. Sind sie es ausnahmsweise doch, verpflichtet Art. 8 E M R K in der hier vertretenen Auslegung die Mitgliedstaaten, auch ihnen den Nachzug zu gestatten. Eine ablehnende Entscheidung wäre unter den genannten Voraussetzungen ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff. ccc) Beschränkungen auf Minderjährige eines bestimmten Alters Legen die nationalen Nachzugsregelungen fest, daß Minderjährige nur bis zu einer bestimmten Altersgrenze nachreisen dürfen, so ist die Situation genau umgekehrt wie bei den bislang erörterten Nachzugsregelungen. Denn es ist der Regel- und nicht der Ausnahmefall, daß zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern ein intaktes Familienleben besteht. Beschränkt ein Konventionsstaat den Nachzug auf eine abstrakt festgelegte Altersgruppe, so greift er damit in den Kernbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens ein. In der Bundesrepublik beispielsweise liegt die Altersgrenze in den meisten Bundesländern bei 16 Jahren, doch wird eine Absenkung des Nachzugsalters auf sechs Jahre diskutiert 139 . Dies wird zum Teil für zulässig erachtet mit dem Argument, daß Art. 6 I GG zwar zur Förderung der Familie verpflichte, aber 139

20*

Vgl. dazu Meyer-Teschendorf, ZRP 1987, S. 150.

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3. Teil: Familienschutz

nur eine Abwägung der Interessen des Ausländers mit jenen der Bundesrepublik erforderlich mache 140 . Nach der hier vertretenen Auslegung des Art. 8 E M R K ist jedoch nicht nur ein schutzwürdiges Interesse des Ausländers, sondern ein Recht auf Nachzug seiner engen Familienangehörigen zu berücksichtigen, das jedenfalls in seinem Kernbereich entgegenstehenden staatlichen Interessen nicht von vornherein zu weichen hat. Eine andere (und später zu untersuchende) Frage ist es, ob die belastende ausländerrechtliche Maßnahme im konkreten Fall gem. Art. 8 I I E M R K gerechtfertigt werden kann. Eine generelle Nachzugsbeschränkung dergestalt, daß Kinder nur bis zu einer abstrakt festgelegten Altersgrenze nachreisen dürfen, führt demnach immer dann, wenn ein intaktes Familienleben besteht, zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens. Hinsichtlich des Nachzuges zu einem sich legal, für eine gewisse Dauer und nicht zweckgebunden in einem Konventionsstaat aufhaltenden Ausländer kann somit festgehalten werden, daß ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I E M R K vorliegt, wenn seinen engen Angehörigen die Einreise und der Aufenthalt verwehrt wird. Voraussetzung ist dabei immer, daß die Betreffenden „Familienleben" i. S. des Art. 8 E M R K verbindet. Generelle Nachzugsbeschränkungen sind unbedenklich, sofern sie nicht die Ehegatten und minderjährige Kinder betreffen und Ausnahmen für jene Fälle zulassen, in denen enge Bindungen zu anderen nachzugswilligen Verwandten bestehen. Anders verhält es sich hingegen, wenn innerhalb der Gruppe minderjähriger Kinder differenziert wird, denn da hier in aller Regel engste Bindungen betroffen sind, wird in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingegriffen. ddd) Ehebestandszeiten Eine Verringerung des Ausländernachzuges wird sich auch versprochen von der Bedingung, daß die Ehe des nachzugswilligen Ehegatten schon über einen gewissen Zeitraum bestanden haben muß 1 4 1 . Diese Beschränkung des nachzugsberechtigten Personenkreises könnte ebenfalls einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens beinhalten. Nach der hier vertretenen Auslegung des Art. 8 E M R K , die ein Recht auf ein normales Familienleben nicht auf den Heimatstaat des Ausländers 140 Meyer-Teschendorf, ZRP 1987, S. 152 m.w.N.; Gusy, D Ö V 1986, S. 328. 141 So beispielsweise die Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg, die eine Ehebestandszeit von 3 Jahren fordert gem. Nr. 2.5.8 der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums BW zur Ausführung des Ausländergesetzes v. 20. 10. 1981 (Gemeinsames Amtsblatt des Landes BW 1981, S. 1613 ff.) in der Fassung vom 30. 3. 1982 (Gemeinsames Amtsblatt des Landes BW 1982, S. 383 ff. Vgl. auch Meyer-Teschendorf, D Ö V 1987, S. 728, S. auch BVerwGE 70, S. 127 ff. Andere Bundesländer beschränken sich auf eine Nachzugsfrist von einem Jahr und folgen damit einer Empfehlung der Bundesregierung, s. Meyer-Teschendorf, a.a.O., S. 730.

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

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beschränkt, ist ein Eingriff dann anzunehmen, wenn zwischen den ausländischen Ehegatten in deren Heimatland ein Familienleben schon bestand und dieses durch die Ausreise des einen Ehegatten nicht zum Erliegen kam. Die Versagung der Nachzugserlaubnis trennt dann die Familie für eine nicht unbeträchtliche Zeit, das familiäre Zusammenleben wird gestört. Die Forderung nach Ehebestandszeiten als Voraussetzung für den Nachzug bedarf daher der Rechtfertigung gem. Art. 8 I I E M R K . eee) Aufenthaltsdauer Gleiches gilt für Regelungen, die die Nachzugsberechtigung daran knüpfen, daß sich der Ausländer schon eine gewisse Zeit im Gastland aufgehalten hat, bevor er seine Familie nachkommen läßt. Ist die erforderliche Zeitspanne nicht nur von kurzer Dauer, sondern spürbar, so liegt ein zu rechtfertigender Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens vor. Auf die hier festgestellten Eingriffssituationen wird im Rahmen der Rechtfertigungsgründe zurückzukommen sein. Denn erst dann kann abschließend über ihre Konventionsmäßigkeit bzw. -Widrigkeit entschieden werden. I I . Europäische Sozialcharta 1. Art. 16 ES

Art. 16 ES trägt der Idee Rechnung, daß dem Staat seit der industriellen Revolution und ihren sozialen Umwälzungen neue Aufgaben obliegen. So wird einerseits die traditionelle Hervorhebung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft aufrechterhalten, darüber hinaus aber gleichzeitig der Vorstellung Ausdruck verliehen, daß das Wohlergehen einer Familie nicht nur allein den Bemühungen ihrer Mitglieder überlassen bleiben dürfe 142 . Die Familienpolitik der Mitgliedstaaten hat sich daher vor allem auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen dringenden Bedürfnissen der Familien noch nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Eine solche Familienpolitik wird vor allem Ergänzungen und begleitende Maßnahmen schon bestehender Hilfen vornehmen 1 4 3 . So interessierte sich der Sachverständigenausschuß bei seiner Prüfung der Staatenberichte vornehmlich für Angaben über finanzielle Vergünstigungen, soziale und kulturelle Programme für Familien, Rechtsberatung in Familienrechtsangelegenheiten, die Wohnungssituation, das Vorhandensein und das Platzangebot in Kindertagesstätten sowie allgemein die wirtschaftliche und 142 Conclusions I (1969-70), S. 75. 143 Conclusions I (1969-70), S. 75.

310

3. Teil: Familienschutz

soziale Lage der Familien in den Mitgliedstaaten 144 . Einzelheiten der Familiengesetzgebung, anstehende Reformen 145 u. ä. Rechtsfragen spielten dabei ebensosehr eine Rolle wie konkrete Nachfragen zu den tatsächlichen Gegebenheiten wie die Zahl und Belegung der Kindergärten oder Statistiken über die Familienstruktur 146 . Als vorbildlich empfand das Expertengremium beispielsweise die schwedischen Verhältnisse: finanzielle Unterstützungen bei der Betreuung kranker oder behinderter Kinder, besondere Wohnungsvergünstigungen für alleinstehende Mütter und Väter sowie ein bemerkenswerter Ausbau der Kinderbetreuungsstätten 147 . Anerkennung erntete auch die Bundesrepublik für die Reform ihres Familienrechts 1977, die die Gleichberechtigung der Ehegatten umfassend gewährleistete 148 . Als diskriminierungsverdächtig wurde hingegen die britische Regelung gerügt, die die Gewährung von Familienbeihilfen von der Erwerbstätigkeit allein des Mannes abhängig macht 149 . Besonderes Augenmerk richtete der Ausschuß auch auf die Situation kinderreicher Familien. Hier wurde die französische Gesetzgebung begrüßt, die solchen Familien neben herkömmlichen Hilfen wie etwa Steuervergünstigungen auch Unterstützung durch Ausdehnung des Mutterschaftsurlaubes, finanzielle Hilfen nach der Geburt sowie ab dem dritten Kind gewährt und dadurch die Lage kinderreicher Familien deutlich zu verbessern vermochte 150 . Die Bestimmungen der ES gelten nicht nur zugunsten von In-, sondern ebenso von Ausländern. Daher kritisierte der Sachverständigenausschuß die dänische Regelung, die nur dänischen Familien eine zusätzliche Familienbeihilfe zuerkannte und stellte fest, daß Dänemark insoweit den Anforderungen der Charta nicht vollständig nachkomme 151 . 2. Art. 19 (6) ES "The aim of paragraph 6 is to oblige States to create the conditions which make family reunion possible. The extent of the effort of each State is made conditional, by this provision, on the objective possibilities which shape its action in this sense. Therefore, as paragraph 6 provides for the obligation to 'facilitate as far as possible the reunion . . . ' , it should not be interpreted in the sense that it permits the adoption of restrictions likely to deprive this obligation of its content." 1 5 2 144

Conclusions I (1969-70), S. 75 f.; I I (1971), S. 56. Conclusions I I I (1973), S. 78; I V (1975), S. 102. 14 6 Conclusions I I I (1973), S. 79. 147 Conclusions I V (1975), S. 102. 148 Conclusions V (1977), S. 113 f. 149 Conclusions V (1977), S. 115. 150 Conclusions V I I I (1984), S. 184. 151 Conclusions X - l (1987), S. 129 152 Conclusions V I I I (1984), S. 211. 145

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

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Mit dieser konkretisierenden Auslegung des Art. 19 (6) ES versuchte der Sachverständigenausschuß den Vertragstaaten die inhaltlichen Anforderungen dieser Vorschrift zu verdeutlichen. Denn die Erfüllung der hierdurch auferlegten Verpflichtungen gab dem Ausschuß weitaus mehr Anlaß zu Beanstandungen als der von Art. 16 ES abgedeckte Bereich. Schon bei der ersten Berichtsprüfung wurde ein Verstoß darin gesehen, daß Großbritannien es ausländischen Hausangestellten nicht gestattete, ihre Familie nachziehen zu lassen 153 , ein Kritikpunkt, der auch in späteren Prüfungen immer wieder zur Sprache kam 1 5 4 . Ebenso verhielt es sich mit der Praxis, kranken oder behinderten Kindern von Wanderarbeitnehmern, die medizinischer Betreuung oder besonderer Pflege bedurften, die Einreise zu verweigern 155 . Klare Aussagen liegen vor über das Anknüpfen der Nachzugsberechtigung an die Aufenthaltsdauer des Ausländers im Gastland: Eine die Dauer von einem Jahr überschreitende Regelung wird als unzulässig angesehen, da sie die Familienzusammenführung unnötig erschwert 156 . So wurde die bundesdeutsche Nachzugsregelung als zu eng empfunden, die Wanderarbeitnehmern erst nach einem dreijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet den Nachzug ihrer Angehörigen gestattet. Der Ausschuß regte daher eine Änderung der entsprechenden Vorschriften an. Mit Befriedigung konnte der Ausschuß später zur Kenntnis nehmen, daß auch EG-Ausländern daraufhin zumeist schon nach einem Jahr die Familienzusammenführung ermöglicht wurde 157 . Doch erst kürzlich erntete die Bundesrepublik wegen ihrer wiederum als zu eng empfundenen Nachzugsregelungen erneut Kritik. Nicht nur die zu niedrige Altersgrenze (16 Jahre) wurde gerügt, sondern auch der Ausschluß von Kindern, sofern nicht beide Elternteile in der Bundesrepublik lebten, der Ausschluß des Nachzuges von Auszubildenden sowie der Ausschluß von Ehegatten von Ausländern der zweiten Generation, falls der Ausländer nicht schon acht Jahre im Bundesgebiet gelebt hat, über 18 Jahre alt ist und die Ehe schon mindestens ein Jahr besteht 158 . Hier fällt auf, daß die Zulässigkeit dieses Anknüpfens an die Aufenthaltsdauer im Rahmen der E M R K anders beurteilt werden mußte: Zwar konnte ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens angenommen wer153 Conclusions I (1969-70), S. 85. 1 54 Conclusions I I (1971), S. 69; I I I (1973), S. 96; V I (1979), S. 126; V I I I (1984), S. 216. 155 Conclusions I (1969-70), S. 85; I X (1985), S. 108 (Niederlande). 156 Vgl. Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 344 und sogleich. Ebenso Bois, SchwJIR X X X I I I (1977), S. 34 bzgl. der seiner Ansicht nach gegen Art. 19 (6) ES verstoßenden schweizerischen Bestimmung, die eine 15-monatige Sperre für die Familienzusammenführung vorsieht. 157 Conclusions I V (1975), S. 125; V (1977), S. 141. 1 58 Conclusions X-2 (1988), S. 151.

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3. Teil: Familienschutz

den, der jedoch gemäß Art. 8 I I E M R K , wie bei den Rechtfertigungsgründen des Art. 8 I I E M R K zu zeigen sein wird, zur Erhaltung des wirtschaftlichen Wohles des Landes legitim und daher gerechtfertigt war. Diese Diskrepanz erklärt sich daraus, daß die E M R K nur dann die Freiheit der Staaten im ausländerrechtlichen Bereich einschränkt, wenn dies zur effektiven Gewährleistung der Konventionsgarantien unabdingbar ist. Im Unterschied dazu betrifft die ES den Bereich des Einreise- und Aufenthaltsrechts nicht nur sozusagen als Reflex, sondern greift hier bewußt und gezielt ein, indem sie den Vertragstaaten Richtlinien für ihre Politik vorgibt bzw. sie zu einer möglichst umfassenden Erleichterung der Familienzusammenführung verpflichtet.Es liegt nun auf der Hand, daß ein Vertrag, der in einen Bereich ausdrücklich und für alle Vertragspartner ohne weiteres erkennbar eingreift, in seinen Auswirkungen weiter geht als ein Vertrag, der wie die E M R K das Gebiet des Ausländerrechts nur reflexartig berührt. In dem Bereich des Familiennachzuges ist die ES also der speziellere Vertrag und kann nach der Anerkennung des Art. 19 (6) ES seitens der Chartastaaten weitergehende Verpflichtungen als die E M R K auferlegen. Diese Pflichten beschränken sich allerdings darauf, dem Familiennachzug keine unnötigen Hindernisse in den Weg zu stellen; die tasächliche Zusammenführung der Familie wird gem. Art. 19 (6) ES - „ . . . die Familienzusammenführung zu erleichtern" - nicht geschuldet. Es fällt schwer, daraus eine konkrete Nachzugsregelung abzuleiten. Immerhin läßt die Vorschrift aber erkennen, daß Familienzusammenführung der Regel- und nicht der Ausnahmefall sein soll 159 . Besondere Aufmerksamkeit widmete der Sachverständigenausschuß der Wohnungssituation ausländischer Familien, da sie von grundlegender praktischer Bedeutung für die Familienzusammenführung ist 1 6 0 . Art. 19 (6) ES verpflichtet die Chartastaaten " . . . to take practical measures of some kind to assist migrant workers in obtaining accomodation suitable for their families; de jure equality in access to housing being a means, among others, for carrying out this obligation." 161

Der norwegische Bericht erweckte den Eindruck, es falle ausländischen Familien schwerer als norwegischen Staatsangehörigen, eine adäquate Wohnung zu finden. Dies, so der Ausschuß, sei nur dann mit Art. 19 (6) ES vereinbar, wenn sich Norwegen auf bestimmte Umstände berufen könne, die eine bessere Lösung verhinderten 162 . Dieses Beispiel ist insofern von besonderem Interesse, als es Aufschluß über den Umfang der aus Art. 19 (6) ES folgenden Pflicht gibt: Liegt eine Divergenz zu den Anforderungen dieser Bestimmung vor, so muß der betreffende Staat darlegen, daß er für die Familienzusammen159 160 161 162

Zuleeg, in: Barwig/Lörcher/Schumacher, Familiennachzug, S. 56 f. Conclusions I V (1975), S. 125; V I (1979), S. 125 (bzgl. Schweden). Conclusions I V (1975), S. 125; V I (1979), S. 125; C V I I (1981), S. 105. Conclusions I I (1971), S. 69.

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

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führung alles in seiner Macht stehende getan hat, daß er jedoch wegen konkret aufgeschlüsselter Hinderungsgründe seine Pflichten noch nicht vollständig erfüllen konnte. Ein vager Hinweis auf generell ungünstige Umstände reicht insofern nicht aus. Aus Art. 19 (6) ES folgt somit nicht nur eine Pflicht zur Abschaffung von Hindernissen, sondern darüber hinaus sollen die Staaten auch positive Maßnahmen, etwa verwaltungstechnischer oder sozialer Art, ergreifen, um die Familienzusammenführung zu erleichtern 163 . Die ES greift bewußt in die ausländerrechtliche Gestaltungsfreiheit ihrer Mitgliedstaaten ein und erlegt ihnen Pflichten auf, die vom Ansatz her weiter gehen als jene der E M R K . Dies wird allerdings wieder relativiert durch die Art der Verpflichtungen, die lediglich schrittweise zu verwirklichende „promotional obligations" sind. III. IPBPR 1. Art. 17 I IPBPR

Schon im Rahmen der Untersuchung des Art. 81 E M R K konnte festgestellt werden, daß die Vertragstaaten grundsätzlich zur Regelung der Gebiete Ehe und Familie berufen sind 164 . Dies trifft nicht nur auf die Mitgliedstaaten der E M R K , sondern ebenso auf jene des IPBPR zu. Denn auch den dort verankerten Familienschutzgedanken liefe es zuwider, wenn Ehe und Familie im rechtsfreien Raum existieren müßten. Die entscheidende Frage ist damit auch hier wiederum jene nach der Abgrenzung zwischen einer zulässigen familienrechtlichen Regelung und einem sich nach Art. 171 IPBPR beurteilenden Eingriff. Art. 17 IPBPR sichert den einzelnen Familienmitgliedern ebenso wie Art. 8 E M R K einen Freiraum zu, der ihnen die Verwirklichung und Aufrechterhaltung eines normalen Familienlebens ermöglichen soll. Maßstab der Beurteilung muß daher ein Vergleich der Stellung des einzelnen Familienmitgliedes vor und nach Erlaß der zu beurteilenden Maßnahme sein. Ergibt sich kein Unterschied, so scheidet ein Eingriff aus. Hat sich die Position des Individuums hingegen verschlechtert, sind seine rechtliche und faktische Situation beeinträchtigt worden, liegt ein Eingriff vor. Diese Abgrenzung findet sich auch in der Praxis des Menschenrechtsausschusses. Im Fall der maurizischen Frauen, die ihr Familienleben durch die unsichere aufenthaltsrechtliche Stellung ihrer Ehemänner bedroht sahen 165 , 163 Thomsen/Vaagt, G Y I L 29 (1986), S. 344. 164 S. o., dieses Kapitel, Abschnitt I. 2.a. ι 6 5 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/ 35 v. 2. 5. 1978, Bericht des Menschenrechtsausschusses, U N G A OR, 36th session, 1981, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 134 ff.

314

3. Teil: Familienschutz

bejahte der Ausschuß einen Eingriff in das Familienleben der drei verheirateten Beschwerdeführerinnen durch die geänderte Ausländergesetzgebung: " I n the present cases, not only the future possibility of deportation, but the existing precarious residence situation for foreign husbands in Mauritius represents . . . an interference by the authorities of the State party with the family life of the Mauritian wives and their husbands. The statutes in question have rendered it uncertain for the families concerned whether and for how long it will be possible for them to continue their family life by residing together in Mauritius." 1 6 6

Die Gesetzesänderung hatte zu einer Verschlechterung insofern geführt, als vorher allein die Heirat zum Aufenthalt auf Maurizius berechtigte. Als Eingriff wurde darüber hinaus die lange Dauer des Entscheidungsprozesses gewertet: Über den Antrag eines der Ehemänner auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lag nach über drei Jahren noch keine formelle Entscheidung vor. In dieser Zeit konnte der Ehemann nicht zum Lebensunterhalt beitragen, da er keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis hatte. Während der ganzen Zeit mußte er zudem die Deportation befürchten. Ebenso wie bei den Garantien der E M R K ist es bei denen des Paktes anerkannt, daß nicht nur spezielle Einzelfallmaßnahmen, sondern auch generelle Regelungen wie z. B. Gesetze das Recht auf Achtung des Familienlebens verletzen können 167 . Bei solchen generellen Regelungen muß allerdings die tatsächliche und gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers genau dargelegt werden. Auch hierzu findet sich näherer Aufschluß im Fall der maurizischen Frauen. Denn da die Mehrzahl der Beschwerdeführerinnen unverheiratet war, war es nicht ersichtlich, inwieweit sie durch die Änderung der maurizischen Ausländergesetzgebung aktuell in ihren Rechten beeinträchtigt sein konnten. Die bloße Möglichkeit, später einmal einen Ausländer zu heiraten, reichte dem Menschenrechtsausschuß für die Annahme einer aktuellen Betroffenheit nicht aus 168 . Zwar muß das gerügte Gesetz nicht immer schon konkret auf den Beschwerdeführer angewendet worden sein, doch darf die erwartete Beeinträchtigung durch die abstrakte Regelung nicht nur theoretischer Art sein. Dieser flexible Ansatz bewahrt einerseits den Betroffenen davor, den tatsächlichen Eintritt der ggf. daraus resultierenden Schäden abwarten zu müssen, andererseits bietet er genügend Sicherung gegen eine auch im System des Paktes unzulässige „actio popularis" 169 . Vergleicht man nun die Anforderungen, die im Rahmen des Art. 17 I IPBPR an einen Eingriff zu stellen sind, mit jenen des Art. 8 E M R K , so zeigt sich eine grundlegende Übereinstimmung, die aus der identischen Schutz- und 166

Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 140 § 9.2 (b) 2 (i) 3. So der Menschenrechtsausschuß im Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 140 § 9.2 (b) 2 (i) 4. 168 Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 139 § 9.2 (a). 169 Menschenrechtsausschuß, Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 139 § 9. 2. 167

13. Kap.: Inhalt des Familienschutzes

315

Zielrichtung beider Bestimmungen folgt: Soweit Art. 8 E M R K staatliche Eingriffe in das von ihm geschützte Familienleben verbietet, steht seine abwehrrechtliche Komponente in Rede. Diese Zielrichtung stimmt mit dem Ziel und Zweck des Art. 17 IPBPR als reines Abwehrrecht vollkommen überein. a) Pflicht zur Achtung der Familieneinheit Indem Art. 17 IPBPR staatliche Eingriffe in die Familie verbietet, schützt er in erster Linie das normale, familiäre Zusammenleben der Familienmitglieder, das sich sowohl in räumlicher als auch in geistiger Nähe manifestiert. Für enge Familienangehörige ist es der Normalfall, in einem gemeinsamen Haushalt zusammenzuleben170. Darüber hinaus haben es die Paktstaaten als autonome Entscheidung der Familie zu repektieren, wenn auch entferntere Verwandte in einem gemeinsamen Haushalt leben, insbesondere dann, wenn sie aktiv am familiären Leben beteiligt sind und ihren Beitrag bei der Bewältigung der familiären Aufgaben leisten. Werden solche Familieneinheiten in ihrem Zusammenleben beeinträchtigt, so liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 17 I IPBPR vor. Insoweit ist die Rechtslage vergleichbar mit dem von Art. 8 E M R K gewährten Familienschutz. Gezielte Entfremdungen der Kinder von ihren Eltern, Zwangsmitgliedschaften in Jugendorganisationen oder gar Trennungen der Familienmitglieder sind ebenso Eingriffe in Art. 8 E M R K wie in Art. 17 IPBPR. Solchen Übergriffen waren Familien im Laufe der Zeit immer wieder ausgesetzt. Zu erinnern ist hier etwa an die totalitären Praktiken im Dritten Reich, die auch vor dem privaten Bereich der Familie nicht Halt machten. Als ein Beispiel aus der jüngsten Zeit mag die Umsiedlungspolitik der rumänischen Regierung angeführt werden, die darauf abzielt, Minderheiten wie etwa die deutschstämmige Bevölkerung aus ihren angestammten Dörfern abzuziehen und in unpersönlichen Retortenstädten anzusiedeln. Dort sollen sie angeblich völlig unzureichende Wohnverhältnisse vorfinden, in denen eine Atmosphäre familiärer Privatheit nicht mehr aufrechterhalten werden kann. So sollen die Bewohner beispielsweise zur Benutzung von Gemeinschaftsräumen (z. B. Küchen) gezwungen sein 171 . Auf diese Weise verliert die Familie zwangsläufig ihren Charakter als Lebensmittelpunkt, als Ort des ungestörten Zusammenseins und Gedankenaustausches. Sie ist damit einer ihrer wichtigsten Funktionen 170 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/ 35 v. 2. 5. 1978, Bericht des Menschenrechtsausschusses, U N G A OR, 36th session, 1981, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 134 ff. (140 § 9.2 (b) 2 (i) 2): " . . . the common residence of husband and wife has to be considered the normal behavior of a family." 171 So die Informationen des Deutschen Ostdienstes (Informationsdienst des Bundes der Vertriebenen), Nr. 34 v. 25. 8. 1988, S. 4 unter der Überschrift: „ D D R und Ungarn sollen neuen Nero stoppen."

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3. Teil: Familienschutz

beraubt. Die Informationen über das rumänische Umsiedlungsvorhaben geben daher Anlaß zu der Befürchtung, daß hier in die Familien eingegriffen wird bzw. werden soll. b) Ausländer "The exclusion of a person from a country where close members of his family are living can amount to an interference within the meaning of Article 17. In principle, Article 17 (1) applies also when one of the spouses is an alien. Whether the existence and application of immigration laws affecting the residence of a family member is compatible with the Covenant depends on whether such interference is either „arbitrary or unlawful" as stated in Article 17 (1), or conflicts in any other way with the State Party's obligations under the Covenant." 172

Nahezu identisch mit den ausländerrechtlichen Entscheidungen der europäischen Menschenrechtskommission ist der Wortlaut dieses Zitats aus der Entscheidung des Menschenrechtsausschusses im Fall der maurizischen Frauen. Der rechtliche Ausgangspunkt für die Beurteilung von Fällen, in denen sich in einem Konventions- bzw. Paktstaat lebende (aus- oder inländische) Familienmitglieder über die Verweigerung der Einreise- oder Aufenthaltserlaubnis eines ausländischen Angehörigen oder dessen drohende Ausweisung beschweren, ist bei beiden Vertragswerken gleich: Sowohl die E M R K als auch der IPBPR verpflichten ihre Mitgliedstaaten zur Achtung der Familieneinheit, doch keiner der Verträge gewährt Ausländern ein Einreise- oder Aufenthaltsrecht. Die Lösung dieses Spannungsverhältnisses ist folglich nicht nur aus dem Blickwinkel der Konventions-, sondern auch der Paktgarantien ein zentrales Problem des Familienschutzes. Denn dessen Garantie haben die Paktstaaten gem. Art. 2 I IPBPR nicht nur Inländern, sondern allen in ihrem Gebiet befindlichen und ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen zugesichert. Folglich können sich auch Ausländer, die in einem Paktstaat leben, auf Art. 17 IPBPR berufen und geltend machen, die Ausweisung oder Einreiseverweigerung eines Familienmitgliedes greife in sein Recht aus Art. 17 I IPBPR ein. Großzügiger als die EMRK-Organe zeigte sich der Menschenrechtsausschuß bei der Annahme eines Eingriffs. Im Fall der maurizischen Frauen ging es um das Recht gemischt-nationaler Familien, in ihrem Aufenthaltsstaat zusammenleben zu können. Während früher schon die Eheschließung mit einer maurizischen Staatsangehörigen zum Aufenthalt berechtigte, mußte nach einer Änderung der Ausländergesetzgebung ausdrücklich um eine Aufenthaltserlaubnis nachgesucht werden, die vom Innenminister jederzeit aufgehoben oder versagt werden konnte 173 . Diese Ungewißheit über das aufent172 173

Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 140 § 9.2 (b) 2 (i) 2. Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 135 § 1.2.

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

317

haltsrechtliche Schicksal naher Angehöriger wertetê der Menschenrechtsausschuß als Eingriff in Art. 17 I IPBPR 1 7 4 , und zwar ohne die Möglichkeit des inländischen Familienmitgliedes zu erörtern, dem Ehegatten in dessen Heimat oder gar ein Drittland zu folgen. Die EMRK-Organe hingegen hätten es dem inländischen Familienangehörigen in vergleichbaren Situationen zunächst einmal prinzipiell zugemutet, das Familienleben im Ausland fortzuführen. Eine Änderung dieser recht restriktiven Praxis scheint nunmehr allerdings mit dem Urteil des Gerichtshofs im Fall Berrehab begründet worden zu sein. Dieselben Gründe, die zu einer Kritik der restriktiven Spruchpraxis führten 175 , lassen die großzügigere Interpretation des Art. 17 IPBPR als begrüßenswert erscheinen. Sie ist familienfreundlich, indem sie die Entscheidung eines gemischt-nationalen Paares, in der Heimat eines der Ehegatten den Familienwohnsitz zu nehmen, zunächst respektiert und erst in einem zweiten Schritt staatliche Gegengründe untersucht. Sie wird zudem der besonderen Härtesituation gerecht, in der sich eine Familie befindet, die sich zwischen ihrer Trennung oder dem Verlassen ihres Aufenthalts- und Heimatstaates entscheiden muß. Insgesamt entspricht die Auslegung, die Art. 17 IPBPR durch den Menschenrechtsausschuß erfahren hat, der hier für Art. 8 E M R K angenommenen Interpretation: Ausländern, die sich rechtmäßig und nicht nur für eine von vornherein begrenzte Zeit in einem Land aufhalten, sollte ein Recht auf ein normales Familienleben in eben diesem Gastland zugestanden werden. Mit der Situation rein ausländischer Familien war der Menschenrechtsausschuß im Rahmen von Individualbesch werdeverfahren noch nicht befaßt. Lediglich anläßlich der Prüfung des britischen Staatenberichts gem. Art. 40 IPBPR wurde auf die britischen Einwanderungsvorschriften eingegangen und auf die Gefahr hingewiesen, diese könnten das Recht von Familien beeinträchtigen, als Gruppe zusammenzubleiben176. Der britische Delegierte betonte daraufhin, es sei nicht Sinn und Zweck der Einwanderungsvorschriften, die Zusammenführung von Familien zu verhindern, doch könnten in der Praxis Mitglieder einer Familie daran gehindert werden, zusammen in Großbritannien zu leben 177 . Diese Frage wurde nicht weiter vertieft, wohl weil die britische Einwanderungsgesetzgebung offensichtlich nicht willkürlich und folglich kein gegen den Pakt verstoßender Eingriff war. Immerhin hob der Ausschuß das Recht der Familie hervor, als Gruppe zusammenbleiben zu können.

174

Fall der maurizischen Frauen, a.a.O., S. 140 § 9.2 (b) 2 (i) 3. S. o., dieses Kapitel, Abschnitt 1.6. f) aa). 176 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1985, U N G A OR, 40th session, Suppl. No. 40 (A/40/40), S. 173 § 567. 177 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1985, U N G A OR, 40th session, Suppl. No. 40 (A/40/40), S. 173 § 567. 175

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3. Teil: Familienschutz

Im Vergleich mit der Lage gemischt-nationaler Familien ergeben sich im Hinblick auf die durch den Konflikt „Ausreise oder Trennung" hervorgerufene familiäre Belastung rein ausländischer Familien, die ihren Lebensmittelpunkt in einem Paktstaat gefunden haben, keine so gravierenden Umstände, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten. Denn bis auf die zusätzliche Härte, nicht nur einen beliebigen Staat, sondern ausgerechnet die angestammte Heimat verlassen oder eine Trennung der Familie in Kauf nehmen zu müssen, ist die Konfliktsituation identisch. Hinzu kommt, daß der Aufnahmestaat bei der Aufnahme von Ausländern eine bewußte Entscheidung trifft und sie freiwillig auf sein Staatsgebiet zuläßt. A n dieser Entscheidung kann er festgehalten werden insoweit, als es die Familienschutzbestimmungen des Paktes gebieten, einmal aufgenommene Ausländer nicht als isolierte Einzelpersonen anzusehen, sondern als Familienmitglieder mit dem verständlichen Wunsch nach einem gemeinsamen Leben mit ihren Angehörigen 178 . Werden diese Familien durch die Ausweisung eines Angehörigen oder die Einreise Verweigerung naher Angehöriger betroffen, so sind diese Maßnahmen rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 17 I IPBPR. Im ausländerrechtlichen Bereich wirkt die Anwendung und Auslegung des Art. 17 IPBPR daher effektiver und sachgerechter als die der entsprechenden EMRK-Bestimmung. c) Weitere Anwendungsfälle Entscheidungen des Menschenrechtsausschusses zu anderen Bereichen des Familienschutzes stehen noch aus. Wenig Aufschluß gibt auch eine Untersuchung der Staatenberichtsprüfungen (Art. 40 IPBPR), da hier Stellungnahmen zu Problemen des Familienschutzes äußerst selten sind. Im wesentlichen konzentrierten sich die Prüfungen auf andere Rechtsgüter des Art. 17 IPBPR, namentlich den Schutz der Wohnung und des Schriftverkehrs (Telefonüberwachung, Hausdurchsuchungen und, verstärkt in letzter Zeit, Datenschutz). Die wenigen Äußerungen zu Fragen des Familienschutzes zielen vor allem darauf ab, inwieweit Familien vor dem Zugriff von mit besonderen Eingriffsbefugnissen ausgestatteten Organen wie Polizei- und Sicherheitskräften geschützt sind und welche Voraussetzungen an einen zulässigen Eingriff solcher Kräfte gestellt werden 179 . Die Antwort liegt auf der Hand: Selbstverständlich haben die Paktstaaten sicherzustellen, daß auch - und gerade! - Polizei- und Sicherheitskräfte nicht willkürlich oder rechtswidrig in den von Art. 178

Dazu schon oben, in diesem Kapitel, Abschnitt 1.6. f) aa), Text zu Fn. 119 - 121, für den EMRK-Bereich. 179 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1978, Prüfung der Staatenberichte von Iran, U N G A OR, 33rd session, Suppl. No. 40 (A/33/40), S. 51 § 309; und der UdSSR, ebenda, S. 71 § 424; sowie Jamaika, Bericht 1981, U N G A OR, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 57 § 268.

