Zur Disposition gestellt?: Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit [1 ed.] 9783428542970, 9783428142972

Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie dem »besonderen« Schutz der staatlichen Ordnung unterstellt, ist im Gefüge des Gru

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Zur Disposition gestellt?: Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit [1 ed.]
 9783428542970, 9783428142972

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 78

ARND UHLE (Hrsg.)

Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit

Duncker & Humblot · Berlin

ARND UHLE (Hrsg.)

Zur Disposition gestellt?

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 78

Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit

Herausgegeben von

Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-14297-2 (Print) ISBN 978-3-428-54297-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84297-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung unterstellt, ist im Gefüge der Verfassung einzigartig: Die Bestimmung ist nicht nur die einzige Vorschrift des Grundgesetzes, die einen „besonderen“ Schutz verheißt, sondern auch die einzige Verfassungsnorm, die mit Ehe und Familie jeweils eine menschliche Gemeinschaft als solche schützt. Gleichwohl erhebt sich bei ihr drängender als bei anderen Normen des Grundgesetzes die Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit. Seinen Grund hat dies in Entwicklungen, die vielfach mit dem Etikett des „gesellschaftlichen Wandels“ bezeichnet werden. Sie bewirken, dass der vom Parlamentarischen Rat mit einer Sonderstellung ausgestattete Art. 6 Abs. 1 GG heute auf eine Lebenswirklichkeit trifft, die sich seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahre 1949 erheblich verändert hat. Die Ursachen dieser veränderten Lebenswirklichkeit entstammen, anders als das Wort vom gesellschaftlichen Wandel suggeriert, indessen lediglich zu einem Teil der gesellschaftlichen Sphäre. Zwar zählen zu ihnen an prominenter Stelle in der Tat gesellschaftliche Faktoren wie etwa eine weit ausgreifende Individualisierung der Lebensführung, eine damit einhergehende geringere Bereitschaft zu Eingehung und dauerhafter Aufrechterhaltung der ehelichen Lebensform und eine erhebliche Pluralisierung gesellschaftlich akzeptierter Lebensformen. Auch gehören hierzu eine gesellschaftliche Relativierung des Wertes familiärer Kindererziehung und die Hinnahme einer immer stärkeren Indienststellung der Ehepartner und Familienmitglieder durch die Wirtschaft. Ebenso aber zählt zu den Ursachen dieser veränderten Lebenswirklichkeit eine Entwicklung des Eherechts, die in der Tendenz immer weniger auf ehestabilisierende Regelungen abzielt und statt dessen immer mehr die individuelle Eigenverantwortung der Ehepartner hervorhebt. Weiterhin gehören hierher eine Ausweitung

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Vorwort

staatlicher Einflussnahme auf die Kinderbetreuung sowie ein Gesetzgeber, der sich zunehmend bereit zeigt, Ehe und Familie den Eigengesetzlichkeiten des Wirtschaftslebens zu unterstellen und den ihnen von Verfassungs wegen gebührenden Schutz auch auf sonstige Formen menschlicher Gemeinschaften zu übertragen. Schließlich zählt hierzu auch ein Verfassungsgericht, dem Grund, Ziel und Regelungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG erkennbar fremd geworden sind. Das zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit daran, dass das Gericht nicht mehr bereit ist, der durch Art. 6 Abs. 1 GG geforderten Privilegierung von Ehe und Familie die ihr gebührende Geltung zu verschaffen, sondern dass es diese am Maßstab des Art. 3 GG auf ihre gleichheitsrechtliche Rechtfertigung hin zu überprüfen sucht. Diese Judikatur ist in besonders markanter Weise in den bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu den Eingetragenen Lebenspartnerschaften zutage getreten,1 findet sich aber in jüngeren Entscheidungen auch in durchaus anderem Kontext. War etwa über Jahrzehnte in der Rechtsprechung zu Recht anerkannt, dass Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, die freie Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch die Eheleute und die von ihnen in Freiheit vorgenommene Aufgabenverteilung in der Ehe zu achten,2 heißt es in einer im Jahre 2011 veröffentlichten Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats, dass – der hier offenkundig als vorrangig herangezogene – Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG den Gesetzgeber dazu verpflichte, „einer Verfestigung überkommener Rollenverteilung zwischen Mutter und Vater in der Familie zu begegnen, nach der das Kind einseitig und dauerhaft dem ,Zuständigkeitsbereich‘ der Mutter zugeordnet würde“3 – eine verfassungsgerichtliche Inpflichtnahme des Gesetzgebers, die aufhorchen lässt. So unterschiedlich die vor diesem Hintergrund in den Blick tretenden Einzelentwicklungen für sich betrachtet auch sein mögen, so sehr eint sie doch, dass sie Ausdruck des Umstands sind, dass 1 BVerfGE 124, 199 (225 f.); 126, 400 (420 f.); 131, 239 (259 ff.); 132, 179 (191 f.); BVerfG, NJW 2013, 847 (854 f.). Zu dieser Judikatur eingehend Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 36 ff. 2 BVerfGE 68, 256 (268); 105, 1 (10). 3 BVerfGK 19, 186 (192).

Vorwort

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Grundlage, Intention und Regelungsgehalt des grundgesetzlichen Ehe- und Familienschutzes nicht mehr selbstverständlich sind und auf ein abnehmendes Verständnis in Gesellschaft und Politik, Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit treffen. Dieser Befund ist Anlass dafür, sich neu der Grundlagen und Ziele, aber auch der Strukturentscheidungen und Erfordernisse eines effektiven Schutzes von Ehe und Familie zu vergewissern sowie zukunftsträchtige Wege zu bedenken, um die normative Kraft des Art. 6 Abs. 1 GG zu stärken und den besonderen Schutz von Ehe und Familie neu zu akzentuieren. Zu dieser Neuakzentuierung gehören auf der einen Seite ökonomische Aspekte des Ehe- und Familienschutzes, weshalb es zweifelsohne besonders bedeutsam ist, sich des Eheund Familienschutzes im Steuer- und Abgabenrecht zu versichern und den hier festzustellenden Änderungsbedarf zu konturieren. Auf der anderen Seite gehört hierzu in nichtökonomischer Hinsicht die Vergegenwärtigung jener Besonderheiten von Ehe und Familie, die nicht nur im Jahre 1949 für den Parlamentarischen Rat Grund für die Aufnahme von Art. 6 Abs. 1 in das Grundgesetz waren, sondern auch in Gegenwart und Zukunft die rechtliche Sonderstellung von Ehe und Familie zu tragen vermögen. Zum Eintritt in die Diskussion über die Zukunft des staatlichen Schutzes von Ehe und Familie möchten die nachfolgend abgedruckten Beiträge einladen. Sie gehen zunächst von einer sozialwissenschaftlichen Analyse der Bedeutung von Ehe und Familie als Ressource der Gesellschaft aus, um vor diesem Hintergrund der Frage nachzuspüren, welche Anforderungen Art. 6 Abs. 1 GG an den einfach-rechtlichen Ehe- und Familienschutz stellt und wo die Erfüllung dieser Anforderungen derzeit gefährdet erscheint. Auf dieser Grundlage schließt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie im Steuerund Abgabenrecht an, bevor sich die letzte Abhandlung der namentlich durch die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur zu den Eingetragenen Lebenspartnerschaften herbeigeführten Relativierung des „besonderen“ Schutzes von Ehe und Familie widmet. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind hervorgegangen aus Vorträgen, die am 30. September 2013 in der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft auf deren Generalversammlung in Tübin-

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Vorwort

gen gehalten worden sind. Vielfältigen Dank für die Unterstützung bei der Durchführung der Sektionssitzung wie auch bei der redaktionellen Bearbeitung der nachfolgend veröffentlichten Abhandlungen schulde ich den wissenschaftlichen Mitarbeitern meines Lehrstuhls, namentlich Herrn Ass. iur. Thomas Wolf und Herrn Markus Kohlmann (LL.B.). Dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon (LL.M.), danke ich herzlich für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe der „Wissenschaftlichen Abhandlungen zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“ sowie für die hervorragende verlegerische Betreuung. Dresden, im November 2013

Arnd Uhle

Inhaltsverzeichnis Ehe und Familie als Ressource der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von Professor Dr. Manfred Spieker, Osnabrück Ehe und Familie – noch besonders geschützt? Der Auftrag des Art. 6 GG und das einfache Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Von Professor Dr. Christian Seiler, Tübingen Zukunftsvergessen? Der besondere Schutz von Ehe und Familie im Steuer- und Abgabenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Von Professor Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Verfassungsgebot Gleichstellung? Ehe und Eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts . . . . 85 Von Professor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz, Bonn Verzeichnis der Mitwirkenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Ehe und Familie als Ressource der Gesellschaft Von Manfred Spieker Jedes Land hat ein vitales Interesse, „diejenigen privaten Lebensformen besonders auszuzeichnen, zu schützen und zu fördern, welche Leistungen erbringen, die nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für die übrigen Gesellschaftsbereiche notwendig sind. Aus soziologischer Sicht haben sie somit eine gesellschaftliche Funktion, aus ökonomischer Sicht produzieren sie positive externe Effekte“.1 Die Lebensform, von der hier im 5. Familienbericht der Bundesregierung (1994) die Rede ist, ist die Ehe und die aus ihr hervorgehende Familie. Seit Jahrhunderten werden Ehe und Familie in sehr verschiedenen politischen Systemen und in verschiedensten Kulturen moralisch wie rechtlich geschützt, gefördert und privilegiert, weil sie nicht nur den Wünschen der beteiligten Personen entsprechen, sondern der ganzen Gesellschaft Vorteile bringen, Vorteile, die in dieser Effektivität und Qualität von keiner anderen Form des Zusammenlebens erreicht werden, sieht man einmal davon ab, dass diese anderen Formen des Zusammenlebens ohnehin meist nur in utopischen Romanen oder ansatzweise in totalitären politischen Systemen existieren. Was sind diese Vorteile von Ehe und Familie für die Gesellschaft?

1 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 5. Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland. Zukunft des Humanvermögens, 1995, in: BT-Drs. 12 / 7560, S. 24.

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Manfred Spieker

I. Gesellschaftliche Funktionen von Ehe und Familie Ehe und Familie sorgen zum einen für die physische Regeneration der Gesellschaft, für ihre biologische Reproduktion, mithin für ihre Zukunft, und zum anderen für die Bildung des Humanvermögens der nächsten Generation.2 Ehe und Familie sorgen in der Regel für die Geburt von Kindern, nicht weil die Eltern an die Zukunft der Gesellschaft denken, sondern weil sie sich lieben. Die Zeugung eines Kindes ist die Inkarnation ihrer Liebe. Ehe und Familie sind deshalb, so hat es die Verfassung des Landes Hessen (HV) schon zweieinhalb Jahre vor dem Grundgesetz zum Ausdruck gebracht, „Grundlage des Gemeinschaftslebens“ (Art. 4 HV). Deshalb stünden sie „unter dem besonderen Schutz des Gesetzes“. Auch die Weimarer Verfassung (WRV) sah die Ehe „als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung“ (Art. 121 WRV). Die Ehe ist keine Ratifizierung einer schon bestehenden, sondern der Beginn einer neuen Beziehung zwischen Mann und Frau, die sich ohne Vorbehalt einander schenken, die sich sexuelle Treue sowie liebende Fürsorge und Unterstützung versprechen in Gesundheit und Krankheit, in guten und in schlechten Zeiten bis der Tod sie scheidet. Die Ehe ist deshalb auch eine Ressource für die beiden Ehepartner. Im Hinblick auf die aus ihrer geschlechtlichen Vereinigung hervorgehenden Kinder schafft sie eindeutige Bande der Zugehörigkeit, der Identität und der Verwandtschaft sowie der Verantwortung. Verheiratete Männer profitieren von einem stabilen familiären Leben, verheiratete Frauen von der Sicherheit und dem Schutz, der Anerkennung der Vaterschaft ihrer Kinder und der gemeinsamen Verantwortung.3 In der wirtschaftswissenschaftlichen Glücksforschung spielen Ehe und Familie konsequenterweise eine zentrale Rolle. Sie gelten unter sieben Glücksfakto2 Eine der besten Darstellungen der Leistungen und Funktionen der Familie für die Gesellschaft bietet Heinz Lampert, Priorität für die Familie. Plädoyer für eine rationale Familienpolitik, 1996, S. 18 ff. 3 Witherspoon Institute, Ehe und Gemeinwohl. Zehn Leitlinien, Die Neue Ordnung 63 (2009), Sonderheft August 2009, S. 18 f.

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ren als „der allerwichtigste“.4 Wer das Glück sucht, „findet die Familie“.5 In einer empirischen Untersuchung in Italien kommt Pierpaolo Donati zu dem Schluss, dass Familien mit zwei oder mehr Kindern, in denen die Eltern verheiratet sind, glücklicher sind als andere. Die entscheidenden Variablen im Hinblick auf die Fähigkeit einer Familie, Ressource für die Gesellschaft zu sein, seien 1. die Größe der Familie, 2. die Zahl der Kinder, 3. die Bereitschaft, für Ältere zu sorgen, und 4. die Fürsorge für Kinder. Je weniger von allem vorhanden sei, desto dominanter sei der Wunsch nach Selbstbestimmung.6 Ehe und Familie sind, wenn sie intakt sind, und intakt sind sie, wenn Vater und Mutter sich lieben, eine kaum zu überschätzende Ressource für die Kinder. Eine intakte Ehe heißt nicht, dass es keine Konflikte gibt, aber sie erfordert ein niedriges Konfliktniveau, die Einsicht, dass nicht Selbstbestimmung, sondern Selbsthingabe der Schlüssel für ein gelingendes Leben ist und ein Handeln nach dieser Einsicht. Ehe und Familie erlauben es den Kindern, sich zu entwickeln und zu reifen. Sie befriedigen ihr Bedürfnis, ihre biologische Identität zu kennen. Sie vermitteln soziale Beziehungen und Tugenden, die für deren Humanvermögen wichtig sind. Benedikt XVI. unterstrich diese Einsicht in einer Ansprache am 8. Februar 2010: Die auf der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gründende Familie sei „die größte Hilfe, die man Kindern bieten kann. Sie wollen geliebt werden von einer Mutter und von einem Vater, die einander lieben, und sie müssen mit beiden Elternteilen zusammen wohnen, aufwachsen und leben, denn die Mutter- und die Vaterfigur ergänzen einander bei der Erziehung der Kinder und beim Aufbau ihrer Persönlichkeit und ihrer Identität“.7

4 Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft. Was wir aus der Glücksforschung lernen können, 2. Aufl. 2009, S. 195. Zur wirtschaftswissenschaftlichen Glücksforschung vgl. Manfred Spieker, Jeder seines Glückes Schmied? Thesen der Christlichen Sozialethik zur Glücksforschung in der Wirtschaftswissenschaft, ORDO 61 (2010), S. 191 ff. 5 Paul Kirchhof, Vorwort, in: Liminski / Liminski, Abenteuer Familie, 2002, S. 7. 6 Pierpaolo Donati, The family as a Resource of Society, Familia et Vita 17 (2012) S. 232 ff.

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Manfred Spieker

Das Humanvermögen ist die Gesamtheit der Daseins- und Sozialkompetenzen des Menschen, die dem Erwerb von beruflichen Fachkompetenzen vorausliegen. Diese Daseins- und Sozialkompetenzen sind für die Entwicklung der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Kultur von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie werden in der Familie erworben. In ihr werden die Weichen gestellt für die moralischen und emotionalen Orientierungen des Heranwachsenden, für seine Lern- und Leistungsbereitschaft, für seine Kommunikations- und Bindungsfähigkeit, seine Zuverlässigkeit und Arbeitsmotivation, seine Konflikt- und Kompromissfähigkeit und seine Bereitschaft zur Gründung einer eigenen Familie, zur Weitergabe des Lebens und zur Übernahme von Verantwortung für andere. In der Familie wird über den Erfolg im schulischen und beruflichen Erziehungs- und Ausbildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der Bewältigung des Lebens vorentschieden. „Vom Erziehungs- und Sozialisationserfolg, den die Familien in Verbindung mit den öffentlichen Bildungseinrichtungen erreichen, hängt nicht nur die Leistungsfähigkeit, die Innovations- und die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft ab, sondern auch die Bereitschaft und die Fähigkeit heranwachsender Generationen, sich im politischen, kulturellen und sozialen Leben zu engagieren, etwas zu leisten und Verantwortung zu übernehmen“.8 Kinder intakter Familien haben nach US-amerikanischen Untersuchungen eine wesentlich geringere Rate des Schulschwänzens und des Schulabbruchs oder, positiv ausgedrückt, eine deutlich höhere Schulerfolgsrate sowie eine bessere physische und psychische Gesundheit und eine bessere eigene Entwicklung in der Pubertät als jene aus Haushalten alleinstehender Eltern oder aus Familien mit Stiefeltern.9 Nach der Bedeutung der Familienverhältnisse für den Schulerfolg jenseits der Einkommenslage zu fragen, mag zumin7 Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer der 19. Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Familie am 8. Februar 2010, in: L’Osservatore Romano (deutsche Wochenausgabe) vom 26. Februar 2010, S. 7. 8 Heinz Lampert, Priorität für die Familie. Plädoyer für eine rationale Familienpolitik, 1996, S. 25. 9 Sherif Girgis / Robert P. George / Ryan T. Anderson, What is marriage? In: Harvard Journal of Law and Public Policy 34 (2010), S. 257 f. Vgl. auch Sherif Girgis / Ryan T. Anderson / Robert P. George, What is Marriage? Man and Woman: A Defense, 2012.

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dest in Deutschland politisch unkorrekt sein. Aber es scheint kein Weg an der Erkenntnis vorbei zu führen, dass Kinder intakter Familien der Welt mit mehr Hingabebereitschaft, größerer Hoffnung, höherem Selbstvertrauen, besserer Selbstkontrolle und deshalb mit reicheren Berufsperspektiven gegenüber treten. In der Familie lernt das Kind, so Papst Johannes Paul II. in Familiaris Consortio (1981), was lieben und geliebt werden heißt, was es konkret besagt, Person zu sein. Johannes Paul II. schlägt in diesem Dokument den Bogen vom Kind zur Gesellschaft. „Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familiengemeinschaft werden vom Gesetz des unentgeltlichen Schenkens geprägt und geleitet, das in allen und in jedem einzelnen die Personwürde als einzig entscheidenden Wertmaßstab achtet und fördert, woraus dann herzliche Zuneigung und Begegnung im Gespräch, selbstlose Einsatzbereitschaft und hochherziger Wille zum Dienen sowie tiefempfundene Solidarität erwachsen können. So wird die Förderung einer echten und reifen Gemeinschaft von Personen in der Familie zu einer ersten unersetzlichen Schule für gemeinschaftliches Verhalten, zu einem Beispiel und Ansporn für weiterreichende zwischenmenschliche Beziehungen im Zeichen von Achtung, Gerechtigkeit, Dialog und Liebe. Auf diese Weise ist die Familie […] der ursprüngliche Ort und das wirksamste Mittel zur Humanisierung und Personalisierung der Gesellschaft; sie wirkt auf die ihr eigene und tiefreichende Weise mit bei der Gestaltung der Welt, indem sie ein wahrhaft menschliches Leben ermöglicht, und das vor allem durch den Schutz und die Vermittlung von Tugenden und Werten“.10 Papst Benedikt XVI. bringt dieses Gesetz des Schenkens, das das Familienleben prägt, in seiner Sozialenzyklika Caritas in Veritate (2009) auf die knappe, dem Topos vom „Homo oeconomicus“ entgegengesetzte Formel: „Der Mensch ist für das Geschenk geschaffen“.11 Nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft sowie das sozialstaatliche Leistungssystem profitieren von diesen Leistungen der Familie, sondern auch der demokratische Staat, der auf interessierte, motivierte, partizipations- und solidaritätsbereite Bürger angewiesen ist, und nicht zuletzt die Kirchen, 10 11

Johannes Paul II., Familiaris Consortio, 1981, S. 43. Benedikt XVI., Caritas in Veritate, 2009, S. 34, 36.

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die für die Weitergabe des Glaubens der Mitwirkung der Eltern bedürfen. Ehe und Familie sind deshalb nicht nur eine Ressource für die unmittelbar Betroffenen, also Eltern und Kinder, sondern auch für das Gemeinwohl in Gesellschaft, Staat und Kirche. Verhaltensbiologie, Entwicklungspsychologie, Pädiatrie und in den vergangenen Jahren auch die Gehirnforschung haben die Bedeutung der ersten Lebensphase und der Familie für die Bildung des Humanvermögens immer wieder unterstrichen – sowohl positiv im Hinblick auf die Reifung der Persönlichkeit als auch negativ im Hinblick auf das Scheitern einer solchen Reifung als Folge frühkindlicher Betreuungs- und Bindungsmängel. Zivilgesellschaft und Wirtschaft profitieren von intakten Ehen und Familien, von dem Netz des Vertrauens und den sozialen Beziehungen, die zwischen verschiedenen Familien und Generationen geschaffen werden. Die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Generation der Rentner und Pensionäre ist Teil dieser Zivilgesellschaft. Intakte Familienbande bewahren sie vor der Einsamkeit im Alter, jener verbreiteten Befindlichkeit einer kinderlosen, alternden Gesellschaft, die vermehrt nach aktiver Sterbehilfe rufen lässt. Die in intakten Familien erworbenen und geübten Tugenden der Hilfsbereitschaft, der Selbsthingabe, der Selbstbeherrschung, des Vertrauens und des Gespürs für Gerechtigkeit sind der Kitt in allen Bereichen des sozialen Lebens. Sie verleihen dem Staat Stabilität. Sie stärken das Gemeinwohl. Auch für die Kirche sind diese Tugenden eine Voraussetzung dafür, dass die Verkündigung des Evangeliums auf fruchtbaren Boden fällt. Selbst die umstrittene Erklärung der EKD zu Ehe und Familie vom 19. Juni 2013 kann sich dieser Einsicht nicht ganz entziehen. Sie unternimmt zwar alles, um Ehe und Familie zu relativieren, um die sozialistische Familienpolitik der DDR zu glorifizieren und um „gleichgeschlechtliche Partnerschaften […] auch in theologischer Sicht als gleichwertig anzuerkennen“12, stellt aber doch auch fest: „Der Familie als gesellschaftlicher Institution kommt […] für die Weitergabe des Lebens und den sozialen Zusammenhalt nach wie vor eine zentrale und unverzichtbare Rolle zu“.13 12 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2013, S. 66.

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II. Gesellschaftliche Folgen zerbrochener Familien Die Bedeutung der Familie als Ressource für das Gemeinwohl wird via negationis unterstrichen, wenn die Folgen untersucht werden, die das Zerbrechen von Familien und die Relativierung der Ehe durch den sozialen, moralischen und rechtlichen Wandel, die Gender-Ideologie und die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften haben. Diese Folgen, die seit mehr als einer Generation dramatische Ausmaße annehmen, betreffen zunächst die Eheleute selbst, dann die Kinder, schließlich die Gesellschaft und den Staat und nicht zuletzt generationenübergreifend die demographische Entwicklung. Sie gleichen einer pathologischen Spirale. „Family breakdown reduces health, wealth and wellbeing – the three things in which people are most interested. Reduced health, wealth and wellbeing all put pressure on relationships, thus reinforcing and perpetuating the vicious circle of breakdown“14 (Das Scheitern einer Familie vermindert Gesundheit, Wohlstand und Wohlbefinden – die drei Dinge, an denen die Menschen am meisten interessiert sind. Verminderte Gesundheit, verminderter Wohlstand und vermindertes Wohlbefinden belasten die Beziehungen und verstärken und perpetuieren so den Teufelskreis des Scheiterns). Die Explosion der Scheidungsrate in den vergangenen 20 Jahren ist nicht nur in Deutschland historisch beispiellos. Sie betrug 1965 noch 12% und stieg über 30 % im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung 1991 auf über 55% 2003. Im vergangenen Jahrzehnt pendelte sie um die 50%. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch in den USA. Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend, werden aber nicht selten verniedlicht. In der familiensoziologischen und -psychologischen Forschung wird gelegentlich für eine „Entdramatisierung“ von Scheidungen plädiert, die „nicht als einzelnes Ereignis, sondern als […] Übergang in einer Reihe familialer Übergänge zu definieren“ seien. Die Belastungen für das Leben der Betroffenen liegen jedoch auf der Hand. Die Schei13 EKD, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2013, S. 125. 14 Relationships Foundation, Counting the Cost of Family Failure, Research Note 12 / 01, S. 6.

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dungsforschung der 90er Jahre zeige, stellt selbst der 7. Familienbericht der Bundesregierung fest, der sonst sehr zur Entdramatisierung der Scheidungen neigt, dass sich bei Geschiedenen im Vergleich mit Verheirateten „ein niedrigeres Niveau psychischen Wohlbefindens“ feststellen lässt, „das u. a. in vermindertem Glücksgefühl, vermehrten Symptomen psychischer Belastung wie Depressionen und psychosomatischen Beschwerden und einem eher negativen Selbstkonzept zum Ausdruck kommt. Geschiedene Personen haben zudem mehr gesundheitliche Probleme und ein erhöhtes Risiko der Sterblichkeit […] Alkohol- und Drogenmissbrauch treten verstärkt auf […]. Geschiedene haben einen niedrigeren Lebensstandard und leiden unter größeren ökonomischen Belastungen als Verheiratete. Letzteres gilt insbesondere für geschiedene Frauen.“15 Im Alter kommt die Einsamkeit erschwerend zu all den anderen Belastungen dazu. Kinder zerbrochener Familien, oft hin und her geschoben zwischen Vater und Mutter, unterliegen selbst einem wesentlich höheren Risiko, in Armut aufzuwachsen, die Schule ohne Abschluss zu verlassen, im Erwachsenenalter Schwierigkeiten in langfristigen Beziehungen und in der Ehe zu haben, selbst geschieden zu werden, unter psychischen Erkrankungen, Selbstmordneigungen und Delinquenz zu leiden und als Mädchen eine Frühschwangerschaft zu erfahren. Das Scheidungsrisiko von Kindern geschiedener Eltern liegt um 80% über dem von Kindern verheirateter Eltern. In den meisten Fällen bringt die Wiederverheiratung eines Elternteils, wie amerikanische Untersuchungen zeigen, den Scheidungskindern keine Hilfe. Die mit Stiefeltern lebenden Kinder verzeichnen fast die gleichen Schulabbrecherquoten, Delinquenzraten und Frühschwangerschaften wie die Kinder, die nach einer Scheidung im Haushalt eines allein bleibenden Elternteils aufwachsen.16 Kinder leiden unter der Schwächung von Ehe und Familie aber nicht nur als Scheidungs- und Stiefkinder. Auch bei ehelos zusammenlebenden Paaren sind Kinder vermehrt Belastungen ausgesetzt. 15 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 116 ff. 16 Witherspoon Institute, Ehe und Gemeinwohl. Zehn Leitlinien, Die Neue Ordnung 63 (2009), Sonderheft August 2009, S. 32.

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Etwa 50% dieser Kinder müssen nach Studien in den USA den Abbruch der Beziehungen der Eltern bis zum fünften Lebensjahr erleben, während die Vergleichsziffer für eheliche Kinder bei 15 % liegt. Rund 37 % der unehelich geborenen Kinder und 31% der Scheidungskinder beenden in den USA die schulische Ausbildung nicht, während die Vergleichsziffer für die Kinder verheirateter Eltern bei 13% liegt.17 Dies gilt nach einer breiten kanadischen Untersuchung auch für Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aufwachsen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen High-School-Abschluss erreichen, beträgt nur 65%.18 Dass Kinder in intakten Familien deutlich bessere Entwicklungschancen haben als Kinder, deren Eltern nicht verheiratet oder geschieden sind, ist in zahlreichen Untersuchungen in verschiedenen Ländern und Kulturen nachgewiesen worden.19 Für die Gesellschaft, das Bildungs- und das Sozialleistungssystem hat die Schwächung von Ehe und Familie ebenfalls schwerwiegende Folgen. Die seit dem Jahr 2000 jährlich rund 150.000 Scheidungskinder (2012: 143.022) und die rund 200.000 unehelich geborenen (2011: 224.744), oft bei allein erziehenden Müttern aufwachsenden Kinder in Deutschland bedeuten ein erhebliches Armutsrisiko. Der Anstieg der Kinderarmut ist zwar ein in Medien und Politik häufig erörtertes Thema. Aber meist wird der Sozialstaat zum Schuldigen erklärt.20 Es wird vermieden, auf die Hauptursache hinzuweisen: die Schwächung von Ehe und Familie. Während von den in einer Ehe aufwachsenden Kindern 2004 etwa 3 % Sozialhilfe beziehen, sind es von den Kindern der Alleinerziehenden über 27%. Eine Debatte über die Hauptursache würde schnell 17 Witherspoon Institute, Ehe und Gemeinwohl. Zehn Leitlinien, Die Neue Ordnung 63 (2009), Sonderheft August 2009, S. 23. 18 Douglas W. Allen, High School Graduation Rates Among Children of Same-Sex Households, in: Review of Economics of the Household 11 (2013), S. 635 ff. 19 Robert P. George / Jean Bethke Elshtain, The Meaning of Marriage. Family, State, Market, & Morals, 2006. 20 Dies gilt auch für die Erklärung der EKD zu Ehe und Familie: EKD, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2013, S. 120.

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deutlich machen, dass das Problem nicht in erster Linie mit Geld oder sozialstaatlichen Leistungen zu lösen ist, dass es vielmehr großer moralischer, kultureller und bildungspolitischer Anstrengungen zur Stärkung von Ehe und Familie bedürfte. Um das Armutsrisiko und all die anderen Risiken, die Kinder und Jugendliche geschiedener oder nicht verheirateter Eltern auf ihrem Lebensweg erwarten, zu mildern, haben Gesellschaft und Staat einen hohen Preis zu zahlen. Die Ausgaben für Sozialleistungen, Unterhaltsvorschuss, Bildungs- und Erziehungshilfen, Drogen- und Gewaltprävention wachsen stark. Die britische Relationships Foundation, die seit 2009 jährlich die Kosten für das Scheitern von Familien berechnet, kam 2012 auf 43,94 Mrd. Pfund (52,48 Mrd. Euro), gegliedert in Steuern und Sozialhilfe (13,33), Housing (4,75), Health and Social Care (14,14), Civil and Criminal Justice (8,52) und Education and Young People NEET (3,20).21 Ein Heer von Schulpsychologen soll dafür sorgen, die Belastungen von Scheidungskindern aufzufangen, die Aggressivität der Problemschüler und ihre Anfälligkeit für körperliche und seelische Störungen abzubauen und ihre Selbstsicherheit, ihre Sozialkompetenz sowie ihre Lebensfreude zu stärken. Für jeweils 5.000 Schüler wird von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Niedersachsen ein Schulpsychologe gefordert.22 Bei 11,7 Millionen Schülern (2009 / 10) wären das rund 2.040 Stellen für Schulpsychologen. Die Schwächung von Ehe und Familie hat auch vermehrte Eingriffe der Justiz in das Familienleben bzw. die Eltern-Kind-Beziehungen zur Folge. Zur Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen, zur Regelung des Sorge- und Besuchsrechts bei zerbrochenen Familien oder auseinandergehenden Paaren mit Kindern werden die Gerichte bemüht. Der Ruf nach dem Staat führt zu einem Eindringen der öffentlichen Gewalt in die familiale Gemeinschaft, mithin à la longue zu einer Vergesellschaftung der Familie.23 Der Anstieg 21 Relationships Foundation, Counting the Cost of Family Failure, Research Note 12 / 01, S. 3. 22 Rainer Dollase u. a., Situation der Schulpsychologie in Deutschland und in Niedersachsen im internationalen Vergleich, Gutachten im Auftrag der Max-Träger-Stiftung, Februar 2010, abrufbar unter: http://www.gewnds.de/Aktuell/archiv_jan_10/Situation_der_Schulpsychologie_in_Deutsch land_und_Niedersachsen.pdf.

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der Scheidungen hat somit nicht nur wegen des wachsenden Bedarfs an Wohlfahrts- und Krippenprogrammen, sondern auch wegen der wachsenden Interventionen der Gerichte eine Steigerung der Macht des Staates zur Folge. Die Zivilgesellschaft zahlt für den Niedergang von Ehe und Familie einen hohen Preis. Der Leviathan springt in die Bresche. Er wird umso stärker, je schwächer Ehe und Familie sind.

III. In der Gender-Falle Welche Entwicklungen haben dazu geführt, Ehe und Familie zu schwächen und Art. 6 GG zu missachten? Dass der Blick für die Familie als eine Beziehungseinheit verschiedener Geschlechter und Generationen verdunkelt wurde, ist einer Entwicklung zuzuschreiben, die seit einigen Jahren mit dem Begriff „Gender“ gekennzeichnet wird. Diese Ideologie sieht die Familie nicht mehr als eine eigene Institution, als „citizenship of its own“,24 für die die natürliche Geschlechterdifferenz eine wesentliche Voraussetzung ist, sondern als Ansammlung von Individuen mit jeweils eigenen Rechten. Sie bedient sich des so tugendhaft klingenden Begriffs der Geschlechtergerechtigkeit ebenso wie des neudeutschen Begriffs der Gender-Equality. Sie prägt nicht nur die Politik der EU, sondern auch die Politik der Bundesregierung. Für diese Ideologie gibt es kein natürliches Geschlecht und demzufolge auch keine aus der Natur des Menschen abgeleitete Institution Familie. Wie Weiblichkeit und Männlichkeit „soziale Konstruktionen“ sind, so ist auch die Familie eine soziale Konstruktion, die jederzeit dekonstruiert und neu konstruiert werden kann. Sie ist ein gesellschaftlich und kulturell bedingtes Artefakt, ein „Aushandlungsprozess“, der ständig im Fluss ist. Familienpolitik müsse deshalb, so der 7. Familienbericht der Bundesregierung (2006), „lebenslauf23 Udo Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, S. 993 (994). 24 Pierpaolo Donati, The State and the Family in a Subsidiary Society, in: Archer / Donati (Eds.), Pursuing the Common Good: How Solidarity and Subsidiarity Can Work Together, Proceedings of the 14th Plenary Session of the Pontificial Academy of Social Sciences 2008, S. 217 ff.

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bezogen“ sein.25 Ehe und Familie sind für diesen Familienbericht ein „Anachronismus“. Die Mehrheit der Menschen werde in Zukunft „unabhängig davon, ob eine Heirat erfolgte oder nicht, im Laufe ihres Lebens multiple Beziehungen mit verschiedenen Lebenspartnern erfahren“. Deshalb werde das „Modell der lebenslangen Ehe“ abgelöst von einem „Modell der ‚seriellen Monogamie‘“.26 Die Epoche der räumlichen Trennung von Haushalt und Arbeitsplatz, in der die Frau für die Kindererziehung und der Mann für das Erwerbseinkommen zuständig gewesen seien, gehöre der Vergangenheit an. Diese Trennung von Haushalt und Arbeitsplatz habe „die einst für das Bürgertum typische HerrKnecht-Beziehung“ in das Verhältnis der Geschlechter eingeschleppt.27 Die Familienpolitik der 70er Jahre habe es leider versäumt, die „Dependenzverhältnisse“ zwischen den Geschlechtern aufzulösen – wie dies damals in den meisten Nachbarländern geschehen sei. Seit den 90er Jahren werde das Familienleben jedoch modernisiert und Modernisierung des Familienlebens heißt in der Genderperspektive des Familienberichts Überwindung der Geschlechterrollen.28 Familienleben mit Kindern sei „Vernetzungsarbeit der vielen Orte kindlicher Förderung“.29 Hier erhalten die Kindertagesstätten ihre Bedeutung. Sie sind die Knoten im Netz frühkindlicher Betreuungsorte. Die Familie ist nur noch ein Ort unter anderen. Sie überträgt die Verantwortung für die Betreuung der Kinder 25 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 11 f. 26 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 126. 27 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 99. 28 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 11. 29 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 93.

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auf die Gesellschaft, präziser gesagt, der neue Wohlfahrtsstaat nimmt ihnen diese Verantwortung ab, um zum einen das Übel des „Familialismus“ zu überwinden und den Kindern Sozialisationsund Bildungsmöglichkeiten zu bieten und zum anderen den Eltern die Teilhabe am Erwerbsleben zu ermöglichen.30 Kitas und Ganztagsschulen gelten darüber hinaus als Voraussetzungen für die Befreiung der Frau aus dem „Herrschaftsverhältnis“ einer Ehe. In dieser Perspektive ist der Anstieg der Ehescheidungen auch nicht als Verfall zu interpretieren, sondern „als Befreiung von Bevormundung und Abhängigkeit und als eine Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung im Verhältnis der Geschlechter und zu den Rechten auch der Kinder“. Die Kirchen hätten in diesem Kampf um Modernisierung und um Durchsetzung des Gleichberechtigungsartikels 3 GG gegen Art. 6 GG lange Zeit eine „retardierende Rolle“ gespielt.31 Von dieser Rolle hat sich die EKD mit ihrer „Orientierungshilfe“ zu Ehe und Familie 2013 (unter kräftiger Mithilfe von Ute Gerhardt) verabschiedet. Die katholische Kirche scheint immun zu sein gegenüber den Anfechtungen der Gender-Ideologie, zumindest auf der Ebene des Lehramtes, wie dem Kompendium der Soziallehre der Kirche des Päpstlichen Rates Justitia et Pax32 zu entnehmen ist. Als weniger immun erweist sich seit einigen Jahren das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das sich in seiner familienpolitischen Erklärung vom 20. Mai 2008 „Familienpolitik: geschlechter- und generationengerecht“ mit etwas gewundenen Worten vom klassischen Familienverständnis verabschiedete: „Wenn nicht nur Familie als solche, sondern ein bestimmtes (de facto historisch und kulturell bedingtes) Familienverständnis oder Familienbild als ‚natürliches‘ vorausgesetzt wird, liegt darin die Gefahr, dass Aspekte des Wandels der Familie gar nicht in den Blick kommen oder als Störfakto30 Ilona Ostner, Subsidiarität und Solidarität neu gedacht. Eltern und Kinder im sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat, Kirche und Gesellschaft Nr. 402, 2013, S. 12. 31 Ute Gerhard, Familie aus der Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit – Anfrage an das christlich-abendländische Eheverständnis, Zeitschrift für evangelische Ethik 51 (2007), S. 267 ff. 32 Päpstlicher Rat Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006.