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

319

17 I IPBPR geschützten familiären Bereich eingreifen. Dies muß einerseits schon durch entsprechende Gesetze und Dienstvorschriften verhütet werden und zum anderen muß dem Geschädigten dann, wenn es zu Übergriffen kommt, der Rechtsweg offenstehen. Darüber hinaus können die recht spärlichen Stellungnahmen im Menschenrechtsausschuß über Art. 17 IPBPR für die vorliegende Untersuchung nicht fruchtbar gemacht werden. Doch kann sicher davon ausgegangen werden, daß die praktischen Auswirkungen des nach Art. 17 IPBPR geschuldeten Familienschutzes vergleichbar mit jenen sind, die aus Art. 8 E M R K folgen und namentlich für Bereiche wie das Sorge- und Besuchsrecht, die Unterbringung von Kindern in Heimen und Pflegefamilien oder deren Freigabe zur Adoption wichtig werden. Der Schutz der Familie bedingt hier, daß eine Trennung von Eltern und Kindern nur als ultima ratio erwogen werden und nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, insbesondere im wohlverstandenen Interesse des Kindes, vollzogen werden darf. Kommt es, beispielsweise im Rahmen einer Ehescheidung, zur Trennung der Eltern, so ist dem natürlichen Band zwischen den geschiedenen Eltern und ihren Kindern durch eine entsprechende Regelung des weiteren Kontakts Rechnung zu tragen, wie schon im Rahmen der Darstellung zu Art. 8 E M R K eingehend dargelegt wurde 180 . Vergleicht man die Schutzbereiche der Art. 8 E M R K und 17 IPBPR, so sind keine schwerwiegenden Divergenzen festzustellen. Beide Bestimmungen schützen die Familie vor staatlichen und mittelbar (i. S. einer mittelbaren Drittwirkung) auch vor privaten Übergriffen. Den Vertragstaaten obliegt es, durch geeignete innerstaatliche Maßnahmen in den Bereichen Exekutive, Legislative und Judikative einen effektiven Familienschutz zu gewährleisten und gegen mögliche Verstöße Rechtsschutz zu bieten. Für Art. 8 E M R K ergab sich dies aus der Auslegung des Begriffs „Achtung", Art. 17 IPBPR legt dies ausdrücklich in seinem 2. Absatz fest. Im ausländerrechtlichen Bereich wurde Familienschutz großzügiger gehandhabt als von den EMRK-Organen, da der Menschenrechtsausschuß rechtfertigungsbedürftige Eingriffe leichter annahm und den Schutzbereich daher vergleichsweise weiter definierte. Hinsichtlich der anderen, typischen Anwendungsbereiche des Familienschutzes waren keine materiellen Abweichungen zu dem EMRK-System feststellbar. 2. Art. 23 I IPBPR

Art. 23 I IPBPR bedarf schon nach seinem Wortlaut keines staatlichen Handelns als Anknüpfungspunkt für die Entfaltung seines Schutzes. Im Rahmen dieser Vorschrift geht es nicht um eine Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern im Gegenteil um die Verpflichtung zur Vornahme familienfreundlicher und begünstigender Maßnahmen. 180

S. o., dieses Kapitel, Abschnitt 1.5. a).

320

3. Teil: Familienschutz

a) Verpflichteter Interessant ist bei Art. 23 I IPBPR vor allem die Frage nach dem Verpflichteten, denn diese Bestimmung gewährt der Familie einen Anspruch auf Schutz durch „society and the State". „Gesellschaft" umfaßt dabei sowohl die Gesamtheit der in einem Staat lebenden Personen als auch bestimmte Gruppierungen (z. B. Kirchen) innerhalb der Gesellschaft, die oft sehr großen Einfluß haben 181 . Während die Verpflichtung eines Paktstaates als Vertragspartner in menschenrechtlichen Verträgen üblich ist, fällt die Benennung der Gesellschaft als zweiten Verpflichteten auf den ersten Blick völlig aus dem Rahmen des Gewohnten. Soll hier nun doch eine unmittelbare Drittwirkung eines Paktrechtes begründet werden, stellt sich also Art. 23 I IPBPR als eine Verpflichtung zu Lasten Dritter, der Gesellschaft, dar? Einmal abgesehen von der grundsätzlichen Unzulässigkeit, Pflichten für nicht zustimmende Dritte zu begründen, die nicht Vertragspartei sind, wurde schon oben dargelegt, daß sich die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Paktgarantien verbietet 182 . Die Bezugnahme auf die Gesellschaft könnte vielmehr als Manifestierung der mittelbaren Drittwirkung zu verstehen sein dergestalt, daß es den Vertragstaaten obliegt, in der Gesellschaft familienfreundliche Bedingungen zu schaffen. Da die Paktgarantien allein die Vertragstaaten verpflichten können, führt der einzige Weg, einen gesellschaftlichen Schutz der Familie zu erreichen, über eine Verpflichtung der Paktstaaten zu dahingehender Einflußnahme. b) Inhalt des Schutzes Wie die Familie zu schützen ist, welchen Inhalt also die aus Art. 23 I IPBPR folgende Verpflichtung hat, ist in dieser Bestimmung nicht festgelegt, und auch die übrigen Vorschriften des IPBPR schweigen sich hierüber aus 183 . Aus den übrigen Absätzen des Art. 23 IPBPR lassen sich aber einige Anhaltspunkte für eine inhaltliche Bestimmung des geschuldeten Tuns gewinnen: So sind die Staaten verpflichtet, die Familie als schützenswerte Verbindung anzuerkennen, ihre Gründung nicht zu behindern, ein ihrer Entwicklung und freien Entfaltung günstiges Klima zu schaffen. Bei der Lösung von typischerweise auftauchenden Konflikten darf die Familie nicht alleingelassen werden, sondern es müssen ihr Möglichkeiten der Problembewältigung angeboten werden. Nicht nur entsprechende Gesetze sind hier gefragt, sondern auch Hilfeleistungen praktischer Art wie die finanzielle Unterstützung werdender Mütter, steuerliche Begünstigungen kinderreicher Familien, Bau familienfreund181

Volio, in: Henkin, International Bill of Rights, S. 201; Robinson, Universal Declaration, S. 126 zu der identischen Formulierung in Art. 16 I I I A E M R . 182 S. o., 12. Kapitel, Text zu Fn. 38 und 39. 183 Volio, in: Henkin, International Bill of Rights, S. 201.

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

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licher Wohnungen etc. Den Vertragstaaten steht eine ganze Palette von Möglichkeiten zur Verfügung, wie sie ihre Politik möglichst familienfreundlich gestalten und damit Art. 23 I IPBPR umsetzen und sein Schutzgebot innerstaatlich verwirklichen können. Familienfördernde Maßnahmen waren auch Gegenstand von Nachfragen der Sachverständigen im Menschenrechtsausschuß. Neben der in diesem Zusammenhang nicht interessierenden Gleichberechtigungsproblematik standen hier an erster Stelle Fragen nach Vorkehrungen zur Entlastung berufstätiger Mütter 1 8 4 , etwa durch die Errichtung von Vorschulzentren, Ferienlager für Kinder 1 8 5 , Kinderhorte und -krippen 186 . In der Tat berührt dies einen Problemkreis, der im Zuge einer zunehmend besseren Ausbildung von Mädchen und Frauen und deren Bemühung um Anerkennung und Gleichberechtigung immer mehr an Brisanz gewinnt. Denn eine steigende Zahl von Frauen hat zum ersten Mal die tatsächliche Möglichkeit, einen Beruf auszuüben und damit Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu gewinnen. Daß dies auch unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten erstrebenswerte und förderungswürdige Ziele sind, steht schon angesichts der Forderung nach Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter und Chancengleichheit außer Frage. Doch gleichzeitig haben nun diese legitimen Forderungen der Frauen ihre Auswirkungen auf die Familienstruktur. Derzeit stellt sich für viele Frauen und insbesondere für jene, deren Beruf eine lange Ausbildung erforderte, die Wahl zwischen Beruf und Familie als einander ausschließende Alternativen dar. Da die Hauptlast für Haushalt und Kindererziehung immer noch von den Frauen getragen wird, versuchen sie der Doppelbelastung oft durch den bewußten Verzicht auf Nachkommen zu entgehen. Vor allem in westlichen Industriestaaten nimmt man nun mit großer Besorgnis einen Rückgang der Geburtenzahlen und eine^zunehmende Überalterung der Bevölkerung wahr. Diese Entwicklung wird vermutlich so lange anhalten, wie die Entscheidungen für Beruf oder Kinder sich gegenseitig auszuschließen scheinen, da beides ohne große familiäre Belastungen und Opfer nicht miteinander vereinbar ist. Gerade in diesem Bereich könnten die Staaten viel unternehmen, um diese Konfliktsituation zu entschärfen. Denn neben einem gesellschaftlichen Wandel und der Aufgabe des traditionellen Rollenverständnisses setzt dies in allererster Linie die tatsächliche Verfügbarkeit entlastender Einrichtungen wie 184 S. bspw. Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1980, U N G A OR, 35th session, Suppl. No. 40 (A/35/40), S. 12 § 58 (Prüfung des polnischen Berichts); 1981, U N G A OR, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 28 § 128 (Italien) sowie S. 36 § 165 (Barbados) und S. 45 § 217 (Kenia); 1979, U N G A OR, 34th session, Suppl. No. 40 (A/34/40), S. 28 § 165 ( D D R ) ; 1978, U N G A OR, 33rd session, Suppl. No. 40 (A/33/40), S. 40 § 243 (Norwegen) und S. 58 § 353 (Bundesrepublik). 185 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1985, U N G A OR, 40th session, Suppl. No. 40 (A/40/40), S. 91 § 311 (Bericht der UdSSR). 186 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1978, U N G A OR, 33rd session, Suppl. No. 40 (A/33/40), S. 42 § 255 (Norwegen).

21 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

Kindergärten, Tagesstätten, Schulen mit Hausaufgabenüberwachung etc. voraus. Die Forderung nach einer möglichst umfassenden, flächendeckenden Bereitstellung solcher Fazilitäten muß daher ein vorrangiges Anliegen des Familienschutzes sein. Finanzielle Unterstützung werdender Mütter 1 8 7 oder Arbeitsplatzgarantien bzw. Erleichterungen für Frauen, die nach der Geburt wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollen 1 8 8 , sind weitere Möglichkeiten, wie Staaten zur Entschärfung dieses familiären Konflikts beitragen können. Ein weiterer, wichtiger Bereich des Familienschutzes liegt in der Unterstützung kinderreicher Familien. Die Experten fragten hier des öfteren nach wirtschaftlichen Hilfeleistungen für bedürftige und kinderreiche Familien 189 , ihren Möglichkeiten bei der Wohnungssuche190 und Begünstigungen der Familie im Wege der Steuer- und Sozialgesetzgebung191. Die Antworten der Staatenvertreter vermittelten den Eindruck, daß sich die Länder entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit durchaus bemühen, den Familien effektiven Schutz zukommen zu lassen und gerade auch die Situation kinderreicher oder bedürftiger Familien zu verbessern 192. Verschiedentlich allerdings gab die Familiengesetzgebung in den Paktstaaten auch Anlaß zu Bedenken. So sprachen die Ausschußmitglieder den irakischen Delegierten auf die nach irakischem Recht einseitige Verpflichtung der Ehefrau an, ihrem Mann stets zu folgen 193 . Wenig überzeugend wirkte hier der Hinweis des Staatenvertreters, dieses Gebot der Scharia diene dem Erhalt der Familieneinheit 194 , da dieser Zweck nichts an der diskriminierenden Einseitigkeit der Regelung ändert. Erhebliche Zweifel bestehen auch an der irakischen 187 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1980, U N G A OR, 35th session, Suppl. No. 40 (A/35/40), S. 22 § 102 (Staatenbericht der Mongolei). iss Angesprochen im Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1980, U N G A OR, 35th session, Suppl. No. 40 (A/35/40), S. 63 § 340 (Staatenbericht aus Gambia). 189 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1981, U N G A OR, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 13 § 61 (Venezuela); 1982, U N G A OR, 37th session, Suppl. No. 40 (A/37/40), S. 15 § 37 (Japan) und S. 24 § 112 (Niederlande); 1980, U N G A OR, 35th session, Suppl. No. 40 (A/35/40), S. 79 § 350 (Costa Rica): 1978, U N G A OR, 33rd session, Suppl. No. 40 (A/33/40), S. 28 § 165 (DDR). 190 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1982, U N G A OR, 37th session, Suppl. No. 40 (A/37/40), S. 15 § 37 (Japan). 191 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1982, U N G A OR, 37th session, Suppl. No. 40 (A/37/40), S. 35 § 15 (Marokko). 192 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1980, U N G A OR, 35th session, Suppl. No. 40 (A/35/40), S. 82 § 366 (Costa Rica); 1978, U N G A OR, 33rd session, Suppl. No. 40 (A/33/40), S. 31 § 181 (DDR). 193 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1980, U N G A OR, 35th session, Suppl. No. 40 (A/35/40), S. 30 § 137. 1 94 Ebenda, S. 33 § 150.

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des Familienschutzes

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Sorgerechtsregelung, wonach eine geschiedene Frau dann, wenn sie einen mit ihrem Kind nicht verwandten Mann heiratet, das Sorgerecht verliert 195 . Denn ein solcher Automatismus verhindert, daß eine am Einzelfall und vorrangig dem Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung zustande kommen kann. Kritik erntete auch die Ukraine. Dort wird der Familie die Rolle zugeschrieben, aktiv am Aufbau einer kommunistjschen Gesellschaft mit zuwirken. Ein entsprechendes Verhalten ist gleichzeitig die Voraussetzung für ihren Schutz und ihre Unterstützung 196 . Bedenklich ist dies deshalb, weil so der familiäre Bereich nicht mehr primär als privater Freiraum verstanden, sondern für an sich familienfremde Zwecke genutzt wird. Nach dem Pakt aber ist die Familie als solche schützenswert und nicht nur dann, wenn ihre Mitglieder sich auf eine bestimmte, staatlicherseits vorgeschriebene politische Haltung verpflichten. Diese Beispiele aus der Praxis des Menschenrechtsausschusses verdeutlichen, wie breit gefächert der Anwendungsbereich des Art. 23 I IPBPR ist. Staaten haben vielfältige Möglichkeiten, Familien zu unterstützen und ihre harmonische, ungestörte Entwicklung zu fördern. Daneben sind sie aufgerufen, für ein der Familie zuträgliches gesellschaftliches Umfeld zu sorgen. Dabei ist es den Paktstaaten nicht verwehrt, bei der Ausgestaltung ihres Familienschutzes ihren besonderen kulturellen und historischen Hintergrund zu berücksichtigen, da der IPBPR kein einheitliches Familienmodell propagiert. So mag es für einige Staaten wichtig sein, den Zusammenhalt der Großfamilie als wichtiger sozialer Institution zu stärken, während andere Staaten gerade den Trend zur Kleinfamilie fördern wollen. Auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Staaten setzt dem Familienschutz Grenzen. Da Art. 23 I IPBPR zu positiver staatlicher Leistung verpflichtet, die zumeist mit Kosten verbunden ist, wird der Familienschutz entsprechend der je nach Staat verschieden verfügbaren Ressourcen variieren. Denn anders als Art. 17 IPBPR kennt diese Bestimmung keine Schranken; die Begrenzung des zu Leistenden ergibt sich vielmehr aus dem Inhalt der Verpflichtung selbst. Dies hat der Menschenrechtsausschuß im Fall der maurizischen Frauen treffend formuliert, als er hervorhob, daß " . . . the legal protection or measures a society or a State can afford to the family may vary from country to country and depend on different social, economical, political and cultural conditions and traditions." 197

195

Ebenda, S. 33 § 150. Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung 1979, U N G A OR, 34th session, Suppl. No. 40 (A/34/40), S. 63 § 266. 197 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/ 35 v. 2. 5. 1978, Bericht des Menschenrechtsausschusses, U N G A OR, 36th session, 1981, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 134 ff. (141 § 9.2 (b) 2 (ii) 1). 196

2*

324

3. Teil: Familienschutz

Dies bedeutet nun aber nicht, daß die Mitgliedstaaten stets eine mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vorschützen und so den Familienschutz des Art. 23 I IPBPR leerlaufen lassen könnten. Denn dann stünde es den Staaten frei, ob sie eine verbindliche Paktgarantie innerstaatlich überhaupt verwirklichen wollten. Sie würde letztlich disponibel. Dies aber verstieße eindeutig gegen das Hauptanliegen des Paktes, einen verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard auch für den Familienschutz aufzustellen. Daher sind die Vertragstaaten gehalten, ihre knappen Geldmittel nicht nur einseitig für ihnen vordringlich erscheinende Bereiche zu verwenden, sondern auch ihre Verpflichtungen auf dem Sektor den Familienschutzes angemessen zu berücksichtigen. Darüber hinaus gibt es, etwa im Bereich der Gesetzgebung, vielfältige Möglichkeiten zur Verbesserung des innerstaatlichen Familienschutzes, die nicht kostenabhängig oder kultur- und gesellschaftsspezifisch sind. Die Verpflichtungen etwa, ein familienfreundliches Klima zu schaffen, die Familie als Institution anzuerkennen oder zur Familiengesetzgebung treffen daher alle Paktstaaten gleichermaßen, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder ihrer Kultur (die freilich den Inhalt der Regelung beeinflussen kann). Damit enthält Art. 23 I IPBPR einen Kern an Pflichten, der unbedingt umgesetzt werden muß, sowie darüber hinausgehende Verpflichtungen, deren Erfüllung von der Gesamtsituation des jeweiligen Staates abhängig ist. Einerseits also stellt die Vorschrift einen Mindeststandard auf, andererseits bleibt sie hinreichend flexibel, um ihren Schutz nicht selbst dadurch zu entwerten, daß die den Vertragstaaten Unmögliches abverlangt. I V . WSP Inhaltlich unterscheidet sich Art. 10 I WSP "The widest possible protection and assistance should be accorded to the family which is the natural and fundamental group unit of society, particularly for ist establishment and while ist is responsible for the care and education of dependent children."

nicht wesentlich von Art. 23 I IPBPR: Familienbeihilfen, Kindergeld, familienfreundlicher Wohnungsbau, Errichtung von Kindergärten, Jugendgerichte, Unterstützung unverheirateter Eltern etc. sind alles Maßnahmen, die Vertragstaaten zur Erfüllung ihrer aus Art. 101 WSP folgenden Verpflichtung ergreifen können, um allmählich einen umfassenden Familienschutz zu verwirklichen 198 . 198 Informativ dazu der dem Sachverständigenausschuß des WSP vorgelegte Bericht Australiens, der bezüglich Art. 10 WSP eingehend über soziale Unterstützungen, Kindertagesstätten , steuerliche Vergünstigungen, Mutterschutz, Unterstützung berufstätiger Mütter, Hilfen für Alleinerziehende und die Lage ausländischer Familien berichtet

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

325

Der Familienschutz des Art. 10 WSP scheint dabei allerdings früher einzugreifen als jener des IPBPR: Während Art. 23 I IPBPR von dem Schutz „der Familie" spricht, erkennt Art. 101 WSP die Familie schon „ . . . particularly for its establishment" als schutzwürdig an. Die Vertragstaaten sind also gehalten, die Familie gerade auch in ihrer Gründungsphase zu schützen, die Bildung einer familiären Gemeinschaft zu erleichtern und zu fördern. Dies heißt nun allerdings nicht, daß die Vertragstaaten zu einem Verbot der Familienplanung aufgefordert würden, Schwangerschaftsabbrüche bestrafen oder ähnliche Verbote aufstellen müßten unter dem Gesichtspunkt, daß es dann vermehrt zu Familiengründungen käme. Denn diese Familien kämen nicht freiwillig, sondern gegen den Willen der betroffenen Eltern/Mütter zustande; es bestünde praktisch ein Zwang zur Familiengründung. Ein solcher Zwang aber ist mit den Grundgedanken menschenrechtlicher Verbürgungen unvereinbar, die den Einzelnen als freie und verantwortliche Individuen schützen und vor staatlichem Druck gerade bewahren wollen. Angesprochen werden hier vielmehr positive Anreize wie finanzielle Unterstützungen, angemessene Wohnungen etc., die keinen Zwang ausüben, sondern lediglich motivierend wirken. Besondere Unterstützung verdient die Familie nicht nur in ihrer Gründungsphase, sondern ebenso dann, wenn sie ihre originären Aufgaben Pflege und Erziehung der Kinder - wahrnimmt. Aus der Hervorhebung dieser beiden Bereiche des Familienschutzes folgt gleichzeitig eine Gewichtung: Die Staaten sind gehalten, auf diese beiden Bereiche ihr besonderes Augenmerk zu richten und Unterstützung anzubieten. Im übrigen ergeben sich keine inhaltlichen Abweichungen im Vergleich zu Art. 23 I IPBPR, der ebenso wie Art. 10 I WSP die Familie als Keimzelle der Gesellschaft anerkennt und daran die geschilderten Pflichten und Verhaltensregeln knüpft. V. AmK

Die nähere inhaltliche Bestimmung des im Rahmen der A m K geschuldeten Familienschutzes kann nur abstrakt erfolgen, da einschlägige Entscheidungen oder konkrete Anwendungsfälle bislang noch fehlen. Doch da die relevanten Vorschriften jenen des IPBPR entsprechen, dürften sich ohnehin keine wesentlichen inhaltlichen Unterschiede ergeben.

(UN-Doc. E/1986/4/Add. 7). S. auch UN-Doc. E/C. 12/1987/SR. 10, S. 7 § 21 über die Bemühungen der Ukraine, die Situation arbeitender Mütter zu erleichtern. Chile wurde beispielsweise die mangelnde Erfüllung seiner Familienschutzpflicht vorgeworfen, da wegen der Exilierung ihrer Mitglieder viele Familien zerbrachen, vgl. die Prüfung des chilenischen Berichts (UN-Doc. E/1986/4/Add. 18), Press Release HR/2127 v. 16. 2. 1988.

326

3. Teil: Familienschutz 1. Art. 11 AmK

Für Art. 11 A m K als Abwehrrecht steht das Recht der Familienmitglieder auf ungestörtes Zusammenleben im Mittelpunkt. Negative Beeinträchtigungen dieser Gemeinschaft, etwa durch eine Trennung der Familienmitglieder, sind daher Eingriffe in Art. 11 I I A m K . Da die Vertragstaaten in Art. 1 I A m K die Konventionsrechte allen Personen zugesichert haben, die ihrer Hoheitsgewalt unterstehen, ist dieses Recht auch gegenüber ausländischen Familien gewährleistet, so daß auch hier bei der Ausweisung eines Familienmitgliedes der Schutzbereich der Bestimmung betroffen ist. Weitere Anwendungsfälle des Art. 11 I I A m K liegen beispielsweise in den Bereichen des Sorge- und Besuchsrechts oder auch im Strafvollzug, wo das Recht auf Familieneinheit soweit eingeschränkt ist, daß es sich nur noch als Besuchs- und Kontaktrecht der Familienangehörigen fortsetzt. Interessant ist auch hier wieder die Bestimmung des Art. 11 I I I A m K , die Art. 17 I I IPBPR wörtlich entspricht. Sie stellt klar, daß sich die Verpflichtung des Gesetzgebers nicht nur auf die Regelung des Verhältnisses des Staates und seiner Organe zur Familie beschränkt, sondern ebenso das Verhalten dritter, privater Personen betrifft 199 . Somit müssen die Konventionsstaaten auch dafür Sorge tragen, daß die Familie Übergriffen von privater Seite nicht schutzlos ausgesetzt ist. 2. Art. 17 AmK

Art. 17 I A m K erlegt den Vertragstaaten die Pflicht auf, die Familie als wichtige Grundeinheit der Gesellschaft zu achten und alle staatlichen Organe und Hoheitsträger zur Umsetzung dieser Verpflichtung anzuhalten. Gleichzeitig obliegt es ihnen, auf die Bevölkerung und einflußreiche gesellschaftliche Gruppen einzuwirken, um sie zu einer familienfreundlichen Haltung zu motivieren. Im Hinblick auf die vielfältigen Maßnahmen im Rahmen des positiven Familienschutzes bieten sich hier dieselben Möglichkeiten wie bei den übrigen, schon erwähnten Leistungsrechten der Art. 16 ES, 23 I IPBPR, 10 I WSP. Wichtig ist hier insbesondere, daß die Konventionsstaaten das Gebiet des Ehe- und Familienrechts regeln dürfen, diese Institute also nicht im rechtsfreien Raum existieren müssen. Für die lateinamerikanischen Staaten, die die faktische Lebensgemeinschaft als Familie anerkennen, bedeutet dies, daß sie diese Form des Zusammenlebens nicht vernachlässigen dürfen und auch hier die wichtigsten Bereiche des Zusammenlebens (Güter-, Erb-, Sorgerecht u. a.) regeln müssen, um die Partner solcher Gemeinschaften nicht rechtlos zu stellen. Soweit möglich, sollte auch dafür gesorgt werden, daß auch im Rahmen einer faktischen 199

Frowein, HRLJ 1980, S. 55 § 9.

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

327

Gemeinschaft die Interessen des schwächeren Partners ausreichend berücksichtigt und abgesichert werden. Entsprechende Ansätze rechtlicher Regelungen sind denn auch in den betreffenden Staaten erfolgt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß 200 . Im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit sind die Konventionsstaaten auch gehalten, den Familien finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung zukommen zu lassen, insbesondere kinderreichen und bedürftigen Familien. Hier müssen de-facto-Gemeinschaften zwar nicht mit „legalen" Familien gleichgestellt, doch dürfen sie auch nicht vollständig übergangen werden. Denn auch sie sind - entsprechende innerstaatliche Anerkennung vorausgesetzt - zu fördernde und schützenswerte familiäre Gemeinschaften. Somit kann festgestellt werden, daß der in Art. 11 und 17 A m K niedergelegte Familienschutz dem des IPBPR entspricht, wie dies schon die im wesentlichen gleichlautenden Bestimmungen vermuten ließen. Die lateinamerikanische Besonderheit der Anerkennung faktischer Lebensgemeinschaften wirkte sich nur punktuell aus, da sie sich noch nicht zu einem regional geltenden Grundsatz entwickelt hat. V I . AfrC Nach Art. 18 I S. 2 AfrC muß jeder Vertragstaat die Familie schützen und für ihre Gesundheit und Sittlichkeit sorgen; Abs. 2 erlegt ihm die Pflicht auf, die Familie als Bewahrer der in der Gesellschaft anerkannten Sittlichkeit und traditionellen Werte zu unterstützen. Als neu fällt an Art. 18 AfrC die ausdrückliche Betonung der Gesundheit und Sittlichkeit der Familie im Rahmen des zu gewährleistenden Familienschutzes auf. Die den Staaten aufgetragene Sorge für die Gesundheit erklärt sich aus den Lebensumständen auf dem afrikanischen Kontinent. Armut, Hunger, unzureichende hygienische Verhältnisse, mangelhafte medizinische Versorgung, Obdachlosigkeit, Kindersterblichkeit sind ganz reale, alltägliche Probleme, die auch das Zusammenleben der Familienmitglieder beeinträchtigen. Es ist daher nur konsequent, wenn die AfrC zunächst einmal das Überleben und die körperliche Unversehrtheit der Familienmitglieder in den Vordergrund stellt, die die Staaten in erster Linie sicherstellen müssen. Wenig klar ist, was unter dem Schutz der Sittlichkeit der Familie („moral") verstanden werden soll, ein Begriff, der des öfteren in der Charta auftaucht. So hebt beispielsweise die Präambel die Kraft der Tradition und die Werte der afrikanischen Zivilisation hervor, und gem. Art. 17 I I I AfrC gehört es zu den Pflichten des Staates, die Sittlichkeit und traditionellen Werte einer Gemein200 S. hierzu die Darstellung von Vaz Ferreira/Ramos Mané de Tanzer, Fschr. Zajtay, S. 512-523.

328

3. Teil: Familienschutz

schaft zu fördern und zu schützen. In Art. 18 I I AfrC schließlich wird die Familie als Hüterin der „morals and traditional values recognized by the community" bezeichnet. Der Begriff „Sittlichkeit" umfaßt demnach gesellschaftlich anerkannte Werte, Moralvorstellungen und Verhaltensweisen. Sie sind nicht zuletzt deshalb schützenswert, weil sie für die afrikanische Gesellschaft kennzeichnend, typisch sind. Denn wiederholt nimmt die Charta bezug auf den besonderen afrikanischen Hintergrund, der als afrikanisches Spezifikum für schützens- und erhaltenswert erklärt wird (z. B. in der Präambel, Art. 17, 29 V I I und V I I I ) 2 0 1 . Dahinter verbirgt sich die Befürchtung, der angestrebte wirtschaftliche und soziale Fortschritt, die allgemeine Entwicklung könnte zu einem Verlust der historischen, sozialen und kulturellen Identität der afrikanischen Völker führen. Dem sollen die Vertragstaaten entgegenwirken, da der Fortschritt nicht zu einer Aufgabe der afrikanischen Charakteristika führen soll. Die Vertragstaaten müssen demzufolge darauf achten, anerkannte und bewährte Gebräuche, Traditionen und Wertvorstellungen nicht einer fremden, importierten Lebensweise zu opfern, sondern zur Wahrung der überlieferten Werte und Sitten anhalten. Die Betonung der Familie und ihrer besonderen Aufgaben steht daher im Einklang mit afrikanischen Wertvorstellungen und Traditionen, deren Achtung und Förderung zu den Anliegen der Charta zählen 202 . Hinsichtlich der aus der Anerkennung der Familie als Grundeinheit der Gesellschaft und aus ihrem Schutzanspruch folgenden Pflichten der Vertragstaaten ergeben sich keine Abweichungen gegenüber den bislang untersuchten Vertragswerken. Große Bedeutung kommt auch hier der finanziellen Leistungsfähigkeit der Staaten zu, da sie den möglichen Umfang des zu leistenden Familienschutzes mitbestimmt. Da es hierum in der Dritten Welt regelmäßig schlecht bestellt ist, dürfen an die positive Förderung der Familie nicht allzu große Erwartungen gestellt werden 203 . Dies gilt freilich nur in den Bereichen, in denen Familienschutz gleichbedeutend mit materieller Unterstützung ist oder beträchtliche Kosten nach sich zieht, bspw. für den Bau bestimmter Einrichtungen wie Kindergärten, Tagesstätten etc. Den schon im Rahmen der übrigen Leistungsrechte geschilderten Mindestanforderungen des Familienschutzes204 ist allerdings auch im Rahmen der AfrC unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Vertragstaaten nachzukommen, da andernfalls wirtschaftliche Gründe stets als Entschuldigung für eine unzureichende Umsetzung des Familienschutzes angeführt werden und die Vertragstaaten sich auf diese Weise ihren Vertragspflichten entziehen könnten. Insoweit weist der Familienschutz der AfrC keine neuen Züge auf. 201

S. dazu auch van Boven, HRLJ 7 (1986), S. 187; Gittleman, VirgJIL 22 (1982),

S. 675. 202 203 204

D'Sa, Australian Y b I L 10 (1987), S. 114. So auch Gittleman, VirgJIL 22 (1982), S. 687. Beispielsweise in den Abschnitten II. 2, I I I . 2. b, I V dieses Kapitels.

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

329

Fraglich ist aber, wie es sich mit der abwehrrechtlichen Seite des Familienschutzes im Rahmen der AfrC verhält. Denn wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, ist ein auf staatliches Unterlassen gerichteter Anspruch, ein Recht auf eine staatsfreie Sphäre für die Entwicklung der Familie mindestens ebenso wichtig wie ihr Anspruch auf positiven Schutz und Unterstützung. Daß die abwehrrechtliche Seite des Familienschutzes zugunsten des positiven Schutzes in den Hintergrund tritt, verdeutlicht der Wortlaut des Art. 18 AfrC. Es fragt sich nun angesichts der Bedeutung eines Abwehranspruches, ob nicht die Auslegung des Art. 18 AfrC ein Verbot willkürlicher Eingriffe in die Familieneinheit ergibt. Ein solches Verbot könnte aus der Anerkennung der Familie als Grundeinheit der Gesellschaft und aus ihrem Anspruch auf staatlichen Schutz folgen. Denn mit der Anerkennung der Familie ist gleichzeitig ihre Achtung verbunden, die Respektierung ihrer Existenz. Dies wiederum bedingt, daß die zu achterlde Einheit nicht unnötigen, vermeidbaren Störungen ausgesetzt oder ihre normale Entfaltung durch staatliche Eingriffe behindert werden darf. Im Wege der Auslegung kann demnach auch der afrikanischen Familienschutzbestimmung ein Verbot entnommen werden, in den familiären Bereich einzugreifen. Ausdrücklich enthalten ist es in der Charta allerdings nicht. Daraus resultiert eine deutliche Schwächung des Familienschutzes der AfrC verglichen mit dem andere Verträge, bspw. der E M R K , dem IPBPR oder der A m K . Denn selbst wenn man ein Eingriffsverbot in Art. 18 AfrC hineininterpretiert, vermag dies ein ausdrücklich niedergelegtes Abwehrrecht nicht zu ersetzen. Zunächst einmal ist ein nur implizit vorhandenes Eingriffsverbot weit weniger scharf umrissen als ein ausdrücklich aufgenommenes Verbot. Denn nicht nur die Frage, ob Eingriffe überhaupt verboten sind, läßt sich erst im Wege einer am Ziel und Zweck der Bestimmung orientierten Auslegung ermitteln. Darüber hinaus bleibt klärungsbedürftig, ob jegliche Art von Eingriffen verboten sein soll oder - wie anzunehmen - entsprechend der Regelung in den übrigen menschenrechtlichen Verträgen nur willkürliche oder rechtswidrige Eingriffe. Darüber hinaus unterliegt ein Eingriffsverbot, das erst die Auslegung der Bestimmung ergibt, in ungleich höherem Maß staatlichem Wohlwollen als ein ausdrücklich verankertes Verbot. Denn es lassen sich sicherlich Begründungen für die gegenteilige Auffassung finden, wonach Art. 18 AfrC gerade kein Abwehrrecht beinhaltet. Es besteht daher die Gefahr, daß sich Staaten auf den Standpunkt stellen, Art. 18 AfrC verwehre ihnen Eingriffe in den familiären Bereich keineswegs. Schließlich hat ein nur implizites Eingriffsverbot den Nachteil, daß es keine einem ausdrücklichen Verbot vergleichbare Appellwirkung hat: Den Vertragstaaten wird nicht schon auf den ersten Blick die grundsätzliche Unantastbarkeit des familiären Bereichs vor Augen geführt, sondern sie ergibt sich erst aus einer sorgfältigen Interpretation der Bestimmung. Damit bleibt Art. 18 AfrC, selbst wenn man ihm eine abwehrrechtliche Komponente zugesteht, hinter anderen Familienschutzbestimmungen zurück.

330

3. Teil: Familienschutz

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß das Fehlen eines ausdrücklichen Abwehranspruchs gegen staatliche Eingriffe in die Familie den Familienschutz der AfrC empfindlich schwächt. Zwar ergibt sich nach der hier vertretenen Auslegung aus dem Sinn und Zweck des Art. 18 AfrC ein implizites Eingriffsverbot, doch können Staaten diese Vorschrift auch anders interpretieren und Interventionen nicht als Verstöße gegen Art. 18 AfrC werten. Entscheidend ist vor allem, daß die Konzeption des hier angenommenen Abwehrrechts unscharf bleibt und daher kein eindeutiges Ge- oder Verbot ausgesprochen wird. Diese Schwäche des Familienschutzes kann nicht durch den leistungsrechtlichen Aspekt ausgeglichen werden, der in der AfrC besonders stark hervorgehoben wird. Denn zum einen hängt in diesem Bereich viel von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Vertragstaaten ab, zum anderen vermag eine positive Förderung der Familie nicht ihren Schutz vor staatlicher Intervention zu ersetzen. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß in der AfrC auch der in den übrigen Verträgen niedergelegte Schutz der Privatsphäre fehlt. Auch andere, in den übrigen Verträgen übereinstimmend enthaltene Rechte wie jenes auf freie Wahl des Ehegatten oder auch das elterliche Erziehungsrecht fehlen in der AfrC. Hier wird ein anderes Verständnis von Rechten des Einzelnen gegenüber der Gruppe, ein eigener afrikanischer Lebensstil offenbar 205 . Die sonst übliche Betonung der Privatheit, der staatsfreien Sphäre scheint der afrikanischen Tradition fremd zu sein; stattdessen wird das Zusammenleben des Einzelnen mit seiner Gruppe - Familie, Gesellschaft, Staat - wesentlich stärker als in anderen Menschenrechtsinstrumenten hervorgehoben. V I I . Zusammenfassung Durch den internationalen Schutz von Ehe und Familie wurde den Mitgliedstaaten der verschiedenen Verträge nicht ihre Kompetenz zur Regelung dieser beiden Bereiche benommen. Zu unterscheiden ist zwischen bloß regelnden Maßnahmen einerseits und Eingriffen andererseits. Während regelnde Maßnahmen zulässig, ja geboten sind - Ehe und Familie dürfen schließlich nicht im rechtsfreien Raum existieren - unterfallen staatliche Eingriffe in die Familie den Rechtfertigungsvoraussetzungen der einzelnen Verträge. Die Grenzziehung ist nicht einfach, doch als Abgrenzungskriterium erscheint die Ausrichtung an der Stellung des Einzelnen geeignet: Nur bei ihrer Verschlechterung kann ein Eingriff vorliegen. Inhaltlich sichert das Recht auf Achtung des Familienlebens in erster Linie das Zusammenleben der Familienmitglieder, indem es ungerechtfertigte Eingriffe in die räumliche Gemeinschaft der Familienmitglieder verbietet. Da sich die Familieneinheit nicht nur in räumlicher, sondern auch in geistiger, ideeller 205

Castro-Rial Garrone, R E D I X X X V I (1984), S. 507.

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Verbundenheit manifestiert, sind den Staaten auch solche Maßnahmen verwehrt, die eine Entfremdung der Familienmitglieder bewirken. Ist eine Familie auseinandergebrochen, beispielsweise durch die Trennung des Elternpaares, so wirkt sich das Recht auf Achtung des Familienlebens auf die Gestaltung der künftigen Kontakte aus. Zwar liegt es in der Regel nicht im Interesse aller Beteiligten, beiden Elternteilen das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zuzusprechen. Der nicht sorgeberechtigte Teil hat aber zumindest ein Recht auf Umgang mit seinen Kindern, das ihm nur dann abgesprochen werden kann, wenn es das Wohl des Kindes erfordert. Sein Recht auf Achtung des Familienlebens besteht dann aufgrund der veränderten Situation nicht mehr in einem Recht auf Zusammenleben mit dem Kind, sondern setzt sich in einem Zugangs- und Kontaktrecht fort. Eine vollständige Trennung von Eltern und Kindern kommt nur in besonderen Ausnahmesituationen in Betracht, da es sich hierbei um einen der schwersten Eingriffe in die Familie handelt. Ist eine Trennung gerade im Interesse des Kindes unvermeidlich und wird seine Freigabe zur Adoption oder eine Heimerziehung angestrebt, so muß das grundsätzlich bestehende Recht der Eltern auf Gemeinschaft mit ihrem Kind bei der Entscheidung gebührend berücksichtigt werden, indem die Eltern informiert und am Verfahren beteiligt werden. Das Verfahren muß namentlich so gestaltet sein, daß nicht schon sein Ablauf Fakten schafft, indem es etwa allein durch seine Dauer zu einer Entfremdung zwischen Eltern und Kindern kommt. Auch gemischt-nationale oder rein ausländische Familie genießen den Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens. Umfang und Inhalt des Schutzes bestimmen sich nach dem entsprechenden Vertrag. Die reichhaltige Spruchpraxis zur E M R K verdeutlicht, daß die Konventionsorgane hier eine zunehmend großzügige Haltung einnehmen. Es wird mittlerweile nicht mehr erwartet, daß bei einer Ausweisung des ausländischen Familienmitgliedes die übrigen inländischen oder - bei rein ausländischen Familien - die sich rechtmäßigerweise und auf Dauer in einem Konventionsstaat aufhaltenden Angehörigen dem Ausgewiesenen in seine Heimat folgen. Von entscheidender Bedeutung ist hier mittlerweile die Zumutbarkeit der Fortführung des Familienlebens im Ausland. Vorliegend wird eine Auslegung des Art. 8 E M R K befürwortet, die Ausebenso wie Inländern ein Recht auf ein normales Familienleben im Gastland gewährt unter der Voraussetzung, daß ihr Aufenthalt legal, von gewisser Dauer und nicht auf bestimmte Zwecke begrenzt ist. Denn hat ein Staat einen Ausländer unbefristet aufgenommen, so steht er unter dem menschenrechtlichen Gebot, den Ausländer nicht isoliert, sondern als in einem familiären Verbund lebenden Menschen anzusehen, der ein natürliches Interesse an einem normalen Familienleben hat. Im Lichte dieser Auslegung erscheinen manche der gängigen Nachzugsregelungen in den Konventionsstaaten, etwa die Festle-

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3. Teil: Familienschutz

gung einer Nachzugsgrenze innerhalb der Gruppe minderjähriger Kinder, als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in Art. 8 I EMRK. Betroffen sind hier allerdings nur die engsten Angehörigen, i.d.R. Ehegatten und Kinder, denn über den Nachzugsanspruch soll es dem Ausländer ermöglicht werden, mit den für sein Leben wichtigsten Personen zusammenleben zu können. Ziel und Zweck des Nachzugsanspruchs begrenzen damit zugleich seinen Inhalt. Ebensowenig wie die E M R K gewährt der IPBPR Ausländern ein Einreiseoder Aufenthaltsrecht, doch zeigte sich der Menschenrechtsausschuß in seiner bisherigen Praxis bei der Annahme eines Eingriffs in ausländische Familien großzügiger als die EMRK-Organe. Indem die Entscheidung einer Familie zum Aufenthalt in einem Paktstaat respektiert, diesen Personen ein Recht auf Zusammenleben auch im Gastland zugestanden wird und erst in einem zweiten Schritt die Einschränkungsmöglichkeiten des Staates geprüft werden, liegt das Vorgehen des Menschenrechtsausschusses auf der Linie der hier vertretenen Auslegung des Art. 8 E M R K . Der Familienschutz im Rahmen der A m K nicht mit jenem des IPBPR identisch. Die im lateinamerikanischen Raum verbreitete Übung, faktische Verbindungen den formell geschlossenen Ehen gleichzustellen oder anzunähern, bewirkt, daß auch diese Form des Zusammenlebens berücksichtigt und - soweit angemessen - geregelt werden muß. Die ES spricht in ihrem Art. 19 (6) den Nachzug ausländischer Familienangehöriger ausdrücklich an, indem sie zur schrittweisen Erleichterung der Familienzusammenführung auffordert. Die von ihrem Ansatz her über die EMRK-Bestimmung hinausgehenden Verpflichtungen werden aber stark relativiert durch ihren Charakter als „promotional obligations", die dem Einzelnen keine unmittelbaren, subjektiven Rechte vermitteln. Eine Privilegierung gemischt-nationaler Familien bei der Vornahme ausländerrechtlicher Maßnahmen, beispielsweise bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, schließt keiner der Verträge aus. Denn da im ausländerrechtlichen Bereich die Ausländereigenschaft ein sachlicher Unterscheidungsgrund ist, liegt keine unzulässige Diskriminierung vor. Mit der leistungsrechtlichen Seite des Familienschutzes befassen sich die Art. 16 ES, 23 I IPBPR, 101 WSP und 18 AfrC. Während ein Kern von Pflichten, der nicht so kostenintensiv ist, daß er Staaten über Gebühr belastet, unbedingt umgesetzt werden muß, hängt überwiegend die Förderungsintensität von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Staaten ab. Es ist den Staaten erlaubt, bei der Ausgestaltung ihres positiven Familienschutzes verstärkt ihren spezifischen sozialen und kulturellen Hintergrund zu berücksichtigen und entsprechende Prioritäten bei der Familienförderung zu setzen. Die Unterstützung kinderreicher Familien, der Bau familienfreundlicher Wohnungen und entlastender Einrichtungen wie Kindergärten, Tagesstätten etc. sind

1 . Kap.: n

des Familienschutzes

333

in diesem Bereich zumindest für entwickelte Länder vorrangige Anliegen. Ärmere Länder kennen sicherlich brennendere Probleme, die zuerst bewältigt werden müssen, doch dürfen auch sie den positiven Familienschutz nicht vollständig vernachlässigen. Die lateinamerikanischen Staaten müssen bei der Verteilung der Ressourcen auch faktische Lebensgemeinschaften berücksichtigen, wenn sie diese offiziell anerkennen. Im übrigen wirkt sich dieses Phänomen nur punktuell aus, da eine Gleichstellung bzw. Annäherung beider Lebensformen noch kein regional allgemeingültiges Prinzip geworden ist. Während die AfrC bei der Formulierung des positiven Schutzes im wesentlichen den übrigen leistungsrechtlichen Bestimmungen folgt, gibt das Fehlen eines ausdrücklichen Abwehrrechts Anlaß zu Bedenken. Zwar ergibt eine sorgfältige Auslegung ein Verbot willkürlicher Eingriffe in den familiären Bereich, doch ist dieses Verbot nicht hinreichend scharf umrissen. Der afrikanische Familienschutz bleibt in dieser Hinsicht hinter den übrigen regionalen und den universellen Schutzsystemen zurück.

Vierzehntes Kapitel

Grenzen des Familienschutzes I. E M R K

Art. 8 E M R K enthält im Unterschied zu dem zuvor untersuchten Recht auf Eheschließung und Familiengründung (Art. 12 EMRK) eine ausdrückliche Schrankenregelung in seinem 2. Absatz: "There shall be no interference by a public authority with the exercise of this right except such as is in accordance with the law and is necessary in a democratic society in the interests of national security, public safety or the economic well-being of the country, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others."

bzw. „ I I ne peut y avoir ingérence d'une autorité publique dans l'exercice de ce droit que pour autant que cette ingérence est prévue par la loi et qu'elle constitue une mesure qui, dans une société démocratique, est nécessaire à la sécurité nationale, à la sûreté publique, au bien-être économique du pays, à la défense de l'ordre et à la prévention des infractions pénales, à la protection de la santé ou de la morale, ou à la protection des droits et libertés d'autrui."

Durch diesen Katalog zulässiger Einschränkungen wird der Inhalt des Rechts auf Achtung des Familienlebens erst vollständig konkretisiert. Aus dem Wortlaut des Art. 8 I I E M R K ergibt sich eine Dreistufigkeit der Prüfungsschritte 1: Der Eingriff muß eine Rechtsgrundlage haben, einem der in Art. 8 I I E M R K genannten Ziele dienen und zum Schutz dieser Güter in einer demokratischen Gesellschaft notwendig erscheinen. Nur dann, wenn ein Eingriff staatlicher Stellen diesen Anforderungen genügt, ist er gerechtfertigt. Im Folgenden sollen nun die Schranken des Rechts auf Achtung des Familienlebens aufgezeigt und sein Wesensgehalt vollends ermittelt werden. Dabei bietet es sich an, von dem herkömmlichen Aufbau abzuweichen und die Eingriffsziele erst am Schluß zu untersuchen, um anhand der verschiedenen, im 1 Diese Prüfungsreihenfolge findet sich in zahlreichen Urteilen des Gerichtshofs, z. B. im Sunday-Times-Urteil v. 26. 4. 1979, Ser. A , Vol. 30 zu dem insoweit gleichlautenden Art. 10 I I E M R K : A ) Was the interference „prescribed by law"? (S. 30); Β) Did the interference have aims that are legitimate under Art. 10 § 2? (S. 33); C) Was the interference „necessary in a democratic society? (S. 35).

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

335

einzelnen schon angesprochenen Fallgruppen die typischen Eingriffsziele zusammenzustellen und den Wesensgehalt zu definieren. Auf Eingriffsziele, die sich zwar in dem Katalog des Art. 8 I I E M R K finden, für den Familienschutz aber keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung haben, soll dabei nicht näher eingegangen werden. 1. Rechtsgrundlage des Eingriffs

Die Formulierung „in accordance with the law"/„prévue par la loi" provoziert sogleich die Frage nach den an die Rechtsgrundlage zu stellenden Anforderungen: Ist ein formelles Gesetz erforderlich oder genügt ein Gesetz im materiellen Sinne? Während formelle Gesetze Normen sind, die im nationalen Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zustande gekommen sind, gleichgültig, ob sie abstrakt-generell oder zur Regelung eines Einzelfalles bestimmt sind, bezeichnen Gesetze im materiellen Sinn alle abstrakt-generellen Regelungen, auch wenn sie nicht im Wege eines formellen Gesetzgebungsverfahrens zustande gekommen sind (Rechtsverordnungen, Gewohnheitsrecht). Als wenig aufschlußreich erweist sich ein Blick auf die beiden authentischen Fassungen, da in beiden Sprachen „law"/„loi" nicht nur Gesetze, sondern auch Recht an sich, allgemeine Vorschriften, Regeln etc. umschreibt 2. Vergleicht man nun aber die Fassung des Art. 8 I I E M R K mit den Art. 9 - 1 1 E M R K , so fällt auf, daß die englische Fassung „limitations as are prescribed by law" von der Formulierung in Art. 8 I I E M R K abweicht, während die französische Fassung aller vier Vorschriften übereinstimmend „prévue par la loi" lautet. Ergeben sich hieraus Konsequenzen für die Auslegung des Gesetzesbegriffs? Im Sunday-Times-Urteil befaßte sich der Gerichtshof mit dieser Frage, als er entscheiden mußte, ob die gewohnheitsrechtlich geltenden Regeln des „contempt of court" eine Rechtsgrundlage für das Veröffentlichungsverbot eines Artikels der „Sunday Times" über thalidomidgeschädigte Kinder darstellten. Da sich der Artikel eingehend mit der Schadensersatzpflicht des englischen Medikamentenherstellers befaßte, wurde befürchtet, daß die geplante Veröffentlichung das in dieser Angelegenheit anhängige Verfahren präjudizieren könnte. Der Gerichtshof stellte zunächst eine Divergenz der beiden authentischen Fassungen „prévue par la loi"/„prescribed by law" fest. Mit diesen divergierenden Fassungen verfuhr der Gerichtshof entsprechend seinen im Wemhoff-Urteil aufgestellten Grundsätzen 3:

2

Eingehend dazu Hoffmann-Remy, S. 37 f. 3 E G M R , Urt. v. 27. 6. 1968, Fall Wemhoff, Ser. A , Vol. 7, S. 23 § 8; vgl. auch Art. 33 I V W V K .

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3. Teil: Familienschutz

"Thus confronted with versions of a law-making treaty which are equally authentic but not exactly the same, the Court must interpret them in a way that reconciles them as far as possible and is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty." 4

Er stellte sodann mit Blick auf die „common law"-Staaten ausdrücklich fest, daß der auszulegende Begriff „loi"/„law" nicht nur formelle, sondern ebenso materielle Gesetze umfasse. Denn andernfalls könnte sich ein „common law"Staat nie auf die Schranken des Art. 10 I I E M R K berufen, eine bei der Ausarbeitung der Konvention keinesfalls beabsichtigte Folge 5 . Dieses Urteil betraf zwar den Gesetzesvorbehalt in Art. 10 I I E M R K , doch ist die Auslegung in vollem Umfang auf Art. 8 I I E M R K übertragbar. Denn auch hier ist der Begriff „loi"/„law" zu interpretieren, und beide Bestimmungen sind sowohl von ihrer Struktur als auch von ihrem Zweck und ihrer Zielrichtung her fast identisch. So akzeptierte auch die britische Regierung in einem späteren Fall ausdrücklich, daß die im Sunday-Times-Urteil entwickelte Auslegung der Begriffe „prévue par la loi"/„prescribed by law" in demselben Maße gültig ist für die Interpretation der Begriffe „in accordance with the law"/„prévue par la loi" in Art. 8 I I E M R K 6 . Demnach kann entsprechend auch das Recht auf Achtung des Familienlebens nicht nur durch formelle, sondern ebenso durch materielle Gesetze eingeschränkt werden 7 . Allein die Existenz einer Rechtsgrundlage an sich reicht allerdings für die Rechtfertigung eines Eingriffs noch nicht aus, sondern es müssen darüber hinaus weitere, dem Gesetzesvorbehalt inhärente Anforderungen erfüllt sein: Die Rechtsgrundlage muß dem Bürger zugänglich und so bestimmt und präzise gefaßt sein, daß er sein Handeln danach ausrichten kann 8 . Das Kriterium der Zugänglichkeit ist schon dann erfüllt, wenn das Gesetz veröffentlicht wurde 9 . Schwierigere Probleme wirft das Bestimmtheitsgebot auf, und zwar im Hinblick auf den Gebrauch unbestimmter Rechtsbegriffe und die Zubilligung eines Ermessensspielraumes der Exekutive. Der Gerichtshof erkannte hier an, daß zu rigide Anforderungen in dieser Hinsicht die nationale Gesetzgebung jeglicher Flexibilität berauben würde 10 , so daß beispielsweise auch Ermessensvorschriften eine ausreichende Rechtsgrundlage für einen Eingriff darstellen, solange sie noch so konkrete Ge- oder Verbote enthalten, daß sich der Bürger darauf einstellen kann. Ermessensvorschriften (die gerade im aus-

4

E G M R , Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 30 § 48. EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 30 § 47. 6 EGMR, Urt. v. 25. 3. 1983, Fall Silver u. a., Ser. A , Vol. 61, S. 33 § 85. 7 So schon Partsch, E M R K , S. 181 Fn. 602. Ebenso Hoffmann-Remy, S. 39; Berka, ÖZöRV 37 (1986), S. 84; Evers, EuGRZ 1984, S. 287; Hovius, Y b E L 6 (1986), S. 11. 8 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 31 § 49. 9 EGMR, Urt. v. 25. 3. 1983, Fall Silver u. a., Ser. A , Vol. 61, S. 33 § 86. 10 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 31 § 49. 5

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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länderrechtlichen Bereich häufig vorkommen) sind jedenfalls dann als Rechtsgrundlage geeignet, wenn sie den Umfang des Ermessens erkennen lassen11. Festzuhalten ist somit, daß jedes formelle oder materielle Gesetz als Rechtsgrundlage für einen Eingriff herangezogen werden kann, sofern es dem Bürger hinreichend zugänglich und außerdem so bestimmt gefaßt ist, daß der Einzelne die Folgen seines Handelns einschätzen kann. 2. Demokratieklausel

Einschränkungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens sind nur soweit zulässig, als sie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sind. Die Demokratieklausel beschränkt also ihrerseits die Schrankenregelung des Art. 8 I I E M R K und soll dazu beitragen, einen einheitlichen europäischen Mindeststandard menschenrechtlicher Beschränkungen zu schaffen 12. Ob ein Eingriff eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der in Art. 8 I I E M R K genannten Ziele notwendig ist, unterliegt subjektiver Beurteilung, ist also eine Wertungsfrage 13. a) Die Notwendigkeit

der Maßnahme

Wegweisend für die Auslegung der Demokratieklausel ist das zu Art. 10 E M R K ergangene Handyside-Urteil 14 , in dem es um die Bestrafung eines Verlegers wegen der Verbreitung eines auch sexuelle Fragen offen ansprechenden Buches für Schüler ging. Das Verbreitungsverbot dieses „Little Red Schoolbook" wurde als Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit verstanden, aber als zum Schutz der Moral notwendig gerechtfertigt. Da die Demokratieklausel des Art. 10 I I E M R K mit jener in Art. 8 I I E M R K wortgleich ist, ist die folgende Auslegung des Gerichtshofs in vollem Umfang auf die analogen Fragestellung unter Art. 8 I I E M R K übertragbar. Es stellt sich hier zunächst die Frage, welche Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft „notwendig" sind. Ein Blick auf andere Konventionsvorschriften zeigt, daß es sowohl Bestimmungen gibt, die ihrem Wortlaut nach höhere Anforderungen an einen Eingriff stellen als seine bloße „Notwendigkeit" (z. B. Art. 2 II: „absolutely necessary", Art. 6 I S. 2: „strictly necessary", Art. 151 EMRK: „to the extent strictly required by the exigencies of the situation") als auch wesentlich flexiblere Formulierungen wie etwa „ordinary" in Art. 4 I I I , „reasonable" in Art. 5 I I I und 61 EMRK. Von einem „notwendi11 12 13 14

E G M R , Urt. v. 25. 3. 1983, Fall Silver u. a., Ser. A , Vol. 61, S. 33 § 88. Hailbronner, Fschr. Mosler, S. 360. Partsch, E M R K , S. 182. E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24.

22 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

gen" Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darf daher einerseits nicht verlangt werden, daß er schlechthin unerläßlich ist, noch darf es andererseits genügen, daß er in einer demokratischen Gesellschaft lediglich wünschenswert ist. Im Handyside-Urteil findet sich hier die Konkretisierung, daß " . . . it is for the national authorities to make the initial assessment of the reality of the pressing social need implied by the notion 'necessity' in this context. Consequently, Article 10 § 2 leaves to the Contracting States a margin of appreciation." 15

Dieser Spielraum der Staaten besteht nicht unbegrenzt, sondern hängt von dem Eingriffsziel und der Natur des beeinträchtigten Rechts ab 16 . Er unterliegt der Nachprüfung der Konventionsorgane 17 , die sich nicht an die Stelle der nationalen Instanzen setzen, sondern die Einhaltung der Grenzen des nationalen Beurteilungsspielraums im Lichte der Konventionsrechte überprüfen 18 . Diese Nachprüfung bezieht sich nicht nur auf das „dringende soziale Bedürfnis", sondern auch darauf, ob der Eingriff und seine Rechtsgrundlage gemessen an dem damit verfolgten Ziel verhältnismäßig (proportionate) sind 19 . Auf den Begriff der „proportionality" dürfen zwar nicht vorschnell bekannte Vorstellungen von „Verhältnismäßigkeit" übertragen werden (etwa die des deutschen Polizeirechts von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zweck-Mittel-Relation) 20 , doch kann schon Bekanntes als Vergleichsmaßstab einen Anhaltspunkt bieten 21 . Mit der Geeignetheit der Maßnahme befaßte sich eingehend Hermann Mosler in seinem Sondervotum zum Fall Handyside, worin er hervorhob, daß „ . . . la mesure doit certainement être appropriée pour atteindre le but. Toutefois, le seul fait qu'une mesure se révèle inefficace parce qu'elle n'atteint pas son but ne permet pas de la considérer comme non nécessaire'. Le défaut de succès ne peut priver après coup de sa base légale une mesure qui pouvait réussir dans des circonstances plus favorables, si dans des conditions normales elle avait des chances d'être efficace." 22

Gefordert wird also nicht die tatsächliche Geeignetheit, sondern nur, daß bei vernünftiger Überlegung unter normalen Umständen vom Erfolg der Maß15 E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 22 § 48; Urt. v. 25. 3. 1985, Fall Barthold, Ser. A , Vol. 90, S. 25 § 55. 16 E G M R , Urt. v. 24. 11. 1986, Fall Gillow, Ser. A , Vol. 109, S. 22 § 55. 17 E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 23 § 49. 18 E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 23 § 50. 19 E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 23 § 49; Urt. v. 13. 8. 1981, Fall Young, James & Webster, Ser. A , Vol. 44, S. 25 § 63; Urt. v. 25. 3. 1985, Fall Barthold, Ser. A , Vol. 90, S. 25 § 55. 2 0 Davor warnt Engel, ÖZöRV 37 (1986/87), S. 263. 21 Zu selbstverständlich übertragen bspw. Hoffmann-Remy, S. 35 f., und Evers, EuGRZ 1984, S. 288, gängige Definitionen des nationalen Rechts auf den EMRKBereich. 22 Mosler, Opinion séparée im Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 32 ff. (33).

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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nähme ausgegangen werden durfte. In der Tat kann die Berufung auf ein gem. Art. 8 I I E M R K zulässiges Ziel nur dann überzeugen, wenn die Maßnahme nicht von vornherein als ungeeignet erscheinen mußte, da andernfalls die Einschränkung willkürlich erschiene. Darüber hinaus prüfen die Konventionsorgane die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme in einer alle relevanten Umstände des Einzelfalles erfassenden, unmittelbaren Abwägung des Eingriffs mit dem staatlicherseits verfolgten Ziel 2 3 . Die Art des betroffenen Rechts, die Schwere des Eingriffs, die Schutzbedürftigkeit des öffentlichen Interesses sind Gesichtspunkte, die bei der Entscheidung berücksichtigt werden 24 . Inhaltlich gesehen umfaßt die Verhältnismäßigkeitsprüfung also neben der Geeignetheit des Eingriffs auch Aspekte wie das Übermaß verbot und die Angemessenheit des Eingriffs. Die Angemessenheit wird dabei nicht so eng ausgelegt wie etwa die Notwendigkeit im deutschen Polizeirecht, da die Maßnahme nicht unbedingt das mildeste der erfolgversprechenden Mittel sein muß 25 .

b) Das Leitbild der demokratischen Gesellschaft Das vorrangige Anliegen der Konvention ist es, die Freiheitsrechte des Einzelnen gegen staatliche Übergriffe zu sichern und einen verbindlichen Standard für die Behandlung der Gewaltunterworfenen zu schaffen 26. Der Konvention liegt damit eine liberale Grundrechtsauffassung zugrunde, die dem Menschenbild der europäischen Staaten folgt 27 . Danach hat der Einzelne grundsätzlich das Recht, sich gemäß seinen Vorstellungen, Idealen und Zielen frei verwirklichen und entfalten zu können, soweit er dadurch nicht die nämlichen Rechte anderer beeinträchtigt. Aus diesem Menschenbild und Grundrechtsverständnis folgt, daß „Demokratie" nicht nur die Regierungsform meint, sondern auch einen Kern gemeinsamer Vorstellungen und Werte. So hob auch der Gerichtshof regelmäßig hervor, daß "pluralism, tolerance and broadmindedness society'". 28

are hallmarks of a 'democratic

23 Z. B. EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 41 f. § 66; Urt. v. 13. 8. 1981, Fall Young, James & Webster, Ser. A , Vol. 44, S. 26 § 65; s. auch Engel, ÖZöRV 37 (1986), S. 263; Evers, EuGRZ 1984, S. 288; Berka, ÖZöRV 37 (1986), S. 71 ff.; Hovius, Y b E L 6 (1986), S. 31 f. 24 K E v. 5. 5. 1979 zu B 7805/77, X und „Church of Scientology" ./. Schweden, D R 16, S. 68 ff. (73 § 5). 25 E G M R , Urt. v. 13. 8. 1981, Fall Young, James & Webster, Ser. A , Vol. 44, S. 26 § 65. Vgl. auch Engel, ÖZöRV 37 (1986), S. 263 Fn. 12. 26 Ζ. Β. EGMR, Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 16; Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 37 § 61. 27 Hailbronner, Fschr. Mosler, S. 369.

22*

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3. Teil: Familienschutz

Die Konventionsgarantien schützen damit nicht nur ein gesellschaftskonformes, angepaßtes Verhalten, sondern auch die gedankliche Opposition, die auf manche Gesellschaftsgruppen oder auch den Staat störend oder schockierend wirken mag 29 . Aus diesem Grund kommt auch dem Minderheitenschutz eine wichtige Rolle zu; die Mehrheit darf ihre dominierende Stellung nicht stets ausnutzen30. Staatliche Eingriffe, die sich mit diesen Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft nicht vereinbaren lassen, finden daher keine Rechtfertigung. Die im Zusammenhang dieser Untersuchung interessierende Frage ist, welcher Stellenwert dem Familienschutz in einer demokratischen Gesellschaft zukommt. Denn die Natur des beeinträchtigten Rechts ist, wie soeben erwähnt, mitentscheidend bei der Rechtfertigung des Eingriffs. Die Familie ist die Grundeinheit, die Keimzelle der Gesellschaft. Im Unterschied zu anderen Menschenrechtsinstrumenten (z. B. Art. 23 I IPBPR) wird dies in der Konvention zwar nicht ausdrücklich hervorgehoben, doch ist dieser Gedanke in der Wertentscheidung zugunsten der Familie enthalten, die hinter der Garantie des Rechts auf Achtung des Familienlebens steht. Auch wenn der Familienschutz nicht zu den essentiellen bürgerlichen Grundfreiheiten zählt wie etwa die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, so kommt ihm doch ein recht hoher Stellenwert deshalb zu, weil ohne intakte Familiengemeinschaften eine funktionierende Gesellschaft nicht vorstellbar ist. In der Familie werden die Grundvoraussetzungen dafür geschaffen, daß der Einzelne später überhaupt verantwortungsvoll soziale Aufgaben übernehmen und so am Auf- und Ausbau einer demokratischen Gesellschaft mitwirken kann. Doch kann nicht übersehen werden, daß der Familienschutz nicht derartig im Brennpunkt des Interesses steht wie die politischen Rechte im engeren Sinn, die als Prüfstein für das Funktionieren oder den Niedergang einer Demokratie gelten. A n Eingriffe in solche unmittelbar politischen Rechte, die zu den Grundpfeilern der Demokratie zählen, werden richtigerweise strengere Maßstäbe angelegt als bei anderen Rechten 31 . Insofern wird man, will man eine Hierarchie der Menschenrechte aufstellen, dem Recht auf Achtung des Familienlebens nicht denselben Rang zuerkennen können wie unmittelbar politischen Rechten. Doch soll hier daran erinnert werden, daß der Familienschutz keineswegs in allen Gesellschaftsordnungen selbstverständlich und gegen Aushöhlungen gefeit ist. Totalitäre Regime machen nicht vor der Familie Halt und können durch Über28 E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 23 § 49; Urt. v. 13. 8. 1981, Fall Young, James & Webster, Ser. A , Vol 44, S. 25 § 63. 29 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 40 § 65; Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 23 § 49. 30 E G M R , Urt. v. 13. 8. 1981, Fall Young, James & Webster, Ser. A , Vol 44, S. 25 § 63. 31 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 40 § 65. S. auch Engel, ÖZöRV 37 (1986), S. 270 m.w.N.

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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griffe auf diesen privatesten Bereich des Menschen dessen Existenz als freier Bürger gefährden. Der Wert der Familie für eine demokratische Gesellschaft darf folglich nicht unterschätzt werden, wenn auch der Umfang des gewährleisteten Familienschutzes nicht so symptomatisch für den Zustand der Gesellschaft ist wie die Garantie der politischen Freiheitsrechte im engeren Sinne. Neben dem (freilich recht unvollständigen) Leitbild einer demokratischen Gesellschaft, gekennzeichnet durch Pluralismus, Toleranz und Offenheit, werden im Einzelfall eine Reihe von Indizien herangezogen für die Abwägung, ob ein Eingriff durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt wird 3 2 . So werden die Praxis der übrigen Vertragstaaten 33 oder auch die Einheitlichkeit der Handhabung in dem beklagten Staat herangezogen 34. So hat es die Spruchpraxis der EMRK-Organe vermocht, die auf den ersten Blick recht abstrakt formulierte Demokratieklausel zu einem juristisch operablen Kriterium für die Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs zu machen.