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ren ausgeblendet werden (müssen). Eben dies hat im katholischen Denken über die Familie Tradition, und es betrifft auch und gerade solche Aspekte, welche die Geschlechtergerechtigkeit angehen. Tendenzen, die Familie als ganze bzw. das Anliegen der Generationenverantwortung generell den Anliegen, Bedürfnissen und Interessen der Frauen vorzuordnen, ist unter dieser Rücksicht entgegenzutreten“.33 Die Kritik des Kompendiums der Soziallehre der katholischen Kirche an der Gender-Ideologie setzt nicht das Glaubensbekenntnis voraus. Sie argumentiert auf der Basis des Naturrechts: „Gegenüber denjenigen Theorien, die die Geschlechteridentität lediglich als ein kulturelles und soziales Produkt der Interaktion zwischen Gemeinschaft und Individuum betrachten, ohne die personale sexuelle Identität zu berücksichtigen oder die wahre Bedeutung der Sexualität in irgendeiner Weise in Betracht zu ziehen, wird die Kirche […] nicht müde, ihre eigene Lehre immer wieder deutlich zu formulieren: ‚Jeder Mensch, ob Mann oder Frau muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen. Die leibliche, moralische und geistige Verschiedenheit und gegenseitige Ergänzung sind auf die Güter der Ehe und die Entfaltung des Familienlebens hin geordnet. Die Harmonie des Paares und der Gesellschaft hängt zum Teil davon ab, wie Gegenseitigkeit, Bedürftigkeit und wechselseitige Hilfe von Mann und Frau gelebt werden.‘ Aus dieser Sichtweise ergibt sich die Verpflichtung, das positive Recht dem Naturgesetz anzugleichen, dem zufolge die sexuelle Identität als objektive Voraussetzung dafür, in der Ehe ein Paar zu bilden, nicht beliebig ist.“34 Die Anerkennung des eigenen Geschlechts und der Geschlechterdifferenz bleiben die Voraussetzung, um eine Ehe einzugehen und eine Familie zu werden, die für die Regeneration der Gesellschaft und die Bildung des Humanvermögens sorgt. Dies ist die Grundlage des Art. 6 GG. Keine Kollektivbetreuung, mithin keine Kindertagesstätte kann für die Bildung des Humanvermögens auch nur annähernd ähnlich intensiv sorgen wie die Mutter oder 33 Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), Familienpolitik: geschlechter- und generationengerecht, in: ZdK (Hrsg.), Berichte und Dokumente, 2008, S. 61. 34 Päpstlicher Rat Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006, Ziffer 224.

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der Vater oder – stehen sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht zur Verfügung – eine feste Bezugsperson, zu der das Kind eine stabile Beziehung des Vertrauens hat, die aber immer nur die zweitbeste Lösung bleibt. Die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung hat deshalb in einem Memorandum zum Krippenausbau in Deutschland vom 12. Dezember 2007 darauf hingewiesen, dass in den ersten drei Lebensjahren „die Grundlagen für die seelische Gesundheit des Menschen gelegt“ werden, dass „regelmäßige ganztägige Trennungen von den Eltern eine besondere psychische Belastung für die Kinder“ bedeuten, und dass für die Entwicklung des kindlichen Sicherheitsgefühls und die Entfaltung seiner Persönlichkeit „eine verlässliche Beziehung zu den Eltern am förderlichsten ist“.35 Der 7. Familienbericht widerspricht auch diesen Erkenntnissen. Die „mutterzentrierte“ Einstellung entspringe einer überholten Geschlechterperspektive. Es sei bekannt, „dass Kinder nicht die leibliche Mutter brauchen, […] um verlässliche Beziehungen aufbauen zu können“. Dafür würden „feste Bezugspersonen“ ausreichen, die aber „um der Entwicklung emotionaler Autonomie willen möglichst zahlreich sein sollten“.36 Die Autoren des Berichts scheinen den Widerspruch, den diese Behauptung enthält, nicht einmal bemerkt zu haben. Wie soll dem Kind eine „feste“ Bezugsperson zuteilwerden, wenn die Bezugspersonen „möglichst zahlreich“ sein sollen? Der Familienbericht sperrt sich auch gegen die Einsicht, dass das Wohl des Kindes von der Stabilität von Ehe und Familie abhängt. Die überwiegende Mehrheit der Scheidungskinder habe „einen unproblematischen Entwicklungsverlauf“. Dies widerspreche „der wissenschaftlich als überholt anzusehenden Vorstellung, Kinder würden sich nur bei verheirateten leiblichen Eltern optimal entwickeln […]“. Es sei vielmehr davon auszugehen, „dass eine gesunde psychosoziale Entwicklung mit einem breiten Spektrum familialer Lebensformen vereinbar ist“.37 Der Bericht gibt keine Aus35 Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV), Memorandum der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Krippenausbau in Deutschland. Psychoanalytiker nehmen Stellung, Psyche 62 (2008), S. 202 f. Das ganze Heft ist dem Thema „Außerfamiliäre Betreuung und frühkindliche Entwicklung – Psychoanalytische Perspektiven“ gewidmet. 36 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 91.

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kunft darüber, wer behauptet hat, dass die Kinder sich „nur“ bei verheirateten leiblichen Eltern gut entwickeln. Nachweisbar aber ist, dass sie sich bei verheirateten leiblichen Eltern deutlich besser entwickeln als bei unverheirateten, geschiedenen oder gar gleichgeschlechtlichen. Die Autoren weichen mit der Verwendung des Wörtchens „nur“ dem Problem des Kindeswohles und seiner Bedingungen aus. Würde die Familienpolitik ihre Genderfixierung aufgeben und die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie, der Entwicklungspsychologie, der Pädiatrie und der Hirnforschung über den Zusammenhang von Ehe und Familie, Kindeswohl und Gemeinwohl berücksichtigen, müsste sie andere Schwerpunkte setzen als sie gegenwärtig setzt. Sie müsste sich wieder an Art. 6 GG orientieren, Ehe und Familie als Ressource des Gemeinwohls begreifen und einen „besonderen Schutz“ angedeihen lassen sowie Pflege und Erziehung der Kinder als das „natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ anerkennen. Der 8. Familienbericht der Bundesregierung (2012) versucht einige Korrekturen. Er enthält sich der familienfeindlichen Ideologie des 7. Familienberichts. Er beginnt sogar mit der Feststellung „Familie erbringt unverzichtbare Leistungen für unser Gemeinwesen. Sie erzieht junge Menschen, investiert in private und öffentliche Fürsorge und stiftet sozialen Zusammenhalt“.38 Die Bedeutung, die der Bericht der „Zeitpolitik“ für die Familie zumisst, lässt erkennen, dass ihm wieder mehr am Gelingen von Familie gelegen ist. Aber es geht ihm nicht um mehr Zeit der Eltern für die Erziehung ihrer Kinder, sondern um mehr „Zeitsouveränität“. Am Leitmotiv der Familienpolitik der Bundesregierung, der Erwerbsintegration der Frau,39 will er nichts ändern. Nichtsdesto37 BMFSFJ, 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 2006, in: BT-Drs. 16 / 1360, S. 120. 38 BMFSFJ, 8. Familienbericht. Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik, 2012, in: BT-Drs. 17 / 9000, S. 1 und 5. Vgl. Auch Gregor Thüsing, Zeit für Verantwortung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember 2011. Thüsing war Vorsitzender der Kommission, die den 8. Familienbericht erarbeitete. 39 In ihrer Stellungnahme zum 7. Familienbericht erklärte die Bundesregierung (BT-Drs. 16 / 1360, S. XXIV), sie habe einen Paradigmenwechsel

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trotz geht er auf Distanz zum Gender-Mainstreaming des 7. Familienberichts und plädiert vorsichtig für ein „Family-Mainstreaming“.40 Versteht man unter „Family-Mainstreaming“ eine nachhaltige Orientierung aller politischen und gesetzgeberischen Maßnahmen am Schutz und an der Förderung der Familie als einer Beziehungseinheit verschiedener Geschlechter und Generationen, dann ist ein solches „Family-Mainstreaming“ nicht in Sicht. Das größte Hindernis ist die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe. Dieser Gleichstellung hat der rot-grüne Gesetzgeber mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 den Weg geebnet. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 17. Juli 200241 diesen Weg als verfassungskonform bezeichnet und mit weiteren Entscheidungen 2009, 2012 und 2013 diese Gleichstellung gefördert. In seinem Urteil vom 7. Juli 2009 hielt der erste Senat eine Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Hinblick auf die Hinterbliebenenversorgung für unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 GG.42 In seinem Urteil vom 19. Februar 2013 bezeichnete er, wiederum unter Berufung auf Art. 3 GG, die Nichtzulassung der Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner als verfassungswidrig. Die Sondervoten der Richter Haas und Papier im Urteil von 2002, die das Lebenspartnerschaftsgesetz für unvereinbar mit Art. 6 GG hielten, weil eine eingetragene Lebenspartnerschaft, so Haas, nicht auf ein eigenes Kind hin angelegt ist, nicht zu Elternverantwortlichkeit führt und keinen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft erbringt,43 sind heute ebenso vergessen wie in ihrer Familienpolitik hin zur „Erwerbsintegration von Frauen“ eingeleitet. 40 BMFSFJ, 8. Familienbericht. Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik, 2012, in: BT-Drs. 17 / 9000, S. 2. Ein Nachklang des Gender-Mainstreaming findet sich allerdings noch in der Definition der Familie als „Herstellungsleistung“, die im Zusammenwirken mit den öffentlichen Institutionen entstehe und sich nicht mehr nur über Heirat konstituiere, „sondern über Solidarität, Wahlverwandtschaft und Elternschaft“ (S. 4 f.). 41 BVerfGE 105, 313; vgl. auch Manfred Spieker, Generationenblind und lebensfeindlich. Zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe, Die Neue Ordnung 64 (2010), S. 203 ff. 42 BVerfGE 124, 199.

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ein Kammerbeschluss des Gerichts vom 6. Mai 2008, mit dem die Möglichkeit einer Gleichstellung eingetragener Lebenspartner mit verheirateten Beamten bei der Regelung des Familienzuschlags im Besoldungsrecht abgelehnt wurde.44 Josef Isensee nannte die Entscheidung von 2009 „ein grobes Fehlurteil“, mit dem die Richter nicht der Verfassung, sondern dem Zeitgeist folgten45, Christian Hillgruber warf dem Gericht vor, mit dieser Entscheidung Art. 6 GG ad absurdum zu führen46 und Arnd Uhle sieht in der Judikatur des Gerichts einen „evidenten Widerspruch zu Art. 6 Abs. 1 GG“ sowie eine „unstatthafte, verfassungskorrigierende Norminterpretation“.47 Bernd Rüthers schloss sich dem an und wirft dem Bundesverfassungsgericht vor, vom „Hüter der Verfassung“ zum Motor der Verfassungsänderung geworden zu sein.48

IV. Wege aus der Gender-Falle Eine Familienpolitik, die Ehe und Familie nur als Ansammlung von Individuen mit jeweils eigenen Rechten betrachtet, sieht die Familienmitglieder entweder staatsfixiert in Abhängigkeit von wohlfahrtsstaatlichen Betreuungsleistungen oder marktfixiert als souveräne Konsumenten. In der ersten, der etatistischen Perspektive ist der Staat verantwortlich nicht nur für ein menschenwürdiges Einkommen, sondern auch für die Betreuung und Erziehung der Kinder, möglichst ab der Geburt, ja für die Erfüllung von Kinderwünschen selbst, weshalb er dazu neigt, sich an den Kosten der assistierten Reproduktion zu beteiligen. In dieser Perspektive gilt BVerfGE 105, 313 (362). BVerfGK 13, 501. 45 Josef Isensee, Dem Zeitgeist folgen, Tagespost vom 27. Oktober 2009. 46 Christian Hillgruber, Anmerkung [zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 07. Juli 2009 (Az: 1 BvR 1164 / 07, JZ 2010, 37)], JZ 2010, S. 41. Zum Urteil des Gerichts im Hinblick auf die Gleichstellung im Einkommenssteuerrecht vom 19. Februar 2013 vgl. seine kritische Anmerkung in JZ 2013, S. 843 ff. 47 Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 36.3, 37. 48 Bernd Rüthers, Wer herrscht über das Grundgesetz?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. November 2013, S. 7. 43 44

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der „Familialismus“ als ein überwundenes Übel und der sozialinvestive Wohlfahrtsstaat als Heilsbringer. Der Leviathan nähert sich im Gewand des barmherzigen Samariters. Diese Position führt nicht nur zu einer permanenten Überforderung des Wohlfahrtsstaates und seines Leistungssystems, sondern auch zu einer wachsenden gesellschaftlichen Fragmentierung. Sie missachtet darüber hinaus das Subsidiaritätsprinzip, das die Freiheit und die Eigenverantwortung der Bürger und ihrer freien Zusammenschlüsse schützt. Sie geht von einer anthropologischen Voraussetzung aus, die der conditio humana nicht gerecht wird, weil sie den Menschen auf seine Bedürfnisse reduziert. Sie sieht im Menschen nur noch einen Bettler. Die andere, die marktfixierte Position, reduziert den Menschen auf den souveränen Konsumenten, dessen Bedürfnisse und dessen Kaufkraft das Angebot induzieren – bis hin zur assistierten Reproduktion. Diese Position kultiviert die Selbstbestimmung. Sie sieht in jedem Menschen einen Prometheus. Die Familie, in der das Gesetz des Schenkens gilt und in der jedes Mitglied ebenso Mäzen wie Bettler ist, kann sich gegen diese Zange von Staat und Markt nur wehren, wenn ihr ein Bürgerrecht jenseits von Staat und Markt zuerkannt wird. Was ist zu tun, um der Familie dieses Bürgerrecht jenseits von Staat und Markt zu verschaffen? Wer dieser Frage aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive nachgeht, wird den Fokus nicht in erster Linie auf die Renaissance der Tugenden richten, so notwendig diese auch ist. Er wird vielmehr fragen, welche strukturellen Reformen und welche institutionellen Arrangements Anreize schaffen können, dieser Renaissance der Tugenden den Weg zu bahnen und die Leistungen der Familie als Ressource für das Gemeinwohl zu würdigen. Ich sehe vier Wege aus der Gender-Falle: die Verteidigung, ja Verbesserung monetärer Transfers im Rahmen des Familienleistungsausgleichs, die Förderung einer sequentiellen statt einer simultanen Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie zwei institutionelle Arrangements, die solche Anreize enthalten, der Familie als einer Beziehungseinheit verschiedener Geschlechter und Generationen ein Bürgerrecht zu verschaffen: die Einführung eines Familienwahlrechts und eine Kinder berücksichtigende Reform der Alterssicherung.

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1. Transferzahlungen Transferzahlungen für Familien sind unersetzbar. Sie sind Investitionen in die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft und in das Humanvermögen der nächsten Generation, nicht soziale Stütze oder gar „Fallen“ für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie sind Hilfen, die der Familie die Wahrnehmung der ihr eigenen Aufgaben erleichtern. Kindergeld, Erziehungs- bzw. Elterngeld, Betreuungsgeld, Erziehungs- bzw. Elternzeit, Berücksichtigung von Ehe und Familie im Steuerrecht und Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht sind deshalb notwendig. Sie werden erst dann der Erziehungsleistung gerecht, wenn sie nicht nur symbolisch sind wie das Betreuungsgeld, sondern in Richtung eines Erziehungsgehaltes weiterentwickelt werden und Erziehung als Beruf anerkennen.49 Erst dann lassen sie der Familie die Freiheit, zwischen einem Familienmanagement – in der Regel durch die Mutter in den ersten drei Lebensjahren des Kindes – und einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit zu wählen. Eine solche Weiterentwicklung der Transferzahlungen lässt sich auch nicht als Monetarisierung der Familienbeziehung oder als Marktunterwerfung der Familie denunzieren. Die Familienpolitik in Deutschland darf sich hier ruhig an den skandinavischen und österreichischen Reformen der letzten Jahre orientieren, die die häusliche Erziehung der Kinder und die Nichtinanspruchnahme staatlicher Betreuungsplätze mit besonderen Transferleistungen honorierten. Das Familienministerium in Berlin lässt seit mehr als fünf Jahren „nachrechnen“, was den Familien an staatlichen Leistungen zukommt. Die Zeit, die das Ministerium bzw. die von ihm eingesetzte Expertengruppe aus Wirtschaftswissenschaftlern (!) für dieses „Nachrechnen“ braucht, ist so erstaunlich wie verdächtig. Sie lässt darauf schließen, dass hier politisch „gerechnet“ wird. Das Ergebnis scheint vorab festzustehen: Nirgends erhalten die Familien so viel an monetärer Förderung wie in Deutschland und nirgends ist der Effekt so gering.50 Also muss umgesteuert werden 49 Päpstlicher Rat Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006, Ziffer 251; Janne Haaland Matlary, Frauen zwischen Familie und außerhäuslicher Erwerbsarbeit, in: Leipert (Hrsg.), Familie als Beruf. Arbeitsfeld der Zukunft, 2001, S. 53 ff.

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von den Transferleistungen hin zur Strukturförderung: Kitaausbau statt Betreuungsgeld lautet eine der Schlussfolgerungen. Im Familienreport 2011 wurden für das Jahr 2009 195 Mrd. Euro als eheund familienbezogene Leistungen präsentiert. Als „Familienförderung im engeren Sinne“ werden freilich nur 53,7 Mrd. Euro genannt.51 Rund 46 Mrd. Euro wiederum seien steuerliche Maßnahmen. Dass die Kinderfreibeträge im Steuerrecht als Leistungen des Staates für die Familien gewertet werden, ist fragwürdig, weil der Steuerpflichtige nur im Maße seiner Belastungsfähigkeit zu besteuern ist. Dies ist ein Grundsatz des Steuerrechts, auf den u. a. Paul Kirchhof als Verfassungsrichter in seinen Urteilen wie als Autor immer wieder hingewiesen hat.52 Familien mit Kindern sind bei der Steuer weniger belastungsfähig als Kinderlose. Kinderfreibeträge sind deshalb ein Gebot der Steuergerechtigkeit, aber keine Leistung für die Familie – so wenig wie die Berücksichtigung des häuslichen Arbeitszimmers eines Professors in der Einkommenssteuererklärung als Forschungsförderung gelten kann.

2. Vereinbarkeit von Familie und Beruf Eine Familienpolitik, die die Familie als „citizenship of its own“ betrachtet, hat sich gewiss auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu kümmern. Sie hat sich aber von jeder Fixierung auf die simultane Vereinbarkeit zu lösen. Ihr Engagement hat ebenso, 50 Die „Experten“ verschiedener Wirtschaftsforschungsinstitute (ZEW, DIW und Ifo) prüften die Familienleistungen ausschließlich unter dem Aspekt der Anreize für die Eltern, „einen Job anzunehmen“. Das Ergebnis war vorhersehbar: „Mäßiges Zeugnis für die Familienpolitik“, Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2013, S. 1. 51 BMFSFJ, Familienreport 2011. Leistungen, Wirkungen, Trends, 2012, S. 39 f. 52 Vgl. die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung von Familien vom 10. November 1998: BVerfGE 99, 216 (216 ff., 246 ff.).Vgl. auch Heinz Lampert, Priorität für die Familie. Plädoyer für eine rationale Familienpolitik, 1996, S. 234 f. Vgl. auch Hermann von Laer, Ausgebeutet und ins Abseits gedrängt. Zur ökonomischen Lage der Familie in Deutschland, in: Laer / Kürschner (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Familie, Probleme der Reorganisation der Gesellschaft, 2004, S. 128; Jörg Althammer, Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, 2012.

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ja noch mehr der sequentiellen oder konsekutiven Vereinbarkeit zu gelten. Hinter der Formel „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ darf nicht länger die Drohung stehen „Wehe denen, die sich noch selbst ihren Kindern widmen“.53 Wer den Bedingungen für die optimale Entwicklung des Kindes Rechnung trägt, kann nur zu dem Schluss kommen, dass die sequentielle Vereinbarkeit von Familie und Beruf kindgerechter ist. Die simultane kann aus vielfältigen Gründen für junge Eltern notwendig sein. Für Eltern, die aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse zu doppelter Erwerbstätigkeit gezwungen sind, die ihre Ausbildung oder ihr Studium noch nicht abgeschlossen haben oder die – in gewiss seltenen Fällen – mit der Erziehung ihres Kindes dauerhaft überfordert sind, ist eine Kindertagesstätte eine große Hilfe. Wer aber Krippen funktionalisiert für die Bevölkerungspolitik, die Arbeitsmarktpolitik, die Bildungspolitik oder die Genderpolitik, schadet der Familie. Wer mit Milliardeninvestitionen Anreizsysteme schafft, die die Krippenbetreuung so favorisieren, dass sie eo ipso die familiäre Betreuung von Kleinkindern pönalisieren, schadet der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Eine Familienpolitik, die die sequentielle Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördert, hat Müttern nach einer kinderbedingten Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit zu helfen, wieder in ihren früheren oder einen anderen Beruf einzusteigen. Dies entspräche auch den Wünschen der betroffenen Frauen, die nach einer Untersuchung des IPSOS-Instituts vom März 2007 nur zu 17% der Meinung sind, dass Kinder in einer Krippe am besten aufgehoben sind, zu 81% aber die Erziehung zuhause durch die Eltern für das Beste halten. Bei einer Garantie für einen Wiedereinstieg in den alten oder einen anderen Beruf und einem Betreuungsgeld, das in seiner Höhe der staatlichen Investition in einen Krippenplatz entspricht, würden sich 22% bis zu drei Jahren, 70% aber bis zu sieben Jahren der Betreuung ihrer Kinder widmen.54

53 Dieter Schwab, Familie und Staat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2006, S. 30, gekürzt auch in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. November 2006, S. 8. 54 IPSOS-Institut, Untersuchung im Auftrag des Familiennetzwerkes Deutschland, März 2007.

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3. Familienwahlrecht Das Recht, in regelmäßigen Abständen die Regierenden zu bestimmen und dafür unter mehreren Kandidaten auswählen zu können, ist in der Demokratie das Privileg des Bürgers. Dieses Recht muss auch der Familie zuteilwerden.55 Welchem der verschiedenen Modelle eines Familienwahlrechts – Herabsetzung des Wahlalters, Mehrstimmenmodell oder Stellvertretermodell – der Vorzug gegeben wird, ist eine öffentliche Debatte wert. Nicht alle Modelle sind mit den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates vereinbar. Aber es gibt ein Modell, das mit diesen Grundsätzen kompatibel ist. Auch Kinder sind Bürger, Angehörige der Civitas mit eigener Würde und eigenen Rechten. Bisher ist dieser Teil der Civitas vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Wahlrechtsmodell, mit dem sich diese Exklusion vermeiden und auch eine Kollision mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz „one man – one vote“ ausschließen lässt, ist ein Kinderwahlrecht, das die Eltern treuhänderisch bis zum Erreichen des gesetzlichen Wahlalters wahrnehmen, wie sie ja auch andere Rechte des Kindes z. B. auf Ausbildung treuhänderisch für das Kind regeln. Ein solches Familienwahlrecht würde der Verantwortung der Eltern für die Kinder entsprechen und, selbst wenn es ein individuelles Recht der einzelnen Familienmitglieder bliebe, den Bürgerstatus der Familie in den vergreisenden westlichen Gesellschaften stärken.

4. Kinderrente Das System der Alterssicherung beruht bisher nicht nur in Deutschland auf einem Generationenvertrag. Er verpflichtet die jeweils erwerbstätige Generation, mit ihren Beiträgen zur Rentenversicherung unmittelbar die Generation der Rentner zu finanzieren. Angesichts der demographischen Entwicklung steht dieses 55 Vgl. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Das Wahlrecht von Geburt an. Ein Plädoyer für den Erhalt unserer Demokratie, ZParl 30 (1999), S. 556 ff.; Winfried Steffani, Wahlrecht von Geburt an als Demokratiegebot?, ZParl 30 (1999), S. 563 ff.; Ursula Nothelle-Wildfeuer, Das Kind als Staatsbürger. Wahlrecht gegen die strukturelle Benachteiligung von Familien?, HerderKorrespondenz 58 (2004), S. 198 ff.

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System auf tönernen Füßen, da die Zahl der Erwerbstätigen langfristig schrumpft und die Zahl der Rentner stark anwächst. Darüber hinaus ist dieses Rentensystem zu einem Gerechtigkeitsproblem geworden, da die Familien, die Kinder erziehen und in deren Ausbildung investieren, in besonderem Maße für die Aufrechterhaltung des Generationenvertrages sorgen, selbst aber bei den zu erwartenden Rentenleistungen gegenüber den kinderlosen Erwerbstätigen benachteiligt werden. Dieses System lädt zum Trittbrettfahrerverhalten ein. Wer keine Kinder hat, kann durch umfangreichere Erwerbsbeteiligung noch höhere Rentenansprüche erwerben als diejenigen, die Kinder erziehen. Im Auftrag der ansonsten nicht gerade familienfreundlichen Bertelsmann-Stiftung hat Martin Werding den Reformvorschlag gemacht, das umlagefinanzierte System der Alterssicherung durch ein neues System einer kinderbezogenen Rente zu ergänzen, das ebenfalls von allen Erwerbstätigen finanziert wird und allen Eltern im Rentenalter Leistungen gewährt, die von der Zahl ihrer Kinder abhängen. Der Beitrag zur umlagefinanzierten staatlichen Alterssicherung soll auf dem gegenwärtigen Niveau eingefroren werden. Dies würde auf Grund der demographischen Entwicklung zu einer beträchtlichen Senkung des Rentenniveaus führen. Diese Rente würde dann ergänzt durch eine „Kinderrente“, die Eltern mit drei und mehr Kindern ein Rentenniveau gewährleistet, das dem gegenwärtigen Niveau entspräche. Wer kinderlos ist oder weniger als drei Kinder hat, ist gezwungen, die Basisrente durch private Vorsorge zu ergänzen. Eine solche Rentenreform könnte sich längerfristig auch positiv auf die Fertilität auswirken.56 Ungeklärt ist in Werdings Modell der Kinderrente noch, inwieweit die Erziehungsleistung bei drei und mehr Kindern unabhängig von jeder Erwerbstätigkeit rentenbegründende Wirkungen hat. Beide Arrangements zusammen, das Familienwahlrecht und eine kinderbezogene Renten56 Martin Werding, Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen. Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann, Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, 2013, S. 54 f. Die Forderung nach einer solchen Rentenreform mit „Kinderkomponente“ stellte auch Hans-Werner Sinn, Das demographische Defizit. Die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen, in: Birg (Hrsg.), Auswirkungen der demographischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, 2005, S. 53 ff.

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versicherung, könnten die Überzeugung, dass die Familie eine Ressource für das Gemeinwohl ist, stärken und die Familienpolitik aus der Fessel der Arbeitsmarkt- und Genderpolitik befreien.

Ehe und Familie – noch besonders geschützt? Der Auftrag des Art. 6 GG und das einfache Recht Von Christian Seiler

Das Grundgesetz verspricht den beiden Gemeinschaftsformen „Ehe“ und „Familie“ eine einzigartige normative Sonderstellung. Denn anders als alle übrigen Formen menschlichen Zusammenlebens stehen diese beiden Gemeinschaften, so jedenfalls der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG, „unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“. Blickt man indes auf die gelebte Verfassungspraxis, mag man die Frage aufwerfen, ob dieser „besondere Schutz“ nicht womöglich im Laufe der Jahre durch eine als zeitgemäßer und wirklichkeitsgerechter empfundene Gesellschaftspolitik abgeschliffen oder zumindest relativiert worden ist. Die Fragestellung legt nahe, zunächst (I.) das Besondere des Ehe- und Familienschutzes in Erinnerung zu rufen, um sodann (II.) einige aktuelle Entwicklungstendenzen seiner praktischen Handhabung aufzuzeigen, die (III.) die These eines äußerlich unveränderten, aber innerlich entkräfteten grundgesetzlichen Schutzes von Ehe und Familie belegen sollen.

I. Der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie 1. Kerngehalt: Individualrecht auf Gemeinschaftsschutz Art. 6 Abs. 1 GG schützt zwei wesensverwandte Erscheinungsformen der Persönlichkeitsbildung und -entfaltung in gemeinschaftlicher Einbindung, die Ehe als auf Dauer angelegte Lebens-

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gemeinschaft von Mann und Frau1 sowie die Familie als – in ihren Erscheinungsformen vielfältigere – Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern.2 Beide eigenständigen Verbürgungen sind einander gleichrangig nebengeordnet und stehen zueinander in einem Verhältnis sinnvoller, wenn auch nicht zwingender Ergänzung. Kinderlose Ehen und nichteheliche Familien werden somit ebenso einbezogen wie die zahlenmäßig noch immer vorherrschende eheliche Familie, in der sich die spezifischen Eigenschaften beider Verbandstypen nicht nur verbinden, sondern auch wechselseitig verstärken. Kerngehalt des grundgesetzlichen Ehe- und Familienschutzes und Leitlinie seiner einfachrechtlichen Ausformung ist ein in mehreren ineinander verwobenen Ausprägungen zu entfaltender Gemeinschaftsgedanke.3 Ehe und Familie bilden kraft ihrer nach Grund, Reichweite und Dauer einzigartigen inneren Verbundenheit besondere Verantwortungsgemeinschaften und als solche eigenständige Sozialeinheiten innerhalb der ansonsten überwiegend partikularistischen Gesellschaft.4 Gleichwertig mitgedacht ist jeweils auch eine gesteigerte Bedeutung beider Sozialeinheiten für das Gemeinwesen, das Angewiesensein von Staat und Gesellschaft auf die in ihnen erbrachten Gemeinwohlbeiträge in Gestalt sowohl wechselseitig übernommener sozialer Verantwortung füreinander Ständige Rspr.; z. B. BVerfGE 105, 313 (345). Zur Familie als (von der Ehe unabhängige) Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern; BVerfGE 10, 59 (66); 18, 97 (105 f.); 24, 119 (135); 48, 327 (339); 59, 52 (63); 80, 81 (90). – Speziell zur familiären Gemeinschaft Alleinerziehender und ihrer Kinder BVerfGE 8, 210 (215); 18, 97 (105 f.); 25, 167 (196). 3 BVerfGE 24, 119 (135): „In all diesen Beziehungen ist die Familie als ein geschlossener, eigenständiger Lebensbereich zu verstehen; die Verfassung verpflichtet den Staat, diese Einheit und Selbstverantwortlichkeit der Familie zu respektieren und zu fördern.“ – BVerfGE 78, 38 (49): Der Gesetzgeber könne bei der Ausgestaltung des ehelichen Namenrechts „an die Wertung des Art. 6 Abs. 1 GG anknüpfen, der das Prinzip der Einheit der Familie gewährleistet […] und dabei die Familiengemeinschaft, nicht die einzelnen Familienangehörigen in ihrer Individualität schützt“. 4 Zur Familie als Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft Udo Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, S. 993 (994 ff.) (in Anlehnung an Ferdinand Tönnies). 1 2

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als auch des Hervorbringens und gedeihlichen Heranwachsens der nächsten Generation. Beides gemeinsam, Individual- und Sozialnützigkeit, gibt Anlass zum „besonderen“, das heißt richtigerweise heraushebenden, Schutz von Ehe und Familie. Vor diesem Hintergrund spricht das Grundgesetz beiden Gemeinschaften einen über die Summe des Individuellen hinausreichenden normativen Eigenwert zu und achtet sie sowohl im immateriell-persönlichen als auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich in ihrer jeweiligen eigenständigen und selbstverantwortlichen Ausgestaltung.5 Dabei integriert der Gemeinschaftscharakter des Art. 6 Abs. 1 GG das Individuelle, ohne es zu entkräften. Im Gegenteil, der einzelne Freiheitsberechtigte kann seine positive Ehe- und Familienfreiheit nicht anders als in selbst gewählter sozialer Verbundenheit leben. Subjekt- und Verbandsbezug des Art. 6 Abs. 1 GG ergänzen und verstärken sich daher als zwei nicht vollständig deckungsgleiche Ausprägungen desselben Kerngedankens.6 Demgemäß wurzelt der normative Gemeinschaftscharakter sowohl der Ehe als auch der Familie im Individualstatus des Freiheitsrechts, der nicht durch eine eigene Rechtssubjektivität des Verbandes aufgehoben, sondern lediglich inhaltlich angereichert wird. In diesem Sinne lässt sich als Kernaussage beider Teilverbürgungen des Art. 6 Abs. 1 GG ein prinzipiell allen Verbandsangehörigen zustehendes Individualrecht auf Gemeinschaftsschutz herausstellen.7

BVerfGE 28, 104 (112); 33, 236 (238); 61, 319 (347); 99, 216 (231). BVerfGE 76, 1 (45): „Art. 6 Abs. 1 GG schützt Ehe und Familie nicht nur im Interesse der individuellen Freiheit der Ehepartner und Familienangehörigen, sondern ebenso um der Freiheit des Einzelnen in der gelebten Gemeinschaft und um des Erhalts dieser Gemeinschaft willen“ (Hervorhebungen im Original). – Zur Verbindung von Freiheits und Gemeinschaftsprinzip Udo Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, S. 993 ff. 7 Siehe hierzu bereits Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 51 ff. 5 6

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2. Mehrdimensionale Entfaltung des Gemeinschaftsschutzes Der somit die Auslegung und Ausgestaltung des Ehe- und Familienschutzes anleitende Gedanke des Gemeinschaftsschutzes ist im Einzelnen in einem komplexen Zusammenspiel verschiedener subjektiv- wie objektivrechtlicher Grundrechtsdimensionen zu entfalten. So enthält Art. 6 Abs. 1 GG ein Abwehrrecht, eine Institutsgarantie, eine wertentscheidende Grundsatznorm, einen Schutzund Förderauftrag und einen besonderen Gleichheitssatz. Zunächst und zuvörderst normiert Art. 6 Abs. 1 GG als klassisches Grundrecht ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Übergriffe in das Gemeinschaftsinternum.8 Bereits die Entscheidung, ob sie eine Ehe schließen und eine Familie gründen wollen, vor allem aber die Folgedispositionen gleichberechtigter Ausgestaltung des ehelichen und familiären Miteinanders bleiben den Freiheitsberechtigten vorbehalten. Den Staat trifft dagegen ein generelles Neutralitätsgebot, das ihm namentlich jedes Leitbild eines vermeintlich „richtigen“ Ehe- oder Familienlebens untersagt. Diese Abwehrdimension verpflichtet den Staat und seine Rechtsordnung aber nicht zur Untätigkeit. Beide Schutzgüter weisen vielmehr einen sehr weitgehend rechtlich geprägten Charakter auf, weshalb der Gemeinschaftsschutz notwendig auch der einfachgesetzlichen Ausformung bedarf. Art. 6 Abs. 1 GG betraut die Gesetzgebung daher in Gestalt einer objektiven Institutsgarantie9 mit der primär freiheitsentfaltenden, daneben auch konfliktbewältigenden Funktion einer äußeren Rahmensetzung, deren Ort insbesondere das bürgerliche Familienrecht ist. Ergänzt und vervollständigt wird dieser Rechtsetzungsauftrag durch die in Art. 6 Abs. 1 GG mit enthaltene objektive Wertentscheidung,10 die – bei weiten legislativen Gestaltungsspielräumen – eine drittgerichtete 8 Grundlegend BVerfGE 6, 55 (71). Zur Abwehrfunktion auch BVerfGE 21, 329 (353); 51, 386 (396 f.); 80, 81 (92). 9 BVerfGE 6, 55 (72). 10 Grundlegend BVerfGE 6, 55 (71 f.). Siehe auch BVerfGE 55, 114 (126); 105, 313 (346); zuletzt ebenso BVerfGE 131, 239 (258 f.); BVerfG, NJW 2013, 2257 (2258).

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Schutzpflicht11 sowie ein allgemeines Fördergebot12 zugunsten von Ehe und Familie begründet und als objektivrechtliche Leitlinie sowohl der Gesetzgebung als auch der Rechtsanwendung dienen kann. Innerhalb des hierdurch geschaffenen normativen Rahmens obliegt es jedoch grundsätzlich allein den Freiheitsberechtigten, ihre Form des ehelichen und familiären Zusammenlebens zu definieren. Darüber hinaus können Art. 6 Abs. 1 GG, je nach dogmatischem Standpunkt auch in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG, zwei spezielle gleichheitsrechtliche Aussagen entnommen werden. Zum einen formuliert die Vorschrift als Benachteiligungsverbot13 einen besonderen, wenn auch eindimensionalen Gleichheitssatz. Eheleute dürfen hiernach nicht schlechter gestellt werden als Unverheiratete (was nicht ausschließt, diese umgekehrt zu ihrem Nachteil wie Ehepaare zu behandeln), Familien nicht schlechter als Kinderlose. Zum anderen verpflichtet die objektive Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG mit ihren beiden Ausprägungen als Schutzpflicht und als Fördergebot den Staat zum aktiven Eintreten für Ehe und Familie und liefert auf diese Weise den gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrund für hierdurch bedingte eheund familiengünstige Differenzierungen. 3. Das „Besondere“ des Ehe- und Familienschutzes Der dem Staat und seiner Rechtsordnung aufgegebene Schutz von Ehe und Familie muss ausweislich des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 GG ein „besonderer“ sein.14 Kein anderes Grundrecht des BVerfGE 6, 55 (76). BVerfGE 6, 55 (76). 13 Zum Benachteiligungsverbot BVerfGE 12, 151 (163); 13, 290 (299); 28, 324 (346 f.); 43, 108 (118 ff.); 76, 1 (72 f.); 82, 60 (80 f., 86 ff.); 87, 1 (36 f.); 99, 216 (232 f.); 103, 242 (263 ff.). 14 Zur heraushebenden Funktion des Begriffs „besonders“ in Art. 6 Abs. 1 GG Gregor Kirchhof, Der besondere Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes. Abwehrrecht, Einrichtungsgarantie, Benachteiligungsverbot, staatliche Schutz- und Förderpflicht, AöR 129 (2004), S. 542 (554 ff.); Peter J. Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete besondere Schutz von Ehe und Familie, in: Essener Gespräche zum Thema 11 12

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Grundgesetzes kennt eine vergleichbare Formulierung. Auch wenn sich nicht erkennen lässt, dass sie entstehungsgeschichtlich15 vertieft erörtert und mit konkreten Bedeutungsgehalten verbunden wurde, deutet ihr objektiver Sprachsinn doch unmissverständlich auf eine herausgehobene Stellung beider Gemeinschaftsformen. Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG kann, will man ihn nicht für gänzlich unbeachtlich erklären, nur im Sinne eines gegenüber dem „allgemeinen“ Grundrechtsniveau verstärkten Schutzes verstanden werden. Er spricht daher für ein noch konkretisierungsbedürftiges Gebot zur ehe- und familiengünstigen Unterscheidung. Der Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigt diese Sichtweise. Den Ehe- und Familienschutz zur eigenständigen Grundrechtsbestimmung aufzuwerten erhält nur dann eine freiheitsrechtliche Bedeutung, wenn sein Aussagegehalt über einen kumulierten Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) der einzelnen Ehepartner und Familienangehörigen hinausreicht, wenn er also mehr als ein bloßes Unterlassen ungerechtfertigter Eingriffe in die Privatsphäre verlangt. Und er gewinnt nur dann eine gleichheitsrechtliche Relevanz, wenn er sich nicht mit der Abwehr rechtfertigungsloser Benachteiligungen der Gemeinschaftsangehörigen (Art. 3 Abs. 1 GG) begnügt. Die bloße Existenz des Art. 6 Abs. 1 GG fordert ein Mehr an Grundrechtsschutz. Der Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG nimmt daher richtigerweise eine heraushebende und differenzierende, gelegentlich auch sachgerecht bevorzugende Gestalt an, die insgesamt einen gewissen Unterschied zu anderen Formen des Zusammenlebens wahrt. Die Norm sollte deshalb – gegen die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts16 und manche Literaturstimmen17 – als Staat und Kirche 35 (2001), S. 117 (143 ff.); vgl. auch Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, S. 160 ff., 185 ff.; Margit Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, S. 121 ff. 15 Ausführlich zur insoweit nicht ganz eindeutigen Entstehungsgeschichte Peter J. Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete besondere Schutz von Ehe und Familie, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 35 (2001), S. 117 (127 ff.).

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offenes Differenzierungs- und Abstandsgebot18 zugunsten von Ehe und Familie verstanden werden, das indes nicht auf die konkreten Inhalte einzelner Bestimmungen durchschlägt, sondern von der Gesamtheit der Ehe und Familie betreffenden Vorschriften eingelöst werden muss. Ort und Art seiner Umsetzung bleiben damit dem über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügenden Gesetzgeber aufgegeben. II. Aktuelle Relativierungen des Ehe- und Familienschutzes Art. 6 Abs. 1 GG ist seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht geändert worden. Auch seine Deutung durch das Bundesverfassungsgericht ist auf der Ebene abstrakter Verfassungsauslegung bemerkenswert stetig geblieben.19 Allenfalls lässt sich eine zurückhal16 Besonders deutlich BVerfGE 105, 313 (346 ff., insbes. 348): kein Abstandsgebot (zur Ehe); siehe aber auch die mit Recht kritischen Sondervoten der Richter Hans-Jürgen Papier (S. 357 ff.) und Evelyn Haas (S. 359 ff.). Gegen ein Abstandsgebot auch BVerfGE 124, 199 (226). 17 Stellvertretend Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 57, 85; Dagmar Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 16. 18 Ebenso Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 36; vgl. auch Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 19, 50. Siehe ferner die Nachweise in Fn. 14. 19 Siehe dazu exemplarisch die nahezu wortlautgleichen Formulierungen verschiedener Entscheidungen von 1957 bis 2013: BVerfG vom 17. Januar 1957, BVerfGE 6, 55 (72): „Eine Interpretation von Art. 6 Abs. 1 GG […] zeigt, daß er nicht nur ein Bekenntnis enthält und als Institutsgarantie wirkt, sondern darüber hinaus zugleich eine Grundsatznorm darstellt, das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.“ Hieraus leitete das Gericht sodann eine Schutzpflicht und ein Fördergebot ab (S. 76 f.). BVerfG vom 21. Oktober 1980, BVerfGE 55, 114 (126): „Art. 6 Abs. 1 GG enthält eine Grundsatznorm für den gesamten Bereich des die Ehe betreffenden privaten und öffentlichen Rechts […]. Der aus dieser Norm folgende Schutz der staatlichen Ordnung für Ehe und Familie umschließt zum einen die Aufgabe des Staates, Ehe und Familie nicht nur vor Beein-

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tendere Rhetorik der jüngeren Judikatur beobachten.20 Womöglich könnten auch der – vom Gericht nach wie vor betonte – wertsetzende Charakter von Art. 6 Abs. 1 GG und seine den Staat zu positivem Handeln verpflichtenden Folgerungen einer Schutzpflicht und eines Fördergebotes an praktischer Bedeutung verloren haben, wofür sprechen könnte, dass die meisten der jüngeren Bekenntnisse des Bundesverfassungsgerichts zur grundgesetzlichen Wertentscheidung Sachverhalte betrafen, in denen es gerade nicht um Ehe und Familie ging.21 Jedenfalls dürfte die quantitative Bedeutung des Grundrechts verblasst sein, gab es doch zuletzt nur noch selten Anlass zu ehe- oder familiengünstigen Entscheidungen. Indessen zieht all dies die Kontinuität der abstrakten Verfassungslage nicht in Zweifel. Eine prinzipielle Neuausrichtung innerhalb der Maßstabswelt des Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich keinesfalls erkennen. trächtigungen durch andere Kräfte zu bewahren, sondern auch, sie durch geeignete Maßnahmen zu fördern, zum anderen das Verbot für den Staat selbst, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen […].“ BVerfG vom 17. September 2002, BVerfGE 105, 313 (346): „Art. 6 Abs. 1 GG erschöpft sich jedoch nicht darin, die Ehe in ihrer wesentlichen Struktur zu gewährleisten, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung […]. Um dem Schutzauftrag Genüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates, einerseits alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sonst beeinträchtigt, und sie andererseits durch geeignete Maßnahmen zu fördern.“ BVerfG vom 7. Mai 2013, NJW 2013, 2257 (2258): „Das Grundgesetz stellt Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Damit garantiert die Verfassung nicht nur das Institut der Ehe, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung.“ 20 Vgl. noch BVerfGE 6, 55 (71): Ehe und Familie als „Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft, deren Bedeutung mit keiner anderen menschlichen Bindung verglichen werden kann“. Eine solche Aussage würde das Gericht, obwohl es sie nie zurückgenommen hat, heute wohl nicht mehr treffen – zumal es die Ehe inzwischen mit anderen Formen des Zusammenlebens vergleicht (siehe sogleich II.2.). 21 Die in Fn. 19 zitierten Entscheidungen BVerfGE 105, 313 und BVerfG, NJW 2013, 2257 widmeten sich der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft, die nach Ansicht des Gerichts keine „Ehe“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 GG ist.

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Der somit rechtlich beständige Ehe- und Familienschutz des Grundgesetzes ist gleichwohl erheblich entwertet worden. Schleichende Veränderungen des normativen Umfeldes und der einfachrechtlichen Umsetzung von Art. 6 Abs. 1 GG in Gestalt einer Vielzahl kleinerer, je für sich auch nicht unberechtigter Einzelentwicklungen haben in ihrem Zusammenwirken eine deutliche Relativierung des Ehe- und Familienschutzes zur Folge. Sie bringen letztlich gewandelte gesellschaftliche Anschauungen zum Ausdruck, die beiden Lebensbereichen zwar keineswegs ablehnend, aber doch zunehmend gleichgültig begegnen. Gesellschaft und Rechtspraxis sind, zugespitzt formuliert, weniger ehe- und familienfeindlich als ehe- und familienblind.22 Mitursächlich für diesen praktischen Bedeutungsverlust sind nicht zuletzt zwei Entwicklungstendenzen, die sich nicht an sich gegen die Institutionen Ehe und Familie richten, aber aus jeweils legitimen Gründen andere Anliegen stärker gewichten: Zum einen lässt sich eine allgemeine Neigung beobachten, den Gemeinschaftscharakter der beiden Sozialeinheiten Ehe und Familie zu übergehen und die Beziehungen zwischen ihren Angehörigen individualisierend zu verrechtlichen (1.). Zum anderen wird das Besondere des Ehe- und Familienschutzes durch eine aktive Gleichstellung ihrerseits achtenswerter, aber normativ wesensverschiedener Verbindungen relativiert (2.).

1. Verschiebung von der Gemeinschaftszur Individualperspektive Die Tendenz, den Gemeinschaftsgedanken zugunsten einer stärker individualisierenden Perspektive aufzubrechen,23 zeigt sich an vielen Stellen. Als besonders symbolträchtig darf insoweit das heute nur noch fakultative Erfordernis eines gemeinsamen Eheund Familiennamens angesehen werden (§§ 1355, 1616 ff. BGB).24 22 Zur gesellschaftlichen Indifferenz gegenüber Familien aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Franz-Xaver Kaufmann, Die Familie braucht Hilfe, aber es ist schwer, ihr zu helfen, FamRZ 1995, S. 129 (131). 23 Siehe auch Udo Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, S. 993 (994 ff.).

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Hinzu treten zahlreiche Detailverschiebungen, aus denen nachfolgend exemplarisch einige Entwicklungen zunächst des Ehe- (a), dann des Familienschutzes (b) herausgegriffen und jeweils mit Blick auf ihre teils unmittelbare, teils auch nur indirekte Rückwirkung auf den Verbundcharakter beider Gemeinschaften betrachtet werden sollen. a) Gestärkte Eigenverantwortung der Ehegatten Beispielsweise betont das seit 2008 geltende Unterhaltsrecht25 deutlicher als bisher die Eigenverantwortung der Partner einer Ehe als Gegengewicht zur inner- und nachehelichen Solidarität.26 Unmittelbar wirkt sich diese Neuausrichtung vor allem auf den Geschiedenenunterhalt aus. So hat der Gesetzgeber den hierbei geltenden, zuvor aber ungeschriebenen Grundsatz der Eigenverantwortung in § 1569 Satz 1 BGB n. F. ausdrücklich niedergelegt und klargestellt, dass es nach einer Scheidung grundsätzlich jedem Ehegatten obliegt, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen. Ein nachehelicher Unterhalt wird dagegen seit der Reform nur noch unter engeren Voraussetzungen27 und in nicht selten geringerer Höhe28 gewährt. 24 Hierzu BVerfGE 48, 327 (334 ff.); 78, 38 (49 ff.); 84, 9 (17 ff.); 104, 373 (387); 123, 90 (109 f.). 25 Siehe den Überblick bei Winfried Born, Das neue Unterhaltsrecht, NJW 2008, S. 1 ff. 26 Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3189); vgl. zum Folgenden auch BT-Drs. 16 / 1830, S. 14, 16 f. – Zur Klarstellung: Die nacheheliche Solidarität wurde mit der Neuregelung zwar geschwächt, aber nicht aufgegeben; siehe BGH, NJW 2009, 2450 (2453 f.). 27 Insbesondere wurde der Anspruch auf Unterhalt wegen der Betreuung eines Kindes gemäß § 1570 Abs. 1 Satz 1 BGB n. F. auf eine Mindestdauer von nur noch drei Jahren zurückgenommen. Abs. 1 Sätze 2 und 3 ermöglicht eine Verlängerung je nach den Belangen des Kindes. Abs. 2 normiert als „Annexanspruch“ eine Verlängerungsmöglichkeit aus „Gründen der nachehelichen Solidarität“ (vgl. BT-Drs. 16 / 6980, S. 9). § 1578b Abs. 2 BGB n. F. ermöglicht umgekehrt eine Befristung aus Billigkeitsgründen. 28 Gemäß § 1578b Abs. 1 BGB n. F. ist der Unterhalt vom – im Grundsatz beibehaltenen – Regelmaß der ehelichen Lebensverhältnisse (§ 1578

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Diese prägnantere Formulierung und vor allem strengere Handhabung des Grundsatzes der Eigenverantwortung zielt nicht allein, vermutlich auch nicht in erster Linie auf eine gerechtere Lastenteilung im Scheidungsfall ab. Ihr eigentliches, wenn auch unausgesprochenes Motiv dürfte vielmehr darin liegen, mittelbar auf die bestehende Ehe einzuwirken. Der Gesetzgeber setzt hier einen Anreiz für beide Partner, schon während der Ehe, aber mit Blick auf eine mögliche Scheidung auf ihre individuelle ökonomische Unabhängigkeit zu achten. Dieses an sich nachvollziehbare Anliegen hat jedoch seinen Preis. Es bringt die Gefahr mit sich, das wechselseitige Vertrauen der Partner zueinander zu schwächen, das Grundlage einer verbundenen, je nach den Verhältnissen und Präferenzen der Eheleute auch arbeitsteiligen Ausgestaltung ihrer gemeinsamen wirtschaftlichen Verhältnisse ist. Insgesamt gestattet die mit der Reform bewirkte Schwächung der nachehelichen Solidarität Rückschlüsse auf einen allgemeinen Wandel der Einstellung zur Ehe: Die Perspektive verschiebt sich von der ehelichen Gemeinschaft hin zum (temporären) Miteinander, womöglich auch Nebeneinander zweier Individuen.29 b) Das Kindeswohl als Eingriffstitel gegen das Elternrecht Auch die Familie wird zunehmend individualisierend betrachtet. Dies gilt vor allem für die Stellung des Kindes innerhalb der Familie. Zwar hat das Familienrecht aus guten Gründen schon bislang das Kindeswohl in den Vordergrund gerückt. In jüngerer Zeit wird es aber nicht mehr primär im Familienverband verortet, sondern in wachsendem Maße dem Staat als Sachwalter überantworAbs. 1 BGB) nach Kriterien der Billigkeit auf einen „angemessenen Lebensbedarf“ herabzusetzen. Ausschlaggebend sind hierbei insbesondere durch die Ehe eingetretene „Nachteile“ (d. h. Erwerbshindernisse) sowie die Dauer der Ehe. 29 Der Gesetzgeber war sich dieser Zusammenhänge bewusst, berief er sich doch zur Begründung der Reform ausdrücklich auf einen „Wertewandel“. Der Grundsatz nachehelicher Eigenverantwortung stoße gesellschaftlich auf eine „immer größere Akzeptanz“. Korrespondierend sei „ein Hauptmotiv für die Scheidung gerade bei Frauen der Wunsch nach größerer Unabhängigkeit“, siehe BT-Drs. 16 / 1830, S. 12.

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tet, der es notfalls auch gegen die Eltern in Stellung bringt. Der Familienschutz wird auf diese Weise zum Familienmitgliederschutz. Dieser Verlust an Gemeinschaftsorientierung ändert die Schutzrichtung ausschlaggebend. Die gegen den grundrechtsverpflichteten Staat gerichtete Eingriffsabwehr wandelt sich partiell in einen Auftrag zur hoheitlichen Definition und Umsetzung des Kindeswohls gegebenenfalls auch gegen die Familie. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Diskussion um die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung.30 Als Begründung hierfür wird ein Bedürfnis nach eigenen Rechten der Kinder gesehen, deren Rechtsstellung nicht mehr „einseitig vom Elternrecht her“31 oder sogar „als Gegengewicht zu den Elternrechten im Grundgesetz“32 definiert werden soll. Dem ist zunächst sprachlich zu entgegnen, dass es nicht um die Einführung, sondern nur um eine Inhaltsänderung bestehender Kinderrechte gehen kann. Denn die unantastbare Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), aber auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und die seiner Entfaltung dienenden Einzelgrundrechte stehen bereits heute jedem Menschen und damit auch dem Kind zu. Sie werden insbesondere nicht durch das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG33 verdrängt, das als verfas30 Vgl. die Gesetzentwürfe der Fraktion Die Linke vom 26. Juni 2012, BT-Drs. 17 / 10118, der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen vom 27. November 2012, BT-Drs. 17 / 11650, und der SPD-Fraktion vom 23. April 2013, BT-Drs. 17 / 13223, sowie bereits zuvor den Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen vom 12. April 2007, BT-Drucks 16 / 5005. 31 So der Ausgangsbefund des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion vom 23. April 2013, BT-Drs. 17 / 13223, S. 1. 32 So die ausdrückliche Zielsetzung des Gesetzentwurfs der Fraktion Die Linke vom 26. Juni 2012, BT-Drs. 17 / 10118, S. 1. 33 Zum Elternrecht Ernst-Wolfgang Böckenförde, Elternrecht – Recht des Kindes – Recht des Staates, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 14 (1980), S. 54 ff.; Hans-Uwe Erichsen, Elternrecht – Kindeswohl – Staatsgewalt, 1985; Bernd Jeand’Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993; Wolfram Höfling, Elternrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 155 Rn. 1 ff.; Matthias Jestaedt, in: Kahl / Waldhoff / Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 162. Erg.-Lfg.

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sungsunmittelbare Rechtspflicht34 einen ausschließlich dienenden, rein drittnützigen Charakter hat, das den Eltern also nicht im eigenen Interesse, sondern ausschließlich zum Wohle ihrer noch unmündigen Kinder zugestanden wird.35 Das Elternrecht ersetzt demgemäß nicht das Kindesrecht, sondern verwirklicht es und ist folgerichtig mit wachsender Einsichtsfähigkeit des Kindes aus sich heraus begrenzt. Erst wenn die Eltern diesen Gleichklang von Eltern- und Kindesrecht verlassen und dadurch das Kindeswohl gefährden, nicht aber bereits dann, wenn sie nur die aus staatlicher Perspektive zweitbeste Entscheidung für ihr Kind treffen,36 eröffnet das Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG dem Staat weitreichende Eingriffsbefugnisse. Vor diesem Hintergrund würde eine ausdrückliche Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz den Kindern keine zusätzlichen Rechte gewähren, sondern lediglich die Verwirklichung ihrer bereits vorhandenen Rechte vom Elternhaus auf den Staat verlagern. Die vermeintlich als Grundrechte ausgeflaggten Kinderrechte erweisen sich also bei Lichte betrachtet als Eingriffstitel zugunsten der Hoheitsgewalt. Kindeswohl und Elternrecht dergestalt in einen Gegensatz zu rücken schwächt notwendig die familiäre Gemeinschaft. In die gleiche Richtung weist – auf der Grundlage der geltenden Verfassung – die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungs(Juli 2013), Art. 6 Abs. 2 und 3 GG Rn. 1 ff.; Fritz Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, 1981; Christian Seiler, Verfassungsfragen zur staatlichen Unterstützung der elterlichen Erziehung, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 43 (2009), S. 7 (12 ff.); Hans F. Zacher, Elternrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 134 Rn. 1 ff. 34 BVerfGE 24, 119 (143 f.); 59, 360 (376 f.: „Grundrecht und Grundpflicht zugleich“). 35 Siehe BVerfGE 59, 360 (376): Das Elternrecht „beruht auf dem Grundgedanken, daß in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“. Vgl. auch BVerfGE 24, 119 (150): „Der Verfassungsgeber geht davon aus, daß diejenigen, die einem Kinde das Leben geben, von Natur aus bereit und berufen sind, die Verantwortung für seine Pflege und Erziehung zu übernehmen.“ 36 Das Wächteramt verleiht dem Staat keine Befugnis, das Kindeswohl zu „optimieren“. Deutlich BVerfGE 60, 79 (94): Es gehöre nicht zur Ausübung des Wächteramtes, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung des Kindes zu sorgen.

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gerichts. Hervorhebung verdient insofern das aus Art. 6 Abs. 2 GG hergeleitete subjektive Recht des Kindes auf Erziehung, das auch gegen die Eltern, im konkreten Fall gegen einen nicht zum Umgang bereiten Vater gewendet wurde und das grundsätzlich, sofern ein erzwungener Umgang im Einzelfall dem Kindeswohl dienen kann, sogar mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden darf.37 Im Ergebnis wird auf diese Weise das in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG verortete Wächteramt aufgerufen und erweitert, dies freilich im Gewand eines subjektiven Rechts, über dessen Inanspruchnahme nicht der Grundrechtsträger, sondern die Hoheitsgewalt befindet und dessen Inhalt sich nicht auf die Abwehr, sondern auf die Bewirkung staatlicher Eingriffe richtet. Möglich wird dies nur durch eine argumentative Auflösung des Familienverbandes. Auch das einfache Recht neigt in jüngerer Zeit dazu, das Wächteramt des Staates über die innerfamiliäre Erziehung auszudehnen. Bereits 2008 erweiterte das „Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ die staatlichen Eingriffsbefugnisse zu Lasten der Familie erheblich, insbesondere indem der neu gefasste § 1666 BGB auf die bisherige tatbestandliche Voraussetzung eines elterlichen Erziehungsversagens verzichtete (Abs. 1) und einen Katalog zu ergreifender Maßnahmen hinzufügte (Abs. 3).38 Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt eine Tendenz zur Ausweitung präventiven Einschreitens bereits im Vorfeld konkreter Gefährdungen des Kindeswohls, die das staatliche Wächteramt von einer ultima ratio bei Versagen der Erziehungsberechtigten hin zu einer stärkeren Sozialkontrolle mit vielfältigen niedrigschwelligen Eingriffsmöglichkeiten weiterentwickeln. Diesen und weiteren39 gut gemeinten Aufsichtsmaßnahmen lässt sich eine gewisse Skepsis gegenüber der familiären GeBVerfGE 121, 69 (93 f., 98 ff.). Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls vom 4. Juli 2008 (BGBl. I S. 1188); vgl. auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16 / 6815, S. 1 ff. 39 Siehe das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder und Jugendhilfe vom 8. September 2005 (BGBl. I S. 2729), sowie das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2975). 37 38

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meinschaft nicht absprechen, gepaart mit einem großen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit staatlicher Interventionen zum Wohl des Familienmitgliedes Kind.40 Dass hingegen eine staatliche Deutungshoheit über „das Kindeswohl“ jenseits von Extremfällen konkreter Gefährdung und tatsächlicher Missbräuche durchaus auch problematisch werden kann, scheint gegenwärtig nicht hinreichend bewusst zu sein.41 Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden: Nicht alle Familien sind in der Lage, den grundgesetzlichen Erwartungen gemeinschaftlicher Eigenverantwortung in vollem Umfang gerecht zu werden. Insofern empfehlen sich jedoch, gerade auch mit Blick auf das Wohl der Kinder, vorrangig subsidiäre Hilfsangebote unterhalb der Eingriffsschwelle, die als solche dem Fördergebot zugunsten der familiären Gemeinschaft zugerechnet werden können. Ihre Freiwilligkeit ist dabei nicht nur dem Freiheitsanliegen des Grundgesetzes geschuldet, sondern oft auch praktische Bedingung ihres Erfolges. Denn innerlich angenommen wird eine Hilfe in der Regel nur, wenn sie auf einen bevormundenden Charakter verzichtet. In die richtige Richtung weist daher das zum 1. Januar 2012 in Kraft getretene „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz“ (KKG).42 Es bietet Familien sog. „frühe Hilfen“ an, bezweckt also ein „möglichst frühzeitiges, koordiniertes und multiprofessionales Angebot im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern vor allem in den ersten Lebensjahren“ (§ 1 Abs. 4

40 Kritisch hierzu Sebastian Westermeyer, Die Herausbildung des Subsidiaritätsverhältnisses zwischen Familie und Staat und seine heutige Bedeutung im Grundgesetz, 2010, S. 206 f. 41 Vgl. auch die Diskussion um die Einführung einer generellen Kindergartenpflicht. Siehe Stefanie Salaw-Hanslmaier, Kindergartenpflicht – eine rechtspolitische Vision?, ZRP 2013, S. 143 ff., die sogar erwägt, aus § 1 Abs. 1 SGB VIII eine Rechtspflicht zum Kindergartenbesuch herzuleiten (mit dem Argument „traumhafter Renditen von bis zu 50%“ auf die staatliche Investition); kritisch hingegen Johann Bader, Verfassungsrechtliche Probleme der Kindergartenbesuchspflicht und vorschulischen Sprachförderung, NVwZ 2007, S. 537 ff. 42 Artikel 1 des Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2975); hierzu Jörg Maywald, Das neue Kinderschutzgesetz – was bringt es für die Kinder?, FPR 2012, S. 199 ff.

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Satz 2 KKG). Als sinnvoll kann sich hier insbesondere der Einsatz von Familienhebammen erweisen (§ 3 Abs. 4 Satz 1 KKG), gerade weil sie in Ermangelung von Eingriffsbefugnissen in der Lage sind, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen.43 Sie tragen somit dazu bei, das familiäre Miteinander zu stärken, statt es in ein Gegeneinander von Eltern und Kindern aufzulösen. Dass in Sonderfällen elterlichen Versagens dennoch auch staatliche Eingriffe nötig werden, versteht sich von selbst. 2. Angleichung anderer Formen des Zusammenlebens Neben der geschilderten normativen Desintegration von Ehe und Familie verdient auch eine zuletzt weitreichende gleichheitsrechtliche Einbindung insbesondere der ehelichen Familie Beachtung. Diese setzt zwar den Schutzgütern Ehe und Familie keine Schranken, nivelliert aber ihren Schutz in erheblichem Umfang, indem sie andere Formen des Zusammenlebens im Wege einer extensiven Handhabung von Diskriminierungsverboten gleichsetzt. Näherer Betrachtung bedürfen hier zum einen die nichtehelichen Lebensgemeinschaften (a), zum anderen die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften (b). a) Mittelbare Angleichung nichtehelicher Lebensgemeinschaften Insbesondere im Vergleich ehelicher mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften, die sich bewusst gegen eine Verrechtlichung ihrer Partnerschaft entschieden haben, begründet Art. 6 Abs. 1 GG eine normative Verschiedenheit, die eine Besserstellung der Ehe jedenfalls rechtfertigt, im Umfang der staatlichen Förderpflicht sogar gebietet und damit etwaigen Ansprüchen auf Gleichbehandlung widerspricht.44 43 Als kontraproduktiv könnte sich dagegen § 4 KKG herausstellen, der ausnahmsweise eine Datenweitergabe an das Jugendamt gestattet. 44 Siehe Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 47.

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Das Bewusstsein für diese Verschiedenheit scheint indes in jüngerer Zeit geschwunden zu sein, beispielsweise wenn im Mietrecht nach dem Tod des Mieters nicht nur dem Ehegatten, sondern in analoger Anwendung von § 569a BGB a. F. auch dem (kinderlosen) nichtehelichen Partner des verstorbenen Mieters ein gesetzliches Eintrittsrecht in das Mietverhältnis zugesprochen worden ist.45 Vor allem jedoch wird das Postulat normativer Differenzierung zwischen Ehe und Nichtehe aufgeweicht, soweit aus einer nichtehelichen Verbindung Kinder hervorgegangen sind. Anknüpfungspunkt hierfür ist, sofern nicht bereits generell die Perspektive von der Ehe auf die Familie verlagert wird,46 der besondere Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 5 GG, der nichtehelichen Kindern aus guten Gründen einen Anspruch auf individuelle Gleichstellung mit ehelichen Kindern gewährt.47 Die konkrete Handhabung dieser Bestimmung kann indes zur Folge haben, dass mittelbar auch die gesamte nichteheliche Familie, einschließlich der elterlichen Paarbeziehung angeglichen wird. Einbruchstelle hierfür sind Sachverhalte, bei denen der Ehe- und der Familienschutz typischerweise untrennbar zusammenfallen. Als Beispiel kann erneut48 der Geschiedenenunterhalt dienen, an dieser Stelle soweit er wegen der Betreuung eines ehelichen Kindes zu zahlen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat 2007 die längere Dauer des Betreuungsunterhalts bei Geschiedenen (§ 1570 BGB a. F.) im Vergleich zur Parallelregelung bei nichtverheirateten Eltern (§ 1615l Abs. 2 BGB a. F.) als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG Hierzu BVerfGE 82, 6 (11 ff.). Siehe BVerfGE 112, 50 (67 ff.): Es ist mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG in Gestalt des Familienschutzes unvereinbar, eine Entschädigung für Opfer von Gewalttaten nur an den Ehegatten des Opfers, nicht auch an dessen nichtehelichen Lebenspartner zu leisten, soweit dieser gemeinsame Kinder versorgt (eigene Ansprüche der Kinder bleiben unberührt). 47 Hierzu Christian Seiler, in: Kahl / Waldhoff / Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 162. Erg.-Lfg. (Juli 2013), Art. 6 Abs. 5 GG Rn. 1 ff. 48 Siehe bereits oben II.1.a) zur individualisierenden Tendenz des reformierten Geschiedenenunterhalts. 45 46

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gewürdigt.49 Ausschlaggebend war dabei, dass das Gericht den Grund des Betreuungsunterhaltes ausschließlich im Kindeswohl gesehen hat, das insofern keiner Differenzierung zugänglich ist. Dass der Gesetzgeber bei seiner Regelung auch die nacheheliche Solidarität einbezogen haben könnte, hat das Gericht hingegen abgelehnt.50 Eine solche Argumentation übersieht jedoch den untrennbaren Doppelcharakter eines zugleich zu Betreuungszwecken geleisteten nachehelichen Unterhalts. Ebenso wie in der ehelichen Familie die dem Partner geschuldete Solidarität nicht in einen ihm selbst gebührenden und einem aus der Sorge für gemeinsame Kinder folgenden Solidaritätsanteil aufgeteilt werden könnte, kann auch die aus ihr abgeleitete nacheheliche Solidarität nicht derartig aufgeteilt werden. Der Geschiedenenunterhalt greift vielmehr typischerweise vorherige eheliche Dispositionen auf, nicht zuletzt die noch gemeinsame Entscheidung der Ehegatten über Art und Umstände ihrer Kinderbetreuung, und verlängert sie situationsangepasst. Er unterscheidet sich dadurch ausschlaggebend von einem allein um des Kindes willen gezahlten Unterhalt an einen nichtehelichen Elternteil. Derartige Verschiedenheiten sollte der Gesetzgeber nicht nur ausnahmsweise, wie er es in § 1570 Abs. 2 BGB51 als Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts getan hat, sondern regelstrukturell berücksichtigen dürfen. 49 BVerfGE 118, 45 (62 ff.). Kritisch hierzu Christian Seiler, in: Kahl / Waldhoff / Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 162. Erg.-Lfg. (Juli 2013), Art. 6 Abs. 5 GG Rn. 79 ff. 50 BVerfGE 118, 45 (68 ff.). Eine nicht an die Kinderbetreuung anknüpfende Besserstellung geschiedener Unterhaltsempfänger soll dagegen unschädlich sein. 51 § 1570 BGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3189), verarbeitet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in zwei Schritten. Abs. 1 hat den Anspruch auf Geschiedenenunterhalt wegen der Betreuung eines Kindes auf drei Jahre zurückgenommen und ihn damit dem Betreuungsunterhalt nach § 1615l Abs. 2 BGB angeglichen. Abs. 2 fügt – auf Empfehlung des Rechtsausschusses (vgl. BT-Drs. 16 / 6980, S. 8 f.) und im Anschluss an einen in diesem Sinne interpretierbaren Vorbehalt in BVerfGE 118, 45 (70) – eine Billigkeitsregelung hinzu. In der Ehe wurzelnde Gründe können hiernach die Dauer des wegen der Betreuung gewährten Unterhaltsanspruchs im Einzelfall verlängern.

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Abstrakter gesprochen offenbart die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ein grundsätzliches Problem: In ehelichen Familien bilden Ehe und Elternschaft eine untrennbare Einheit. Diese gedanklich aufzulösen und den kindbezogenen Aspekt voranzustellen, verschafft dem Abs. 5 von Art. 6 GG eine auf Abs. 1 zurückwirkende dominante Stellung: Der Gesetzgeber kann ehebezogene Regelungen, die auch das Vorhandensein von Kindern berücksichtigen, letztlich nur noch treffen, wenn er nichteheliche Verbindungen gleichstellt. Im Ergebnis wirkt der Gleichstellungsanspruch nichtehelicher Kinder auf diese Weise als Hebel zur partiellen Angleichung der gesamten nichtehelichen Familie einschließlich der elterlichen Paarbeziehung. b) Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften Sodann hat das Bundesverfassungsgericht52 unter Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG die eingetragene Lebenspartnerschaft der Ehe gleichgestellt. Zwar beschränkt das Gericht die Reichweite des Ehebegriffs und damit den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ausdrücklich auf die Verbindung von Mann und Frau.53 Jedoch nimmt es die einfachgesetzliche Verrechtlichung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und ihre tatsächlichen Ähnlichkeiten zum Anlass, unausgesprochen eine Wesensgleichheit beider Gemeinschaftsformen zu unterstellen, vor deren Hintergrund jegliche Differenzierung als Anknüpfung an die sexuelle Orientierung der Person gewürdigt und deshalb hohen, kaum einlösbaren Rechtfertigungsanforderungen unterworfen wird. Insbesondere könne ein bloßer Verweis auf das allein die Ehe (neben der Familie) begünsti52 Das Gericht hat hierzu eine ganze Reihe letztlich gleichlautender Entscheidungen insbesondere zum Transfersystem, aber auch zum Adoptionsrecht getroffen. Siehe zum Folgenden BVerfGE 124, 199 (218 ff.); 126, 400 (414 ff.); 131, 239 (255 ff.); 132, 179; BVerfG, NJW 2013, 847; 2013, 2257. Vgl. auch BAG, NZA 2010, 216; FamRZ 2010, 1333; EuGH, Slg. 2011, I-3591. 53 BVerfGE 105, 313 (342); aus jüngerer Zeit BVerfGE 131, 239 (259). A. A. Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 81 ff.: Art. 6 Abs. 1 GG beschränke die Ehe nicht auf Verbindungen zwischen Mann und Frau.