3. Einschränkungsziele und Wesensgehalt

Anhand von Fallgruppen soll nun untersucht werden, auf welche Eingriffsziele sich Staaten bei Beschränkungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens berufen. Gleichzeitig soll der Wesensgehalt dieses Rechts nun vollends herausgearbeitet werden. a) Abschließende Regelung des Art. 8 II EMRK Art. 8 I I E M R K zählt verschiedene Rechtsgüter auf, in deren Interesse und zu deren Schutz das Recht auf Achtung des Familienlebens eingeschränkt werden kann. Dieser Katalog wird mittlerweile einhellig für abschließend gehalten, obgleich es anfangs den Anschein hatte, als ob die Kommission weitergehende Beschränkungen zulassen wollte 35 . Doch der Gerichtshof lehnte in seinem Urteil im Fall Golder über Einschränkungen des Briefverkehrs im Gefängnis eine solche Ausweitung der Schranken des Art. 8 I I E M R K ebenso entschieden wie eindeutig ab. Die beklagte britische Regierung hatte geltend 32

Eine Zusammenstellung findet sich bei Engel, ÖZöRV 37 (1986), S. 268-273. EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Handyside, Ser. A , Vol. 24, S. 27 § 57; Urt. v. 26. 4. 1979, Fall Sunday Times, Ser. A , Vol. 30, S. 37 § 61. 34 So wurde im Fall Handyside, Urt. v. 7. 12. 1976, Ser. A , Vol. 30, S. 26 § 54, untersucht, warum das „Little Red Schoolbook" zwar in England, nicht aber in Wales, der Isle of Man und den Kanalinseln beschlagnahmt worden war. 35 So rechtfertigte die Kommission in einer frühen Entscheidung über Beschränkungen des Briefverkehrs im Gefängnis die Einbehaltung einiger Briefe seitens der Gefängnisverwaltung als „necessary part of the depriviation of liberty", ein in Art. 8 I I E M R K nicht vorgesehener Rechtfertigungsgrund, K E v. 11. 7. 1967 zu Β 2749/66, Kenneth Hugh de Courcy ./. U K , CoD 24, S. 98. 33

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3. Teil: Familienschutz

gemacht, das Korrespondenzrecht könne nicht nur aus den in Art. 8 I I E M R K aufgelisteten, sondern darüber hinaus auch aus anderen Gründen eingeschränkt werden. Dieses Konzept der „implied limitations", so der Gerichtshof, sei mit dem Wortlaut des Art. 8 I I E M R K („There shall be no interference . . . except such as") unvereinbar 36 . Die besondere Situation eines Strafgefangenen kann daher nur insoweit berücksichtigt werden, als sie zu strengeren Maßstäben innerhalb der ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände führen kann, wenn und soweit dies der Schutz des benannten Rechtsgutes erfordert 37 . Nur zu den in Art. 8 I I E M R K ausdrücklich und abschließend genannten Zwecken also darf das Recht auf Achtung des Familienlebens eingeschränkt werden. b) Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Familienlebens Im Folgenden soll nun anhand typischer Einschränkungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens dessen Wesensgehalt konkretisiert werden.

aa) Einschränkungen im Gefängnis Naturgemäß bringt ein Gefängnisaufenthalt vielfältige und erhebliche Einschränkungen des Familienlebens mit sich: Der Freiheitsentzug führt zwangsläufig zu einer räumlichen Trennung der Familie. Umso wichtiger ist es für den Gefangenen, durch anderweitige Kontakte mit seinen Angehörigen sein Familienleben soweit wie möglich aufrechterhalten zu können. Im Rahmen des Strafvollzuges geschieht dies durch brieflichen oder telefonischen Kontakt, in erster Linie aber auch durch Besuche der Angehörigen als unmittelbarsten und persönlichsten Kontakt. Voraussetzung hierfür ist zunächst, daß der Gefangene seine Familie über seinen Aufenthaltsort informieren kann. Daß diese Möglichkeit selbst bei schwersten Delikten nicht verwehrt werden darf, betonte die Kommission im Rahmen einer Beschwerde mutmaßlicher irischer Terroristen, die ihre Ehefrauen nicht über ihren Verbleib informieren durften 38 . Ungeachtet der relativ kurzen Haftzeit nahm die Kommission einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens an, da die Ehefrauen unter der Ungewißheit über das unerklärliche Verschwinden ihrer Männer sehr gelitten hatten 39 . Die von 36

EGMR, EGMR, 38 KBer v. Evans ./. U K , bes. S. 74. 37

Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 21 § 44. Urt. v. 21. 2. 1975, Fall Golder, Ser. A , Vol. 18, S. 21 § 45. 18. 3. 1981 zu Β 8022/77, 8025/77 und 8027/77, Mc Veigh, O'Neill und D R 25, S. 15 ff. S. auch K E v. 8. 12. 1979 hierzu, D R 18, S. 66 ff., ins-

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Großbritannien geltend gemachten Rechtfertigungsgründe (nationale Sicherheit, Verteidigung der Ordnung und Verhinderung von Straftaten, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) überzeugten die Kommission nicht, da es keine konkreten Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Warnung der Komplizen oder der Unterdrückung von Beweismitteln gab 40 . Einige Kommissionsmitglieder hielten den Eingriff während der ersten Haftstunden noch aus den von der Regierung vorgebrachten Gründen für gerechtfertigt, danach aber für ungeeignet, da allein schon das unerklärliche Ausbleiben der Beschwerdeführer potentielle Komplizen gewarnt habe 41 . Gründe für den Ausschluß selbst dieser minimalen Kontakte zu den Familienangehörigen sind also kaum zu finden. Anders verhält es sich mit persönlichen Besuchen der Angehörigen. Aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens erwächst dem Gefangenen ein Anspruch auf Aufrechterhaltung eines effektiven Kontakts mit seinen Angehörigen 42 . Gleichzeitig wird damit dem strafrechtlichen Resozialisierungsgedanken Rechnung getragen, da die fortbestehende Verbindung zur Außenwelt die spätere gesellschaftliche Wiedereingliederung des Strafgefangenen erleichtert. Auch auf die Art und Weise, wie diese Besuche durchzuführen sind, hat Art. 8 E M R K Auswirkungen. Eine Atmosphäre der Privatheit ohne ständige Überwachung und Abhören der Gespräche soll grundsätzlich gewährleistet werden 43 . Denn der Sinn des Besuchsrechts besteht gerade darin, den familiären Kontakt aufrechterhalten zu können, um eine Entfremdung und ein Auseinanderbrechen der durch die Haft ohnehin sehr belasteten Familie zu verhindern. Hierzu trägt ganz wesentlich die Möglichkeit bei, ungestört über persönliche Erfahrungen und private Gefühle sprechen zu können. Doch staatlicherseits werden solche Überwachungsmaßnahmen als notwendige Sicherheitsvorkehrungen unter Hinweis auf die Sicherheit, die Verhütung strafbarer Handlungen und die Rechte und Freiheiten anderer für zulässig und geboten erachtet. Diese Einwände überzeugen allerdings nicht im Hinblick auf alle Gefangenen. Denn nicht alle Inhaftierten stellen ein Sicherheitsrisiko dar. Wollte man nun dennoch bei allen Gefangenen so weitgehende Einschränkungen ihres Kontaktrechts zulassen, so würde dieses Recht in der Praxis völlig leerlaufen. Als notwendig können derartige Einschränkungen also nur dann 39 KBer v. 18. 3. 1981 zu Β 8022/77, 8025/77 und 8027/77, Mc Veigh, O'Neill und Evans ./. U K , D R 25, S. 15 ff. (52 § 237). 40 KBer v. 18. 3. 1981 zu Β 8022/77, 8025/77 und 8027/77, Mc Veigh, O'Neill und Evans ./. U K , D R 25, S. 15 ff. (53 § 239). 41 Separate Opinion der Kommissionsmitglieder Klecker, Tenekides, Melchior und Carrillo, D R 25, S. 56 f. (57). 42 K E v. 8. 10. 1982 zu Β 9054/80, X ./. U K , D R 30, S. 113 ff. (115); so auch schon K E v. 6. 2. 1970 zu Β 3914/69, X ./. Belgien, CoD 34, S. 20 ff. (22). 43 K E v. 3. 5. 1978 zu Β 8065/77, X ./. U K , D R 14, S. 246 ff. (247/248).

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angesehen werden, wenn der konkrete Gefangene ein besonders hohes Sicherheitsrisiko verkörpert 44 . Anders gewendet: Je höher das im Einzelfall festzustellende Sicherheitsrisiko ist, desto gravierendere Einschränkungen des Besuchsrechts eines Gefangenen sind gerechtfertigt. Diese normalerweise zu gewährleistende Atmosphäre der Vertraulichkeit geht allerdings nicht so weit, daß Ehegatten daraus ein Recht auf ungestörte Zweisamkeit ableiten könnten; ein Anspruch auf Ehegattenzellen besteht nicht 45 . Denn die Konventionsstaaten haben trotz vielfältiger Reformen im Strafvollzug in diesem Bereich übereinstimmend keine Änderung vorgenommen. Die Versagung von Ehegattenzellen wurde daher zwar als Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens verstanden, aber stets gerechtfertigt als zum Schutz der öffentlichen Sicherheit 46 oder zur Verteidigung der Ordnung notwendige Maßnahme 47 . Negative Auswirkungen auf die Anstaltsordnung wurden durch unkontrollierte Besuche befürchtet, da sie den Austausch geheimer Botschaften, Drogen oder gar Waffen ermöglichen könnten 48 . Im Gefängnis ist mithin das Recht auf Achtung des Familienlebens so weitgehend eingeschränkt, daß es sich in einem bloßen Kontakt- und Besuchsrecht erschöpft, das umso stärkeren Beschränkungen unterliegt, je höher das durch den Gefangenen verkörperte Sicherheitsrisiko ist. Dies alles sind sehr weitgehende Beschränkungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens, und nicht wenige Familien zerbrechen an der Trennung. Doch letztlich hat der Gefangene selbst durch seine Straffälligkeit die Haft und damit die Trennung von seiner Familie verursacht. Alle Staaten haben ein vitales Interesse an der Einhaltung ihrer Rechtsordnung, Verstöße werden geahndet und entsprechend ihrer Schwere bestraft. Forderungen nach einer umfassenderen Beachtung der Menschenrechte werden daher wenig Gehör finden, wenn sie den Strafzweck gefährden, der nicht zuletzt darin liegt, dem Straffälligen die Folgen seines gesellschaftlich nicht tolerierten Verhaltens eindringlich vor Augen zu führen. Die geschieht durch eine Beschneidung seiner Rechte während der Haft. Änderungen dieser Praxis werden im Zuge zunehmender Humanisierung und Liberalisierung des Strafvollzuges unter stärkerer Berücksichtigung des Reso44 So akzeptierte auch die Kommission die Notwendigkeit solcher Beschränkungen nur in Fällen eines besonders hohen Sicherheitsrisikos, z. B. bei IRA-Terroristen (KE v. 3. 5. 1978 zu Β 8065/77, X ./. U K , D R 14, S. 246 ff. (248); K E v. 19. 3. 1981 zu Β 7878/77, Fell ./. U K , D R 23, S. 102 ff. (112)) oder Mitgliedern der „Rote Armee Fraktion" (KE v. 30. 5. 1975 zu Β 6166/73, Baader, Meins, Meinhof, Grundmann ./. Bundesrepublik, D R 2, S. 58 ff. (62). 45 K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241; K E v. 21. 5. 1975 zu Β 6564/74, D R 2, S. 105; K E v. 4. 2. 1970 zu Β 3603/68, X ./. Bundesrepublik, CoD 31, S. 48 ff. (50). 46 K E v. 21. 5. 1975 zu Β 6564/74, D R 2, S. 105; K E v. 4. 2. 1970 zu Β 3603/68, X ./. Bundesrepublik, CoD 31, S. 48 ff. (50). 47 K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (243). 48 K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (243).

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zialisierungsgedankens nur langsam vonstatten gehen. Einige Staaten des Europarats wie beispielsweise die Schweiz49 haben schon Schritte unternommen, dem Recht auf Achtung des Familienlebens auch im Strafvollzug einen größeren Stellenwert einzuräumen, indem verstärkter Hafturlaub gewährt wird, der u. a. der Aufrechterhaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft dienen soll. bb) Beschränkungen im Eltern-Kind-Verhältnis Die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern zählen zu dem Kernbereich des Familienlebens. Selbst bei einer Trennung der Eltern bleibt das Familienleben mit ihren Kindern bestehen, lediglich die familiären Beziehungen des Paares untereinander kommen zum Erliegen. Daraus resultiert das Recht geschiedener oder anderweitig getrennt lebender Eltern auf Zugang zu und Kontakt mit ihren Kindern. aaa) Beschränkungen des Sorge- und Besuchsrechtes Der fundamentalen Bedeutung des Bandes zwischen Eltern und Kindern ist bei der Einschränkung der elterlichen Rechte ausreichend Rechnung zu tragen. Nur sehr schwerwiegende Gründe können daher eine Versagung des weiteren Kontakts rechtfertigen 50 . Als Rechtfertigung für Beschränkungen des Sorge-und Besuchsrechts wird stets 51 das Wohl des Kindes angeführt als spezielle Ausprägung des Rechtfertigungsgrundes „Gesundheit und Moral". Gesundheit wird hier nicht nur als physisches, sondern - richtigerweise - auch als seelischen Wohlergehen definiert. Gleichzeitig bedeutet dies auch einen „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer", nämlich des Kindes 52 . Entscheidend für die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs ist also sein Zweck, d. h. ob dem nicht sorgeberechtigten Elternteil der Kontakt zum Schutz der Gesundheit des Kindes verweigert wurde 53 . Den nationalen Gerichten wird bei der Beurteilung des konkreten Falles und der Gewichtung der Interessen ein recht weiter Spielraum belassen54. Es ist Aufgabe der Konventionsorgane zu überprüfen, 49 Vgl. K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8166/78, X u. Y ./. Schweiz, D R 13, S. 241 ff. (243); Breitenmoser, S. 230. 50 K E v. 4. 7. 1983 zu Β 9018/80, Κ ./. Niederlande, D R 33, S. 9 ff. (9). 51 Abgesehen von untypischen Fallkonstellationen wie in K E v. 14. 12. 1979 zu Β 8500/79, X ./. Schweiz, D R 18, S. 238 ff., in der die Trennung eines Jugendlichen von seinen Eltern im Rahmen des Strafvollzuges als notwendig zur „prevention of disorder or crime" gerechtfertigt wurde. 52 K E v. 10. 7. 1978 zu Β 8257/78, Χ ./. Schweiz, D R 13, S. 248 ff. (252). 53 KBer v. 8. 3. 1982 zu Β 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 5 ff. (18 § 115); K E v. 12. 12. 1977 zu Β 7911/77, Χ ./. Schweden, D R 12, S. 192 ff. (193); K E v. 4. 7. 1983 zu Β 9018/80, Κ ./. Niederlande, D R 33, S. 9 ff. (12/13).

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ob die Entscheidung des nationalen Gerichts gemäß Art. 8 I I E M R K gerechtfertigt werden kann 55 . Nur unter außergewöhnlichen Umständen also, so betonte auch die Kommission in ihren neueren Entscheidungen, kann der Entschluß zum völligen Abbruch des Kontaktes gerechtfertigt werden. Solche Umstände können sowohl in der Person des Elternteils (z. B. dessen Neigung zu Gewalttätigkeiten) 5 6 als auch in der des Kindes vorliegen, insbesondere eine konstante und ernsthaft vorgebrachte Weigerung, den betreffenden Elternteil zu sehen oder sich bei ihm aufzuhalten 57 . In solchen Fällen treffen die Interessen der Eltern auf jene der Kinder, und zum Wohl des Kindes müssen in solchen Konfliktsituationen dann, wenn die entgegenstehenden Interessen nicht miteinander in Einklang gebracht werden können, die der Eltern zurückstehen 58. Angesichts dieser hohen Anforderungen, die die Kommission in ihren neueren Entscheidungen an die einen Abbruch der Beziehungen rechtfertigenden Umstände stellt, erscheinen manche Gewichtungen in früheren Entscheidungen heute unhaltbar. Ein illustratives Beispiel bietet der Fall eines österreichischen Strafgefangenen, dessen Kind weder mit ihm korrespondieren noch ihn besuchen durfte. Der Grund für diese harte Entscheidung des Jugendgerichts lag in der Regelung des Art. 176 des österreichischen ZGB, wonach bei Freiheitsstrafen über einem Jahr die elterlichen Rechte zumindest bis zur Strafverbüßung verlorengingen. Die Kommission rechtfertigte diesen umfassenden Abbruch der Beziehungen, da er im Interesse der minderjährigen Kinder geschehe59. Angesichts der besonderen Bedeutung des Kontakt- und Besuchsrechts für das Weiterbestehen familiäre Bande könnten diese Maßnahmen und die ihr zugrundeliegende Vorschrift des ZGB heute nicht mehr gerechtfertigt werden. Denn in dem sensiblen Bereich des Sorge- und Besuchsrechts ist stets eine sorgfältige, am Einzelfall orientierte und alle relevanten Umstände einbeziehende Abwägung der betroffenen Interessen unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls geboten. Damit ist eine Regelung, die unter bestimmten Voraussetzungen unweigerlich den Verlust der elterlichen Rechte anordnet, nicht mehr vereinbar 60 , da ein solcher Automatismus eine sorgfältige Abwägung gerade ausschließt. Bedenken bestehen darüber 54 KBer v. 8. 3. 1983 zu Β 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 5 ff. (18 § 119). 55 K E v. 12. 12. 1977 zu Β 7911/77, X ./. Schweden, D R 12, S. 192 ff. (193). 5 6 K E v. 9. 5. 1977 zu Β 7610/76, X ./. U K , D R 9, S. 166 f.; K E v. 12. 12. 1977 zu Β 7911/77, Χ ./. Schweden, D R 12, S. 192 ff. (193). 57 K E v. 4. 7. 1983 zu B 9018/80, Κ ./. Niederlande, D R 33, S. 9 ff. (19); KBer v. 8. 3. 1982 zu B 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 5 ff. (18 § 121). 58 So die ständige Praxis der Kommission, vgl. dazu ausführlich KBer v. 8. 3. 1982 zu Β 9427/78, Hendriks ./. Niederlande, D R 29, S. 5 ff. (19 § 124). 59 K E v. 19. 7. 1966 zu Β 2306/64, X ./. Österreich, CoD 21, S. 23 ff. (33). 60 So auch Duffy, Y b E L 2 (1982), S. 218.

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hinaus auch gegenüber den tatbestandlichen Voraussetzungen, da eine einjährige Haft insbesondere dann, wenn Besuche oder anderweitiger Kontakt des Kindes zugelassen werden, nicht zwangsläufig zu einer so tiefgreifenden Entfremdung führen muß, die von vornherein den Abbruch der Beziehungen als im Interesse des Kindeswohls geboten erscheinen läßt 61 . bbb) Dauernde Trennung von Eltern und Kindern Das physische und psychische Wohl des Kindes spielt auch eine ganz entscheidende Rolle für die Konventionsmäßigkeit einer dauerhaften Trennung von Eltern und Kindern. Sein Stellenwert wird besonders deutlich in Adoptionsfällen, in denen das Kind zunächst von seiner natürlichen Mutter freigegeben, nach vollzogener Adoption aber von der leiblichen Mutter zurückgefordert wird. In einem besonders tragischen Fall begründete die leibliche Mutter ihr Herausgabeverlangen damit, nach der Weggabe des Kindes sei ihre künftige Unfruchtbarkeit festgestellt worden 62 . Es sei daher ein unverhältnismäßig schwerer Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens, wenn die Adoption gegen ihren Willen durch Gerichtsbeschluß ausgesprochen werde. Ungeachtet der außergewöhnlichen Härte rechtfertigte die Kommission den schweren Eingriff als angemessene Lösung des Konflikts, da der mit der Angelegenheit befaßte Richter sehr sorgfältig alle Entscheidungskriterien dargelegt, gegeneinander abgewogen und seine Entscheidung im Interesse des Kindes gefällt hatte. Ausschlaggebend war schließlich die von mehreren Psychologen begründete Befürchtung, der Abbruch der mittlerweile zu der Adoptivfamilie entwickelten Bindungen und ein erneuter Wechsel der Bezugsperson könne bei dem Kind eine schwere seelische Störung hervorrufen 63 . Dieser Fall belegt eindrucksvoll die Bedeutung, die dem Kindeswohl zugemessen wird und dem selbst bei besonderer Belastung der Eltern der Vorzug gegeben wurde. Diese Bewertung findet sich durchgehend in allen mit dieser Problematik befaßten Entscheidungen64 und führt dazu, daß im Ergebnis jede nationale Entscheidung gerechtfertigt werden kann, die fehlerfrei, d. h. unter gebührender Berücksichtigung und sorgfältiger, nachvollziehbarer Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände zu dem Ergebnis kommt, eine Trennung sei dem Kindeswohl zuträglich. Die Weichen für die spätere EntscheiS. dazu insbesondere K E v. 9. 3. 1977 zu Β 7610/76, X ./. U K , D R 9, S. 166 ff., wo eine Beschränkung der Beziehungen eines für mindestens noch 14 Jahre inhaftierten Vaters zu seinen Kindern als gerechtfertigt angesehen wurde. 62 K E v. 11. 7. 1977 zu Β 7626/76, X ./. U K , D R 11, S. 160 ff. 63 K E v. 11. 7. 1977 zu Β 7626/76, Χ ./. U K , D R 11, S. 160 ff. (163). " K E v. 10. 7. 1978 zu Β 8257/78, Χ ./. Schweiz, D R 13, S. 248 ff. (251); K E v. 3. 10. 1978 zu Β 8059/77, X u. Y ./. Bundesrepublik, D R 15, S. 208 f. (209); K E v. 13. 3. 1984 zu B 9580/81, C, H & A ./. U K , D R 36, S. 100 ff. (111).

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dung werden daher schon dann gestellt, wenn das Kind für eine nicht unbeträchtliche Zeit in eine andere Familie gegeben wird, zu ihr tiefgehende Bindungen entwickelt und sich damit zwangsläufig von seiner natürlichen Familie entfremdet. Die Tatsache seiner biologischen Abstammung oder die Gründe für seine Weggabe treten dann zurück, es zählt allein die aktuelle tatsächliche Situation. Bei einer solchen Konstellation verbleiben den natürlichen Eltern allein prozedurale Ansprüche 65 . Dem Vorgehen der Kommission, sich bei Entscheidungen über das Sorgeund Besuchsrecht oder über eine dauerhafte Trennung von Eltern und Kindern vorrangig an den Interessen des Kindes zu orientieren, kann uneingeschränkt beigepflichtet werden, zumal andere Gesichtspunkte ebenfalls gründlich erörtert und sorgfältig geprüft, letztlich aber nach ihren Auswirkungen auf das Kind beurteilt werden. Der Gefühlskonflikt, in dem sich ein Kind befindet, das zwischen zwei Familien oder Elternteilen steht und Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen ist, kann sich auf die Entwicklung des Kindes nur negativ auswirken und ist daher so schnell und endgültig wie möglich zu beenden, um sein seelisches Wohlbefinden nicht ernsthaft zu gefährden oder das Kind gar auf Dauer zu schädigen. Steht das Kind zwischen seiner natürlichen und seiner Pflege- oder Adoptivfamilie oder zwischen zwei Elternteilen, so ist jeweils das Kind die wehrloseste und schutzbedürftigste Person. Es muß daher den anderen Parteien zugemutet werden, ihre eigenen Interessen und Wünsche, so gewichtig und nachvollziehbar sie auch immer sein mögen, im Fall einer Kollision mit jenen des Kindes zurückzustellen. Ein Kind darf nicht zum Spielball und Objekt widerstreitender - und letztlich vielleicht egoistischer - Interessen werden. Da in dem Entscheidungsprozeß alle in Frage kommenden Gründe und Gesichtspunkte ermittelt, gegeneinander abgewogen und bei der Feststellung des Kindeswohls ausreichend berücksichtigt werden, kann schließlich in einer Gesamtwürdigung aller Umstände entschieden werden, in welcher Familie sich das Kind physisch und psychisch am besten wird entfalten können. Ausgehend vom Wohl des Kindes ist dabei stets der Weg zu wählen, der das Recht der leiblichen Eltern auf Achtung ihres Familienlebens am wenigsten beeinträchtigt. So können im Einzelfall regelmäßige Besuche durchaus im Interesse des Kindes liegen mit der Folge, daß eine dies vernachlässigende nationale Instanz ungeachtet ihres weiten Ermessensspielraumes ein in diesem Ausmaß unnötiger Eingriff ist, der nicht gerechtfertigt werden kann. Sobald jedoch das sorfältig ermittelte Wohl des Kindes einem weiteren Kontakt mit seinen früheren Bezugspersonen entgegensteht, ist zum Schutz seiner seelischen Gesundheit und seiner Rechte und Freiheiten ein so einschneidender Eingriff wie der vollständige Abbruch aller Beziehungen zu einem oder, im Fall der Adoption, zu beiden Elternteilen nicht nur konventionsgemäß, sondern sogar geboten. 65

Dazu oben, Kap. 13, Abschnitt I. 5. b.

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cc) Beschränkungen im ausländerrechtlichen Bereich Recht zurückhaltend sind die Entscheidungen der Konventionsorgane im ausländerrechtlichen Bereich. Da zumeist schon ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens abgelehnt wurde, mußte nur in wenigen Entscheidungen auf Art. 8 I I E M R K eingegangen werden. aaa) Ausweisungen Die „Verteidigung der Ordnung" ist der weitaus häufigste Rechtfertigungsgrund bei der Ausweisung von Ausländern. Dieser Begriff ist nicht mit der beispielsweise im deutschen Recht gebräuchlichen „öffentlichen Ordnung" gleichzusetzen66, der den Staaten schier uferlose Einschränkungsmöglichkeiten an die Hand geben würde. Vielmehr muß die Störung der Ordnung einen Grad erreichen, der einen Eingriff in die von der Konvention geschützten Rechtsgüter rechtfertigt, so daß „Ordnung" im Rahmen der E M R K enger auszulegen ist als etwa im deutschen Polizeirecht. Denn bewußt wurde ein Verweis auf die „öffentliche Ordnung" vermieden und stattdessen die Begriffe „prevention of disorder "/„défense de l'ordre" gewählt, die zutreffenderweise mit „Bekämpfung von Unordnung" übersetzt werden sollten 67 . Die Durchsetzung einwanderungspolitischer Ziele und insbesondere die Ausweisung von Ausländern ohne Aufenthaltserlaubnis wird grundsätzlich als zur „prevention of disorder" notwendig gerechtfertigt 68 . Schwerwiegende Gründe, die gegen einen Verbleib des Ausländers im Gastland sprechen, können selbst äußerst harte Belastungen des Familienlebens, ja sogar die Gefährdung der Existenz einer Familie rechtfertigen. Allerdings sind hier die Anforderungen an den Ausweisungsgrund richtigerweise sehr hoch. So wurde die Ausweisung eines wegen Drogendelikten verurteilten Amerikaners gerechtfertigt, der im Gefängnis eine wegen derselben Delikte verurteilte Deutsche geheiratet hatte: Die „maintenance of public security, order and health" sei ein dringendes Bedürfnis der beklagten Bundesrepublik, die das kinderlose Paar zudem darauf aufmerksam gemacht habe, die Heirat vermittle dem ausländischen Ehepartner kein Aufenthaltsrecht. Die Vereinigten Staaten hatten schon von vornherein die Aufnahme der deutschen Ehefrau wegen ihrer kriminellen Vergangenheit abgelehnt, so daß die Familie weder in der Bundesrepublik noch in den Vereinigten Staaten eine gemeinsame Zukunft erwarten konnte. 66

Partsch, E M R K , S. 203; Berka, ÖZöRV 37 (1986), S. 85. Dazu Partsch, E M R K , S. 204 Fn. 687, der auch auf die Unzulänglichkeit der deutschen Übersetzung hinweist. 68 K E v. 6. 5. 1981 zu Β 8245/78, X ./. U K , D R 24, S. 98 ff. (100); K E v. 5. 5. 1981 zu Β 9203/80, Χ ./. Dänemark, D R 24, S. 239 ff. (240); K E v. 6. 3. 1982 zu B 9088/80, X ./. U K , D R 28, S. 160 ff. (162); K E v. 6. 7. 1982 zu B 9285/81, X , Y & Z ./. U K , D R 205 ff. (209). 67

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3. Teil: Familienschutz

Derart schwerwiegende Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens dürfen allerdings nur dann gerechtfertigt werden, wenn dem Gastland der weitere Verbleib des Ausländers schlechthin unzumutbar ist, wie dies bei besonders schweren Verbrechen der Fall ist. Denn dann kann gerade der Fall eintreten, den die EMRK-Organe durch ihre Liberalisierung der Spruchpraxis vermeiden wollten, nämlich daß die Familie künftig in einem Land leben muß, zu dem keiner der Ehepartner eine Verbindung hat. Liegt aber der Ausweisungsgrund in der Straffälligkeit des ausgewiesenen Ehegatten, so spricht für das Zurücktreten familiärer hinter staatliche Belange nicht zuletzt, daß der ausländische Ehegatte durch sein intolerables Verhalten die Ausweisung selbst verursacht und dadurch die Existenz seiner Familie aufs Spiel gesetzt hat. Während die soeben behandelten Fälle Ausländer betrafen, die sich gravierende Verstöße gegen die Rechtsordnung ihres Gastlandes hatten zuschulden kommen lassen und mithin die Ordnung gefährdeten, geht es in den Fällen des Nachzugs ausländischer Familienangehöriger nicht um die Aufrechterhaltung der Ordnung, sondern es werden vor allem wirtschaftliche Gründe angeführt, die der Aufnahme der ausländischen Familienangehörigen entgegenstehen. bbb) Nachzugsbeschränkungen Unter die nun zu untersuchenden Beschränkungen des Familiennachzuges fallen sowohl Regelungen, die den Nachzug von der wirtschaftlichen Absicherung der Familie durch den sich schon im Aufnahmestaat befindlichen Ausländer abhängig machen 69 als auch solche, die den nachzugsberechtigten Personenkreis eingrenzen 70 oder auch die Nachzugsberechtigung an die Aufenthaltsdauer des schon im Gastland lebenden Ausländers knüpfen 71 . Solche Beschränkungen werden als notwendig für das wirtschaftliche Wohl des Landes und zur Wahrung seiner wirtschaftlichen und sozialen Ordnung angesehen. Die Aufnahmemöglichkeiten des Gastlandes, allgemeine Interessen an einer Begrenzung des Ausländeranteils in der Bevölkerung aus wirtschaftli69

Z. B. Nrn. 2.5.1.3 und 2.5.1.4 der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zur Ausführung des AuslG v. 20. 10. 1981 in der Fassung v. 30. 3. 1982 (Gemeinsames Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg 1982, S. 383 ff.), wonach grundsätzlich der Familienunterhalt gesichert und eine angemessene Wohnung vorhanden sein muß. 70 Nr. 2.5.1.1. der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zur Ausführung des AuslG v. 20. 10. 1981 in der Fassung v. 30. 3. 1982 (Gemeinsames Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg 1982, S. 383 ff.). Nachzugsberechtigt sind der Ehegatte und seine unverheirateten Kinder bis zum Alter von 16 Jahren. Z. T. wird auch eine sog. „Ehebestandszeit" von 3 Jahren gefordert, s. Pirson, N V w Z 1985, S. 321 ff. und sogleich. 71 Nr. 2.5.1.2 der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zur Ausführung des AuslG v. 20. 10. 1981 in der Fassung v. 30. 3. 1982 (Gemeinsames Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg 1982, S. 383 ff.). Die Frist beträgt 3 Jahre, doch sind Ausnahmen möglich.

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chen, sozialen und integrationspolitischen Gründen werden in diesem Zusammenhang angeführt 72 . Wie weit das wirtschaftliche Wohl eines Konventionsstaates das Recht auf Achtung des Familienlebens einzuschränken vermag, wird nun zu untersuchen sein. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob man - wie hier vorgeschlagen - Nachzugsbeschränkungen als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff versteht oder die in Art. 8 I I E M R K angeführten Ziele schon zur Begrenzung einer positiven Pflicht zur Aufnahme von Ausländern heranzieht, da letztere jedenfalls nicht weiter oder enger sein kann als die Zulässigkeit eines in vergleichbarer Situation vorgenommenen Eingriffs. Die Schrankenziele selbst sind unterschiedlich zu gewichten. Es liegt auf der Hand, daß beispielsweise der Verhinderung strafbarer Handlungen bei der Einschränkung von Menschenrechten größeres Gewicht zukommt als etwa dem Schutz der Moral, da die geschützten Rechtsgüter ebenfalls von unterschiedlichem Stellenwert sind. Das wirtschaftliche Wohl eines Landes kann daher nur unter strengen Voraussetzungen Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens rechtfertigen 73 , an die umso höhere Anforderungen gestellt werden müssen, je schwerer der Eingriff ist. Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und Mittelknappheit bestehen keine Zweifel an der Begründetheit der vorgebrachten wirtschaftlichen Motivation für Nachzugsbeschränkungen. Fraglich ist allerdings, inwieweit diese Beschränkungen als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden können, inwieweit also ein „dringendes soziales Bedürfnis" für sie vorliegt, wie dies die Konventionsstaaten regelmäßig geltend machen. Stellvertretend soll hier auf ein Urteil des BVerwG zu den baden-württembergischen Nachzugsbeschränkungen zurückgegriffen werden, das in seiner Abwägung der entgegenstehenden Interessen befand: „Angesichts des anhaltenden Zuwanderungsdrucks und der bereits bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und integrationspolitischen Probleme, deren Überwindung ein massierter Familiennachzug erschweren würde, darf bei der Abwägung dem öffentlichen Interesse an einer Begrenzung der Zuwanderung ganz erhebliches Gewicht beigemessen werden." 74

Auch der Gerichtshof erkennt an, daß die Regulierung des Arbeitsmarktes angesichts der Bevölkerungsdichte in vielen Mitgliedstaaten zur Erhaltung des wirtschaftlichen Wohles als legitimes Ziel gelten kann 75 . Doch darüber hinaus kann eine Maßnahme nur dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, wenn sie im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig („propor72 73 74 75

Vgl. dazu etwa BVerwGE 70, S. 127 ff. (134). Hailbronner, Fschr. Mosler, S. 373; Breitenmoser, S. 79. BVerwGE 70, S. 127 ff. (139). E G M R , Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser, A , Vol. 138, S. 15 § 26.