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gende Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG eine Diskriminierung anderer Lebensgemeinschaften nicht rechtfertigen. Im Ergebnis wird jeder normative Unterschied zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft beseitigt. Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft einem berechtigten Interesse gleichgeschlechtlicher Partner an einer verlässlichen Grundlage ihrer Beziehung Rechnung getragen. Es war ihm dabei unbenommen, diese Gemeinschaftsform einfachrechtlich der Ehe anzunähern.54 Dennoch bleibt zu hinterfragen, ob er auch von Verfassungs wegen verpflichtet ist, sie ihr vollständig gleichzustellen. Einzuwenden ist nicht zuletzt, dass die Vergleichbarkeit beider Gruppen normativ durch die Existenz des Art. 6 Abs. 1 GG vorgeprägt wird, der nur für die Ehe einen besonderen Schutz verlangt, während die Lebenspartnerschaft einfachgesetzlich disponibel bleibt. Dies belegt ein – zugegeben unrealistisches – Gedankenexperiment: Ebenso wie der Gesetzgeber ursprünglich frei war, die Lebenspartnerschaft einzuführen, könnte er sie nun – mit Vertrauensschutz für bestehende Partnerschaften – äußerstenfalls sogar wieder ersatzlos abschaffen. Damit sollte aber auch die Zwischenlösung ihrer nur partiellen Angleichung verfassungsgemäß sein. Die durch Art. 6 Abs. 1 GG vorgegebene normative Wesensverschiedenheit beider Gemeinschaftsformen knüpft schließlich nicht an die sexuelle Orientierung ihrer Angehörigen an, sondern erklärt sich auch durch die systematische und teleologische Verwandtschaft des Schutzgutes Ehe zum benachbarten Schutzgut Familie. Das Grundgesetz55 hat beide Verbürgungen bewusst in einen engen Zusammenhang gestellt, weil die Ehe in dem Sinne grundsätzlich auf die Familie hin angelegt ist, dass aus ihr – anders als aus der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft – typischerweise Kinder hervorgehen können.56 Ein solches spezifisches Angelegtsein auf So noch der Grundtenor von BVerfGE 105, 313 (342 ff.). Vgl. auch Art. 119 Abs. 1 WRV: „Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung.“ 56 Das Bundesverfassungsgericht betont zudem, dass die Mutter und Vater einbindende eheliche Elternbeziehung typischerweise gute Voraussetzungen für die bestmögliche Entwicklung von Kindern bietet. Beson54 55

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neues Leben ist der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft naturgemäß nicht gegeben. Das Grundgesetz normiert somit einen Wesensunterschied von Ehe und Lebenspartnerschaft. Ihn wie das Bundesverfassungsgericht mit dem (seinerseits angreifbaren57) Argument zu übergehen, Art. 6 Abs. 1 GG normiere kein Abstandsgebot, verkehrt dieses zum partiellen Abstandsverbot.58 Im Ergebnis wird der eingetragenen Lebenspartnerschaft der Eheschutz des Art. 6 Abs. 1 GG versagt, aber ein gleichheitsrechtlich abgeleiteter Eheschutz identischen Inhalts zugesprochen. Das „Besondere“ des Art. 6 Abs. 1 GG wird insofern verallgemeinert.59

III. Innere Entkräftung des äußerlich unveränderten Ehe- und Familienschutzes Fasst man die geschilderten Entwicklungen zusammen, so wird deutlich, dass der an sich unbestrittene besondere Gemeinschaftscharakter von Ehe und Familie zunehmend relativiert, wenn nicht sogar neutralisiert wird. Der Trend zur normativen Individualisierung nimmt Ehe und Familie letztlich auf Erscheinungsformen von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und individueller Handlungsfreiheit zurück, die als solche auch ohne Art. 6 Abs. 1 GG mit weitgehend gleichen Ergebnissen zu schützen wären. Der Trend zur Angleichung nichtehelicher Verbindungen und gleichgeschlechtlicher Partnerschaften macht sie zu einer Lebensweise

ders deutlich BVerfGE 76, 1 (51); bestätigt in BVerfGE 99, 145 (156). Siehe ferner BVerfGE 61, 358 (372); 117, 316 (328). 57 Siehe oben I.3. 58 Ebenso Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 f. (die Entscheidung lasse den verfassungsrechtlichen Schutz der Ehe zur „Makulatur“ werden). 59 Eingehender zu diesem Fragenkreis Klaus Ferdinand Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung? Ehe und Eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, in diesem Band. – Siehe auch die nachdrückliche Kritik von Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 36 ff. m. w. N.

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unter vielen, denen gegenüber die Differenzierungskraft des Art. 6 Abs. 1 GG verblasst. Diese Entwicklung lässt sich nicht allein mit geänderten tatsächlichen Verhältnissen erklären oder gar rechtfertigen. Zwar hat sich die Lebenswirklichkeit unbestreitbar geändert und hält heute eine größere Vielfalt an zwischenmenschlichen Beziehungsformen bereit, für die der Gesetzgeber differenzierende Lösungen finden muss und auch kann. Gleichwohl bleibt die rechtliche Kontinuität der ungeänderten Verfassung ungebrochen. Denn eine geringere Zahl an Eheschließungen und eine hohe Scheidungsrate entwerten den grundgesetzlichen Schutz der (noch immer vielen) verbliebenen Ehen nicht, ebenso wie der Rückgang der Geburtenzahlen und die dadurch bedingte demographische Entwicklung nicht zum Nachteil der vorhandenen Familien gewertet werden dürfen. Im Gegenteil, die genannten tatsächlichen Herausforderungen bestärken die rechtspolitische Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf den Wert von Ehe und Familie für Individuum und Gemeinwesen, auch um die normativ prägende Kraft zwischenmenschlicher Solidarität lebendig zu halten. Vor diesem Hintergrund sind Gesetzgeber, Gerichte und Rechtswissenschaft aufgerufen, dem besonderen Verbandscharakter von Ehe und Familie wieder stärker Rechnung zu tragen.

Zukunftsvergessen? Der besondere Schutz von Ehe und Familie im Steuer- und Abgabenrecht Von Gregor Kirchhof I. Ehe und Familie im Steuerstaat Jeder ist grundsätzlich verpflichtet, Steuern und Abgaben zu zahlen. Der außergewöhnliche Schutz von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG ändert diesen Ausgangsbefund nicht. Die öffentliche Hand garantiert den Menschen Sicherheit, das Rechtssystem und die Daseinsvorsorge. Diese Leistungen kosten Geld. Die notwendigen Mittel stellen die Bürger dem Staat zur Verfügung, indem sie Steuern und Abgaben zahlen. Dem freiheitlichen Staat steht grundsätzlich kein anderer Weg offen, die notwendige Finanzkraft zu erhalten – vereinzelte Ausnahmen sind allerdings möglich. Würde sich die öffentliche Hand größtenteils durch eine eigene Erwerbswirtschaft finanzieren, würde sie den freien Wettbewerb sachwidrig beeinträchtigen. Aufgrund ihrer strukturellen Überlegenheit als Teil des steuerfinanzierten Gemeinwesens, als Garant der allgemeinen Infrastruktur würde sie als Konkurrent den Wettbewerb verzerren. Der grundrechtliche Schutz des freien Wettbewerbs fordert daher, dass sich der Staat grundsätzlich durch Steuern und nicht durch eigenes Erwerbshandeln finanziert. Die Grundrechte verbieten der öffentlichen Hand zudem, auf die Arbeitskraft der Menschen zuzugreifen, sie zu Dienstleistungen zu verpflichten, um den öffentlichen Finanzbedarf zu befriedigen. Der moderne freiheitliche Staat ist Steuerstaat. Die Grundrechte fordern von der öffentlichen Hand, sich durch Abgaben zu finanzieren. Jede Abgabe greift aber im klassischen Sinne in Grundrechte ein, weil sie an der Finanzkraft der Bürger teilhat.1 Der sog. Steuerzahlergedenktag, den der Bund

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der Steuerzahler jedes Jahr ausruft, verdeutlicht dies eindrucksvoll. Bis zum 8. Juli 2013 haben die Bürger rein rechnerisch nicht für ihr eigenes Portemonnaie, sondern für die öffentliche Hand gearbeitet.2 Steuern und Abgaben greifen in Grundrechte ein, sind aber gleichzeitig das freiheitliche Instrument, den Staat zu finanzieren. In dieser dem Steuerstaat selbstverständlichen Ambivalenz fordern die Grundrechte die Abgabenlast, suchen sie aber gleichzeitig zu mäßigen. Der besondere Schutz von Ehe und Familie setzt die Abgabenpflicht voraus. Auch Ehepartner und Eltern müssen Abgaben entrichten. Art. 6 Abs. 1 GG fragt daher nicht nach der Abgabenpflicht, sondern nach der Höhe der Abgaben, nach dem Maß der Zahllast. Die Steuerlast richtet sich nach der individuellen Leistungsfähigkeit. Steuerpflichtige mit geringer Leistungsfähigkeit tragen eine vergleichsweise niedrige Last, bei einer höheren Finanzkraft steigt die Steuerschuld entsprechend. Nicht steuerliche Abgaben, insbesondere Gebühren und Beiträge, werden nicht nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip, sondern grundsätzlich nach dem sog. Äquivalenzprinzip bemessen. In einer holzschnittartigen Unterscheidung ist die Gebühr der Verwaltungspreis und der Beitrag das Entgelt für ein (bevorzugendes) Angebot. Der Betroffene zahlt in beiden Fällen für einen Vorteil, nach dem sich die Abgabe bemisst. Hinzu treten insbesondere Sozialversicherungsbeiträge, die den Prinzipien einer öffentlich-rechtlichen zwingenden Elementarversicherung folgen.3 Das von der Verfassung vorgegebene Leistungsfähigkeitsprinzip wird allgemein – auch von der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – als Ausfluss von Steuergleichmaß, des Übermaßverbots und der Steuergerech1 Paul Kirchhof, Die Steuern, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 1 ff.; vgl. Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 1 ff. 2 Bund der Steuerzahler, Pressemitteilung vom 6. Juli 2013, abrufbar unter: http://www.steuerzahler.de/Steuerzahlergedenktag-am-8-Juli-2013/ 53732c62853i1p1520/index.html. 3 Siehe insgesamt, also auch zu den Sonderabgaben und Mitgliedsbeiträgen zu öffentlich-rechtlichen Verbänden Paul Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rn. 69 ff., 109 ff.

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tigkeit bezeichnet.4 Bemerkenswert ist, dass Gericht und Rechtswissenschaft hier die Kategorie der Gerechtigkeit gleichsam als subsumierbaren Rechtsbegriff verwenden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gilt für direkte Steuern unmittelbar, für die indirekten in grober Typisierung. Es wird notwendig durch das Folgerichtigkeitsgebot ergänzt. Eine einmal getroffene Belastungsentscheidung ist folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen. Ausnahmen bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes.5 Das Folgerichtigkeitsprinzip wird nicht als Ausfluss der Steuergerechtigkeit bezeichnet, obwohl die Gerechtigkeitskategorie hier treffend wäre. Ein Abgabenschuldverhältnis ist grundsätzlich bipolar. Der verpflichtete Bürger muss den geforderten Betrag an den Gläubiger entrichten. Die Vorzugslast schuldet der, der den Vorteil erlangt hat. Im Einkommensteuerrecht gilt der Grundsatz der Individualbesteuerung.6 Ehe und Familie erweitern dieses Verhältnis. Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet die öffentliche Hand, diese privaten Gemeinschaften besonders zu schützen und zu fördern. Die Ambivalenz des Steuerstaats, nach der der Abgabeneingriff Voraussetzung der Freiheit ist, wird so in zwei Fragen verkompliziert. Erstens ist jeweils die Eigenart von Ehe und Familie zu erfassen, die das Steuer- und Abgabenrecht aufnehmen muss. Zweitens ist das angemessene Maß der steuerfinanzierten Förderung dieser Gemeinschaften zu erörtern. Eine aktuelle Studie des Bundesfamilienministeriums7 konzentriert sich auf die zweite Frage nach der Förderung. Im Jahr 2010 wurden hiernach an Ehen und Familien Leistungen in einem Gesamtvolumen von 200 Mrd. Euro gezahlt.8 Nach dieser BerechBVerfGE 122, 210 (230 f. m. w. H.). BVerfGE 122, 210 (230 f. m. w. H.). 6 § 1 EStG im Zusammenspiel mit der Einzelveranlagung nach § 25 EStG (siehe hierzu im konkreten Kontext Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 88 f.). 7 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (im Folgenden BMFSFJ). 8 BMFSFJ, Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und Maßnahmen des Staates im Jahr 2010, S. 1, abrufbar unter: http://www. bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=158318.html. 4 5

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nung scheint die Antwort auf beide Fragen auf der Hand zu liegen. Wenn der Staat einen so hohen Betrag für Leistungen ausgibt, werden Ehen und Familien im Steuer- und Abgabenrecht nicht sachwidrig belastet, sondern in besonderer Weise gefördert. Doch droht der Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG im Steuer- und im Abgabenrecht in Vergessenheit zu geraten – in Teilen wird das Grundgesetz verletzt. II. Ehegattensplitting Nach den Berechnungen des Bundesfamilienministeriums wurden im Jahr 2010 ehebezogene Leistungen in Höhe von 75 Mrd. Euro entrichtet.9 Der höchste Betrag von rund 38 Mrd. Euro entfällt auf die Witwen- und Witwerrenten.10 Hier wird ein Fehler der Studie deutlich. Die Hinterbliebenenrenten sollen den Unterhalt, der mit dem Tod des Ehegatten wegfällt, in Teilen ersetzen. Der soziale Staat gewährleistet so in zahlreichen Fällen das Existenzminimum von Rentnern, die kaum am Erwerbsleben teilgenommen haben. Das Existenzminimum muss die öffentliche Hand gewähren – diese Pflicht ist dem sozialen, der Menschenwürdegarantie verpflichteten Staat selbstverständlich.11 Die Versorgungsbezüge dürfen daher nicht vollumfänglich als „Leistungen“ bezeichnet werden. In den Sozialversicherungssystemen wird die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern, die nicht erwerbstätig sind, mit rund 13 Mrd. Euro aufgeführt.12 Hier handelt es sich in der Regel weniger um eine ehebezogene, mehr um eine familienbezogene Zahlung, weil die Mitversicherung – wie auch die Hinterbliebenenrenten – regelmäßig für Ehepartner greift, die sich weniger um das Erwerbsleben und stärker um die Kinder gekümmert haben. Das Ministerium hinterfragt den Begriff selbst in der Bemerkung, es würden auch Positionen mit einem „starken Familienbezug“ aufgeführt.13 Das Ehegattensplitting schlägt schließBMFSFJ, a. a. O., Anhang, S. 1. BMFSFJ, a. a. O., Anhang, S. 10. 11 BVerfGE 99, 216 (233 f.); 125, 177 (223). 12 BMFSFJ, a. a. O., Anhang, S. 10. 13 BMFSFJ, a. a. O., S. 1. 9

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lich – und damit sind die sog. „Leistungen“ nahezu komplett – mit rund 20 Mrd. Euro zu Buche.14 Doch auch diese Zahlung darf nicht als eine Leistung bezeichnet werden, die auch unterlassen werden könnte. Aktuelle Parteiprogramme begreifen das Splitting allerdings als Förderung, auf die verzichtet werden sollte. Das Ehegattensplitting begünstige – dies ist die zentrale Erwägung – Einverdienerehen, hindere Frauen damit an der eigenen Erwerbstätigkeit und festige ihre Rolle als Hausfrau. Die eingesetzten Mittel sollten – so fahren die Parteiprogramme fort – besser für den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung genutzt werden.15 Das Anliegen, nicht die Quantität, sondern die Qualität dieser Kinderbetreuung zu verbessern, drängt in der Tat – doch darf dies nicht auf Kosten des Ehegattensplittings geschehen. Union16 und FDP17 wollen das Splitting beibehalten. Die Linke schlägt demgegenüber vor, es abzuschaffen.18 Bündnis 90 / Die Grünen wollen es in zehn Jahren durch eine Individualbesteuerung mit übertragbarem Existenzminimum ersetzen, außer eine Prüfung der Lebensqualität der Familien und der Erwerbssituation von Frauen weise in eine andere Richtung. Umgehend soll die Steuerersparnis auf den Betrag begrenzt werden, den Ehepartner mit einem Gesamteinkommen von 60.000 Euro erhalten.19 Die SPD will schließlich ab einem Stichtag ein sog. Realsplitting einführen, bei dem die Unterhaltspflichten steuerlich berücksichtigt werden. Vor dem Stichtag geschlossene Ehen wer14 Hinzu tritt das „Witwengeld“ nach dem „Beamtenversorgungsgesetz“ mit ca. 2,5 Mrd. Euro (insges. BMFSFJ, a. a. O., Anhang, S. 2, 10). 15 Siehe hierzu Die Linke, 100 % sozial, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, S. 26, 40; Bündnis 90 / Die Grünen, Zeit für den Grünen Wandel. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen, Bundestagswahlprogramm 2013, S. 84 f.; vgl. SPD, Das Wir entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 50 f. 16 CDU / CSU, Gemeinsam erfolgreich für Deutschland. Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 38. 17 FDP, Bürgerprogramm 2013. Damit Deutschland stark bleibt, 2013, S. 12. 18 Die Linke, 100 % sozial, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, S. 26, 40. 19 Bündnis 90 / Die Grünen, Zeit für den Grünen Wandel. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen, Bundestagswahlprogramm 2013, S. 84 f.

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den aber weiterhin nach dem geltenden Splitting besteuert.20 Die gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen sollten sich an diesem Punkt nicht lange aufhalten: Die Verfassung versperrt den Reformvorschlägen den Weg.21 In den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland wurden Ehegatten zusammen veranlagt, ihre Einkünfte aber addiert und der Steuersatz auf das Gesamteinkommen angewendet. Die steuerliche Progression hatte zur Folge, dass verheiratete Paare auf dieses Gesamteinkommen eine höhere Einkommensteuer zahlen mussten als unverheiratete Partner, weil deren Einkommen für die Steuer geteilt wurde. Durch den Eheschluss stieg die Steuerlast. Im Jahre 1957 wurde diese Benachteiligung, diese „Schlechterstellung der Ehegatten“ zu Recht vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.22 Daraufhin ist das bis heute noch geltende Verfahren eingeführt worden. Die Einkünfte der Ehegatten werden, wenn diese die Zusammenveranlagung wählen, addiert und die Einkommensteuer dann jeweils für das halbe Einkommen berechnet.23 Aufgrund der Progression sparen die Ehegatten so Steuern.24 Die Ersparnis ist bei Ehen, in denen nur ein Ehepartner erwerbstätig ist, am größten. Von dem Einkommen kann der doppelte Grundfreibetrag abgezogen werden. Zudem werden die Erträge für die Besteuerung gleichsam halbiert. Die Steuerlast sinkt in diesen Fällen bei einem jährlichen Bruttolohn von 30.000 Euro um etwa 3.500 Euro, ab einem Einkommen von rund 100.000 Euro um 8.200 Euro.25 Aufgrund der Reichensteuer redu20 SPD, Das Wir entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 50 f. 21 Siehe hierzu insgesamt bereits Gregor Kirchhof, Förderpflicht und Staatsferne. Die aktuellen Reformvorschläge zum Ehegattensplitting, Unterhaltsrecht und Scheidungsverfahren und der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie, FamRZ 2007, S. 241 ff.; vgl. aus jüngerer Zeit Margot v. Renesse, Ein gerechtes Steuersystem für Ehe, Lebenspartnerschaft und Familie, ZRP 2013, S. 87 (87 ff.). 22 BVerfGE 6, 55 (66 ff., Zitat: 79 und LS 5). 23 § 26b; § 32a Abs. 5 und 6 EStG. 24 Siehe hierzu und zu weiteren Folgen Stefan Bach / Hermann Buslei / Dagmar Svindland / Hans J. Baumgartner / Juliane Flach / Dieter Teichmann, Untersuchung zu den Wirkungen der gegenwärtigen Ehegattenbesteuerung, Materialien des DIW Berlin, Nr. 27 / 2003.

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ziert sich die Zahllast ab einem Einkommen von 250.000 Euro im Jahr weiter. Die höchst mögliche Steuerermäßigung von 15.000 Euro erreichen Einverdienerehen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 500.000 Euro.26 Das zentrale politische Argument, das gegen das Splitting vorgetragen wird, baut – trotz dieser Zahlen – auf eine zweifelhafte Annahme. Die Ehepartner bestimmen ihr Leben selbstständig. Die Hausfrau oder der Hausmann wird sich kaum gegen den erlernten Beruf entscheiden, damit die eheliche Gemeinschaft nicht einen Teil der Steuerersparnis von – außerhalb der Reichensteuer – netto 290 bis 680 Euro im Monat27 verliert. Das Ehegattensplitting kommt zu einem großen Teil Ehepaaren zugute, die Kinder haben. Wer die Steuererleichterung Familien nicht nehmen will, gewinnt nur wenige Milliarden Euro für die Verbesserung der Kinderbetreuung.28

25 Vgl. zur monatlichen Ersparnis Richard Ochmann / Katharina Wrohlich, Familiensplitting der CDU / CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien, DIW Wochenbericht 36 / 2013, S. 3 (4); Stefan Bach / Hermann Buslei / Dagmar Svindland / Hans J. Baumgartner / Juliane Flach / Dieter Teichmann, Untersuchung zu den Wirkungen der gegenwärtigen Ehegattenbesteuerung, Materialien des DIW Berlin, Nr. 27 / 2003, S. 3 f.; Stefan Bach / Johannes Geyer / Peter Haan / Katharina Wrohlich, Reform des Ehegattensplittings: nur eine reine Individualbesteuerung erhöht die Erwerbsanreize deutlich, DIW Wochenbericht 41 / 2011, S. 13 (14). 26 Stefan Bach / Johannes Geyer / Peter Haan / Katharina Wrohlich, Reform des Ehegattensplittings: nur eine reine Individualbesteuerung erhöht die Erwerbsanreize deutlich, DIW Wochenbericht 41 / 2011, S. 13 (14); insgesamt jüngst Heiko Haupt / Reina Becker, Kinder in schlechter Verfassung?. Zum Neuanlauf für eine verfassungsgerechte Familienbesteuerung, Niedersächsisches FG 7 V 4 / 12 – BFH III B 68 / 12, Sächsisches FG 1 K 712 / 11 – BFH III B 2 / 13, DStR 2013, S. 734 ff., die den Splittingtarif auch für Alleinerziehende fordern, weil diese sonst gegenüber Ehepartnern sachwidrig benachteiligt würden. 27 Vgl. Stefan Bach / Hermann Buslei / Dagmar Svindland / Hans J. Baumgartner / Juliane Flach / Dieter Teichmann, Untersuchung zu den Wirkungen der gegenwärtigen Ehegattenbesteuerung, Materialien des DIW Berlin, Nr. 27 / 2003, S. 3 f. 28 Stefan Bach / Hermann Buslei / Dagmar Svindland / Hans J. Baumgartner / Juliane Flach / Dieter Teichmann, Untersuchung zu den Wirkungen der gegenwärtigen Ehegattenbesteuerung, Materialien des DIW Berlin, Nr. 27 / 2003, S. 28 et passim.

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Insgesamt wird der Hebel an der falschen steuerrechtlichen Regelung angesetzt. Der hohe Lohnsteuerabzug beim zweiten Einkommen führt zu einem ernüchternden Blick auf das monatliche Nettogehalt. Zwar ist dieser Abzug lediglich vorläufig – am Ende des Jahres wird die tatsächliche Steuerlast berechnet. Dieser vorläufige Charakter wird aber leicht übersehen. Der ernüchternde Blick auf den Lohnzettel droht so die zweite Erwerbsarbeit unrentabel erscheinen zu lassen. Eine Gesetzesnovelle sollte die Lohnsteuerklassen verändern.29 Das Ehegattensplitting darf nicht abgeschafft werden. Das Benachteiligungsverbot des Art. 6 Abs. 1 GG verbietet die Individualbesteuerung von Ehepartnern. Die Unterhaltspflichten in der Ehe blieben steuerlich unberücksichtigt, nach einer Scheidung könnten sie aber als Sonderausgaben geltend gemacht werden.30 Verheiratete würden im Vergleich zu Geschiedenen steuerrechtlich schlechter gestellt und folglich benachteiligt. Diese Kritik nimmt das erwogene Realsplitting auf, nach dem die Unterhaltslasten während der Ehe steuerlich berücksichtigt werden. Die vorgeschlagene Stichtagsregelung droht aber über Jahrzehnte hinweg Ehen ungleich zu behandeln, je nachdem ob sie vor oder nach dem Stichtag geschlossen wurden. In der parlamentarischen Demokratie ist es selbstverständlich, neues Recht zu setzen und den Übergang zu diesem Recht zu gestalten. Doch stellt sich die schwierige und bislang nicht präzise beantwortete Frage, ob ein solcher Übergang über Jahrzehnte hinweg dauern darf. Das Realsplitting verletzt aber auch unabhängig davon die Verfassung. Ehen mit besonderen, in der Regel hohen Einkommensquellen bliebe es auch nach der Abschaffung des Splittingverfahrens möglich, durch Steuergestaltungen eine vergleichbare Ersparnis zu erlangen. Die 29 SPD, Das Wir entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 50 f., schlägt vor, beide Einkommen mit einem gleich hohen Durchschnittssatz zu besteuern. 30 § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG, nach dem Unterhaltsleistungen bis zu 13.805 Euro im Jahr als Sonderausgaben steuerlich abgezogen werden können. Zu berücksichtigen ist, dass die Leistungen beim Empfänger zu versteuern sind. Aufgrund der regelmäßig geringen Gesamteinnahmen ist die Steuerlast aber oft nicht hoch. Insgesamt: Monika Jachmann / Klaus Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, S. 2009 (2009 f. m. w. H.).

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Art der Einkommensquelle und insbesondere die Höhe des Einkommens bieten aber keinen sachgerechten Grund für die Steuerersparnis.31 Das Realsplitting baut auf ein fehlerhaftes Verständnis der Ehe, weil lediglich der Unterhalt steuerlich berücksichtigt wird. Die Ehe ist nicht nur eine Unterhaltsgemeinschaft. Aber selbst wenn man diesen Einwand aufnähme und das Realsplitting nicht lediglich am Unterhalt, sondern am gesamten Unterhaltsund Güterrecht einschließlich der entsprechenden Gestaltungen der Ehepartner ausrichten würde – eine schwierige gesetzliche Typisierung, welche den Arbeitsaufwand der Finanzbeamten erhöhen würde –, würde das Steuerrecht den Kerngedanken der ehelichen Gemeinschaft verkennen. Die Ehe würde steuerlich auf die möglichen Finanzflüsse im Falle der Scheidung, auf Unterhaltsrecht und Güterrecht reduziert. Frau und Mann bilden zwar auch eine Unterhaltsgemeinschaft. Die Ehe kennzeichnet aber – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts32 und des Bürgerlichen Gesetzbuches33 – mehr als wirtschaftlicher Beistand. Sie ist eine grundsätzlich auf Lebenszeit geschlossene gleichberechtigte Partnerschaft, eine – im nüchternen Duktus des Rechts – Erwerbs-, Verbrauchs- und Verantwortungsgemeinschaft. Selbst wenn die Ehegatten die Gestaltungsmöglichkeiten des Ehevertrages in weitem Umfang nutzen,34 bleibt die eheliche Verantwortungsgemeinschaft, die gleichberechtigte Partnerschaft bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hebt ausdrücklich hervor, dass die Hausarbeit, die Erziehung der Kinder und die Berufsarbeit gleichwertig sind. Beide Ehegatten haben grundsätzlich „Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten, das ihnen zu gleichen Teilen zuzuordnen ist“.35 Wie die Ehepartner die Arbeit teilen, ihre Gemeinschaft leben, liegt in ihrer Hand – der Staat darf hier nicht di31 Zu diesem „faktischen Ehegattensplitting“ Klaus Vogel, Besteuerung von Eheleuten und Verfassungsrecht, StuW 1999, S. 201 (215 ff.). 32 BVerfGE 61, 319 (345 f.); 53, 224 (245). 33 Nach § 1353 Abs. 1 BGB wird die Ehe „auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung.“ 34 Hierzu Klaus Vogel, Besteuerung von Eheleuten und Verfassungsrecht, StuW 1999, S. 201 (208 ff. m. w. H. auf die ausführliche wissenschaftliche Diskussion). 35 BVerfGE 105, 1 (11 f. m. w. H.).

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rigierend eingreifen.36 Das geltende Splittingverfahren bietet – so fährt das Gericht fort – „keine beliebig veränderbare Steuer-‚Vergünstigung‘, sondern [… eine] sachgerechte Besteuerung“.37 Schließen sich Menschen allein aus wirtschaftlichen Gründen zu einer Gesellschaft zusammen, wird jedem Gesellschafter für die individuelle Besteuerung ein gleicher Teil des Gewinns zugerechnet. Die Gesellschafter werden so – vergleichbar mit dem Splittingverfahren – steuerlich entlastet. Diese Besteuerung wird als Selbstverständlichkeit, nicht als rechtfertigungsbedürftige Förderung der Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet. Wenn zwei Menschen heiraten, also nicht nur eine Erwerbs- und Wirtschaftsgemeinschaft gründen, sondern zudem in einer Verbrauchs- und Verantwortungsgemeinschaft leben, in rechtlicher Verbindlichkeit gleichberechtigt persönliche Verantwortung füreinander übernehmen, müssen sie erst recht eine entsprechende Steuerentlastung erhalten.38 Reine Wirtschaftsgemeinschaften würden sonst steuerlich gegenüber Ehen privilegiert. Dies verbietet Art. 6 Abs. 1 GG. Das Splittingverfahren begünstigt Ehen nicht. Es ist nicht richtig, von einem Splittingvorteil zu sprechen.39 Das Verfahren ist notwendig, damit Ehen nicht benachteiligt, sondern sachgerecht besteuert werden. Die Abschaffung des Ehegattensplittings wäre verfassungswidrig. Wenn das Ehegattensplitting Ehen keinen Vorteil bringt, sondern sie sachgerecht besteuert, wenn zudem die anderen sog. ehebezogenen Leistungen insbesondere der Sicherung des Existenzminimums dienen und für Familien geleistet werden, stellt sich die Frage, ob Ehen – dem Auftrag des Art. 6 Abs. 1 GG folgend – gegenwärtig gefördert werden.

36 Monika Jachmann / Klaus Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, S. 2009 (2009). 37 BVerfGE 61, 319 (347). 38 Hierzu wie insgesamt Paul Kirchhof, Maßstäbe für eine familiengerechte Besteuerung, ZRP 2003, S. 73 (75). 39 Klaus Vogel, Besteuerung von Eheleuten und Verfassungsrecht, StuW 1999, S. 201 (201 ff.); zum verfassungsrechtlichen Gebot, das Ehegattensplitting beizubehalten, deutlich Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 40 m. w. H.

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III. Familiensplitting Die aktuelle Diskussion über die Einkommensbesteuerung von Ehe und Familie könnte gegensätzlicher kaum sein. Die einen wollen das Ehegattensplitting abschaffen, andere wollen es beibehalten und um ein sog. Familiensplitting erweitern. Unter dem Begriff des Familiensplittings werden insbesondere drei Modelle diskutiert. Die Union will den steuerlichen Grundfreibetrag für Kinder schrittweise auf das Niveau der Erwachsenen erhöhen. Zudem sollen Kindergeld und Kinderzuschlag steigen.40 Die SPD lehnt dies ab, weil so lediglich Spitzeneinkommen begünstigt würden.41 Zudem wird – vergleichbar mit den Vorschlägen zur Ehe – ein Realsplitting erwogen, das die Unterhaltsleistungen steuerlich berücksichtigt. Ein solches Splitting wäre aber von vornherein nur praktikabel, wenn die Unterhaltsleistungen nicht für jeden Einzelfall genau berechnet, sondern pauschaliert würden.42 Schließlich wird vorgeschlagen, ein sog. „echtes Familiensplitting“ einzuführen, das Einkommen also steuerlich auf alle Familienmitglieder zu verteilen. Die Steuerersparnis auf Grund der Progression ist in der Wirkung im Grunde vergleichbar mit dem Ehegattensplitting. Sie wäre aber deutlich höher, weil das Einkommen nicht auf zwei, sondern bei einer fünfköpfigen Familie auf fünf Personen verteilt würde. Die Steuerausfälle wären hoch – ein „echtes Familiensplitting“ wäre kaum finanzierbar.43 Frankreich hat sich im Grundsatz für dieses Modell entschieden. Zu Recht wird die Steuerersparnis dort aber beschränkt. Die ersten beiden Kinder werden bei der Verteilung mit dem Faktor 0,5 berücksichtigt, die weiteren Kinder mit dem Faktor 1. Zudem ist – und das ist die maßgebliche Einschränkung – die Steuerersparnis für die ersten beiden Kinder auf 2.000 Euro und für alle weiteren 40 CDU / CSU, Gemeinsam erfolgreich für Deutschland. Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 38. 41 SPD, Das Wir entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 50. 42 Siehe hierzu und zu der Diskussion Monika Jachmann / Klaus Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, S. 2009 (2012). 43 Monika Jachmann / Klaus Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, S. 2009 (2012 f. m. w. H.).

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Kinder auf 4.000 Euro pro Jahr begrenzt.44 Der Gedanke, ab dem dritten Kind die Entlastung zu erhöhen, orientiert sich an dem größeren Aufwand kinderreicher Familien. Entsprechende Regelungen könnten auch im deutschen Recht aufgenommen oder bestehende Differenzierungen verdeutlicht werden. Ein „echtes Familiensplitting“ sollte aber nicht eingeführt werden. Die Verfassung versperrt dieser Besteuerungsmöglichkeit zwar nicht den Weg. Dieses Splitting spiegelt die familiäre Gemeinschaft aber nicht treffend – unabhängig von möglichen Beschränkungen. Die Familie ist – anders als die Ehe – keine Erwerbsgemeinschaft, weil die Kinder nicht wie die Eltern für die Familie im Berufsleben stehen.45 Auch der Gedanke der Verbrauchsgemeinschaft46 vermag das Familiensplitting nicht zu rechtfertigen, weil das Einkommen auch nicht im Verbrauch auf alle Familienmitglieder gleichmäßig verteilt wird. Die Familie ist eine umfassende Lebens-, eine gelebte Erziehungs- und Wirtschaftsgemeinschaft, die auf das Kindeswohl ausgerichtet und durch die Elternverantwortung gekennzeichnet ist. Familie ist – entgegen dem gängigen Slogan – nicht da, wo Kinder sind, sondern wo eine rechtsverbindliche Verantwortungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kind geschlossen wird. Das Elternrecht ist ein dienendes Grundrecht.47 Die Eltern sorgen auch wirtschaftlich für die Kinder. Die Kinder haben am Lebensstandard der Eltern teil. Das Recht nimmt diese Besonderheit in den Erzie44 Richard Ochmann / Katharina Wrohlich, Familiensplitting der CDU / CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien, DIW Wochenbericht 36 / 2013, S. 3 (4). 45 Siehe hierzu Christian Seiler, Grundzüge eines Öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 95 f. m. w. H. auf die Diskussion, der aber den Kindern in einer „wertenden Zurechnung“ Erwerbsfolgen steuerlich zuordnet. 46 Siehe hierzu Monika Jachmann / Klaus Liebl, Wesentliche Aspekte zur Familienbesteuerung, DStR 2010, S. 2009 (2012 f. m. w. H.); vgl. Richard Ochmann / Katharina Wrohlich, Familiensplitting der CDU / CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien, DIW Wochenbericht 36 / 2013, S. 3 ff. 47 BVerfGE 80, 81 (90); Friederike v. Nesselrode, Ehe und Familie, in: Kube / Mellinghoff / Morgenthaler u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Festschrift für Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. 1, 2013, § 56 Rn. 9; vgl. Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 34 ff.

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hungs- und Unterhaltspflichten auf. Das Familienrealsplitting konzentriert sich auf mögliche Unterhaltszahlungen. Dies mag befremdlich erscheinen, weil diese Zahlungen in den wenigsten Familien ausgerechnet und ausgezahlt werden. Doch ist dem Einkommensteuerrecht der Blick auf Einkommen und Ausgaben selbstverständlich. Das Familienrealsplitting würde die familiäre Beziehung in der maßgeblichen steuerrechtlichen Perspektive sachgerecht fassen. Aber auch die Erhöhung von Grundfreibetrag, Kindergeld und Kinderzuschlag verlässt den Gestaltungsraum des Gesetzgebers nicht. Die Menschenwürdegarantie,48 das steuerliche Leistungsfähigkeitsprinzip,49 Art. 6 Abs. 1 GG und der soziale Staat50 fordern, das Existenzminimum aller Menschen, also in der Familie der Eltern und Kinder, steuerlich zu verschonen. Die Ausgaben für die Existenz sind zwingend, nicht disponibel, aus ihnen kann eine Abgabenlast nicht entrichtet werden. Der soziale Staat sichert das Existenzminimum jedes Menschen. Was der soziale Staat geben muss, darf der Steuerstaat nicht nehmen. Die Selbsthilfe geht der Sozialhilfe vor.51 Der existenznotwendige Bedarf des Steuerpflichtigen und seiner Familie ist zu verschonen.52 Die Höhe dieses Bedarfs kann nicht für jeden Einzelfall punktgenau gefasst werden. Der Gesetzgeber darf und – so würde man das BundesverfasArt. 1 Abs. 1 GG. Art. 3 Abs. 1 GG. 50 Art. 20 Abs. 1 GG. 51 BVerfGE 99, 216 (230 f.); 99, 246 (260); 120, 125 (154 f. m. w. H.); insgesamt Rudolf Mellinghoff, Privataufwendungen, in: Kube / Mellinghoff / Morgenthaler u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Festschrift für Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. 2, 2013, § 174 Rn. 7 ff., insbes. 7, 11; Arnd Uhle in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 41 m. w. H. 52 Das Bundesverfassungsgericht hat das geschützte Existenzminimum in verschiedenen Entscheidungen konkretisiert. Hierzu zählen die notwendigen Aufwendungen für „Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit“ (BVerfGE 99, 216 [233 f.]). Geschützt ist auch die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“, weil der Mensch „notwendig in sozialen Bezügen“ existiert (BVerfGE 125, 177 [223]). 48 49

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sungsgericht53 ergänzen – muss daher das Existenzminimum typisieren.54 Die Steuerfreiheit des Existenzminimums hat mit dem Bundesverfassungsgericht „nicht den Sinn, die Kosten eines über dem Sozialhilfeniveau liegenden Lebensstandards über die Einkommensteuer“ von der Allgemeinheit mitfinanzieren zu lassen. Eine einmal getroffene gesetzliche Entscheidung, privaten Aufwand zum Abzug zuzulassen, müsse aber folgerichtig ausgestaltet werden.55 Das Gericht wechselt hier im Bereich des Existenzminimums den Maßstab von der unmittelbaren verfassungsrechtlichen Vorgabe, das Existenzminimum zu gewährleisten, in den mittelbaren verfassungsrechtlichen Schutz der folgerichtigen Gesetzgebung. Diese Folgerichtigkeit betrifft auch das Verhältnis des Steuerrechts zum Sozialrecht.56 Der Gesetzgeber muss das Existenzminimum konkretisieren.57 Er kann ein Realsplitting anordnen oder den Grundfreibetrag für Kinder, Kindergeld und Kinderzuschlag erhöhen. Gegen diese Vorschläge wurde jüngst eingewandt, dass vor allem die Mittelschicht und höhere Gehälter entlastet würden. Das sei politisch nicht wünschenswert.58 Dieser Effekt entspricht aber der Besteuerung der familiären Gemeinschaft, weil die Kinder am Lebensstan53 BVerfGE 99, 216 (233 f.); 99, 246 (260 f.); 112, 268 (280 f.); 120, 125 (155). 54 Trotz der regionalen Preisgefälle sind die bundeseinheitlichen Mittelwerte des Grundfreibetrags und des Kinderfreibetrags verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nicht alle vom Existenzminimum geschützten Aufwendungen können aber bundesweit gefasst werden. Bei den Krankenund Pflegeversicherungsbeiträgen müssen schon auf Grund der Unterschiede zwischen privater und gesetzlicher Versicherung die tatsächlich getätigten Ausgaben stärker berücksichtigt werden (insges. BVerfGE 120, 125 [160 f.]). 55 BVerfGE 120, 125 (164 f., Zitat: 164). 56 Christoph Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, 2010, S. 74 ff.; grundlegend Moris Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, insbes. (zusammenfassend) S. 408 ff. 57 BVerfGE 99, 246 (260 f.); 120, 125 (155) spricht von möglichst allen Fällen. 58 Richard Ochmann / Katharina Wrohlich, Familiensplitting der CDU / CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien, DIW Wochenbericht 36 / 2013, S. 3 (10 f.).