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tionate") ist. In concreto ist dafür mindestens erforderlich, daß die Einreise und der Verbleib des Ausländers eine Belastung für das Gastland darstellen. Hier scheinen in letzter Zeit höhere Anforderungen an die Rechtfertigungsversuche der betroffenen Staaten gestellt zu werden. So hielt der Gerichtshof im Fall Berrehab die von den Niederlanden getroffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen, insbesondere die Ausweisung, für unverhältnismäßig: Der Beschwerdeführer sei kein erstmalig in die Niederlande einreisender Ausländer, sondern habe dort schon mehrere Jahre rechtmäßig gelebt, Wohnung und Arbeit gehabt und keinerlei Anlaß zu Beanstandungen gegeben. Zudem habe er sehr intensive Beziehungen zu seiner Tochter gepflegt, mithin also sehr starke familiäre Bande aufrecht erhalten, in die der Staat ungerechtfertigt eingegriffen und dadurch sein Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt habe 76 . Es fragt sich nun, ob angesichts dieser Auslegung des Art. 8 I I E M R K und insbesondere des „wirtschaftlichen Wohls" des Landes die verschiedenen Nachzugsregelungen gerechtfertigt werden können. Sie sollen nun im einzelnen daraufhin untersucht werden. Gegenstand verfassungsrechtlicher Prüfung war kürzlich der Erlaß Schleswig-Holsteins, der einen achtjährigen Aufenthalt des im Bundesgebiet lebenden Ausländers vor dem Familiennachzug forderte. Dadurch sollte seine weitgehende wirtschaftliche und soziale Eingliederung vor der Aufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet sichergestellt werden. Das BVerfG hielt bei dieser Regelung die familiären Belange für ausreichend berücksichtigt und nahm keinen Verstoß gegen das Schutz- und Förderungsgebot des Art. 6 GG an; schließlich könnten die Betroffenen in ihre Heimat übersiedeln, sofern sie zeitlich unbegrenzt die eheliche Lebensgemeinschaft sofort herstellen wollten 77 . Auch die Beschränkungen innerhalb der Gruppe nachzugsberechtigter Personen wie beispielsweise die Forderung nach Ehebestandszeiten wurden schon oft als Maßnahmen zu dem Zweck gerechtfertigt, die Eheleute zur Fortsetzung ihres Familienlebens im Ausland zu veranlassen. Denn die eheliche Lebensgemeinschaft werde dabei nicht verhindert, sondern die Betroffenen würden lediglich auf ihre Heimatländer verwiesen 78. Doch anders entschied kürzlich das BVerfG, das die Forderung des baden-württembergischen Nachzugserlasses nach einer dreijährigen Ehebestandszeit für eine un verhältnismäßige Beeinträchtigung der familiären Belange hielt 79 . Die Erforderlichkeit der 76

EGMR, Urt. v. 21. 6. 1988, Fall Berrehab, Ser. A , Vol. 138, S. 16 § 29. BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (102 f.). Dazu eingehend MeyerTeschendorf, D Ö V 1989, S. 105 ff. (mit ausführlichen Angaben zu den kontroversen Ansichten). 78 BVerwGE 70, S. 127 ff. (140). 79 BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (104). 77

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Ehebestandszeit war damit begründet worden, sie solle Scheinehen zur Erlangung der Einreiseerlaubnis verhindern und zudem einen Anreiz zur Rückkehr der Ausländer in ihre Heimat schaffen. Nicht die Forderung nach einer Ehebestandszeit an sich wurde als verfassungswidrig angesehen (aus der Entscheidung wird deutlich, daß gegen die in anderen Bundesländern geltende einjährige Wartezeit keine verfassungsmäßigen Bedenken bestanden 80 ), sondern ihre Dauer. Im Unterschied zu dem (zusätzlich auch in Baden-Württemberg geforderten) achtjährigen Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet treffe die Forderung nach einer dreijährigen Ehebestandszeit vor allem junge Familien und Ehen, deren Bestand dadurch besonders gefährdet werde: Die Partner müssen sich an die veränderten Lebensumstände, erhöhte Verantwortung, oft auch zusätzlich an die Anforderungen der Elternschaft gewöhnen und sie bewältigen. Gerade in dieser Zeit ist ein Zusammenleben der Ehegatten besonders wichtig, damit die Probleme gemeinsam gelöst werden können und sich die Beziehung verfestigt. Eine Trennung grenzt hier, wie auch das BVerfG anerkennt, regelmäßig an eine Zerreißprobe. Zudem besteht die Gefahr, daß Jungverheiratete sich durch die Aussicht einer langjährigen Trennung vorschnell zur Rückkehr in die Heimat verleiten lassen. Ehegefährdend kann eine Ehebestandszeit auch dadurch wirken, daß sie junge Paare veranlassen kann, zur Vermeidung einer Trennung verfrüht zu heiraten 81 . Diese Erwägungen decken sich mit jenen, die unter dem Blickwinkel der E M R K anzustellen wären. Sie sind in vollem Umfang auf die Ebene der Konvention übertragbar und finden sich im übrigen auch in den erwähnten Entscheidungen der EMRK-Organe. Danach ist die Forderung nach einer Ehebestandszeit dann konventionsgemäß, wenn ihre Dauer die besondere Bedeutung von Ehe und Familie gebührend berücksichtigt. Darüber hinaus muß auch im Rahmen der Nachzugsproblematik beachtet werden, daß die Weiterführung des Familienlebens in der Heimat der Ausländer möglich und zumutbar sein muß. Denn wollte man die Familie auf eine praktisch nicht existente Möglichkeit verweisen, wäre dies mit dem grundgesetzlichen Schutz- und Förderungsgebot ebensowenig vereinbar wie mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens in Art. 8 E M R K . Im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung kann dann allerdings einfließen, daß der im Gastland befindliche Ausländer nicht von vornherein mit einer Familienzusammenführung rechnen durfte und daß er sich freiwillig für den Auslandsaufenthalt entschieden hat. Er mußte daher damit rechnen, nicht mit seiner Familie im Gastland zusammenleben zu können. Hinzu kommt, daß die Wartezeit keine dauernde, sondern eine vorübergehende Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Familienlebens bewirkt. Zwar können auch durch vorübergehende Hindernisse die Konventionsgaran8° BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (101, 106, 107). 8i BVerfGE v. 12. 5. 1987, DVB1. 1988, S. 98 ff. (106). 23 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

tien verletzt werden, doch wirken sie in der Regel weniger schwer als ein dauerhafter Entzug des Rechts. Eine sorgfältige Abwägung aller Umstände läßt folglich die Forderung nach einer Ehebestandszeit dann als gerechtfertigt erscheinen, wenn ihre Länge an der Bedeutung von Ehe und Familie ausgerichtet wird und nicht den Bestand der Gemeinschaft gefährdet. Mehr als eine Jahresfrist dürfte somit nicht konventionsgemäß sein. Zudem wird den Mitgliedstaaten gerade ein weiter Spielraum belassen, in dem sie den Bedürfnissen und Ressourcen der Gemeinschaft wie der Einzelnen gebührende Berücksichtigung schenken dürfen. Allerdings ist von jeder umfassenden Nachzugsregelung zu fordern, daß weiterhin die Beurteilung des einzelnen Falles, eine umfassende und sorgfältige Abwägung aller relevanten Umstände möglich ist und daß ggf. von der generellen Regelung abgewichen werden kann. Denn führte ihre strikte Anwendung im konkreten Fall zu einer Gefährdung des Weiterbestandes der Familie, so müßten die wirtschaftlichen und integrationspolitischen Interessen zugunsten eines effektiven Familienschutzes zurücktreten. Abschließend kann festgehalten werden, daß die in den Konventionsstaaten geltenden Nachzugsbeschränkungen nicht das Recht auf Achtung des Familienlebens verletzen, da sie nach Art. 8 I I E M R K gerechtfertigt werden können oder aber, folgt man dem „positiven Ansatz" des Gerichtshofs, eine umfassende Pflicht der Staaten zur Aufnahme ausländischer Familienangehöriger nicht besteht. Dies ist darauf zurückzuführen, daß für die Konvention und ihre Organe die Einreise und der Aufenthalt von Ausländern in EMRKStaaten nur insofern von Belang ist, als die grundsätzlich uneingeschränkte Freiheit der Staaten in diesem Bereich quasi mittelbar oder reflexartig durch die Pflicht zur effektiven Garantie der Konventionsrechte eingeschränkt ist. Der ausländerrechtliche Bereich als solcher wird hingegen von der Konvention nicht thematisiert. Daher ist lediglich die Ausdehnung einer an sich zulässigen Ehebestandszeit auf drei Jahre konventionswidrig, da sie die betroffenen Ehen bis zur Grenze ihres Scheiterns belastet. Ebenso liegt die Forderung nach einem mehrjährigen Aufenthalt des Ausländers im Gastland im Rahmen der ausländerrechtlichen Gestaltungsfreiheit der Konventionsstaaten. Gilt dies prinzipiell auch für die Dauer des vorausgesetzten Aufenthalts, der ja eine weitgehende Eingliederung des Ausländers in die Lebensumstände des Gastlandes sicherstellen soll, so ist doch auch in diesem Bereich das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Ein achtjähriger Aufenthalt erscheint dabei als sehr lang und belastend für die Familie, wenn auch die Freiwilligkeit des Auslandsaufenthalts nicht unberücksichtigt bleiben darf. Diese Zeitspanne sollte daher als Obergrenze angesehen werden, wie dies - soweit ersichtlich auch der Fall ist.

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I I . Europäische Sozialcharta Weder Art. 16 ES noch Art. 19 (6) ES enthalten eine ausdrückliche Schrankenregelung, wenn auch die aus diesen Vorschriften folgenden Verpflichtungen ohnehin durch die staatliche Leistungsfähigkeit begrenzt sind. In Art. 19 (6) ES wird dies noch durch den einschränkenden Zusatz „as far as possible" betont. Eine generelle Schrankenregelung findet sich aber in Art. 31 ES: "The rights and principles set forth in Part I when effectively realised, and their effective exercise as provided for in Part I I , shall not be subject to any restrictions or limitations not specified in those parts, except such as are prescribed by law and are necessary in a democratic society for the protection of the rights and freedoms of others or for the protection of public interest, national security, public health, or morals. 2. The restrictions permitted under this Charter to the rights and obligations set forth herein shall not be applied for any purpose other than that for which they have been prescribed."

Die hier interessierenden Familienschutzbestimmungen sind folglich nur aufgrund einer vorhandenen Rechtsgrundlage einschränkbar, wenn dies in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz spezifizierter Rechtsgüter notwendig ist. Die einzelnen Voraussetzungen - die Begriffe „notwendig", „demokratische Gesellschaft" und die Ziele „national security", „protection of the rights and freedoms of others" sowie „protection of health and morals" - wurden schon soeben im Rahmen des Art. 8 I I E M R K ausführlich erörtert. Da sie wortgleich mit jenen der E M R K sind und es sich bei beiden Verträgen um regional-europäische Menschenrechtskonventionen handelt, kann davon ausgegangen werden, daß den Begriffen in beiden Vertragswerken dieselbe Bedeutung zukommt, zumal keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorhanden sind. Interessant sind hier vor allem die Abweichungen von den EMRK-Schranken. So fehlen in der Aufzählung des Art. 31 ES die in Art. 8 I I E M R K vorgesehenen Schrankenziele „public safety", „economic well-being of the country" und „prevention of disorder or crime". Stattdessen kennt die ES den Einschränkungsgrund des „public interest". Während keine Bedenken bestehen, die Ziele „public safety" und „prevention of disorder or crime" als im öffentlichen Interesse liegend und damit als von dem Einschränkungsgrund „public interest" des Art. 31 ES umfaßt anzusehen, scheinen Einschränkungen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen nicht zulässig zu sein. Doch der Grund für diese augenfällige Lücke ist ein ganz anderer: Wirtschaftliche Erwägungen spielen im Rahmen der ES ohnehin eine vorrangige Rolle, zum einen, da die Verwirklichung ihrer „promotional obligations" stets durch die finanzielle, wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit eines Staates begrenzt wird, zum anderen beinhalten zahlreiche Vor23*

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3. Teil: Familienschutz

Schriften zusätzlich einschränkende Formulierungen wie z. B. Art. 19 (6) ES: „soweit möglich". Die Einschränkungsmöglichkeiten, die Art. 31 ES aufzählt, beziehen sich auf die Situation, daß ein Recht schon verwirklicht worden ist, eine Situation, in der wirtschaftliche Erwägungen keine Rolle mehr spielen, da von ihnen schon das „ob" der Verwirklichung abhängt 82 . Das wirtschaftliche Wohl eines Landes mußte also, da es schon die Pflichten begrenzt, nicht noch einmal in den Schrankenregelungen aufgeführt werden. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß die im Rahmen der ES und der E M R K zulässigen Einschränkungen durchaus vergleichbar sind. Der grundlegendste Unterschied beider Verträge liegt darin, daß die ES dem Einzelnen keine unmittelbar geltenden Rechte vermittelt, sondern lediglich die Vertragstaaten zur ständigen Förderung des Familienschutzes anhält - ein eher stumpfes Schwert also 83 . Immerhin aber ist ihr das grundsätzliche Bekenntnis zu entnehmen, daß die Familieneinheit grenzüberschreitend gewährleistet sein und erleichtert werden soll. Mit diesem Grundsatz ist es unvereinbar, wenn Ausländern die Familienzusammenführung ohne zwingenden Grund erschwert wird, etwa durch die Forderung nach einem langjährigen Aufenthalt im Gastland, bevor sie ihre Familie nachkommen lassen dürfen. I I I . IPBPR Art. 23 I IPBPR enthält keine Schrankenregelung, denn diese Vorschrift erlegt den Vertragstaaten positive Leistungspflichten auf, deren Umfang ohnehin schon begrenzt ist und daher keiner zusätzlichen Regulierung durch zulässige Einschränkungsmöglichkeiten bedarf. Es sind daher allein die Schranken des Art. 17 IPBPR zu untersuchen. Schon auf den ersten Blick fällt auf, daß Art. 17 IPBPR keine detaillierte Schrankenregelung enthält wie Art. Art. 8 I I E M R K sie aufweist (und im übrigen auch andere Paktrechte). Art. 17 IPBPR läßt vielmehr alle Eingriffe in die Familie zu, die weder willkürlich („arbitrary") noch rechtswidrig („unlawful") sind, ohne daß diese Begriffe näher definiert würden. Der Wortlaut des Art. 17 IPBPR weicht hier von der Formulierung seines Vorbildes, Art. 12 A E M R , ab, das nur „arbitrary interference" verbietet. Die Begriffskumulation „arbitrary or unlawful" ist auch im Rahmen des IPBPR ein Einzelfall; andere Paktgarantien beschränken sich auf das Verbot willkürlicher Eingriffe (z. B. Art. 6 I, 9 I, 12 I V IPBPR). Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis der beiden Begriffe zueinander auf, nach ihrer Abgrenzung: Sind sie Synonyme, ist die geforderte Rechtmäßigkeit schon in dem Willkürverbot enthalten oder kommt den Begriffen je ein eigener, selbständiger Gehalt zu? 82 Dazu Wiese, G Y I L 16 (1973), S. 345. 83 Ähnlich auch das Fazit von Zuleeg, in: Barwig/Lörcher/Schumacher, Familiennachzug, S. 64. Ebenso schon Wolfrum, FW 58 (1975), S. 278.

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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1. Abgrenzung der Begriffe „arbitrary" und „unlawful"

Zunächst einmal spricht der äußere Anschein dafür, daß die Aufnahme zweier verschiedener Begriffe auch auf eine unterschiedliche Bedeutung schließen läßt. Das Willkürverbot scheint dabei weitreichender zu sein als die Forderung nach einer Rechtmäßigkeit des Eingriffs. Während ein Eingriff schon dann rechtmäßig ist, wenn er auf einer Rechtsgrundlage beruht, beinhaltet der Begriff „Willkür" nicht nur die Vorstellung der Gesetzeswidrigkeit oder des Fehlens einer Eingriffsgrundlage. Er orientiert sich vielmehr auch an übergesetzlichen Werten wie Gerechtigkeit und Menschenwürde 84 . Eine Rechtsgrundlage kann also ihrerseits willkürlich sein, so daß der Eingriff dann zwar rechtmäßig, dennoch aber willkürlich ist. Unterstützung findet diese Auslegung in der Entstehungsgeschichte. Denn schon bei den Vorarbeiten zu Art. 17 IPBPR gab es Meinungsverschiedenheiten über die Aufnahme des Begriffspaares. Während einige das Verbot von „unreasonable interference" bevorzugten, wollten andere Delegierte „unreasonable" lediglich zusätzlich zu „arbitrary or unlawful"aufnehmen, da der erstgenannte Begriff eine wesentlich weitergehende Bedeutung habe als die beiden anderen. Dieser Vorschlag scheiterte an der mehrheitlich geübten Kritik, „unreasonable" lasse einen präzisen rechtlichen Bedeutungsgehalt vermissen. Es wurde zudem daran erinnert, daß schon bei dem Entwurf des Art. 12 A E M R die Entscheidung zugunsten des Begriffs „arbitrary" gefallen sei, da dieser sowohl den Aspekt der „illegality" als auch der „unreasonableness" umfasse und seine separate Aufnahme in Art. 17 I I IPBPR daher überflüssig sei 85 . Aus diesen Stellungnahmen folgt, daß der Begriff „willkürlich" nicht nur den Aspekt der Rechtswidrigkeit umfassen sollte (denn diese Bedeutungsgehalt wäre ja schon von dem Verbot rechtswidriger Eingriffe abgedeckt), sondern darüber auch die Vorstellung von ungerecht, unangemessen und unberechenbar beinhaltet 86 . Das Willkürverbot wurde demnach eingefügt, um den Begriff der Gerechtigkeit einzuführen 87 . Es stellt sich damit als eine zusätzliche Sicherung in Situationen dar, in denen die Rechtsgrundlage des Eingriffs selbst willkürlich ist und damit auch der an sich rechtmäßige Eingriff. Ebenso sichert das Willkürverbot gegen Fälle, in denen schon das Gesetz selbst in den von Art. 171 IPBPR geschützten Bereich eingreift, da ein Gesetz ja per definitionem nicht „unlawful" sein kann.

84

Ähnlich Volio, in: Henkin, International Bill of Rights, S. 191. 85 UN-Doc. A/2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part II) Annexes S. 47 § 102. 86 Vgl. den Bericht des Sachverständigenausschusses für Menschenrechte an das Ministerkomitee, Europarats-Dokument H (70) 7 v. 1. 8. 1970, § 29. 87 Bericht des Sachverständigenausschusses für Menschenrechte an das Ministerkomitee, Europarats-Dokument Η (70) 7 ν. 1. 8. 1970, § 27.

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3. Teil: Familienschutz

Mit einer solchen Situation hatte sich der Menschenrechtsausschuß im schon des öfteren erwähnten Fall der maurizischen Frauen zu befassen. Die mögliche Verletzung des Art. 17 IPBPR durch ein Gesetz (das maurizische Ausländergesetz) beurteilten die Experten folgendermaßen: "Since, however, this situation results from the legislation itself, there can be no question of regarding this interference as 'unlawful' within the meaning of article 17 (1) in the present cases. It remains to be considered whether it is 'arbitrary' or conflicts in any other way with the Covenant." 88

„Willkürlich" und „rechtswidrig" sind demnach keine Synomyme. Der Anwendungsbereich der beiden Begriffe grenzt sich wie folgt ab: Rechtswidrig ist ein Eingriff dann, wenn er nicht im Einklang mit seiner Rechtsgrundlage steht oder eine solche überhaupt fehlt. Willkürlich ist er darüber hinaus, wenn die Rechtsgrundlage ihrerseits gegen die Paktgarantien verstößt oder einem nicht paktkonformen Ziel dienen soll. 2. Inhalt der Begriffe

a) „Unlawful " Das Problem der Rechtmäßigkeit berührt die Frage nach der Zugänglichkeit des Gesetzes für den Einzelnen, insbesondere die Pflicht zur Veröffentlichung. Denn erst dann, wenn eine Regelung hinreichend bekannt oder eine verläßliche Information ohne größeren Aufwand möglich ist, kann der Bürger sein Verhalten entsprechend ausrichten 89. Zudem sollte die Rechtsgrundlage des Eingriffs zum Eingriffszeitpunkt schon vorhanden sein und nicht erst nachträglich geschaffen werden 90 . In seiner endgültigen Fassung der „General Comments" faßte der Menschenrpchtsausschuß das Ergebnis mit der recht allgemeinen Formulierung zusammen: "The term 'unlawful' means that no interference can take place except in cases envisaged by the law. Interference authorized by States can only take place on the basis of law, which itself must comply with the provisions, aims and objectives of the Covenant." 9 1 88 Shirin Ameeruddy-Cziffra und 19 andere maurizische Frauen, Beschwerde R. 9/35 v. 2. 5. 1978, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, U N G A OR, Suppl. 40 (A/36/40), S. 134 ff. (140 § 9.2.(b)2(i)4). Vgl. auch die General Comments des Menschenrechtsausschusses zu Art. 17, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, U N G A OR, 43rd session, Suppl. No. 40 (A/43/ 40), S. 181 §§ 3, 4. Dazu auch sogleich. 89 Dies hoben die Sachverständigen im Menschenrechtsausschuß hervor, bspw. Higgins, CCPR/C/SR. 749 v. 23. 7. 1987, S. 5 § 26; Dimitrievic, ebenda, S. 6 § 30; Mommersteeg, ebenda, S, 7 § 37. Anlaß zu Diskussionen gab dieser Punkt insbesondere deshalb, weil die Arbeitsgruppe ihren ursprünglichen Entwurf gerade in dieser Hinsicht geändert und den Hinweis auf die Veröffentlichungspflicht gestrichen hatte. Dazu Higgins, CCPR/C/SR. 749 v. 23. 7. 1987, S. 5 § 26. 90 Higgins, CCPR/C/SR. 749, S. 7 § 35; Movchan, CCPR/C/SR. 751, S. 3 § 5.

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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b) ,,Arbitrary " Ein Eingriff kann willkürlich sein selbst dann, wenn er rechtswidrig ist. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn seine Eingriffsgrundlage so unbestimmt gefaßt ist, daß sie ein weites, praktisch unkontrolliertes Ermessen zuläßt. Eben dies rügte der Menschenrechtsausschuß bei seiner Prüfung des jamaikanischen Staatenberichts, denn das zu beurteilende Gesetz " . . . was formulated in unduly broad terms conferring broadly defined powers without adequate control, as in the case of police interference." 92

Aufschlußreich für eine nähere inhaltliche Bestimmung des Willkürverbotes sind auch hier die Arbeiten des Menschenrechtsausschusses an seiner Kommentierung der Paktrechte. Einige Experten hoben hervor, daß das Konzept der Verhältnismäßigkeit im Willkürverbot enthalten sei: Die Einschränkung des Paktrechtes dürfe im Hinblick auf die mit dieser Einschränkung verbundenen Ziele nicht unverhältnismäßig sein 93 . Dies bedeutet gleichzeitig, daß vernünftige („reasonable") Beschränkungen der Paktrechte, etwa aus Gründen der Sicherheit oder Gesundheit 94 , zulässig sind. Diese Anregungen der Experten schlugen sich in der endgültigen Fassung der „General Comments" nieder: "The expression 'arbitrary interference' is also relevant to the protection of the right provided for in article 17. In the Committee's view, the expression 'arbitrary interference' can also extend to interference provided for under the law. The introduction of the concept of arbitrariness is intended to guarantee that even interference provided for by law should be in accordance with the provisions, aims and objectives of the Covenant and should be, in any event, reasonable in the particular circumstances." 95

Im Vergleich mit der E M R K kann damit festgehalten werden, daß die Schranken des Art. 17 IPBPR zwar nicht in einem ausgefeilten Katalog niedergelegt und damit tendenziell unschärfer sind als jene in Art. 8 I I E M R K , doch vermochte der Menschenrechtsausschuß in seiner Anwendung dieser Bestimmung und vor allem in seinen „General Comments" den Schranken Konturen und juristische Operabilität zu verleihen. Es ist theoretisch denkbar, daß vor dem Pakt weitergehende Einschränkungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens Bestand haben können als vor Art. 8 E M R K , da die Eingriffe nicht an bestimmte, detailliert aufgeschlüsselte Ziele gebunden sind wie im Rahmen der E M R K . Da aber die in Art. 8 I I E M R K aufgezählten 91

Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, OR, 43rd session, Suppl. No. 40 (A/43/40), S. 181 § 3. 92 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, OR, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), S. 57 § 268. 93 Higgins, CCPR/C/SR. 749, S. 5 f. § 26. 94 Aguilar, CCPR/C/SR. 749, S. 7 § 36; ders., CCPR/C/SR. 751, S. 3 § 3 § 40; El Shafei, CCPR/C/SR. 752, S. 2 § 2. 95 Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, OR, 43rd session, Suppl. No. 40 (A/43/40), S. 181 § 4.

UN GA UN GA

und S. 9 UN G A

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3. Teil: Familienschutz

Ziele die hauptsächlichen Anwendungsfälle solcher Einschränkungen abdekken, dürfte der Möglichkeit umfassenderer Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in die Familie gem. Art. 17 IPBPR kaum praktische Bedeutung zukommen. I V . WSP Auf die Grenzen der in Art. 10 I WSP niedergelegten positiven Leistungsund Verhaltenspflichten ist schon bei der inhaltlichen Konkretisierung dieser Bestimmung eingegangen worden. Erwägungen, die zur Einschränkung der Verpflichtungen führen konnten, etwa die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Staaten, wurden schon bei der Definition der positiven Pflichten berücksichtigt. Auf die Schranken des Art. 10 I WSP ist daher an dieser Stelle nicht noch einmal einzugehen, zumal der Vertrag ebensowenig wie der IPBPR eine generelle Schrankenregelung beinhaltet. Y. AmK Eingriffe in die Familie sind nur dann Verstöße gegen die A m K , wenn sie „arbitrary or abusive" sind. Hier unterscheidet sich der Wortlaut des Art. 11 I I A m K von der entsprechenden Paktbestimmung Art. 17 IPBPR, die - wie soeben dargestellt - „arbitrary or unlawful interference" verbietet. Es fragt sich daher, ob und inwieweit unter der A m K weitergehende Eingriffe in die Familie zulässig sind oder ob sich der partiell unterschiedliche Wortlaut in der Anwendung der Bestimmungen nicht auswirkt. Nach der soeben ermittelten Bedeutung setzt das Willkürverbot einerseits voraus, daß der Eingriff auf einer Rechtsgrundlage beruht, darüber hinaus beinhaltet es aber auch übergesetzliche Vorstellungen von Gerechtigkeit, die bestimmte Anforderungen an die Rechtsgrundlage stellen: Sie darf ihrerseits nicht gegen grundlegende Werte (etwa die Menschenwürde) verstoßen und muß zudem in Einklang mit den in der A m K niedergelegten Garantien stehen. Denn ein Gesetz, das selbst gegen die Konvention verstößt, kann von dieser nicht als Rechtsgrundlage für einen Eingriff akzeptiert werden, nach der sich seine Konventionsmäßigkeit beurteilt. Das Willkürverbot ist damit eine Sicherung gegen an sich rechtmäßige Eingriffe, die jedoch auf einer willkürlichen Rechtsgrundlage beruhen. Das Mißbrauchsverbot spricht den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit an: In den familiären Bereich darf nur insoweit eingegriffen werden, wie dies zur Verfolgung eines konventionskonformen Zieles notwendig und geboten ist. Übermäßige Beeinträchtigungen sind mißbräuchlich, da sie das Familienschutzkonzept der Konvention aushöhlen.

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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Die Zulässigkeit von Eingriffen in die Familie deckt sich also mit jener des Art. 17 IPBPR, da sowohl der Bedeutungsgehalt von „unlawful" als auch „abusive" in dem in beiden Verträgen aufgeführten Willkürverbot enthalten ist. Die zusätzliche Aufnahme weiterer Kriterien stellt in beiden Verträgen lediglich unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund: Der IPBPR hebt mit seinem Verbot der „unlawful interference" die Forderung nach einer Rechtsgrundlage, die A m K mit ihrem Verbot von „abusive interference" das Verhältnismäßigkeitsprinzip besonders hervor. Schließlich findet sich in Art. 32 I I A m K eine sehr allgemeine Formulierung von für alle Konventionsrechte geltenden Schranken: "The rights of each person are limited by the rights of others, by the security of all, and by the just demands of the general welfare, in a democratic society."

Diese Klausel legt eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit fest, nämlich den gleichberechtigten Anspruch aller auf Genuß der Konventionsrechte. Dies bedingt notwendigerweise, daß der individuelle Gebrauch der Konventionsgarantien nicht die anderen Berechtigten in der Wahrnehmung ihrer Rechte und Freiheiten behindern darf. Ebensowenig dürfen begründete Interessen des Staatswohles oder die Sicherheit aller in einer demokratischen Gesellschaft beeinträchtigt werden. Auf diese Weise werden einerseits vitale Interessen aller Staaten berücksichtigt, andererseits wird staatlichem Machtmißbrauch vorgebeugt durch die Eingrenzung auf die Interessen allein demokratischer Gesellschaften. Ein Mißbrauch der Schranken durch totalitäre Regime, die entsprechend ihrer Ideologie die Interessen des Staates, seine Sicherheit oder das allgemeine Wohl neu definieren und die Konventionsrechte aushöhlen könnten, wird dadurch im Rahmen des Möglichen verhindert. Ein Novum im Vergleich zu den bislang untersuchten Bestimmungen ist die Statuierung von Pflichten des Individuums u. a. gegenüber seiner Familie in Art. 32 A m K . Wie wirkt sich dies auf den von der Konvention gewährten Familienschutz aus, wird er durch die gleichzeitige Proklamation von Pflichten entkräftet? Ein Blick auf die Formulierung dieser Pflichten erweist, daß diese Frage hier noch zurückgestellt werden kann. Denn wenn niedergelegt ist: "Every person has responsibilities to his family, his community and mankind.",

so erweist sich diese Klausel als viel zu allgemein, als daß sie einem Staat als Grundlage für Beschränkungen des Familienschutzes dienen könnte. Vielmehr wird generell die Rolle jedes Menschen als soziales Wesen, als Mitglied einer Gemeinschaft bekräftigt, der nicht nur isoliert Rechte genießt, sondern auch Verantwortung zeigen muß gegenüber seinem Gemeinwesen. Seine Rechte finden daher ihre Grenze an den gleichrangigen Rechten anderer Mitglieder der Gemeinschaft und dem Gesamtwohl (Art. 32 I I AmK). In der engen sozialen Verflochtenheit eines modernen Staates ist es ohnehin nicht denkbar, daß isoliert nur die Rechte eines Einzelnen beurteilt werden. Dies

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3. Teil: Familienschutz

wäre der Struktur der Konvention völlig fremd, die vielfältige Möglichkeiten des Interessenausgleichs und der Abwägung vorsieht. Insofern hat Art. 32 A m K eher deklaratorischen Charakter und kann jedenfalls nicht Anlaß zu der Prüfung geben, ob über diese Vorschrift der Familienschutz gefährdet oder inhaltlich entwertet wird - dies ist erkennbar nicht das Anliegen und der Zweck dieser Vorschrift. V I . AfrC Art. 18 AfrC enthält ebensowenig eine Schrankenbestimmung wie andere Vorschriften, die positive Leistungsansprüche beinhalten (z. B. Art. 23 I IPBPR, Art. 10 I WSP). Wie bei diesen Vorschriften erfolgt auch bei Art. 18 AfrC die Begrenzung der Pflicht zu positivem Schutz und Förderung der Familie schon bei der Formulierung der Pflicht und nicht erst über Rechtfertigungsgründe. Im Unterschied zu den bislang untersuchten Verträgen findet sich in der AfrC eine ausführliche Festschreibung nicht nur von Rechten, sondern auch von Pflichten (Art. 29 AfrC). Diese z.T. recht konkreten Pflichten betreffen auch die Familie: Art. 29 I AfrC fordert die Bemühung um eine harmonische Entwicklung der Familie, Sorge für ihren Zusammenhalt und ihre Achtung, Unterhaltsverpflichtungen. Gerade die gegenüber der Familie bestehenden Pflichten scheinen sich als notwendige Konsequenz aus der Gruppenzugehörigkeit des Einzelnen zu ergeben 96 , denn unter dieser Prämisse ist die Propagierung der einzelnen Rechte nicht ohne gleichzeitige Hervorhebung der komplementären Pflichten denkbar. So betont auch schon die Präambel, " . . . that the enjoyment of rights and freedoms also implies the performance of duties on the part of everyone

Andererseits könnte die Aufnahme des gleichberechtigten Pflichtenkataloges aber auch zu einer Einschränkung der niedergelegten Rechte führen 97 unter der Voraussetzung, daß innerstaatliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Pflichten (Art. 1 AfrC) getroffen werden. Dies gewinnt besonders vor dem Hintergrund an Bedeutung, daß weder eine generelle Schrankenregelung noch eine Derogationsvorschrift existiert. Es ist daher eingehend zu prüfen, welche Auswirkungen die Niederlegung von Pflichten des Einzelnen gegenüber der Familie auf seine Stellung als Berechtigter im Rahmen des Familienschutzes hat. In Art. 27 I I AfrC enthält die Charta eine mit Art. 32 A m K fast gleichlautende, generelle Schranke der Konventionsrechte: 96

Okere, HRQu 6 (1984), S. 149. Sangare Abou, RevJurPol 39 (1985), S. 843; Mbaya, V N 1984, S. 135; Umozurike, A J I L 77 (1983), S. 911. 97

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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"2. The rights and freedoms of each individual shall be exercised with due regard to the rights of others, collective security, morality and common interest."

Diese allgemeine Schranke in der Charta läßt ebensowenig wie die entsprechende Bestimmung der A m K Befürchtungen hinsichtlich einer Relativierung der in der AfrC niedergelegten Rechte aufkommen, da in Art. 27 I I AfrC lediglich eine ohnehin gültige Auslegungsregel wiederholt wird. Denn wenn allen gleichermaßen die in der Charta niedergelegten Rechte und Freiheiten zustehen, ist ihre Wahrnehmung und Ausübung notwendigerweise durch die gleichen Rechte der anderen begrenzt. Darüber hinaus legt Art. 27 I AfrC gleichlautend wie Art. 321 A m K in sehr allgemeiner Form Pflichten des Einzelnen fest: "1. Every individual shall have duties towards his family and society, the State and other legally recognized communities and the international community."

Ebenso wie die Parallelbestimmung der A m K gibt auch Art. 27 I AfrC keinen Anlaß zu Bedenken, dadurch könnten die Chartarechte eingeschränkt und der Familienschutz entwertet werden. Im Unterschied zu den bislang untersuchten Verträgen enthält die AfrC aber darüber hinaus den schon angesprochenen Pflichtenkatalog in Art. 29 AfrC, der die dem Einzelnen obliegenden Pflichten näher aufschlüsselt und damit den Inhalt der generellen Vorschrift Art. 27 I AfrC näher konkretisiert. Die ersten der dort niedergelegten Pflichten betreffen die Familie, indem sie dem Einzelnen auferlegen: "1. To preserve the harmonious development of the family, and to work for the cohesion and respect for the family; to respect his parents at all times, to maintain them in case of need; . . . "

Der Grund für diese Postulierung spezieller Pflichten des Einzelnen gerade auch in bezug auf seine Familie liegt in der spezifisch afrikanischen Tradition, in dem gesellschafts- und gruppenbezogenen Menschenrechtsverständnis 98. Denn weitaus mehr als etwa nach westlich-europäischen Vorstellungen ist das afrikanische Menschenbild von der Überzeugung geprägt, der Einzelne sei weniger Individuum als vielmehr Mitglied einer Gruppe. Aus diesem Verständnis folgt, daß neben den Rechten des Einzelnen gegenüber der Gruppe korrespondierende Pflichten existieren, um das harmonische Zusammenleben innerhalb der Gruppe zu sichern 99 . Schon traditionell obliegt den Familienmitgliedern also eine Reihe durchaus zwingender Pflichten, die gesellschaftlich allgemein anerkannt und auch durchgesetzt werden, wie beispielsweise die Pflicht erwachsener Kinder zur Unterstützung ihrer Eltern 1 0 0 .

98 Much, E A 1988, S. 20. 99 Okere, HRQu 6 (1984), S. 149. 100 D'Sa, Australian Y b I L 10 (1987), S. 115.

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3. Teil: Familienschutz

Ist somit die Aufnahme eines Pflichtenkataloges vor dem speziellen afrikanischen Hintergrund erklärbar, so ergeben sich dennoch Bedenken gegen eine solche Statuierung von Pflichten in einem menschenrechtlichen Vertrag. Denn sie könnten ein Einfallstor zur Entkräftung der in der Charta niedergelegten Rechte und Freiheiten darstellen. Sie sind so konkret gefaßt, daß sie von den Vertragstaaten angeführt werden könnten, um die Rechte der Charta einzuschränken 101 . Wenn der begünstigte Einzelne seine Rechte und Freiheiten nur unter gleichzeitiger Achtung von Werten und Zielen wie dem Dienst an der nationalen Gemeinschaft (Art. 29 Ziff. 2), der Achtung der Staatssicherheit (Ziff. 3), der Mehrung der sozialen und nationalen Souveränität (Ziff. 4) oder der Verteidigung der Staatsunabhängigkeit und Integrität (Ziff. 5) wahrnehmen darf, werden diese Rechte und Freiheiten stark relativiert 102 . Es fragt sich allerdings, ob diese Befürchtungen in gleichem Umfang auch auf die gegenüber der Familie bestehenden Pflichten zutreffen. Da sie vor allem die Einbindung des Menschen in Gruppenbezüge sicherstellen sollen, wie es in Afrika Tradition hat, kann darin mit guten Gründen nur die an sich unbedenkliche Erhebung traditioneller Werte zu Rechtsverpflichtungen erblickt werden 103 . Doch immerhin theoretisch besteht die Möglichkeit, daß z. B. die Pflicht des Familienmitgliedes, sich für den Zusammenhalt der Familie einzusetzen, Staaten Argumentationshilfe für ein Verbot der Ehescheidung oder gar der rechtswirksamen Trennung von Ehepaaren leisten könnte. Das Gebot, die Eltern stets zu achten, könnte herangezogen werden, die Zustimmung der Eltern zu einer beabsichtigten Eheschließung zu begründen oder gar ein Recht, Eheschließungen ohne das Einverständnis der Brautleute zu arrangieren (zumal das Recht auf freie Wahl des Ehepartners in der AfrC fehlt). Noch fehlen die Erfahrungen mit diesem recht neuen Menschenrechtsinstrument, um den praktischen Effekt des Pflichtenkataloges beurteilen zu können. Die Afrikanische Menschenrechtskommission hat ihre Tätigkeit bereits aufgenommen und gibt sich derzeit eine Geschäftsordnung. Die ersten Individualbeschwerden sollen schon eingegangen sein 104 . Es bleibt nun abzuwarten, wie die Kommission die Bestimmungen der Charta auslegen und im konkreten Fall anwenden wird, namentlich wie sie das Zusammenspiel von Rechten und Pflichten beurteilt.

101 Diese Befürchtung teilt MBaya, V N 1984, S. 135, der ein Beispiel aus dem sensiblen Bereich der Meinungsäußerungsfreiheit anführt. 102 Partsch, EuGRZ 1989, S. 7. 103 Partsch, EuGRZ 1989, S. 7; Bello, RdC 194 (1985 V), S. 178. ίο4 So Partsch, EuGRZ 1989, S. 3.

14. Kap.: Grenzen des Familienschutzes

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V I I . Zusammenfassung und Ergebnis Die untersuchten Schranken der gewährleisteten Rechte betreffen die abwehrrechtliche Seite des Familienschutzes, da im Rahmen seines leistungsrechtlichen Inhalts einschränkende Überlegungen schon bei der Formulierung der Verhaltenspflichten angestellt wurden. Die detaillierteste Schrankenregelung enthält die EMRK-Bestimmung, deren Einschränkungsziele durch die Spruchpraxis der EMRK-Organe immer weiter konkretisiert und ausgelegt werden. Als Rechtsgrundlage der Eingriffe kommen sowohl formelle als auch materielle Gesetze in Frage. Sie sind nur zulässig, wenn sie mit dem Leitbild einer demokratischen Gesellschaft vereinbar sind, das namentlich gekennzeichnet ist durch Pluralismus, Toleranz und Offenheit. A m Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Familienlebens finden alle Eingriffe ihre Grenze: Niemandem darf das Recht vollständig entzogen werden. Z. T. allerdings unterliegt es sehr weitgehenden Beschränkungen, besonders in den klassischerweise mit „besonderem Gewaltverhältnis" umschriebenen Situationen. Im Gefängnis beispielsweise erschöpft es sich in einem bloßen Kontakt- und Besuchsrecht der Angehörigen. Im Eltern-Kind-Verhältnis führt die Trennung der Eltern nicht notwendigerweise zum Erlöschen des mit ihren Kindern bestehenden Familienlebens. Der nicht sorgeberechtigte Teil hat Anspruch auf Kontakt und Umgang mit seinem Kind, der nur unter ganz besonderen Umständen, namentlich zum Wohl des Kindes, unterbunden werden darf. Auch ausländische Familien haben ein Recht auf Achtung des Familienlebens, doch ist es so weit einschränkbar, daß der Nachzug ihrer Angehörigen an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden kann. Die gängigen Nachzugsregelungen in den Konventionsstaaten sind mit Art. 8 E M R K i.d.R. vereinbar, doch sind sie im einzelnen am Recht auf Achtung des Familienlebens zu messen. Während die EMRK-Garantie den ausländerrechtlichen Bereich nur reflexartig berührt, steht er im Mittelpunkt des Art. 19 (6) ES. Diese Vorschrift erleichtert die Familienzusammenführung ausdrücklich, doch ebenso explizit nur im Rahmen des den Vertragstaaten Möglichen. Durch diese Einschränkung und durch ihren Charakter als „promotional obligation" verliert die Bestimmung an Durchschlagskraft. Im übrigen sind die im Rahmen der E M R K zulässigen Beschränkungen auch im Rahmen der ES zulässig, da ihre Schranken durchaus vergleichbar sind. Die Schranken des Art. 17 IPBPR - Eingriffe dürfen weder „arbitrary" noch „unlawful" sein - sind nicht in einem detaillierten Katalog wie in der E M R K niedergelegt. Es ist nicht auszuschließen, daß hier Einschränkungen in größerem Maß zulässig sind als bei der E M R K , die die Rechtfertigung der Eingriffe an einzeln aufgeschlüsselte Ziele bindet.

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3. Teil: Familienschutz

Eben dies gilt auch für die A m K , die ein sehr ähnliches Verbot von „arbitrary or abusive interference" enthält. Eine Besonderheit weist die AfrC auf, indem sie Pflichten des Einzelnen statuiert. Hier ergeben sich grundsätzliche Bedenken über die Auswirkungen eines solchen Pflichtenkataloges auf die Verwirklichung der menschenrechtlichen Verbürgungen, die der Hinweis auf die traditionelle Verknüpfung von Rechten und Pflichten und das spezielle afrikanische Menschenrechtsverständnis nicht vollständig auszuräumen vermag. Ob sich die genannten Befürchtungen auch im Bereich des Familienschutzes realisieren, oder ob hier im wesentlichen nur - und insoweit unbedenklicherweise - traditionelle Werte zu Rechtsverpflichtungen erhoben wurden, wird nicht zuletzt die Auslegung und praktische Anwendung der Charta durch die afrikanische Menschenrechtskommission zeigen.

zehntes Kapitel

Das elterliche Erziehungsrecht I. E M R K Eines der wichtigsten elterlichen Rechte, nämlich jenes auf Erziehung der K i n d e r gemäß den eigenen Überzeugungen, ist nicht schon i n der K o n v e n t i o n selbst verankert, sondern erst in A r t . 2 S. 2 Z P , u n d auch hier nur indirekt: "In the exercise of any functions which it assumes in relation to education and to teaching, the State shall respect the right of parents to enjoy such education and teaching in conformity with their own religious and philosophical convictions.", bzw. „L'Etat, dans l'exercice des fonctions qu'il assumera dans le domaine de l'éducation et de l'enseignement, respectera le droit des parents d'assurer cette éducation et cet enseignement conformément à leurs convictions religieuses et philosophiques." D e r G r u n d hierfür liegt darin, daß bei der Ausarbeitung der K o n v e n t i o n lange keine Einigung erzielt werden konnte, ob dieses Recht überhaupt aufgenommen werden, welchen Inhalt es haben und wie es ausgestaltet u n d formuliert werden sollte. D e r von Teitgen vorbereitete Konventionsentwurf enthielt i n seinem 11. Absatz "Rights of parents in regard to the education of their children, in accordance with Article 26 (3) of the United Nations Declaration." 1 I n der Folgezeit sollte dieses Erziehungsrecht ebenso wie das Eigentumsrecht zu lebhaften Auseinandersetzungen führen. Es wurden vor allem Auslegungsund Anwendungsschwierigkeiten befürchtet 2 , die es i n der Rückschau als eine 1

Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 168. Vgl. ζ. Β. die Debatte über den Teitgen-Bericht im Plenum der Beratenden Versammlung am 8. 9. 1949, Trav. Prép., Vol. I I , S. 49 ff. (insbes. S. 54 f.: Lord Layton; S. 60: Ungoed-Thomas: „ . . . ambiguously phrased declaration which invites different political views and different party alliances inside each separate country . . . " ; S. 64: Vallee-Poussin: Rechte des Kindes oder der Eltern?; S. 74 ff.: Philip; S. 82: Pernot; S. 90: Sweetman). Eingehend zu den Diskussionen Bannwart-Maurer, S. 3-7, sowie Partsch, ZaöRV 1953/54, S. 645. Ähnlich verlief die Erörterung des Berichts des Rechts- und Verwaltungsausschusses am 25. 8. 1950 im Plenum der Beratenden Versammlung über die „Lieblingskinder der Menschenrechtskommission im Europarat, das Eigentums- und Elternrecht" (Partsch, ZaöRV 1953/54, S. 654). Die Argumente sind im einzelnen 2

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3. Teil: Familienschutz

der am heftigsten umstrittenen Garantien erscheinen lassen. Nach dem Scheitern der Versuche, in der Beratenden Versammlung eine Einigung über das elterliche Erziehungsrecht zu erzielen, richtete der Rechts- und Verwaltungsausschuß im August 1950 einen Unterausschuß ein, der sich weiter mit der Ausformulierung befaßte 3. Eine auf einen Vorschlag des belgischen Abgeordneten Rolin zurückgehende, der endgültigen Fassung schon recht ähnliche Formulierung wurde um das Recht auf Bildung ergänzt, im Rechtsausschuß und der Beratenden Versammlung geringfügig geändert und schließlich von beiden Gremien angenommen4. Auf der Tagung des Ministerkomitees 1950 gelang es wiederum nicht, sich über das Elternrecht zu einigen. Um die Unterzeichnung der Konvention nicht zu verzögern, wurden die offengebliebenen Fragen zur weiteren Erörterung an einen Sachverständigenausschuß überwiesen mit dem Auftrag, ein Zusatzprotokoll zu entwerfen. Und wieder führte das Erziehungsrecht zu langen Debatten, Auseinandersetzungen und Änderungsvorschlägen 5, bis schließlich am 20. 3. 1952 das Zusatzprotokoll unterzeichnet werden konnte. Mit gutem Grund weist Partsch auf die lange Liste der Vorbehalte und Erklärungen 6 zu dem Erziehungsrecht hin, die offenbare, daß eine Einigung über diese Garantie in Wahrheit nicht erzielt worden sei7. 1. Schutzbereich des Art. 2 S. 2 ZP

Hat sich Art. 2 ZP nun inzwischen als juristisch operable Bestimmung herausgestellt, zumindest was den Gegenstand dieser Untersuchung - das Erziehungsrecht der Eltern - anbelangt? Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jene nach dem Anspruchsberechtigten: Steht das Elternrecht gemäß seinem ausdrücklichen Wortlaut nur den Eltern oder auch anderen Erziehungsberechtigten zu, beispielsweise einem Vormund? Der Wortlaut des Art. 2 ZP ist insoweit eindeutig. Im Unterschied zu anderen Vertragswerken (Art. 18IV IPBPR, Art. 13 I I I WSP, Art. 12IV A m K ) sind nur die Eltern als Träger des Rechts genannt, nicht aber anderweitige Erziehungsberechtigte wie etwa ein gesetzlicher Vormund. Schon der klare Wortlaut spricht daher zusammengestellt bei Bannwart-Maurer, S. 11 ff. Daß sich die Auseinandersetzungen auch im späteren Verlauf nicht legten, verdeutlichen die Ausführungen Teitgens im Rechts- und Verwaltungsausschuß, s. Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 86 ff. 3 Zusammensetzung und Vorgehen s. Partsch, ZaöRV 1953/54, S. 656 f. 4 Dazu eingehend Bannwart-Maurer, S. 9 f. 5 Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen nachzuzeichnen, zumal sich bei Partsch, ZaöRV 1953/54, S. 656-658; ders., E M R K , S. 234-237, sowie bei BaumbachMaurer, S. 16-34 sehr eingehende Darstellungen der Debatten in den verschiedenen Gremien und der einzelnen Entwürfe und Änderungsvorschläge finden. 6 Zusammengestellt bei Frowein/Peukert, E M R K , S. 531 ff. 7 Partsch, E M R K , S. 237.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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gegen eine Einbeziehung anderer Erziehungsberechtigter in den Kreis der Anspruchsberechtigten. Weiteren Aufschluß könnte ein Blick auf die Natur des Rechts ergeben. Bei dem Erziehungsrecht handelt es sich - im Gegensatz zu dem Recht auf Bildung - um ein klassisches negatives Freiheitsrecht 8, das der natürlichen Pflicht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder Rechnung trägt. Aus dieser von der Natur vorgegebenen Aufgabe resultiert der elterliche Anspruch auf Achtung ihrer Überzeugungen 9. Er ist folglich an die Wahrnehmung der originären elterlichen Aufgaben geknüpft. Auf dieser Linie der Überlegungen liegt es, wenn die Kommission nur natürliche, nicht aber juristische Personen als mögliche Träger des Erziehungsrechts ansieht 10 . Grundsätzliche Unterschiede gegenüber der Position natürlicher Eltern weist auch die Stellung eines Vormundes auf, der von den Eltern oder einer öffentlichen Stelle benannt wird. Aufgabe des Vormundes ist es nicht, seine eigenen Vorstellungen von Erziehung anstelle jener der Eltern zu setzen, sondern grundsätzlich die Kontinuität der Erziehung zu gewährleisten und daher die elterlichen Werte zu respektieren 11 . Zudem fehlt in einem solchen Verhältnis die zwischen Eltern und Kindern bestehende enge verwandtschaftliche Beziehung 12 , deren Folge das erwähnte „natürliche" Erziehungsrecht ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einem Vergleich mit den übrigen menschenrechtlichen Kodifikationen, die wie erwähnt z.T. ausdrücklich neben den Eltern den gesetzlichen Vormund als Rechtsträger nennen (Art. 18 I V IPBPR, Art. 13 I I I WSP, Art. 12 I V AmK). Diese Verträge wurde erst nach der E M R K und ihrem ZP ausgearbeitet, konnten also nicht als Vorbild dienen. Pate stand hingegen die A E M R , die ebenso wie Art. 2 ZP nur die Eltern als Anspruchsberechtigte anführt. Die ausdrückliche Benennung eines weiteren Rechtsträgers in den erwähnten drei Kodifikationen läßt sogar eher den Schluß zu, daß dann, wenn nur die Eltern als Anspruchsberechtigte genannt werden, andere Erziehungsberechtigte ausgeschlossen sein sollten.

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Bannwart-Maurer, S. 60; Guradze, E M R K , S. 226; Schorn, E M R K , S. 39. EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen, Ser. A , Vol. 23, S. 26 § 52: "It is in the discharge of a natural duty towards their children - parents being primarily responsible for the 'education and teaching' of their children - that parents may require the State to respect their religious and philosophical convictions." 10 So konnten etwa Kirchen keinen Anspruch aus dieser Bestimmung ableiten, s. K E v. 17. 12. 1968 zu Β 3798/68, Church of Χ ./. U K , CoD 29, S. 70 ff. (75): " . . . a corporation being a legal and not a natural person, is incapable of having or exercising the rights mentioned in . . . Art. 2 of the First Protocol, . . . " S. auch K E v. 19. 7. 1971 zu Β 4733/71, Χ ./. Schweden, CoD 39, S. 75 ff. (79). 11 Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 239. So ist beispielsweise gem. § 1779 BGB auf das religiöse Bekenntnis des Mündels Rücksicht zu nehmen. 12 Dies hält Guradze, E M R K , S. 262, für ausschlaggebend. 9

24 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

Eine andere Frage ist es, inwieweit der Begriff „Eltern" auslegungsfähig ist in dem Sinne, daß nicht nur die biologischen Eltern, sondern auch Adoptiveltern oder im Falle einer Leihmutterschaft die „Auftraggeber" umfaßt sind. Der Unterschied zu der Situation der Vormundschaft liegt hier darin, daß die Adoptiveltern vollständig an die Stelle der natürlichen Eltern treten und das Kind in deren Familie aufgenommen und integriert wird. Das zwischen der Adoptivfamilie und dem Kind bestehende Band soll idealerweise demjenigen zwischen leiblichen Eltern und Kindern gleichen, nicht zuletzt zum Wohle des Kindes, das gegenüber den natürlichen Eltern der Adoptivfamilie keine unterschiedliche Behandlung erfahren soll. Da Adoptiveltern die Sorge, Erziehung und Pflege des Kindes in gleichem Maße wie natürliche Eltern übernommen und das Kind als „ihr" Kind angenommen haben, geht das persönliche Verhältnis der Adoptiveltern zu ihrem Adoptivkind weit über jenes einer Vormundschaft hinaus; die rechtliche Sorge- und Erziehungspflicht tritt hinter ein echtes familiäres Verhältnis zurück. Diese besondere Intensität der Beziehung hatte auch dazu geführt, sie als „Familienleben" i. S. Art. 8 E M R K zu werten, was deutlich für eine Parallelwertung auch im Bereich des Erziehungsrechts spricht. Dies gilt auch für die Fälle der Inanspruchnahme einer Leihmutter, wenn die Wunscheltern das Kind auf Dauer zu sich nehmen und als ihr eigenes großziehen. Ebenso wie im AdoptivVerhältnis liegt auch hier eine echte ElternKind-Beziehung vor, die sich nur in der Frage der biologischen Abstammung von anderen Familienbeziehungen unterscheidet. Das fehlende biologische Band wird durch die enge familiäre Beziehung ersetzt, so daß sowohl Wunschals auch Adoptiveltern Träger des elterlichen Erziehungsrechts sind 13 . 2. Inhalt des Erziehungsrechts

Die Verwirklichung des in Art. 2 S. 1 ZP garantierten Rechts auf Bildung setzt einen gewisses Maß an staatlicher Aktivität und Organisation auf dem Bildungs- und Erziehungsbereich voraus, beispielsweise die Gründung und Unterhaltung vön Schulen, da ansonsten insbesondere für finanziell schlechtgestellte Familien der Genuß dieses Rechts illusorisch wäre 14 . Bei der Regelung und Ausgestaltung des Schul- und Erziehungswesens verbleibt den Vertragstaaten ein weiter Gestaltungsspielraum 15. Die Schranke staatlicher Tätig13 Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 238; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 350, Rz. 4 Fn. 931; Bannbach-Maurer, S. 103. Ebenso entschied die Kommission, die das Erziehungsrecht der natürlichen Mutter zugunsten dem Recht der Adoptiveltern zurücktreten ließ, K E v. 11. 7. 1977 zu Β 7626/76, X ./. U K , D R 11, S. 160 ff. (164). 14 Ζ. Β. E G M R , Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 31 § 3; K E v. 9. 3. 1977 zu Β 6853/74, 40 Mütter ./. Schweden, YbECHR 20 (1977), S. 214 ff. (238). 15 Van Dijk/van Hoof, Theory and Practice, S. 350 Rz. 4; Frowein/Peukert, E M R K , Art. 2 ZP, Rz. 6.

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keit auf dem Erziehungssektor bildet die Achtung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern. Zuvörderst die Eltern sollen ihre Kindern erziehen und ihnen moralische und religiöse Grundwerte vermitteln, die der Staat durch die Ausgestaltung seines Erziehungswesens nicht konterkarieren und durch seine Vorstellungen ersetzen darf. Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten vermag diese Bestimmung also nur zu begründen, soweit der Konventionsstaat auf dem Erziehungssektor tätig wird; in anderen Bereichen als in Schulen oder sonstigen Erziehungseinrichtungen schützt Art. 8 E M R K die elterlichen Rechte. Art. 2 S. 2 ZP hindert die Mitgliedstaaten nun nicht, obligatorischen Schulunterricht festzulegen oder einen bestimmten Erziehungs- und Wissensstandard in privaten Schulen sicherzustellen 16. Die Schulpflicht ist zudem schon seit langem in allen Europaratstaaten eingeführt, an ihrer allgemeinen Akzeptanz bestehen keine Zweifel. Läßt sich der staatliche Unterricht nicht mit den elterlichen Überzeugungen vereinbaren, so ist es rechtlich zulässig und auch angesichts Art. 2 S. 2 ZP unbedenklich, wenn diese Eltern ihre Kinder zur Erfüllung der Schulpflicht Privatschulen besuchen lassen. Diese Wahlmöglichkeit setzt aber die Existenz solcher Schulen in angemessener Nähe und vor allem finanzielle Leistungsfähigkeit der Eltern voraus, da aus Art. 2 ZP keine staatliche Pflicht zur Unterstützung oder Förderung von Privatschulen folgt 17 . Es ist folglich eine zentrale Frage, inwieweit die Eltern auf Achtung ihrer Überzeugungen im Rahmen des vorhandenen staatlichen Erziehungswesens bestehen können. Dabei ist zunächst klärungsbedürftig, welche Bereiche der in Art. 2 ZP angesprochene Sektor im einzelnen umfaßt. Schwerpunktmäßig, aber nicht ausschließlich ist der schulische Bereich gemeint. Doch darüber hinaus müssen auch alle anderen Institutionen umfaßt sein, die Kinder erziehen und ausbilden. Denn der Wortlaut läßt eine Beschränkung allein auf den schulischen Bereich nicht erkennen; die Kumulation der Begriffe „Erziehung" und „Unterricht" läßt vielmehr darauf schließen, daß der Erziehungs- und Bildungssektor umfassend abgedeckt werden soll und beispielsweise auch staatliche Maßnahmen in Vorschulen 18 und Kindergärten einschließt19. Diese Auslegung vertritt auch der Gerichtshof: "The education of children is the whole process whereby, in any society, adults endeavour to transmit their beliefs, culture and other values to the young, whereas 16 K E v. 6. 3. 1984 zu Β 10233/83, Familie Η ./. U K , D R 37, S. 105 ff. (108); Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 231. 17 E G M R , Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 31 § 3; s. auch Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 236. 18 U m solche ging es in K E v. 9. 3. 1977 zu Β 6853/74, 40 Mütter ./. Schweden, YbECHR 20 (1977), S. 214 ff. 19 Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 231.

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3. Teil: Familienschutz

teaching or instruction refers in particular to the transmission of knowledge and to intellectual development." 20

Doch nicht nur im Unterricht spielt das Elternrecht eine Rolle, wie der Fall Campbell & Cosans verdeutlicht, in dem es um körperliche Züchtigungen als Disziplinierungsmittel in britischen Schulen ging. Die britische Regierung hatte eingewendet, die Auswahl zulässiger Disziplinierungsmethoden betreffe weder die Erziehung noch den Unterricht, sondern als interne administrative Frage allein die Voraussetzungen, unter denen der Unterricht erteilt werden könne 21 . Doch da gem. Art. 2 ZP der Staat bei der Ausübung „of any functions" auf dem Ausbildungs- und Erziehungssektor das elterliche Recht zu achten hat, sprach sich der Gerichtshof gegen eine Trennung zwischen Unterricht und lediglich begleitenden Maßnahmen aus: "It appears to the Court somewhat artificial to attempt to separate off matters relating to internal administration as if all such matters fell outside the scope of Article 2. The use of corporal punishment may, in a sense, be said to belong to the internal administration of a school, but at the same time it is, when used, an integral part of the process whereby a school seeks to achieve the object for which it was established, including the development and moulding of the character and mental powers of its pupils." 22

Das elterliche Erziehungsrecht ist damit ist damit bei jeder staatlichen Tätigkeit in den bewußten Institutionen zu achten, gleichgültig, ob der administrative Bereich oder die eigentliche Lehrtätigkeit betroffen ist. Da Art. 2 ZP nicht zwischen freiwilligem und Pflichtunterricht unterscheidet, ist das Elternrecht auch im Rahmen eines freiwilligen wie obligatorischen Unterrichts gleichermaßen zu achten 23 . Die in Art. 2 ZP vorausgesetzte und anerkannte staatliche Schulkompetenz steht nun im Spannungsverhältnis zu dem elterlichen Erziehungsrecht insbesondere deshalb, weil sich Art. 2 S. 1 ZP auch und gerade auf staatlichen Schulunterricht bezieht. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere zu klären, in welchem Umfang ein Konventionsstaat bei der Ausgestaltung seines staatlichen Unterrichts auf die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern Rücksicht nehmen muß. Der Gerichtshof war mit dieser Problematik erstmals im Fall Kjeldsen, Busk Madsen und Petersen (sog. „Dänischer Sexualkundefall") befaßt, in dem sich dänische Eltern gegen einen obligatorischen Sexualkundeunterricht in staatlichen Schulen wandten. Die dänische Regierung sah Art. 2 ZP dadurch ausreichend berücksichtigt, daß den Eltern die Gründung von Privat20

EGMR, Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, EGMR, Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, 22 EGMR, Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, 23 K E v. 9. 3. 1977 zu Β 6853/74, 40 Mütter ./. Schweden, YbECHR S. 214 ff. (236). 21

S. 14 § 33. S. 14 § 33. S. 14 § 33. 20 (1977),

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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schulen freigestellt blieb, doch wollte sie ihnen keinen Anspruch auf die Berücksichtigung ihrer Vorstellungen im Rahmen des staatlichen Schulunterrichts zugestehen. Diese Auslegung lehnten die EKRK-Organe ab und betonten, gerade im Rahmen des staatlichen Unterrichts als der in erster Linie in Frage kommenden Ausbildungsform sei dem elterlichen Erziehungsrecht Rechnung zu tragen 24 . Diese Auslegung wird auch durch die Entstehungsgeschichte bestätigt, die deutlich den Wert erkennen läßt, den die Delegierten der Rücksichtnahme auf die elterlichen Überzeugungen gerade im Rahmen des staatlichen Unterrichts beimaßen 25 . Es fragt sich weiter, wie diese Rücksichtnahme auf das Elternrecht bei der Gestaltung des staatlichen Unterrichts im einzelnen auszusehen hat. Ansatzpunkt ist hier ebenso wie bei der inhaltlichen Bestimmung des Rechts auf Achtung des Familienlebens die Auslegung des Begriffs „Achtung" („respect"). Schon bei Art. 8 E M R K wurde festgestellt, daß die Pflicht zur Achtung eines Rechtsgutes nicht immer schon durch staatliches Unterlassen erfüllt wird, sondern oft auch positive Verpflichtungen zu staatlichem Tätigwerden mit sich bringt 26 . Da beide Vorschriften den Konventionsstaaten eine Pflicht „to respect" auferlegen, sind die diesbezüglichen Erkenntnisse zu Art. 8 E M R K auf Art. 2 S. 2 ZP in vollem Umfang übertragbar 27 . So befand denn auch der Gerichtshof, „Achtung" bedeute mehr als Anerkennung oder Berücksichtigung, und gerade um diesen stärkeren Schutz zu erreichen, seien die ursprünglich vorgesehenen Formulierungen „have regard to" bzw. „tiendra compte" durch „respect" ersetzt worden 28 . Demgemäß erschöpft sich der Gehalt dieser Bestimmung nicht schon in einer bloßen Unterlassenspflicht des Staates, sondern die gebotene Achtung der elterlichen Überzeugungen kann auch positives staatliches Tun erfordern. Eine besondere Schwierigkeit entsteht dann, wenn die Ansichten in der Elternschaft geteilt sind und sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Die Berücksichtigung der elterlichen Überzeugungen der einen Seite bedeutet dann nämlich gleichzeitig eine Vernachlässigung der auf der anderen Seite vertretenen Ansichten. Es fragt sich daher, ob Art. 2 S. 2 ZP einen bestimmten Weg zur Lösung des Konflikts vorzeichnet: Muß das Recht einer Elterngruppe zurücktreten oder ist ggf. ein Kompromiß zu suchen? 24 EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Kjeldsen, Busk Madsen und Petersen, Ser. A , Vol. 23, S. 24 § 50. So zuvor auch schon die Kommission, K E v. 21. 3. 1975 zu Β 5095/ 71, 5920/72 und 5926/72, Kjeldsen, Busk Madsen und Petersen, Ser. B, Vol. 21, S. 34 §§ 108-110. 25 EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Kjeldsen, Busk Madsen und Petersen, Ser. A , Vol. 23, S. 24 § 50. 26 S. o., Kap. 12, Abschnitt I. 3. 27 Ebenso verfuhr der Gerichtshof im Fall Campbell & Cosans, Urt. v. 25. 2. 1982, Ser. A , Vol. 48, S. 17 § 37 (a). 28 Ebenda.

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3. Teil: Familienschutz

Eine solche Situation galt es im Fall Campbell & Cosans zu beurteilen, in dem die Frage körperlicher Züchtigungen in der Schule die Elternschaft in zwei Lager spaltete. Während einige Eltern solche Züchtigungen ausdrücklich befürworteten, hielten sie andere Eltern für unvereinbar mit ihren Überzeugungen und brachten den Fall vor die Konventionsorgane. Die britische Regierung schlug ohne Erfolg als Kompromiß eine schrittweise Abschaffung der Züchtigungen vor. Denn eine allmähliche Abkehr, so der Gerichtshof, achte nicht hinreichend das Recht der Züchtigungsgegner, deren Überzeugungen diese Strafart zuwiderliefe. Dieses Recht müsse nicht hinter jenes der anderen Eltern zurücktreten. Auch unter Berücksichtigung des britischen Vorbehalts zu Art. 2 ZP 2 9 sei die gebotene Rücksichtnahme möglich, die nicht unbedingt getrennte Schulen für Befürworter und Gegner körperlicher Züchtigungen voraussetze, sondern lediglich Ausnahmeregelungen für die betroffenen Schüler erforderlich mache 30 . Damit wurde die schon im Belgischen Sprachenfall getroffene Entscheidung des Gerichtshofs bestätigt, Art. 2 ZP verpflichte die Vertragstaaten nicht, " . . . to establish at their own expense, or to subsidise, education of any particular type or at any particular level." 3 1

Die aus Art. 2 S. 2 ZP folgende staatliche Verpflichtung ist mithin streng auf das bestehende Erziehungssystem begrenzt; eine Änderung oder Erweiterung über den vorgesehenen Rahmen hinaus wird nicht gefordert. Es müssen den Eltern keine alternativen Erziehungseinrichtungen angeboten werden, in denen sie ihre Kinder entsprechend ihren eigenen Vorstellungen erziehen und ausbilden lassen können. Insoweit bleiben sie auf eine ergänzende Erziehung zu Hause oder auf den Besuch von Privatschulen verwiesen, deren Gründung oder Unterstützung sie vom Staat allerdings nicht verlangen können. Von entscheidender Bedeutung für die Eltern ist es daher, wie weit die staatliche Pflicht zur Achtung der elterlichen Überzeugungen im Rahmen des angebotenen staatlichen Unterrichts geht. Mit dieser Frage war der Gerichtshof im Dänischen Sexualkundefall befaßt, in dem es die dänische Regierung für eine ausreichende Erfüllung ihrer Pflichten hielt, den Eltern eine Befreiung ihrer Kinder vom Besuch einzelner Unterrichtsveranstaltungen zuzugestehen. Eine Pflicht, den Unterricht den elterlichen Anschauungen anzupassen, lehnte sie jedoch ab 32 . Dieser Auslegung folgte der Gerichtshof nicht. Er hob zunächst darauf ab, daß der Staat den 29 Diese Vorschrift wurde nur insoweit angenommen, „as it is compatible with the provision of efficient instruction and training, and the avoidance of unreasonable public expenditure." 30 E G M R , Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, S. 18 § 37. 31 EGMR, Urt. v. 23. 7. 1968, Belgischer Sprachenfall, Ser. A , Vol. 6, S. 31 § 3. Ebenso K E v. 2. 5. 1978 zu Β 7782/77, Χ ./. U K , D R 14, S. 179 ff. (180). 32 EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Kjeldsen, Busk Madsen und Petersen, Ser. A , Vol. 23, S. 26 § 53.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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Lehrplan auch im Hinblick auf Fächer mit religiösem oder weltanschaulichem Einschlag regeln und frei gestalten dürfe; gegen den Inhalt des Curriculums stehe den Eltern kein Einspruch zu. Denn sonst wäre ein normaler Unterricht praktisch unmöglich, da religiöse und weltanschauliche Fragen in fast alle Fächer mehr oder weniger ausgeprägt hineinspielen. Doch gleichzeitig zeigte der Gerichtshof die Grenzen des staatlichen Gestaltungsspielraumes auf, die nicht nur aus Art. 2 ZP folgen, sondern auch unter Berücksichtigung der Art. 8 und 10 E M R K sowie des Geistes der Konvention zu ziehen sind, also namentlich die Ideale und Werte einer demokratischen Gesellschaft zu wahren und zu fördern. Der Unterricht muß daher sachlich, kritisch und offen gestaltet werden; jegliche Indoktrination ist unzulässig33. Demnach kommt es weniger auf den Gegenstand des Unterrichts an, der sich grundsätzlich auch auf religiöse und weltanschauliche Fragen beziehen darf, sondern vielmehr auf die Art der Präsentation, seine Offenheit und Toleranz. Auf diese Weise soll eine Erziehung zu kritischen, problembewußten und mündigen Staatsbürgern gewährleistet werden. Verläßliche Information und sachgerechte, wissenschaftlich fundierte Aufklärung waren Ziel des dänischen Sexualkundeunterrichts, um so Fehlvorstellungen vorzubeugen, denen die Kinder aus anderen verfügbaren Quellen ausgesetzt waren. Unter dem Gesichtspunkt der Konvention oder des ZP war der Sexualkundeunterricht daher nicht zu beanstanden. Demgegenüber vertrat Richter Verdross in seinem Sondervotum zu diesem Fall eine großzügigere Auslegung des Elternrechts. Die von Gerichtshof angenommene „Indoktrinationsgrenze" hielt er für eine ungerechtfertigte Einschränkung des elterlichen Erziehungsrechts. Während er die Vermittlung reinen Faktenwissens als moralisch neutral qualifizierte, hielt er eine Verletzung der christlichen Überzeugungen durch die Vermittlung darüber hinausgehender Informationen (z. B. über Verhütungsmethoden) für möglich, und zwar selbst dann, wenn dies in objektiver, nicht indoktrinierender Weise geschehe. Gegen solchen Unterricht könnten die Eltern aufgrund Art. 2 S. 2 ZP Einspruch erheben 34 . Dem Argument des Gerichtshofs, die Vermittlung reinen Faktenwissens und darüber hinausgehender Informationen seien untrennbar miteinander verknüpft, hielt er den Lehrplan privater Schulen entgegen: Diese seien zwar zu Informationen über die menschliche Fortpflanzung verpflichtet, doch die weitergehende Behandlung menschlicher Sexualität sei ihnen freigestellt. Dem ist entgegenzuhalten, daß auch bei einer schwerpunktmäßigen Abgrenzung von biologischen und anderen Fragen der Sexualität eine voll33

E G M R , Urt. v. 7. 12. 1976, Fall Kjeldsen, Busk Madsen und Petersen, Ser. A , Vol. 23, S. 26 § 53. 34 Seperate Opinion von Richter Verdross im Dänischen Sexualkundefall, Ser. A , Vol. 23, S. 31 ff. (32).