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dard der Eltern teilhaben und folglich mit der Höhe des Einkommens der zu leistende Unterhalt steigt. Die Kritik fügt an, dass die benötigten 7 Mrd. Euro besser für den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung ausgegeben werden sollen – ein Argument, mit dem auch die Abschaffung des Ehegattensplittings begründet wird.59 Doch sollten Ehe und Familie sachgerecht besteuert und zudem die Qualität der Kinderbetreuung verbessert werden. Das Einkommensteuerrecht muss die Eigenart der Familie angemessen aufnehmen. Das Steuerrecht verletzt zwar gegenwärtig insoweit das Grundgesetz nicht, doch kann dieser Auftrag besser erfüllt werden.60 Ein Familienrealsplitting und eine Erhöhung von Grundfreibetrag, Kindergeld und Kinderzuschlag fassen die familiäre Gemeinschaft angemessen und treffender als das geltende Recht. IV. Sozialversicherungen Das Bundesfamilienministerium beziffert die „familienbezogenen Leistungen“, die im Jahr 2010 gezahlt wurden, mit rund 125 Mrd. Euro.61 Die größten Posten sind das Kindergeld mit 39 Mrd. Euro, die Ausgaben für die Tagesbetreuung in Höhe von 59 Zudem wird – in der Verkennung der verfassungsrechtlichen Situation – vorgeschlagen, das Ehegattensplitting abzuschaffen Richard Ochmann / Katharina Wrohlich, Familiensplitting der CDU / CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien, DIW Wochenbericht 36 / 2013, S. 3 (10 f.); die Vorschläge der SPD, von Bündnis 90 / Die Grünen sowie der Partei Die Linke weisen in diese Richtung (Die Linke, 100 % sozial, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, S. 26, 40; Bündnis 90 / Die Grünen, Zeit für den Grünen Wandel. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen, Bundestagswahlprogramm 2013, S. 84 f.; SPD, Das Wir entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017, 2013, S. 50 f.). 60 Friederike v. Nesselrode, Ehe und Familie, in: Kube / Mellinghoff / Morgenthaler u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Festschrift für Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. 1, 2013, § 56 Rn. 19, die das Familiensplitting für notwendig hält. 61 BMFSFJ, Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und Maßnahmen des Staates im Jahr 2010, S. 1, abrufbar unter: http://www. bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=158318.html.

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16 Mrd. Euro62 sowie unterschiedliche Posten im Bereich der Sozialversicherung, die sich auf rund 35 Mrd. Euro addieren.63 Als weitere hohe Beträge treten die Hilfe zur Erziehung mit 6 Mrd. Euro und das Elterngeld mit 4,5 Mrd. Euro hinzu.64 Das Ministerium bemerkt in einem Nebensatz an anderer Stelle, dass über 50 Mrd. Euro dieser sog. Leistungen zum „weitgehend verfassungsrechtlich gebotenen Familienlastenausgleich“ gehören.65 Den Teil des Kindergelds, durch den das Existenzminimum steuerfrei gestellt wird, beziffert es auf 20 Mrd. Euro.66 Die Sicherung des Existenzminimums, diese verfassungsrechtlich gebotene Grenze des Steuerzugriffs, wird erneut sachwidrig als Leistung bezeichnet – und das vom zuständigen Ministerium. Das Ministerium schwächt so seine Stellung im Kabinett, wenn der Haushalt verhandelt wird, beträchtlich. Neue kostenträchtige familienpolitische Maßnahmen 62 BMFSFJ, Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und Maßnahmen des Staates im Jahr 2010, Anhang S. 1, 11, abrufbar unter: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=158318.html. 63 Die Beiträge des Bundes für Kinderziehungszeiten an die Gesetzliche Rentenversicherung betragen rund 11,5 Mrd. Euro, die beitragsfreie Mitversicherung nicht erwerbstätiger Familienmitglieder im Bereich der Krankenversicherung rund 16 Mrd. Euro, die Beitragsbefreiung während des Bezugs von Mutterschafts-, Erziehungs- oder Elterngeld rund 1,5 Mrd. Euro, die Leistungen bei Schwanger- und Mutterschaft rund 3,5 Mrd. Euro. Im Rahmen der Pflege- und Rentenversicherung werden zudem jeweils Ausgaben in Höhe von rund 1 Mrd. Euro berechnet (insgesamt: BMFSFJ, Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und Maßnahmen des Staates im Jahr 2010, Anhang S. 1 ff., abrufbar unter: http://www. bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=158318.html). Siehe hierzu und zum Folgenden bereits Gregor Kirchhof, Perspektiven für die Förderung von Ehe und Familie, Stimme der Familie 5 / 2012, S. 9 ff. 64 BMFSFJ, Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und Maßnahmen des Staates im Jahr 2010, Anhang S. 3, 12, abrufbar unter: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=158318.html. Weitere höhere aufgeführte Posten sind die Leistungen für Unterkunft und Heizung für Empfänger von Arbeitslosengeld II – Anteil für Kinder unter 18 Jahren (rund 2,5 Mrd. Euro) – und die Zuschüsse für Studierende und Schüler (rund 2 Mrd. Euro; BMFSFJ, ebd., S. 4, 5). 65 BMFSFJ, Familienreport 2011. Leistungen, Wirkungen, Trends, 2012, S. 39. 66 BMFSFJ, Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und Maßnahmen des Staates im Jahr 2010, Anhang S. 1, abrufbar unter: http:// www.bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=158318.html.

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werden allein auf Grund der Studie auf Akzeptanzprobleme stoßen. Gänzlich verfehlt ist der Leistungsbegriff auch für die Zahlungen im Bereich der Sozialversicherungssysteme. In diesen Systemen werden Familien verfassungswidrig benachteiligt. Sie erhalten auch in einem neutralen Begriffsverständnis keine Leistungen. Die soziale Pflegeversicherung und die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung werden durch Umlagen finanziert.67 Die Erwerbstätigen finanzieren die Systeme durch Beiträge, aus denen die Leistungen unmittelbar gezahlt werden. Die Berechtigten erhalten Leistungen, auch wenn sie zuweilen – wie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung – oder in der Regel – wie bei der gesetzlichen Rentenversicherung – nicht (mehr) im Erwerbsleben stehen, also keine Beiträge zahlen.68 Letztlich wird ein Generationenvertrag geschlossen. Die Sozialversicherungen bauen darauf, dass jeweils eine nächste Generation heranwächst und das System finanziert. Ohne Kinder, ohne Familien gäbe es keine Beitragszahler, die Versicherungen würden zusammenbrechen.69 Aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland geraten die umlagefinanzierten Systeme gegenwärtig in Gefahr. Die Schultern, die die Versicherungen tragen, werden weniger. Vereinfacht dargestellt führt die jetzige Entwicklung dazu, dass zehn Erwachsene rund sieben Kinder, zwischen vier und fünf Enkel und drei Urenkel bekommen.70 Angesichts dieser ernüchternden demografischen Perspektive wird zu Recht seit längerer Zeit angemahnt, die Alterssicherung auf mehrere Beine zu stellen, auch durch kapitalgedeckte Versicherungen vorzusorgen.71 Doch stehen 67 Deutlich zur sozialen Pflegeversicherung: BVerfGE 103, 242 (264 ff.); siehe für die gesetzliche Rentenversicherung § 153 SGB VI, für die gesetzliche Krankenversicherung § 220 SGB V. 68 Bei der gesetzlichen Rentenversicherung treten Entnahmen aus Nachhaltigkeitsrücklagen hinzu (§ 153 SGB VI). 69 Siehe insgesamt Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 141 ff. 70 Siehe hierzu Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, 2005, S. 52. 71 Siehe hierzu Herbert Rische / Reinhold Thiede, Die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung, NZS 2013, S. 601 (602 ff.); in einer steuerrechtlichen Perspektive Alexander Schrehardt, Reform der geförderten

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auch diese Versicherungen gegenwärtig vor gravierenden Schwierigkeiten, weil die für die Finanzierung maßgeblichen Zinsen schon seit längerer Zeit niedrig sind. Die demografische Entwicklung fragt, warum die umlagefinanzierten Sozialsysteme eingeführt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Versicherungen neu aufgebaut werden. Viele Menschen waren zu versorgen, die bis dahin geschaffenen Anwartschaften aber entwertet. Dieses Problem löste Konrad Adenauer mit der in dieser Situation folgerichtigen – man ist geneigt zu sagen alternativlosen – umlagefinanzierten Rentenversicherung. Die Erwerbstätigen finanzierten unmittelbar die Leistungen der Bedürftigen – auf die zusammengebrochenen Versicherungen kam es nicht an. Das System leidet aber bis heute an einem Geburtsfehler. Wilfrid Schreiber, der die damals prägende Studie verfasste, stellte der Altersrente eine sog. „Kinderrente“ als notwendige zweite systemtragende Säule zur Seite. Nicht nur die Rentenleistungen, sondern auch die für den Erhalt des Umlagesystems maßgeblichen Erziehungsleistungen seien in Teilen zu vergemeinschaften.72 Diesem Rat folgte die Politik allerdings nicht. Selbstredend ist nicht – dies betonte jüngst auch das Bundessozialgericht – „jegliche die Familie betreffende Belastung auszugleichen.“73 Gleichwohl stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2001 zu Recht fest, dass die Eltern in den umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen gegenwärtig doppelt in Anspruch genommen werden. Der Gleichheitssatz wird so verletzt. Neben den monetären Beiträgen wenden sie in einem erheblichen Umfang Zeit und Geld auf, um die Kinder zu erziehen. Die Erziehungsleistungen erhalten die Systeme und sind – so das Gericht – angemessen aufzunehmen.74 In Reaktion auf das Urteil75 wurde Kinderprivaten Altersversorgung durch das Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz, DStR 2013, S. 1240 ff.; zur Rente mit 67 i.d.Z. aus jüngerer Zeit Franz Ruland, Rente mit 67 – Ökonomische Notwendigkeit oder Sozialabbau?, NJW 2012, S. 492 (492 ff.). 72 Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 75 ff. 73 BSG, NZS 2007, 311 (311); insgesamt: Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 143 ff. 74 BVerfGE 103, 242 (LS).

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losen ein sog. „Beitragszuschlag“ von 0,25 Beitragssatzpunkten auferlegt.76 Der Zuschlag wahrt aber schon angesichts seiner geringen Höhe kaum das Maß der Verfassung. Insbesondere aber wird gleichheitswidrig bei den Kinderlosen angesetzt. Eltern, die drei, vier oder mehr Kinder betreuen, erbringen deutlich höhere Erziehungsleistungen als Mütter und Väter von einem oder zwei Kindern. Die Erziehungsleistungen steigen mit den Kindern. Eine Erhöhung des Beitrags der Kinderlosen nimmt die unterschiedlichen Erziehungsleistungen daher von vornherein nicht gleichheitsgerecht auf. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber ausdrücklich den Auftrag erteilt, die Auswirkungen des Pflegeversicherungsurteils auf andere umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme zu prüfen.77 Der Gesetzgeber erfasst auch in diesen Systemen die Erziehungsleistungen nicht angemessen, weil die systemerhaltenden Leistungen zu niedrig bemessen werden.78 Die Rentenversicherung rechnet jedem erziehenden Elternteil für jedes neu geborene Kind drei Jahre Kindererziehungszeit in Durchschnittsentgeltpunkten an, die der Bund durch einen Zuschuss finanziert.79 Im Rahmen der Krankenversicherung werden Nicht-Erwerbstätige beitragsfrei mitversichert und für Schwangerschaft, Mutterschaft sowie für die Vorsorge für Kinder Leistungen erbracht.80 Die Bundesregierung bestätigte indirekt den Gleichheitsverstoß. Nach eigenen Angaben hat sie die Auswirkungen des Pflegeversicherungsurteils auf andere Sozialversicherungssysteme „sorgfältig geprüft“, jedoch keinen Änderungsbedarf ausgemacht. Die Erzie75 Bundesregierung, Bericht der Bundesregierung zur Bedeutung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialen Pflegeversicherung vom 3. April 2001 (1 BvR 1629 / 94) für andere Zweige der Sozialversicherung, 4. November 2004, BT-Drs. 15 / 4375, S. 3. 76 §§ 55 Abs. 3, 25 SGB XI. 77 BVerfGE 103, 242 (LS); Hans-Jürgen Papier, Ehe und Familie in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2002, S. 2129 (2132). 78 Deutlich Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 43, mit einem detaillierten Blick auf die maßgeblichen Ausgestaltungen und höchstrichterlichen Entscheidungen. 79 §§ 56, 57, 70 Abs. 2, 177 SGB VI; siehe zudem, §§ 78 f. SGB VI. 80 §§ 10, 20 ff. SGB V.

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hungsleistungen könnten – dies ist der Befund – angesichts des breiten Gestaltungsraums des Gesetzgebers durch „steuerfinanzierte Transfers“ anerkannt werden, insbesondere durch eine Verbesserung der Betreuungs- und Erziehungsinfrastruktur.81 Der Gleichheitsverstoß in den umlagefinanzierten Systemen kann aber von vornherein nur außerhalb der Systeme durch allgemeine öffentliche Hilfen verfassungskonform ausgeglichen werden, wenn Eltern mit mehreren Kindern auch stärkere Hilfen als Eltern erhalten, die weniger Kinder haben. Die Betreuungs- und Erziehungsinfrastruktur leistet den geforderten Ausgleich daher gegenwärtig nicht, weil die Angebote bundesweit zu stark differieren, Eltern mit hohen Erziehungsleistungen teilweise nicht erreichen.82 So drängt sich die Lösung auf, den Geburtsfehler der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme zu beheben und – wie von Wilfrid Schreiber seinerzeit gefordert – die Erziehungsleistungen durch eine „Kinderrente“ in Teilen zu vergemeinschaften.83 Familien erhalten in den umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen keine Leistungen, sondern werden gleichheitswidrig benachteiligt. Die Studie des Bundesfamilienministeriums leidet unter einem weiteren grundlegenden Fehler. Alle Zahlungen und Verschonungen werden sachwidrig addiert. Die Leistungen, die Familien für die Gesellschaft erbringen, werden aber nicht berücksichtigt. Zwar sind diese Leistungen schwer zu bemessen. Doch ist eine Bewertung der familien- und ehebezogenen Zahlungen ohne eine entsprechende Evaluation von vornherein einseitig und fehlerhaft. Eine Analyse der Leistungen, die Familien für Wirtschaft und Staat erbringen, würde den Sinn des Verfassungsauftrags, Ehe und Familie besonders zu schützen, hervorheben. Ein klarer Blick auf die Leistungen könnte zudem die Familienfreundlichkeit in

81 Bundesregierung, Bericht der Bundesregierung zur Bedeutung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialen Pflegeversicherung vom 3. April 2001 (1 BvR 1629 / 94) für andere Zweige der Sozialversicherung, 4. November 2004, BT-Drs. 15 / 4375, insbes. S. 2, 4 f., 10. 82 Siehe hierzu exemplarisch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf BMFSFJ, Familienreport 2011. Leistungen, Wirkungen, Trends, 2012, S. 48 ff. 83 Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 75 ff.

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der Gesellschaft stärken. Die Gesellschaft, nicht der Staat spielt die maßgebliche Rolle, um ein kinderfreundlicheres Umfeld zu schaffen. Die notwendige Gesamtevaluation der Leistungen der Familien und eine korrekte Analyse der Zuwendungen, die sie erhalten, hat zu prüfen, ob Familien angemessen gefördert werden, oder ob die öffentliche Hand zukunftsvergessen diesen Auftrag vernachlässigt. In den Worten der Bayerischen Verfassung sind Ehe und Familie die natürliche und sittliche Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft.84 Zwar kann der Staat diese Grundlagen, auf die er baut, selbst nicht garantieren.85 Er sollte aber tatkräftig versuchen, sie zu pflegen, Ehe und Familie zu fördern.

V. Staatsschulden – Recht und Gerechtigkeit Die finanziellen Grundlagen des Gemeinwesens werden gegenwärtig durch die hohe Staatsverschuldung und die erheblichen Garantien zur sog. „Eurorettung“ gefährdet. In den ersten 25 Jahren der Bundesrepublik stiegen die expliziten Schulden der öffentlichen Haushalte auf rund 63 Mrd. Euro – einem nach heutigen Maßstäben vernachlässigbaren Wert.86 Heute, 42 Jahre später, beträgt die Verschuldung über 2.000 Mrd. Euro,87 also mehr als das 30-fache. Diese Entwicklung der Staatsschulden ist durch einen Paradigmenwechsel geprägt. In den 1970er-Jahren wurde der Kredit – in einem Bruch der grundgesetzlichen Vorgaben – zu einem gängigen Instrument, den Haushalt zu finanzieren, und ist es bis heute geblieben. Deutschland verletzt seit rund 40 Jahren die 84 Art. 124 Abs. 1 BayVerf; Gregor Kirchhof, in: Meder / Brechmann (Hrsg.), Bayerische Verfassung, 5. Aufl. 2014, Art. 124 Rn. 1 ff. i. E. 85 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60. 86 Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern. Schulden der öffentlichen Haushalte, Fachserie 14, Reihe 5, 2011, S. 23; siehe hierzu wie insgesamt zum Folgenden Gregor Kirchhof, Steuererhöhungen: Maß des Sozialen und des Rechts, APuZ 2013, S. 41 ff. 87 Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern. Schulden der öffentlichen Haushalte, Fachserie 14, Reihe 5, 2011, S. 21, 25; BMF, Monatsbericht, August 2012, S. 78 ff.

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grundgesetzlichen und seit rund zehn Jahren die europarechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung. Hinzu treten die schwer zu bemessenden impliziten Staatsschulden, die auf zukünftige Leistungen aus den umlagefinanzierten Sozialversicherungen und Versorgungsansprüchen im öffentlichen Dienst zurückzuführen sind.88 Diese Schulden liegen nach allerdings groben Schätzungen bei rund 6.000 Mrd. Euro.89 Die Gesamtschuldenlast von rund 8.000 Mrd. Euro ist kaum zu tragen. Dieser Befund wird durch die ernüchternde demografische Perspektive in Deutschland verschärft.90 Jede staatliche Kreditaufnahme verengt den zukünftigen Gestaltungsraum der Politik und belastet die nachfolgenden Generationen. Diese stehen der Entwicklung bislang wehrlos gegenüber – es stellt sich die Frage der Generationengerechtigkeit.91 Es ist bemerkenswert, dass mit dem Paradigmenwechsel im Umgang mit der Staatsverschuldung in den 1970er-Jahren ein Kinderwahlrecht vorgeschlagen wurde.92 An Mahnungen für eine Generationengerechtigkeit hat es seitdem nicht gefehlt93 – nur wurde auf sie nicht ge88 Hermann Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 123 Rn. 13. 89 Siehe hierzu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren. Jahresgutachten 2003 / 04, S. 276; Tobias Hackmann / Stefan Moog / Bernd Raffelhüschen, Ehrbarer Staat? Die Generationenbilanz. Update 2011: Was die Pflegereform bringen könnte – und was sie bringen sollte, Stiftung Marktwirtschaft, Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 114, Oktober 2011, S. 6. 90 Siehe hierzu Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, 2005, S. 52; Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008. 91 Siehe insgesamt Stefan Mückl, „Auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“. „Generationengerechtigkeit“ und Verfassungsrecht, in: Depenheuer / Heintzen / Jestaedt / Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 183 (183 ff.). 92 Konrad Löw, Das Selbstverständnis des Grundgesetzes und wirklich allgemeine Wahlen, Politische Studien 25 (1974), S. 19 ff. 93 Siehe hierzu jüngst Gerhard Deter, „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ und Grundgesetz, ZUR 2012, S. 157 (157 ff.), der die Staatsverschuldung und den Klimawandel als die Probleme der Generationengerechtigkeit benennt und insbesondere auf die politische Diskussion und Initiative blickt, ein neues Staatsziel der Generationengerechtigkeit in das Grundgesetz aufzunehmen.

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hört. So stellt sich die Frage, wie die Interessen der zukünftigen Generationen langfristig gesichert werden könnten. Die Versuche, eine Generationengerechtigkeit durch grundrechtliche Schutzpflichten, eine einklagbare Gleichheit in der Zeit oder als allgemeine Staatszielbestimmung verbindlich anzuordnen, haben sich zu Recht nicht durchgesetzt.94 Die Beziehung zwischen den Generationen kann kaum verrechtlicht werden, ist kein einklagbares Rechtsverhältnis. Ausnahmen sind nur in Sonderfällen denkbar, etwa bei einer schlechterdings zukunftsvergessenen Ausbeutung der Umwelt. Gerechtigkeitsdiskussionen bleiben ohnehin oft vage, weil sie vom notwendigen Bezugspunkt abhängen. Die „soziale“ Gerechtigkeit drängt darauf, Bedürftigen stärker zu helfen, also die Staatsausgaben zu erhöhen. Die Steuergerechtigkeit erwartet bei steigenden Staatseinnahmen eine Steuersenkung, jedoch keine neuen Sozialleistungen. Die Generationengerechtigkeit fordert schließlich, den enormen Schuldensockel abzutragen, Sozialleistungen zu reduzieren und die Steuern zu erhöhen, damit sich die Gemeinschaft nicht auf Kosten ihrer Kinder finanziert. Die Gerechtigkeitsperspektiven drängen auf jeweils Unterschiedliches.95 Die Frage nach der Gerechtigkeit erinnert in diesen unterschiedlichen Perspektiven an die Diskussion über Vernunft und Gemeinwohl. Es wird selten nur eine vernünftige, gemeinwohlgerechte Problemlösung geben. Der moderne Staat setzt seit der Aufklärung nicht auf ein vorgegebenes Gemeinwohl, auf eine Vernunft, der zu dienen wäre, sondern auf die individuellen Grundrechte, auf den Rechtsstaat, auf die Selbstbestimmung durch Wahlen und ein Parlament, das in den Grenzen des Rechts das Gemeinwohl konkretisiert.96 Das Parlament erlässt die Gesetze. Das Gesetz aber ist das Instrument der Generationengerechtigkeit, weil es eine 94 Siehe hierzu mit einem besonderen Blick auf die Staatszielbestimmung jüngst Gerhard Deter, „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ und Grundgesetz, ZUR 2012, S. 157 (157 ff.). 95 Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 35 f. 96 Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 1 ff., 11 ff. m. w. H., insbes. Rn. 16, 22; Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 71 insbes. Rn. 155 ff.

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Gleichheit in der Zeit sichert.97 Dieser Gedanke der temporalen Allgemeinheit entspricht der Idee des Gesetzes. Das Gesetz war ursprünglich die in Stein gemeißelte oder in Bronze gegossene Regel, die auf übersichtlichen und „unvergänglichen Tafeln“ dauerhaft für alle galt.98 Das römische Zwölftafelgesetz wurde von Generation zu Generation weitergegeben, die Kinder lernten es auswendig,99 es wurde allen gemein. Jedes Gesetz muss hiernach so beschaffen sein, dass es langfristig wirken kann, mag es der parlamentarische Gesetzgeber auch bald wieder außer Kraft setzen. Der Rechtsstaat betont die Selbstverständlichkeit, dass diese Gesetze zu befolgen sind. Dann wird der Generationengerechtigkeit gedient, werden die Grundlagen der staatlichen Gemeinschaft gepflegt. Wären die deutschen und europäischen Rechtsgrenzen der Staatsverschuldung gewahrt worden, wäre die Finanzkrise bereits überwunden – das Generationenproblem der Staatsverschuldung würde sich nicht stellen. Die Sozialversicherungssysteme wären hiernach so zu gestalten, dass sie dauerhaft – über Krisen, über demografische Entwicklungen hinweg – Bestand haben können. Die systemerhaltenden Leistungen der Familien würden in dieser Perspektive hervorgehoben, jedenfalls nicht gleichheitswidrig vernachlässigt. Das Ehegattensplitting und die angemessene Besteuerung der Familien würden nicht als Steuervorteile begriffen, sondern als Instrumente, die Eigenart dieser Gemeinschaften im Recht aufzunehmen. Schließlich würde das Gemeinwesen den Auftrag betonen, Ehe und Familien als Grundlage jeder Gemeinschaft besonders zu schützen und zu fördern. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird zu Recht als elementares Gerechtigkeitsprinzip im Bereich des Steuerrechts verstanden. Es beantwortet die maßgebliche Frage nach der angemessenen Steuerlast. Der Auftrag, das Gemeinwesen langfristig zu erhalten, Staat

97 Siehe insgesamt Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 67 ff., 196 ff., 377 ff. 98 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 79 f.; dies., Das Lied vom Gesetz, 2007. 99 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze [De l’esprit des loix, 1748], 2003, 29. Buch 16. Kapitel.

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und Sozialversicherungssysteme dauerhaft zu finanzieren, weitet diese Perspektive. Der Gesetzgeber muss die maßgeblichen Grundentscheidungen treffen, die sodann folgerichtig umgesetzt werden. Das Folgerichtigkeitsgebot nimmt die Gleichheit vor dem Gesetz beim Wort, weil hiernach die Entscheidung des Gesetzesgebers für alle gilt – außer ein sachlicher Grund lässt eine Ausnahme zu. Im Dienst der Gerechtigkeit ist das Folgerichtigkeitsgebot in einer temporalen Perspektive, in der Allgemeinheit des Gesetzes für das gesamte Rechtssystem zu weiten. Eine Regel wird vor allem dann als gerecht empfunden, wenn sie dauerhaft für alle gilt und gleichmäßig angewandt wird, wenn sie allgemein ist. Maßgeblich ist eine Rückbesinnung auf die Allgemeinheit des Gesetzes, auf diesen Pfeiler moderner Staatlichkeit, den das Grundgesetz und das Europarecht ausdrücklich anordnen,100 der aber gleichwohl in Vergessenheit geraten ist.101 Das Recht hat das große Freiheits-, Gleichheitsund Gerechtigkeitsversprechen, das von alters her im allgemeinen Gesetz ruht, ausdrücklich aufgenommen. Dieses Versprechen wird in der Augenbinde der Justitia verbildlicht – zuweilen treffend ergänzt durch ein Gesetzbuch. Das Gesetz wird als Garant der Gerechtigkeit bezeichnet,102 weil es für alle gilt, keine Privilegien an Einzelne verteilt – auch nicht an bestimmte Generationen. Das allgemeine Gesetz dient so dem wohl elementarsten Anliegen des Rechts: Es sucht Gerechtigkeit im Maß, in einer über die Generationen greifenden Gleichmäßigkeit annähernd zu finden.

Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 288 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV. Siehe insgesamt Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 67 ff., 174 ff., 386 ff. 102 Rudolph von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung [1852 – 1865], Teil 2, Bd. 1, 8. Aufl. 1954, S. 35; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie [1932], 1999, S. 26; Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 20. 100 101

Verfassungsgebot Gleichstellung? Ehe und Eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Von Klaus Ferdinand Gärditz I. Ein langer Weg: Anfänge der Rechtsprechung des BVerfG zur Homosexualität Betrachtet man Ehe und Eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der jüngeren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, kann man die Dimension des aufscheinenden Wandels nur vermessen, wenn man die heute eher irritierenden Anfänge der Rechtsprechung des BVerfG zur Homosexualität in Erinnerung ruft. Die Entscheidungen betreffen das Sexualstrafrecht, haben die erniedrigende Bestrafung der männlichen Homosexualität selbst bis in die Mitte der 1970er Jahre mitgetragen und sich hierbei in teils sonderlichen Aussagen verstiegen.1 In der Leitentscheidung aus dem Jahre 1957 zu § 175 StGB a. F. liest man etwa: „In der Regel richtet sich das Begehren der aktiven Lesbierin nicht auf die jugendliche, sondern auf die geschlechtlich erfahrene Frau. […] Demgegenüber liebt der typisch homosexuelle Mann den Jüngling und neigt dazu, ihn zu verführen […]; er sucht den 20- bis 27-jäh1 Das BVerfG hat die relevanten Strafbestimmungen in einer Entscheidung vom Mai 1957 verfassungsrechtlich gebilligt, und zwar weder einen Verstoß der asymmetrischen Bestrafung allein der männlichen Homosexualität gegen Art. 3 Abs. 2, 3 GG noch einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG angenommen, siehe BVerfGE 6, 389 (420 ff.). Die Verfassungskonformität des früheren § 175 Abs. 1 Nr. 1 StGB wurde im Oktober 1973 auf eine Richtervorlage hin nochmals bestätigt und zwar unter Bezugnahme auf die Entscheidung aus dem Jahr 1957, siehe BVerfGE 36, 41 (45 f.).

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rigen ‚jünglinghaften‘ gleichwohl bereits reifen Mann […]. Sodann tritt die männliche Homosexualität unvergleichlich viel stärker als die weibliche in der Öffentlichkeit in Erscheinung,2 was wesentlich durch das größere weibliche Schamgefühl und die größere Zurückhaltung der Frau in Geschlechtsfragen bedingt sein dürfte. Anbahnung, Schließung und Fortführung lesbischer Verhältnisse bleiben privater.“3 Von modernen Gender-Konzepten unberührt konnte das Gericht zur Rechtfertigung mangelnder interhomosexueller Geschlechtergerechtigkeit mit Blick auf einseitig die männliche Homosexualität erfassende Strafbestimmungen noch darauf verweisen, dass „in dem Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter von einer Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Homosexualität niemals die Rede war“.4 Diese ein halbes Jahrhundert alten Entscheidungsgründe wirken heute bizarr, stützten sich aber auf maßgebliche Fachleute der Zeit. Man mag darin einen Ausdruck der Zeitabhängigkeit des kontextbezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie des in Bezug genommenen Sittengesetzes nach Art. 2 Abs. 1 GG5 sehen,6 vielleicht aber auch ein Beispiel, wohin die heute nicht minder populäre Expertengläubigkeit führen kann. 2 Notabene (Anmerkung des Verfassers): Dies wurde zu einer Zeit behauptet, in der die Ausübung männlicher Homosexualität in der Regel mit Freiheitsstrafe geahndet wurde, deren Verfassungskonformität in ebenjener Entscheidung des BVerfG auf dem Prüfstein lag. 3 BVerfGE 6, 389 (428 ff.). 4 BVerfGE 6, 389 (430). 5 Vgl. zu dessen Dynamisierung qua Verweis auf außerrechtliche Normen im konkreten Kontext Christian Hillgruber, Wert – Rechtswert – Verfassungswert: Wertungen und Umwertungen im Verfassungsrecht, in: Hennerkes /Augustin (Hrsg.), Wertewandel mitgestalten, 2012, S. 214 (218 f.); allgemein Wolfgang Kahl, Das Sittengesetz im Öffentlichen Recht, in: Kirchhof / Papier / Schäffer (Hrsg.), Festschrift für Detlef Merten, 2007, S. 57 ff. 6 Allgemein für eine Kontextualisierung und damit Verzeitlichung von Verfassungsrechtsprechung Oliver Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: Scholz / Lorenz / Pestalozza / Kloepfer / Jarass / Degenhart /ders. (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, S. 103 ff.; Christoph Schönberger, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), S. 298 (322, 324); zurückhaltend Rainer Wahl, Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013, S. 369 (376).

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Betrachtet man im Kontrast die Rechtsprechung des BVerfG zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft, fällt diese in den Kontext einer grundlegend gewandelten Gesellschaft. Krude Strafnormen sind längst beseitigt.7 Die Bestrafung männlicher Homosexualität wäre schon – in Ermangelung eines legitimen Zwecks sowie wegen gröblicher Unangemessenheit – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit heute undenkbar.8 Auch wurde den Interessen homosexueller Paare in vielfältiger Hinsicht positiv Rechnung getragen. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Koordinaten – Art. 6 Abs. 1 bis 2 GG einerseits, Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 GG andererseits – sind freilich seit 1949 konstant geblieben. Daher eignet sich die verfassungsrechtliche Bewertung der Homosexualität in besonderer Weise als Referenzrahmen, unterschiedliche Zugänge zur Verfassung in der Zeit zu veranschaulichen.9

II. Argumentationslinien: Vom Schutzabstandsgebot zum Schutzabstandsverbot Mit der Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft als besonderes familienrechtliches Institut für gleichgeschlechtliche Paare im Jahre 2001 durch das Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG),10 hat die Gesetzgebung einerseits den Bedürfnissen nach institutioneller Verankerung und Stabilisierung von dauerhaften Beziehungen Rechnung getragen. Andererseits wurden der Lebenspartnerschaft durch ihre von der Ehe ursprünglich noch deutlich abweichende Gestaltung bereits die Sollbruchstellen für den vorhersehbaren Kollisionsfall mit weiteren Gleichstellungsanliegen 7 Letzte Überbleibsel wurden mit Aufhebung des § 175 StGB durch das 29. Strafrechtsänderungsgesetz (29. StrÄndG) vom 31. Mai 1994 (BGBl. I S. 1168) beseitigt. 8 Ralf Müller-Terpitz, BVerfGE 6, 389 – Homosexuelle. Vom drastischen Wandel der sittlichen Werte, in: Menzel / ders. (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 104 (109). 9 In diesem Sinne auch Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (481). 10 Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. Februar 2001 (BGBl. I S. 266), das zuletzt durch Art. 8 des Gesetzes vom 7. Mai 2013 (BGBl. I S. 1122) geändert worden ist.

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eingebaut. Das Lebenspartnerschaftsgesetz wurde zunächst aus Sorge um die Verfassungsgerichtsfestigkeit11 verkrampft gegen den Verdacht verteidigt, eine Form der gleichgeschlechtlichen Ehe einzuführen,12 obschon genau dies das Anliegen des Gesetzes war.13 Zunächst hat das BVerfG Ansätzen, das Verhältnis von Ehe und Lebenspartnerschaft einem so genannten – aus dem „besonderen“ Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG abgeleiteten – Schutzabstandsgebot14 zu unterwerfen, eine Absage erteilt. Der Schutz der Ehe werde nicht dadurch gemindert, dass anderen Partnerschaften, denen auf Grund ihrer Gleichgeschlechtlichkeit die Ehe zur institutionellen Absicherung ihrer Lebensgestaltung praktisch nicht offen stehe, ein passendes anderes familienrechtliches Institut zur Verfügung gestellt werde.15 Dieser Ausgangspunkt ist als solcher nicht zu beanstanden,16 zumal die Qualität eines materiellen 11 Die Entscheidung aus dem Jahr 2002 ist immerhin noch mit 5:3 Stimmen ergangen; zwei Sondervoten wurden abgegeben, siehe BVerfGE 105, 313 (356 ff.). Auch die verfassungsrechtliche Kritik im Schrifttum war noch breit. 12 Volker Beck, Die verfassungsrechtliche Begründung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft, NJW 2001, S. 1894 (1898, 1900). 13 Was heute von teils den gleichen Protagonisten auch offensiv vertreten wird, vgl. nur Volker Beck, Gleichstellung durch Öffnung der Ehe, FPR 2010, S. 220 (225). 14 Hierfür etwa Peter Badura, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, 69. Erg.-Lfg. (Mai 2013), Art. 6 Abs. 1 Rn. 58c; Johann Braun, Das Lebenspartnerschaftsgesetz auf dem Prüfstand, JuS 2003, S. 21 (23); Martin Burgi, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 42. Erg.-Lfg. (August 2013), Art. 6 Rn. 47 f.; Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 48; Uwe Diederichsen, Homosexuelle – von Gesetzes wegen?, NJW 2000, S. 1841 (1843); Jörn Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 54 f.; Dagmar Kaiser, Das Lebenspartnerschaftsgesetz, JZ 2001, S. 617 (624); Günter Krings, Die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ für gleichgeschlechtliche Paare – Der Gesetzgeber zwischen Schutzabstandsgebot und Gleichheitssatz, ZRP 2000, S. 409 f.; Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 (397 ff.); Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. IV / 1, 2006, S. 475. 15 BVerfGE 105, 313 (348); bekräftigt BVerfGE 124, 199 (226). 16 Gegen ein Abstandsgebot auch BGH, FamRZ 2007, 805 (807); Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 57, 82; Michael Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe

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Schutzabstandes verfassungsrechtlich ohnehin schwer zu bemessen gewesen wäre. Die Vorlage des BVerfG wurde dann auch vom Gesetzgeber zwei Jahre später im Sinne einer weiteren Annäherung an die Ehe aufgegriffen.17 Die Entscheidung zur Zulässigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes bildete indes rückblickend den Einstieg in die sukzessive Ausformung eines Schutzabstandsverbots.18 1. Die Kehrtwende des Ersten Senats und die Angleichung im Sozial-, Steuer- und Beamtenrecht Die Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats des BVerfG hielt zwar mit dem BVerwG zunächst noch an einer Rechtfertigung der Differenzierungen aus Art. 6 Abs. 1 GG fest.19 Das BVerfG hat aber seit seiner grundlegenden Kehrtwende20 durch und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht, FPR 2010, S. 203 (205); Hans D. Jarass, in: ders. / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 15; Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 67 Rn. 43; Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 6 Rn. 31. 17 Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts vom 15. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3396). Hierzu Marina Wellenhofer, Das neue Recht für eingetragene Lebenspartnerschaften, NJW 2005, S. 705 ff. 18 Vgl. Nina Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 7 Rn. 3; Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 f.; Philipp Reimer / Matthias Jestaedt, Anmerkung, JZ 2013, S. 468 (469): „Differenzierungspflicht“, „Differenzierungsermächtigung“. Rückblickend ist es freilich schwierig zu beurteilen, inwiefern die Gleichstellungskaskade seit 2009 bereits in der Entscheidung aus dem Jahr 2002 angelegt war, was später aber vom Ersten Senat bei der rückwirkenden Bemessung der Rechtsfolgen behauptet wurde (BVerfGE 126, 400 [432]); zweifelnd Anne Sanders, Auf dem Weg zur Ehe: Lebenspartnerschaft vor dem BVerfG, FF 2012, S. 391 (393). 19 BVerfG (K), NJW 2008, 209 (210); NJW 2008, 2325 (2036 f.); BVerwGE 129, 129 (134); BVerwG, NJW 2008, 868 ff. 20 Vgl. Herbert Grziwotz, Anmerkung, FamRZ 2009, S. 1982 (1983). Die gegenläufige Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats wurde hierbei mehr oder weniger brüsk beiseite geschoben. Dies wäre prozessual zwar an sich nicht zu beanstanden, soweit es um eine bloße Kammerent-

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die Entscheidung des Ersten Senats zur Hinterbliebenenversorgung vom Juli 2009 gesetzliche Unterschiede zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft am allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gemessen, strikten Rationalitätsanforderungen unterworfen und hierbei aus dem Fehlen eines Schutzabstandsgebots – ohne dass dies zwingend gewesen wäre – ein grundsätzliches Privilegierungsverbot abgeleitet: Gehe „die Privilegierung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind“, rechtfertige „der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht. Denn aus der Befugnis, in Erfüllung und Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Förderauftrags die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren, lässt sich kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen. […] Hier bedarf es jenseits der bloßen Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der gemessen am jeweiligen Regelungsgegenstand und -ziel die Benachteiligung anderer Lebensformen rechtfertigt“.21 Das traditionelle Argument, dass die Ehe – anders scheidung ginge (vgl. § 16 Abs. 1 BVerfGG). Indes hätte man dann Ausführungen erwartet, in denen dargelegt worden wäre, dass hinter der überholten Kammerrechtsprechung keine Senatsrechtsprechung steht. Indem der Erste Senat die Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats eben „nur“ als Kammerentscheidung behandelt, unterstellt er implizit, dass die Kammer seinerzeit die Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93b BVerfGG abgelehnt hat, obwohl die dahinter stehende Frage nicht aus der früheren Senatsrechtsprechung mit hinreichender Sicherheit hätte beantwortet werden können, was dann aber eigentlich eine – zur Annahme verpflichtende – grundsätzliche Bedeutung nach § 93a Abs. 2 lit. b) BVerfGG indiziert hätte. Es schwingt insoweit unterschwellig also der Vorwurf mit, die Kammer habe ihre Befugnisse überreizt. Zudem ist die Form, in der der Erste Senat die Kammerrechtsprechung diskreditiert, nämlich mit einem lapidaren „so aber auch“ und zudem in der Zitierung einer Entscheidung des BVerwG nachgeordnet (BVerfGE 124, 199 [228]), ein doch eher ungewöhnlicher Umgang mit der früheren Rechtsprechung des eigenen Gerichts. Wenigstens einen vertieften Einstieg in eine Auseinandersetzung mit den kurz zuvor ergangenen Kammerentscheidungen hätte man erwarten dürfen. 21 BVerfGE 124, 199 (226). Seitdem ständige Rechtsprechung beider Senate, siehe für den Ersten Senat BVerfGE 126, 400 (420); BVerfG,

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als die Lebenspartnerschaft – potenziell auf Kinder angelegt sei,22 weist das BVerfG unter Bezugnahme auf den selbstständigen Familienschutz sowie die soziale Entkopplung beider Lebensformen als rechtfertigenden Sachgrund zurück.23 Die Lebenspartnerschaft soll die rechtlichen Funktionen der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare nachbilden und entspricht daher – ungeachtet historisch-kultureller Begründungsdivergenz – der Ehe als institutionalisierter Dauerbeziehung mit wechselseitiger Übernahme von Verantwortung und nicht zuletzt Unterhaltslasten,24 ökonomisch sowie sozial.25 Auch die damit einhergehende Staatsentlastung26 wird von der Lebenspartnerschaft gleichermaßen erfüllt.27 Mit der Ehe im Sinne des BVerfG vergleichbar wird die Lebenspartnerschaft daher in den allermeisten Lebensbereichen sein. Damit war von Anfang an klar, dass eine Rechtfertigung von Differenzierungen – sieht man vom Sonderproblem der Adoption ab – JZ 2013, 460 (467); für den Zweiten Senat BVerfGE 131, 239 (260); BVerfG, JZ 2013, S. 833 (836). 22 So etwa noch BGH, FamRZ 2007, 805 (807); Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 22a. 23 BVerfGE 124, 199 (226 f.); zustimmend etwa Michael Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht, FPR 2010, S. 203 (206). 24 Siehe BVerfGE 124, 199 (225). 25 BVerfG, JZ 2013, 833 (836, 838). Vgl. auch zur darin liegenden Entwicklung, statt wie noch zuvor die Unterschiede jetzt die Gemeinsamkeiten von Ehe und Lebenspartnerschaft zu betonen, zutreffend Anne Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: Emmenegger / Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 351 (362). 26 Etwa über die Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen bei der Bestimmung der Bedürftigkeit im Sozialhilferecht, vgl. § 9 Abs. 1 bis 2 SGB II, §§ 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 bis 2, 39 SGB XII. 27 Volker Beck, Die verfassungsrechtliche Begründung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft, NJW 2001, S. 1894 (1898); Reingard Bruns, Art. 6 I GG und gesetzliche Regelungen für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, ZRP 1996, S. 6 (7); Frauke Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 489 ff.; Jörg Henkel, Fällt nun auch das „Fremdkindadoptionsverbot“?, NJW 2011, S. 259 (261).

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nach den Maßstäben des BVerfG keine hinreichende Rechtfertigung mehr finden würde.28 Der formelhafte Verweis auf die Möglichkeit einer Rechtfertigung aus sachlichen Gründen ging von Anfang an ins Leere, was dem Senat kaum unerkannt geblieben sein dürfte. Das Gericht hat daher sukzessive sozial-, beamten- und steuerrechtliche Differenzierungen für gleichheitswidrig erklärt: in der Hinterbliebenenversorgung;29 im Erbschaftssteuerrecht;30 beim ehebezogenen Familienzuschlag der Stufe 1 (§ 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG);31 im Grunderwerbssteuerrecht;32 zuletzt beim Ehegattensplitting (§§ 26, 26b, 32a Abs. 5 EStG)33.34

28 Etwa Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (486). 29 BVerfGE 124, 199. 30 BVerfGE 126, 400. 31 BVerfGE 131, 231; zustimmend, allerdings für eine stärker familienbezogene Ausrichtung der Zuschläge im Rahmen der Angleichung statt Erstreckung Claus Dieter Classen, Die Lebenspartnerschaft im Beamtenrecht, FPR 2010, S. 200 ff. 32 BVerfG, NJW 2012, 2719. 33 BVerfG, JZ 2013, 833; zuvor auch FG Niedersachsen, Beschluss vom 1. Dezember 2010 – Az. 13 V 239 / 10; Nina Dethloff, Familienrecht, 30. Aufl. 2012, § 7 Rn. 37; Klaus Liebl, Die eingetragene Lebenspartnerschaft in der Einkommensteuer, DStZ 2011, 129 ff., Karlheinz Muscheler, Die Reform des Lebenspartnerschaftsgesetzes, FPR 2010, S. 227 (232 f.); Margarete Schuler-Harms, Ehegattensplitting und (k)ein Ende, FPR 2012, S. 297 (301); für eine generelle steuerrechtliche Gleichstellung Michael Messner, Lebenspartnerschaft – Steuerliche Konsequenzen des BVerfGBeschlusses vom 21. 7. 2010, DStR 2010, S. 1875 (1878). Für die Verfassungskonformität hingegen noch BFHE 212, 236; FG Köln, EFG 2005, 1362; FG Niedersachsen, DStRE 2010, 1497 (1497 f.); FG Schleswig-Holstein, EFG 2007, 189; Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 22a. 34 Konkreten – teils inzwischen gesetzlich beschlossenen – Anpassungsbedarf benennt die akribische Auflistung bei Tilman Hoppe, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7. 7. 2009 – 1 BvR 1164 / 07 – Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der Hinterbliebenenrente (VBL) verfassungswidrig, DVBl. 2009, S. 1516 (1517 ff.).

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2. Schematischer Vollzug im Adoptionsrecht Nicht von vornherein vorgezeichnet war die Angleichung im Bereich des Adoptionsrechts,35 da hier auch Rechte der Kinder neben den Eheschutz treten.36 Familienschutz und Eheschutz nach Art. 6 Abs. 1 GG sind zwar zwei selbstständige Grundrechte,37 so35 Die Adoption der leiblichen Kinder des Lebenspartners sah § 9 Abs. 7 LPartG schon bisher vor. Siehe hierzu unter umgekehrten Vorzeichen bereits BVerfGK 16, 118, wo ein Vorlagebeschluss, der die Verfassungsmäßigkeit der Stiefkindadoption nach § 9 Abs. 7 LPartG in Frage gestellt hat, mangels hinreichender Substantiierung für unzulässig befunden wurde. Für eine generelle Öffnung frühzeitig Nina Dethloff, Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare, ZRP 2004, S. 195 ff. 36 Der Gleichstellungsbedarf wurde daher hier zunächst noch zurückhaltender beurteilt, siehe Tilman Hoppe, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7. 7. 2009 – 1 BvR 1164 / 07 – Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der Hinterbliebenenrente (VBL) verfassungswidrig, DVBl. 2009, S. 1516 (1519). 37 BVerfGE 105, 313 (348); 124, 199 (225 f.); 108, 82 (112); BVerfG, JZ 2013, 460 (464); Peter Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, Kap. C Rn. 45; Susanne Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, VVDStRL 68 (2009), S. 290 (323); Frauke Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 489 f.; Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1090); Udo Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, NJW 2003, S. 993 (994); Jörg Henkel, Fällt nun auch das „Fremdkindadoptionsverbot“?, NJW 2011, S. 259 (261 f.); Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), GrundrechteKommentar, 2010, Art. 6 Rn. 32; Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3538); Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 36; ablehnend Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 14, 17. Die hiergegen teils vorgebrachten Einwände, historisch-genetisch seien Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG als Einheit verstanden worden, die sich nicht entkoppeln ließen – so Christian Hillgruber, Ehe und Familie – vom „Verfassungswandel“ bedrohte Rechtswerte, in: Pulte / Klekamp (Hrsg.), Festschrift für Manfred Spieker, 2013, S. 47 (56 f.); noch rigider Helmuth Lecheler, Schutz von Ehe und Familie, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VI, 1. Aufl. 1989, § 133 Rn. 32, 45 f.; im Ausgangspunkt ähnlich, aber differenzierter Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, 1994, S. 104 ff. – überzeugt nicht. Die teils (sehr selektiv) angeführten Materialien der Verfassungsgebung tragen diese These nicht, weil hier eine einzelne Position verallgemeinert wird, die aber als sol-

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dass sich auch Eingetragene Lebenspartner in Relation zu ihren eigenen Kindern uneingeschränkt auf das Familiengrundrecht berufen können.38 Davon zu unterscheiden ist aber die Frage, inwiefern es verfassungsrechtlich geboten ist, Zugang zu einer noch nicht bestehenden rechtlichen Elternschaft zu eröffnen.39 Die bloße soziale che weder unbestritten war noch mehrheitsfähig gewesen wäre. Art. 6 Abs. 1 GG stellt einen übergreifenden Verfassungskompromiss dar, in den nicht nur Vorstellungen der Initiatoren von CDU / CSU, sondern auch von SPD, DP und FDP eingeflossen sind, die am Zustandekommen des Grundgesetzes gleichermaßen teilhatten, was eine einseitige Deutungsübernahme verbietet. Gerade eine subjektiv-historische Auslegung müsste diesen Kompromisscharakter der Verfassungsgebung ernst nehmen. Bereits im Parlamentarischen Rat wurde aber gerade über die Frage der unehelichen Kinder und das Verhältnis von biologischer zu rechtlicher Elternschaft trefflich gestritten. Dass etwa die Beziehung der Mutter (oder des geschiedenen Elternteils) zu ihrem eigenen (!) unehelichen Kind nicht den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießen sollte, wäre ungeachtet grundlegend anderer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auch 1949 – in einer Zeit der Soldatenwitwen und Trümmerfrauen – nicht ernstlich mehrheitsfähig gewesen. Und auch die kinderlose Ehe fiel schon immer in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG, worüber auch im Parlamentarischen Rat offenbar Einigkeit bestand, was aber bereits eine partielle Entkopplung bedeutet. Dies kann hier nicht vertieft werden. Vgl. zusammenfassend zur Diskussion m. w. N. bei Klaus-Berto von Doemming / Rudolf Werner Füßlein / Werner Matz, Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, JöR 1 (1951), S. 95 ff. Vor diesem Hintergrund ist auch Art. 6 Abs. 5 GG kein ergänzendes Grundrecht für Beziehungen außerhalb des Art. 6 Abs. 1 GG (so aber Hillgruber, ebd.), sondern ein relationales Gleichstellungsgebot innerhalb unterschiedlicher Familienbeziehungen im Sinne des Abs. 1. 38 BVerfG, JZ 2013, 460 (463 f.); Volker Beck, Die verfassungsrechtliche Begründung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft, NJW 2001, S. 1894 (1897); Klaus Ferdinand Gärditz, Gemeinsames Adoptionsrecht Eingetragener Lebenspartner als Verfassungsgebot?, JZ 2011, S. 930 (937); Anne Sanders, Auf dem Weg zur Ehe: Lebenspartnerschaft vor dem BVerfG, FF 2012, 391 (395); Ariane Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie: Das Lebenspartnerschaftsgesetz und Art. 6 Abs. 1 GG, 2005, S. 119 ff.; Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. IV / 1, 2006, S. 402 f.; tendenziell Dieter C. Umbach, in: ders. / Clemens (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 6 Rn. 23; allgemein zur Weite des Familienbegriffs Hans D. Jarass, in: ders. / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 9. 39 Zutreffend differenziert hier auch das BVerfG danach, ob das Elternrecht des (nicht leiblichen) gleichgeschlechtlichen Elternteils „einfachrechtlich Anerkennung gefunden hat“, so BVerfG, JZ 2013, 460 (467). Dies gilt ungeachtet der vom BVerfG postulierten Gleichwertigkeit biologischer

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Übernahme von elternähnlicher Verantwortung genügt auch nach dem BVerfG hierfür nicht.40 Das Gericht hat das Verbot der Sukzessivadoption für Eingetragene Lebenspartner ungeachtet dessen für gleichheitswidrig befunden.41 Eine Öffnung der gemeinsamen Adoption wird man auf der Basis der Rechtsprechung nicht mehr versagen können.42 In den Mittelpunkt rückt das Gericht letztlich die für das Kindeswohl entscheidende Stabilität der Partnerbeziehung, die gleichermaßen bei der Lebenspartnerschaft vorliege,43 weshalb Kinder von Eingetragenen Lebenspartnern gegenüber solchen eines Ehepartners benachteiligt würden. Es nimmt zudem eine Differenzbetrachtung vor, wonach die Adoption bei einer ohnehin faktisch gelebten Gemeinschaft dem Kind nur rechtliche Vorteile bringe,44 was isoliert und rechtlicher Elternschaft, vgl. dazu BVerfGE 108, 82 (105 f.); BVerfGK 16, 118 (122). 40 BVerfG, JZ 2013, 460 (463), wobei das Gericht freilich – ohne dass dies entscheidungserheblich gewesen wäre – fortfährt, dem nichtelterlichen Partner kraft faktisch gelebter sozialer Rollenfunktion das Familiengrundrecht zuzugestehen (463 f.). Siehe im Übrigen bereits BVerfG (K), FamRZ 2010, 1621 (1622): „Lebenspartner haben keinen Anspruch auf Gleichbehandlung mit rechtlichen und leiblichen Vätern eines Kindes hinsichtlich der Eintragung in die Geburtsurkunde des Kindes. Insoweit unterscheiden sich die Vergleichsgruppen, da aufgrund einer tatsächlich-biologischen oder einer rechtlichen Vaterschaft zwischen den Vätern und den Kindern eine Rechtsbeziehung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten besteht, während dies bei Lebenspartnern nicht der Fall ist […]“. 41 BVerfG, JZ 2013, 460; zustimmend etwa Frauke Brosius-Gersdorf, Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft, FamFR 2013, S. 169 ff. 42 Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1091); Inge Kroppenberg, Unvereinbarkeit des Verbots der sukzessiven Stiefkindadoption durch eingetragene Lebenspartner mit dem Grundgesetz, NJW 2013, S. 2161 (2162 f.). 43 Siehe bereits HansOLG Hamburg, FamRZ 2011, 1312. 44 BVerfG, JZ 2013, 460 (465 und vor allem 466). Ein zentrales – und insoweit durchaus plausibles – Argument des Gerichts ist, dass ein Verbot der Sukzessivadoption ungeeignet sei, Kinder vor den Nachteilen eines Aufwachsens in einer gleichgeschlechtlichen „Regenbogenfamilie“ zu schützen, weil die Frage der Elternschaft an der ohnehin bestehenden sozialen Einbettung nichts ändere. Das Argument geht maßgeblich zurück auf Nina Dethloff, Adoption und Sorgerecht – Problembereiche für die eingetragenen Lebenspartner, FPR 2010, S. 208 (209).

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betrachtet nicht falsch ist,45 aber nur unvollständige Antworten auf die Problemlage gibt. Denn die vom BVerfG erzwungene Öffnung der Sukzessivadoption ist offensichtlich geeignet, vorbereitende Einzeladoptionen durch einzelne verpartnerte Partnerinnen oder Partner zu befördern, was erst die Situation schafft,46 die durch die sukzessive Adoption dann rechtlich gelöst werden soll.47 Spätestens, wenn das Einverständnis eines Elternteils durch familiengerichtliche Entscheidung zwangsweise ersetzt werden soll 45 Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1091). 46 In der Tat betont das BVerfG zutreffend, dass eine Einzeladoption ohnehin und ohne Ansehung der sexuellen Orientierung zulässig ist (BVerfG, JZ 2013, 460 [467]); gleichgeschlechtlich orientierte Menschen konnten also schon immer Kinder adoptieren. Und in Relation zu unverheirateten Heterosexuellen bietet eine Eingetragene Lebenspartnerschaft unzweifelhaft die bessere familiäre Grundlage. Fraglich ist freilich, ob die generelle Zulassung der Einzeladoption Minderjähriger den aus Art. 6 Abs. 1, 2, 5 GG folgenden Wertungen zu Gunsten der ehelichen Familie als Leitbild des Aufwachsens von Kindern entspricht. Zweifelnd Klaus Ferdinand Gärditz, Gemeinsames Adoptionsrecht Eingetragener Lebenspartner als Verfassungsgebot?, JZ 2011, S. 930 (935 f.). 47 Dies bedeutet nicht, dass eine solche Adoption ausgeschlossen sein muss, hätte aber einen sorgfältigeren Umgang mit der Frage des Kindeswohls und vor allem eine Auseinandersetzung damit erfordert, wie die kognitive Verantwortungslast zur Feststellung relevanter Tatsachen und Prognosen zwischen Gericht und Gesetzgeber zu verteilen ist. Der Verweis auf angehörte Sachverständige vermeidet hier eine institutionelle Positionsbestimmung ebenso wie eine kritische Prüfung der methodischen Belastbarkeit der Studien, die entsprechende Empirie lieferten. Im Mittelpunkt der vorgelagerten Diskussion stand vor allem eine vom BMJ in Auftrag gegebene Studie einer Mitarbeiterin des Staatsinstituts für Familienforschung an der Universität Bamberg (Marina Rupp [Hrsg.], Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, 2009). Diese Studie legt offen die Probleme der Datengewinnung dar. Da es keine amtlichen Daten über Kinder in Eingetragenen Lebenspartnerschaften gibt, wurden entsprechende Eltern in einer Informationskampagne in einschlägigen Medien aufgefordert, sich für Interviews zur Verfügung zu stellen. Dass solche Eltern, die sich freiwillig melden und Auskünfte erteilen, keine Problemfälle unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls einschließen werden, liegt auf der Hand. Dennoch wurde der Frage nach der Repräsentativität – soweit ersichtlich – nie nachgegangen. Letztlich wird daher mit allgemeinen Plausibilitätsannahmen prima facie argumentiert, was nicht unzulässig ist, aber zumindest die Frage nach kognitiver Gewaltenteilung zwischen BVerfG und Deutschem Bundestag aufgeworfen hätte.

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(§ 197 Abs. 1 Satz 2 FamFG, § 1748 BGB),48 bröckelt das scheinharmonische Gesamtbild.49 Der Verweis auf die Prüfung des Kindeswohls im Einzelfall,50 bei der dann nach den Maßstäben des BVerfG die Gleichgeschlechtlichkeit eigentlich kein zulässiger Gesichtspunkt mehr sein kann, überzeugt nicht, weil er die Leistungsfähigkeit familiengerichtlicher Verfahren überbewertet und die abstrakt-generelle Folgenverantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers vernachlässigt.

3. Zwischenbilanz Fasst man die Rechtsprechung des BVerfG zusammen, wurde der besondere Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG im Sinne eines strikten Differenzierungsverbots in Relation zur Lebenspartnerschaft letztlich aufgegeben.51 Zwar ist es weiterhin möglich und 48 Immerhin hat die Rechtsprechung für die Stiefkindadoption nicht unerhebliche Hürden errichtet, die freilich stark fallabhängig bleiben, siehe BGHZ 162, 357; siehe auch BVerfGK 6, 371. 49 Problemsensibel Inge Kroppenberg, Unvereinbarkeit des Verbots der sukzessiven Stiefkindadoption durch eingetragene Lebenspartner mit dem Grundgesetz, NJW 2013, S. 2161 (2163); ferner Marc Schüffner, Eheschutz und Lebenspartnerschaft: Eine verfassungsrechtliche Untersuchung des Lebenspartnerschaftsrechts im Lichte des Art. 6 GG, 2007, S. 546 f. Das BVerfG blendet diesen heiklen Problemfall – bewusst? – aus und verweist auf die Einwilligung des betroffenen Elternteils, siehe BVerfG, JZ 2013, 460 (467): „Der Ausschluss der Sukzessivadoption durch einen Lebenspartner ist nicht im Hinblick auf die Elternrechte Dritter gerechtfertigt. Elternrechte Dritter sind nicht betroffen, weil diese im Fall der Sukzessivadoption bereits mit der ersten Adoption erloschen sind (§ 1755 Abs. 1 BGB). Mit der Einwilligung in die Einzeladoption durch den ersten Lebenspartner (§ 1747 Abs. 1 Satz 1 BGB) haben sich die leiblichen Eltern ihres Einflusses auf weitere Adoptionsentscheidungen der Familiengerichte begeben.“ 50 BVerfG, JZ 2013, 460 (466 f.). 51 Siehe Philipp Reimer / Matthias Jestaedt, Anmerkung, JZ 2013, S. 468 (469): Es werde „Eheschutz in seiner Substanz“ zugesprochen. Kritisch Klaus Ferdinand Gärditz, Gemeinsames Adoptionsrecht Eingetragener Lebenspartner als Verfassungsgebot?, JZ 2011, S. 930 (933 f.); Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2010, S. 41 (42); Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 22a; Günter Krings, Der besondere Eheschutz zwischen Verfassung

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sogar notwendig, die Ehe – und nicht nur die Familie – besonders zu fördern und zu schützen.52 Es geht also nicht unmittelbar um eine Entwertung des Schutzniveaus,53 sondern um dessen personelle Ausweitung.54 Privilegierungen müssen aber über den Transmissionsriemen des allgemeinen Gleichheitssatzes automatisch auch Eingetragenen Lebenspartnerschaften zugesprochen werden. Aus der politischen Option einer Gleichstellung55 war verfassungsrechtlicher Zwang geworden.

III. Die Eingetragene Lebenspartnerschaft als Laboratorium der Grundrechtsinterpretation Das Recht der Eingetragenen Lebenspartnerschaft hat sich hierbei als ein Laboratorium der Grundrechtsinterpretation erwiesen.56 Durch das kollegialrichterliche Amalgamieren von verschiedenen Interpretationsansätzen und Leitbildern sowie durch – alund Verfassungsrecht – Der Wandel des Art. 6 Abs. 1 GG in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, in: Höfling (Hrsg.), Festgabe für Karl Heinrich Friauf, 2011, S. 269 (272 ff.); Volker Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, NJW 2011, 819 (821). 52 Betont etwa bei BVerfGE 124, 199 (224); 131, 219 (259 f.). 53 Zutreffend Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3540). 54 Daher überzeugt die Kritik bei Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 (27), dass der Schutz der Ehe leer laufe, weil er auf den des Art. 3 Abs. 1 GG zurückfalle, in diesem Punkt nicht. Denn weiterhin sind besondere Privilegierungen zum Schutz der Ehe (z. B. in Relation zu nichtehelichen Lebens- oder sonstigen Wirtschaftsgemeinschaften) notwendig, nur dass an diesen eben die Lebenspartner teilhaben. Allenfalls ließe sich argumentieren, dass durch eine Verbreiterung der Schutzsubjekte bei knappen Ressourcen der Druck auf eine Herabsenkung des Schutzniveaus steige. Dies ist aber gerade mit Blick auf die kleine Zahl der betroffenen Lebenspartnerschaften nicht ernstlich zu besorgen. 55 Zutreffend Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), GrundrechteKommentar, 2010, Art. 6 Rn. 32. 56 Vgl. auch Philipp Reimer / Matthias Jestaedt, Anmerkung, JZ 2013, S. 468 (471): Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als „grundrechtsdogmatisches Experimentierfeld“.

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lenfalls richtersoziologisch erklärbare, aber nicht normativ-funktional zu rechtfertigende – extensive obiter dicta verlieren die Entscheidungen an methodischer Stringenz und damit an juristischer Überzeugungskraft.57

1. Eigenrationalität der Verfassung oder rechtsexogene Nachrationalisierung? Verfassungssystematisch war es von Anfang an inkonsistent, einerseits zwar daran festzuhalten, dass die Eingetragene Lebenspartnerschaft weiterhin keine Ehe ist, andererseits aber zwingend den gleichen Schutz wie für eine Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG zu fordern.58 Art. 6 Abs. 1 GG mutiert faktisch zum Schutzgebot: „Ehe, Eingetragene Lebenspartnerschaft und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“59 Schon die Semantik zeigt, dass dahinter eine grundlegende politische Weichenstellung steht, die aus dem geltenden Verfassungs57 Man mag die Rechtsprechung auch rein institutionell deuten und erklären, vgl. Stephan Rixen, Das Ende der Ehe? – Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG, JZ 2013, S. 864 (872 f.). Dem soll hier nicht nachgegangen werden. Denn eine rein institutionelle Perspektive – allgemein Christoph Möllers, Individuelle Legitimation: Wie rechtfertigen sich Gerichte?, in: Geis / Nullmeier / Daase (Hrsg.), Der Aufstieg der Legitimitätspolitik, 2012, S. 398 ff.; unter bewusster Ausblendung aller Legitimationsfragen Marion Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), S. 257 (262) – kann zwar Beobachtungswert haben, wird daher weder dem Anspruch auf Rechtlichkeit bzw. juristische Begründbarkeit noch dem Legitimationsbedarf von Herrschaft wirklich gerecht. Etwa die Pluralität der Richterbank, die insoweit sofort als Argument ins Spiel gebracht würde, soll lediglich institutionell einer einseitigen Perspektivenverengung bei der Auslegung entgegenwirken, was geltendes Verfassungsrecht ist, soll indes weder von der Pflicht zu stringenter juristischer Begründung entbinden, noch das gesellschaftspolitische Meinungsspektrum abbilden. 58 Kritisch Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2010, S. 41 (43 f.); ferner Anne Sanders, Auf dem Weg zur Ehe: Lebenspartnerschaft vor dem BVerfG, FF 2012, S. 391 (394), die freilich den Widerspruch durch Öffnung der Ehe beseitigen möchte. 59 Vgl. auch die pointierte Überschrift des Beitrags von Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 ff.

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recht nicht begründbar ist: Dass Art. 6 Abs. 1 GG bei subjektivhistorischer Betrachtung die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner voraussetzte, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Das BVerfG hat hieraus den methodisch richtigen Schluss gezogen, dass die Verschiedengeschlechtlichkeit zugleich Tatbestandsmerkmal des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs ist.60 Denn gerade die 60 BVerfGE 10, 59 (66); 29, 166 (176); 53, 224 (245); 105, 313 (345); 115, 1 (19); BVerfG (K), NJW 1993, 3058; ebenso Peter Badura, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, 69. Erg.-Lfg. (Mai 2013), Art. 6 Rn. 42, 58; Dagmar Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 9; Volker Epping, Grundrechte, 5. Aufl. 2012, Rn. 509 Hans D. Jarass, in: ders. / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 4; Friederike Gräfin Nesselrode, Ehe und Familie, in: Kube / Mellinghoff / Morgenthaler / Palm / Puhl / Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, § 56 Rn. 7; Björn Klein, Das neue Eheverbot der bestehenden Eingetragenen Lebensgemeinschaft, 2008, S. 18; Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 67 Rn. 3, 16; Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 6 Rn. 17; Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 45, 47; Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 (397); Arnd Uhle, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 4; Dieter C. Umbach, in: ders. / Clemens (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 6 Rn. 22; Kay Windthorst, in: Gröpl / ders. / von Coelln (Hrsg.), Studienkommentar Grundgesetz, 2013, Art. 6 Rn. 1, 15. Gegenansicht etwa bei Kai Möller, Der Ehebegriff des Grundgesetzes und die gleichgeschlechtliche Ehe, DÖV 2005, S. 64 (68 ff.), der behauptet, die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG, die für eine Gleichstellung spreche, müsse auch die Interpretation des Art. 6 Abs. 1 GG steuern, weil es anderenfalls zu „Wertungswidersprüchen“ kommen solle (70). Dies ist aus verschiedenen Gründen methodisch angreifbar, vor allem aber systematisch brüchig. Eine andere, immerhin in sich geschlossene Interpretationsvariante des Art. 6 Abs. 1 GG wäre immerhin diskutabel, wird aber erstaunlicherweise – soweit ersichtlich – nicht diskutiert: Nicht alles, was die Verfassung voraussetzt, vertatbestandlicht sie auch. Verfassungsvoraussetzungen werden nur kraft normativer Rezeption zum Verfassungsinhalt. So wäre zu erwägen gewesen, ob nicht die Frage nach der Geschlechtszuordnung der Partner 1949 so abwegig und damit diskussionsunbedürftig war, dass sie eben mangels Thematisierung überhaupt keinen Eingang in den subjektiven Normgeberwillen gefunden hat, Art. 6 Abs. 1 GG also mangels positiver Festlegung schlicht indifferent geblieben ist. Der Tatbestand der Ehe wäre dann ein Teilblankett, das auf die Institutionalisierungsleistungen des einfachen Gesetzes verweist, auf die die Ehe als rechtliche Institution ohnehin angewiesen ist. Überzeugend wäre eine solche Deutung aus den bezeichneten

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Institutsgarantie der Ehe erfährt ihre begriffsbildende Sinngebung aus dem Herkömmlichen und der vorverfassungsrechtlichen Prägung der Institution.61 Damit ist die Eingetragene Lebenspartnerschaft – obschon sie parallele Funktionen übernehmen soll – keine Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG.62 Dann kann aber aus der bloßen Vergleichbarkeit der Funktionen auch nicht auf ein Gebot der Gleichbehandlung im gerade privilegierten Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG geschlossen werden. Die Besonderheit des Schutzes der Ehe setzt die Ehe relational von vornherein nur von anderen familienrechtlichen StatusverhältnisGründen freilich nicht. Vgl. zu einem durchaus parallelen Problem U.S. v. Windsor, Executor of the Estate of Spyer, et al., Supreme Court of the United States, 12-307 U.S. 1 (2013): Dort ging es um eine bundesrechtliche Ausnahme von der grundstücksbezogenen Erbschaftssteuer, auf die sich die Hinterbliebene eines gleichgeschlechtlichen Paares berief. Familienrecht und damit die Ehedefinition sind jedoch kompetenzrechtlich den Staaten zugeordnet, weshalb aus dem Ehebegriff im Kern ein föderaler Konflikt wurde. Die Mehrheit wählte indes den Kunstgriff über den 5. Verfassungszusatz, den nach gliedstaatlichem Recht gewährten Status bundesverfassungsrechtlich vor Ungleichbehandlungen abzusichern. Trotz insoweit völlig anderer Konfliktlage, namentlich dem Fehlen einer Institutionsgarantie, ähneln die Argumente von Minderheit und Mehrheit erstaunlich der hiesigen Diskussion. 61 Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 47; Kay Windthorst, in: Gröpl / ders. / von Coelln (Hrsg.), Studienkommentar Grundgesetz, 2013, Art. 6 Rn. 15; insoweit nicht überzeugend Kai Möller, Der Ehebegriff des Grundgesetzes und die gleichgeschlechtliche Ehe, DÖV 2005, S. 64 (66 f.); und Anne Sanders, Ehegattensplitting für Lebenspartner vor dem BVerfG, NJW 2013, S. 2236 (2239), die darauf verweisen, dass im Kontext der Verfassungsgebung männliche Homosexualität noch weitgehend unangefochten strafbar war und daher dem grundsätzlichen Wertewandel durch Verfassungsinterpretation Rechnung zu tragen sei. Diese Anpassungsleistung, die den Begriffsinhalt von Art. 6 Abs. 1 GG grundlegend ändern und nicht lediglich an neue Kontexte anpassen würde, ist jedoch eine Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers. 62 Stellvertretend Hans D. Jarass, in: ders. / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 5. Für eine Einbeziehung der Lebenspartnerschaft in den verfassungsrechtlichen Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG eingehend Anne Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: Emmenegger / Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 351 (365 ff.).