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3. Teil: Familienschutz

ständige Trennung nicht durchgeführt werden kann. Insbesondere dann, wenn sachlich und kritisch über Fragen der Empfängnisverhütung oder ähnlich kontroverse Themen unterrichtet und auf die verschiedenen Standpunkte der Kirchen, Religionsgemeinschaften und anderer gesellschaftlicher Gruppierungen hingewiesen wird, fragt es sich, wo bei einer solchen umfassenden und ausgewogenen Darstellung der Eingriff in weltanschauliche und religiöse Überzeugungen liegen soll. Es ist Aufgabe der Schule, einen realitätsbezogenen Unterricht anzubieten, zu dem auch die Behandlung menschlicher Sexualität in einer dem Alter der Schüler angemessenen Form gehört. Nicht zuletzt vermag eine sachgerechte Aufklärung Gefahren von den Jugendlichen abzuwenden. Zu denken ist hier etwa an Informationen über Ansteckungswege neuer Krankheiten, allen voran der Immunschwäche AIDS. Gerade in diesen Bereichen vermögen sachliche Informationen einer unbegründeten Hysterie einerseits, aber auch unverantwortlichem Leichtsinn andererseits vorzubeugen. Sicherlich geht die Behandlung solcher Probleme über die reine Vermittlung biologischer Fakten hinaus und berührt ethische und moralische Fragen ebenso wie das Sozialverhalten. Insofern überzeugt der Hinweis des Gerichtshofs auf die ohnehin vielfältigen Informationsquellen der Kinder und Jugendlichen über Fragen der menschlichen Sexualität. Dem Unterricht kommt daher zusätzlich die Aufgabe zu, durch vorurteilsfreien, sachlichen Sexualkundeunterricht ein schon gewonnenes Bild ggf. richtigzustellen. Es darf hierbei auch nicht vergessen werden, daß die Eltern ihren Kindern begleitend zum Schulunterricht ihre eigenen Vorstellungen und Überzeugungen vermitteln können; die moralische Bewertung des in der Schule vermittelten Fachwissens bleibt ihnen unbenommen. Nicht zuletzt sprechen für die Auslegung des Gerichtshofs ganz praktische Gründe. Es ist unvermeidlich, daß im Schulunterricht moralische, ethische und religiöse Fragen angesprochen werden. Diese Themen kommen schließlich nicht nur im Religions- und Philosophieunterricht vor, sondern spielen in alle Lebensbereiche und mithin auch in die meisten Unterrichtsfächer mit hinein. Darf nun - um es einmal überspitzt zu formulieren - im Englischunterricht nicht mehr Shakespeares Drama „Romeo und Julia" durchgenommen werden oder muß im Geschichtsunterricht der Nationalsozialismus ausgespart werden, um die moralischen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern nicht zu verletzen? Kurzum: Eine praktikable Grenzziehung scheint nicht durchführbar zu sein. Die hier befürwortete Auslegung des Gerichtshofs, die die Grenze bei einer intoleranten, unkritischen, indoktrinierenden Unterrichtsgestaltung zieht, die den Bereich objektiver und sachlicher Präsentation verlassen hat, vermeidet diese Abgrenzungsschwierigkeiten weitestgehend, ohne andererseits das elterliche Erziehungsrecht zu entwerten. Sie erscheint daher vorzugswürdig 35. 35

Ebenso Hornyik, in: Ermacora/Nowak/Tretter, Rechtsprechung, Art. 2 ZP, S. 640.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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Die elterlichen Überzeugungen hat ein Staat also bei der Wahrnehmung all seiner Aufgaben und bei jedweder Tätigkeit auf dem Erziehungs- und Bildungsbereich zu achten. Dieser Bereich umfaßt nicht nur den Schulsektor, sondern alle Einrichtungen, die sich mit Erziehung und Ausbildung von Kindern befassen. Nicht nur Fächer, die unmittelbar auf die Vermittlung religiöser und weltanschaulicher Werte abzielen (Religions-, Philosophieunterricht), sondern alle Unterrichtsfächer sind grundsätzlich betroffen, da auch hier zwangsläufig Themen mit religiöser und weltanschaulicher Komponente angesprochen werden. Die Achtungspflicht geht schließlich über die reinen Unterrichtsveranstaltungen hinaus und erstreckt sich auch auf administrative Maßnahmen (z. B. Wahl der Disziplinierungsmittel), da diese der Durchsetzung und Verwirklichung der Erziehungsziele dienen und somit eng mit ihnen verknüpft sind. Die sehr umfassende staatliche Verpflichtung aus Art. 2 S. 2 ZP wird nur funktionell begrenzt: Art. 2 ZP gebietet die Achtung der elterlichen Überzeugungen nur auf dem - freilich sehr umfassend verstandenen - Erziehungs- und Bildungsbereich. a) Religiöse und weltanschauliche Überzeugungen Die für den Umfang des zu achtenden Elternerechts zentralen Begriffe „religious" und „philosophical convictions" werden im ZP nicht näher definiert. Geht man vom normalen, im allgemeinen Sprachgebrauch üblichen Wortsinn der Begriffe aus, so erscheinen sie als Gegensatzpaar, das zusammengenommen alle ideellen Werte, jede Gewissensüberzeugung einschließt. Gleichberechtigt stehen hier Glaubensgrundsätze und laizistische Überzeugungen nebeneinander. Dies lag in der Absicht der Delegierten, wie Teitgens Zusammenfassung ihrer Debatten zeigt: „L'Assemblée n'a pas voulu réserver un privilège de droits aux seuls parents ayant des convictions religieuses. Elle a voulu faire respecter, par l'engagement des Etats et sous la sanction d'un contrôle juridictionnel, le droit fondamental qui appartient à tout père de famille de faire élever et instruire ses enfants selon sa conscience, quels que soient les impératifs de sa conscience, et ce n'est pas à l'Etat d'en juger." 3 6

„Weltanschauung", gerade wenn sie wie in Art. 2 S. 2 ZP als Gegenstück zu „Religion" gebraucht wird, hat einen sehr umfassenden Inhalt; eingeschlossen sind dann im Grunde alle nicht-religiösen Geisteshaltungen, Einstellungen und Gewissenspostulate. Auch die „religiösen Überzeugungen" lassen hinsichtlich ihres Umfanges Fragen offen. So umfassen sie zwar sicherlich die Lehren der beiden großen christlichen Kirchen, die für den europäischen Kulturkreis prägend sind 37 . Doch wie verhält es sich mit den Lehren weniger aner36 So Teitgen anläßlich der Debatte über den Bericht des Rechts- und Verwaltungsausschusses AS (3) 93 am 8. 12. 1951 auf der 3. Session der Beratenden Versammlung, Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 93.

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3. Teil: Familienschutz

kannter Sekten oder außereuropäischer Religionen, auf die sich ein im Geltungsbereich der Konvention lebender Ausländer beruft? Die Entstehungsgeschichte gibt hierüber keine Auskunft, da über den Schutz religiöser Überzeugungen Einigkeit bestand und es daher keinen Anlaß zu diesbezüglichen Aussprachen und Diskussionen gab. Der Begriff der weltanschaulichen Überzeugungen hingegen wurde schon damals als zu unbestimmt und juristisch nicht operabel empfunden. So warf der britische Abgeordnete Renton die Frage auf, ob etwa Vegetarismus als weltanschauliche Überzeugung gelten könne 38 , was der französische Delegierte Pernot ablehnte 39 . Der dänische Abgeordnete Boegholm wies auf das unterschiedliche Verständnis der Philosophie in Europa hin: "The French text may be quite specific: as a matter of fact, the expression 'religious and philosophical education' is a French expression; it constitutes unity of thought; but what is the precise meaning in English of the word 'philosophical' in this context? It may cover anything or nothing; it may mean very much and very little." 4 0

Die Unsicherheit über die Tragweite des Begriffs „philosophical" kommt auch in den Vorbehalten und Erklärungen zu Art. 2 S. 2 ZP zum Ausdruck. So übernahm Malta in Anbetracht der Tatsache, daß der überwiegende Teil seiner Bevölkerung katholisch ist, den Grundsatz des Art. 2 S. 2 ZP nur insoweit, als er mit einem wirksamen Unterricht und einer wirksamen Ausbildung vereinbar ist 41 . Eine ähnliche Erklärung gab auch Großbritannien ab 42 . Der schwedische Vorbehalt geht dahin, daß Schweden den Eltern nicht das Recht einräumen könne, unter Berufung auf ihre weltanschaulichen Überzeugungen ihre Kinder von der Pflicht zur Teilnahme an bestimmten Teilen des Unterrichts an den öffentlichen Schulen befreien zu lassen; ferner, daß nur solche Kinder von der Pflicht zur Teilnahme am christlichen Religionsunterricht befreit werden könnten, die einer anderen Konfession als jener der schwedischen Kirche angehörten und für die ein befriedigender Religionsunterricht eingerichtet sei 43 . Klarheit über die Bedeutung und Tragweite des Elternrechts bestand mithin bei Inkrafttreten der Konvention und ihres ZP noch nicht. Es fragt sich daher, ob die Konventionsorgane in ihrer Spruchpraxis zu Art. 2 S. 2 ZP dem Elternrecht schärfere Konturen zu verleihen vermochten. 37

Vgl. Sondervotum des Richter Verdross im Dänischen Sexualkundefall, Ser. A , Vol. 23, S. 31 ff. 38 Im Rahmen der Debatte über den Bericht des Rechts- und Verwaltungsausschusses AS (3) 93 auf der 3. Session der Beratenden Versammlung am 8. 12. 1951, Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 108. 39 Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 135. 40 Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 144. 4 1 Frowein/Peukert, E M R K , S. 531. 42 Frowein/Peukert, E M R K , S. 532 f. 43 Frowein/Peukert, E M R K , S. 532.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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Die Aufnahme weltanschaulicher Überzeugungen als Gegenstück zu religiösen Überzeugungen wirft dabei zunächst die Frage auf, ob tatsächlich alle elterlichen Überzeugungen zu berücksichtigen sind, selbst wenn sie gegen allgemein anerkannte sittliche und moralische Grundsätze verstoßen, politische Umwälzungen befürworten oder dem Geist der Konvention zuwiderlaufen. Könnte sich gar ein Elternpaar auf seine totalitäre Ideologie berufen und dem Konventionsstaat entgegenhalten, er habe sie als weltanschauliche Überzeugung bei der Unterrichtung der Kinder zu achten? Ist Art. 2 S. 2 ZP somit ein Einfallstor zur Negierung der Konventionsgarantien geworden, obwohl dies dem erklärten Willen der damaligen Delegierten zuwiderliefe, die, wie Teitgen zusammenfaßte, „ . . . ont eu peur - lâchons le mot - de la propagande communiste. Ils ont dit: ,11 vaut mieux garantir seulement les convictions religieuses, parce que cela nous permettra de ne pas voir des organisations, et peut-être des écoles communistes et de propagande anarchiste, réclamer le bénéfice de la garantie européenne des droits de l'homme." 4 4

Daß totalitäre Ideologien oder gegen die Menschenwürde verstoßende Ansichten nicht von Art. 2 S. 2 ZP geschützt sein können, ergibt sich aus dem grundsätzlichen Anliegen der Konvention, einen gerade vor solchen totalitären Ideologien geschützten menschenrechtlichen Mindeststandard zu schaffen. Eine wichtige Bestimmung ist in diesem Zusammenhang das Mißbrauchsverbot des Art. 17 E M R K 4 5 , aus dem sich der wehrhafte Charakter der Konvention ergibt, die dem Freiheitsfeind die Berufung auf die Konventionsrechte zum Zwecke ihrer Zerstörung verwehrt 46 . Dementsprechend folgerte auch der Gerichtshof aus Art. 17 E M R K , daß " . . . the expression 'philosophical convictions' in the present context denotes, in the Court's opinion, such convictions as are worthy of respect in a 'democratic society' . . . and are not incompatible with human dignity; in addition, they must not conflict with the fundamental right of the child to education." 47

Charakteristisch für eine demokratische Gesellschaft sind, wie der Gerichtshof stets hervorhob, Pluralismus, Toleranz und Offenheit 48 . Obwohl gelegent44

Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 93. "Nothing in this Convention may be interpreted as implying for any State, group or person any right to engage in any activity or perform any act aimed at the destruction of any of the rights and freedoms set forth herein or at their limitation to a greater extent than is provided for in the Convention." 46 Frowein/Peukert, E M R K , Art. 17 Rz. 1. Schon bei der Ausarbeitung der Konvention hatte anläßlich der Debatte über den Bericht des Rechts- und Verwaltungsausschusses AS (3) 93 am 8. 12. 1951 auf der 3. Session der Beratenden Versammlung Teitgen auf diese Sicherung hingewiesen, um Bedenken wegen der befürchteten Zulassung kommunistischer Propagandalehren zu zerstreuen, vgl. Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 93. 47 E G M R , Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, S. 16 § 36. 48 Bspw. EGMR, Urt. v. 13. 8. 1981, Fall Young, James & Webster, Ser. A , Vol. 44, S. 25 § 63 m.w.N. 45

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3. Teil: Familienschutz

lieh Einzelinteressen jenen einer Gruppe untergeordnet werden müssen, bedeutet Demokratie nicht, daß grundsätzlich den Ansichten der Mehrheit Vorrang einzuräumen ist. Vielmehr muß ein Gleichgewicht erreicht werden, das Minderheitsinteressen schützt und das mißbräuchliche Ausnutzen einer dominierenden Stellung ausschließt. Daraus läßt sich folgende Eingrenzung der unter „philosophical convictions" fallenden Überzeugungen ableiten: Nicht mehr umfaßt sind jedenfalls solche Ansichten, die auf eine Abschaffung des demokratischen Systems abzielen, die die Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung propagieren oder Minderheiten unterdrücken wollen, kurzum: die gegen tragende Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft verstoßen. Läßt sich diese Grenzziehung in Extremfällen relativ einfach durchführen, so verbleibt doch eine weite Zone, innerhalb derer die Beurteilung anhand der eben dargestellten Kriterien noch nicht klar erfolgen kann. Zweifelhaft erscheint insbesondere die Einordnung der kommunistischen Lehre. Eine ganz klare Antwort gibt hierzu allerdings die Entstehungsgeschichte, denn die Delegierten befürchteten, der Schutz des Art. 2 S. 2 ZP könnte auch kommunistische Propaganda umfassen. Diesen Bedenken begegnete der Vorsitzende des Rechts- und Verwaltungsausschusses, Sir Maxwell Fyfe, mit der Versicherung, " . . . that it was never in my mind or, as far as I know, in the mind of any member of either the Sub-Committee or the Committee, that this Article would give a Communist parent the right to object to the absence of extreme Marxist doctrines from a school curriculum .. , " 4 9

Die damaligen Befürchtungen und die strikte Ablehnung der kommunistischen Doktrin ist vor dem Hintergrund des „Kalten Krieges" zwar verständlich, doch spricht viel dafür, daß die völlige Ausklammerung dieser Ansichten aus dem Schutz weltanschaulicher Überzeugungen heute nicht mehr haltbar ist. In zahlreichen Staaten des Europarats existieren legal kommunistische Parteien, ohne daß diese eine reale Gefahr für die Demokratie oder die Ursache für gravierende soziale Konflikte darstellten 50 . Im Zeitalter der „Entspannung" und „Perestroika" sollte es doch möglich sein, daß sich Eltern etwa dann zur Wehr setzen können, wenn in der Schule Marxismus und Kommunismus verteufelt werden oder beispielsweise der Geschichtsunterricht in einer Weise gestaltet wird, die es den Kindern nicht mehr erlaubt, sich mit diesen Lehren in objektiver und sachlicher Weise auseinanderzusetzen. Selbstverständlich kann die Achtung der elterlichen Überzeugungen nicht dazu führen, daß es den Unterrichtenden verwehrt ist, auf die Gefahren dieser Lehre auf unser freiheitlich-demokratisches System hinzuweisen und die Schüler zu kriti49 2. Session der Beratenden Versammlung, Sitzung v. 25. 8. 1950, Trav. Prép., Vol. V I , S. 162. 50 So schon Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 237.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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scher Auseinandersetzung zu motivieren. Ebensowenig dürften extreme, auf die Abschaffung der Demokratie abzielende kommunistische Lehren, auf die die Delegierten seinerzeit hauptsächlich abhoben, unkritisch vertreten werden. Ein Unterricht aber, der eine offene Diskussion verhindert und in eine antikommunistische Hetzkampagne ausartet, setzt sich seinerseits dem Vorwurf der Indoktrination aus. Eltern, deren weltanschauliche Überzeugungen auch marxistisches Gedankengut enthalten, darf hier nicht von vornherein entgegengehalten werden, dies zähle per se nicht zu den von Art. 2 S. 2 ZP geschützten Überzeugungen 51. Die hier befürwortete Achtungspflicht entfällt wiederum dann, wenn diese Überzeugungen eine Abschaffung des demokratischen Systems notwendig implizierten oder totalitären Charakter hätten. Von der Gesamtheit marxistischen oder kommunistischen Gedankenguts kann dies jedoch nicht von vornherein angenommen werden. Neuere politische Entwicklungen würden sonst ebenso verkannt wie die gerade in einer Demokratie herausragende Bedeutung der offenen Auseinandersetzung und Meinungsvielfalt. Des weiteren stellt sich die Frage, ob es auch Überzeugungen gibt, die zwar mit den Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft vereinbar, aber dennoch nicht religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen i. S. Art. 2 S. 2 ZP sind. Exemplarisch mag hier an das schon während der Vorarbeiten vorgebrachte Beispiel des Vegetarismus erinnert werden 52 . Eine nähere Konkretisierung soll nun anhand der einschlägigen Entscheidungen der Konventionsorgane vorgenommen werden. Die früheste und wohl bislang auch umfassendste Gesamtinterpretation des Art. 2 ZP nahm der Gerichtshof im Belgischen Sprachenfall vor. Im Vordergrund der Entscheidung steht allerdings nicht das Elternrecht, sondern das Recht auf Bildung. Es wurde betont, daß die Konventionsstaaten nicht zur Subvention eines bestimmten Bildungswesens verpflichtet sind. Das hier interessierende Elternrecht streift die Entscheidung nur kurz, indem die Begriffe „religious" und „philosophical convictions" dahingehend eingegrenzt werden, daß sie nicht die Vorliebe der Eltern für eine bestimmte Sprache umfassen: "To interpret the terms 'religious' and 'philosophical' as covering linguistic preferences would amount to a distortion of their ordinary and usual meaning and to read into the Convention something which is not there. Moreover, the 'preparatory work' confirms that the object of the second sentence of Article 2 was in no way to secure respect by the State of a right for parents to have education conducted in a language other than that of the country in question; indeed in June 1951 the Committee of 51

Opsahl, in: Robertson, Privacy, S. 237. Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Renton (UK) und Pernot (Frankreich) in der Debatte über den Bericht des Rechts- und Verwaltungsausschusses AS (3) 93 auf der 3. Session der Beratenden Versammlung am 8. 12. 1951, Trav. Prép., Vol. V I I I , S. 108 und 135. 52

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3. Teil: Familienschutz

Experts which had the task of drafting the Protocol set aside a proposal put forward in this sense." 53

Es ginge in der Tat zu weit, die Favorisierung einer Sprache als weltanschauliche Überzeugung zu qualifizieren, da insoweit ein Zwang oder Postulat des Gewissens nicht ersichtlich ist. Wollte man umgekehrt den Begriff so weit auslegen, daß er auch Präferenzen der genannten Art umfaßte, so legte man eine praktisch uferlose Definition von „Weltanschauung" zugrunde. Es wäre dann nicht mehr zu erklären, warum in Art. 2 ZP die zu achtenden Überzeugungen auf jene religiöser oder weltanschaulicher Art eingegrenzt wurden, denn wenn „Weltanschauung" ohnehin sämtliche nichtreligiösen Überzeugungen umfaßte, wäre die Differenzierung gegenstandslos und überflüssig. Einer „Überzeugung" kommt zudem eine andere Qualität zu als einer bloßen Meinung oder Vorstellung. Während erstere in der Grundeinstellung eines Menschen wurzelt, diese vielleicht sogar ausmacht, können Meinungen, beispielsweise im politischen Bereich, geändert oder aufgegeben werden, ohne daß dies i.d.R. für den Betroffenen existentielle Bedeutung gewänne. Meinungen und Vorstellungen sind Argumenten zugänglich, während Überzeugungen eher Glaubensfragen (im weiteren Sinn) und daher mit logischer Argumentation nicht immer erfaßbar sind. Einen ähnlichen Abgrenzungsversuch unternahm auch der Gerichtshof im Fall Campbell & Cosans: "In its ordinary meaning the word 'convictions', taken on its own, is not synonimous with the words 'opinions' and 'ideas', such as are utilised in Article 10 of the Convention, which guarantees freedom of expression; it is more akin to the term 'beliefs' (in the French text: 'convictions') appearing in Article 9 - which guarantees freedom of thought, conscience and religion - and denotes views that attain a certain level of cogency, seriousness, cohesion and importance." 54

In diesem Fall findet sich auch eine Annäherung an den Begriff der Weltanschauung, den die Kommission in geradezu vorbildlicher Weise interpretierte und dabei ihre noch im Belgischen Sprachenfall vertretene, sehr enge Auslegung aufgab, " . . . philosophical convictions were added to cover agnostic opinions." 55

Die beschwerdeführenden Mütter wandten sich gegen körperliche Züchtigungen in der Schule, da den Kindern so der Eindruck vermittelt werde, die Anwendung physischer Gewalt sei ein akzeptiertes Mittel zur Erzwingung normkonformen Verhaltens. Ihre Ablehnung sei als „weltanschauliche Überzeugung" zu achten 56 . Die Kommission hob hervor, Art. 2 S. 2 ZP dürfe nicht so eng ausgelegt werden, daß er nur die wenigen Eltern berechtige, die intel53

EGMR, Belgischer Sprachenfall, Urt. v. 23. 7. 1968, Ser. A , Vol. 6, S. 32 § 6. E G M R , Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, S. 16 § 36. 55 Ebenda, S. 26 f. §§ 50-52. 56 KBer v. 16. 5. 1980 zu Β 7511/76 u. 7543/76, Campbell & Cosans, Ser. B, Vol. 42, S. 21 f. §§ 29-32. 54

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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lektuell zur Formulierung eines ausgefeilten philosophischen Konzepts in der Lage seien; dies vertrage sich nicht mit der Garantie dieses Rechts für alle Eltern. Nur begrenzte Aussagekraft komme auch den Vorarbeiten zu. Denn selbst wenn „weltanschaulich" ursprünglich nur sehr eng agnostische Ansichten umfassen sollte, so komme dies in dem endgültigen Wortlaut nicht mehr zum Ausdruck; dieser habe unzweifelhaft weitergehende Bedeutung. Auf der anderen Seite sei es ebenso offensichtlich, daß nicht die völlig unbestimmte, weite Philosophiedefinition mancher moderner Schulen zugrundegelegt werden könne. Die Kommission kam daher zu dem Ergebnis, daß " . . . as a general idea, the concept of 'philosophical convictions' must be understood to mean those ideas based on human knowledge and reasoning concerning the world, life, society, etc., which a person adopts and professes according to the dictates of his or her conscience. These ideas can more briefly be characterised as a person's outlook on life including, in particular, a concept of human behaviour in society." 57

Der Gerichtshof folgte der Auslegung der Kommission und wertete die Ablehnung physischer Gewalt in Form von körperlichen Züchtigungen als „weltanschauliche Überzeugung", da sie " . . . relate to a weighty and substantial aspect of human life and behaviour, namely the integrity of the person, the propriety or otherwise of the infliction of corporal punishment and the exclusion of distress which the risk of such punishment entails." 58

Die Richter betonten namentlich, weder die bei der Ausarbeitung des ZP vertretene enge Auslegung, nur agnostische Ansichten seien umfaßt, noch die moderne, sehr weitgehende Auffassung von Philosophie als jedes strukturierte gedankliche System seien Art. 2 S. 2 ZP zugrundezulegen 59. Denn während die enge Auslegung das ausdrücklich allen Eltern zuerkannte Recht zu sehr beschränke, schließe die letztgenannte Auslegung auch zu wenig gewichtige, triviale oder substanzlose Überzeugungen mit ein. Ein weiteres Beispiel für eine weltanschauliche Überzeugung, das ebenfalls dem Schulbereich entstammt, ist die elterliche Haltung gegenüber koedukativen Schulen. Vor der Kommission hatten englische Eltern erklärt, es verstoße gegen ihr Recht aus Art. 2 S. 2 ZP, daß sie ihre Kinder wegen der Überbelegung anderer Schulen auf koedukative Schulen schicken müßten. Mit den Zielen und Prinzipien dieser Erziehung, die gleichen Unterricht für Mädchen und Jungen vorsieht und sie so auf eine gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft vorbereitet, waren sie nicht einverstanden 60. Diese Haltung erkannte die Kommission als „weltanschauliche Überzeugung" an. 57 KBer v. 16. 5. 1980 zu Β 7511/76 u. 7543/76, Campbell & Cosans, Ser. B, Vol. 42, S. 37 § 92. 58 E G M R , Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, S. 16 § 36. 59 E G M R , Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, S. 16 § 36. 60 K E zu Β 10228/82 u. 10229/82 zu W. u. D. M., M. u. H. J. ./. U K , D R 37, S. 96 ff. (98).

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3. Teil: Familienschutz

In der Spruchpraxis der Konventionsorgane haben die beiden fraglichen Begriffe, namentlich der Terminus der Weltanschauung, feste Konturen gewonnen. Die Konventionsorgane haben durchaus geeignete, inhaltsbezogene Beurteilungskriterien entwickelt, die in ihrer Flexibilität eine sachgerechte, am Einzelfall orientierte Entscheidung ermöglichen. In Abgrenzung zu bloßen Meinungen und Vorstellungen sind weltanschauliche Überzeugungen zwingende Gewissensgebote, die ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit aufweisen, in sich schlüssig sind und sich nicht nur auf triviale, unwichtige Fragen beziehen, sondern die Einstellung eines Menschen zum Leben und sein Verhältnis zur Gesellschaft bestimmen. Schließlich ist zu beachten, daß Art. 2 ZP nur solche Überzeugungen schützt, die mit einem demokratischen System, der Menschenwürde und den Rechten des Kindes vereinbar sind. b) Üblichkeit und Verbreitung

der Überzeugung

Schon eingangs war die Frage aufgeworfen worden, ob es bei dem Schutz der elterlichen Überzeugungen, seien sie religiöser oder weltanschaulicher Art, auf ihre gesellschaftliche Anerkennung, ihre Verbreitung und die Zahl ihrer Anhänger ankommen kann. Im Fall Campbell & Cosans hatte der Gerichtshof befunden, daß das Recht der Gegner körperlicher Züchtigungen in Schulen nicht hinter jenes ihrer Befürworter zurücktreten müsse, sondern daß durch Ausnahmeregelungen und Befreiungen dem Recht der Andersdenkenden Achtung zu verschaffen sei 61 . Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer allgemeinen Akzeptanz dieser Überzeugungen lassen sich in dem Wortlaut der Vorschrift nicht finden; vielmehr wird jeweils das individuelle Elternrecht geschützt62. Der Schutz weltanschaulicher Überzeugungen wird also auch und gerade den Eltern zuteil, deren Ansichten nicht allgemein akzeptierten Standpunkten entsprechen, sofern sie den vom Gerichtshof entwickelten Kriterien entsprechen, also namentlich mit den Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft vereinbar sind. Eben dies gilt in gleichem Maß für religiöse Überzeugungen. Mit einer von der Mehrheitsmeinung abweichenden religiösen Überzeugung war die Kommission in einem Fall befaßt, der die Problematik des elterlichen Züchtigungsrechts betraf 63 . Einige schwedische Eltern wandten sich gegen das umfassende Verbot körperlicher Züchtigungen im schwedischen „Code of Parenthood" und die Pönalisierung auch elterlicher Züchtigungen im Strafgesetzbuch. Die 61

(a)·

EGMR, Urt. v. 25. 2. 1982, Fall Campbell & Cosans, Ser. A , Vol. 48, S. 17 § 37

62 So schon die Kommission in ihrem Bericht v. 16. 5. 1980 zu Β 7511/76 u. 7543/76, Campbell & Cosans, Ser. B, Vol. 42, S. 38 § 97. 63 K E v. 13. 5. 1982 zu Β 8811/79, 7 Einzelpersonen ./. Schweden, DR 29, S. 104 ff.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

385

Eltern, die einer protestantischen Sekte angehörten, die Züchtigungen der Kinder als traditionelles Erziehungsmittel befürwortete, sahen sich durch die genannten Verbote in ihren religiösen Überzeugungen verletzt. Zudem befürchteten sie, daß durch die Ächtung dieser Züchtigungen ihre Kinder gegen sie aufgebracht und ihnen entfremdet werden könnten. Die schwedische Regierung brachte dagegen vor, dem elterlichen Erziehungsrecht sei eine vernünftige Auslegung dahingehend zu geben, daß unübliche, außergewöhnliche Überzeugungen, die zudem der staatlichen Pflicht zuwiderliefen, Kinder vor Schaden zu bewahren, nicht von seinem Schutz umfaßt seien 64 . Die Kommission hingegen folgte dieser Auslegung nicht, sondern verwies auf ihre im Fall Campbell & Cosans entwickelte Auslegung des Begriffs „weltanschauliche Überzeugungen" 65 und übertrug sie auf den Begriff der religiösen Überzeugungen. Danach sind gerade die Überzeugungen der Minderheit geschützt, und zwar nicht nur im Bereich der Weltanschauung, sondern ebenso auf religiösem Gebiet 66 . c) Schutz des „kulturellen Außenseiters" Nichts anderes darf grundsätzlich im Hinblick auf die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen „kultureller Außenseiter" gelten, d. h. sich rechtmäßig im Geltungsbereich der Konvention aufhaltende Ausländer, die einer außereuropäischen Religion oder Weltanschauung anhängen. Denn die Vertragstaaten haben die Konventionsrechte nicht nur Inländern zugesichert, sondern gem. Art. 1 E M R K allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen. Doch ebensowenig wie inländische dissentierende Eltern können sie die Errichtung eigener Schulen verlangen, da das elterliche Recht nur im Rahmen des bestehenden staatlichen Schul-und Erziehungssystems zu achten ist. Insoweit sind sie darauf angewiesen, eigene, private Schulen zu gründen oder aber ihre Kinder zusätzlich zu dem Schulunterricht zu Hause in ihrer eigenen kulturellen Tradition zu erziehen und in ihrer Religion zu unterrichten. Bei außereuropäischen Religionen und Weltanschauungen tauchen allerdings des öfteren Umfang Probleme auf im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Schulunterrichts mit den - zumeist religiösen - Überzeugungen, die nicht 64 KBer v. 13. 5.1982 zu Β 8811/79, 7 Einzelpersonen ./. Schweden, D R 29, S. 104 ff. (115). 65 V. 16. 5. 1980 zu Β 7511/76 u. 7543/76, Campbell & Cosans, Ser. B, Vol. 42, S. 38 § 97: "[I]t is precisely in their capacity as individual parents that the applicants are entitled to the right to respect for their philosophical convictions and this irrespective of whether their claim may conflict with the standards generally accepted by other parents in respect of discipline." 66 K E v. 13. 5. 1982 zu Β 8811/79, 7 Einzelpersonen ./. Schweden, D R 29, S. 104 ff.

(116).

25 Palm-Risse

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3. Teil: Familienschutz

schon durch eine Befreiung vom Religionsunterricht gelöst werden können. So schreiben manche Religionen ein striktes Arbeitsverbot an bestimmten Feiertagen vor oder haben einen anderen Tag als den christlichen Sonntag als Ruhetag festgelegt 67. Lassen nun Eltern, die strenggläubige Anhänger einer solchen Religion sind, ihre Kinder an den entsprechenden Feiertagen in die Schule gehen, so verstoßen sie gegen ihre religiösen Gebote. Eine gegenteilige Entscheidung wiederum führt zu Wissenslücken, wenn für die übrigen Kinder der Unterricht weiter erteilt wird. Folgt daher aus Art. 2 S. 2 ZP eine Pflicht, den Schulunterricht so zu gestalten, daß er auf Feiertage nicht-christlicher Religionen Rücksicht nimmt? Ansatzpunkt ist der Wortlaut der Vorschrift. Danach wird den Eltern nicht ein absolutes Recht auf Erziehung ihrer Kinder gemäß ihren Überzeugungen gewährt, sondern nur ein Recht auf Achtung ihrer Überzeugungen bei der Erziehung und im Unterricht 68 . Zu beachten ist weiterhin, daß das Elternrecht nur im Rahmen des bestehenden Schulsystems zu respektieren ist, und dieses sieht grundsätzlich Schulunterricht an allen Werktagen vor mit Ausnahme staatlicher und religiöser Feiertage, die in dem betreffenden Konventionsstaat eingehalten werden. Im Extremfall könnte eine umfassende Rücksichtnahme sogar dazu führen, daß die Schule ihre primäre Aufgabe der Wissensvermittlung nicht mehr erfüllen kann, wenn an den Feiertagen der verschiedenen Religionen jeweils der Unterricht ausfiele. Es würde daher an den Bestand der nationalen Erziehungssyteme rühren, wollte man die Staaten zur Rücksichtnahme auf elterliche Überzeugungen verpflichten, die mit der bestehenden Schulsituation nicht vereinbar sind. Wie die Konventionsorgane regelmäßig betonen, ist das Elternrecht jedoch nur im Rahmen des vorgefundenen Systems zu achten, so daß Art. 2 S. 2 ZP den Eltern mit Überzeugungen, deren umfassende Achtung eine Aufgabe oder Änderung des bestehenden Schulsystems bedingte, keinen Anspruch hierauf vermittelt. Soweit allerdings innerhalb des bestehenden Erziehungssystems auf die elterlichen Überzeugungen Rücksicht genommen werden kann, z. B. durch Befreiungen vom christlichen Religionsunterricht, sind die Mitgliedstaaten hierzu verpflichtet. II. IPBPR

Ebenso wie die E M R K hat auch der IPBPR dem elterlichen Erziehungsrecht eine separate Bestimmung gewidmet. Es ist niedergelegt in Art. 18 I V IPBPR, der sich mit der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit befaßt, und lautet: 67 So ist beispielsweise nach jüdischer Religion der Samstag Feiertag, an dem strenggläubige Juden keiner Arbeit nachgehen dürfen. 68 Vgl. auch K E v. 6. 3. 1984 zu Β 102333/83, Familie H. ./. U K , D R 37, S. 105 ff.

(108).

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

387

"4. The States Parties to the present Covenant undertake to have respect for the liberty of parents and, when applicable, legal guardians to ensure the religious and moral education of their children in conformity with their own convictions."

Das in Art. 18 I V IPBPR verankerte Elternrecht unterscheidet sich damit deutlich von jenem der A E M R . Zum einen steht es dort nicht im Zusammenhang mit der Gewissens- und Religionsfreiheit, sondern in einer eigenen, dem Recht auf Bildung gewidmeten Artikel, zum anderen stellt Art. 26 I I I A E M R : "Parents have a prior right to choose the kind of education that shall be given to their children."

eine viel kategorischere Forderung auf als die sich im Vergleich eher bescheiden ausnehmende Bestimmung des Art. 18 I V IPBPR 6 9 . Der Grund für die vorsichtigere Wortwahl im Pakt dürfte darin liegen, daß er seine Vertragstaaten rechtlich bindet und nicht nur politische und moralische Forderungen aufstellt wie die A E M R . Es liegt in der Natur der Sache, daß eine unverbindliche Erklärung sich am Wünschenswerten orientieren und in ihren Forderungen wesentlich weiter gehen kann als ein bindender Vertrag, der sich auch an dem Möglichen, Realisierbaren ausrichten muß. Stattdessen erinnert die im Pakt gewählte Formulierung an den Wortlaut des Art. 2 S. 2 ZP. Inwieweit diese Ähnlichkeit im Wortlaut auch eine inhaltliche Annäherung bedeutet, wird nun zu prüfen sein. 1. Schutzbereich des Art. 18 I V IPBPR

Der Kreis der Personen, der sich auf das elterliche Erziehungsrecht berufen kann, erfährt in Art. 18 I V IPBPR eine Weiterung gegenüber Art. 2 S. 2 ZP: Nicht nur Eltern, sondern auch ein Vormund oder Pfleger sind nach dem Wortlaut dieser Bestimmung anspruchsberechtigt. Die Auslegung des Begriffs „Eltern" führt aus denselben Gründen wie bei Art. 2 S. 2 ZP dazu, daß auch Adoptiv- oder Wunscheltern, die sich zur Realisierung ihres Kinderwunsches einer Leihmutter bedient haben, Träger des Elternrechts sind 70 . 2. Inhalt des Erziehungsrechts

Anders als Art. 2 S. 2 ZP enthält Art. 18 I V IPBPR keine Begrenzung der staatlichen Pflicht zur Achtung der elterlichen Überzeugungen auf den Erziehungssektor. Eine solche Einschränkung folgt auch nicht aus dem Kontext der Bestimmung, da Art. 18 I V im Gegensatz zu Art. 26 I I I A E M R nicht im Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung steht, sondern sich in der Vorschrift über Glaubens- und Gewissensfreiheit findet. Dennoch wirkt sich 69 70

2*

Partsch, in: Henkin, International Bill, S. 213. S. dieses Kapitel, Text zu Fn. 13.

388

3. Teil: Familienschutz

naturgemäß das Elternrecht in erster Linie auf den schulischen Bereich aus, da hier staatliche und elterliche Erziehung aufeinandertreffen und es zu Konflikten kommen kann. Die Individualbeschwerde eines finnischen Schullehrers, der gleichzeitig Generalsekretär der atheistischen Gemeinschaft „Union of Free Thinkers" war, gab dem Menschenrechtsausschuß Gelegenheit, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. Der Lehrer sah sein elterliches Erziehungsrecht durch die finnische Schulgesetzgebung verletzt, soweit diese obligatorischen Religions- und Moralgeschichte-Unterricht auch für Kinder atheistischer Eltern vorsah. Dieser Unterricht finde auf der Grundlage christlicher Textbücher statt und habe damit unmittelbar religiösen Charakter 71 . Die finnische Regierung wies demgegenüber darauf hin, daß der Religionsunterricht gerade nicht obligatorisch sei, sondern daß die Eltern ihre Kinder außerhalb des Schulunterrichts ihren Vorstellungen gemäß unterrichten könnten. In Fällen allerdings, in denen ein vergleichbarer außerschulischer Unterricht nicht sichergestellt sei, würden die betreffenden Kinder in Religions- und Moralgeschichte statt Religion unterrichtet, um ihnen zumindest allgemeines Wissen über die Religion zu vermitteln, der die Bevölkerungsmehrzahl anhängt 72 . Der Menschenrechtsausschuß entschied, allein das Erteilen eines ReligionsErsatzunterrichts verstoße nicht gegen Art. 18 I V IPBPR, sofern der Unterricht in einer neutralen, objektiven Weise abgehalten werde und die Überzeugungen atheistischer Eltern achte. Zudem stünde es den Eltern frei, ihre Kinder sowohl vom Religions- als auch vom Ersatzunterricht zu befreien, wenn sie selbst eine entsprechende außerschulische Unterrichtung arrangierten 73 . Diese Auslegung des Erziehungsrechts zeigt deutliche Parallelen zu der Spruchpraxis der EMRK-Organe. Danach war es den Konventionsstaaten nicht verwehrt, im Unterricht auch religiöse oder weltanschauliche Fragen anzusprechen, sofern dies in einer objektiven, offenen und toleranten Art geschah und keine Mißachtung anderer geistiger oder religiöser Haltungen beinhaltete. 71 Beschwerde Nr. 9/40 v. 30. 9. 1981, Erkki Juhani Hartikainen ./. Finnland, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), Annex X V , S. 147 ff. (147 § 2.1). 72 Beschwerde Nr. 9/40 v. 30. 9. 1981, Erkki Juhani Hartikainen ./. Finnland, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), Annex X V , S. 147 ff. (149 § 7.2). 73 Beschwerde Nr. 9/40 v. 30. 9. 1981, Erkki Juhani Hartikainen ./. Finnland, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), Annex X V , S. 147 ff. (152 § 10.4). Die finnische Regierung zog aus dem Fall die Konsequenz, die Schulgesetzgebung zu revidieren, Richtlinien für den Religions-Ersatzunterricht auszuarbeiten und den Unterricht inspizieren zu lassen, um seinen ordnungsgemäßen Ablauf sicherzustellen, s. Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, 38th session, Suppl. No. 40 (A/38/40), Annex X X X I I I , S. 255 f.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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Art. 18 I V IPBPR verpflichtet die Mitgliedstaaten des Paktes nicht zur Bereitstellung oder Finanzierung einer den elterlichen Wünschen entsprechenden Erziehung, sondern nur dazu, diese andersartigen Ansichten zuzulassen und zu tolerieren 74 . Denn aus dieser Vorschrift kann keine Verpflichtung der Staaten zur Reformierung ihres Erziehungswesens abgeleitet werden; das elterliche Recht ist vielmehr innerhalb des bestehenden Erziehungswesens zu achten 75 . Einen darüber hinausgehenden Anspruch der Eltern auf Bereitstellung von Schulen, die Unterricht entsprechend den Vorstellungen der dissentierenden Eltern erteilen, gewährt Art. 18 I V IPBPR demnach ebensowenig wie Art. 2 S. 2 ZP. 3. Elterliche Überzeugungen

Während sich das elterliche Erziehungsrecht in Art. 2 S. 2 ZP auf „religious and philosophical convictions" bezieht, spricht Art. 18 I V IPBPR allgemein von „Überzeugungen"(„convictions"). Eine gewisse Eingrenzung der zu achtenden Überzeugungen folgt allerdings unmittelbar aus dem Schutzzweck, nämlich „to ensure the religious and moral education of their children". Art. 18 I V IPBPR meint folglich nur solche elterlichen Überzeugungen, die für die religiöse und sittliche Erziehung der Kinder bedeutsam sind. Es fragt sich, inwieweit sich dies trotz der fehlenden Konkretisierung von dem Gebot des Art. 2 S. 2 ZP unterscheidet. Der Begriff „Religion" ist weit auszulegen in dem Sinne, daß er jeden Glauben an eine wie auch immer geartete höhere Macht umfaßt, unabhängig davon, ob eine festgelegte religiöse Zeremonie eingehalten wird oder nicht. Denn schon bei der Ausarbeitung dieser Vorschrift hatten es die Staatenvertreter vermeiden wollen, durch ein zu enges Begriff s Verständnis von religiöser Verehrung oder Glauben die Anhängerschaft nicht berücksichtigter Richtungen zu verletzen 76 . Der nigerianische Delegierte lehnte ausdrücklich die Auffassung einiger Kirchen ab, nur der formalisierte Weg der Verehrung sei „Religion"; dies diene als Vorwand zur Missionierung. Vielmehr habe jeder das Recht, nach seiner Art Religion zu praktizieren, und sei es die Anbetung eines Felsens oder Flusses77.

74

Partsch, in: Henkin, International Bill, S. 213. So auch die kanadische Delegierte während der ausarbeitung dieser Vorschrift, U N G A OR, 15th session, 1960, 3rd Committee, 1024. mtg., 16. 11. 1960, UN-Doc. A/ C.3/SR. 1024 § 3. 76 So die Vertreter von Uruguay, U N G A OR, 15th session, 1960, 3rd Committee, 1023. mtg., 16. 11. 1960, UN-Doc. A/C.3/SR. 1023 § 24; Peru, 1024. mtg., 16. 11. 1960, A/C.3/SR. 1024 § 10; Marokko, ebenda § 11. 77 U N G A OR, 15th session, 1960, 3rd Committee, 1024. mtg., 16. 11. 1960, UNDoc. A/C.3/SR. 1024 § 23. 75

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3. Teil: Familienschutz

Während Einigkeit herrschte darüber, daß „Religion" jeden Glauben an eine übergeordnete Macht umfassen sollte, um nicht eine Glaubensrichtung über eine andere zu erheben und niemanden vor den Kopf zu stoßen, gab es ausführliche Debatten über die Frage, ob auch atheistische Überzeugungen geschützt sein sollten, die die Existenz eines höheren Wesens ablehnen. Die Mehrheit der Delegierten sprach sich auch hier für Toleranz aus78 und setzte sich gegen diejenigen Vertreter durch, die - vom normalen Wortsinn ausgehend - unter religiösen Überzeugungen nur den Glauben an eine übergeordnete Macht verstehen wollten 79 . Mithin sollten von Art. 18 I V IPBPR auch solche Überzeugungen geschützt werden, die ebenso fundamental und ernsthaft sind wie der Glaube an eine dem Menschen übergeordnete Macht, deren Existenz aber gerade ablehnen 80 . So akzeptierte auch der Menschenrechtsausschuß in der oben erwähnten Individualbeschwerde des finnischen Lehrers sein Vorbringen, er fühle sich durch die religiöse Färbung des ReligionsErsatzunterrichts in seinem Erziehungsrecht verletzt, ohne zu problematisieren, daß hier eine nicht glaubensbezogene Erziehung angestrebt wurde 81 . In der Einbeziehung atheistischer Überzeugungen unterscheidet sich der IPBPR von Art. 2 S. 2 ZP, der zwar diese Überzeugungen auch schützt, jedoch nicht als „Religion", sondern als „Weltanschauung". Dieser Begriff wurde gerade als Gegenstück zur Religion in Art. 2 S. 2 ZP aufgenommen, fehlt aber in Art. 18 I V IPBPR. Hier lautet das Begriffspaar „religious and moral education", und interessanterweise wurde die Einbeziehung atheistischer Überzeugungen nie unter dem Gesichtspunkt sittlicher Erziehung diskutiert. Der unterschiedliche Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung atheistischer Überzeugungen wirkt sich also im Ergebnis nicht aus. Über den Begriff der Moral finden sich keine Erklärungen in den Travaux Préparatoires. Im normalen Sprachgebrauch werden darunter Überzeugungen verstanden, die das Verhalten des Menschen in der Gesellschaft betreffen, sein Sollen und Dürfen. Nach Art. 18 I V IPBPR sind diejenigen Werte, Ver78 U N G A OR, 15th session, 1960, 3rd Committee, 1024. mtg., 16. 11. 1960, UNDoc. A/C.3/SR. 1024 § 17 (Nigeria); § 20 (Liberia); A/C.3/SR. 1025 §§ 22,27 (Argentinien); §§ 55 f. (UdSSR); A/C.3/SR. 1027 § 28 (Indien) mit dem interessanten Hinweis auf den Hinduismus, dessen Anhänger Mono-, Pan- oder Atheisten sein können, ohne daß dies etwas an ihrer hinduistischen Grundeinstellung ändert. Vgl. auch UN-Doc. A/ 2929, U N G A OR, 10th session, 1955, Agenda item 28 (Part I I ) , Annexes, S. 45 § 115: " . . . if the right of the parent to determine what form of religious education the minor should receive were written into the article, the right of the parent to give the minor a purely secular education should also be guaranteed." 79 U N G A OR, 15th session, 1960, 3rd Committee, 1024. mtg., 16. 11. 1960, UNDoc. A/C.3/SR. 1024 § 24 (Pakistan); A/C.3/SR. 1025 § 30 (Zypern); A/C.3/SR. 1026 § 2 (Spanien). 80 Partsch, in: Henkin, International Bill, S. 214. 81 Beschwerde Nr. 9/40 v. 30. 9. 1981, Erkki Juhani Hartikainen ./. Finnland, Bericht des Menschenrechtsausschusses an die Generalversammlung, 36th session, Suppl. No. 40 (A/36/40), Annex X V , S. 147 ff. (149 § 8.2).

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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haltensge- und -verböte zu achten, die Eltern ihren Kindern vermitteln. Eine einheitliche Auslegung wird sich schon für einen homogenen Kulturkreis schwer finden lassen, noch viel weniger für einen inhomogenen, aus allen Kulturkreisen stammenden Kreis von Vertragspartnern. Denn die Vorstellungen, was sittlich ge- oder verboten sein soll, variieren je nach sozialem und vor allem kulturellem Hintergrund. Ebenso wie „religious" wird daher auch „moral education" weit auszulegen sein, um dem Vorwurf zu entgehen, manche Moralvorstellungen gegenüber anderen zu bevorzugen und damit über divergierende Ansichten ein Unwerturteil auszusprechen. Interessant ist auch im Rahmen des IPBPR die Frage nach den Grenzen der Pflicht zur Achtung der elterlichen Überzeugungen. Anders gewendet: Verpflichtet Art. 18IV IPBPR die Vertragstaaten, auch solche Überzeugungen zu achten, die ihrerseits gegen die Religionsfreiheit oder andere Paktrechte verstoßen 82 , die totalitär oder rassistisch sind oder auf eine gewaltsame Systemänderung abzielen? Wollte man einen Paktstaat auch zur Achtung solcher, mit den Garantien des IPBPR selbst unvereinbarer Überzeugungen anhalten, so stünde dies im Widerspruch zu dem Gebot zur umfassenden Garantie der Paktrechte. Denn der Vertragstaat müßte es dann dulden, daß bestimmte, vielleicht sehr mächtige Gruppierungen, die seiner Herrschaftsgewalt unterstehen, genau dieses Ziel vereitelten, ohne dagegen einschreiten zu können. Dies wiederum bedeutete, daß der betreffende Paktstaat seinen Verpflichtungen aus Art. 2 I I IPBPR verletzte, wenn er seine Achtungspflicht aus Art. 18 I V IPBPR erfüllt. Eine solche Kollision der Verpflichtungen aber ist ausgeschlossen, da sie im Widerspruch zu dem erklärten Sinn und Ziel des IPBPR stünde. Darüber hinaus würde eine Erweiterung des Schutzes auf paktwidrige Überzeugungen gegen Art. 5 I IPBPR verstoßen, wonach keine Bestimmung des Paktes dahingehend ausgelegt werden darf, daß sie für eine Person oder Gruppe das Recht begründet, auf die Abschaffung oder Aushöhlung der Garantien hinzuarbeiten. Gerade dies aber würde geschehen, wenn darauf gerichtete Überzeugungen im Rahmen des Art. 18 I V IPBPR respektiert werden müßten. Folglich bezieht sich das elterliche Erziehungsrecht in Art. 18IV IPBPR wie jenes in Art. 2 S. 2 ZP nur auf vertragskonforme Überzeugungen. Im übrigen gelten die für Art. 2 S. 2 ZP herausgearbeiteten Einschränkungen der Achtungspflicht; namentlich ist eine gewisse Ernsthaftigkeit, Stringenz und Wichtigkeit der Überzeugung zu fordern. Dies gebietet schon der Gebrauch des Begriffs „Überzeugung" im Unterschied zu einer bloßen Meinung oder Ansicht. Nicht notwendig ist es hingegen, daß die betreffende Geisteshaltung von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Denn deren Überzeugungen 82 Bedenken in dieser Hinsicht äußerte der argentinische Vertreter bei den Vorarbeiten, s. U N G A OR, 15th session, 1960, 3rd Committee, 1024. mtg., 16. 11. 1960, UNDoc. A/C.3/SR. 1025 § 27.

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3. Teil: Familienschutz

werden i.d.R. ohnehin schon im offiziellen Unterricht und bei der Erziehung ausreichend berücksichtigt, so daß Art. 18 I V IPBPR nicht zuletzt eine die Minderheit schützende Vorschrift ist.

I I I . WSP

Auch der WSP enthält in Art. 13 WSP eine eigene Bestimmung über das elterliche Erziehungsrecht, die ebenso wie im ZP zur E M R K im Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung steht: "3. The States Parties to the present Covenant undertake to have respect for the liberty of parents and, when applicable, legal guardians to choose for their children schools, other than those established by the public authorities, which conform to such minimum educational standards as may be laid down or approved by the State and to ensure the religious and moral education of their children in conformity with their own convictions."

Es ist das einzige Vertragswerk mit „promotional obligations", das dieses Recht beinhaltet, denn sein Gegenstück auf europäischer Ebene, die ES, behandelt das elterliche Erziehungsrecht nicht. Dieser unterschiedliche Charakter des Vertragswerkes wirkt sich in der Formulierung des elterlichen Erziehungsrechts jedoch nicht aus. Es ist wortgleich mit der Fassung des Art. 18 I V IPBPR. Zusätzlich wird in Art. 13 I I I WSP die Freiheit der Eltern betont, ihre Kinder private Schulen besuchen lassen zu können. Die identischen Fassungen des elterlichen Erziehungsrechts in den beiden universellen Menschenrechtspakten lassen auch auf eine inhaltliche Übereinstimmung schließen. Daran vermag auch die grundsätzlich unterschiedliche Art der Verpflichtungen, die beide Vertragswerke ihren Mitgliedstaaten auferlegen, nichts zu ändern, da sich die Unterschiede auf das hier zu untersuchende Elternrecht gerade nicht auswirken. Art. 13 I I I WSP verpflichtet die Vertragstaaten, ihr Schulsystem nach und nach auszubauen und zu verbessern; insofern handelt es sich um eine schrittweise zu verwirklichende Bestimmung. Im Rahmen des bestehenden Erziehungs- und Bildungssystems aber sind die elterlichen Überzeugungen nicht erst nach und nach, sondern unmittelbar zu achten. Dies folgt nicht nur aus dem insoweit mit Art. 18 I V IPBPR identischen Wortlaut, sondern auch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift: Schwerpunktmäßig werden in Art. 13 I I I WSP die staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen behandelt, die ausgebaut und jedermann zugänglich gemacht werden sollen. Das elterliche Erziehungsrecht sowie das Recht, die Kinder alternativ nichtstaatliche Erziehungseinrichtungen besuchen lassen zu können, begrenzen hier den staatlichen Freiraum bei der Entwicklung und dem Ausbau seiner Bildungseinrichtungen. Diese Grenze ist naturgemäß nicht erst schrittweise zu achten, son-

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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dern von Anfang an, zumal die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Vertragstaaten dadurch nicht in Anspruch genommen wird. Die Aufnahme des elterlichen Erziehungsrechts in den WSP ist daher mehr als Bestätigung dieses Rechts zu verstehen, das schwerpunktmäßig im Parallelinstrument IPBPR angesiedelt ist, wo es als Ausprägung der Gewissensund Religionsfreiheit verstanden wird. Seinem Charakter nach ist es eher ein bürgerlich-politisches denn ein wirtschaftliches, soziales oder kulturelles Recht. Dies erklärt auch sein Fehlen in der ES, die sich aber darüber hinaus auch nur mit einem Teilbereich des Bildungssystems befaßt (Berufsausbildung, Art. 10 ES), in dem das elterliche Erziehungsrecht ohnehin aufgrund des Alters der Betroffenen keine Rolle mehr spielt. Es kann somit festgehalten werden, daß sich das in Art. 13 I I I WSP angesprochene elterliche Erziehungsrecht inhaltlich nicht von dem in Art. 18 I V IPBPR niedergelegten Recht unterscheidet.

IV. AmK

Auch die A m K hebt einen wichtigen Bereich der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in einer gesonderten Bestimmung hervor. Ebenso wie der IPBPR findet sich das elterliche Erziehungsrecht in der der Gewissens- und Religionsfreiheit gewidmeten Vorschrift. Art. 12 I V A m K lautet: "Parents or guardians, as the case may be, have the right to provide for the religious and moral education of their children or wards that is in accord with their own convictions."

Diese Bestimmung ist in ihrer Ausdehnung des Kreises der Anspruchsberechtigten auf den Vormund oder der Bezugnahmen auf die religiöse und moralische Erziehung der Kinder der parallelen Bestimmung Art. 18 I V IPBPR vergleichbar. In der Formulierung des Rechts an sich unterscheidet sich Art. 12 I V A m K hingegen deutlich von den bislang behandelten Garantien des elterlichen Erziehungsrechts. Denn den Staaten wird nicht aufgegeben, das elterliche Erziehungsrecht zu achten, vielmehr wird den Eltern positiv das Recht gewährt, gemäß ihren eigenen Überzeugungen die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder sicherzustellen. Ungeachtet dieser die Eltern in eine aktive Rolle versetzenden Formulierung könnte hier dennoch der Schutz ihrer Überzeugungen unvollständiger erfolgt sein als in den bislang untersuchten Kodifikationen. Denn die Möglichkeit zur Organisation einer zusätzlichen, privaten Unterrichtung der Kinder unabhängig von dem staatlichen Schulsystem blieb den Eltern auch im Rahmen der E M R K und der Pakte unbenommen. Da der Staat diesen Unterricht aber nicht finanziell unterstützen, sondern lediglich tolerieren muß, konzentriert sich aus praktischen wirtschaftlichen Überlegungen das Interesse auf die Pflicht der Vertragstaaten, die elter-

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3. Teil: Familienschutz

liehen Überzeugungen im Rahmen des vorgefundenen Bildungs- und Erziehungssystems zu achten. Es fragt sich nun, ob es eine solche staatliche Achtungspflicht ungeachtet der divergierenden Formulierung des Rechts auch aus Art. 12 I V A m K ergibt. Interessant ist ein Vergleich mit Art. 2 6 I V A E M R , der den Eltern ebenfalls eine sehr aktive Rolle bei der Gestaltung der Erziehung ihrer Kinder zuerkennt: "Parents have a prior right to choose the kind of education that shall be given to their children."

Dieser Abschnitt war aufgenommen worden, um eine Wiederholung der indoktrinierenden Schulerziehung im Dritten Reich auszuschließen83. Eltern sollten darauf bestehen können, daß nicht nur die dem Staat genehmen Überzeugungen in der Schule vermittelt, sondern auch ihre eigenen Ansichten zumindest respektiert würden. Obwohl also in Art. 26 I I I A E M R seinem Wortlaut nach den Staaten ebensowenig eine Pflicht zur Achtung der Überzeugungen auferlegt wurde wie in Art. 12 I V A m K , sollte diese Bestimmung dazu dienen, den Eltern einen (politischen und moralischen) Anspruch auf Achtung ihrer Überzeugungen innerhalb des staatlichen Bildungssystems zu verschaffen. Tatsächlich würde das Recht der Eltern, für eine ihren Überzeugungen entsprechende religiöse und sittliche Erziehung der Kinder sorgen zu können, nahezu leerlaufen, wollte man ihnen nicht gleichzeitig das Recht zugestehen, Achtung ihrer Überzeugungen innerhalb des staatlichen Bildungswesens verlangen zu können. Denn es dürfte der Mehrzahl der Eltern unmöglich sein, aus eigenen Mitteln einen entsprechenden Unterricht zu organisieren. Die Erteilung staatlichen Unterrichts war einer der wichtigsten Schritte zum Abbau des Bildungsprivilegs der Reichen, und es kann nicht angenommen werden, daß ausgerechnet eine menschenrechtliche Kodifikation sich darauf beschränken will, die Eltern auf Alternativen zu dem tatsächlich zugänglichen Bildungssystem zu verweisen, sofern sie ihre Kinder gemäß ihren Überzeugungen unterrichtet wissen wollen. Allerdings könnte es den Eltern zuzumuten sein, ihre Kinder in Fragen der Moral und Religion zu Hause selbst zu unterrichten. Das Recht aus Art. 12IV A m K würde dann auf einen Freistellungsanspruch von einschlägigen staatlichen Unterrichtsfächern verkürzt. Abgesehen davon, daß eine solche Unterrichtung vielen Eltern aus Zeitgründen nicht möglich sein dürfte oder ihnen vielleicht auch die notwendigen Kenntnisse fehlen, könnte die Erziehung im Elternhaus staatlicherseits einfach dadurch zunichte gemacht werden, daß im staatlichen Unterricht ganz andere Werte propagiert und die Kinder zu einer 83

Dazu Robinson, Universal Declaration, S. 138.

15. Kap.: Elterliches Erziehungsrecht

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Ablehnung der elterlichen Überzeugungen veranlaßt werden könnten. Auf diese Weise würde wiederum das elterliche Erziehungsrecht ad absurdum geführt. Sinn und Zweck der Konventionsvorschrift erfordern also eine Auslegung des Art. 12 I V A m K , die das Erziehungsrecht der Eltern auch auf den staatlichen Unterricht erstreckt, da die Vorschrift andernfalls ausgehöhlt und gegenstandslos würde. Auch die Mitgliedstaaten der A m K , den Schulunterricht in einer die religiösen und moralischen Überzeugungen der Eltern achtenden Weise zu gestalten, insbesondere neutral, offen und tolerant zu unterrichten. Denn nur so ist gewährleistet, daß denjenigen Eltern, die ihre Überzeugungen im Rahmen des vorhandenen Erziehungssystems nicht genügend vertreten sehen, die Möglichkeit zur selbständigen, eigenen Unterrichtung ihrer Kinder verbleibt. Im übrigen ist es nicht vorstellbar, daß eine menschenrechtliche Kodifikation, zu deren Garantien die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit zählen, einen intoleranten und indoktrinierenden Schulunterricht ermöglichen wollte. Eine solche Auslegung wäre mit dem Geist und dem Anliegen der Konvention unvereinbar. Demnach wirkt sich der gegenüber anderen Vertragswerken abweichende Wortlaut des in der A m K niedergelegten elterlichen Erziehungsrechts nicht auf den materiellen Gehalt des Rechts aus. Ebenso wie in den übrigen Verträgen gewährt es den Eltern einen Anspruch auf die Achtung ihrer Überzeugungen, dem durch einen offenen, zur Mündigkeit und Kritikfähigkeit erziehenden Unterricht Rechnung getragen wird.

V . Zusammenfassung und Ergebnis E M R K , A m K und die beiden universellen Menschenrechtspakte haben dem elterlichen Erziehungsrecht eigene Bestimmungen gewidmet, die in den Artikeln über das Recht auf Bildung (Art. 2 ZP E M R K , 13 WSP) oder über die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18 IPBPR, 12 AmK) ihren Platz gefunden haben. Bei den zuletzt genannten Vorschriften fehlt eine ausdrückliche Begrenzung der Pflicht zur Achtung der elterlichen Überzeugungen auf den Erziehungssektor, obwohl dieser auch hier den Hauptanwendungsbereich darstellt. Anspruchsberechtigt sind die leiblichen sowie Adoptiveltern - im Fall der Leihmutterschaft auch die Wunscheltern, sofern das Kind bei ihnen verbleibt - , sowie darüber hinaus kraft ausdrücklicher Bestimmung im Rahmen der A m K und der beiden Pakte auch der gesetzliche Vormund. Inhaltlich bezieht sich das elterliche Erziehungsrecht in erster Linie, aber nicht ausschließlich auf den schulischen Bereich: Angesprochen sind alle staatlichen Einrichtungen, die Kinder erziehen und ausbilden. Sie sind zu einem

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sachlichen, kritischen und offenen Unterricht verpflichtet. Es kommt dabei weniger auf den Unterrichtsgegenstand an, der auch religiöse oder weltanschauliche Fragestellungen umfassen kann, sondern auf die Art der Vermittlung: Jegliche Indoktrination ist unzulässig. Die zu achtenden elterlichen Überzeugungen werden in keinem Vertrag näher definiert. Die EMRK-Organe haben die beiden zentralen Begriffe des Art. 2 S. 2 ZP E M R K - „religiös" und „weltanschaulich" - konkretisiert und damit dem noch bei Inkrafttreten des ZP als sehr vage empfundenen Erziehungsrecht Konturen verliehen: Während „Religion" den Glauben an eine dem Menschen übergeordnete Macht beinhaltet, sind „weltanschauliche" Überzeugungen Gewissensgebote, die die Einstellung einer Person zum Leben, zur Gesellschaft bestimmen, die ernsthaft und schlüssig vertreten werden und mit den Werten eines demokratischen Systems vereinbar sind. Sie wurden zur Ergänzung des Schutzes religiöser Überzeugungen aufgenommen. Geschützt sind nicht nur die mehrheitlich vertretenen Überzeugungen, sondern gerade auch jene der Minderheit, auch des „kulturellen Außenseiters". Die Auslegung des Erziehungsrechts des IPBPR zeigt deutliche Parallelen zu der Interpretation des Art. 2 ZP E M R K . Geschützt werden elterliche Überzeugungen, die für die religiöse und sittliche Erziehung der Kinder bedeutsam sind. „Religion" umfaßt jede Form von Glauben an eine höhere Kraft, gleichgültig, ob ein bestimmtes Zeremoniell der Verehrung eingehalten wird oder nicht, sowie atheistische Überzeugungen, also gerade die Negierung einer übergeordneten Macht. Hier besteht ein Unterschied zu dem im ZP E M R K zum Ausdruck kommenden Religionsverständnis, das Atheismus nicht umfaßt. Da solche Überzeugungen aber als „Weltanschauung" geschützt sind, besteht im Ergebnis kein Unterschied. Obschon der WSP nur schrittweise zu verwirklichende Bestimmungen enthält, um deren Verwirklichung sich die Staaten bemühen müssen, ist das in seinem Art. 13 niedergelegte Erziehungsrecht mit jenem des IPBPR identisch und begrenzt den staatlichen Freiraum innerhalb des staatlichen Erziehungsund Bildungssystems. Diese Grenze ist naturgemäß nicht schrittweise zu achten, sondern von Anfang an. Trotz seines abweichenden Wortlauts unterscheidet sich das elterliche Erziehungsrecht in der A m K nicht von den übrigen Verbürgungen dieses Rechts. Auch wenn den Staaten nicht ausdrücklich die Achtung dieses Rechts aufgegeben, sondern den Eltern aktiv das Recht gewährt wird, gemäß ihren eigenen Überzeugungen die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder sicherzustellen, vermittelt Art. 12 I V A m K in erster Linie einen Anspruch auf Berücksichtigung dieser Überzeugungen im Rahmen des staatlichen Erziehungs- und Bildungssystems. Andernfalls könnten die Eltern auf die eigenverantwortliche Gründung alternativer Erziehungseinrichtungen verwiesen werden, was einer Aushöhlung des elterlichen Erziehungsrechts gleichkäme.

Schluß Zum Abschluß der Untersuchung läßt sich das Fazit ziehen, daß die Gemeinsamkeiten bei der vertraglichen Ausgestaltung des Familienschutzes die Unterschiede bei weitem überwiegen, die die unterschiedliche Ausgestaltung der Verpflichtung - schrittweise oder unmittelbar zu verwirklichende Garantien, subjektive Rechte oder objektive Staaten Verpflichtungen - vermuten ließ. Auch regionale Besonderheiten wie beispielsweise die verbreitete Anerkennung faktischer Ehen in Lateinamerika wirken sich zumeist nur punktuell aus, da eine Gleichstellung mit formell geschlossenen Ehen oder eine Annäherung der Rechtsfolgen beider Lebensformen nicht so einheitlich gehandhabt wird, daß von einem regionalen Prinzip die Rede sein könnte. Die Homo- bzw. Heterogenität des Kreises der Vertragstaaten macht sich allerdings insoweit bemerkbar, als bei einem unterschiedlichen sozio-kulturellen Hintergrund der Mitgliedstaaten universeller Menschenrechtsinstrumente ein Spannungsverhältnis entsteht insofern, als einerseits die unterschiedlichen Auffassungen und Vorstellungen in den nationalen Rechtsordnungen der Staaten berücksichtigt werden sollen, um nicht ein fremdes Rechts- und Kulturverständnis zu oktroyieren, andererseits aber auch ein menschenrechtlicher Mindeststandard geschaffen werden soll. Eine Synthese beider Ziele gelingt, indem der Familienbegriff mit einem festen Begriffskern, über den der menschenrechtliche Mindeststandard definiert wird, und einem flexiblen Begriffshof versehen wird, der die verschiedenen Familienmodelle berücksichtigen und dadurch möglichst umfassend familiäre Personenverbindungen in seinen Schutzbereich einbeziehen kann. Im Bereich des Eheschutzes wirkt sich der unterschiedliche Hintergrund der Vertragstaaten weit mehr aus als im Rahmen des Familienschutzes. Die Staaten können sich bei der Frage, welche Ehemodelle sie innerstaatlich zulassen wollen, in stärkerem Maß von ihren eigenen kulturellen Präferenzen leiten lassen als im Rahmen des Familienschutzes, da die zu schützende Verbindung als solche noch nicht entstanden ist. Der Familienschutz hingegen muß sich zugunsten der betroffenen Personen stärker von faktischen Gegebenheiten leiten lassen, da jede Eingrenzung auf bestimmte Familienmodelle zu einer Reduktion des Kreises der geschützten Personen führt.

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