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sen sowie von partnerschaftlichen Beziehungen (wie der nichtehelichen Lebensgemeinschaft) ab, die überhaupt als funktionale Grundlage der persönlichen Gestaltung von Lebensgemeinschaften dienen können.63 Der Vergleich der Ehe mit einer Kapitalgesellschaft, einem Naturdenkmal oder einem Brutvogelhabitat wäre sub specie Schutzniveau unsinnig.64 Die familienrechtliche Vergleichbarkeit der Institutionen ist insoweit also gerade tatbestandliche Voraussetzung einer sinnvollen relationalen Beurteilung, in der das Ehegrundrecht zum Tragen kommen kann, und damit von vornherein ungeeignet, gegenläufig die Basis für eine Angleichungspflicht zu legen. Dann erscheint es aber systematisch erst recht nicht erklärbar, weshalb gerade eine Privilegierung der Ehe gegenüber der Lebenspartnerschaft, die der Ehe vergleichbare Funktionen übernehmen soll,65 als strukturell unzulässig bewertet wird. Damit geht es auch nicht darum, ob die Förderung anderer Partnerschaften die Ehe als Institution gefährdet, sondern schlicht darum, dass eine Privilegierung der Ehe als Lebens-, Beistands-, Unterhalts- und Wirtschaftsgemeinschaft auf eine verfassungsimmanente Rechtfertigung verweisen kann.66 Der gegenüber anderen 63 Vgl. auch Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 (397): Privilegierung der Ehe „im Bewusstsein der verschiedenen Möglichkeiten menschlichen Gemeinschaftslebens“. 64 Zur Illustration: Niemand würde ernstlich eine gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßende Benachteiligung der Ehe auch nur diskutieren, nur weil die Ehe nicht über die Möglichkeit verfügt, die Haftung auf das Gesellschaftsvermögen zu begrenzen (§ 13 Abs. 2 GmbHG), oder börsenhandelsfähig (§ 32 BörsG) ist. 65 Susanne Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, VVDStRL 68 (2009), S. 290 (326 mit Fn. 136); Claus Dieter Classen, Erwiderung: Der besondere Schutz der Ehe – aufgehoben durch das BVerfG?, JZ 2010, S. 411. 66 BGH, FamRZ 2007, 805 (807); Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 50; Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26; hiergegen mit dem BVerfG etwa Michael Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht, FPR 2010, S. 203 (205). In der Sa-

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Lebensgemeinschaften „besondere“ Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG ist dann konsequenterweise – und entgegen dem BVerfG67 – auch gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) insoweit spezieller, als eine verfassungsimmanente Privilegierungsentscheidung zu Gunsten der Ehe getroffen wurde,68 die der Gesetzgeber im Einzelnen ausfüllen kann und che ist dies ein Spezialitätsargument in anderer Umkleidung. Dass Art. 6 Abs. 1 GG nicht regelt, wie andere Lebensformen zu behandeln sind, ist richtig, aber kein stichhaltiger Einwand, der die Kritik an der Rechtsprechung zu entkräften vermag. So aber Claus Dieter Classen, Erwiderung: Der besondere Schutz der Ehe – aufgehoben durch das BVerfG?, JZ 2010, S. 411. Denn es geht ja nicht darum, dass positiv abgeleitet werden soll, welche Rechtsfolgen an die Eingetragene Lebenspartnerschaft zu knüpfen sind, sondern nur darum, eine gesetzliche Privilegierung der Ehe zu rechtfertigen. 67 Zutreffend Jörg Henkel, Fällt nun auch das „Fremdkindadoptionsverbot“?, NJW 2011, S. 259 (262): Das BVerfG habe das früher ganz überwiegend anerkannte Verhältnis von Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG umgekehrt. Der zugleich angestellte Vergleich mit der Wechselwirkungslehre im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 GG, wonach nunmehr auch Art. 6 Abs. 1 GG im Lichte anderer Grundrechte auszulegen sei, hinkt freilich insoweit, als Art. 3 Abs. 1 GG als Gleichheitsgrundrecht eine andere Struktur hat, die sich nicht ohne weiteres zum Abwägungsbelang umformulieren lässt. 68 BVerfGK 12, 169 (175); BFHE 212, 236; hiergegen aber Claus Dieter Classen, Erwiderung: Der besondere Schutz der Ehe – aufgehoben durch das BVerfG?, JZ 2010, S. 411. Es hätte dann auch nahe gelegen, den besonderen Schutz der Ehe innerhalb der Familie zu diskutieren. Dass eine Privilegierung der ehelichen Familie gegenüber anderen Formen des familiären Zusammenlebens jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen ist, zeigt auch die frühere – konzediert: eine Sondersituation betreffende – Rechtsprechung des BVerfG, siehe BVerfGE 117, 316 (328 f.): „Der Gesetzgeber durfte bei seiner Entscheidung über die Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung daran anknüpfen, dass das Bürgerliche Gesetzbuch in Ausformung der besonderen Schutzgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG in Ehegatten Partner einer auf Lebenszeit angelegten Gemeinschaft sieht und sie gesetzlich anhält, für einander Verantwortung zu tragen (§ 1353 Abs. 1 BGB). […] In der nichtehelichen Lebensgemeinschaft kann diese Verantwortung nur freiwillig wahrgenommen werden. Die Ehe ist nach wie vor die rechtlich verfasste Paarbeziehung von Mann und Frau, in der die gegenseitige Solidarität nicht nur faktisch gelebt wird, solange es gefällt, sondern rechtlich eingefordert werden kann […]. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass die Ehe auch in einer solchen Situation, in der sich Paare ihren Kinderwunsch im Wege der künstlichen Befruchtung er-

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ggf. muss. In einer Kammerentscheidung aus dem Jahr 1993 hielt dies das BVerfG noch explizit für „nicht zweifelhaft“.69 Man mag diese Fixierung des Ehebegriffs auf heterosexuelle Lebensgemeinschaften für gesellschaftlich überholt halten und – gerade mit Blick auf die fortschreitende soziale Ablösung von Ehe und Familie – in einer Einbeziehung der Lebenspartnerschaft in den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG eine konsequente Fortschreibung des säkularen Ehegedankens erblicken.70 Dies sind indes verfassungspolitische Erwägungen, für die – gleich wie gut sie begründet sein mögen – der Weg der Verfassungsänderung durch Erweiterung des Art. 6 Abs. 1 GG einzuschlagen wäre.71 Für eine solche Verfassungsänderung müsste man politisch um die qualifizierten Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) werben. Wenn es tatsächlich nur um ein Update geht, das die Verfassung auf den Stand gesellschaft-

füllen wollen, die Grundlage für eine erhöhte Belastbarkeit der Partnerschaft darstellt.“ Ferner Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1092). 69 BVerfG (K), NJW 1993, 3058: „Beschränkt die speziellere Norm des Art. 6 Abs. 1 GG die verfassungsrechtlich gewährleistete Eheschließungsfreiheit auf Lebensgemeinschaften von Mann und Frau, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß eine verfassungsrechtliche Verbürgung desselben Inhalts, aber ohne die Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Partner, nicht aus den generellen Normen des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 oder aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleitet werden kann.“ 70 Hierfür Anne Sanders, Ehegattensplitting für Lebenspartner vor dem BVerfG, NJW 2013, S. 2236 (2239). 71 Zutreffend Christian von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 50; Dagmar Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 9; Walter Pauly, Sperrwirkungen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, NJW 1997, S. 1955 (1956 f.); Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 47; Kay Windthorst, in: Gröpl / ders. / von Coelln (Hrsg.), Studienkommentar Grundgesetz, 2013, Art. 6 Rn. 15. Ein Anlauf hierzu wurde bislang erstaunlicherweise nicht unternommen. Stattdessen wurde erwogen, Art. 3 Abs. 3 GG zu ergänzen (dazu unten Fn. 85), was jedoch weder die gewollte Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe tragen noch der Lebenspartnerschaft als solcher gerecht würde. Zum einen ließe eine solche Verfassungsänderung den Privilegierungstatbestand der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG unberührt. Zum anderen würden Ehe und Lebenspartnerschaft gleichermaßen auf einen organisatorischen Modus zur Verwirklichung sexueller Identität reduziert.

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licher Entwicklung hebt, wird man diese Mehrheiten im politischen Verfahren erlangen können; wenn nicht, ist es vielleicht doch komplizierter, zumal die kulturelle Trägheit des Rechts ihren Eigenwert hat, der dem materialen Rationalisierungsstreben praktische Grenzen zieht. Und auch wer eine Anpassung der Verfassung verweigert, muss hierfür politisch „den Kopf hinhalten“.72 Solange jedenfalls eine entsprechende Verfassungsänderung nicht erfolgt ist, lässt sich gesellschaftlicher Wandel – wie auch immer dieser festzustellen sein soll73 – nicht gegen kontrafaktisch stabile Norminhalte ausspielen.74 Kontingente Festlegungen des Verfassungsgebers folgen keinem übergeordneten Rationalitätsmaßstab, sondern sind als solche gerade in ihrer kompromisshaft-politischen Kontingenz hinzunehmen.75 Innerhalb des positiv-rechtlichen Bezugssystems, durch das normiert wurde, was gleich behandelt wer-

72 Genau darauf zielten verschiedene Anträge der Opposition in der 17. Legislaturperiode, die allesamt von vornherein keine Verwirklichungschancen hatten, aber dazu dienten, der Regierungsmehrheit Begründungen für die Verweigerung der Gleichstellung abzunötigen und sie insoweit bloßzustellen. In einem demokratischen Prozess ist dies selbstverständlich legitim, auch weil der Zwang zur konsequenten Argumentation ein wesentlicher Hebel der Opposition ist, mittelbar auf den öffentlichen Gesetzgebungsprozess Einfluss zu nehmen. 73 Ein diffuser Wandel gesellschaftlicher Anschauungen würde auf sozialwissenschaftliche Empirie verweisen, die aber kaum aussagekräftig feststellbar und zudem mit dem Problem beladen ist, dass gesellschaftliche Mehrheitsanschauungen ihrerseits gerade keinen Minderheitenschutz gewährleisten. Zutreffend Anne Sanders, Auf dem Weg zur Ehe: Lebenspartnerschaft vor dem BVerfG, FF 2012, S. 391 (394). 74 Zu den daraus resultierenden – von einer institutionell ausdifferenzierten Rechtsordnung aber auszuhaltenden – Spannungslagen siehe Ulrike Lembke, Familienformen im Wandel – Das Sorgerecht für Väter nichtehelicher Kinder, Jura 2011, S. 937 (942). 75 Vgl. Horst Dreier, Bioethik. Politik und Verfassung, 2013, S. 72; Christian Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 15 Rn. 16; Christoph Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 47 (56 f.); im vorliegenden Kontext Klaus Ferdinand Gärditz, Gemeinsames Adoptionsrecht Eingetragener Lebenspartner als Verfassungsgebot?, JZ 2011, S. 930 (934); Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 (27).

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den soll und was nicht, verbietet sich eine weitergehende Rationalitätsprüfung.76 Eine demokratische Verfassung kann als Konsequenz politischer Selbstbestimmung in gleicher Freiheit eben auch Ungleichheiten konstitutionalisieren.77 Zum demokratischen Rechtsstaat gehört es daher auch, Kontingenz und Dezision als Voluntarismusfolgen auszuhalten. Diese autonome Eigenrationalität der Verfassung wurde vom BVerfG letztlich auf dem Altar eines juridischen Rationalitätsfetisch geopfert. Die Spezialität des besonderen Eheschutzes nach Art. 6 Abs. 1 GG bedeutet nicht, dass Art. 3 Abs. 1 GG im Verhältnis von Ehe und Lebenspartnerschaft überhaupt nicht zum Tragen kommen könne. Überall dort, wo es nicht um den unmittelbaren Schutz der Funktionen der Ehe als Lebens-, Beistands-, Unterhalts- und Wirtschaftsgemeinschaft geht, bedürfen Differenzierungen selbstverständlich einer Rechtfertigung.78 Wo die Verfassung schon thematisch keinen Schutz der Ehe mehr gebietet, endet auch die tatbestandliche Spezialität.79 Freilich steht dem Gesetzgeber bei der 76 Insoweit erübrigt sich auch die Frage nach der konkreten Funktion des Eheschutzes. Hierauf abstellend aber Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1089). Wie hier Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 f. 77 Demokratische Gleichheit ist nicht materielle Gleichheit, sondern formale Gleichheit in der Legitimation von Herrschaft und damit in den Chancen der Herrschaftserlangung. Eine Demokratie ist als Konsequenz individueller Selbstbestimmung begriffsinhärent nur auf inhaltliche Offenheit gegenüber politischen Meinungen angewiesen, die inhaltsindifferent als formal-abstrakt gleichwertig behandelt werden müssen. Demokratietheoretisch vor allem Hans Kelsen, Vom Wert und Wesen der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 53 ff.; aus jüngerer Zeit etwa Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), S. 157 (169); Laura Stein, Speech Rights in America. The First Amendment, Democracy, and the Media, 2006, S. 9 ff.; insoweit für eine demokratische Funktion der „politischen“ Grundrechte Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wie werden Grundrechte im Verfassungsstaat interpretiert?, EuGRZ 2004, S. 598 (601). 78 Etwa die inzwischen gleichlaufende Privilegierung im Staatsangehörigkeitsrecht (§ 9 StAG) ist im Grundsatz durch Art. 3 Abs. 1 GG geboten, weil der erleichterte Zugang zur (gemeinsamen) Staatsangehörigkeit nicht die von Art. 6 Abs. 1 GG umfassten Ehefunktionen betrifft.

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Frage, wie er den Eheschutz verwirklichen möchte, jeweils ein kontextabhängiger Gestaltungsspielraum zu. Der speziellere Eheschutz des Art. 6 Abs. 1 GG greift dann auch dort, wo der Gesetzgeber zur Erfüllung seiner qualifizierten Schutzpflicht ein vertretbares, aber nicht alleinig zwingendes Schutzkonzept gewählt hat. Daneben verbleibt den Eingetragenen Lebenspartnern ungeschmälert der freiheitsgrundrechtliche Schutz der Verhältnismäßigkeit bei staatlichen Eingriffen, die den faktischen Bestand oder die Gestaltungsfreiheit der vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) geschützten Lebensgemeinschaft betreffen, was nicht selten zu ähnlichen Ergebnissen führen wird.80 2. Die sexuelle Identität als ungeschriebenes Gleichheitsgrundrecht? Wenig überzeugend ist auch die Überhöhung der sexuellen Identität zu einem Meta-Gleichheitsgrundrecht. Ausgangspunkt der strikten Gleichheitsprüfung des BVerfG war, eine Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung explizit – freilich ohne dogmatisch tragfähige Begründung81 – in die Nähe der strikten Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG zu rücken und entsprechend rigide Maßstäbe anzulegen.82 Diese schon für sich 79 In diese Richtung geht jüngst auch ein anderer Ansatz, das wechselseitige Verhältnis von Ehe und Lebenspartnerschaft verfassungsrechtlich zu bestimmen: Was von Art. 6 Abs. 1 GG geboten sei, genieße eine verfassungsimmanente Privilegierung, die durch einen Rekurs auf den allgemeinen Gleichheitssatz nicht unterlaufen werden dürfe. Darüber hinaus gehende einfach-gesetzliche Privilegierungen müssten sich gegenüber der Lebenspartnerschaft vor Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen, so Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2013, S. 843 (844). 80 Dies gilt namentlich für den Schutz der Lebenspartnerschaft im Aufenthaltsrecht, in dem inzwischen eine Angleichung vollzogen wurde, siehe § 27 Abs. 2, § 55 Abs. 3 Nr. 2, § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 4 AufenthG. 81 Mit Recht kritisch Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 f. 82 BVerfGE 124, 199 (220, 226); 131, 239 (256); BVerfG, JZ 2013, 833 (834). Bemerkenswerterweise taucht dieser Bezug in der Entscheidung zur Sukzessivadoption nicht auf, wo lediglich – und insoweit durchaus plausi-

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methodisch prekäre Analogiebildung zu abschließend katalogisierten83 Schutztatbeständen ist umso mehr verfehlt, als die sexuelle Orientierung nicht nur außerhalb des Kognitionshorizonts der Verfassungsgebung lag,84 sondern gerade auch Anträge zur Ergänzung des Katalogs strikter Diskriminierungsverbote wiederholt keine Mehrheit für eine Verfassungsänderung fanden.85 Der inspirative Rekurs auf exogene Rechtsquellen,86 die von vornherein nicht den Inhalt des Grundgesetzes beeinflussen können,87 unterstreicht einen Willen zum rechtspolitischen Anschluss, liefert aber keine verfassungsdogmatisch belastbaren Begründungen.88 bel – ausgeführt wird, dass ein gegenüber dem bloßen Willkürverbot strengerer Maßstab gelte, so BVerfG, JZ 2013, S. 460 (465). 83 Zutreffend Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3538 f.). 84 Offen konzediert bei BVerfG, JZ 2013, 460 (463). 85 Siehe zuletzt die oppositionellen, im Wesentlichen gleichlautenden und nur in der Begründung geringfügig differierenden Gesetzesentwürfe: BT-Drs. 17 / 88; BT-Drs. 17 / 254; BT-Drs. 17 / 472. Diese Entwürfe erreichten noch nicht einmal einfache Mehrheiten. Ein entsprechender Vorschlag im Rahmen der Verfassungsreform 1994 war ebenfalls gescheitert. 86 BVerfGE 124, 199 (219). 87 Dies kann hier nicht vertieft werden. Siehe zur weitläufigen Diskussion stellvertretend m. w. N. Klaus Ferdinand Gärditz, BVerfG v. 4. 5. 2011, 2 BvR 2365 / 09 u. a., NJW 2011, 1931 – Sicherungsverwahrung: Tastende Orientierung zwischen Polizeirecht und Strafrecht, Straßburg und Karlsruhe, in: Menzel / Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 901 ff. Selbst Befürworter des Konzepts international offener Interpretation räumen ein, dass methodische Probleme vom BVerfG nicht gelöst wurden, so Mehrdad Payandeh / Heiko Sauer, Menschenrechtskonforme Auslegung als Verfassungsmehrwert: Konvergenzen von Grundgesetz und EMRK im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung, Jura 2012, S. 289 (295). 88 Kritisch daher Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2010, S. 41 (43); ferner Philipp Reimer / Matthias Jestaedt, Anmerkung, JZ 2013, S. 468 (475); zustimmend aber Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3539 f.). Auch als bloße Rechtserkenntnisquelle ist Art. 21 EU-Grundrechtecharta nicht unmittelbar geeignet, weil dort mit dem Schutz der sexuellen Orientierung ein Gleichheitsgrundrecht eingefügt wurde, das im nationalen Recht bislang kein Spiegelgrundrecht kennt und daher auch keine Sachargumente für eine Interpretation liefern kann.

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Der Zweite Senat hat in seiner Entscheidung zu familienbezogenen Besoldungsbestandteilen entsprechende Kritik im Schrifttum89 immerhin aufgegriffen, sie aber mit einer bemerkenswerten Begründung zurückgewiesen: Das Gericht prüft nicht, ob eine Einbeziehung der sexuellen Identität positiv auf einen hinreichenden Willen des Verfassungsgebers gestützt werden kann, sondern stellt negativ darauf ab, dass sich ein entgegenstehender Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers nicht feststellen lasse. Denn zuletzt sei die Einfügung des Merkmals der sexuellen Identität in Art. 3 Abs. 3 GG von der Bundestagsmehrheit mit dem Argument abgelehnt worden, eine Erweiterung sei nicht erforderlich, weil sich nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Schutz vor Diskriminierungen wegen der sexuellen Identität durch Art. 3 Abs. 1 GG mittlerweile mit dem Schutz nach Art. 3 Abs. 3 GG decke.90 Mit dieser Selbstreferenz hat sich das Gericht als Dialogpartner auf Augenhöhe mit dem verfassungsändernden Gesetzgeber selbst inthronisiert. Bloße Motive einfacher Mehrheiten, eine – von welcher Minorität auch immer eingebrachte – Verfassungsänderung nicht zu beschließen, können freilich nicht mit einem positiven Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers gleichgesetzt werden, der den Norminhalt prägt und insoweit bei subjektiv-historischer Auslegung zu berücksichtigen wäre. Dass der Gesetzgeber hier zudem letztlich nur vor der Rechtsprechung des BVerfG kapituliert hat, gibt der Begründung zusätzlich einen schalen Beigeschmack. Das grundrechtliche Schutzniveau wird hierdurch dauerhaft verzerrt: Die Entfaltung der individuellen sexuellen Orientierung wird zwar zweifellos vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) erfasst,91 ist insoweit aber auch 89 Z. B. Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2010, S. 41 (43); Günter Krings, Der besondere Eheschutz zwischen Verfassung und Verfassungsrecht – Der Wandel des Art. 6 Abs. 1 GG in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, in: Höfling (Hrsg.), Festgabe für Karl Heinrich Friauf, 2011, S. 269 (273). 90 BVerfGE 131, 239 (257). 91 Etwa BVerfGE 115, 1 (14); 121, 175 (191 f.); BVerfG (K), NJW 1997, 1632 (1633); Matthias Cornils, Sexuelle Selbstbestimmung und ihre Grenzen, ZJS 2009, S. 85; Christine Hohmann-Dennhardt, Gleichheit nur für Heteros? Keine Diskriminierung wegen der „sexuellen Identität“, KJ Bei-

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nur relativ – durch das Verhältnismäßigkeitsgebot – vor Beschränkungen geschützt.92 Und Art. 3 Abs. 1 GG – sowie spezieller Art. 33 Abs. 2 GG – schützt generell vor einer Heranziehung willkürlicher Differenzierungskriterien, worunter in den meisten Lebenskontexten (außerhalb des tatbestandlichen Radius des Art. 6 Abs. 1 GG) auch eine Berücksichtigung der sexuellen Orientierung fallen wird. Eine Annäherung an Art. 3 Abs. 3 GG überhöht die sexuelle Identität jedoch zu einem grundsätzlich relativierungsfeindlichen Belang, der den differenzierten verfassungsrechtlichen Freiheitsschutz gleichheitsrechtlich auf Maximalniveau nivelliert. Weshalb die sexuelle Identität gegenüber anderen persönlichen Identitäten einen derart herausgehobenen Schutz genießen soll, verdeutlicht das BVerfG nicht. Die menschliche Persönlichkeit hat viele Facetten, die individuelle (sozial korrelierte) Identitäten ausmachen und für die Betroffenen von großer Bedeutung sind, die die Verfassung aber jenseits spezieller Freiheitsrechte ebenfalls lediglich den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG unterwirft und an das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG bindet. Die Rechtsprechung des BVerfG führt relational hingegen zu einer generellen Privilegierung des Sexuellen, die nicht begründet wird und verfassungsrechtlich nicht sanktioniert, im Zeitkontext aber aufschlussreich ist. Das damit eingeführte sexualistische Argumentationsmuster trägt zugleich den Keim künftiger Expansion in sich, weil es über den Diskriminierungsschutz Homosexueller und die institutionelle Mimesis der Ehe durch die Lebenspartnerschaft hinausweist,93 ohne Argumentationsstruktur, theoretische heft 1 / 2009, S. 125 (127); speziell zur Homosexualität Kai Möller, Der Ehebegriff des Grundgesetzes und die gleichgeschlechtliche Ehe, DÖV 2005, S. 64 (68). 92 Beschränkungen der sexuellen Entfaltungsmöglichkeiten sind an den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen und können daher, sofern hinreichende Gemeinwohlbelange zur Verfügung stehen, gerechtfertigt werden. Das – konzediert: seinerseits nicht unproblematische – Urteil des BVerfG zum Geschwisterinzest hat dies noch im Jahr 2008 bestätigt, siehe BVerfGE 120, 224 ff. 93 Gleichheitsschutz der sexuellen Identität ist weiter angelegt als die durch die Lebenspartnerschaft eingefangene Homosexualität, siehe etwa Susanne Baer, Sexuelle Identität als Grundrecht?, Der Streit 2010, S. 102 (103). Kritisch gerade wegen der Unbestimmtheit des Identitätsbegriffs

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Basis und Grenzen transparent zu machen. Es verstellt zudem den Blick auf das – auch rechtspolitisch sinnvolle – Proprium der Eingetragenen Lebenspartnerschaft, emotional-zwischenmenschlichen Beziehungen einen institutionellen Rahmen zur stabilen, dauerhaften und gegenseitigen Übernahme von Verantwortung und Beistand anzubieten. Weder die Ehe noch die Lebenspartnerschaft lassen sich insoweit auf einen Modus zur Verwirklichung sexueller Identität reduzieren.94 Wenn das Gericht in seinen Entscheidungen zum Adoptionsrecht und zum Ehegattensplitting nunmehr deutlicher die institutionelle Dimension der Lebenspartnerschaft in den Vordergrund rückt, statt sexuelle Identitäten zu pflegen, ist dies ausdrücklich zu begrüßen.95 3. Bekenntnisse dynamischer Verfassungsinterpreten Die Argumentation des BVerfG nährt aber auch weitere Zweifel. Der Rechtsprechung seit Juli 2009 haftet das erkennbare Bemühen an, gesellschaftlichen Wandel durch Verfassungsinterpretation abzubilden.96 Bereits die Bezugnahme auf eine – wie auch immer zu bestimmende – gesellschaftliche „Realität“97 zur Untermauerung der dogmatischen Neuvermessung des Verhältnisses von Eheschutz und Gleichheitssatz trug diese Handschrift. In der Entscheidung zur Sukzessivadoption versteigt sich der Erste Senat schließlich in einem obiter dictum zu der Aussage, dass die gewandelten gesellschaftlichen Einstellungen zur Homosexualität heute zu einer und seiner Anfälligkeit für modische Deutungen Oliver Lepsius, Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Sonderrecht, Jura 2010, S. 527 (535). 94 Vgl. aufschlussreich auch zur Tatbestandsstruktur BVerfGE 115, 1 (23): „Das von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Rechtsinstitut der Ehe ebenso wie das vom Gesetzgeber geschaffene Institut der Lebenspartnerschaft nehmen für die Begrenzung derjenigen, die sich rechtlich miteinander verbinden wollen, Bezug auf das Geschlecht der Partner, nicht auf deren sexuelle Orientierung.“ 95 Bereits Klaus Ferdinand Gärditz, Freie Ehe, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juni 2013, S. 7. 96 Analytisch zutreffend Jörg Henkel, Fällt nun auch das „Fremdkindadoptionsverbot“?, NJW 2011, S. 259 (262). 97 BVerfGE 124, 199 (229).

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veränderten Interpretation des verfassungsrechtlichen Begriffs der Elternschaft führen müssten.98 Dieses Bekenntnis dynamischer Verfassungsinterpreten läuft ganz offen der Kontrafaktizität von Normen99 zuwider. Der Rahmen verfassungsrechtlicher Argumentation wird durch verfassungsexterne Rationalitätsmaßstäbe100 aus dem argumentativen Reservoir der Verfassungspolitik ersetzt.101 Zumindest auf einer argumentativen Ebene nimmt das Gericht also Funktionen in Anspruch, die das Grundgesetz aus demokratischen Gründen institutionell dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten hat, was zwei Richter des Zweiten Senats in einem Sondervotum zur späteren Splitting-Entscheidung mit Recht beanstanden: „Gesellschaftlichen Wandel aufzunehmen, zu bewerten und gegebenenfalls rechtliche Formen hierfür bereitzustellen, kann nur Sache des Gesetzgebers, nicht aber des Verfassungsgerichts sein.“102 Anders gewendet: Ein Verfassungswandel103 ist als 98 BVerfG, 2013, S. 460 (463). Berechtigte Kritik bei Philipp Reimer / Matthias Jestaedt, Anmerkung, JZ 2013, S. 468 (471). In der Sache wäre auch dieses Argument möglicherweise überflüssig gewesen, wenn Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht die Elternschaft definiert, sondern voraussetzt. Dann würde es sich um ein Blankett handeln, das neben einem Mindestkern der biologischen Elternschaft auf eine einfach-gesetzliche Zuweisung von rechtlicher Elternschaft angewiesen wäre. In diesem Rahmen würde dann etwaiger gesellschaftlicher Wandel vom einfachen Gesetz abgebildet; der Verfassungsinhalt bleibt aber von faktischem Wandel unberührt. Ablehnend in Schrifttum etwa Marc Schüffner, Eheschutz und Lebenspartnerschaft: Eine verfassungsrechtliche Untersuchung des Lebenspartnerschaftsrechts im Lichte des Art. 6 GG, 2007, S. 553 ff. 99 Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft, 1993, S. 122 f., 134 f. 100 Siehe zur Resistenz gegen exogene Determination des autonomen Rechts nur Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 289 f.; Bezug nehmend auf Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft, 1993, S. 50. 101 Zutreffend Günter Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 (27). 102 Abweichende Meinung des Richters Herbert Landau und der Richterin Sibylle Kessal-Wulff in BVerfG, JZ 2013, 833 (842). Beide Richter haben freilich die kurz zuvor ergangene Entscheidung zu ehebezogenen Besoldungsbestandteilen noch ohne artikulierte Bedenken mitgetragen. 103 Einen solchen bezogen auf den Ehebegriff offenbar für möglich haltend, in der Sache aber ablehnend BVerfG (K), NJW 1993, 3058. Offensiv

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Argument der Verfassungsinterpretation diskreditiert, schon weil das Grundgesetz förmliche Verfahren der Verfassungsänderung institutionalisiert hat (Art. 79 GG).104 Wandel ist also Kompetenz-, nicht Wahrheitsfrage.105 Zugleich werden durch die Juridifizierung Politisierungschancen vertan, die eine offene und öffentliche Debatte geboten hätte,106 zumal es nicht einmal aussichtslos erscheint, dass sich im Deutschen Bundestag einfach-gesetzliche Mehrheiten für das Gleichstellungsanliegen finden.

Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (482), der freilich einen – überzeichneten – sozialen Wandel mit einem Wandel von Norminhalten verwechselt. Wenn sich die Lebensformen pluralisieren und eine zunehmende (notabene: immer noch minoritäre) Zahl an Menschen sich für ein Zusammenleben in nichtehelichen Formen entscheiden sollte, hat dies mit dem Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG nichts zu tun, der als Grundrecht von vornherein kein privates Verhalten anleiten will. 104 Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, S. 88 ff., 150 f.; ferner Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus – Die Ohnmacht des Gesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: Depenheuer / Heintzen /ders. /Axer (Hrsg.), Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee, 2002, S. 183 (196 f.); Christian Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung?, AöR 125 (2000), S. 517 (522); zurückhaltend bis ablehnend daher auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 3 (9 ff.); Christoph Gusy, „Verfassungspolitik“ zwischen Verfassungsinterpretation und Rechtspolitik, 1983, S. 40 f.; Christian Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), S. 7 (43 ff.). Im vorliegenden Kontext im Ergebnis wie hier Christian Hillgruber, Ehe und Familie – vom „Verfassungswandel“ bedrohte Rechtswerte, in: Pulte / Klekamp (Hrsg.), Festschrift für Manfred Spieker, 2013, S. 47 (54 ff.). Verfassungswandel lässt sich freilich aus einer (dann nichtdogmatischen) Beobachterperspektive beschreiben, insoweit das BVerfG die Verfassung zwar nicht authentisch, aber doch autoritativ interpretiert, also in der sozialen Wirklichkeit Begriffe umdeutet. Hierzu treffend Josef Isensee, Der Selbstand der Verfassung in ihren Verweisungen und Öffnungen, AöR 138 (2013), S. 325 (331). 105 Zutreffend Stephan Rixen, Das Ende der Ehe? – Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG, JZ 2013, S. 864 (872 f.). 106 Zutreffend auch Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (487).

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4. Grundrechtsschutz als Minderheitenschutz? Dies leitet über zu einer weiteren nicht unproblematischen Argumentationsfigur: Mit der ostentativen Bezugnahme auf den Minderheitenschutz greift das BVerfG ein Konzept auf, das gleichermaßen grundrechts- wie demokratietheoretisch sehr voraussetzungsvoll und zugleich risikobehaftet ist.107 Die Anforderungen an die Rechtfertigung einer ungleichen Behandlung von Personengruppen seien umso strenger, je größer in Annäherung an Art. 3 Abs. 3 GG die Gefahr sei, „dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt“.108 Eine steuerrechtliche Typisierung zu Gunsten der ehelichen Familie sei nicht gerechtfertigt, weil andernfalls „dem Gesetzgeber auf diesem Wege Spielräume eröffnet [würden], die die Verfassung zum Schutz von Minderheiten gerade verbietet“.109 a) Grundrechte als atomistischer Individualschutz Kein Grundrechtstatbestand setzt eine Minderheitensituation voraus. Freiheitsgrundrechte sind negatorische Abwehrrechte110 und damit immer insoweit Minderheitenrechte, als sie das Individuum als existenzielle, atomistische Minderheit schlechthin schützen.111 Und auch Gleichheitsrechte schützen nur einzelne Grundrechtsträger gegen eine willkürliche Behandlung, die aus dem Fehlen verfassungskonformer Sachgründe und nicht aus einer Minderheitenrolle folgt, obgleich natürlich Ressentiments gegen bestimmte Minderheiten in der sozialen Wirklichkeit oft Quelle 107 Für eine Deutung der Grundrechte als Rechte struktureller Minderheiten im politischen Prozess jüngst etwa Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), S. 157 (173, 175). 108 BVerfG, JZ 2013, 833 (834); siehe zudem bereits BVerfGE 124, 199 (220). Ebenso Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3539). 109 BVerfG, JZ 2013, 833 (839). 110 Für Art. 6 Abs. 1 GG stellvertretend Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 52 f. 111 Klaus Ferdinand Gärditz, Schutzbereich und Grundrechtseingriff, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, Enzyklopädie des Europarechts, Bd. 2, § 4 Rn. 42 (im Erscheinen 2014).

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sachwidriger Ungleichbehandlungen sind. Minderheiten werden daher nicht wegen eines Minderheitenstatus geschützt, sondern weil sie Träger von Grundrechten sind, die in einer Minoritätssituation lediglich besonders gefährdet sein können.112 Das Argument Minderheitenschutz hat hingegen die Tendenz, das Individuum – entgegen der freiheitlichen Rationalität der Individualgrundrechte – zu kollektivieren und erst als Gruppenmitglied wirklich ernst zu nehmen.113 b) Anfälligkeit für selektive Gruppenprivilegierung Das Argument Minderheitenschutz ist daher besonders anfällig für grundrechtliche Klientelpolitik. Minderheitenschutz führt zu einer Verlagerung der Rechtfertigung auf die oft spekulative und meist bewusst selektiv-exkludierende Definitionsfrage, ob ein Individuum als Angehöriger einer bestimmten – unvermeidbar politisch definierten – Gruppe strukturell minoritäre (oder kontrastierend potenziell mehrheitsfähige) Interessen vertrete.114 Oft werden 112 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt / Lepsius / ders. / Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (342, 344). 113 In diesem Kontext wären die Debatten über Probleme des groupism in der Gleichstellungspolitik möglicherweise auch grundrechtsfunktional fruchtbar zu machen, soweit sie für ein Problem sensibilisieren, das in einer auf individueller Freiheit gründenden Rechtsordnung besondere Aufmerksamkeit verdient. Siehe hierzu Susanne Baer, Rechte und Regulierung – Das Problem des Gruppismus für die Grund- und Menschenrechte, in: Dennerlein / Frietsch / Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – entschleierter Okzident? (Un)Sichtbarkeiten in Politik, Recht, Kunst und Kultur seit dem 19. Jahrhundert, 2012, S. 23 ff.; Roger Brubaker, Ethnicity Without Groups, 2006. Ähnliche Probleme stellen sich im Rahmen von Gruppenrechten, wie sie einer anderen Menschenrechtstradition entsprechend und nicht zuletzt in der gegenwärtigen afrikanischen Menschenrechtsentwicklung eine zentrale Rolle spielen, siehe etwa Matthias Bortfeld, Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte, 2005, S. 52 ff.; Jay A. Sigler, Minority Rights, 1983, S. 73. 114 Deutlich etwa Susanne Baer, „Die Geschlechtergleichstellung hat eine etwas ambivalente Situation erreicht“, Femina Politica 2012, S. 24 (36): Eine gerichtliche Rechtsdurchsetzung sei gerade in Situationen erforderlich, „in denen Minderheiteninteressen, also Bedürfnisse von Menschen, die nie Mehrheiten erlangen können, durchgesetzt werden müssen. Das

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dann einfach Stereotype und Klischees unkritisch als Gesellschaftsbeschreibung eingesetzt – oder die (mitunter besonders politischen) Sozialwissenschaften übernehmen kraft Deutungshoheit die Herrschaft über das Recht. Die hinter der Gruppendefinition stehende Dezision wird verschleiert, wenn man Minderheitenschutz von konkreten Problemen abstrahiert. Die schlichte Minderzahl der Gruppenmitglieder als solche führt offensichtlich nicht zu besonderen, Schutzbedarf auslösenden Minderheitenlagen. Auch Metzger, Apotheker oder Bankräuber sind statistische Minderheiten, ohne dass jemals jemand ernsthaft spezifischen Minderheitenschutz für diese Gruppen gefordert hätte. Faktisch sind organisierte Minderheiten ohnehin nicht selten durchsetzungsstärker als diffuse mutmaßliche Mehrheitsbelange.115 Es dürften zudem gerade im vorliegenden Kontext kaum Zweifel bestehen, dass gerade die Gleichstellungsinteressen von Lesben und Schwulen im Parlament zumindest potenziell mehrheitsfähig sind,116 was die gesellschaftliche (legitimationsindifferente) Lern- und Anpassungsfähigkeit demokratischer Systeme117 unterstreicht. Andere Anliesind – qualitativ gesprochen und paradoxerweise – immer noch die Interessen von Frauen und derjenigen Männer, die keine Variante dominanter Männlichkeit pflegen. Für diese Menschen und deren Problemlagen sind Verfassungsgerichte als Grundrechtsgerichte da. Alle anderen werden im politischen Prozess erfolgreich sein; […]“. Der Verfassung ist eine solche diskriminierende Tatbestandsstruktur der Grundrechte jedenfalls nicht zu entnehmen. 115 Dazu aus juristischer Sicht immer noch grundlegend Hans Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, 1977. 116 Sämtliche Oppositionsparteien des 17. Deutschen Bundestags plädierten für eine völlige Gleichstellung. Selbst der kleinere Partner der inzwischen abgelösten Regierungskoalition tat dies. Und innerhalb der noch zurückhaltenden Unionsparteien gibt es ebenfalls zahlreiche und wachsende Befürworter. Die Gesamtzahl dürfte bei undisziplinierter Abstimmung an eine verfassungsändernde Teilmehrheit im Bundestag heranreichen. Und bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen zum 18. Deutschen Bundestag wird es absehbar leicht fallen, eine ohnehin vorprogrammierte Gleichstellung „zuzugestehen“. 117 Dazu jüngst Steffen Augsberg, Gesellschaftlicher Wandel und Demokratie: Die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie unter Bedingungen komplexer Gesellschaften, in: Heinig / Terhechte (Hrsg.), Postnationale Demokratie, Postdemokratie, Neoetatismus, 2013, S. 27 (37 ff.).

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gen – etwa das Abwehrinteresse von Eltern gegenüber gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Instrumentalisierung – haben es da deutlich schwerer, obschon dahinter (noch) statistische Bevölkerungsmehrheiten stehen. Die Verfassung hat einen eigenständigen Minderheitenschutz daher sehr differenziert und als Antwort auf spezifische Risiken ausgestaltet, etwa über Schranken wie das allgemeine Gesetz (Art. 5 Abs. 2 GG) oder die Typisierung historischer Diskriminierungserfahrungen in Art. 3 Abs. 2 bis 3 GG. Einzelne Grundrechtsschranken grenzen strukturell bestimmte Minderheiteninteressen als unmaßgeblich aus, insoweit Vorbehalte nicht nur, aber gerade auch ein Einschreiten gegen minoritäre Segregationsanliegen rechtfertigen.118 Dies alles schließt sowohl eine Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes als auch eine verfassungsexogene Gruppendefinition aus. c) Unverträglichkeit mit dem Konzept demokratischer Repräsentation Das Argument einer materiellen Minderheit läuft zudem der besonderen Leistung demokratischer Repräsentation zuwider, Stellvertretung durch Zurechnung zu formalisieren,119 und damit von einer materiellen Basis abzukoppeln. Die Nichtidentität von Regierenden und Regierten120 ist – in Überwindung materialer Ein118 Dies gilt beispielsweise für das staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) oder die Verantwortung für das Schulwesen (Art. 7 Abs. 1 GG) institutionalisieren hier Eingriffstitel, die sich gerade auch gegen minoritäre Anliegen auf Isolation richten, siehe explizit BVerfGK 1, 141 (143); Josef Isensee, Integration mit Migrationshintergrund – Verfassungsrechtliche Daten, JZ 2010, S. 317 (318); plastisch zuletzt BVerwG, Urteil vom 11. September 2013 – 6 C 25.12. Dass dann zwischen den konkurrierenden Interessen ein angemessener Ausgleich hergestellt werden muss, ändert an dem strukturellen Antagonismus nichts. Konfliktfelder wären etwa das Homeschooling, religiöse Vorbehalte gegen Unterrichtsformen oder -inhalte oder dem Kindeswohl evident zuwider laufende „alternative“ Erziehungsformen. Auch Vereins- oder Parteiverbote (Art. 9 Abs. 2, 21 Abs. 2 GG) richten sich typischerweise gegen Minderheiten. 119 Oliver Lepsius, Repräsentation, in: Heun / Honecker / Morlok / Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2036 f.

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heitsideale121 – Voraussetzung von Pluralismus, Offenheit demokratischer Verfahren und damit zugleich individueller Freiheit.122 Gesellschaftlich mehrheitsfähige – also letztlich empirisch-sozialwissenschaftlich erst zu ermittelnde – Positionen können daher nicht mit politischen Mehrheiten im Repräsentationsorgan kurzgeschlossen werden. Repräsentanten können auch die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern mit „mehrheitsfähigen“ Interessen verletzen, und zwar gerade wenn spezifische Minderheiteninteressen wirksam politisiert und zu parlamentarischen Mehrheiten geformt werden. Die diffuse Mehrheitsfähigkeit einer Position ist zudem in ihrer Freiheitsbilanz irrelevant, weil – ausgehend vom Wettbewerb konkurrierender Meinungen – rechtliche Inhalte („Gemeinwohl“) erst in offenen demokratischen Verfahren erzeugt werden müssen, deren politische Relationierungsleistungen eine simplifizierende Reduktion auf materiale Minoritätsmerkmale ausschließen. Mehrheit und Minderheit im Parlament sind Konstruktionsergebnisse des jeweiligen gegenstandserzeugenden parlamentarischen Verfahrens,123 nicht dessen materielles Substrat. Kurzum: Durch die Hypothese, Grundrechte dienten spezifisch dem Minderheitenschutz, wird substanzialistischen Demokratievorstellungen und damit materialen Gemeinwohlbegriffen durch die Hintertür eine unverdiente Renaissance beschert. Mit dem Argument „Minderheit“ mag man typisierbare Konfliktlagen beschreiben, weil gerade diejenigen Grundrechte benöti120 Etwa Christoph Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, AöR 106 (1981), S. 329 (331); Oliver Lepsius, Zwischen Volkssouveränität und Selbstbestimmung, in: Brunkhorst / Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat, 2008, S. 15 (23); namentlich gegen Fehlerwartungen einer Abbildung der Bevölkerung Christoph Möllers, Drei Dogmen der etatistischen Demokratietheorie, in: Heinig / Terhechte (Hrsg.), Postnationale Demokratie, Postdemokratie, Neoetatismus, 2013, S. 131 (133). 121 Namentlich Carl Schmitt, Verfassungslehre, 10. Aufl. 2010, S. 209 f., 234 f. 122 Vgl. zum Zusammenhang stellvertretend Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), S. 157 (169 f.). 123 Vgl. auch Christoph Möllers, Drei Dogmen der etatistischen Demokratietheorie, in: Heinig / Terhechte (Hrsg.), Postnationale Demokratie, Postdemokratie, Neoetatismus, 2013, S. 131 (134): „Eine Opposition muss im Verfahren kenntlich werden.“

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gen, die sich gesellschaftlichen Erwartungen zuwider verhalten und daher die politische Minderheitensituation immer der Testfall hinreichender Effektivität des Grundrechtsschutzes bleiben wird. Daher ist es fraglos notwendig, Risiken ernst zu nehmen, die sich aus einer spezifischen Minderheitenlage ergeben können. Ein allgemeines Element der Grundrechtsdogmatik wird hieraus aber nicht. Dies bedeutet notabene nicht, dass Homosexuelle nicht besonderen Risiken einer grundrechtsrelevanten Benachteiligung ausgesetzt wären.124 Um diese angemessen zu erfassen, hätte es jedoch keines unreflektierten Rekurses auf ein abstrahiertes Minderheitenkonzept bedurft. IV. Perspektiven und ungelöste Fragen Blickt man zurück, hat die Entscheidung des BVerfG vom Juli 2009 zur Hinterbliebenenversorgung einen neuen Pfad in der Architektur des Ehe- und Familienverfassungsrechts eingeschlagen, der inzwischen durch beide Senate gefestigt wurde und praktisch unumkehrbar ist.125 Akzeptiert man dies, stellt sich die Frage: Welche Perspektiven ergeben sich hieraus? 1. Flucht in die Ehe? Teils wird nunmehr eine einfach-gesetzliche Öffnung der Ehe gefordert, da es sinnlos sei, in den Rechtsfolgen inhaltsgleiche Institute unterschiedlichen Regelungskomplexen und Bezeichnungen zu unterwerfen.126 Verfassungsrechtlich geboten ist eine solche 124 Selbstverständlich ist dies der Fall, sodass auch hier in Relation zu staatlichem Handeln die Grundrechte gefordert sind, vgl. Susanne Baer, Sexuelle Identität als Grundrecht?, Der Streit 2010, S. 102 (108). Nur folgt hieraus kein genereller Diskriminierungsschutz nur wegen des Andersseins. 125 Allgemein zur Beharrungskraft dogmatischer Entwicklungspfade Rainer Wahl, Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013, S. 369 (378). 126 Volker Beck, Gleichstellung durch Öffnung der Ehe, FPR 2010, S. 220 (225); Regina Bömelburg, Die eingetragene Lebenspartnerschaft – ein überholtes Rechtsinstitut?, NJW 2012, S. 2753 (2758); Frauke BrosiusGersdorf, Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft, NJW Editorial

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Gleichstellung jedenfalls nicht,127 da die Lebenspartnerschaft vom BVerfG nicht als Ehe,128 sondern lediglich über den Hebel des allgemeinen Gleichheitssatzes geschützt wird. Auch parallele menschen-129 sowie unionsrechtliche Entwicklungen130 setzen an der Ungleichbehandlung in den Rechtsfolgen,131 nicht an der – auch im Rechtsvergleich immer noch überwiegenden132 – geschlechtli12 / 2013; Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1090); Michael Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht, FPR 2010, S. 203 (208); Tilman Hoppe, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7. 7. 2009 – 1 BvR 1164 / 07 – Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der Hinterbliebenenrente (VBL) verfassungswidrig, DVBl. 2009, S. 1516 (1519); Anne Sanders, Auf dem Weg zur Ehe: Lebenspartnerschaft vor dem BVerfG, FF 2012, S. 391 (394); als Gebot verfassungsrechtlicher Ehrlichkeit durch Verfassungsänderung Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (487). 127 Dass es legitim ist, gleichgeschlechtlichen Paaren den Zugang zur Ehe zu verwehren, hat das BVerfG noch in seiner dritten Transsexuellenentscheidung im Jahr 2005 betont, siehe BVerfGE 115, 1 (18 f.): „Mit der Verhinderung des falschen Anscheins, die Ehe könne auch von gleichgeschlechtlichen Partnern geschlossen werden, hat der Gesetzgeber auch ein legitimes Anliegen verfolgt. […] Mit diesem sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Gehalt der Ehe steht in Einklang, wenn der Gesetzgeber verhindert, dass auch gleichgeschlechtliche Partner die Ehe schließen können, wobei er dabei bisher ganz offensichtlich von der personenstandsrechtlichen Geschlechtszuordnung der Partner ausgeht. Um dem Nachdruck zu verleihen und die Ehe von anderen Rechtsinstituten abzugrenzen, ist es auch legitim, Regelungen zu treffen, mit denen der Gesetzgeber versucht, schon den Anschein zu vermeiden, die Ehe stehe auch für gleichgeschlechtliche Partner offen.“ Früher bereits BVerfG (K), NJW 1993, 3058, siehe auch Hans D. Jarass, in: ders. / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 5. 128 Explizit BVerfGE 105, 313 (345 f.). 129 EGMR, FamRZ 2003, 149; NJW 2011, 1421; NJW 2013, 2173. 130 EuGH, Slg. 2008, I-1757, Rn. 73 f.; Slg. 2011, I-3591. 131 Für einen Gleichstellungsbedarf etwa Michael Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht, FPR 2010, S. 203 (206 f.). 132 Vgl. hierzu sowie zu den sehr unterschiedlichen Reaktionen – von der Rechtfertigung der Unterschiede über die Angleichungen in den

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chen Kodierung des Status an. Zwar wäre aus freiheitsgrundrechtlicher Sicht die einfach-gesetzliche Gewährung von verfassungsrechtlich nicht zwingenden Vorteilen an sich unbedenklich.133 Ob eine Öffnung der Ehe aber mit dem institutionellen Kern des Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar wäre, begegnet Zweifeln.134 Solange jedenfalls politisch keine Öffnung des Art. 6 Abs. 1 GG erfolgt,135 sollte die Differenz zwischen originärem und über den Gleichheitshebel abgeleitetem Freiheitsschutz auch rechtssystematisch durch unterschiedliche Regelungen sichtbar bleiben. 2. Aufwertung institutionell umhegter Bindung: Ehe und Lebenspartnerschaft als Funktionspartnerschaft? Bei aller berechtigten Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG sollte nicht aus dem Blick geraten: Die eigentlichen ErosionsgefahRechtsfolgen zur Öffnung – Susanne Baer, Equality, in: Rosenfeld / Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, S. 982 (998 f.). 133 Zutreffend bereits Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 (396). Siehe etwa die einfachgesetzliche Versammlungsfreiheit nach VersG, die – anders als Art. 8 Abs. 1 GG – auch Ausländern zu Gute kommt. Ähnliches gilt trotz Art. 12 Abs. 1 GG für das Berufsrecht der meisten Berufsgruppen. 134 Für die Verfassungswidrigkeit Peter Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, Kap. C Rn. 54 (S. 186); Dagmar Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 9; Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 45, 47; Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 (397); für eine Regelung innerhalb der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Regina Bömelburg, Die eingetragene Lebenspartnerschaft – ein überholtes Rechtsinstitut?, NJW 2012, S. 2753 (2758); Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 81; Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1090). Präzise auf die Frage des institutionellen Kerns zugespitzt, dessen Beeinträchtigung jedoch im Lichte der angeglichenen Rechtsfolgen für nicht plausibel erachtend, Stephan Rixen, Das Ende der Ehe? – Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG, JZ 2013, S. 864 (871). 135 Hierfür Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (487).

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ren für Ehe und Familie gehen nicht von der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften als solcher aus,136 sondern von der zunehmenden gesellschaftlichen Funktionalisierung und Ökonomisierung137. Im Grundsatz dürften die Interessen der gleichgeschlechtlichen Paare, die die Ehe wollen und daher freiwillig unter den Schirm des funktionalen Surrogats der Lebenspartnerschaft drängen,138 mit denen der Ehepaare meist strukturell gleichgerichtet sein:139 Wechselseitige Verantwortung und dauerhafte Bindung sind – auch im Kontrast zu anderen Lebensgemeinschaften ohne dauerhaften Bindungswillen140 – die normativierte gemeinsame Basis von Ehe und Eingetragener Lebenspartnerschaft, was insoweit auch vom BVerfG betont wird.141 Und in beiden Instituten geht es um die Freiheit der privaten Lebensgestaltung, die Abwehr staatlicher Steuerungsansprüche und den institutionellen Schutz des Rechts. An den Schutz der Ehe als besondere „Sphäre privater Lebensgestaltung, die staatlicher Einwirkung entzogen ist“,142 kann die Lebenspartnerschaft strukturell anschließen 136 Zutreffend auch Stephan Rixen, Das Ende der Ehe? – Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG, JZ 2013, S. 864 (873), wonach eine Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare nicht das „Ende der Ehe“ bedeuten würde. 137 Gegen eine ökonomisch rationale Verzweckung von Familie auch Susanne Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, VVDStRL 68 (2009), S. 290 (318 f.). 138 Diagnostisch zutreffend Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (484). 139 Zutreffend Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1092). 140 Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 57; Anne Sanders, Ehegattensplitting für Lebenspartner vor dem BVerfG, NJW 2013, S. 2236 (2238). 141 Beschreibend bereits BVerfGE 105, 313 (353): „Die eingetragene Lebenspartnerschaft ermöglicht gleichgeschlechtlichen Paaren, ihre Lebensgemeinschaft auf eine rechtlich anerkannte Basis zu stellen und sich in Verantwortung zueinander dauerhaft zu binden“; später dann etwa BVerfGE 124, 199 (225): „Die Rechtfertigung der Privilegierung der Ehe, und zwar auch der kinderlosen Ehe, liegt, insbesondere wenn man sie getrennt vom Schutz der Familie betrachtet, in der auf Dauer übernommenen, auch rechtlich verbindlichen Verantwortung für den Partner.“ Im Anschluss etwa Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3538).

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(vgl. nur § 2 LPartG). Die Entscheidung des BVerfG zum Ehegattensplitting hat dies zuletzt verdeutlicht: „Das Lebenspartnerschaftsgesetz erkennt ebenso wie das Eherecht den Partnern Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf ihre persönliche und wirtschaftliche Lebensführung zu und geht von der Gleichwertigkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit in der Lebenspartnerschaft aus.“143 Blickt man auf die sich im Mobilitäts- und Flexibilitätseifer verflüssigende Gesellschaft, den ökonomischen Effizienzfetisch – die dominante Kultur der 1990er Jahre – und den ehe- wie familienpolitischen Funktionalismus, der derzeit zu dominieren scheint, ist der verfassungsrechtliche Schutz familienrechtlicher Institutionen ein gesamtgesellschaftlicher Stabilitätsanker. Auch die Eingetragene Lebenspartnerschaft hat insoweit einen gesellschaftlichen Mehrwert. Das Konzept des Lebenspartnerschaftsgesetzes institutionalisiert den qualifizierten Persönlichkeitsschutz (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)144 stabiler und verlässlicher Dauerbeziehungen. Der Kampf um die Eingetragene Lebenspartnerschaft ließe sich dann vielleicht auch als Ausdruck einer allgemeinen Rückkehr zur institutionalisierten Verantwortungsgemeinschaft und der Abkehr von einer beziehungstechnischen Fluidität deuten.145 Der wirtschaftliche und soziale Schutz der Lebenspartnerschaft könnte hierbei zugleich den Eigenwert der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG wieder stärker in den Fokus rücken, der von den oftmals dominant ökonomisch-funktionalistischen Debatten um die „Familienförderung“146 zunehmend ins Abseits gedrängt wurde.147 142 BVerfGE 107, 27 (53). Zu den Folgerungen anschaulich etwa Dagmar Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 25 ff.; Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 6 Rn. 25 f. 143 BVerfG, JZ 2013, 833 (838), siehe ansatzweise bereits BVerfGE 124, 199 (229). 144 Etwa BVerfGE 105, 313 (346); Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2013, S. 843 (844). 145 Gegenläufig Jörg Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 (481). 146 Kritisch Klaus Ferdinand Gärditz, Nur ein Angebot. In der Familienpolitik geht es um Freiheit, nicht um ökonomische Allmachtsphantasien, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Februar 2013, S. 7.

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Eheschutz ist nicht Familienschutz; der Eheschutz als selbstständiger Persönlichkeitsschutz besonderer Paarbeziehungen in ihrer Lebensgestaltung als solcher ist auch nicht auf die Familiengründung ausgelegt.148 Beide Schutzgüter erfordern unterschiedliche Schutzmechanismen.149 Und weder Familien- noch Eheschutz lassen sich auf Reproduktionsfunktionen reduzieren150 und damit verzwecken,151 schon weil Grundrechte private Freiheit zur Belie147 Eine „Entwertung der Ehe“ durch die Fokusverschiebung auf Kinder diagnostiziert Herbert Grziwotz, Anmerkung, FamRZ 2009, S. 1982 (1983). 148 So aber die Abweichende Meinung von Richter Herbert Landau und der Richterin Sibylle Kessal-Wulff in BVerfG, JZ 2013, S. 833 (840): „Dieser besondere Schutz wird der Ehe zuteil, weil sie Vorstufe zur Familie sein kann, die wiederum Voraussetzung der Generationenfolge und damit der Zukunftsgerichtetheit von Gesellschaft und Staat ist.“ Prononciert Frauke Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 181 ff.; ferner Herbert Grziwotz, Anmerkung, FamRZ 2009, S. 1982 (1983); Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 22a; Jörn Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 17, 22; Lothar Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutz einer (über-)staatlichen Ordnung, NJW 2010, S. 3537 (3538); Foroud Shirvani, Die sozialstaatliche Komponente des Ehe- und Familiengrundrechts, NZS 2009, S. 242; Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 46; Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393; Udo Steiner, Generationenfolge und Grundgesetz, NZS 2004, S. 505. In der Tendenz auch Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2013, S. 843 (845), obschon wohl eher empirisch als normativ-funktional argumentierend. Zumindest zweifelnd Kay Windthorst, in: Gröpl / ders. / von Coelln (Hrsg.), Studienkommentar Grundgesetz, 2013, Art. 6 Rn. 15. 149 Zutreffend Friederike Gräfin Nesselrode, Ehe und Familie, in: Kube / Mellinghoff / Morgenthaler / Palm / Puhl / Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, § 56 Rn. 10. 150 Mit besonderer Schärfe hierfür aber Frauke Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 181 ff.; ebenfalls etwa Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 22, der behauptet, Art. 6 Abs. 1 GG beruhe auf „bevölkerungspolitischen Erwägungen“ und hierdurch den Sinn des Grundrechts ganz grundlegend verfehlt; Dagmar Kaiser, Das Lebenspartnerschaftsgesetz, JZ 2001, S. 617 (624). 151 Mit Recht gegen eine Aufgabe des Staates, die Generationenfolge bzw. Reproduktion zu fördern: Ute Sacksofsky, Grundgesetzkonforme Al-

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bigkeit gewährleisten,152 um gerade eine gesellschaftsfunktionale Inzwecknahme des Individuums zu verhindern.153 Eheschutz kann aber den Familienschutz flankieren,154 weil er gerade auch die innereheliche Freiheit zum Umgang mit den familiären Sonderlasten garantiert.155 Das BVerfG hat dies mit Recht betont und ternativen der Ausgestaltung der Familienförderung, in: Seel (Hrsg.), Ehegattensplitting und Familienpolitik, 2007, S. 333 (346), mit dem zutreffenden Hinweis, dass es allein um die angemessene Verteilung von Folgelasten freier Entscheidungen für oder gegen Kinder gehen kann; ferner Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 6 Rn. 32 (mit Fn. 150); Anne Sanders, Ehegattensplitting für Lebenspartner vor dem BVerfG, NJW 2013, S. 2236 (2238); Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 23; im Ausgangspunkt ähnlich ferner, freilich in den rechtlichen Konsequenzen eher intransparent Susanne Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, VVDStRL 68 (2009), S. 290 (316 ff., 350 f.). Die Entscheidung für oder gegen Kinder ist höchstpersönlich und dem staatlichen Zugriff generell entzogen. Etwa Markus Kotzur, in: Stern / Becker (Hrsg.), GrundrechteKommentar, 2010, Art. 6 Rn. 25. 152 Begriffsprägend Hans Hugo Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1974, S. 10; ferner in diesem Sinne etwa Herbert Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 7 (22); Fritz Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2005, § 15 Rn. 51; Christoph Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 153 Entgegen Rupert Scholz / Arnd Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393, erfolgt dann aber der Schutz von Ehe und Familie in der Tat „aus altruistischer Gesinnung“ und nicht „aus vitalem Eigeninteresse“. Wie auch in anderen Bereichen der Freiheitsgewährleistung kann der Staat allenfalls darauf hoffen, dass die Grundrechtsträger sie annehmen und aus der Summe des von Alltagsvernunft getragenen Individualverhaltens positive Erträge für die Allgemeinheit entstehen. Diese Überlebensstrategie des freiheitlichen Staates baut aber auf der Freiheit, sich immer auch gegen die damit verbundenen Erwartungen entscheiden zu dürfen. 154 Allgemein in diesem Sinne auch Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 37. 155 Zu kurz gegriffen daher Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1092), wonach der Ansatz, über die Ehe die Familie zu fördern, heute weitgehend unzulässig sei. Richtig ist hieran einerseits, dass ein unmittelbarer Familienschutz dem Fördergebot nach Art. 6 Abs. 1 GG nicht genügen würde, weil er zahlreiche Familien unverheirateter (und natürlich auch: verpartnerter) Eltern nicht erreichen würde. Ausgeblendet wird aber, dass mit der Familie

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klargestellt, dass diese Schutzfunktion dann auch gleichgeschlechtlichen Paaren mit Familie156 zu Gute kommen muss.157

3. Risiken: Sexualisierte Grundrechtsdogmatik Erosionen für den Schutz von Ehe und Familie – sowie ironischerweise dann mittelbar auch von Eingetragenen Lebenspartnerschaften – drohen indes durch die fragwürdige Begründungsstruktur der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Mit dem Argument der sexuellen Identität wurde unkritisch ein fragwürdiges, höchst ideologisches, zumindest schillerndes Konzept übernommen, das den Eigenwert familienrechtlicher Institutionen aushöhlt und implizit auf vertraglich vereinbarte Entfaltungsräume gruppenspezifischer Sexualität reduziert. Ehe, Familie und gleichermaßen Eingetragene Lebenspartnerschaft sind dann nicht mehr als der Ausdruck individueller Präferenzen aus einer bunten Palette unterschiedlicher sexueller Entfaltungsoptionen. Der originäre Freiheitsgewinn, der namentlich in der Ehe als institutioneller in der Ehe besondere Freiheitsentfaltungsinteressen verbunden sind, die einen eigenständigen Schutzbedarf auslösen, der bei Unverheirateten nicht besteht (sehr wohl aber bei Eingetragenen Lebenspartnern). Entsprechendes gilt für das Argument, dass sich eine reine Eheförderung (wie namentlich durch das Ehegattensplitting, das freilich keine Förderung, sondern Konsequenz des Abwehrrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG ist) in Anbetracht einer Pluralisierung der Familienformen nicht als Förderung potenzieller Familien ausweisen ließe, so Margarete Schuler-Harms, Ehegattensplitting und (k)ein Ende, FPR 2012, S. 297 (300). Der Ausgangsbefund ist zwar nicht zu beanstanden. In der Tat wird mit der Ehe nicht die potenzielle Familie gefördert, zumal es dem Staat nicht zusteht, die höchstpersönliche Entscheidung für eine Ehe ohne Kinder durch Anreize zu steuern. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sich die eheliche Gestaltungsfreiheit auch und gerade auf die Gestaltung von Familie bezieht. Vorschnell die Bedeutung der ehelichen Familie verwerfend auch Tilman Hoppe, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7. 7. 2009 – 1 BvR 1164 / 07 – Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der Hinterbliebenenrente (VBL) verfassungswidrig, DVBl. 2009, S. 1516 (1519). 156 Dies betrifft sehr unterschiedliche Fallkonstellationen, die praktisch durchaus nicht selten sind, vor allem Lebenspartner mit Kindern aus einer früheren heterosexuellen Beziehung oder Adoptivkinder. 157 BVerfG, JZ 2013, 833 (838).

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Absicherung von Bindung in gleicher Freiheit liegt und den die Lebenspartnerschaft gerade übernehmen möchte, erodiert dann ebenso wie die Sensibilität für besondere grundrechtliche Schutzbedürfnisse zu Gunsten höchstpersönlicher Dauerbeziehungen.158 Eine sexualistisch verbogene Grundrechtsdogmatik versagt letztlich gerade dort, wo Grundrechtsschutz besonders benötigt wird.

V. Schlussbetrachtung: Das Bundesverfassungsgericht als gesellschaftspolitischer Akteur im Spiegel seiner Rechtsprechung Bilanzierend lässt sich festhalten: Dass das BVerfG vorliegend als gesellschaftspolitischer Akteur wahrgenommen wird,159 ist unvermeidbar und liegt bereits am Thema.160 Und in einer freien Gesellschaft steht es jedem frei, auch Gerichtsurteile zu politisieren, selbst wenn sie juristisch richtig begründet sein sollten. Ungeachtet dessen ist die Rechtsprechung zur Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft – wie gezeigt – von Argumenten durchzogen, in denen juristische Ableitung und gesellschaftspolitische Agenda zumindest verschwimmen. Nun hängen Inhalte bekanntlich von den gegenstandserzeugenden Methoden ab,161 sodass die Rechtsprechungslinie auf der Grundlage anderer methodischer Prämissen als den hiesigen auch anders bewertet werden könnte.162 158 Siehe ähnlich auch Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 30 (30 ff., 145 ff., 158). 159 Tobias Pierlings, BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz: Vom Abstands- und Anstandsgebot, in: Menzel / Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 706 (712). 160 Auch gegenteilige Ergebnisse wären unzweifelhaft als gesellschaftspolitisch bedeutsam wahrgenommen worden. 161 Zudem auch von der Auswahl und Relationierung der herangezogenen Freiheitskonzepte zur Unterlegung der Grundrechtsinterpretation, vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wie werden Grundrechte im Verfassungsstaat interpretiert?, EuGRZ 2004, S. 598 (601). 162 Den Blick akzentuiert auf Methodenfragen lenkend Kai Möller, Der Ehebegriff des Grundgesetzes und die gleichgeschlechtliche Ehe, DÖV 2005, S. 64 (67 f.).

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Dem damit einhergehenden Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck weicht das Gericht indes aus. Während die Debatte um die richtige Methodik der Verfassungsauslegung anderenorts offen geführt – original intent und living constitution markieren hier die Extrempole163 – und auch in der Rechtsprechung sichtbar wird,164 reflektiert und erklärt das BVerfG seinen methodischen Standpunkt nicht wirklich. Es vergräbt ihn eher unter einem kunterbunten Allerlei disparater Argumente. Langatmige obiter dicta165 verstärken zusätzlich die allgemeine Tendenz, zu Lasten künftiger legislativer Gestaltungsfreiheit einen vom Fall verabsolutierten argumentativen Überhang zu produzieren.166 In kaum einem anderen Rechtsgebiet hat das Gericht den Gesetzgeber so eng geführt vor sich hergetrieben. Die deutliche Akademisierung des BVerfG167 trägt zwar gewiss zum hohen Argumentationsniveau bei, mag aber sowohl das kreative Mitteilungsbedürfnis168 als auch die Bereitschaft beflügelt haben, die Unvollkommenheiten politischer Verfassungskompromisse zu überwinden und sich 163 Siehe zur Debatte stellvertretend Jack N. Rakove (Hrsg.), Interpreting the Constitution, 1990. 164 Sehr aufschlussreich, wie ein sorgfältiger Methodenstreit aussehen könnte, rechtsvergleichend zu Spanien Stephan Rixen, Das Ende der Ehe? – Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG, JZ 2013, S. 864 (867 ff.). 165 Berechtigte Kritik bei Philipp Reimer / Matthias Jestaedt, Anmerkung, JZ 2013, S. 468 (471 f.). 166 Kritik insbesondere bei Oliver Lepsius, Die maßstabssetzende Gewalt, in: Jestaedt /ders. / Möllers / Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 ff. 167 Allgemein kritisch etwa Peter Häberle, Funktionen und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, S. 685 (686); Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht prozedural gesehen, in: Appel / Hermes / Schönberger (Hrsg.), Festschrift für Rainer Wahl, 2011, S. 405 (429 f.); im vorliegenden Kontext Klaus Ferdinand Gärditz, Gleichstellung homosexueller Partnerschaften – Rechtswissenschaftlicher Kommentar, Februar 2013 (Positionspapier der Konrad-Adenauer-Stiftung), S. 4. 168 Vgl. Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht: Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders. / Lepsius / Möllers / Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77 (124 ff.); Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, ebd., S. 281 (364).

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latent auf abstrahierte Gerechtigkeits- und Rationalitätsentwürfe einzulassen. Vielleicht hat das BVerfG auf eine juristisch-methodensensible Rechtfertigung aber auch deshalb keinen großen Wert gelegt, weil es sich im gesellschaftspolitischen Mainstream wähnt. Unpopuläre oder gar anstößige Entscheidungen musste das Gericht nicht treffen.169 Beunruhigend ist, wie leicht sich eine dynamisch-proaktive Rechtsprechungslinie darauf eingelassen hat, ungefiltert gesellschaftlichen Wandel in Verfassungsinterpretation zu übersetzen.170 Dies ist nicht nur unter demokratischen wie methodischen Auspizien fragwürdig. Es erodiert zugleich das Vertrauen in die Stabilität und Verlässlichkeit des grundrechtlichen Schutzniveaus insgesamt, an dessen Erhalt auch diejenigen interessiert sein sollten, die die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft politisch begrüßen. Wenn sich das BVerfG als gesellschaftspolitischer Akteur geriert,171 wird es auch anfällig für ephemere gesamtgesellschaftliche 169 Auch die Politik reagierte die längste Zeit eher defensiv. Öffentlich wahrnehmbare Kritik gab es letztlich erst, als die Rechtsprechung durch beide Senate bereits gefestigt war, kam also viel zu spät und verpuffte. Immerhin ist es zu Verstimmungen zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung einerseits und Gericht andererseits gekommen, die man freilich nicht überbewerten sollte. Lesenswert zur Dramaturgie Reinhard Müller, Zur Leerformel herabgestuft – Wie sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ehe gedreht hat, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. März 2013, S. 10; ders., Respekt vor dem Parlament: Karlsruhe schreibt Berlin in Sachen Gleichstellung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 2013, S. 2. 170 Gewiss ist es richtig, dass Abwägungen – zumal im Rahmen der kontextsensiblen Verhältnismäßigkeit – immer offen für Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Gefährdungslagen sind. So der Einwand von Claus Dieter Classen, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie, DVBl. 2013, S. 1086 (1093). Nur um Abwägungen ging es bei der Rechtsprechung in Relation von Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gerade nicht, sondern um interpretatorische Begriffsbestimmung und Systematik der Verfassung. 171 Wenn aus den Reihen des Gerichts auf das Risiko hingewiesen wird, „sich mit einer großen Entscheidung nicht nur unbeliebt zu machen, sondern im schlechtesten Fall im Mainstream der politischen Öffentlichkeit auch an Respekt zu verlieren“ und daher dafür geworben wird, dass man mit dem hohen Gut erworbenen Respekts auch „vorsichtig umgehen möchte“ – so Susanne Baer, Rechte und Regulierung – Das Problem des Grup-

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Stimmungslagen. Gesellschaftliche Entwicklungen sind keine Einbahnstraße, der Sonne des Fortschritts entgegen, und können wieder kippen. Zur Erinnerung: Auch die beschämende Homosexuellen-Rechtsprechung des BVerfG in den 1950er Jahren orientierte sich schlicht am Zeitgeist. Dass die Dynamisierung des Schutzes von Ehe und Familie nicht nur Thema dieser Tagung, sondern zugleich der diesjährigen Staatsrechtslehrertagung ist und zudem eines der zentralen Konfliktfelder des Bundestagswahlkampfes war, zeigt die Politizität sowie zunehmende Sensibilität für die damit verbundenen Grundrechtsfragen. Dies gilt namentlich für das prekäre Verhältnis von Freiheits- und Gleichheitsschutz. Grundrechtsschutz ist immer auch Schutz von individueller Gegenöffentlichkeit; er gewährleistet die pluralistische Offenheit und Wahrheitsabstinenz des politischen Prozesses, und zwar besonders gegen Zukunftsvisionen von gesellschaftlichen Idealzuständen.172 pismus für die Grund- und Menschenrechte, in: Dennerlein / Frietsch / Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – entschleierter Okzident? (Un)Sichtbarkeiten in Politik, Recht, Kunst und Kultur seit dem 19. Jahrhundert, 2012, S. 30 – ist hiergegen zunächst nichts einzuwenden. Es zeigt freilich, wie sehr sich das Gericht selbst (oder zumindest ein Teil desselben) als gesellschaftlicher Akteur versteht, der seine Entscheidungen auch nach dem Maß sozialer Akzeptanz und Anerkennung bemisst, was nicht deckungsgleich mit juristischer Richtigkeit und dogmatischer Überzeugungskraft der Argumente ist, auf die es eigentlich ankommen sollte. Ohne die Bereitschaft, sich unbeliebt zu machen und eigene Wertschätzung in der Bevölkerung gerade dann aufs Spiel zu setzen, wenn bedrohte Grundrechte dies verlangen, ohne die demütige Hinnahme, dass die Politik legitime Gegenöffentlichkeit ist und auch konkurrierende Verfassungsrechtspositionen artikulieren darf, würde auch ein so politisches Gericht wie das BVerfG seine Funktion verspielen. Es bleibt daher zu hoffen, dass solche – immerhin ehrlich artikulierte – Sensibilitäten für die öffentliche Wahrnehmung nur dazu dienen, den eigenen Entscheidungsprozess im Lichte seiner öffentlichen Überzeugungskraft kritisch zu hinterfragen, und nicht Ausdruck eines linearen Fortschrittswillens sind, durch vorsichtige Frontverschiebungen Schritt für Schritt jeweils das zu entscheiden, was einer uneinsichtigen Öffentlichkeit noch gerade zugemutet werden kann. 172 Das ist die mit immer noch beeindruckender Klarheit abgefasste, demokratietheoretisch sensible Einsicht der KPD-Entscheidung des BVerfG, die wie kaum eine andere Entscheidung – zumeist verkannt – die epistemischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats erfasst, siehe BVerfGE 5, 85 (197 f.).

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Mit der faktischen Einbeziehung der Lebenspartnerschaft in den Eheschutz ist jedenfalls ein traditionelles politisches Konfliktfeld fortgefallen. Dieses betrifft freilich eher ein Randphänomen der sozialen Lebenswirklichkeit. Die tatsächlich zukunftsrelevanten Konflikte einer alternden, ökonomisierten und wohlstandsverwöhnten Gesellschaft sind erst noch auszutragen;173 es bleibt zu hoffen, dass das BVerfG hier individuelle Freiheitsinteressen von (Ehe-)Partnern und Familien ebenso ernst nimmt wie das relationale Gleichstellungsanliegen gleichgeschlechtlicher Paare. Wissenschaft und Politik sollten sich, nachdem sich der Pulverdampf symbolträchtiger Rückzugsgefechte174 gelegt hat, mit dem Status quo abfinden und wieder folgenreicheren Themen zuwenden, was hier teils bereits meine Mitreferenten übernommen haben.

173 Pointiert Udo Di Fabio, Der Schutz der Familie und die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Sozialpolitik zwischen Freiheitsprinzip und Gemeinschaftsbindung, Zur Debatte 7 / 2003, S. 21 f. 174 Vgl. in der Bewertung ähnlich auch Inge Kroppenberg, Unvereinbarkeit des Verbots der sukzessiven Stiefkindadoption durch eingetragene Lebenspartner mit dem Grundgesetz, NJW 2013, S. 2161 (2163).

Verzeichnis der Mitwirkenden Klaus Ferdinand Gärditz, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn. Promotion ebenda, Habilitation an der Universität Bayreuth. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Gregor Kirchhof, Prof. Dr. iur., LL.M., Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg i.Br., München und London, Promotion und Habilitation an der Universität Bonn. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanzrecht und Steuerrecht an der Universität Augsburg. Christian Seiler, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Freiburg i.Br. und Heidelberg, Promotion und Habilitation an der Universität Heidelberg. Inhaber des Lehrstuhls für Staatsund Verwaltungsrecht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Tübingen. Manfred Spieker, Prof. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, der Philosophie und der Geschichte an den Universitäten Freiburg i. Br., Berlin und München, Promotion an der Universität München, Habilitation an der Universität Köln. Em. Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion und Habilitation an der Universität München. Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht und Staatswissenschaften sowie Leiter der Forschungsstelle „Recht und Religion“ an der Universität Dresden. Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft.